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German Pages 302 Year 2020
Dominique Hipp Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Lettre
Dominique Hipp ist Literaturwissenschaftlerin und Historikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Recht und Literatur, Geschichte des Nationalsozialismus und dem Verhältnis von Geschichte und Literatur. Sie promovierte im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Faktuales und fiktionales Erzählen« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Dominique Hipp
Von NS-Konzentrationslagern erzählen Angeklagte vor Gericht über Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Neuengamme
Der vorliegende Text wurde als Dissertation unter dem Titel »Täternarrative vor Gericht. Berichte über Dachau, Mauthausen und Ravensbrück« an der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereicht.
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Inhalt
1. 1.1 1.2
1.3
1.4
1.5
Einleitung........................................................................... 11 Geschichtswissenschaftlicher Umgang mit narrativen Quellen................................. 13 Normalität der NS-TäterInnen........................................................................... 15 1.2.1 Defizite des Erklärungsansatzes des Referenzrahmens ................................ 17 1.2.2 Dualismus bzw. Parallelität von NS-Moral zu anderer Moral ........................... 18 Charakteristika einer Erzählung vor Gericht ........................................................20 1.3.1 Das Gespräch vor Gericht als Machtdiskurs ................................................ 21 1.3.2 Unzuverlässiges Erzählen als Charakteristikum der Aussagen von Beschuldigten im Vorfeld des Prozesses .............................................. 24 1.3.3 (Fragmentarische) Selbsterzählung vor Gericht ...........................................26 1.3.4 Performativität im juristischen Verfahren und in den Gnadengesuchen der Verurteilten............................................................................. ....... 26 Quellenkorpus ............................................................................................... 29 1.4.1 Dachauer Hauptverfahren ...................................................................... 29 1.4.2 Österreichische Volksgerichtsprozesse .................................................... 30 1.4.3 (Bundes-)Deutsche Verfahren zu Verbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück und Neuengamme .............................................................. 31 Methodische Vorgehensweise und Struktur ......................................................... 31
Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen...... 35 Warum (unzuverlässig) erzählt wird – Emotion und Moral ....................................... 37 Literaturwissenschaftliche Sicht auf das unzuverlässige Erzählen .......................... 39 Unzuverlässigkeit des faktualen Erzählens ......................................................... 43 2.3.1 Unzuverlässiges Erzählen vor Gericht .......................................................46 2.3.2 Unzuverlässiges Erzählen vs. glaubhafte Aussage ....................................... 49 2.3.3 Unzuverlässiges Erzählen als Merkmal (hand-)schriftlicher vorprozessualer Aussagen ...................................................................... 51 2.3.4 Marker des unzuverlässigen Erzählens in faktualen Texten............................55 2.4 Zwischenfazit................................................................................................ 67 2.5 Unzuverlässiges Erzählen Fritz Hintermayers während des Dachauer Hauptverfahrens ........................................................................ 68 2. 2.1 2.2 2.3
2.6
2.7
2.8 2.9
2.10
3. 3.1
3.2
3.3
3.4 3.5
2.5.1 Konzentrationslager Dachau ................................................................... 70 2.5.2 Theodor Eicke – Dachauer Modell............................................................. 71 2.5.3 Statement des Ersten Lagerarztes Fritz Hintermayer ................................... 73 2.5.4 Fritz Hintermayer als unzuverlässiger Erzähler ........................................... 78 Vorprozessuales Schreiben in einem bundesdeutschen Verfahren zum Konzentrationslager Ravensbrück – Wally K. ................................................ 80 2.6.1 Konzentrationslager Ravensbrück und Außenlager Neustadt-Glewe ............... 83 2.6.3 K. als unzuverlässige Erzählerin...............................................................96 Vorprozessuale Erzählung in einem Verfahren vor dem österreichischen Volksgericht in Wien – Ludwig W...................................................................... 99 2.7.1 Konzentrationslager Mauthausen ............................................................ 101 2.7.2 Ludwig W.’s vorprozessuales Schreiben an den Untersuchungsrichter ............ 107 2.7.3 W. als unzuverlässiger Erzähler ............................................................... 111 Fazit über vorprozessuale Schreiben ehemaliger SS-Angehöriger bzw. Angehörige des weiblichen SS-Gefolges in NSG-Verfahren..................................................... 115 Vorprozessuale Erzählung eines ehemaligen Funktionshäftlings vor dem österreichischen Volksgericht in Wien ............................................................. 116 2.9.1 Funktionshäftlinge ............................................................................... 116 2.9.2 Franz Diep.’s handschriftliche vorprozessuale Aussage................................ 117 2.9.3 Aussage des ehemaligen SS-Angehörigen Ludwig W. im Vergleich mit der Aussage des ehemaligen Funktionshäftlings Franz Diep...............................120 Fazit über das unzuverlässige Erzählen in vorprozessualen handschriftlichen Aussagen – ein Vergleich ..................................................................................... 122 Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen...............................................................127 Selbsterzählung im Strafprozess ...................................................................... 129 3.1.1 Warum und wie erzählt wird.................................................................. 130 3.1.2 Warum Selbsterzählung? ...................................................................... 132 Wiedererzählen im Kreuzverhör ...................................................................... 134 3.2.1 Sich wiedererzählend erinnern .............................................................. 134 3.2.2 Wiedererzählen als Beleg ...................................................................... 137 Narrative Identität........................................................................................ 138 3.3.1 Wie narrative Identität in der Hauptverhandlung entsteht ........................... 138 3.3.2 Erzählerische Positionierung................................................................. 139 3.3.3 Erinnerte Position................................................................................140 Erzählen als argumentativer Akt ...................................................................... 142 Analysekriterien ........................................................................................... 144 3.5.1 Sprachliche Schemata .......................................................................... 145 3.5.2 Emotionales Erzählen – intendiert ...........................................................150 3.5.3 Emotionales Erzählen – nicht-intendiert .................................................. 153
3.6
3.7
3.8
3.9
3.10
3.11
3.5.4 Positionierung als Teil narrativer Identität und emotionalen Erzählens .......... 153 3.5.5 Handlungsmächtigkeit (agency) .............................................................. 154 Die juristischen Gegebenheiten für die Strafverfahren des österreichischen Volksgerichts und des amerikanischen Militärgerichts von Dachau ........................ 156 3.6.1 Österreichische Volksgerichte ................................................................156 3.6.2 Dachauer Militärgericht.........................................................................159 Johann Kicks Selbsterzählung vor dem Dachauer Militärgericht ............................. 161 3.7.1 Politische Abteilung im Konzentrationslager .............................................162 3.7.2 Aussagen des Angeklagten Kick im Verhör durch die Verteidigung (direct examination)..............................................................................162 3.7.3 Aussagen des Angeklagten Kick im Kreuzverhör ........................................168 3.7.4 Erneutes Verhör durch die Verteidigung (redirect examination)......................169 Prof. Dr. Klaus Karl Schillings Selbsterzählung vor dem Dachauer Militärgericht......... 170 3.8.1 NS-Medizin und Schillings Suche nach einem Malaria-Impfstoff .................... 170 3.8.2 Aussagen des Angeklagten Schilling im Verhör durch die Verteidigung (direct examination) ..............................................................................172 3.8.3 Aussagen Schillings im Kreuzverhör ........................................................182 3.8.4 Erneute Vernehmung durch die Verteidigung.............................................185 Franz Dop.s Selbsterzählung vor dem Wiener Volksgericht ....................................186 3.9.1 Dop.s Aussagen während der Hauptverhandlung ....................................... 188 3.9.2 Dop.s Plädoyer am Ende der Hauptverhandlung .........................................195 Selbsterzählung des ehemaligen Funktionshäftlings Franz Diep. vor dem Wiener Volksgericht.................................................................................................196 3.10.1 Diep.s Aussagen während der Hauptverhandlung ....................................... 197 3.10.2 Diep. erzählt von sich als ein Häftling unter vielen...................................... 199 Selbsterzählung vor Gericht – ein Fazit ............................................................. 200
Performatives Erzählen im Gnadengesuch ........................................ 205 Performativität als Grundeigenschaft eines juristischen Verfahrens ....................... 207 4.1.1 Juristische Verfahren und die Theateranalogie......................................... 207 4.1.2 Ebenen und Beteiligte des Performativen ................................................ 208 4.1.3 Performativ erzeugte Wirklichkeit .......................................................... 209 4.2 Übergangsjustiz (Transitional Justice) und Transformation durch Performativität....... 211 4.2.1 NSG-Verfahren als Beispiel für Transgression ............................................ 212 4.2.2 Verbrechen gegen die Menschheit vor Gericht ........................................... 213 4.3 Performative Aussagen im juristischen Verfahren................................................ 215 4.3.1 Skalierte Performativität....................................................................... 215 4.3.2 Blick hinter das vordergründig Erzählte.................................................... 216 4.3.3 Performative Sprechakte ...................................................................... 217 4.3.4 Komplexität performativer Sprachhandlungen im Gnadengesuch .................. 218 4.4 Erzählerische Ziele im Gnadengesuch .............................................................. 222
4. 4.1
4.5
4.6 4.7
4.8
4.9
4.10 4.11
4.4.1 Strategische Ziele............................................................................... 224 4.4.2 Zeugnis ablegen ................................................................................. 229 Aushöhlung des Machtdiskurses vor Gericht durch performative Sprechakte ........... 230 4.5.1 Ritual und Performativität ..................................................................... 231 4.5.2 Judith Butlers Begriff von Performativität ............................................... 232 4.5.3 Performativität als Mittel der Durchsetzung eines Gnadengesuchs................ 234 Performativität von Gnadengesuchen in NSG-Verfahren ....................................... 236 Gnadengesuche eines Verurteilten des Wiener Volksgerichts – Michael S. ................ 237 4.7.1 Außenlager Ebensee............................................................................ 238 4.7.2 S.’s Biografie und seine Aussagen im Laufe seines Volksgerichtsprozesses .... 238 4.7.3 S.’s Gnadengesuch an das Wiener Volksgericht ......................................... 239 4.7.4 S.’s Darstellung seiner Vorgeschichte...................................................... 240 4.7.5 Relativierendes Schuldeingeständnis....................................................... 241 4.7.6 S.’s Selbstviktimisierung....................................................................... 243 4.7.7 Moralischer Druck auf das Volksgericht................................................... 244 4.7.8 S.’s zweites Gnadengesuch an Justizminister Otto Tschadek ....................... 245 4.7.9 Michael S.’s Gnadengesuch an den Bundeskanzler Leopold Figl .................... 247 4.7.10 S.’s viertes Gnadengesuch an den Obersten Gerichtshof Wien ...................... 250 4.7.11 Fazit über S.’s vier Gnadengesuche......................................................... 254 Gnadengesuch eines Verurteilten des Dachauer Hauptprozesses – Walter Adolf Langleist ................................................................................... 255 4.8.1 Kauferinger Außenlager ....................................................................... 256 4.8.2 KZ-Außenlager Mühldorf....................................................................... 257 4.8.3 Langleists Aussagen während der Hauptverhandlung ................................. 257 Gnadengesuch einer Verurteilten des Landgerichts Berlin – Wally K........................ 264 4.9.1 K. begründet ihr Gesuch....................................................................... 265 4.9.2 Fazit über K.’s Gnadengesuch ................................................................ 266 Fazit über die Gnadengesuche ehemaliger SS-Angehöriger bzw. einer Angehörigen des weiblichen SS-Gefolges............................................................................ 267 Gnadengesuch eines weiblichen Funktionshäftlings, verurteilt durch das Landgericht Hamburg – Anneliese Margarethe Obry ........................................... 268 4.11.1 Außenlager Helmstedt-Beendorf ............................................................ 269 4.11.2 Hamburger Verfahren gegen Anneliese Obry............................................. 270 4.11.3 Obrys Gnadengesuch ........................................................................... 272 4.11.4 Unterschiede zwischen dem Gnadengesuch von Obry und denen von SS-Angehörigen ............................................................................ 273
5.
Resümee und Ausblick ............................................................ 275
6.
Literaturverzeichnis .............................................................. 281
Dank ................................................................................... 299
1. Einleitung
Die Beschuldigte Wally K. verfasste am 26. April 1951 während ihrer Haft im Gefängnis Berlin-Moabit eine mehr als zehnseitige Erzählung über ihre Zeit als SSAufseherin in einem der Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück. Der Titel, »An der Schwelle des Leidens! Ein kurzer Auszug ½ Jahr bei der SS«1 verrät bereits zu Beginn, dass diese Quelle mehr Erkenntnisse in sich trägt als die bloße Möglichkeit zur Rekonstruktion von Fakten. Ihr gestalterisches Vermögen, die Vergangenheit aus ihrer Sicht überzeugend zu schildern, demonstriert, wie notwendig die Anwendung einer literaturwissenschaftlichen Methodik ist. K.’s Schreiben in der bloßen Opposition zwischen Fiktion und Faktizität zu analysieren, greift also zu kurz. Vielmehr handelt es sich hier um ein Zeugnis, verstanden als eine »Erinnerungsrede, die sich auf eine singuläre Erfahrung bezieht – aber jenseits des Gegensatzes von Fiktion und Faktizität situiert, da sich das Zeugnis allein auf die vergangene, dem allgemeinen Bewußstsein und kollektiven Gedächtnis unzugängliche Erfahrung bezieht, die dem Individuum zugestoßen ist.«2 Meine vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Besonderheit solcher narrativen Zeugnisse wie dem Schreiben der ehemaligen SS-Aufseherin Wally K. Das Korpus umfasst schriftliche Stellungnahmen, mündliche Aussagen und Gnadengesuche von Angeklagten in Prozessen über Verbrechen in vier nationalsozialistischen Konzentrationslagern – Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Neuengamme. Die Verfahren fanden in den ersten zehn Nachkriegsjahren statt und folgten drei unterschiedlichen Prozessordnungen – die amerikanische Militärprozessordnung sowie die deutsche und österreichische Strafprozessordnung. Durch den Vergleich von Aussagen über verschiedene Konzentrationslager, getätigt im Rahmen von jeweils drei unterschiedlichen Strafprozessordnungen, ist es möglich, bei allen Un1 2
Schreiben Wally K. an das Landgericht Berlin und den Generalstaatsanwalt, BArch, B 162/14270, S. 1. Eine ausführliche Analyse dieses Schreibens findet sich im Kapitel 2.6. Sigrid Weigel, Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von ›identity politics‹, juristischem und historiographischem Diskurs, in: Rüdiger Zill (Hg.), Zeugnis und Zeugenschaft. Jahrbuch des Einsteinforums 1999, Berlin 2000, S. 111135, S. 116.
12
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
terschiedlichkeiten, die es zu benennen gilt, gerade die Analogien und Parallelen in Art und Weise der Äußerungen zu finden. Ein weiterer Grund für die Wahl der drei unterschiedlichen Strafprozessordnungen findet sich in einem historischen Faktum: Im Deutschland der Nachkriegszeit gab es nur wenige Juristen mit einer Anwaltskonzession. Die Folge war, dass in vielen Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG) nach 1945 immer wieder die gleichen Anwälte die Verteidigung der Beschuldigten übernahmen. Diese personale Wiederholung hatte Einfluss auf den Fortgang und die Gestaltung der Verfahren. Vergleicht man nun aber ein amerikanisches Militärgericht, österreichische Volksgerichtsprozesse und westdeutsche Verfahren, so kann dieses Problem umgangen werden.3 Die hier untersuchten NSG-Verfahren zu Vorkommnissen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern stammen alle aus dem Zeitraum bis zehn Jahre nach Kriegsende. Es handelt sich somit um frühe Verfahren. Sowohl für die Angeklagten als auch für ihre Rechtsvertreter bestand deshalb nur begrenzt die Möglichkeit, sich am erzählerischen und strategischen Vorgehen früherer Verfahren zu bedienen. Darüber hinaus wurden die österreichischen Volksgerichte im Jahre 1955, nach der Wiedererlangung der Souveränität Österreichs, abgeschafft und das Amnestiegesetz aus dem Jahr 1954 führte auch in der Bundesrepublik zu einer rapiden Abnahme der Strafverfolgung von NS-Verbrechen. In der folgenden Analyse wird sich zeigen, dass Jan Philipp Reemtsmas Aussage über das Problem einer Anfälligkeit für den Nationalsozialismus nur scheinbar einfach klingt, »[m]an möchte ein Rätsel gelöst bekommen, das nur darum eines ist, weil wir uns Offensichtliches durch Verrätselung vom seelischen Leibe halten möchten«4 . Des Rätsels Lösung ist jedoch weniger leicht als gedacht. Die Aussagenden befanden sich in einer moralischen und rechtlichen Konfliktsituation. Ihre Taten fanden statt, als die nationalsozialistisch geprägten Normen die Wertvorstellungen vorrangig bestimmt hatten. In den juristischen Verfahren, in denen sie angeklagt wurden, war aber ein anderes Normensystem gültig. Dieser Konflikt erforderte eine Selbstinszenierung vor Gericht, die möglichst ein Bild der Unschuld erzeugte. Durch die erzählerisch erzeugte Kausalität wurden die expliziten, aber auch die impliziten moralischen Vorstellungen narrativiert.5 Wie und wo verorteten sich die Angeklagten in ihren Erzählungen in diesem Widerspruch zwischen den rechtlichen und moralischen Normensystemen der Jahre 1933 bis 1945 3
4 5
Christian Dirks, Selekteure als Lebensretter. Die Verteidigungsstrategie des Rechtsanwalts Dr. Hans Laternser, in: Irmtraud Wojak (Hg.), Gerichtstag halten über uns selbst. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (Fritz Bauer Institut, Jahrbuch 2001), Frankfurt a.M. 2001, S. 163-192, S. 168 und S. 170. Jan Philipp Reemtsma, Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet. Ein Abschiedsvortrag für das Hamburger Institut für Sozialforschung, in: Mittelweg 36 24, 4 (2015), S. 4-16, S. 8. Guyora Binder, Robert Weisberg, Literary Criticisms of Law, Princeton, New Jersey 2000, S. 207.
1. Einleitung
und dem der Nachkriegsjahre? Wie gelang es ihnen, ihr Handeln als erforderlich und angemessen darzustellen? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, muss beachtet werden, dass die angeklagten Frauen und Männer in ihren Strafverfahren strategisch erzählten, um sich gegenüber den erhobenen Vorwürfen als unschuldig bzw. minder schuldig darzustellen. Mit gutem Grund nimmt man an, diese Selbstinszenierung der Angeklagten sei durch bestimmte erzählerische (z.B. szenische, pathetische, transparente) Formen geprägt. So liegt es nahe, die (zeit-)historischen Quellen mittels narratologischer Methoden zu untersuchen. Die Erzähltheorie ist somit die grundlegende Methodik zur quellenkritischen Untersuchung der Aussagen von Angeklagten. Die Konzepte ›unzuverlässiges Erzählen‹ und ›performatives Erzählen‹ sowie die Frage nach einer (fragmentarischen) Selbsterzählung können die Doppelbödigkeit dieser Quellen offenlegen. Aufgrund des Untersuchungsgegenstandes, der Methodik und den fächerübergreifenden Erkenntnismöglichkeiten versteht sich diese Arbeit als dezidiert interdisziplinär. Ein wichtiges Anliegen dieses Forschungsprojektes ist es aber vor allem, eine andere Form des Umgangs mit (zeit-)historischen Quellen zu demonstrieren, die gerade für ungeklärte Fragen der Historiografie Erkenntnis bringt.
1.1
Geschichtswissenschaftlicher Umgang mit narrativen Quellen
Die narrative Rekonstruktion von Ereignissen – z.B. durch Angeklagte vor Gericht – bietet Erkenntnismöglichkeiten, die über den expliziten Inhalt, also »was erzählt wird«, hinausgehen, wenn man nach den impliziten Inhalten, »Wie wird erzählt?«, fragt. Denn durch die Betrachtung der »Erzählweise [finden sich] Hinweise auf [d]en Wirklichkeitsbezug der Erzählung.«6 Die hier verwendeten Quellen – Überlieferungen aus juristischen Verfahren – sind sogenannte Traditionsquellen.7 Das bedeutet, dass ihre Überlieferung beabsichtigt war. Doch diese Traditionsquellen beinhalten trotzdem einen Informationsanteil, welcher der Quellenkategorie ›Überrest‹ – eine Quellenart, deren Überlieferung zufällig und nicht intendiert ist – zugeordnet werden muss. Dieser Überrestanteil kann als Besonderheit von narrativen Quellen gesehen werden. Gemäß den Paradigmen des Linguistic Turn und 6
7
Ruben Zimmermann, Verschlungenheit und Verschiedenheit von Text und Geschichte. Eine hinführende Skizze, in: Christof Landmesser, Ruben Zimmermann (Hg.), Text und Geschichte. Geschichtswissenschaftliche Beiträge zum Faktizität-Fiktionalitäts-Geflecht in antiken Texten (VWGTH, Bd. 46), Leipzig 2017, S. 9-51, S. 23. Droysen beschreibt in seiner Darstellung zur Geschichtstheorie die unterschiedlichen Formen von Überlieferungen. Er trifft die begriffliche Unterscheidung zwischen Quelle und Überrest, wobei er mit »Quelle« die Traditionsquelle meint. Günter Birtsch, Jörn Rüsen (Hg.), Johann Gustav Droysen, Texte zur Geschichtstheorie, Göttingen 1972, S. 60-65.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
der damit verbundenen »Fokussierung auf die Sprache als realitätskonstituierendes Medium«8 , aber vor allem gemäß dem Narrative Turn, der die Relevanz und Präsenz von Erzählung für die Weitergabe von Wissen und Erfahrung verdeutlicht, fordert dies nicht nur die bloße Wahrnehmung des narrativen Charakters, sondern eine Methode zur systematischen Auswertung.9 Eine narrative Quelle enthält somit – erst recht, wenn es sich um eine Traditionsquelle handelt – zwei Informationsebenen. Im Falle der Aussagen der Angeklagten NS-Täter ist es vor allem die zweite Ebene, die der nicht intendierten Überlieferung, die bisher unbekannte Erkenntnisse über das Selbstverständnis der in Konzentrationslagern beschäftigten Männer und Frauen in sich birgt. Diese zweite Ebene steht im Zentrum dieser Arbeit und wird durch einen neuen Blick auf den »Überrestanteil« der Traditionsquelle herausgearbeitet. Ergiebig ist diese Vorgehensweise auch, weil sich die Angeklagten oftmals selbst nicht über diesen weitergehenden Informationswert ihrer Aussagen im Klaren sind.10 Die Notwendigkeit einer neuen Blickrichtung zeigt sich gerade in den bisher allzu pauschalen Kategorisierungen von NS-Täterschaft.11 Gerade die Selbstdarstellung und Selbstcharakterisierung bzw. -kategorisierung der Täter ist besonders aussagekräftig, da so der Umgang mit der oben erwähnten moralischen Konfliktsituation zutage tritt. Eine solche Stellungnahme findet sich vor allem in den Aussagen bzw. Schreiben von Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten in Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG) nach 1945. Es sind gerade die narrativen Quellen, die ein großes Erkenntnispotential für diese Selbstverortung der NS-Täter ermöglichen. Denn aufgrund der Erzählsituation vor Gericht und ihres narrativen Charakters unterliegen sie situativen Besonderheiten, die neue Einsichten einerseits über das bewusst inszenierte
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11
Elke Sturm-Trigonakis, Olga Laskaridou, Turns und kein Ende. Zur Einleitung, in: Elke SturmTrigonakis, Olga Laskaridou, Evi Petropoulou, Katerina Karakassi (Hg.), Turns und kein Ende? Aktuelle Tendenzen in Germanistik und Komparatistik (Hellenogermanica, Bd. 5), Frankfurt a.M. 2017, S. 9-22, S. 9. Martin Kreiswirth, Narrative Turn in the Humanities, in: David Herman, Manfred Jahn, MarieLaure Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, New York 2005, S. 377-382, S. 378. Davina Hachgenei vollzieht diesen Turn in ihrer Dissertation am Beispiel der Historiografie Schottlands aus dem Spätmittelalter. Letztlich bewegt Hachgenei sich so aber weiter in der Forschungsdiskussion um die Narrativität von Geschichtsschreibung und stellt nicht die Fragen an Quellen aus ›erster Hand‹. Davina Hachgenei, Narratologie und Geschichte. Eine Analyse schottischer Historiografie am Beispiel des ›Scotichronicons‹ und des ›Bruce‹ (Mainzer Historische Kulturwissenschaften, Bd. 44), Bielefeld 2019. Jakob Norberg hält es für unwahrscheinlich, dass Eichmann durch seine Selbsterzählung bewusst Gründe für sein Handeln finden konnte. Jakob Norberg, The Banality of Narrative. Hannah Arendt’s Eichmann in Jerusalem, in: Textual Practice 27 (2013), S. 743-761, S. 745. Christoph Schneider: Täter ohne Eigenschaften? Über die Tragweite sozialpsychologischer Modelle in der Holocaust-Forschung, in: Mittelweg 36 20/5 (2011), S. 3-23.
1. Einleitung
Selbstbild der Täter zutage fördern und andererseits einen Blick hinter dieses Selbstbild erlauben.
1.2
Normalität der NS-TäterInnen
»[G]anz gewöhnlich«12 oder »ganz normal«13 sind in der Forschung zu NSTäterInnen die mittlerweile gängigen und weitgehend unumstrittenen Attribute, um diese zu charakterisieren. Trotzdem oder gerade deshalb bleiben Handlungsmotive, Beweggründe und psychische wie auch soziale Umstände sowie eine begriffliche Klärung von Normalität in allen (geistes-)wissenschaftlichen Disziplinen weiterhin virulent. Generell ist zu klären, ob eine solche pauschale Kategorisierung von Täterschaft überhaupt erkenntnisfördernd ist. Die These der Normalität im Sinne einer psychischen Unauffälligkeit stieß ebenso auf Akzeptanz wie auf Widerspruch in Wissenschaft und Gesellschaft.14 Neben Hannah Arendts Banalität des Bösen gehören Christopher Brownings historiografische Abhandlung über das Polizeibataillon 101 und Harald Welzers sozialpsychologische Analysen zu Tätern zu den prominentesten Vertretern des Normalitätsparadigmas.15 Dem gegenüber steht die frühe Täterforschung, die bis in die 60er Jahre die Täter bzw. die Täterinnen in pathologisierender Weise darstellte. Trotzdem blieb die weit verbreitete These über die Normalität der TäterInnen, gerade wegen ihrer Pauschalität, nicht unwidersprochen. Christoph Schneider16 , der die Tragweite von sozialpsychologischen Ansätzen in Frage stellt, sieht im repetitiven Handlungsprozess die Erzeugung einer situativ gebundenen Normalität. Gleichzeitig bezweifelt er aber das Erkenntnispotential einer These über die Normalität als Charaktereigenschaft der Handelnden.17 Stellt man bei der Frage nach der Täterschaft aber 12 13 14
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Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 1998. Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Hamburg 1996. Gerhard Paul referiert und analysiert in seinem umfassenden sowie detailreichen Aufsatz die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Selbstverortung im Zusammenhang mit Fragen der Täterforschung. Auf diese Weise stellt er nicht nur die sich verändernde Erinnerungsdebatte dar, sondern gibt so auch einen wichtigen und detaillierten Überblick zur Täterforschung. Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: Ders. (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 2), Göttingen 20083 , S. 13-90. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt a.M. 20115 . C. Schneider, Täter ohne Eigenschaften?, S. 3-23. Analog zur Betonung der Rolle von Handlungsprozessen zur Erzeugung von Normalität beschäftigt sich der Bielefelder Soziologie Stefan Kühl in seiner jüngsten Publikation damit,
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
das konkrete Agieren der Einzelnen in bestimmten Situationen ins Zentrum, so ist es offenkundig nicht die Diskussion über Normalität bzw. Nicht-Normalität, die klärend wirkt, sondern vielmehr die Analyse der vergangenen Ereignisse bzw. Umstände sowie deren Kausalität und Motive.18 Die bisherigen sozialpsychologischen und historiografischen Darstellungen zur (NS-)Täterschaft sind eine Klärung des Begriffes »normal« schuldig geblieben. Darüber hinausgehend ist fraglich, ob eine Gegenüberstellung mit dem Begriff »pathologisch« überhaupt zielführend ist, da pathologische Charakterzüge bei psychisch gesunden Frauen oder Männern nichts Außergewöhnliches sind. Aber auch psychisch erkrankte Menschen sind dazu in der Lage, weite Teile ihres Alltags unauffällig und durchschnittlich zu bewältigen. Deswegen sind, neben der Beleuchtung des biografischen Werdegangs, vor allem die Motivstrukturen und deren Rechtfertigung zu analysieren. Allerdings besteht hierdurch, wie schon in den biografischen Darstellungen der frühen Täterforschung, die Gefahr einer »selbstentlastenden Distanzgewinnung«19 . Die aktuelle Forschung wählt aber im Gegensatz dazu den biografischen Blick, um mögliche Netzwerke unter den handelnden Personengruppen aufzudecken.20 Problematisch ist die Pathologisierung der NS-TäterInnen vor allem deswegen, weil sie die »Taten in eine mystische Grauzone, die mit Individuen nichts gemein [hat]«21 , verschiebt. Kommt aber die Normalität der TäterInnen zur Sprache, pathologisiert man oftmals das Normale: Ganz »normale« Männer sowie Frauen werden zu charakterlichen Leerstellen und erhalten gerade dadurch einen dämonischen und bedrohlichen Wesenszug. Wenn also die aktuelle Täterforschung durch das Normalitätsparadigma die Täter in der gesellschaftlichen Mitte verorten möchte und so eine Distanzierung vom Rest der Gesellschaft verhindern will, muss dies
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20
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wie sich mit Blick auf die verschiedenen beteiligten Organisationen das Handeln des Einzelnen an der Shoah erklären lässt. Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014. Diese Sicht auf die Rolle der Organisation wird im Sammelband »Soziologische Analysen des Holocaust« in unterschiedliche Aspekte aufgefächert und für eine Analyse des Polizeibataillons 101 herangezogen. Alexander Gruber, Stefan Kühl (Hg.), Soziologische Analysen des Holocaust. Jenseits der Debatte über ganz normale Männer und ganz normale Deutsche, Wiesbaden 2015. Wolfgang Knöbl, Gewalt erklären, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4 (2017), S. 4-8, S. 6. Rolf Pohl, Normal oder pathologisch? Eine Kritik an der Ausrichtung der neueren Täterforschung, in: Rolf Pohl, Joachim Perles (Hg.), Normalität der NS-Täter (Schriftenreihe desFritzBauer-Instituts. Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Bd. 27), Hannover 2011, S. 9-45, S. 15. Ein besonders gelungenes Beispiel stellt hier die Dissertation von Sara Berger dar. Sara Berger, Experten der Vernichtung. Das T4-Rheinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka (Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts), Hamburg 2013. C. Schneider, Täter ohne Eigenschaften, S. 4.
1. Einleitung
misslingen. Die »normalen« Männer bleiben vielmehr eine »paradoxe Devianzformel«22 . »Alles ist möglich«23 hilft der Forschung aber wenig. In aller Konsequenz weitergedacht, verkümmert in dieser Perspektive die menschliche Entscheidungsund Handlungsmöglichkeit auf die bloße Option des Reagierens ohne eigene Willenskraft.
1.2.1
Defizite des Erklärungsansatzes des Referenzrahmens
Harald Welzer plädiert für eine historische Rahmung bei der Beurteilung der Handelnden. So missachtet er aber die Prozesse, die für die Wahrnehmung eines Zustandes als »normal« entscheidend sind. Normalität tritt nicht als Charakter- oder Persönlichkeitsmerkmal auf. Des Weiteren ist es vor allem der Referenzrahmen, mit dem die Angeklagten selbst ihr Handeln entschuldigen. Ihnen folgend waren es die Umstände und nicht der eigene Wille, die sie zur Arbeit im KZ gezwungen haben.24 Nicht die Person, sondern die Situation ist als (a-)normal zu sehen. Deshalb gilt es vor allem für die Täterforschung, das Agieren des Einzelnen situativ und gruppenbezogen zu sehen. Welzer erklärt die Annahme von Normalität also – aus heutiger und damaliger Perspektive – mit der Gültigkeit eines Referenzrahmens. Es ist jedoch fraglich, ob dieser Rahmen in zeitlicher, kultureller und psychologischer Hinsicht abgeschlossen ist. Darüber hinaus sind »inhumane Geltungsansprüche [durchsetzt] mit dem Schein der Normalität […] nicht normal.«25 Trotzdem ist es möglich, im Falle der NS-Täter von »ganz normalen« Männern und Frauen zu sprechen, wenn man bei ihnen von Personen mit »gesellschaftskonforme[n] Persönlichkeitsstörungen«26 ausgeht. Aufgabe der Täterforschung muss es deshalb sein, »das Pathologische in der politischen Überzeugung selbst zu finden, in der sich die Unfähigkeit zu nicht destruktiver Denktätigkeit offenbart«27 . Die »Frage nach der rationalen Über-
22 23 24
25
26 27
C. Schneider, Täter ohne Eigenschaften, S. 5. H. Welzer, Täter, S. 246. Wann der Zeitpunkt eines Zwanges von den Angeklagten erzählerisch formuliert wurde, hängt vor allem von ihrer hierarchischen Position im KZ-Gefüge ab. Je höher ihre hierarchische Position war, umso früher wird der Punkt eines Zwanges angeführt, da es gilt, den Eindruck einer frühen Anhängerschaft und einer tiefgehenden Ideologisierung zu mindern. Nele Reuleaux, Zur Frage der psychischen Motive von NS-Tätern und -Täterinnen mit Blick auf das Konzept des »malignen Narzissmus« und seine Anwendbarkeit, in: Normalität der NS-Täter, S. 93-104, S. 94. Ebd., S. 98. Ebd., S. 104.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
brückung unterschiedlicher Moralauffassungen«28 gilt es somit, zu klären, um die »moralische Zeitgenossenschaft« vor 1945 bestimmen zu können.29
1.2.2
Dualismus bzw. Parallelität von NS-Moral zu anderer Moral
Indem Welzer auf den Referenzrahmen der NS-Moral und des NS-Rechts abhebt, relativiert er im Umkehrschluss die Nicht-Existenz von jeglichen anderen moralischen Regeln. Dies ermöglicht den NS-Tätern, in ihrem Handeln keine Verbrechen zu sehen. Darüber hinaus muss dringend bedacht werden, dass Argumentationen vor Gericht immer interessengeleitet sind und vor allem die Aussagen der Angeklagten der eigenen Entlastung und Strafminderung dienen sollen. Gesine Schwan plädiert für eine Gleichzeitigkeit bzw. einen Dualismus von NSMoral sowie einem unveränderlichen moralischen Kern in einer Gesellschaft. Die »bewusste Geheimhaltung der Verbrechen, die euphemistische Sprache und das Verteidigungsgewand, in das die mörderischen Anweisungen gekleidet wurden«30 , sieht sie als Beweis dieses moralischen Kerns. Darin zeigt sich auch, wie sehr die NS-Herrschaftsstruktur und -praxis in der Umsetzung ihrer Ideologie darauf ausgerichtet war, traditionelle, aufklärerische und humane Moralvorstellungen (zumindest in Teilen) außer Kraft zu setzen, sie aber gleichzeitig auf der Sprachoberfläche zu bewahren. Diese Vorgehensweise, also die sprachliche Aufrechterhaltung einer auf Naturrecht basierenden Moral bei gleichzeitiger, partieller Aussetzung, war unter anderem möglich, indem den Handelnden Rechtfertigungsansätze für ihr objektives moralisches Fehlverhalten an die Hand gegeben wurden. Weltanschauliche Schulungen, die zunehmende Gewöhnung durch die alltägliche Präsenz von nationalsozialistisch eingefärbter Nachrichten- und Wissensvermittlung und die hierarchische Struktur, die ein Umdenken oder Andershandeln als Gefahr reklamierte und gleichzeitig die Option offenließ, Verantwortung nach oben zu delegieren, waren weitere Mittel, um die späteren NS-TäterInnen in moralischer Sicherheit zu wiegen. Am wichtigsten für die Funktionsweise des KZ-Systems war aber die Dehumanisierung der vom Regime Verfolgten. Durch die staatlich legitimierte Exklusion bestimmter Personengruppen war es den Handelnden möglich, eine kognitive Dissonanzleistung zu vollziehen und somit ihr Handeln mit ihrem moralischen Kompass – jenseits der NS-Moral in jedem Menschen vorhanden –
28 29 30
Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft (Rowohlts Enzyklopädie), Hamburg 2005, S. 16. Ebd., S. 14. Gesine Schwan, Wussten sie nicht, was sie tun? Die Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen (Jahrbuch 2009 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt a.M. 2009, S. 140-167, S. 145.
1. Einleitung
in Einklang zu bringen. Die Wertvorstellungen, die bereits vor 1933 Gültigkeit hatten, konnten mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht plötzlich völlig verschwinden. Ihre Existenz war weiterhin gegeben, wenn auch ideologische Konstruktionen wie die NS-Volksgemeinschaft die Exklusion bestimmter gesellschaftlicher Gruppen von diesen Regeln begründete und verursachte.31 Allerdings ist anzumerken, dass die moralischen Vorstellungen des Nationalsozialismus nicht in Gänze neu waren bzw. Vorstellungen und Anlagen dazu bereits im Zeitraum der Wilhelminischen Ära bestanden.32 Es ist auch fraglich, ob die nationalsozialistischen Schulungen und die alltägliche Präsenz der NS-Weltanschauung die moralischen Vorstellungen über richtiges und falsches Handeln überformen oder gar durchbrechen konnten. Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, so wäre ein ›sich erzählerisch einfügen‹ in ein demokratisches und pluralistisches System nach 1945 nur scheinbar möglich. Rolf Zimmermann sieht die Universalmoral als eine historische und somit veränderliche Größe. Nur deshalb war die NS-Moral, die er als »nazistische Transformationsmoral«33 bezeichnet, imstande, eine Universalmoral außer Kraft zu setzen. Damit einhergehend ist auch eine erzählerische Selbstvergewisserung und Selbstverortung der Angeklagten im juristischen Verfahren zu greifen. Wie bereits erwähnt, ist das Ziel der NSG-Verfahren der ersten zehn Jahre eine juristische Aufklärung und Ahndung von Straftaten. Sowohl im Falle der österreichischen Volksgerichte als auch beim amerikanischen Militärgericht von Dachau ging es jedoch um mehr als nur eine juristische Ahndung von Verbrechen. Es galt, zu beweisen, dass das eigene Handeln und Denken trotzdem oder gerade deswegen vereinbar ist mit den moralischen Vorstellungen des Okzidents und dass eine Unterscheidung zwischen den weltanschaulichen Forderungen des Nationalsozialismus und einer westlichen Demokratie möglich ist. Anders gewendet, die Integrationsfähigkeit des Angeklagten bzw. der Angeklagten in die gerade im Entstehen begriffene neue deutsche bzw. österreichische Gesellschaft musste unter Beweis gestellt werden. Diese eine und zahlreiche weitere Intentionen, 31
32
33
James Waller sieht deshalb in der Distanzierung von Täter und Opfer einen der entscheidenden Schritte im Vorfeld eines möglichen Genozids. Die Personen einer gesellschaftlichen Gruppe mussten bereits einen »social death« erlitten haben. James Waller, Becoming Evil. How Ordinary People Commit Genocide and Mass Killing, New York 20072, S. 197. Die moralischen Werte des Nationalsozialismus wie Ehre, Treue, Wahrheit und Ehrlichkeit waren nicht plötzlich mit der Machtübernahme im Jahr 1933 gegeben. Der Unterschied liegt vielmehr in ihrer (Nicht-)Gültigkeit für bestimmte Menschen. Klaus Theweleit macht das vor allem im Zusammenhang mit seinem in den 1970er Jahren erschienen Buch »Männerphantasien« klar und Michael Hanekes Film »Das weiße Band« unterstreicht diese Annahme. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Band 2: Männerkörper, zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Hamburg 1987. DAS WEISSE BAND (D, AUT, F, ITA 2009, R: Michael Haneke). R. Zimmermann, Philosophie, S. 10.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
die den Aussagen der Angeklagten in frühen NSG-Verfahren zu eigen sind, lassen sich in erster Linie mittels literatur- und kulturwissenschaftlicher sowie erzähltheoretischer Methodik offenlegen.
1.3
Charakteristika einer Erzählung vor Gericht
Diese Hypothesen siedeln die Arbeit im Bereich Law and Literature an. In diesem Forschungsfeld ist die Verbindung von narratologischer Methodik und juristischen Sachverhalten grundlegend. Die Feststellung »[o]ur legal culture is a storytelling culture«34 von Robert N. Meyer liefert den Grund dafür: Erzählen, sowohl im weiteren als auch im engeren Sinne, ist in juristischen Kontexten in zahlreichen Bereichen präsent. So war und ist es das Vorhaben des storytelling movement, nicht nur den etablierten juristischen Blick auf rechtliche Sachverhalte zu werfen, sondern, aufgrund der offensichtlichen Narrativität unterschiedlicher juristischer Textformen, diese mit einer literaturwissenschaftlichen Folie zu untersuchen und zu beurteilen. Das hier gewählte Quellenkorpus verlangt eine besondere Vorgehensweise bei der Analyse. Denn die Erzählungen der Angeklagten vor Gericht sollten als glaubwürdig, menschlich und vor allem die aussagenden Personen als unschuldig bzw. minder schuldig eingeschätzt werden. Die Wahl der Inhalte und die Gestaltung dienen deshalb primär dazu, eine kohärente und plausible Erzählung zu schaffen. In der Konsequenz galt es für die Angeklagten vor allem, den Widerspruch zwischen einer moralisch »intakten« Vorstellung vom menschlichen Handeln und den zur Disposition stehenden Handlungen erzählerisch zu glätten. Deutlich wird hier, wie eng die Wechselbeziehung zwischen Narrativen und Gesetzen ist. Narrative schaffen es, Gesetze und Vorschriften in einen kausalen Zusammenhang mit unseren kulturellen und lebensweltlichen Vorstellungen hineinzutragen.35 Hegels rechtsphilosophischer Ansatz, der – stark verkürzt – im Konfliktfall die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung sieht, gleichzeitig aber verlangt, dass diese durch eine erzählerische, also kausale Vermittlung erfolgt, greift dies ebenfalls auf. Analog dazu formulierte Robert Cover: »Just as the meaning of law is determined by our interpretive commitments, so also can many our actions be understood only 34
35
Philip N. Meyer, Introduction, in: Vermont Law Review 18 (1994), S. 567-579, S. 567, zitiert nach: Kathryn Temple, Law’s Hidden Face. Reading Narrative Jurisprudence and its Critics, in: Bruce L. Rockwood (Hg.), Law and Literature Perspectives (Critic of Institutions, Vol. 9), New York 1996, S. 353-373, S. 355. Peter Brooks, The Law as Narrative and Rhetoric, in: Peter Brooks, Paul Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, New Heaven and London 1996, S. 14-22, S. 16. Ruth Blufarb, Geschichten im Recht. Übertragbarkeit von »Law as Narrative« auf die deutsche Rechtsordnung (Recht und Literatur, Bd. 3), Baden-Baden 2017, S. 27.
1. Einleitung
in relation to a norm«36 . Auch wenn das Aussageverweigerungsrecht in bestimmten Fällen das Nicht-Erzählen als klare Option offeriert, ist die Grundannahme über den Willen zum Erzählen und vor allem Erklären der zu verhandelnden Taten doch entscheidend für das Gelingen des Verfahrens. Denn hinter dem Wunsch, zu berichten, steht der Wille, das eigene Fehlverhalten anzuerkennen und sich in dieser Weise (erzählerisch) wieder in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen. Vor Gericht schildern Menschen aber auch deshalb, um ihre Zuhörerschaft emotional zu erreichen, und damit ihre Interessen Gehör erhalten. Eine (Gerichts-) Erzählung ermöglicht den RezipientInnen einen empathischen Zugang zum Erzählenden selbst.37 Durch diese Empathie ist es für das Publikum wesentlich schwieriger, sich abzugrenzen, da eine emotionale Verortung des Erzählenden in den rekonstruierten Geschehnissen nur so möglich ist. Daher versucht die Verteidigung, den Angeklagten Raum zum Erzählen zu geben, die Anklage hingegen will gerade dies verhindern, da die Aussagenden die AdressatInnen so leichter beeinflussen können.
1.3.1
Das Gespräch vor Gericht als Machtdiskurs
Teil der »Critical legal theory« ist das sogenannte storytelling movement. Diese Ausrichtung betont die pädagogische Wirkmächtigkeit von juristischen Verfahren. Die historischen Gegebenheiten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lassen die Parallelen zwischen den alliierten Vorstellungen des Entnazifizierungsprogramms und dieser Denkrichtung sichtbar werden. Das Vorhaben, die deutsche und österreichische Gesellschaft nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft mittels einer Entnazifizierung dauerhaft und nachhaltig zu demokratisieren, sollte u.a. durch eine konsequente juristische Verfolgung und Aufarbeitung der NS-Verbrechen gelingen. Niederschlag fand dieses alliierte Vorhaben in den Beschlüssen der Konferenz von Jalta im Februar 1945. Generell sollten Aussagen vor Gericht zwar auf Augenhöhe stattfinden, um den Konflikt einvernehmlich aus der Welt zu schaffen, doch ist dies in der Praxis unmöglich. Vielmehr kann das juristische Verfahren als ein Machtdiskurs verstanden werden, da die erzählten Geschichten eine hierarchische Struktur schaffen.38 Diese Anordnung durch die Erzählung vor Gericht erfolgt aber nicht nur durch den erzählerischen Akt an sich, sondern ist vor allem stark durch die formalen Gegebenheiten, wie beispielsweise die Prozessordnung, bestimmt. Die asymmetrische 36 37 38
Robert Cover zitiert nach: Martha Minow, Michael Ryan, Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence and the Law. The Essays of Robert Cover, Michigan 1992, S. 99. R. Blufarb, Geschichten im Recht, S. 216f. »[S]tories create subordination«. Daniel A. Farber, Suzanna Sherry, Legal Storytelling and Constitutional Law. The Medium and the Message, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 37-53, S. 46.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Gesprächssituation vor Gericht – die Angeklagten sind bereits durch die Raumstruktur als hierarchisch niedriger stehend gezeichnet – lässt ein Gespräch auf Augenhöhe nicht zu. Die Erzählsituation ist vielmehr stark normativ geprägt, geht es doch um die Demonstration der Wirkmächtigkeit der gesetzlichen Regelungen sowie der gesellschaftlichen bzw. staatlichen Ordnung. Die widerstreitende Situation zwischen einem Gesetzestext und dem Verstoß dagegen durch ein Mitglied der Gesellschaft gilt es, wieder in Einklang zu bringen.39 Die gemeinschaftsbildende Wirkung von Rechtsprechung ist also ein wichtiger und entscheidender Schritt bei der Befriedung und Demokratisierung einer Gesellschaft wie der deutschen bzw. österreichischen nach 1945. Gleichzeitig bekommen die Aussagen bzw. deren Erzählungen einen fragmentarischen Charakter (vgl. Kapitel 3).40 Der Richter und unter Umständen auch die Aussagen der ZeugInnen lassen sich in die gesellschaftlichen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit einordnen, anders als die Aussagen und Erzählungen der Angeklagten. Durch ihr straffälliges Handeln, das ihnen vor Gericht vorgeworfen wird, haben sie sich außerhalb dieser Vorstellungen positioniert. In ihren Aussagen geht es nun darum, die eigenen Kausalitäten für ihr Handeln erzählerisch zu vermitteln. Die Angeklagten verfolgen somit das Ziel, ihre eigenen Sichtweisen auf die vergangenen Ereignisse zu vermitteln und somit eine symmetrische Gesprächssituation zu erwirken. Es handelt sich vor Gericht auch deshalb um einen Machtdiskurs, da es um die Durchsetzungsfähigkeit eines Narrativs, genauer einer Interpretation der Vergangenheit geht, die für sich einen Wirklichkeitsanspruch reklamiert (vgl. Kapitel 4). Setzt sich eine bestimmte Sichtweise durch und findet somit Eingang in das richterliche Urteil, so kann sich die Interpretation der Geschehnisse aus der übernommenen Blickrichtung etablieren. Trotzdem kommt dem Richter allein durch die formale Festschreibung in der Prozessordnung eine besondere Stellung als Rezipient der Aussage zu. Da ihm aber mittels seines Urteils zusteht, über die Wirkmächtigkeit der unterschiedlichen Argumente vor Gericht letztlich zu entscheiden, ist dieser Machtdiskurs bereits formal festgelegt. Inhaltlich muss dieser jedoch immer wieder neu ausdifferenziert werden. Auf dieser inhaltlichen Ebene entscheidet die erzählerische Fähigkeit im Verfahren von Angeklagten, Verteidigung und auch der ZeugInnen über die Möglichkeit und vor allem den Erfolg der Einflussnahme auf die richterliche Entscheidung. Gebildete und begabte SelbstdarstellerInnen liegen klar im Vorteil. Allerdings sollen gerade Prozessordnungen durch klare Rollenzuschreibungen für die Prozessbeteiligten diese Form der Einflussnahme so weit wie möglich einschränken.
39 40
»[The] text disrupts the notion of community by rejecting the many ways law creates community«. Temple, Law’s Hidden Face, S. 366. Kathryn Temple spricht hier von »fragmentation effects«. K Temple, Law’s Hidden Face, S. 366 und 359.
1. Einleitung
Dass es aber gerade die Erzählung schafft, einen so großen Einfluss auf die Dynamik eines juristischen Verfahrens zu nehmen, liegt an einer entscheidenden Grundkonstante bzw. ihrer Wirkung. Sie kann in besonderer Weise Emotionen (vgl. Kapitel 2 und 3) evozieren und somit Vorannahmen sowie Konventionen der am juristischen Verfahren beteiligten Personen durchbrechen. Des Weiteren ist die dramatische Grundstruktur förderlich, die dem juristischen Verfahren zu eigen ist. Rede und Gegenrede sind hier typische Konstanten. Einen wichtigen Einfluss auf den Ablauf und die Wahrnehmung des Verfahrens hat die Gewöhnung. Haben einzelne ProzessteilnehmerInnen besonders viel Raum bzw. Zeit, seine oder ihre Sichtweise der Geschehnisse zu vermitteln, kann eine solche über das Gesagte stattfinden. Die in einem Gerichtsverfahren formulierten Erzählungen und dargestellten Identitäten vermitteln aber auch eine subjektive Sicht auf die unter Umständen unterschiedlich wahrgenommene Vergangenheit. Das gesamte juristische Verfahren wird so zum Spiegel zweier Zeiten. Dies gilt nicht nur für die Aussagen der Angeklagten, sondern für alle am Verfahren Beteiligten.41 Dazu gehört auch das Bestreben, das eigene Selbst und das vergangene Handeln an entscheidenden Punkten als gewöhnlich und an anderen Stellen als ungewöhnlich darzustellen.42 Die eigene Biografie und die eigenen Tatmotive mit den gesellschaftlichen und in erster Linie mit den juristischen Vorstellungen von richtig und falsch erzählerisch vor Gericht in Einklang zu bringen, ist also ein Ziel der Aussagenden vor Gericht. Damit einhergehend ist das Kohärenzgebot zu sehen, dem die Erzählung vor Gericht unterworfen ist. Der erzählerische Akt vor Gericht ist somit ein strategischer, der vor allem auf die Plausibilität der Abfolge der geschilderten Ereignisse zum Zweck der Glaubwürdigkeit abzielt. Dies steht in engem Zusammenhang mit der biografischen Kohärenz, die mittels der Erzählung vor Gericht erreicht werden soll. Einwände, andere Beweismittel und Nachfragen können während des gesamten juristischen Verfahrens die narrative Selbstdefinition der Aussagenden permanent stören. Die Prozessdynamik entsteht also auch durch diese Unterbrechungen, die wiederum eine Neujustierung des vorangegangenen Narrativs verlangen, um wieder Kohärenz und Plausibilität zu erlangen. Es gilt also ganz klar: »When we import the narrative form of storytelling into our legal system, we confuse fiction 41 42
Eine Ausnahme bilden die standardisierten Formulierungen und Aussagen, die der Prozessordnung geschuldet sind. Im Falle der Anklagen in NSG-Verfahren, die sich mit Vorkommnissen in den Konzentrationslagern beschäftigten, stellen die Angeklagten immer wieder in den Vordergrund, dass das Streben ihres Handelns stets die Herstellung von normalen Zuständen war. Die Zustände im Lager selbst werden als äußerst chaotisch und unübersichtlich beschrieben. Normalität im Lager zu erreichen, wird als Ziel für den Schutz der Inhaftierten dargestellt und als Grund für die verwahrlosten Zustände. Die Verantwortung für das Chaos wird dabei zumeist völlig entpersonalisiert den Umständen (Krieg, Diktatur, Krankheiten) zugeschrieben. Die Möglichkeit des aktiven Handelns wird von den Angeklagten als nahezu unmöglich dargestellt.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
with fact and endanger the truth-finding function of the adjudicative process.«43 Das Sich-Einschreiben in die gesellschaftlichen Konventionen soll ja eben den Konflikt befrieden und somit auch das Strafmaß obsolet machen, da der Konflikt quasi ›weg-erzählt‹ wird.44 Deutlich ist, dass die überlegte Vorgehensweise in Geschichten verpackt vermittelt wird. Allerdings handelt es sich bei diesem argumentativen Erzählen von Erlebten/m keineswegs um eine bewusste Vorgehensweise zur Begründung des eigenen Handelns.45 Es ist gerade deshalb diese unbewusste Ebene, die hier durch das andere methodische Vorgehen, also der Untersuchung historischer Quellen mittels literaturwissenschaftlicher Methodik, konkret mit dem Verständnis einer performativen und unzuverlässigen Selbsterzählung, zugänglich gemacht werden soll. Wer es also in einem rechtsstaatlichen juristischen Verfahren schafft, zu erzählen, hat eine gewisse Form der Machtpositionierung bereits erreicht. Gleichzeitig fordert die Rechtsstaatlichkeit aufgrund der prinzipiellen Unschuldsvermutung im Sinne der Angeklagten aber auch, dass diese wie auch die ZeugInnen Raum haben, ihre Sichtweise und Erinnerung an die vergangenen Ereignisse zu vermitteln.
1.3.2
Unzuverlässiges Erzählen als Charakteristikum der Aussagen von Beschuldigten im Vorfeld des Prozesses
Das größte Problem verbunden mit der erzählerischen Positionierung in einem Gerichtsverfahren stellt der Aspekt des unzuverlässigen Erzählens dar. Die Frage, die eine Untersuchung zum unzuverlässigen Erzählen grundlegend begleitet, ist die, warum die RezipientInnen eine mangelnde Glaubwürdigkeit der Erzählenden wahrnehmen. Der erste ›Leseeindruck‹ einer Unzuverlässigkeit entsteht bei Aussagen von NS-TäterInnen in Nachkriegsprozessen vor allem durch die Erzählsituation. Diese Unzuverlässigkeit ist also einerseits im wortwörtlichen Sinne gemeint, andererseits greift die Begrifflichkeit bewusst auf das literaturwissenschaftliche Konzept vom unzuverlässigen Erzählen zurück. Denn der institutionelle Kontext des Gerichts bringt es mit sich, dass zur Erreichung eines angestrebten Zieles, wie z.B. Strafminderung, in einer strategischen Weise erzählt wird. Die Verschiebung von Wahrheit zugunsten von Plausibilität ist eine Folge davon. Die »Diskrepanz
43 44 45
Alan M. Dershowitz, Life is Not a Dramatic Narrative, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 99-105, S. 101. Dies lässt sich vor allem bei den nachprozessualen Aussagen wie den Gnadengesuchen feststellen, in denen genau diese Darstellung des Selbst als Teil der Gesellschaft stattfindet. »[T]acit understandings are communicated through [. . .] stories […] this transmission takes place at an unconscious level and is distinct from the conscious process of reasoning.« D.A. Farber, S. Sherry, Legal Storytelling and Constitutional Law, S. 49.
1. Einleitung
zwischen Weltvorstellung [der RezipientIn] und Absichten des Erzählers«46 ist ein Merkmal, das ebenso für die fiktionale Erzählung wie auch für die vor Gericht von den Angeklagten formulierten Narrative im juristischen Verfahren gilt. So ist davon auszugehen, dass das Dargestellte bzw. das Narrativ vor Gericht von einem nicht zu unterschätzenden Maß an Unzuverlässigkeit bestimmt ist. Das Besondere bei der Analyse der vorliegenden zeithistorisch-juristischen Quellen ist der Aspekt der doppelten Informationsermittlung als Merkmal des unzuverlässigen Erzählens in den vorprozessualen, schriftlichen Stellungnahmen der Beschuldigten (Kapitel 2) und der Performativität in den Gnadengesuchen der Verurteilten (Kapitel 4). Das unzuverlässige Erzählen ist kein rein textimmanentes Phänomen. »Vielmehr liegen dem Konzept unausgesprochen moralische und epistemologische Annahmen zugrunde.«47 Welche Vorstellungen damit im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit stehen, ist stark mit der Diskussion um die Normalität von NSTäterInnen verbunden. Es ist also wichtig, den außerhalb des Textes stehenden ›normativen Bezugsrahmen‹ zu berücksichtigen. Der juristische Rahmen ist sehr klar durch die demokratisch-rechtsstaatlichen Normen und die jeweilige Prozessordnung festgelegt. Im Bereich der ethisch-moralischen Wertvorstellungen wird es dann aber schwieriger, da diese nicht unbedingt in dieser expliziten Weise vorhanden sind. Aus diesem Grund wird für den Fall im juristischen Rahmen nur auf die Prozessordnung und deren Einfluss auf Aussagen eingegangen. Der Wirklichkeitsanspruch des Ausgesagten soll deshalb nur für die Plausibilität im Rahmen des juristischen Verfahrens überprüft werden. Hinsichtlich der moralisch-ethischen Vorstellungen soll die Normalität von Täterschaft, im Verständnis der RezipientIn, aber auch in der Darstellung des Aussagenden, herausgefunden werden. Das unzuverlässige Erzählen ist als Konzept vor allem wichtig, um die Herangehensweise der RezipientIn an die jeweiligen Erzählungen zu benennen und den hier untersuchten Quellen in der erforderlichen Weise begegnen zu können. Denn dieses Konzept bringt – ausgehend von einem unzuverlässigen Erzähler – eine bestimmte Auf- bzw. Wachsamkeit mit sich, die in der Konsequenz zu einer Analyse auf zwei Ebenen führt. Die Unzuverlässigkeit von Aussagenden vor Gericht bzw. in juristischen Kontexten erfordert also von der RezipientIn im Idealfall eine spezifische quellenkritische Haltung bei deren Beurteilung.
46
47
Ansgar Nünning, Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens, in: Ders. (Hg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 2013, S. 3-39, S. 17. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 30.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
1.3.3
(Fragmentarische) Selbsterzählung vor Gericht
Die Analyse fördert durch ihren interdisziplinären Charakter mehr als nur den bloßen Fortgang eines (Lebens-)Prozesses zutage. Denn die Erzähltheorie erlaubt es, das Dargestellte jenseits des ›Was‹ des Erzählten zu untersuchen und auf diese Weise die der Selbsterzählung inhärente Doppelbödigkeit zu eruieren. Die erzählten Selbstbilder werden mittels eines von den Angeklagten ›unzuverlässig‹ erzählten Tathergangs erzeugt. Im Gegensatz zum autobiografischen Erzählen bietet das Konzept der Selbsterzählung ein weniger ausdifferenziertes und normativ vorgeprägtes Forschungsfeld. Es berücksichtigt wesentlich stärker die Kontexte der Erzählung, also den impliziten und expliziten Einfluss des Erzählers auf die Darstellung der (Lebens-)Ereignisse, und den Umstand, dass eine solche Erzählung nicht immer die Präsentation einer gesamten Biografie umfassen muss. Die zeitliche Differenz zwischen dem Erzählen der Ereignisse und dem tatsächlichen Geschehen der Vorkommnisse führt zu ›Unregelmäßigkeiten‹. Darüber hinausgehend erfordert die Darstellung des eigenen Subjekts in den zur (gerichtlichen) Verhandlung stehenden Ereignissen von den Aussagenden, sich selbst in diesen bzw. bei diesen Ereignissen zu verorten oder, narratologisch gesprochen, eine erzählerische (Selbst-)Positionierung durchzuführen. Das Ziel einer möglichst kohärenten Selbstinszenierung als unschuldig ist aber beiden gemein.
1.3.4
Performativität im juristischen Verfahren und in den Gnadengesuchen der Verurteilten
Neben dem unzuverlässigen Erzählen ist für den Machtdiskurs vor Gericht Performativität ein weiteres wichtiges Merkmal. Der oder die Einzelne erwirkt durch performatives Sprechen eine (Ich-)Positionierung, die Analogie zwischen Theater und Gericht ist offensichtlich. Der Begriff der Performativität vermag es, die »Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft«48 zu verdeutlichen. Der Prozess selbst erscheint als die Aufführung der unterschiedlichen Positionen mit unter Umständen verschiedenen Darstellungen (vergangener) Wirklichkeiten vor Gericht. Analog zum Konzept der Performativität als einer Inszenierung von Kultur handelt es sich im Falle des Gerichtsverfahrens also um eine Inszenierung der juristischen Kultur.49 Die Prozessordnung sorgt wie ein Dramentext mit Regieanweisungen für die Zuteilung der Rollen. Der Richter gleicht in seiner Rolle einem Regisseur, der für die Einhaltung der Vorgaben der Inszenierung verantwortlich ist. Am untersuchten Quellenkorpus lassen sich zwar die performativen Anteile nicht in Gänze durch den theaterbezogenen Performativitätsbegriff 48 49
Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 29. Ebd., S. 28.
1. Einleitung
abbilden, da es keine Film- und/oder Tonaufnahmen gibt und nur in Ausnahmefällen die gesamte Räumlichkeit inklusive der Anordnung der ›Figuren‹ bzw. Körperlichkeit rekonstruiert werden kann.50 Doch der Eindruck eines rituellen Handelns vor Gericht, das zu einer performativen Rechtserzeugung führt, ist problemlos anhand der Quellen zu verorten. Da »Erzeugen in der Sprache performativ funktioniert, […] [seiner]seits in der Sprache geschieht und diese Gegebenheit konstitutiv […] ist, muss angenommen werden, dass Rechtserzeugung performativ funktioniert.«51 Da das Ritual seine Performativität vor allem durch die sich wiederholende Handlung erlangt, ist die Repetition in den Aussagen der Angeklagten nicht nur für den Aspekt des unzuverlässigen Erzählens signifikant, sondern generell für ihr Vorhaben der Selbstinszenierung. Jedoch handelt es sich nicht um eine identische Wiederholung, treffender ist der Begriff der »Vorgängigkeit«52 . Es sind aber nicht nur die physischen und rituellen Handlungen entscheidend für die Performativität bei juristischen Verfahren, sondern ebenso die sprachlichen (nicht-ritualisierten) Handlungen, mit Austin gesprochen: »How to do things with words«53 . So wird auch die eigene Inszenierung der angeklagten Frauen und Männer auf performative Weise erzeugt. Bezüglich des Performativitätsaspektes im Kontext sprachlicher Handlung schließt das vorliegende Projekt unter anderem an die Überlegungen Judith Butlers zu Performativität und Gender an.54 Butlers Performativitätsbegriff geht im Gegensatz zu den Überlegungen Fischer-Lichtes nicht auf Theaterkontexte zurück, sondern führt Austins Überlegungen zum Sprechakt fort. Ihre am Diskurs über Genderproblematik entworfene Begrifflichkeit von Performativität sieht im Vollzug eines Sprechaktes eine performative Handlung. In ihren Überlegungen findet sich auch eine Verknüpfung zwischen Ritual und Performativität, da sie wiederholende (rituelle) Handlungen als typisch für Machtdiskurse kennzeichnet.55 Der oder die Angeklagte ist demnach ein performativ handelndes Subjekt innerhalb eines Machtdiskurses. Die Unmöglichkeit der Kategorisierung von performativen Äußerungen (im juristischen Verfahren) in wahr und falsch, dafür aber in eine des Gelingens und Nicht-Gelingens, zeigt warum diese Blickrichtung für 50
51 52 53
54 55
Fischer-Lichte benennt Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit sowie Zeitlichkeit als vier Voraussetzungen zur Schaffung einer »performativen Hervorbringung von Materialität«. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 20149 , S. 127-129. Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung, Velbrück 2012, S. 178. Ebd., S. 143. Der Linguist Austin hat in seiner Sprechakttheorie den Begriff des Performativen geprägt. Der hier zitierte Satz greift den Titel seiner bekanntesten Publikation auf. John L. Austin, How To Do Things With Words, Harvard 1967, S. 6. Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York, London 1999. Anna-Lisa Müller, Sprache, Subjekt und Macht bei Judith Butler, Marburg 2009, S. 130.
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28
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die vorliegende Analyse unumgänglich ist.56 Für eine möglichst genaue Klärung des Performativitätsbegriffs, an dieser Stelle verstanden als Vollzug einer sprachlichen Handlung, gilt es diese Handlung möglichst genau zu beschreiben. An dieser Stelle sind besonders die Kontextualisierungen in der Erzählung der Angeklagten und ihre Abgrenzung von diesen Zusammenhängen relevant, da diese die Erwartungen des Publikums (Richter, Verteidigung, Angeklagte, Zuschauer) aufgreifen. Die Angeklagten können diese Kontexte in umfassender Form darlegen, wenn sie genügend Raum für den Entwurf eines Narrativs zur Verfügung haben. Unter anderem aus diesem Grund ist der Aspekt der Performativität besonders in den Gnadengesuchen der verurteilten Männer und Frauen der NSG-Verfahren dominierend (Kapitel 4). Die Verurteilten rekurrieren damit auf ein Wissen oder zumindest Vorstellungen über den Sachverhalt des Verfahrens bei den ›ZuhörerInnen‹. Sie müssen sich aber, um für unschuldig gehalten zu werden, von diesen Erwartungen ›frei-erzählen‹. Die Darstellungsweise des Ereignisses soll also eine andere, vor allem überzeugende Wirklichkeit schaffen, die sich mit den Erwartungen der Zuhörerschaft und den Zielen der Verurteilten deckt. Das verurteilte Subjekt versucht durch die performative Erzeugung eines ›unschuldigen‹ Bildes von sich selbst unter Beweis zu stellen, dass es zu Unrecht Teil des Machtdiskurses vor Gericht geworden sei. Jedoch ermöglicht das Gnadengesuch nicht, die Rechtmäßigkeit eines Urteils anzufechten. Vielmehr soll gemäß dem Sprichwort ›Gnade vor Recht‹ walten. Aus diesem Grund sind für eine Zustimmung bzw. Ablehnung des Gnadengesuchs familiäre und private Veränderungen der Verurteilten entscheidend. Dennoch und deshalb ist diese Quellenform für die vorliegende Untersuchung wichtig, klassifizieren und beurteilen die Verurteilten ihr vergangenes Verhalten als positiv bzw. exkulpieren dieses, um die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges zu erhöhen. Des Weiteren sind es nicht nur bewusst gesteuerte performative Selbstbilder, die sich im Laufe des Erzählens vor Gericht finden. Vielmehr konstruieren alle Prozessbeteiligten und somit auch die Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten Bilder, Geschichten und Vorstellungen auf bewusste wie auch unbewusste Weise: bewusst, weil ihre Narrative als Mittel der Begründung dienen, unbewusst, da ihnen die Gründe für die jeweilige Konstruktion nicht immer bis zuletzt klar sein können.57 So findet sich hier eine Performativität auf zwei Ebenen: einerseits auf eine explizite Weise, die u.a. ein illokutionäres Verb aufweist, und andererseits auf
56 57
S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, S. 61. »[T]hese tacit understandings are communicated through images, stories, and other symbols […] This transmission takes place at an unconscious level and is distinct from the conscious process of reasoning [. . .]. [S]torytelling literature teaches, the way to proceed is not through the use of stories, which can operate at a deep level of mindset construction, just like the societal racist and sexist stories they seek to combat.« D.A. Farber, S. Sherry, Legal Storytelling and Constitutional Law, S. 49.
1. Einleitung
eine implizite Weise, die eben nicht unbedingt die Nennung eines illokutionären Verbes erfordert, aber dennoch als Sprechakt benennbar ist.
1.4
Quellenkorpus
Auch wenn die Kategorisierung von Narrativen in glaubhaft und nicht-glaubhaft bzw. ihrer Vermittler als glaubwürdig bzw. unglaubwürdig eine alltägliche kognitive Leistung unseres Daseins darstellt, muss der Aussage im juristischen Kontext noch einmal eine größere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Narratologische Konzepte wie die zum unzuverlässigen Erzählen, zum performativen Erzählen sowie zur (fragmentarischen) Selbsterzählung vermögen es, die nötige quellenkritische Aufmerksamkeit für die Besonderheit narrativer Quellen wie den getroffenen Aussagen im Laufe von NSG-Verfahren zu erbringen. Die Einflüsse auf die Prozessdynamik, bedingt durch die anderen Teilnehmer vor Gericht, soll trotzdem – soweit es das jeweilige Gerichtsprotokoll möglich macht – berücksichtigt werden. Dies soll aber nur dann der Fall sein, wenn sich tatsächlich ein solcher Zusammenhang innerhalb der dramatischen Struktur des jeweiligen Verfahrens finden und sich die Aussage auf das Prozessgeschehen übertragen lässt. Auch findet das gesamte juristische Verfahren in der Untersuchung Beachtung. Daher werden nicht nur die Aussagen, die während der Hauptverhandlung selbst gemacht wurden, berücksichtigt, sondern ebenso vorund nachprozessuale Erzählungen. Um möglichst übergreifend gültige Aussagen über diese Quellen und ihre Inhalte der zweiten Ebene geben zu können, wurde für die Analyse folgendes Quellenkorpus zusammengestellt.
1.4.1
Dachauer Hauptverfahren
Die vier ausgewählten Konzentrationslager – Dachau, Mauthausen, Neuengamme und Ravensbrück – sowie die dazugehörigen juristischen Verfahren wurden aus unterschiedlichen u.a. auch aus pragmatischen Gründen wie Zugänglichkeit und Umfang der Aktenbestände ausgewählt. Nachdem Theodor Eicke das Konzentrationslager Dachau umstrukturiert hatte, erlangte dieses Modellcharakter sowohl für bereits bestehende als auch für neue Lager. Der Dachauer Hauptprozess fand vom 15. November bis zum 13. Dezember 1945 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau statt. Dieses Verfahren der amerikanischen Alliierten stellte neben dem britischen Bergen-Belsen-Prozess eines der ersten (alliierten) Verfahren wegen NS-Verbrechen dar. Zu den Angeklagten gehörten prominente Personen der Lager-SS wie Martin Weiß – ehemaliger Kommandant des Vernichtungslagers Majdanek und des Konzentrationslagers Dachau – oder der Tropenmediziner
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30
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Klaus Schilling – der ehemalige Direktor der tropenmedizinischen Abteilung des Robert-Koch-Instituts führte an Dachauer Häftlingen Malaria-Experimente durch. Diese hierarchisch höher gestellten Persönlichkeiten verfügten über eine andere erzählerische Darstellungskompetenz und eine andere (strategische) Vorgehensweise, allein weil sie bereits zum Zeitpunkt der Verbrechen auf ein anderes Wissen zugreifen konnten, als hierarchisch niedrig gestellte Angehörige der Lager-SS. Das Dachauer Hauptverfahren folgte der amerikanischen Militärprozessordnung, die stark an die zivile Strafprozessordnung angelehnt ist, weshalb ein ausführliches Wortprotokoll der damaligen Hauptverhandlung überliefert ist. Dieses eröffnet einen detaillierten Einblick in das Prozessgeschehen und entfaltet durch die Möglichkeit des Kreuzverhörs in der Hauptverhandlung eine besondere erzählerische Dynamik.
1.4.2
Österreichische Volksgerichtsprozesse
Ähnlich aussagekräftige Akten finden sich im Falle der österreichischen Volksgerichtsprozesse zu Verbrechen im Konzentrationslager Mauthausen und seinen Außenlagern. Mehrheitlich fanden diese Verfahren vor dem Landgericht Wien und Linz statt. Die Protokolle davon sind heute in den jeweiligen Landesarchiven zugänglich. Die Volksgerichte, ordentliche Senate der jeweiligen Landesgerichte, waren in den Jahren von 1945 bis 1955 auf Basis des Verbotsgesetzes (VG) und des Kriegsverbrechergesetzes (KVG) für sämtliche NSG-Komplexe und die Entnazifizierung in Österreich zuständig. Die Akten lassen in der Mehrheit einen Eindruck über das gesamte Verfahren zu. Sie reichen von der Befragung der Beschuldigten über die Anklage bis hin zum Urteil und zu möglichen Gnadengesuchen der Verurteilten. Die ausführlichen Protokolle sind durch den Protokollanten geglättet und bis auf wenige Ausnahmen sind die Fragen von Richter, Staatsanwalt oder Verteidigung nicht dokumentiert. Trotzdem kann, mit den vor- und nachprozessualen Erzählungen in Relation gesetzt und mit den durchaus häufig von den Angeklagten verfassten handschriftlichen Äußerungen abgeglichen, ein umfassendes Bild über die Frauen und Männer sowie deren Erzählungen gewonnen werden. Anders als im Dachauer Mauthausen-Prozess58 , der von den Amerikanern im Jahre 1946 geführt wurde, befanden sich unter den Angeklagten der Volksgerichte Linz und Wien in der Hierarchie der Lager-SS rangniedrig stehende Personen. Mit dieser 58
Von März bis Mai 1946 führte das amerikanische Militär einen Kriegsverbrecherprozess gegen ehemalige Angehörige der Konzentrationslager-SS und Personen, die in Zusammenhang mit Verbrechen im KZ Mauthausen standen, durch. Neben dem zweiten Schutzhaftlagerführer Johann Altfuldisch waren u.a. auch der Gauleiter von Oberösterreich, August Eigruber, sowie 59 weitere Personen angeklagt. Insgesamt 49 der Angeklagten wurden hingerichtet. Florian Freund, Der Mauthausen-Prozeß. Zum amerikanischen Militärgerichtsverfahren in Dachau im Frühjahr 1946, in: Dachauer Hefte 13 (1997), S. 99-118.
1. Einleitung
untergeordneten Stellung ging auch meist eine andere soziale Herkunft, die sich aber nur bedingt auf das Erzählen auswirkte, einher.
1.4.3
(Bundes-)Deutsche Verfahren zu Verbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück und Neuengamme
Der dritte Verfahrenskomplex befasst sich mit Prozessen zu Verbrechen im ehemaligen Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück und dem Konzentrationslager Neuengamme.59 Es handelt sich bei den Angeklagten um Frauen. Die beiden Prozesse, einer 1948 vor dem Hamburger, der spätere 1951 vor dem Berliner Landgericht, beschäftigen sich im ersten Fall mit ehemaligen weiblichen Funktionshäftlingen und im zweiten Fall mit einer ehemaligen Angehörigen des weiblichen SSGefolges, die in den späten Kriegsjahren als Aufseherin in einem der Außenlager von Ravensbrück tätig war. Die Suche nach weiblichen Angeklagten für die vorliegende Untersuchung führte automatisch zur Nachforschung nach Verfahren, die sich mit dem Konzentrationslager Ravensbrück befassten. Mittels der NSGDatenbank am Institut für Zeitgeschichte München konnten aber nur zwei Verfahren gefunden werden, die diese beiden Auswahlkriterien – weibliche Angeklagte und Tatort Konzentrationslager Ravensbrück – erfüllen konnten. Eines stellte sich letztlich aber als Verfahren heraus, welches zuvorderst die Geschehnisse im Außenlager Beendorf verhandelte. U.a. war es die ›Aktenkonkurrenz‹ zwischen den Alliierten und westdeutschen Behörden sowie die fehlende Tatortzuständigkeit der westdeutschen Staatsanwaltschaft, die letztlich dazu führte, dass sich nur zwei westdeutsche NSG-Verfahren mit Verbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück befassten, bei dem noch dazu Frauen als Angeklagte auftraten.60
1.5
Methodische Vorgehensweise und Struktur
Die unterschiedlichen Methoden des Projektes werden auf je unterschiedliche Quellentypen des Korpus in jeweils drei Hauptkapiteln angewandt. Stets werden drei ehemalige Angehörige der Lager-SS oder Zivilisten, die wie der Tropenmediziner Klaus Schilling eng mit der SS zusammengearbeitet haben, analysiert. Außerhalb dieser Trias soll dann die jeweilige Äußerung im Verfahren gegen einen weiblichen oder männlichen Funktionshäftling untersucht werden. Im Vorfeld der 59
60
Es gab zwar ab dem Jahr 1941 auch ein kleines Lager für Männer innerhalb des Lagerkomplexes von Ravensbrück, jedoch beschäftigen sich das hier untersuchte Verfahren ausschließlich mit dem wesentlich größeren Frauenlager. Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NSVerbrechen in Westdeutschland 1945-1949 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 96), München 2013, S. 1007.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Analysen finden sich einführende, aber auch projektbezogene Forschungsdarstellungen zum Thema, die die Vorgehensweise nicht nur transparent, sondern auch wiederholbar im Sinne einer quellenkritischen Vorgehensweise machen sollen. Alle hier untersuchten Modi des Erzählens der Männer und Frauen finden sich immer wieder im gesamten juristischen Verfahren. Dennoch überwiegen bestimmte Erzählweisen und Erzählcharakteristika in signifikanter Weise nach Zeitpunkt bzw. Fortgang des juristischen Verfahrens, weshalb die jeweiligen Kapitel eine bestimmte Aussageform untersuchen. Unzuverlässiges Erzählen in vorprozessualen Aussagen Zu Beginn wird das unzuverlässige Erzählen auf vorprozessuale, schriftliche Eingaben der Beschuldigten vor Gericht bezogen. Da es sich um geschlossene und umfangreiche Darlegungen noch vor Erhebung der Anklageschrift handelt, ist die erzählerische Motivation der beschuldigten Männer und Frauen besonders hoch, diese zu beeinflussen oder gar abzuwenden. In der Folge finden sich zahlreiche Marker des unzuverlässigen Erzählens, wie z.B. wiederholte Wirklichkeitsbeteuerungen, lexikalische Indikatoren oder Floskeln. Das unzuverlässige Erzählen ist eine Interpretationsstrategie, die von der RezipientIn angewandt wird, um Äußerungen des Erzählers, die widersprüchlich sind, in eine kohärente Interpretation einbauen zu können. Mit Hilfe dieses Konzepts kann mehr über »Informationsstand, psychologische Disposition, Normen und Werte sowie d[ie] Triebstruktur«61 , von der die Bedürfnisse der Akteure abhängen, herausgefunden werden. Da das Konzept des unzuverlässigen Erzählens auf Basis von literarisch-poetischen Texten entworfen wurde, müssen die in der bisherigen Forschung gelisteten Marker für unzuverlässiges Erzählen nach ihrer Tauglichkeit für die Diagnose eines unzuverlässigen Erzählens im Faktualen überprüft werden. Die Arbeit sieht sich deshalb auch als eine Erfüllung der Aufforderung, die Untersuchung von unzuverlässigem Erzählen auch in faktualen Texten vorzunehmen. Die geschichtswissenschaftliche Quellenkritik operierte bisher durchaus in dem Wissen um Unzuverlässigkeit der Quellen, jedoch wurde die sprachliche Ebene dieses Problems bisher nur wenig beachtet. (Fragmentarische) Selbsterzählung in der Hauptverhandlung Im Falle der (fragmentarischen) Selbsterzählung soll ein close-reading der protokollierten Hauptverhandlungen unternommen werden. Da aufgrund der unterschiedlichen Prozessordnungen in den (bundes-)deutschen Verfahren keine Protokolle existieren, werden an dieser Stelle nur die Aussagen Angeklagter des Dachauer
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Dagmar Busch, Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster, in: Ansgar Nünning (Hg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 20132 , S. 41-58, S. 50.
1. Einleitung
Prozesses und der österreichischen Volksgerichte analysiert. Die zweite Methodik der Studie bedient sich u.a. den Überlegungen der linguistischen Gesprächsanalyse bzw. Konversationsanalyse, wie sie für die Untersuchung von Alltagserzählungen verwendet wird und sich so der Diskursforschung anschließt. Die Erzählung vor Gericht und die Aussagen der Angeklagten im Ganzen dienen als Argumentation für einen Widerspruch des in der Anklage formulierten Tatbestands. Aus diesem Grund zeigen die Selbsterzählungen argumentative Aktivitäten wie ›Begründen‹ und ›Einwenden‹ oder argumentative Schlussmuster werden angewandt, die logisch rekonstruiert werden können.62 Die Gerichtsrede kann somit zur Textsorte der Argumentation gezählt werden und zugespitzt formuliert stellt die Erzählung vor Gericht einen argumentativen Akt dar. Dieser ist vor allem von einer Selbstdarstellung des Angeklagten geprägt, die im Folgenden als ›Selbsterzählung‹ bezeichnet werden soll. Die »Herstellung von Kohäsion/Kohärenz [also die Anordnung der] Ereignisse in eine sequenzielle sprachliche Abfolge«63 ist eine Folge davon. Aufschlussreich ist die Eruierung von argumentativen Schritten, da eine Aussage stets als ein »Handlungsproblem [und] daher seiner allgemeinsten Form nach als Problemlösungsverfahren zu charakterisieren [ist].«64 Damit ist verbunden, dass die (fragmentarische) Selbsterzählung der Hauptverhandlung für die RezipientInnen eine narrativ erzeugte Identität greifbar macht. Wie dies erreicht wird, stellt sich als eine der Analysefragen. Aber gerade die Erzählung als Argument kann deshalb ein hoher Erfolg für die Erzählenden sein, da durch »emotionale und evaluative Qualifizierungen: […] Lebendigkeit und psychologische Nähe des Geschehens durch narrative Präsentation von Ereignissen [erreicht wird und somit] ein Zugang zum Erzählten«65 überhaupt erst möglich ist. Dies findet sich durch die Herausarbeitung von »evaluative[n] Äußerungen [in] der Bandbreite von subtilen Andeutungen bis hin zu eindeutigen Stellungnahmen«66 . Performatives Erzählen in den Gnadengesuchen Die dritte methodische Vorgehensweise, die Analyse eines performativen Erzählens, spielt in Bezug auf die Analyse der Gnadengesuche eine Rolle. Dieser Quellentyp beinhaltet nicht nur implizite, sondern auch explizite illokutionäre Sprechakte. Dies liegt daran, dass das Gnadengesuch stets ein Angebot bzw. Versprechen
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Arnulf Deppermann, Desiderata einer gesprächsanalytischen Argumentationsforschung, in: Ders., Martin Hartung (Hg.), Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien, Tübingen 20062 , S. 10-26, S. 19. Hartmut Seitz, Lebendige Erinnerungen. Die Konstitution und Vermittlung lebensgeschichtlicher Erfahrung in autobiographischen Erzählungen, Bielefeld 2004, S. 76. A. Deppermann, Desiderata einer gesprächsanalytischen Argumentationsforschung, S. 22. H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 76. Ebd.
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des Verurteilten enthält, das im Gegenzug ein Entgegenkommen des Gerichts erbringen soll. Das Phänomen der Performativität tritt im vorliegenden Quellenkorpus auf, da ein juristisches Verfahren an sich ein performatives Phänomen ist. Das Urteil stellt einen »illokutionäre[n] Sprechakt [dar], der [die] Lesart des Geschehens für alle Parteien festlegt«67 . Der performative Charakter des juristischen Verfahrens ist in den hier untersuchten Fällen besonders prägnant, da die Prozesse im Bereich der Übergangsjustiz (Transitional Justice) anzusiedeln sind. Gleichzeitig ist diese Verortung entscheidend, da ein signifikantes Merkmal solcher Verfahren das unterschiedliche Normensystem von Handlungs- und Erzählgegenwart ist. Die hierdurch verursachte erzählerische ›Verunsicherung‹ gilt es, mittels der erwähnten narratologischen Phänomene offenzulegen. Das Gnadengesuch ist, wie auch das richterliche Urteil, in Gänze ein illokutionärer Sprechakt mit performativem Charakter. Es geht den Verurteilten darum, sich in den wirklichkeitskonstituierenden Sprechakt des richterlichen Urteils einzufügen. Ihre Äußerungen müssen sich den weltlichen Anforderungen anpassen. Häufig finden sich Formen des impliziten Sprechaktes ohne illokutionäres Verb.68 Für die nachfolgende Analyse sind neben der Unterscheidung dieser fünf Sprechakte folgende drei Punkte herauszuarbeiten: erstens, der illokutionäre Zweck (illocutionary point), der das Ziel der Äußerung benennt und zweitens, die psychische Einstellung (psychological state) der Sprechenden bzw. Schreibenden beinhaltet. Auch der dritte Punkt, das Korrelat zwischen Äußerung und Tatsache (direction of fit) ist wichtig, insofern eine Änderung der Wirklichkeit durch den Sprechakt erfolgen soll.69 Wichtig ist, um es noch einmal zu erwähnen, dass ein illokutionäres Verb nur einen expliziten Sprechakt markiert, die impliziten Sprechakte jedoch gerade, weil sie ›im Verborgenen‹ geschehen, eine besondere Aufmerksamkeit – hinsichtlich ihres Auffindens, aber auch wegen ihrer semantischen Bedeutung – erfordern.
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68 69
Anke van Kempen, Die Rede vor Gericht. Prozeß, Tribunal, Ermittlung: Forensische Rede und Sprachreflexion bei Heinrich von Kleist, Georg Büchner und Peter Weiss (Rombach Wissenschaften. Reihe Cultura, Bd. 39), Freiburg i.Br. 2005, S. 10. Sven Staffeldt, Einführung in die Sprechakttheorie. Ein Leitfaden für den akademischen Unterricht, Tübingen 2008, S. 35. John R. Searle, Making the Social World. The Structure of Human Civilization, New York 2010, S. 28. Götz Hindelang, Einführung in die Sprechakttheorie (Germanistische Arbeitshefte, Bd. 27), Tübingen 1983, S. 46f.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Die Unzuverlässigkeit von Quellen ist in der Geschichtswissenschaft bekannt.1 Die historische Quellenkritik berücksichtigt, dass Quellen eine subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit wiedergeben. Die bisherige historiografische Vorgehensweise näherte sich durch die Auswahl verschiedener Quellen, die es ermöglichen, aus unterschiedlichen Blickrichtungen auf vergangene Ereignisse zu blicken, dem Kern der Wahrheit an. Die unterschiedliche Herkunft und Genese sowie die verschiedenen Autoren der Überlieferungen werden durch die Quellenkritik expliziert, kontrastiert und verglichen. Durch dieses Vorgehen findet eine Annäherung an das Mögliche und Wahrscheinliche statt. Es handelt sich also um eine hermeneutische Vorgehensweise.2 Doch es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen diesem (historiografischen) Verständnis der Unzuverlässigkeit von Quellen und der Unzuverlässigkeit, die aufgrund des narrativen Charakters einer Überlieferung zustande kommt. Die gerade formulierten quellenkritischen Kriterien wie Autor, Entstehung oder Herkunft oder auch der Vergleich auf semantischer Ebene fassen den Begriff des Unzuverlässigen im alltäglichen Wortgebrauch. Gemeint ist damit eine geringe Zuverlässigkeit bezüglich des inhaltlichen Aussagewerts der jeweiligen Quelle. Doch dieser quellenkritische Umgang mit Überlieferungen ist lediglich eine mögliche Vorgehensweise, wird aber dem narrativen Wert der Quelle nicht gerecht. Im vorliegenden Korpus ist diese Quellenkritik hinsichtlich der ›Rahmenhandlung‹, also der klaren Überlieferungsgeschichte sowie dem stark institutionalisierten Entstehungsprozess, schnell und problemlos darstellbar. Die vorprozessualen
1 2
Das Kapitel 2.3. beschäftigt sich in Bezug auf das unzuverlässige Erzählen in faktualen Texten mit den Aspekten des unglaubwürdigen Aussagenden und der unglaubhaften Aussage. Johannes Süßmann, Geschichtswissenschaften und Objektive Hermeneutik, in: Roland Becker-Lenz, Andreas Franzmann, Axel Jansen, Matthias Jung (Hg.), Die Methodenschule der Objektiven Hermeneutik. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2016, S. 115-140, S. 121.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Darstellungen von Aussagen der Verdächtigen oder Beschuldigten3 – die Bezeichnung variiert je nach Fortgang des juristischen Verfahrens – stellen eine erste Reaktion auf die Anschuldigungen dar. Das close-reading unter Einbezug des Konzepts ›unzuverlässiges Erzählen‹, zurückgehend auf literaturwissenschaftliche Überlegungen, vermag es, Erkenntnisse über einen bisher nicht erfassten Informationsteil dieser Quellen zu eruieren. Dies basiert auf dem narrativen Charakter dieser Darstellungen. Die schriftlich verfassten Aussagen umfassen mehrere Seiten und sind von einem hohen Maß an Konstruktion durch die VerfasserInnen geprägt. Des Weiteren mussten sie beim Schreiben nicht auf externe Dynamiken Rücksicht nehmen, wie das während vorprozessualer Vernehmungen und während des Gerichtsgeschehens selbst der Fall ist. Ähnlich wie im Gnadengesuch, das aber im Gegensatz zur vorprozessualen Stellungnahme einen performativen Charakter aufweist, können die Beschuldigten hier eine möglichst stringente und umfassende Erzählung entwerfen. Eignet sich die im Prozessgespräch geforderte spontane Reaktion, um einen Eindruck von der Einstellung der Angeklagten zu ihren Verbrechen zu erhalten, so ist die ausführliche schriftliche vorprozessuale Stellungnahme eine Form, die wesentlich stärker von einem strategischen Erzählen geprägt ist. Trotzdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die schriftlichen Eingaben der Beschuldigten bzw. Verdächtigen das unzuverlässige Erzählen stets in einer bewussten strategischen Absicht anwenden. Da die deutsche Strafprozessordnung aber den Angeklagten einräumt, sich in der Sache nicht selber belasten zu müssen und auch schweigen zu dürfen, spricht Andreas von Arnauld von einem unzuverlässigen Erzählen »von Rechts wegen«4 . Im Falle der Beschuldigten Wally K., die aus einem bildungsfernen Umfeld kam und sich ihres erzählerischen Könnens vermutlich gar nicht bewusst war, scheinen die Empörung über die Anschuldigungen und die Gefahr einer möglichen Verurteilung bei ihr eine enorme erzählerische Motivation bewirkt zu haben.5 Hierin zeigt sich auch eine starke Selbstzentrierung, was sich auf den Erzählanlass und die Erzählmotivation zurückführen lässt. Die Beschuldigten des Dachauer Hauptverfahrens, die sich über die hohe Wahrscheinlichkeit eines Todesurteils im Klaren waren, pflegen hingegen ein weniger personenzentriertes Erzählen. Sie wollen sich bereits zum Zeitpunkt ihrer ersten Äußerung als Experten darstellen. Allerdings legen die Inhalte der 3
4 5
In den folgenden theoretischen Überlegungen zum unzuverlässigen Erzählen werde ich stets von Beschuldigten sprechen, außer konkrete Personen haben einen dezidiert anderen juristischen Status im Verfahren. Andreas von Arnauld, Recht, in: Matías Martínez (Hg.), Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017, S. 173-187, S. 173. Motivation meint hier »die Beweggründe für das Hervorbringen einer konkreten Handlung«. Luise Greuel, Susanne Offe, Agnes Fabian, Peter Wetzels, Thomas Fabian, Heinz Offe, Michael Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen. Die Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung, Weinheim 1998, S. 165-202, S. 169.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Aussagen die Vermutung nahe, dass diese Äußerungen in nicht geringem Umfang durch das amerikanische Militär beeinflusst wurden. Das Anwenden eines literaturwissenschaftlichen Konzepts wie das des unzuverlässigen Erzählens, das auf der Grundlage von Prosa-Gattungen entstanden ist, verspricht einen großen Erkenntnisgewinn. Um die Vorgehensweise der VerfasserInnen der vorprozessualen Schreiben offenzulegen und die Methodik wiederholbar zu machen, soll im Folgenden zunächst auf die bisherige Forschung zum unzuverlässigen Erzählen unter Rückbezug auf den juristisch-faktualen Kontext aus dem Umfeld der Literaturwissenschaft eingegangen werden. Die Heuristik bzw. Marker, die für den Beweis eines unzuverlässigen Erzählens notwendig sind, sollen benannt und schließlich in einem dritten und letzten Schritt in Bezug zum faktualen Erzählen in vorprozessualen Aussagen in NSG-Verfahren gesetzt werden. Schriftliche Aussagen unterschiedlicher Dienstränge, von Frauen und Männern und auch eines Funktionshäftlings werden untersucht. Letzterer wird aber, wie auch in den weiteren zwei Hauptkapiteln, jenseits der komparatistischen Trias gestellt, um der Pattsituation dieser Häftlingsgruppe adäquat zu begegnen.
2.1
Warum (unzuverlässig) erzählt wird – Emotion und Moral
Das unzuverlässige Erzählen ist bei den drei bzw. vier vorprozessualen Aussagen in den drei untersuchten Verfahrensformen – amerikanisches Militärgericht, österreichisches Volksgericht und deutsches Strafverfahren – aufgrund des Verhandlungsgegenstands besonders augenfällig. Hinter allen diesen Untersuchungsschritten steckt die Annahme, dass die beschuldigten Frauen und Männer durch die divergierenden moralischen Vorstellungen von Handlungs- und Erzählgegenwart unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck stehen. Im juristischen Verfahren können sie sich diesem Druck vor allem erzählerisch entgegenstellen, ihn unter Umständen mindern oder gar aus dem Weg räumen. Da aber das Handeln auf der Basis weltanschaulicher Vorstellungen des Nationalsozialismus stattfand, die moralischen und juristischen Vorstellungen nach 1945 dem aber nicht nur konflikthaft, sondern konträr gegenüberstehen, ist den Beschuldigten die Rechtfertigung für ihr Handeln aus dem Referenzraum der Handlungsgegenwart verloren gegangen. Ein vermehrtes Auftreten von narrativen Sequenzen oder gar primär narrativen Darstellungen, wie sie im Falle der vorprozessualen Aussagen zu finden sind, überraschen nur wenig. Durch die erzählerische Vermittlung können nicht nur rein rationale Überlegungen in den Hintergrund gedrängt werden, sondern argumentative Lücken und
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Widersprüche verschleiert oder sogar unkenntlich gemacht werden.6 In den vorprozessualen Aussagen geht es deshalb vielfach darum, wie das eigene Handeln als nicht-verbrecherisch oder als alternativlos dargestellt werden kann. Es kommt auch vor, dass die Aussagenden sich derartig in Selbstmitleid über ihre Situation verlieren, dass das vergangene Handeln überhaupt nicht mehr zur Disposition steht. Die Erzählenden erheben ihre gegenwärtige Situation zum Maßstab ihres (angeblichen) Leidens. Sie narrativieren ihre vergangenen Handlungen, da ihnen dies ermöglicht, besser als in anderen Darstellungsformen die ZuhörerInnen und LeserInnen emotional zu erreichen. Durch die erzählerische Konstruktion der vergangenen Ereignisse, kausal verknüpft im Moment der Erzählgegenwart, werden nicht nur rationale Überlegungen angewandt, sondern gerade wegen der notwendigen kausalen Verknüpfung oftmals erzählerisch emotionale Brücken geschlagen. »Reason is needed to guide us, but is incapable of inducing us to follow. It depends on the emotions, and hence on stories, to help carry us along, to provide the force that moves us to do as reason commands.«7 Die rationale Darstellung von Vorgängen allein schafft es nicht, Handlungsanreize bei den RezipientInnen zu erwirken. Geschichten vermitteln emotionale Einstellungen und Verfassungen. Für die Beschuldigten besteht also eine (strategische) Notwendigkeit, ihr Erleben erzählerisch zu vermitteln. Besonders gefordert ist dies, da die juristische Situation vor allem eine Tradition des Ent-Personalisierten pflegt. So ist »Gegenstand […] nicht die Überführung des Angeklagten [. . .], sondern der objektive Ausspruch über Schuld, Strafe und sonstige Maßnahmen.«8 Weil eben Erzählen emotional und so eine Einflussnahme auf die AdressatInnen möglich ist, soll dies zugunsten von Rechtssicherheit verhindert werden.9 Viel entscheidender für das Ziel dieser Untersuchung ist aber die moralische Implikation der Geschichte(n), die durch Emotionalität zutage tritt und mittels einer narratologischen Analyse eruiert wird: »stories and storytellers are always in a position of moral dependency, and what they do has value only when it follows the dictates of a part of the soul that transcends narrative and storytelling and the emotions that stories arouse. Reason is in command; stories contribute no independent moral insight of their own, and
6 7 8
9
J.M. Balkin, A Night in the Topics: The Reason of Legal Rhetoric and the Rhetoric of Legal Reason, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories, S. 211-224, S. 212. Anthony Kronman, Leontius’ Tale, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 54-56, S. 56. Martin Streicher, Lügen vor Gericht. Tarnen, Täuschen, Lügen aus der Sicht gerichtlicher Verfahrensordnungen, in: Gunther Klosinski (Hg.), Tarnen. Täuschen. Lügen. Zwischen Lust und Last, Tübingen 2011, S. 73-88, S. 74. Sanford Levinson, The Rhetoric of the Judicial Opinion, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 187-205, S. 188.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
the most that they can do – an essential but limited function – is to energize the convictions of right reason, which come from outside their domain.«10 Um Erkenntnisse über die Moralität der Angeklagten in NSG-Verfahren zu erlangen, kann also durch die Analyse der vorliegenden schriftlichen Darstellungen zwischen den von außen herangetragenen und den persönlichen moralischen Vorstellungen unterschieden werden. Der entstandene Rechtfertigungsgrund, auf formaler Ebene aufgeworfen durch den politischen Systemwechsel, der zu einer erzählerischen Verunsicherung führt, gleichzeitig aber auch die Erzählmotivation darstellt, wird durch das unzuverlässige Erzählen zu beheben versucht. Dies geschieht, um dem Kohärenzgebot einer gelingenden Handlungsdarstellung genügen zu können, und offenbart die moralischen Vorstellungen der Erzählenden. Dieses Vorgehen kann sowohl unbewusst als auch bewusst erfolgen.
2.2
Literaturwissenschaftliche Sicht auf das unzuverlässige Erzählen
»I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work […] unreliable when he does not.«11 In der Folge ist die »Erzählhaltung […] perspektivisch gebrochen, instabil und de[r] allwissende Standpunkt [wird] immer wieder«12 verlassen. Mit Hilfe des Konzepts des unzuverlässigen Erzählens kann die RezipientIn daraus entstehende widersprüchliche Aussagen der Erzählenden einordnen. Es handelt sich also letztlich um eine Interpretationsstrategie. Mit Hilfe dieses Konzepts kann mehr über den »Informationsstand, [die] psychologische Disposition, Normen und Werte sowie [die] Triebstruktur«13 , von der die Bedürfnisse des Akteurs abhängen, offenbar werden. Marker für das unzuverlässige Erzählen in literarisch-poetischen Texten können z.B. der Stil der Erzählrede, der Gebrauch von leitmotivischen Wendungen, Art und Frequenz der Anrede und das Monologisieren als Verfremdungsprinzip sein.14 Das Konzept des unzuverlässigen Erzählens beruht auf literarisch-poetischen Texten. Wendet man diese Idee nun im Bereich des faktualen Erzählens an, ist es notwendig, die bisherigen
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A. Kronman, Leontius’ Tale, S. 56. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 19832 , S. 158-159. Achim Aurnhammer, Im Horizont der Ungewissheit – Unzuverlässiges Erzählen in Kleists Novellen, in: Peter Auer, Werner Frick (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers (Rombach Wissenschaften. Litterae, Bd. 186), Freiburg i.Br. 2014, S. 101-128, S. 102. D. Busch, Unreliable Narration aus narratologischer Sicht, S. 50. Gaby Allrath, »But why will you say that I am mad?« Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration, in: A. Nünning (Hg.), Unreliable Narration, S. 59-79, S. 70.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Überlegungen dementsprechend für die Diagnose im Faktualen zu überprüfen.15 Wer die Anwendung dieses Konzepts auf faktuales Erzählen an sich in Frage stellt, möge sich folgende Minimaldefinition von unzuverlässigem Erzählen vor Augen führen: »[F]irst-person speakers whose disturbed perceptions, egoistic personalities, and problematic value-systems lead the reader to question the accuracy of their accounts«.16 Denkt man an die Rahmung eines juristischen Verfahrens, so sind die hier genannten Charakteristika des unzuverlässigen Erzählens auch auf die Aussagen von Angeklagten vor Gericht übertragbar. Der erste ›Leseeindruck‹ einer Unzuverlässigkeit entsteht bei den hier untersuchten Texten vor allem durch die Motivation des Erzählens. Die Unzuverlässigkeit findet sich deshalb einerseits im Sinne des alltäglichen Wortgebrauchs, andererseits greift aber auch die Begrifflichkeit des literaturwissenschaftlichen Konzepts des unzuverlässigen Erzählens. Dies liegt vor allem an der institutionalisierten und normierten Form, in der die Erzählung in einem juristischen Verfahren stattfinden muss. Aber nicht nur die Anforderungen durch den formellen Rahmen, sondern auch das Ziel, den dargestellten Fortgang der Ereignisse als den einzig möglichen zu etablieren, prägen das Erzählen. Die Plausibilität des Erzählten ist somit wichtiger als die Wahrheit. Als Resultat ist die »Diskrepanz zwischen Weltvorstellung [der RezipientIn] und Absichten des Erzählers«17 ein Merkmal der Erzählung vor Gericht aufgrund ihrer für das unzuverlässige Erzählen typischen Charaktermerkmale.18
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In folgenden Publikationen finden sich z.T. regelrechte Auflistungen von möglichen Markern für unzuverlässiges Erzählen. Alle diese gelisteten Merkmale sind in Bezug auf fiktionale Texte erarbeitet worden, so dass sie nur in Teilen für die hier vorliegende Analyse verwendet werden können. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 6 und 27f. G. Allrath, »But why will you say that I am mad?«. D. Busch, Unreliable Narration aus narratologischer Sicht. Nünning bezieht seine Forderung zunächst auf die Ausweitung auf Gattungen jenseits der Erzählprosa. Ansgar Nünning, Reconceptualizing the Theory and Generic Scope of Unreliable Narration, in: John Pier (Hg.), Recent Trends in Narratological Research. Papers from the Narratology Round Table ESSE4 – September 1997 – Debrecen, Hungary (Graat, Nr. 21), S. 63-84. Sechs Jahre später fordert er schließlich zusammen mit Gaby Allrath eine dezidierte Anwendung auf faktuale Texte und schlägt hierfür auch erste Analysekriterien vor. Gaby Allrath, Ansgar Nünning, (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Textuelle Signale, lebensweltliche Bezugsrahmen und Kriterien für die Zuschreibung von (Un-)Glaubwürdigkeit in fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen, in: Beatrice Dernbach, Michael Meyer (Hg.), Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2005, S. 173-193. A. Nünning, Reconceptualizing the Theory and Generic Scope of Unreliable Narration, S. 78. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 17. Andreas von Arnauld, Stefan Martini, Unreliable Narration in Law Courts, in: Vera Nünning (Hg.), Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives, Berlin 2015, S. 347-370.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Mit Blick auf das gesamte juristische Verfahren findet sich durch das Gegeneinanderstellen von Narrativ und Gegennarrativ (oppositional narratives, Kathryn Temple) das richterliche Urteil. Diese dynamische Dreieckskorrelation zwischen Narrativ, Gegennarrativ und Master-/Metanarrativ bringt die verborgene Seite von Vorstellung und Identität einer Kultur19 ans Licht. In sehr ähnlicher Weise findet sich aber eine Dynamik in den vorprozessualen Aussagen der Beschuldigten. Dies liegt an der durch das unzuverlässige Erzählen bedingten »dramatische[n] Ironie«. Sie entsteht durch die »Interferenz von innerem und äußerem Kommunikationssystem«20 . In Bezug auf das Theatersetting entsteht die dramatische Ironie durch die unterschiedliche Deutung der Geschehnisse durch die Figuren und das Publikum u.a. aufgrund eines unterschiedlichen Wissensstandes.21 Im Falle des juristischen Verfahrens entspricht das äußere Kommunikationssystem dem Gericht. Dieses System hat es sich zur primären Aufgabe gemacht, die Kriterien von Glaubwürdigkeit bzw. Glaubhaftigkeit so weit wie möglich zu klären. Die dramatische Ironie entsteht in juristischen Verfahren aufgrund der möglichen widersprüchlichen Ziele der Prozessbeteiligten. Im Umgang mit den Dokumentationen juristischer Verfahren, wie im vorliegenden Fall, liegt die Diskrepanz zwischen den Darstellungen der Beschuldigten und den hier aufgestellten Hypothesen darüber. Hat das Gericht das Ziel, die vergangene Tat aufzuklären und auf Basis dessen zu einem gerechten Urteil zu kommen, können die Angeklagten aber gerade wegen der Möglichkeit der Diskrepanz durch ihre Aussagen versuchen, genau dieses Vorhaben zu unterlaufen22 . Auf der Ebene der einzelnen Aussagen, hier im speziellen Fall der vorprozessualen Aussagen, findet sich diese Paradoxie bereits zu diesem frühen Zeitpunkt im Verfahren. Grundsätzlich besteht dieser Widerspruch aufgrund des konflikthaften Gegenübers von Erzähl- und Handlungsgegenwart, weshalb bei den Beschuldigten die bereits erwähnte erzählerische Verunsicherung vorliegt. Denn die Widersprüchlichkeit liegt ja nicht unbedingt nur im semantischen Bereich vor, sondern kann durch einen Konflikt zwischen dem Ziel der Aussage und den vergangenen Vorkommnissen liegen, also eben der Dichotomie zwischen Handlungs- und Erzählgegenwart. Im Falle der NSG-Verfahren der frühen Nachkriegsjahre ist der moralische, ethische und juristische Konflikt der unterschiedlichen Zeiten in einem bis dato unbekannten Ausmaß vorhanden und wird damals wie heute vor allem durch die RezipientInnen der Aussagen der Angeklagten bzw. Beschuldigten wahrgenommen. Für die Hörenden und Lesenden der Aussagen ist das unzuverlässige Erzählen eine interpretatorische Strategie, die dazu dient, »textuel19 20 21 22
Julia Kristeva spricht von »the hidden face of our identity«, Julia Kristeva, Strangers to Ourselves, New York, Oxford 1991, S. 1. Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 200111 , S. 88. Ebd., S. 89. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 16.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
le Unstimmigkeiten bzw. scheinbare Widersprüche aufzulösen und nicht-referentialisierbare Komponenten zu integrieren«23 . Die Richter, Zeitgenossen oder auch Wissenschaftler wenden eine ebensolche Strategie zur Glättung bzw. Offenlegung dieser Paradoxien an und schaffen in dieser Weise eine in ihrer Sicht kohärente Aussage. Gleichzeitig ist damit aber auch eine Erwartungshaltung vonseiten der RezipientInnen verbunden, die stark durch die jeweiligen Wertvorstellungen geprägt ist. Dies gilt selbst dann, wenn das juristische Setting die Vorstellungen von ›normal‹ und ›nicht-normal‹ definiert. Aus juristischer Sicht handelt es sich um nicht-verbindliche Aussagen.24 Ob die Erzählungen Einfluss auf die verbindlichen Textelemente haben, entscheidet im Strafverfahren der Richter. Diese Entscheidung hängt also von der Rezeption der nicht-verbindlichen Textelemente (non-binding texts) ab. Die Theorie des unzuverlässigen Erzählens als Rezeptionsstrategie ist hier entscheidend. In aller Deutlichkeit zeigt sich das gerade in der Diskussion um die Frage nach einer (Nicht-)Normalität von NS-TäterInnen. Nicht nur neue Quellenfunde und Aufregungen über literarische Be- und Verarbeitungen der Shoah wie z.B. Littells Les Bienveillantes, sondern vor allem juristische Ereignisse wie der Eichmann-Prozess in Jerusalem, die Frankfurter Auschwitz-Prozesse oder der Prozess Ende 2009 gegen John Demjanjuk offenbaren das gesellschaftliche Bedürfnis nach Einordnung und Bewertung der begangenen Verbrechen – auch, um sich selbst davon zu distanzieren. Die Wahrnehmung von Brüchen im Erzählten und die Erklärung dieser Brüche mit dem Phänomen des unzuverlässigen Erzählens basieren somit auch auf zeitgenössischen Wertvorstellungen.25 Das größte Problem verbunden mit der erzählerischen Positionierung in einem Gerichtsverfahren stellt somit der Aspekt des unzuverlässigen Erzählens dar. Die Frage, die eine Untersuchung zum unzuverlässigen Erzählen grundlegend begleitet, ist die nach der Entstehung des »Eindruck[s von] mangelnder Glaubwürdigkeit im Leseprozess«26 . Bedingt durch den juristischen Kontext verursacht der
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Ebd., S. 21. »[Non-binding] utterances [are] necessary to ascertain the concretisation and application of norms like pleadings, testimonies, expert opinions, and other evidence: they present factual as well as legal knowledge to official representative, who determine whether the elements of the relevant norm are met after having assessed the facts of the case. Equally non-binding are abundant texts that teach, inform about, order and criticise the law and its procedure.« A. v. Arnauld, S. Martini, Unreliable Narration in Law Courts, S. 349. Vera Nünning, Unreliable narration und die historische Variabilität von Werten und Normen: The Vicar of Wakefield als Testfall für eine kulturgeschichtliche Erzählforschung, in: A. Nünning (Hg.), Unreliable Narration. S. 257-285. Dominique Hipp, Die Normalität der Täter? NSTäter bei Littell, Amis und Jelinek, in: Bettina Bannasch, Hans Joachim Hahn (Hg.), Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust (Poetik, Exegese und Narrative. Studien zur jüdischen Literatur und Kunst, Bd. 10), Göttingen 2018, S. 141-165. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 15.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Ort des Geschehens, also die Institution des Gerichts, in erster Linie diesen Eindruck. Ein juristisches Verfahren ist stark bestimmt durch die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Aussagenden. Andererseits ist der Blick auf NSG-Verfahren zu Geschehnissen in den Konzentrationslagern ebenfalls mit einer bestimmten Erwartungshaltung der RezipientInnen und Forschenden verbunden.
2.3
Unzuverlässigkeit des faktualen Erzählens
Dorrit Cohn konstatiert in ihren Überlegungen zur Discordant Narration, dass das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens ausschließlich in fiktionalen Texten zu finden sei.27 Sie stützt ihre Argumentation vor allem auf die Tatsache, dass Autor und Erzähler in faktualen Texten identisch sind. Geht man aber von der Richtigkeit dieser Aussage aus, würde dies jede Doppelstimmigkeit einer faktualen Aussage unmöglich machen. Müsste die Schlussfolgerung daraus dann nicht lauten, dass die textexternen Umstände wie Entstehungskontext, Autorschaft und AdressatInnenkreis in einem derart erheblichen Maße bestimmend sind, dass sie alleine ausschlaggebend für die Charakterisierung des unzuverlässigen Erzählens sind und nicht der Erzähler selbst? So berücksichtigt diese Aussage schlicht nicht die Erzählmöglichkeiten, die in einem gerichtlichen (Kon-)Text wie der vorprozessualen (handschriftlichen Aussage) möglich sind. Letztlich dienen die Marker der Unzuverlässigkeit hier als Mittel der Vernebelung, Exkulpation und Irreführung. Die Erzählenden sind allemal unzuverlässig, bedingt durch den subtilen Charakter von rhetorisch geprägtem Sprechen.28 Entscheidend ist aber nicht nur, dass diskordant Erzählende typische Merkmale des unzuverlässigen Erzählens bewusst als erzählerische Strategie einsetzen, sondern auch die Tatsache, dass die Aussagenden Teil der Erzählgegenwart sind und der Handlungsgegenwart waren. Das bedeutet, dass es ein erzählendes und ein erlebendes Ich in den Erzählungen gibt. Die Zweiteilung in ein dargestelltes und ein darstellendes Ich ist für den vorprozessualen Bericht der Beschuldigten gestalterisches (Grund-)Merkmal. Nur auf diese Weise können
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»We might, moreover, note at this point that the diagnosis of ›discordance‹ can apply only to a fictional narrative, not to the kind of story-telling (oral or written) that presumes to refer to real facts: though we often apply the term ›unreliable‹ to voices we regard as wrong-headed in non-fictional works (historical, journalistic, biographical, or autobiographical), the narrator of such works is the author, the author is the narrator, so that we cannot attribute to them a significance that differs from the one they explicitly proclaim.« Dorrit Cohn, Discordant Narration, in: Style 34, 2 (2000), S. 307-316, S. 307. Tamar Yacobi bezeichnet diesen subtilen Charakter als »implicitness of the rhetorcial communication«. Tamar Yacobi, Narrative and Normative Pattern. On Interpreting Fiction, in: Journal of Literary Studies 3 (1987), S. 18-41, S. 22.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
einerseits der erinnernde Moment und andererseits der moralische Konflikt überhaupt (kohärent) erzählt werden. Gleichzeitig entsteht aber genau hierdurch Unzuverlässigkeit. Das Besondere bei der Analyse der vorliegenden zeithistorisch-juristischen Quellen ist damit der Aspekt der doppelten Informationsvermittlung als Merkmal des unzuverlässigen Erzählens. Neben der »bewußt erzählte[n] Geschichte, die den RezipientInnen Fakten vermittelt« werden eine »Vielzahl von impliziten Zusatzinformationen«29 auf einer zweiten Ebene vermittelt. Analog zu Gérard Genettes Unterteilung von histoire und discours gibt es Informationen, die durch den Erzähler explizit gegeben werden.30 Diese Gegebenheiten können schlicht mit der Frage, was erzählt wird, eruiert werden. Die zweite Ebene ist die des discours. Dieser kann durch eine textimmanente Analyse begegnet werden. Das Wie des Erzählens rückt hier also in den Mittelpunkt. Da nun weniger das Was im Laufe des juristischen Verfahrens rekonstruiert wird als vielmehr die »Perspektive des Erzählers und die Normabweichung«31 , erweist sich die Konzentration auf Marker des unzuverlässigen Erzählens für eine gewinnbringende Analyse als notwendig. Gleichzeitig ist es jedoch unerlässlich, den Kontext jenseits der Textimmanenz zu berücksichtigen. Abgesehen von den rechtlichen Normen, also der Strafprozessordnung, sind auch andere Konstanten zu beachten, um die Brüche und Kontinuitäten zu kontrastieren. Kulturelle und soziale Vorprägungen, die das Erzählen beeinflussen, werden so offenbar. Dies ist wichtig, da das vermittelte Wertesystem zu einer Einschätzung der Erzähler als unzuverlässig beiträgt.32 Mittels der textimmanenten Analyse können aber erst die entsprechenden Signale des unzuverlässigen Erzählens im jeweiligen Text gefunden werden bzw. diese Analyse ist notwendig, um überhaupt einen unzuverlässigen Erzähler diagnostizieren zu können. Es gilt deshalb, den Erzähler »im Rahmen weltorientierter frames of reference«33 zu verorten. Das unzuverlässige Erzählen ist also kein rein textimmanentes Phänomen. »Vielmehr liegen dem Konzept unausgesprochen moralische und epistemologische Annahmen zugrunde.«34 In der Interrelation zwischen textinternen Kennzeichen für die Unzuverlässigkeit und textexternen Merkmalen liegt letztlich die Erkenntnismöglichkeit für die Einordung der Aussagen der beschuldigten Männer und Frauen in den hier untersuchten NSG-Verfahren. Jedoch stellt die Analyse mittels des Konzepts des unzuverlässigen Erzählens nicht die Frage nach den 29 30 31 32 33 34
A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 18. Gérard Genette, Die Erzählung, München 19982 , S. 15. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 19. V. Nünning, Unreliable narration und die historische Variabilität von Werten und Normen, S. 259. Thomas Weitin, Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, Paderborn 2009, S. 263. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 20.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
tatsächlichen vergangenen Abläufen und würde hierfür auch kaum Erkenntnisse versprechen. Vielmehr eröffnet der Abgleich externer und interner Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Erzählten einen neuen Blick auf die Beschuldigten im Verfahren, denn die bloße Diagnose der Unzuverlässigkeit ist noch nicht die Antwort auf die Frage, warum gerade an den jeweiligen Stellen genau dieses Phänomen auffindbar ist. Eng damit verbunden sind aber die Diskussion und die Fragen nach einer Normalität von NS-TäterInnen. Es ist deshalb wichtig, den außerhalb des Textes stehenden ›normativen Bezugsrahmen‹ einzubeziehen. Der juristische Rahmen ist sehr klar durch die demokratisch-rechtsstaatlichen Normen und die jeweilige Strafprozessordnung festgelegt. Im Bereich der ethisch-moralischen Wertvorstellungen wird es dann aber schwieriger. Aus diesem Grund wird für den Fall des juristischen Rahmens nur auf die Prozessordnung mit ihrem Einfluss auf die Möglichkeiten von Aussagen eingegangen. Der Wirklichkeitsanspruch des Ausgesagten soll deshalb nur hinsichtlich der Plausibilität im Rahmen des juristischen Verfahrens überprüft werden. In Bezug auf moralisch-ethische Vorstellungen soll die Normalität von Täterschaft im Verständnis der RezipientInnen, aber auch in der Darstellung des Aussagenden beleuchtet werden. Hierin liegt der Mehrwert dieser besonderen narrativen Quellen, da sie, anders als andere Quellen, ermöglichen, mittels der hier gewählten Methode eine zweite Informationsebene offenzulegen. Das unzuverlässige Erzählen ist als Konzept aber auch wichtig, um die Herangehensweise der RezipientIn an die jeweiligen Erzählungen zu benennen und den hier untersuchten Quellen in der erforderlichen Weise begegnen zu können. Denn dieses Konzept bringt – ausgehend von einem unzuverlässigen Erzähler – eine bestimmte Aufmerk- bzw. Wachsamkeit mit sich, die in der Konsequenz zu einer Wahrnehmung und Einordnung der zweiten Ebene führt. Die Unzuverlässigkeit von Aussagenden vor Gericht bzw. in juristischen Kontexten erfordert also von der RezipientIn im Idealfall eine spezifische quellenkritische Haltung bei deren Beurteilung. Hierfür ist aber auch eine begriffliche Schärfe notwendig. Greta Olson trennt die Bezeichnung hinsichtlich Signifikat und Signifikant: »›Unreliable‹ and ›untrustworthy‹ suggest that the narrator deviates from the general normative standards implicit in the text [,] ›inconscience‹ and ›fallible‹ imply that the narrator makes mistakes about how she perceives herself or her fictional world. The first terms concern the narrator’s qualities as a person and the second her ability to perceive and report accurately.«35
35
Greta Olson, Reconsidering Unreliability: Fallible and Untrustworthy Narrators, in: Narrative 11, 1 (2003), S. 93-109, S. 96.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Aber nicht nur diese Differenzierung, sondern auch ein genauerer Blick auf die Begrifflichkeiten ist wichtig, um die Richtung und Wirkung des unzuverlässigen Erzählens klarer und somit den Erzähler, der hier als Beschuldigter vor Gericht im Zentrum steht, greifbar zu machen. Genettes Unterteilung in discours und histoire ist hier wiederum hilfreich. Gemäß dieser Unterscheidung ist es schlüssig, von einer Unzuverlässigkeit aufgrund einer unstimmigen Geschichte zu sprechen. Das Was ist wegen Inkohärenzen auffällig und der Erzähler deshalb nicht vertrauenswürdig. Da die Geschichte also nicht glaubhaft ist, wird der Erzähler für nichtglaubwürdig gehalten. Für das Ziel, wie hier, den Erzähler dennoch verorten zu können, also nur ihn der (intentionalen) Falschaussage zu überführen, ist es vor allem wichtig, die erzählerische Einordnung zu berücksichtigen, da an dieser Stelle letztlich eine implizite Selbstdarstellung des Erzählers stattfindet.36 Monika Fludernik spricht in diesem Fall von ideologisch bedingter Unzuverlässigkeit.37 Finden sich also Hinweise auf das unzuverlässige Erzählen, so sind die Marker auf der Textebene ungewiss und fehlbar. Phrasen und lexikalische Ausdrücke würden somit einfach nur den Text als nicht gewiss in seinem Aussagewert einordnen. Doch gleichzeitig fällt diese Feststellung auch auf die Urheber des Textes zurück, denn sind die Texte fehlbar, so ist auch den AutorInnen eine Unzuverlässigkeit zu eigen. Im faktualen Erzählen kann dieser Umkehrschluss problemlos vollzogen werden, da AutorIn und ErzählerIn in diesem Fall identisch sind.
2.3.1
Unzuverlässiges Erzählen vor Gericht
Bisher hat sich in erster Linie die Vernehmungspsychologie mit der Frage nach Glaubwürdigkeit in juristischen Kontexten auseinandergesetzt. Die vernehmungspsychologischen Testverfahren werden aber kritisch beurteilt, »weil sie in beachtlichem Ausmaß von (subjektiven) Zufälligkeiten der Interpretation des jeweiligen Sv [Sachverständigen] beeinflußt sein kann.«38 Allerdings lag der Schwerpunkt von Publikationen zur Vernehmungspsychologie in erster Linie auf den Zeugenaussagen. Dies liegt vermutlich daran, dass die ZeugInnen dazu verpflichtet sind, wahrheitsgemäße Aussagen zu machen. Tun sie dies nicht, besteht die Möglichkeit von rechtlichen Sanktionen. Die Aussagemotivation der Verdächtigen/Beschuldigten/Angeklagten wird hinsichtlich des Ziels der eigenen Entlastung generell als problematisch eingestuft. »[D]ie Beurteilung des Wahrheitsgehalts von Aussagen 36
37 38
G. Olson, Reconsidering Unreliability, S. 100. A. Nünning, Reconceptualizing the Theory of Unreliable Narration, S. 93. Monika Fludernik, Defining (In)Sanity. The Narrator of The Yellow Wallpaper and the Question of Unreliability, in: Walter Grünzweig, Andreas Solbach (Hg.), Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext, Tübingen 1999, S. 75-95. »[I]deological unreliability.« M. Fludernik, Defining (In)Sanity, S. 75. Ulrich Eisenberg, Persönliche Beweismittel in der StPO. Eine kommentierende Erläuterung der Vorschriften zum Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen, München 1993, S. 572.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
des Beschuldigten bzw. von Zeugen [obliegt] im Regelfall den mit der Vernehmung betrauten Personen«.39 Die Beschuldigten aber generell als unzuverlässig zu beurteilen, ist aus juristischer Sicht widersprüchlich zur Unschuldsvermutung. »Daß der Beschuldigte prozessual die Unwahrheit sagen darf, bedeutet nicht, daß er es auch tut«40 , wie auch die meisten Angeklagten/Beschuldigten es vermeiden, von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, weil von einem Impuls, sich gegen Vorwürfe (erzählerisch) zu wehren, als typisches Verhalten ausgegangen wird.41 Die Frage der Vernehmungspsychologie nach Glaubwürdigkeit dient dem Zweck des Verfahrens und erleichtert es, die ZeugInnen bzw. ihre Aussagen einzuordnen. Allerdings sind diese Überlegungen entstanden, um zum Zeitpunkt der Entstehung von Aussagen über die Glaubwürdigkeit bzw. Glaubhaftigkeit entscheiden zu können. Sie sind also instrumenteller Art. Im Unterschied dazu beurteilen die Untersuchungen zum Thema ›unzuverlässiges Erzählen‹ bereits Vorhandenes und beleuchten die subtilen Prozesse und Abläufe der Konstruktion des Erzählten. So rückt die hier vorliegende Analyse der vorprozessualen Aussagen den erzählerischen Brückenschlag zwischen dem moralischen und politischen Bruch von Handlungs- und Erzählgegenwart, der durch das unzuverlässige Erzählen vollzogen wird, in den Mittelpunkt. Da aber im hier vorliegenden Untersuchungsfall keine überlieferten Ton- und nur wenige Bilddokumente überliefert sind, eignet sich der Blick der forensischen Psychologie ebenfalls nicht. Die literaturwissenschaftliche Methodik berücksichtigt jedoch textinterne und textexterne Einflussfaktoren und vermag es so, den Besonderheiten der Quellen zu begegnen.42 39 40 41 42
Ebd., S. 571. Ebd., S. 65. Marlis Dürkop, Der Angeklagte. Eine sozialpsychologische Studie zum Verhalten vor Gericht, München 1977, S. 38. Die Vernehmungspsychologie als Wissenschaftslehre erarbeitet eine anwendungsorientierte Lehre, die es ermöglicht, von Fall zu Fall die Glaubwürdigkeit von ZeugInnen zu prüfen. Die Überprüfung nach dem Realitätsgehalt ist somit entscheidendes Ziel dieser Richtung. Ähnlich wie bei der bisherigen Vorgehensweise der historiografischen Quellenkritik ist vor allem die Ebene des histoire entscheidend, der Bereich des disocurse wird aber nur wenig beachtet. Darüber hinaus beziehen sich die Untersuchungen auf interaktional entstandene Aussagen von Zeugen. Stephan Wolff, Hermann Müller, Kompetente Skepsis. Eine konversationsanalytische Untersuchung zur Glaubwürdigkeit in Strafverfahren, Opladen 1997, S. 286. Deutlich wird dies noch einmal mit Blick auf die Strategien von Aussagenden, die die Vernehmungspsychologie als mögliche Marker für unglaubwürdiges Erzählen festmacht. Sie beachtet hier vor allem klar intendierte Falschaussagen, wobei das unzuverlässige Erzählen auch die nichtintendierte Unzuverlässigkeit annimmt. Margit E. Oswald spricht deshalb auch konsequenterweise von der Lüge als Grund für das Urteil der Unglaubwürdigkeit. Margit E. Oswald, Laienpsychologische Beurteilung der Glaubwürdigkeit, in: Stephan Barton (Hg.), Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis. Fairness für Opfer und Beschuldigte (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 22), Baden-Baden 2002, S. 181-193, S. 182 und S. 192.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Mein Erkenntnisinteresse zielt vor allem auf die nicht-professionalisierte Darstellungsweise, die sich in den handschriftlichen vorprozessualen Stellungnahmen der Beschuldigten findet. Seibert bringt die Unterschiede zwischen einem juristisch-professionell geprägten Diskurs und einem durch die Anliegen von Laien geprägten Gespräch in Bezug auf die mündliche Verhandlung vor Gericht wie folgt auf den Punkt: »Verfahrensvorstellungen der Laien [stimmen] mit dem Erledigungsinteresse der Berufsjuristen nicht überein. Von daher ergibt sich eine latente, durch keine Rhetorik zu beseitigende Differenz. Die Ziele der Beteiligten im Verfahren sind nicht diejenigen des Verfahrens. Die Mündlichkeit der Laien wird eher durch die allgemeine Kommunikationsidee unverstellten spontanen Ausdrucks geprägt, die professionelle Mündlichkeit sucht vor allem Bestätigung für schriftliche, schon bekannte Inhalte und gibt nur hier und da Gelegenheit zu Korrekturen.«43 Diese unterschiedliche Interessenslage führt zu unterschiedlicher Gestaltung. Dies gilt auch für Aussagen in schriftlicher Form. Den vorprozessualen Schreiben der Beschuldigten kommt ein hohes Maß an Authentizität zu und sie zeigen ein – durchaus verhängnisvolles – Bedürfnis nach Mittelung und Richtigstellung. Es ist gerade diese Motivation, die die Schreibenden dazu veranlasst, Wege wie das unzuverlässige Erzählen (bewusst und unbewusst) zu beschreiten. Für den juristischen Blick und bisher auch für den der ZeithistorikerInnen war dies wenig erheblich. Trotzdem lassen sich in den Überlegungen zum unzuverlässigen Erzählen gerade in Bezug auf die Frage nach glaubhaften Aussagen und glaubwürdigen Beschuldigten wichtige Vorüberlegungen in der Vernehmungspsychologie finden. Selbst wenn die Erzählenden z.B. ›die Wahrheit‹ erzählen wollen, ist dies durch die »selektive […] Wahrnehmung durch motivationale und affektive Prozesse«44 und zahlreiche Abläufe der Informationswahrnehmung sowie Ereignisverarbeitung unmöglich.45 Aber auch der narratologische Blick hat das Bewusstsein für den Einfluss der Kontexte auf das, was erzählt und berichtet wird. Dies bedeutet, dass nicht alle nicht richtigen Aussagen sowohl von ZeugInnen als auch Beschuldigten als intentionale, also beabsichtigte Falschaussagen gelten müssen.46
43 44
45 46
Thomas M. Seibert, Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs (Schriften zur Rechtstheorie, Bd. 222), Berlin 2004, S. 185. Burkhard Schade, Glaubhaftigkeitsbeurteilung: Die Aussagegeschichte als psychologischer Prozess, in: Stephan Barton (Hg.), Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis. Fairness für Opfer und Beschuldigte (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 22), Baden-Baden 2002, S. 89-94, S. 89. Ebd., S. 89. L. Greuel, S. Offe, A. Fabian, P. Wetzels, T. Fabian, H. Offe, M. Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen, S. 10.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
2.3.2
Unzuverlässiges Erzählen vs. glaubhafte Aussage
Die forensische Vernehmungspsychologie hält eine Aussage für glaubhaft, »wenn sie eine erlebnisbegründete, also nicht intentional täuschende oder durch Dritte induzierte Schilderung beinhaltet, die zudem frei von substantiellen Verfälschungsfaktoren ist.«47 Zu dem Schluss, eine Aussage sei glaubhaft oder nicht, kommt man durch die Beurteilung der folgenden Punkte: »Aussagetüchtigkeit, Aussagequalität, Aussagevalidität« und deren Interferenz.48 Aufgrund der Unschuldsvermutung und der fehlenden Wahrheitspflicht ist dem Gericht gar nicht erlaubt, eine Person rundweg als unzuverlässigen Erzähler einzuordnen. Gleichwohl können/müssen Aussagen falsifiziert bzw. in ihrer Richtigkeit bestätigt werden.49 Folgt man dieser Definition von einer glaubhaften Aussage, so steht die Aussage eines Beschuldigten im juristischen Verfahren immer im Verdacht, unglaubhaft zu sein. Vor allem die Aussagemotivation ist hier entscheidend. Wenn der unzuverlässige Erzähler bisher nur als eine Möglichkeit im Fiktionalen diagnostiziert wurde, zeigt der Blick auf das Erzählen in juristischen Kontexten ein anderes Bild. Der Erzähler im juristischen Verfahren – gerade in der Rolle als Beschuldigter – ist nicht nur versehentlich nicht verlässlich. In aller Deutlichkeit zeigt sich hier, dass unzuverlässiges Erzählen nicht nur ein Phänomen im Fiktionalen ist, sondern ebenso im Faktualen auffindbar ist. Die personale Gleichzeitigkeit der Beschuldigten in Handlungs- und Erzählgegenwart in den juristischen Verfahren lässt sie bewusst und unbewusst unzuverlässig erzählen. Monika Fluderniks Diagnose, dass »der unzuverlässige Erzähler […] eine rein fiktionale Figur«50 sei, ist für die VerfasserInnen der vorprozessualen Aussagen nicht richtig. Vielmehr scheinen gerade die Erfordernisse des juristischen Kontextes zum unzuverlässigen Erzählen aufzufordern. Einerseits kann dies strategisch wichtig sein oder es fehlt den Beschuldigten an einem expliziten Schuldbewusstsein und das unzuverlässige Erzählen ermöglicht es ihnen, ihre Schuldlosigkeit vor sich und den AdressatInnen erzählerisch zu rechtfertigen.
47 48 49 50
Ebd., S. 4. Ebd., S. 203. U. Eisenberg, Persönliche Beweismittel in der StPO, S. 64-65. »[D]er unzuverlässige Erzähler ist eine rein fiktionale Figur – ein realer Erzähler kann Falschaussagen machen, konfus sein, sich selbst bloßstellen; aber dies ist kein intentionaler Effekt eines Autors oder einer anderen Instanz wie im Roman oder der Kurzgeschichte.« Monika Fludernik, Disability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit, in: Fabienne Liptay, Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 39-59, S. 39.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
In der Forschung zum unzuverlässigen Erzählen, ausgehend von Wayne Booth, zielt die Kritik an Booths Überlegungen vor allem auf seine Idee des impliziten Autors als dritte Instanz zwischen Erzähler und Leser.51 Der implizite Autor bildet eine Form von zwischengeschalteter Autorschaft, die sich zwischen dem tatsächlichen Autor und dem Erzähler befindet. Booth greift zu dieser Erklärung in seiner Darstellung zur unreliable narration, um die Präsenz des Autors im literarisch-poetischen Text zu erklären, auch wenn dieser de facto gar nicht vorhanden ist. Nünning hält den impliziten Autor für die (Er-)Klärung des unzuverlässigen Erzählens sogar für irrelevant: »If […] we are to make sense of unreliable narration at all, we would be wise to give up the implied author and instead take into consideration the unacknowledged standards and frames of reference according to which critics think they recognize an unreliable narrator when they see one.«52 Im faktualen Erzählen ist diese Debatte in Bezug auf eine implizite Autorschaft irrelevant, da die im Hamburger Prozess beschuldigte Wally K. nicht nur die Erzählerin, sondern auch die Autorin ihrer vorprozessualen Aussage ist. Trotzdem sind gerade die Überlegungen, die einen impliziten Autor verwerfen, wichtig, da sie ein Beleg für das unzuverlässige Erzählen im faktualen Erzählen sind, demnach ein impliziter Autor hierfür nicht notwendig ist. Generell muss das unglaubwürdige Erzählen von der Lüge unterschieden werden. Richtig ist zwar, dass Lügen den Eindruck von Unglaubwürdigkeit nähren, allerdings ist für diese Wahrnehmung eines unzuverlässigen Erzählens kein explizites und klar intendiertes Aussprechen von Nicht-Wahrheit notwendig. Noch dazu ist es jenseits einer semantischen Überprüfung äußerst schwierig, eine Lüge in den hier vorliegenden schriftlichen Äußerungen zu eruieren. Aber selbst wenn eine solche Lüge im Sinne eines faktischen Widerspruchs gefunden und auch mittels eines quellenkritischen Vorgehens widerlegt werden kann, vermag die bloße Frage nach der Lüge keine Antwort auf die Gründe einer erzählerischen Verunsicherung aufgrund der konflikthaft zueinander stehenden normativen und moralischen Systeme zu geben. Hingegen stellen die (literaturwissenschaftlichen) Überlegungen zum unzuverlässigen Erzählen Fragen auf textimmanenter Basis und berücksichtigen gleichzeitig die textexternen Faktoren, die dieses Erzählen bedingen.
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Die Monografie vom Tom Kindt bietet nicht nur einen Überblick zur Forschungskontroverse über den impliziten Autor, sondern diskutiert auch die unterschiedlichen Forschungsmeinungen hierzu, Tom Kindt, The Implied Author. Concept and Controversy (Narratologia, Bd. 9), Berlin 2006. A. Nünning, Reconceptualizing the Theory and Generic Scope of Unreliable Narration, S. 81.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
2.3.3
Unzuverlässiges Erzählen als Merkmal (hand-)schriftlicher vorprozessualer Aussagen
Worin sich die hier untersuchten (handschriftlichen) vorprozessualen Aussagen auszeichnen, zeigt sich in zwei Punkten. Zunächst, aus formaljuristischer Sicht, sind die Aussagenden zu diesem Zeitpunkt noch keine Angeklagten. Sie gelten entweder als verdächtig oder sie wurden bereits beschuldigt, eine bestimmte Tat begangen zu haben. Ob es also überhaupt zu einem Prozess kommt, ist zu diesem Verfahrenszeitpunkt noch unentschieden. Dementsprechend zeichnen sich diese Aussagen oftmals durch ein erzählerisches »Über-Engagement« aus.53 Im Falle der in diesem Abschnitt untersuchten Quellen stellt sich die Frage, wie mit dem Aspekt des unzuverlässigen Erzählens bei diesem faktualen Typus konkret umgegangen werden soll. Mit dem Verweis auf Tamar Yacobis Überlegungen führt Monika Fludernik die Referentialität im fiktionalen Text an, die so bereits strukturell auf ein unzuverlässiges Erzählen hinweist.54 Diese Referentialität ist ebenso im faktualen Erzählen der Aussagen vorhanden. Aussagende und Lesende stellen die Darstellungen permanent in Relation u.a. zu moralischen Wertvorstellungen, Weltanschauung und (angeblicher) Lebenswirklichkeit. Sie bezwecken so, Kohärenz und Plausibilität in ihrem Geschriebenen zu erzeugen. Diese strukturgebenden Merkmale laufen als hintergründige Folie bei den Aussagen mit. Da es sich um Verfahren aus dem Bereich der Übergangsjustiz (Transitional Justice) handelt, können diese formulierten Referentialitäten kontrastiv oder sogar konflikthaft zu denen der AdressatInnen stehen, da sich die jeweilige Gesellschaft und ihre VertreterInnen in einer rechtlichen, staatsstrukturellen und moralischen Umbruchssowie Transformationssituation befinden. Im Bewusstsein über die Interrelation zwischen dem Dargestellten der Beschuldigten – es ist davon auszugehen, dass die Aussagenden sich dessen bewusst sind, da die Verbrechen und der moralische Konflikt initiativ für die eingeleiteten Verfahren waren und es darum geht, diese auszuräumen – und den außertextuellen Vorstellungen und Erwartungen, die an das Geschilderte herangetragen werden, ist das Ziel der Narrativierung der zur Disposition stehenden Handlungen, das Widersprüchliche ›klein zu erzählen‹. Auch versuchen die ehemaligen Angehörigen der Lager-SS ihr von der Norm abweichendes Verhalten durch die erzählerische Begründung unkenntlich zu machen oder einen erzählerisch initiierten Nor53
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Aus funktionaler Sicht der Erzählenden ›verstoßen‹ sie an dieser Stelle gegen die Maxime »Nutze das Verfahren nicht zur Aussprache«. Zwar ist diese Regel auf mündliche Aussagen vor Gericht bezogen, doch kann dies auch für die oft umfangreichen und detaillierten Aussagen vor dem Prozess angenommen werden. Allerdings kann es natürlich auf diese Weise auch gelingen, von sich ein authentisches Bild zu liefern, begünstigt durch die Möglichkeiten, die eine narrative Form bietet. T.M. Seibert, Gerichtsrede, S. 188. M. Fludernik, Defining (In)Sanity, S. 76.
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malisierungsprozess hinsichtlich ihres Verhaltens anzustoßen. So soll das Außergewöhnliche bzw. Rechtswidrige, das es in der Meinung des Gerichts zu eruieren und unter Umständen zu bestrafen gilt, als Norm(alität) bzw. alternativlos etabliert werden. Eine andere auftretende Möglichkeit in den Darstellungen ist es, auf dem Außergewöhnlichen zu beharren, um so das eigene Handeln als alternativlos darzustellen. Die erzählerische Unzuverlässigkeit, im Sinne eines Widerspruchs zu außertextuellen Wert- und Rechtsvorstellungen, wird in diesem Fall von den Erzählenden selbst explizit gemacht, um im Umkehrschluss nicht als unzuverlässig erzählend zu erscheinen. Da AutorIn und ErzählerIn in faktualen Texten ein und dieselbe Person sind, wird so die Unzuverlässigkeit zusammen mit den Erwartungen des Gerichts instrumentalisiert. Darüber hinaus sind ErzählerIn und AutorIn sowohl Teil der Erzähl- als auch der Handlungsgegenwart. Sie rekonstruieren in ihren Aussagen die vergangenen Ereignisse aus ihrer Perspektive. Das Vorkommen von »straightforward speech acts of deliberate dublicity«55 ist deshalb nichts Außergewöhnliches, geht es doch im Falle der Beschuldigten darum, sich in einem möglichst günstigen Licht darzustellen, um auf eine mögliche Anklage mildernd einzuwirken. Trotz all dieser strategischen Überlegungen, die in die Konstruktion der Aussagen einfließen, muss man sich bewusst sein, dass auch die Möglichkeit der völligen Naivität der Beschuldigten besteht. Jedoch verändert sich zwar so das Motiv für die Unzuverlässigkeit, nicht aber deren Vorhandensein. Wie auch im fiktionalen Text findet sich im faktualen eine zweite Geschichte. Die unzuverlässige ErzählerIn einer fiktiven Handlung erzählt die eine Geschichte bzw. die Beschuldigten stellen die zur Verhandlung stehenden Taten aus ihrer subjektiven Sicht dar und entspinnen Kausalitäten hierfür. Darum wird eine zweite Geschichte außerhalb der Wahrnehmung der unzuverlässig Erzählenden entsponnen, die sich den LeserInnen durch implizite Informationen darlegen.56 Es ist dieses Spannungsverhältnis zwischen den beiden Geschichten in der Erzählung, auffallend durch den Anteil der Unzuverlässigkeit, das die wichtigen Antworten für die Fragen danach gibt, wie und wo sich die Angeklagten in ihren Erzählungen im Widerspruch zwischen den rechtlichen und moralischen Normensystemen der Jahre 1933 bis 1945 und dem der Nachkriegsjahre verorten. Die Tatsache, dass von unzuverlässigen ErzählerInnen in diesen Zusammenhängen gesprochen werden kann, beantwortet bereits die Frage nach dem Gelingen einer angemessenen Darstellung ihres Handelns u.a. gemessen an den Erfordernissen eines Gerichtsverfahrens. Es gelingt ihnen zumindest im Falle der vorprozessualen Aussagen nicht. Dorrit Cohn würde in solchen Fällen dafür plädieren,
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Ebd. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 6.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
statt von Unzuverlässigkeit von Diskordanz zu sprechen.57 Sie charakterisiert damit die »ideologische Unzuverlässigkeit«58 eines Erzählers. Die zwei Geschichten sind greifbar, die Möglichkeit, dass es eben doch anders war als dargestellt, und das Bemühen des Erzählers, gerade dies erzählerisch zu kaschieren, sind offensichtliche Anzeichen dafür, dass das Vorhaben nicht gelungen ist, Erfordernis und die Angemessenheit des eigenen Handelns unter Beweis zu stellen. Die Beschuldigten schaffen es nicht, die Zweifel aus dem Weg zu räumen. Allerdings kann die hier vorliegende Analyse nicht bis zuletzt klären, ob es sich im Falle des unzuverlässigen Erzählens in den vorliegenden zeithistorischen Quellen um eine bewusste Erzählstrategie handelt oder ob die erzählerische Verunsicherung – dies wiederum ist eine Tatsache – bei den Angeklagten zur unbewussten Verwendung der Marker von Unzuverlässigkeit führt, um sich aus den Vorwürfen ›heraus-zu-erzählen‹. Auch wenn dies letztlich nicht geklärt werden kann, die Tatsache der Unzuverlässigkeit als ein textimmanentes Phänomen im faktualen Erzählen kann Verweise jenseits der historiografischen Quellenkritik erbringen. Thomas Weitin diagnostiziert ZeugInnen als unzuverlässige ErzählerInnen. Auch wenn bei Weitins Untersuchung der Schwerpunkt auf ZeugInnen und nicht auf den Angeklagten bzw. Beschuldigten liegt, so können seine Überlegungen in Bezug auf die Angeklagten als ›besondere‹ ZeugInnen auch auf diese übertragen werden. Dass die unzuverlässigen ErzählerInnen keine auktorialen ErzählerInnen sind, sondern in die geschilderten Ereignisse der Handlungsgegenwart involviert waren, trifft auf dieses Phänomen in fiktionalen wie auch faktualen Kontexten zu. Die Beschuldigten sind intradiegetische-homodiegetische ErzählerInnen, weil sie – im Gegensatz zu den ZeugInnen, die auch als unbeteiligte BeobachterInnen denkbar sind – über Ereignisse erzählen, an denen sie selbst beteiligt waren.59 Weitin ist sich durchaus der notwendigen Differenzierung der Erzählperspektive bewusst. Trotzdem liegt seinem Nachdenken über unzuverlässiges Erzählen aber eine grundsätzliche Fehlannahme zugrunde, wenn er feststellt, dass »als heterodiegetische Instanz […] der Zeuge jedoch ein Ich-Erzähler [bleibt], der als solcher an die erkenntnistheoretischen und physikalischen Grenzen normaler Menschen gebunden und mithin potentiell unzuverlässig ist. Er kann weder alles wahrgenommen haben und wissen, noch kann er […] frei über seine Erzählung verfügen.«60
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»Discordant narration […] intends to signify the possibility for the reader to experience a teller as normatively inappropriate for the story he or she tells.« D. Cohn, Discordant Narration, S. 307. M. Fludernik, Disability vs. Discordance, S. 45. T. Weitin, Zeugenschaft, S. 259. Ebd., S. 260.
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Weitin verwendet den Begriff der Unzuverlässigkeit nicht im Sinne der literaturwissenschaftlichen Auffassung über einen unzuverlässigen Erzähler. So sieht er »in der Wiedergabesituation, in welcher ›Erwartungshaltungen‹ und ›Anpassungsbedürfnisse‹ einen statisch meßbaren Einfluß auf den Inhalt nicht nur der Aussage, sondern auch des Erinnerungsbildes haben«61 , eine Fehlerquelle für die Verlässlichkeit von Zeugenaussagen. Unzuverlässiges Erzählen, wie von Wayne Booth angestoßen und von Ansgar Nünning fortentwickelt, meint jedoch wesentlich mehr als nur den Aufruf zum Misstrauen gegenüber den ErzählerInnen und dem Erzählten, wenn dieser Terminus verwendet wird. Die Zuschreibung eines unzuverlässigen Erzählens erfolgt nach Nünning durch die RezipientInnen.62 Sie dient nicht (nur) dazu, die semantischen Unstimmigkeiten zu benennen. Viel wichtiger ist, dass die Diagnose zunächst ein close-reading des Erzählten erfordert, um die Unzuverlässigkeit belegen zu können. Es sind aber vor allem die RezipientInnen, die durch dieses Konzept auffallende Unstimmigkeiten und eigene Irritationen benennen können. Folglich stellt sich die Frage, warum diese Textstellen den RezipientInnen ins Auge fallen. Benötigen sie diese Erklärung nur zum eigenen Verstehen oder offenbart sich nicht auch ein Blick auf die TextproduzentInnen, die wiederum wichtige Aufschlüsse über ihr Weltbild und ihre moralische Verortung, aber auch ihre Unsicherheiten in Bezug auf die Einordnung und Bewertung ihres vergangenen Handelns demonstrieren? Im Falle eines juristischen Verfahrens stehen die Beschuldigten gerade hinsichtlich dieser Einordnung und Bewertung der verhandelten Taten unter einem verstärkten Rechtfertigungsdruck. Das unzuverlässige Erzählen ist somit ein typisches Phänomen von zusammenhängenden und umfassenden Äußerungen, wie sie hier im Falle der untersuchten vorprozessualen Aussagen vorliegen. Es ist aber gerade für die vorliegende Analyse sehr fraglich, ob es genügt, die RezipientInnen zur Instanz für die Diagnose des unzuverlässigen Erzählens zu erklären, sind doch die RezipientInnen eine nur schwer greifbare Beurteilungsgröße, wie auch schon die implizite AutorIn.63 61 62
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Ebd., S. 259. »Unreliable, not compared to the implied author’s norms and values, but to the reader’s or critic’s preexisting conceptual knowledge of the world.« Ansgar Nünning, Unreliable, compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration. Prolegomena and Hypotheses, in: W. Grünzweig, A. Solbach (Hg.), Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext, Tübingen 1999, S. 53-73, S. 70. Olson erkennt richtig, dass Nünning in seiner Auffassung vom unzuverlässigen Erzähler der RezipientIn die Rolle zuführt, die Booth für den implied author sah. Die Kritikpunkte bezüglich Booths implied author könnten damit durchaus auf die Überlegungen Nünnings bezüglich der RezipientIn übertragen werden. »Nünning’s list of textual signals is intended to demonstrate that the narrator appears unreliable to real historically- and culturally-embedded readers (versus Booth’s postulated one). This is, however, problematic. For if detecting unreliability functions as a quality of individual reader response, how can stable textual signals exist to typify the phenomenon of unreliability.« G. Olson, Reconsidering Unreliability, S. 97.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Auch wenn die vorprozessuale Eingabe vor Gericht nicht in einen direkten dialogischen Prozess eingebunden ist, ist sie dennoch als kommunikativer Bestandteil des gesamten juristischen Verfahrens zu sehen. Sie ist an eine AdressatIn gerichtet und verfolgt ein strategisches Ziel, weil die gewünschte Reaktion bei der AdressatIn den Wünschen der VerfasserIn entsprechen soll: »[There is a] relation between strategic and communicative elements in legal discourse. Strategic, in that it is legitimate for the contestants to give a coloured account of events; they are in no position to be fully objective or detached. Communicative, in that the process assumes open and truthful interaction and forbids lies and misleading statements.«64 Der juristische Diskurs erkennt also an, dass die betroffenen Personen tendenziös und zu ihren eigenen Gunsten im Verfahren erzählen. Es geht sogar so weit, dass keine Objektivität verlangt wird. Das Strafrecht stellt nur die Falschaussage der ZeugInnen unter Strafe.65 Im Gegenzug verlangt die ideale Vorstellung aber eine offene und ehrliche Kommunikation, die Falschaussagen und Irreführungen ausschließt. So gesehen ist das unzuverlässige Erzählen schlicht ein Merkmal der Aussage von Verdächtigen/Beschuldigten vor Gericht. Die Tatsache, dass es dort aufzufinden ist, ist keine Wertung über die unzuverlässige Aussage oder über die Aussagenden selbst. Trotzdem können durch das Eruieren der Unzuverlässigkeiten die Stellen der erzählerischen Verunsicherungen gefunden und durch die Bekanntheit dieser Stellen kann wiederum auf die Ereignisse verwiesen werden, die diese Verunsicherungen mit sich bringen.
2.3.4
Marker des unzuverlässigen Erzählens in faktualen Texten
Unzuverlässiges Erzählen kann auf drei unterschiedlichen Ebenen diagnostiziert werden: zum einen auf der semantischen Ebene, was durch eine Überprüfung der Fakten geschieht – Unzuverlässigkeit liegt demnach dann vor, wenn sich z.B. die ErzählerInnen in faktische Widersprüche verstricken. Da die Erzählenden auch in das vergangene Geschehen involviert sind, ist die Sichtweise auf die geschilderten Ereignisse projektiv und auch deshalb unzuverlässig. Damit in engem Zusammenhang steht der dritte und letzte Punkt, der die Prägung durch Werte und Normen
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Willem J. Witteveen, Cicero tells a story. On Narration and Rhetorical Reflection, in: Bruce L. Rockwood (Hg.), Land and Literature Perspectives (Critic of Institutions, Vol. 9), New York 1996, S. 427-444, S. 430. Im amerikanischen Strafrecht ist dies anders geregelt. Der oder die Angeklagte kann sich freiwillig in den Zeugenstand begeben und unterliegt dann in der Folge auch der Wahrheitspflicht. Kirsten Lehnig, Der verfassungsrechtliche Schutz der Würde des Menschen in Deutschland und in den USA. Ein Rechtsvergleich, Münster 2003, S. 273f.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
meint. Diesem dritten Punkt kommt vor allem in den NSG-Verfahren großes Gewicht zu, geht es doch in nicht minderem Maße auch um die weltanschauliche Verortung der Angeklagten. Dies ist für die frühen Verfahren dieser Art entscheidend, weil sie als Teil der Übergangsjustiz zwischen einem diktatorischen zu einem demokratischen System die Träger der vorherigen politischen Ordnung vor Gericht stellen.66 Auch wenn das unzuverlässige Erzählen im Literarisch-Poetischen andere gestalterische Formen annimmt als in einer schriftlichen oder mündlichen Aussage von Beschuldigten, so lassen sich trotz allem Kriterien finden, die einerseits gleicher Art sind wie die in literarisch-fiktionalen Texten, aber auch Kriterien, die typisch für das unzuverlässige Erzählen in faktualen Texten sind. Wichtig ist in jedem Fall, dass es sich um eine RezipientInnenhaltung zur Einordung einer Erzählung handelt. Ansgar Nünning spricht deshalb von unzuverlässigem Erzählen als einem »relationale[n] bzw. interaktionale[n] Phänomen«67 . Die Frage nach einem unzuverlässigen Erzählen muss also neben der strukturellen und formgebenden Gestaltung stets die semantische Ebene im Auge behalten. Das Konzept des unzuverlässigen Erzählens kommt somit der geschichtswissenschaftlichen quellenkritischen Vorgehensweise recht nahe. Im Unterschied dazu ist aber eben die Gestaltung neben den Inhalten eine gleichberechtigte, wenn nicht gar wichtigere Ebene für die Diagnose. Auf der Suche nach Merkmalen für das unzuverlässige Erzählen finden sich vor allem Auflistungen – basierend auf Überlegungen zum literarisch-poetischen Phänomen des unzuverlässigen Erzählens –, die sich auf die semantische und auf die textpragmatische Ebene beziehen. Zu den inhaltlichen Merkmalen zählen u.a. »explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses; Diskrepanzen zwischen den Aussagen und den Handlungen eines Erzählers, Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers und der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren; […] Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen und Interpretationen des Geschehens sowie weitere Unstimmigkeiten zwischen story und discourse; […] explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. emphatische Bekräftigung) [oder] eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit«68 . Auf die Frage nach dem Wie eines unzuverlässigen Erzählens lassen sich hingegen folgende Merkmale finden: »multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens, Häufung von sprecherzentrierten 66 67 68
M. Fludernik, Disability vs. Discordance, S. 43. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 23. Ebd., S. 27f.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität, Häufung von Leseranreden und bewussten Versuchen der Rezeptionslenkung durch den Erzähler, syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z.B. Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen), eingestandene Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen.«69 Das ›paratextuelle‹ Signal schlechthin im untersuchten Quellenkorpus ist der Ort bzw. der Umstand der Erzählung, polizeiliche bzw. juristische Ermittlungen im Zuge eines Prozessgeschehens. »Expressivität und Subjektivität, syntaktische Anzeichen für ein hohes Maß an emotionaler Involviertheit sowie neben Erinnerungslücken und anderen kognitive[n] Einschränkungen auch Hinweise auf Parteilichkeit«70 stehen deshalb zentral in dieser Analyse. Für einen Beleg des unglaubwürdigen Erzählens der Beschuldigten kann keine Check-Liste erstellt werden, die eine eindeutige Diagnose ermöglicht. Dies ist nicht nur auf den Entstehungskontext der Aussagen und deren Motivation zurückzuführen, sondern liegt vor allem auch daran, dass der Blick auf die jeweilige Aussage stark von der Erwartungshaltung der RezipientInnen getragen ist. Deshalb ist eine Einzelwortanalyse wenig sinnführend, um sich ein Bild über eine mögliche Unzuverlässigkeit des Erzählens zu machen. Die folgende Heuristik berücksichtigt diesen Faktor, wie auch die (zeit-)historischen Umstände und strafrechtlichen Belange, und behält gleichzeitig das gesamte juristische Verfahren im Blick. Verwenden die Schreibenden unvollständige und evaluative Sätze, verweist dies nicht nur auf ein emotionales Involviert-Sein, sondern sie machen so das zugrundeliegende Wertesystem greifbar. Die erzählerische Verunsicherung durch die moralische Konfliktsituation tritt hier sprachlich besonders deutlich hervor. Die unvollständigen Sätze können als ein Ausdruck der Ratlosigkeit über die eigene Einordung des Handelns gewertet werden. Gemäß den institutionellen Anforderungen an eine schriftliche Äußerung in einem juristischen Verfahren würde man davon ausgehen, dieses Merkmal nicht zu finden. Der Druck, ein möglichst kohärentes, plausibles und formal korrektes Schreiben zu verfassen, ist schließlich erhöht. Allerdings zeigt das später genauer untersuchte Schreiben von Wally K. als Beschuldigter, dass Brüche in der Syntax nicht selten sind. Der Marker der Unvollständigkeit findet sich nicht nur in literarisch poetischen und mündlichen Formen, sondern auch in den schriftlichen Formulierungen. Bewertende Sätze sollen nicht nur der Interpretation der Lesenden vorgreifen, sondern in erster Linie der Kausalität für das eigene erzählerische Aussageziel dienlich sein. Das bedeutet, dass sich mittels der Evaluationen die Vorkommnisse in die Gesamtdarstellung kohärent einfügen lassen. Letztlich helfen die evaluativen
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Ebd., S. 27. T. Weitin, Zeugenschaft, S. 263.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Anteile bei der Konstruktion von Kausalitäten, mögliche Konflikte sollen so behoben oder zumindest vertuscht werden. Gleichzeitig stellen sie auch eine Reaktion auf die Tatvorwürfe dar. Indem die Beschuldigten ihr Handeln anders bewerten, versuchen sie die Vorwürfe gegen sich zu entkräften. Anders verhält sich dies im Falle von lexikalischen Indikatoren. Vor allem Euphemismen ermöglichen es dem Erzähler, eine Distanz zwischen sich und den Geschehnissen aufzubauen. Auf diese Weise kann es gelingen, dem Erzählten eine andere übergeordnete Kausalität zu verleihen, die dann eine andere Einordnung des strafrechtlich relevanten Handelns zulässt. Dies ist natürlich stark mit einem Auftreten der Beschuldigten als Experten des vergangenen Geschehens verbunden. Durch dieses retroperspektivische Kategorisieren externalisieren die Erzählenden die Ereignisse und können sich so problemlos die moralischen Gegebenheiten der Erzählgegenwart zu eigen machen. Durch die gewonnene Distanz gelingt es den Erzählenden darüber hinaus, ihre erzählerische Verunsicherung zu beheben. Für die RezipientInnen hingegen ist an genau dieser Stelle die Lesart des unzuverlässigen Erzählens erforderlich, nicht nur, um diese moralische Verschleierung zu entdecken, sondern auch, um für die Form bzw. ›Gattung‹ der Quelle zu sensibilisieren. Die Forschung zur Sprache des und im Nationalsozialismus hat hier wichtige und entscheidende Vorarbeit geleistet. Die Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer) kategorisierte die Bevölkerung auf sprachlicher Ebene und vollzog auf diese Weise bereits die Exklusion bzw. Inklusion gemessen an den ideologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus. Die oben erwähnte weltanschauliche Verortung schlägt sich also u.a. in der Wortwahl der Angeklagten nieder. Bereits sprachlich sollte so im NS-Staat eine die NS-Herrschaft unterstützende Bevölkerung geschaffen werden. Damit verbunden ist natürlich eine Gewöhnung, die durch permanente sprachliche Wiederholung erzeugt wird. Trotzdem ist selbst die nationalsozialistische Sprache kein abgeschlossenes Phänomen. In der Folge sind es damit auch sprachliche Brüche, bedingt durch lexikalische Indikatoren, die auf die hier thematisierten erzählerischen Unsicherheiten verweisen.71 Eine besondere Form der lexikalischen Sprache sind leitmotivische Ausdrücke. Durch sie findet eine Strukturierung des Erzählten statt. Die RezipientInnen sollen durch diese Struktur in ihrem Lesen und Verstehen gelenkt werden. Hiermit sind nicht unbedingt verwendete Fachbegriffe gemeint, sondern vielmehr die sprachlichen Kategorisierungen, wie 71
Geraldine Horan, »Er zog sich die ›neue Sprache‹ des ›Dritten Reiches‹ über wie ein Kleidungsstück«. Communities of Practice and Performativity in National Socialist Discourse, in: Linguistik online 30, 1 (2007), S. 57-80, S. 57. Die linguistisch motivierte Forschung zur Sprache im/des Nationalsozialismus wendet die ›Einzelwortmethode‹ an. Sprachliche Kontinuitäten werden nur wenig beachtet. Durch die Verknüpfung des close-readings mit der Frage nach einem unzuverlässigen Erzählen ist es jedoch möglich, dieser Fehlannahme entgegenzutreten, da die Kontextualisierung des Geschriebenen bzw. Gesagten stetiger Ausgangspunkt ist.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
sie z.B. durch den Begriff der ›Arbeit‹ in Bezug auf die alltäglichen sowie verbrecherischen Handlungen der Lager-SS geschehen. Bezeichnet man das Schikanieren und Misshandeln von Häftlingen als alltägliche Arbeit, zeigt das die eigene fehlende Begrifflichkeit für das inhumane Handeln. Gleichzeitig rechtfertigen die Angeklagten ihre Verbrechen durch eine sprachliche Banalisierung, weil sie die Verbrechen so als alltäglich klassifizieren. Aber auch die »Form narratorialer Unentschiedenheit«72 , der »Erzählervorbehalt«73 , resultiert aus der Weltsicht der angeklagten Frauen und Männer, da sie durch ihr unzuverlässiges Erzählen ein Verorten durch das Gericht und die Anklage verhindern möchten. Dies erfolgt mit dem Mittel einer doppelten Begründung, die die RezipientInnen so keine eindeutige Begründung finden lässt. Floskeln und Wiederholungen sind bei den Verfassern der Schriftstücke nicht nur ein Anzeichen für einen kraftlosen Stil. Das unzuverlässige Erzählen findet sich, weil die Schreibenden, egal ob bewusst oder unbewusst, bestimmte Zusammenhänge und Gründe für ihr Verhalten verschleiern möchten. Oftmals geht dies dann mit einem phrasenhaften Erzählen einher. Durch solche sprachlichen Formeln verhindern die Beschuldigten, ihr eigenes Handeln zu konkretisieren, und verstecken sich so hinter Worthülsen. Nicht selten sind die Phrasen verbunden mit einem pathetischen Erzählstil, wie z.B. »Ich kam mit reinen Händen und Gewissen im Jahre 44 nach Mauthausen und genauso rein jedoch mit Grauen, verlies ich diesen Ort«74 , oder gar verbunden mit einem heroisierenden Unterton, »dass ich nicht mehr auf mich nehmen kann, als mit der Wahrheit im Einklang steht.«75 Es handelt sich letztlich um einen discordant narrator. Dieser zeichnet sich u.a. durch die Verwendung von Sinnsprüchen aus, die er zur Deutung und Einordnung der Geschehnisse nutzt. Der Erzähler versucht so zu verhindern, sich sprachlich festzulegen oder auch durch den Tempuswechsel vom Präteritum in das Präsens der Aussage Autorität zu verleihen, die in ihrem Gewicht über der bloßen Schilderung der Er-
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A. Aurnhammer, Im Horizont der Ungewissheit, S. 125. Ebd., S. 123, S. 125. Stellungnahme des Beschuldigten Ludwig W., geb. 15.12.1896, vor dem Volksgericht Wien, 27.6.1945, WStLa, LG Wien, Vg 1a Vr 277/45. Der gelernte Baupolierer W. wurde von der Wehrmacht zur Waffen-SS überstellt und war von Ende Mai 1944 bis zum Ende des Krieges im Konzentrationslager Mauthausen. Dort beaufsichtigte er u.a. Arbeitskommandos. W. erreichte den Dienstgrad eine SS-Hauptscharführers. Er wurde durch das Volksgericht Wien zu drei Jahren Kerkerhaft verurteilt. Schreiben von Franz Dop., geb. 7.10.1922, an das Volksgericht Wien, 17.7.1946, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 821/55. Dop. meldete sich freiwillig zu den militärischen Verbänden der SS und wurde mehrmals an der Front verwundet, weshalb er im Sommer 1942 zum Dienst in das KZ-Außenlager Gusen musste. Dort, wie auch später im Außenlager Wiener Neudorf, war er für die Bewachung der Arbeitskommandos zuständig. Im August 1946 wurde Dop. zum Tode verurteilt.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
eignisse steht. Solche Äußerungen fungieren also letztlich als Fazit der Form ›die Moral von der Geschichte‹.76 Die Sichtweise des Erzählers wird durch explanative Äußerungen zentral gestellt und soll auf diese Weise den RezipientInnen einen Referenzrahmen zur Beurteilung der Geschehnisse aufdrängen. Hier sind es oftmals Stereotype, die durch die Aussagen in Bezug auf Häftlinge des Konzentrationslagers dargelegt und reproduziert werden, um zu erklären, warum die Konzentrationslagerhaft angeblich unumgänglich war. So rechtfertigt Michael S. als Beschuldigter vor dem Volksgericht Wien seine Ohrfeigen gegen homosexuelle Häftlinge damit, dass bei dieser Häftlingsgruppe eine Gefahr der Arbeitsverweigerung bestanden hätte.77 Ganz anders verhält es sich im Falle der Aussagen, die sich auf die eigene Person beziehen. Klischees sollen durchbrochen und widerlegt werden. Typisch für solch ein explanatives Vorgehen wäre die Äußerung von Ludwig W. vor dem Volksgericht Wien. Zwar wurde W. auch beschuldigt, nationalsozialistische Gewaltverbrechen im Konzentrationslager Mauthausen begangen zu haben, da aber die Volksgerichte auch für die Entnazifizierung zuständig waren und eine Parteimitgliedschaft für die weltanschauliche Verortung des Beschuldigten W. wichtig war, äußerst sich dieser besonders ausführlich zu diesem Aspekt in seiner Stellungnahme gegenüber dem VG Wien. Er will seine weltanschauliche Ferne zum Nationalsozialismus unter Beweis stellen. Dies schlägt sich in der beharrlichen Darstellung, kein Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, nieder, die immer wieder durch Informationen unterfüttert wird: »Seit 1926 war ich Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs und war [es] bis zur Auflösung der Partei. Ich war auch Mitglied des Republikanischen Schutzbundes und war Truppführer. Nach dem Besagten wird wohl deutlich hervorgehen, dass ich mit der NSDAP und ihrem Programm nie sympathisiert habe, sondern immer gegnerisch eingestellt war. Wurde ich dort im Jahre 1934 beim Aufstand am Währinger Gürtelbahnhof zweimal verwundet, und wegen der Beteiligung am Februaraufstand zuerst in gerichtlicher Haft und dann bis zum Juni 1934 im Lager Wöllersdorf angehalten. Nach dem Gesagten wird es verständlich sein, wenn ich behaupte, dass ich weder Parteimitglied noch Anwärter war. Wehrverbänden der NSDAP habe ich nicht angehört, noch auch Auszeichnungen von
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»[A] narrator may verbalize his or her ideas gnomically, by way of generalizing judgmental sentences that are grammatical set apart from the narrative language by being cast in the present tense.« D. Cohn, Discordant Narrator, S. 307. »Was meine Angaben vor der Gendarmerie bezüglich Schläge betrifft, so möchte ich hierzu angeben, dass es sich auch hierbei nicht um politische Häftlinge, sondern um Homosexuelle handelte, bei denen man Arbeitsverweigerung nicht einreißen lassen konnte.« Stellungnahme des Beschuldigten Michael S. vor dem Bezirksgericht Hollabrunn, 11.10.1947, WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47. Genauere biografische Daten zur Person Michael S. finden sich im Kapitel zum performativen Erzählen, in dem ich eine Analyse seines Gnadengesuchs vornehme.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
der NSDAP für die ich ja nie tätig war erhalten. Im April 1938 erhielt ich eines Tages (ich war damals arbeitslos und hatte keine Aussicht eine Arbeit zu erlangen) zur NSKK Standarte 93 nach »Michelbeuern«. Dort wurde über meine politische Vergangenheit gefragt, welche Fragen ich ordnungsgemäß und wahrheitsgemäß beantwortete. Schließlich wurde mir gesagt, ich hätte mich, da ich arbeitslos sei mit meinem Motorrad bei dem NSKK Sturmführer im Gasthaus Prinzki (Ecke Pelzlgasse – Siringgasse) zu melden. Dieser Aufforderung musste ich als Arbeitsloser nachkommen und habe tatsächlich der NSKK nur einige Monate als einfacher NSKK-Mann Dienst gemacht.«78 W.’s Darlegung zeigt, dass die explanativen Äußerungen vor allem einen entschuldigenden und rechtfertigenden Charakter aufweisen. Durch die detaillierten Erklärungen sollen die eigenen Beweggründe und Folgerungen exponiert werden. W. ist deshalb so genau in seiner Darstellung, um seine Zwangssituation darzustellen. Einerseits ließ ihm aus seiner Sicht seine politische Vergangenheit und andererseits seine soziale Situation keine andere Wahl, als sich im nationalsozialistischen Kraftfahrkorps zu melden. Seine persönliche Situation schildert er als Notlage. Dagegen redet er seine Funktion und Zeit in einer nationalsozialistischen Parteiorganisation klein. Das unzuverlässige Erzählen tritt also klärend und bestätigend, je nach situativem Erfordernis, in gleichem Maße auf.79 Die appellativen Äußerungen nehmen zu, wenn die Angeklagten unter einen erhöhten Rechtfertigungsdruck geraten. Hier ist oftmals ebenso ein performatives Erzählen vorhanden, da der Appell als eine sprachliche Handlungsaufforderung zu verstehen ist. Äußerungen dieser Art vermitteln oftmals den Eindruck, als würden die Erzählenden auf eine bestimmte Sichtweise pochen. Die RezipientInnen sollen so in das geschilderte Geschehen miteinbezogen werden und werden aufgefordert, die Sichtweise auf dieses zu übernehmen. Seine Ansprache soll verhindern, die Distanz zwischen dem Erzähler bzw. Erzählten aufrechtzuerhalten, und somit auch ein distanziertes Urteil abwenden. Idealerweise ist die Grundlage der Meinungs/Urteilsbildung dann nicht mehr das Kondensat der Aussagen verschiedener Personen, sondern die AdressatInnen verlieren ihre Abgrenzung gegenüber den Erzählenden und berücksichtigen primär deren Wirklichkeitsdarstellung. Ludwig W. spricht deshalb in seinem Schreiben den Untersuchungsrichter Dr. Iro wiederholt an. Schildern die Angeklagten ausführlich alltägliche und normierte Abläufe des Lagergeschehens, können sie so von möglichen späteren Nachfragen der anderen Prozessparteien ablenken oder wegführen. So sind bestimmte, selbstbewusste 78 79
Äußerung des Beschuldigten Ludwig W. während seiner Vernehmung, Wien 27.6.1945, Stadtund Landesarchiv Wien, LG Wien, Vg 1a Vr 277/45, S. 2. Catharine A. MacKinnon, Law’s Stories as Reality and Politics, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 232-237, S. 235.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
und allwissende Formulierungen, die alternative Sichtweisen ausschließen, häufig in den schriftlichen Formulierungen zu finden. Die Beschuldigten versuchen auf diese Weise, die Möglichkeit einer anderen Sichtweise auszuschließen, indem sie für sich einen besonderen Wissensanspruch demonstrieren. So wird die Aussageintention der zweiten Ebene deutlich. Diese Selbstdarstellung des Konzentrationslager-Experten findet sich nicht nur in den Schilderungen der Beschuldigten des späteren Dachauer Hauptverfahrens, sondern ist ein Spezifikum aller hier berücksichtigten Dienstränge. Das dargestellte Spezialwissen ist aber eines, das sich vor allem auf entpersonalisierte Abläufe konzentriert. Wir kennen diese ausführlichen logistischen Schilderungen aus dem Jerusalemer Prozess gegen Eichmann. Dieser verlor sich nahezu in den Darlegungen über die Deportationsabläufe. Die ausführliche Schilderung über die Organisation der Deportationen aus dem Munde Adolf Eichmanns diente auch dazu, nicht über den Zweck der Deportationen zu sprechen – die Versklavung und Ermordung von Menschen. Im Falle des Dachauer Hauptverfahrens findet sich in der vorprozessualen Stellungnahme des Beschuldigten Leonard Eichberger eine sachliche und entpersonalisierte Beschreibung des Ablaufs einer Exekution im ehemaligen Konzentrationslager Dachau: »Ich bin daher über die in Dachau seit Antritt meiner Diensttätigkeit vollzogenen Exekutionen ziemlich genau informiert. Der Exekutionsbefehl wurde an unser Büro im Schutzhaftlager immer von der politischen Abteilung unter Führung von Kriminal-Sekretär Kick (bis Ende 1944) und Kriminal-Sekretär Kloppmann geschickt. Der Befehl der politischen Abteilung hat aus einem Exekutionsbefehl des Reichssicherheits-Hauptamts direkt oder der zuständigen Stapostelle, z.B. der Stapostelle München, bestanden. Angeheftet an diesen Befehl war ein Spezial-Formular, das vom Lager-Kommandanten (und zwar bis November 1943 Martin Weiss und nachher Weiter) unterschrieben war. Dieses Formular hat den Ort der Exekution und die Zeit der Exekution bestimmt. Ich hätte ohne dieses vom Lager-Kommandanten unterschriebene Spezial-Formular keine Exekution unternommen. Ich habe dann die Gefangenen, die von dem Exekutionsbefehl betroffen waren, versammeln lassen und zum Krematorium marschiert. Ausserdem wurde ich vom diensthabenden Rapportführer begleitet. Nach der Exekution wurde dann die Karteikarte des hingerichteten Häftlings herausgezogen und von den zwei Lagersekretären Wenger und Domgala mit den Worten ›Abgang durch Tod‹ versehen. Domgala ist daher sehr gut über die Exekutionen informiert und sollte in der Lage sein, genau Auskünfte zu geben.«80 80
Statement Leonard Eichberger, geb. 22.1.1915, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/2. Eichberger war als Rapportführer direkt in die Verwaltung des Schutzhaftlagers und die Ausführung von Exekutionen sowie Bestrafungen gemäß der Lagerordnung involviert. Das amerikanische Militärgericht sah es als erwiesen an, dass sich
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
So formuliert Eichberger den einführenden Satz seiner Schilderung über den Ablauf einer Exekution im Konzentrationslager Dachau. Er demonstriert sein Wissen durch genaue Angaben der Abfolge und der beteiligten Personen. Er entpersonalisiert damit das Geschehen völlig. Die angegebenen Personen sind in seiner Beschreibung auf ihre Funktionen im Lager reduziert. Eichberger klärt so über den ›technischen‹ Vorgang auf, die Tatsache der Ermordung von Menschen und die Gründe hierfür werden aber völlig in den Hintergrund gedrängt. Diese Leerstellen, die gerade durch das detaillierte Wissen offenbar werden, sind für die RezipientInnen jedoch relevant. Der ehemalige Rapportführer verfolgt mit seiner Stellungnahme das Ziel, sich als Experte in der Handlungsgegenwart darzustellen und in dieser Weise so weit wie möglich an der Themensetzung der Erzählgegenwart mitzubestimmen. An diesem möglichen Merkmal von unzuverlässigem Erzählen zeigt sich noch einmal, dass nicht nur von einer Unzuverlässigkeit auf der semantischen Ebene ausgegangen werden darf. Allerdings kann dieses Merkmal unzuverlässigen Erzählens nicht immer als ein bewusstes und strategisches Vorgehen gewertet werden. Oftmals macht es den Eindruck, als würden die Beschuldigten sich regelrecht einer Idee eines bestimmten Selbstbildes hingeben. In ihrem Bestreben, dies möglichst überzeugend und kohärent wiederzugeben, verlieren sie sich dann in Details und die Erzählung entwickelt eine Eigendynamik. Das später ausführlich dargestellte Beispiel der Beschuldigten Wally K. demonstriert dies in besonderem Maße. Ähnlich in der Wirkung, aber anders in der Formulierung sind ›wenn-dann‹Konstruktionen, gemeint sind Konstruktionen der Art »wenn ich in dieser Weise gehandelt hätte, dann wäre dieses oder jenes passiert«. Die Beschuldigten zeigen damit alternative Handlungsmöglichkeiten und verschiedene Wahrscheinlichkeiten auf. Gerade im Falle von vorprozessualen Formulierungen versuchen die Beschuldigten hier einer Rezeptionsidee des unzuverlässigen Erzählens vorzugreifen bzw. instrumentalisieren diese Erwartung für sich. Die ›wenn-dann‹-Konstruktionen werden bewusst und durchaus strategisch eingesetzt. Brüche und Unstimmigkeiten werden offensiv benannt und sollen durch die eigene Gegendarstellung an Gewicht verlieren. Auf diese Weise kann es den Verdächtigen aber auch gelingen, sich vordergründig mit den Sichtweisen und Vorwürfen auseinanderzusetzen, die ihnen gegenübergestellt werden. Durch die alternative Wirklichkeitskonstruktion, die im Erzählvorgang bereits falsifiziert wird, können aber gerade die eigene und vorteilhafte Wirklichkeitsdarstellung sowie die eigenen Kausalitäten vordergründig gemacht werden und als richtige Deutung der vergangenen Geschehnisse etabliert werden. Bei der Formulierung des ehemaligen SS-Sturmbannführers FörsEichbergers Handeln nicht auf Verwaltungstätigkeiten beschränkte, verurteilte den ehemaligen SS-Hauptscharführer zum Tode und ließ im Mai 1946 das Todesurteil im Kriegsgefangenenlager von Landsberg am Lech vollstrecken.
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chner ist eine solche alternative Wirklichkeitskonstruktion erst auf den zweiten Blick erkennbar: »Ich selbst habe alles versucht, um eine Besserung in die Lager zu bringen, jedoch ohne Hilfe des Lagerkommandanten Dachaus war die Krankenzahl bei den dortigen Unterkunftsverhältnissen schwer auf einen geringeren Stand zu bringen.«81 Förschner gibt hier an, sich selbst um eine Verbesserung der Lage bemüht zu haben, er sei aber an der fehlenden Unterstützung des Lagerkommandanten gescheitert. Hierin steckt also die Aussage: ›Hätte der Lagerkommandant mich unterstützt, wäre ich in der Lage gewesen, die Situation zu verbessern‹. Er weist so die Verantwortung von sich. Der ehemalige Funktionshäftling Franz Diep. greift in seiner Stellungnahme dem Volksgericht Wien gegenüber dem Vorwurf der Misshandlung von Mithäftlingen vor und kontrastiert diese mit den tatsächlichen Ereignissen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen: »Hätte ich mir Mithäftlingen gegenüber etwas zu Schulden kommen lassen, so hätten mich die ausländischen Häftlinge nach der Befreiung in Mauthausen am Appellplatz getötet, so wie es denen passiert ist, die grob oder gar grausam mit den Mithäftlingen als Kapo umgegangen sind.«82 Fraglich ist, ob das Phänomen des verrückten Monologisierenden (mad monologist) für die Form der vorprozessualen Aussagen passend ist und, falls sich eine analoge Form findet, dieser Terminus treffend ist. Diese Darstellungsform wird oftmals als Hinweis auf ein pathologisches Problem der Erzählenden gewertet, das einerseits im Hinblick auf das Setting – juristisches Verfahren – und andererseits bedingt durch die vergangenen Ereignisse als erzählerische Exkulpationsstrategie einzuordnen ist. Aber auch die Tatsache, dass es sich um eine erzählerische Rekonstruktion von vergangenen Ereignissen handelt, kann für die Ungenauigkeiten verantwortlich gemacht werden; dies wiederum hängt mit dem Merkmal der eingeschränkten Sicht eines Ich-Erzählers zusammen.83 Im Falle der NSG-Verfahren ist dies also hinsichtlich der Begrifflichkeit, aber auch jenseits von ihr im Hinblick 81
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Statement Otto Förschner, geb. 14.2.1902, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Nr. 1/2. Der ehemalige Sturmbannführer wurde in den letzten Kriegsmonaten als Kommandant der Außenlager von Kaufering eingesetzt. Zuvor war er nach einer Frontverletzung zum Dienst nach Buchenwald und in das dazugehörige Außenlager Mittelbau-Dora abkommandiert. Förschner war einer der insgesamt 28 zum Tode Verurteilten des Dachauer Hauptprozesses, deren Urteil im Kriegsgefangenengefängnis in Landsberg am Lech vollzogen wurde. Stellungnahme des Beschuldigten Franz Diep., geb. 9.7.1901, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55. Diep. war als Angehöriger der Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg im Sommer 1943 in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht worden. Bei einem Arbeitskommando der Henkel-Flugzeugwerke, im Werk in Floridsdorf wie auch in Hinterbrühl war Diep. »Kommando-Kapo«. Er wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. »Factual contradictions occur in quite different categories of ›unreliable‹ texts: inaccuracies are sometimes treated as symptoms of a pathological scenario, in other cases as straightfor-
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
auf die begangenen Verbrechen relevant. Es entsteht deshalb auch der Eindruck, als würde der oder die Erzählende von einer Idee oder Weltanschauung besessen sein, die keinen Raum mehr für die Wahrnehmung von Fakten zulässt.84 Umso deutlicher wird gleichzeitig, dass die bisherige Diskussion rund um das Normalitätsparadigma auch wichtig für die Einordung eines unzuverlässigen Erzählens von NS-Verbrechern vor Gericht wichtig ist. Allein für die Klärung der Terminologie ist die Diskussion über die (Nicht-)Normalität und eine Entschuldigung sowie Distanzierung von den begangenen Verbrechen durch ein Pathologisieren der Täter wichtig.85 Die Gefahr in dieser Argumentationslinie ist die Fehlannahme, hierin bereits eine ausreichende Erklärung für die Täterschaft zu finden. Vielmehr birgt die Pathologisierung der Täter die Gefahr einer falschen Schlussfolgerung über deren Verantwortlichkeit. Dies wiederum ist nicht nur faktisch falsch, sondern zumeist auch ein Indiz, auf die Erklärung der Beschuldigten ›reingefallen‹ zu sein.86 Gleichzeitig ist es aber gerade ein wichtiges Anliegen der frühen NSGVerfahren, wie sie hier beispielhaft untersucht werden, in Verfahren zu Konzentrationslagern die Überschreitung der moralisch-ethischen Grenzen zu thematisieren und zu demonstrieren. So gesehen geht es also den Verfahren darum, Verbrechen gegen die Menschheit87 (Crimes Against Humanity) als nicht-normal bzw. jenseits
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ward speech acts of deliberate lying omission […], or simply relate to the narrator’s insufficient access to the complete data.« M. Fludernik, Defining (In)Sanity, S. 76. »[T]he narrator who is obviously in the grip of an overwhelming obsession but blithely unaware of the fact, and who suffers from a patent epistemological distortion regarding the fictional world, what is actually happening, what he or she is doing, and how this should be explained.« M. Fludernik, Defining (In)Sanity, S. 77. G. Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ›ganz gewöhnlichen‹ Deutschen, S. 13-90. Dies wurde Hannah Arendt bei ihrer Beobachtung Eichmanns in seinem Jerusalemer Verfahren vorgeworfen. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass Arendt auf zahlreiche Quellen, die weiteren Aufschluss zu Eichmanns Rolle lieferten, keinen Zugang hatte. Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich, Hamburg 2011, S. 21, S. 287. Da die Übersetzung des Begriffs humanity umstritten und der gängige Terminus ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ euphemistisch ist, soll hier von ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ gesprochen werden. »Das den Nürnberger Prozessen zugrundeliegende Statut hat, wie bereits erwähnt, die ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ als ›unmenschliche Handlungen‹ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.« Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 20083 , S. 398-399. Karl Jaspers greift Arendts wichtige Überlegung zu den deutschen Begrifflichkeiten auf und übernimmt ihre Argumentation im Radiointerview mit Francois Bondy: »Verbrechen gegen die Menschheit […] sind solche, die das Dasein der Menschheit überhaupt bedrohen. Denn was mit dem Massenmord an den Juden geschehen ist, das könnte das Modell kommender Verbrechen, das in den Ausmaßen noch ganz
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der strafrechtlichen Norm darzustellen. Die Gefahr, diese Annahme und die der Nicht-Normalität dann auch auf die Täter selbst zu übertragen – letztlich ist das auch so passiert –, wird von der Forschung heftig diskutiert. Trotzdem kann die vorprozessuale Aussage selbst als eine Form des Monologisierens bezeichnet werden. Zweck dieser Monologe ist es, einerseits ein Herrschaftswissen gegenüber dem Gericht zu demonstrieren und andererseits eine Objektivierung der anderen Personen in den geschilderten Ereignissen zu erwirken. Wie auch in den fiktionalen Monologen ist für die faktualen Äußerungen dieser Art typisch, dass eine dezidierte Themensetzung stattfindet.88 Diese Schwerpunkte sind wiederum aufschlussreich über den Monologisierenden selbst, da die geschlossene und umfangreiche Aussageform der vorprozessualen Äußerung besonders dazu geeignet ist, ein bestimmtes (Selbst-)Bild kohärent und plausibel darzustellen. Im Gegensatz zur dialogischen Form während des Prozessgeschehens kann in der Stellungnahme vor dem Prozess leichter und erzählerisch versierter konstruiert werden. Hierarchisch niedrig gestellte SS-Angehörige stellen sich darin oftmals als überfordert dar. Die hierarchisch höher Gestellten dagegen schildern sich als den Umständen ausgeliefert und verbinden dies mit einer Heroisierung ihrer selbst, da sie trotz aller Widrigkeiten ihr Möglichstes getan haben. Nicht allzu weit entfernt von dieser monologischen Form ist das Abschweifen vom eigentlichen Sachverhalt. Yacobi bezeichnet diese Digression als »exegetical deflection«89 . Sie soll Normabweichungen von den textexternen Erwartungen kompensieren. Dahinter verbirgt sich letztlich ein Ablenkungsmanöver. Nicht nur kann so ein anderes Thema zur Disposition gestellt, sondern auch die RezipientInnen verwirrt werden, so dass sie die dargelegten Sichtweisen übernehmen oder schlicht das Interesse verlieren. Gerade im Falle einer in sich geschlossenen schriftlichen Darlegung kann dies erfolgreich sein, kann doch der ›Redefluss‹ hier nicht durch andere Prozessbeteiligte gestört werden. Lässt sich dies in dialogischen Momenten vor allem durch die wiederholte eigene Darstellung in Kontrast zur Wahrnehmung und dem Nachfragen der anderen Gesprächspartei sowie konträr zur Prozessdynamik finden, ist dies im Falle der geschlossenen Form der Darstellung der vorprozessualen Aussage subtiler. Das langsame, aber sichere Wegführen vom Verhand-
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geringfügige Beispiel eines künftigen Rassenmordes sein, der Hunderte von Millionen mit den modernen technischen Mitteln treffen würde. Daß diese Gefahr bewußt werde und daß man ihr dadurch begegne, daß im ersten Fall nicht ein einzelner Staat richtet, sondern sogleich die Menschheit selber hervortritt und ihre eigene Bedrohung erkennt, das scheint mir entscheidend wichtig.« Hans Saner (Hg.), Karl Jaspers, Provokationen. Gespräche und Interviews, München 1969, S. 104. Shinichiro Morinaga, Über den Begriff »Verbrechen gegen die Menschheit«. Karl Jaspers und Hannah Arendt, in: The Journal of Liberal Arts and Sciences 41 (2013), S. 1-9. A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 6. T. Yacobi, Narrative and Normative Patterns, S. 34f. und 38f.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
lungsthema zu einer eigenen Thematik ist das Ergebnis einer solchen Digression. Auch diese Form des unzuverlässigen Erzählens ist in juristischen Kontexten zu finden. Wie sehr sich im Falle des Analysepunktes zum unzuverlässigen Erzählen der Blick auf die semantische und narratologische Ebene verschränkt, wird an dieser Stelle noch einmal ganz besonders deutlich. Aus diesem Grund müssen die beiden Analyseebenen von story und discourse explizit gemacht werden. Damit verbunden sind die sogenannten »externen frames of reference«90 . Sie beleuchten die moralisch-ethischen Vorstellungen der RezipientInnen ebenso wie die der Erzählenden. Hier findet sich also einerseits die Antwort auf die Frage nach einer Notwendigkeit einer Rezeptionsstrategie wie dem unzuverlässigen Erzählen, aber andererseits auch eine Antwort auf die Frage, warum die Erzählenden eine erzählerische Verunsicherung transportieren.
2.4
Zwischenfazit
Tamar Yacobi meint, die Glaubwürdigkeit (literarischer) ErzählerInnen nur in Relation zum Normensystem der AutorInnen und der Rekonstruktion der verschiedenen Diskursebenen beurteilten zu können.91 Yacobi hat ihre Überlegung über das unzuverlässige Erzählen entlang von fiktionalen Texten entworfen. Sie selbst thematisiert in ihrem Aufsatz aber bereits auch die Probleme des faktualen Erzählens in Zusammenhang mit dem Phänomen der erzählerischen Unzuverlässigkeit. Wie bereits erwähnt ist der große Unterschied zwischen dem fiktionalen und dem faktualen Erzählen die Verschiedenheit bzw. Gleichheit von Autor und Erzähler. Will man also die (Un-)Glaubwürdigkeit der Erzählenden beurteilen, muss der normative Rahmen (das juristische Verfahren, Geschehnisse im Konzentrationslager, Prägung durch die nationalsozialistische Weltanschauung u.ä.) berücksichtigt werden. Ist dieser Kontext eruiert, kann der rezeptionsbedingte Verdacht von Unzuverlässigkeit belegt werden. Die Unzuverlässigkeit im vorprozessualen Erzählen der Beschuldigten in den NSG-Verfahren findet sich einerseits aufgrund des juristischen Rahmens und wegen der begangenen Straftaten sowie deren (historischen) Begleitumständen. Der gerichtliche Kontext fordert vor allem ein plausibles und kohärentes Erzählen, um eine überzeugende Darstellung zu verfassen.92 Die Beschuldigten müssen, um die 90 91
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A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 30. »We can judge the reliability of a literary speaker’s discourse only by appeal to the author’s system of norms as built into, and reconstructed from, that very discourse in its various (historical, generic, structural) contexts.« T. Yacobi, Narrative and Normative Patterns, S. 22. Arnauld benennt hier drei Dimensionen der gerichtlichen Erzählung: interne Anforderung, Kontextbezug, Adressierung. Die Auswirkung der letzten beiden Punkte ist für die (hand-
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
vergangenen Ereignisse überhaupt erzählen zu können, diese arrangieren. Was erzählt werden soll, muss ausgewählt, geordnet und (kausal) verknüpft werden. Ist ein solches erzählerisches Netz geschaffen, können die Anforderungen für die Erzählung vor Gericht erfüllt sein. Gerade durch das kausale Verknüpfen der Vorkommnisse erreichen die Beschuldigten Kohärenz. Da die NSG-Verfahren der frühen Nachkriegsjahre im Kontext der Übergangsjustiz (Transitional Justice) stehen, führt dies zu erzählerischen Besonderheiten, wie sie für andere Strafverfahren nicht auffindbar sind. Dass Handlungs- und Erzählgegenwart nicht dieselben sind, ist zunächst Merkmal einer jeden (rekonstruierenden) Erzählung. Allerdings sind diese verschiedenen Gegenwarten hier Teil konträrer moralischer, politischer und normativer Systeme. Somit gilt es, nicht nur eine zeitliche Distanz, sondern auch eine moralische Leerstelle erzählerisch möglichst geschickt zu überwinden. Durch das Sich-Darstellende-Ich (AutorIn) und das Dargestellte-Ich (AutorIn in der Vergangenheit) kann im faktualen Erzählen das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens ebenso auftauchen, wie uns dies im fiktionalen begegnet, insbesondere, wenn dieses Erzählen im juristischen Kontext stattfindet.
2.5
Unzuverlässiges Erzählen Fritz Hintermayers während des Dachauer Hauptverfahrens93
In allen drei hier untersuchten Prozessformen finden sich handschriftliche Statements der Beschuldigten hinsichtlich ihrer möglichen Anklagepunkte. Im Falle der vorprozessualen Stellungnahmen der Beschuldigten im Dachauer Hauptverfahren muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die Entstehung dieser Aussagen nicht immer den rechtsstaatlichen Standards entsprochen hat. Dies soll heißen, dass die Beschuldigten unter Zwang standen und ein bestimmter Inhalt gefordert wurde. Aussagen der späteren Angeklagten, während ihrer Verhöre durch die Angehörigen des amerikanischen Militärs unter Druck gesetzt worden zu sein, und die augenfälligen Unterschiede im Schuld- und Unrechtsbewusstsein in Kontrast
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schriftliche) vorprozessuale Aussage vor allem entscheidend. Die interne Anforderung hat bei der in diesem Kapitel untersuchten Aussageform noch keinen allzu großen Einfluss, im Gegenteil, ihr Reiz liegt in ihrem verhältnismäßig großen informellen Charakter. Andreas von Arnauld, Was war, was ist – und was sein soll. Erzählen im juristischen Diskurs, in: Christan Klein, Matías Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009, S. 14-49, S. 33-41. Da es sich in bei den zitieren Quellen um (hand)schriftliche Eingaben der Beschuldigten bzw. Verurteilten und protokollierte mündliche Aussagen der Angeklagten handelt, finden sich immer wieder grammatikalische Fehler. Um dennoch die Lesbarkeit zu erhalten, wird auf Anmerkungen verzichtet.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
zu den protokollierten Aussagen während des Prozesses legen diese Annahme nahe. Dies steht klar einer von den Beschuldigten angestrebten Kohärenz der Aussagen über das gesamte juristische Verfahren hinweg entgegen.94 Fritz Hintermayer95 wurde im Dachauer Hauptverfahren wegen seiner Zeit als Erster Lagerarzt von 1944 bis zur Befreiung des Konzentrationslagers Dachau als Teil des common designs angeklagt. Noch bevor der Prozess gegen das ehemalige Dachauer Lagerpersonal begann, wurde Hintermayer 34 Jahre alt. Vor Beginn der Verhandlung verfasste er wie die anderen Mitbeschuldigten ein vorprozessuales Schreiben. Darin setzt der SS-Sturmbannführer sich in erster Linie mit den hygienischen Gegebenheiten des Lagers in seiner Zeit als Lagerarzt von Februar 1944 bis April 1945 auseinander. Der nicht-promovierte Arzt war nach eigenen Angaben auch an den Malaria-Experimenten des Mitangeklagten Schilling beteiligt. Als leitender Lagerarzt war er bei den Hinrichtungen von Häftlingen anwesend, um unter anderem deren Tod festzustellen. So soll er an der Hinrichtung von 90 russischen Kriegsgefangenen beteiligt gewesen sein und zwei schwangere russische Gefangene durch tödliche Injektionen ermordet haben. Ein ehemaliger Funktionshäftling gibt an, Hintermayer hätte auch die Ermordung von 18 psychisch Kranken zu verantworten. In den 15 Monaten seiner Zeit als Arzt brach im Hauptlager eine Fleckfieberepidemie aus, die fast 10.000 der Dachauer Häftlinge das Leben kostete. Die Klärung, wie es dazu kommen konnte und welche Schuld ihn deswegen traf, war ein wichtiger Verhandlungspunkt während des Prozesses. Aber auch in seinem Statement findet sich dieses Thema. Häftlinge beschrieben ihn als korrupt und als Mörder. Hintermayer wurde zum Tode verurteilt und am 29. April 1946 in Landsberg am Lech hingerichtet.96 Um die Rechtfertigungen und Argumentationen Hintermayers besser einordnen zu können, sei vorher noch auf die hygienischen und medizinischen Lebensbedingungen der Dachauer Häftlinge hingewiesen. Damit verbinden werde ich auch einen kurzen Einblick in die Lagerstruktur, da das Konzentrationslager Dachau wegen der Umstrukturierung durch Theodor Eicke als Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Wachverbände Modellcharakter erlangte.
94 95 96
A. v. Arnauld, Recht, S. 177. Horst Lessing, Der erste Dachauer Prozess 1945/46 (Fundamenta Juridica, Bd. 21), BadenBaden 1993, S. 320. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer was war vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 20072 , S. 257. Michael S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau 1945-1948, in: Ludwig Eiber, Robert Sigel (Hg.), Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 19451948 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 7), Göttingen 2007, S. 109-125, S. 111.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
2.5.1
Konzentrationslager Dachau
Das Konzentrationslager Dachau hatte zeit seines Bestehens »Modellcharakter«. Dachau war zunächst ein staatliches Konzentrationslager, gegründet durch das Polizeipräsidium München, und erst nach den ersten Wochen des Bestehens durch Himmler in die Machtkompetenz der SS verschoben worden.97 Das Konzentrationslager wurde zunächst aus pragmatischen Gründen gegründet; da die Gefängnisse in und um München nach der Machtübernahme und den damit verbundenen Festnahmen von Regimegegnern völlig überfüllt waren, musste ein Ort geschaffen werden, der für eine Entlastung der regulären Haftanstalten sorgte.98 Ein leerstehendes Fabrikgebäude mit dazugehörigem Gelände gab den Anlass für die Entscheidung, in unmittelbarer Nähe zur oberbayerischen Stadt Dachau ein Konzentrationslager zu errichten. Dachau war bis zum Beginn des Krieges gegen Polen und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein Lager, das die Inhaftierten nach den nationalsozialistischen Vorstellungen zu ›besseren‹ Menschen machen sollte. In den ersten Tagen nach der Ankunft der ersten Häftlinge in Dachau Ende März 1933 bewachte noch die Schutzpolizei die Inhaftierten. Durch die Übernahmen der Lagerverwaltung durch die SS am 11. April 1933 verschlechterte sich die Situation in Dachau für die Häftlinge bereits rasant, da hierdurch eine »systematischere und konsequentere Schreckensherrschaft«99 möglich war.100 Im Gegensatz zu anderen Konzentrationslagern, wo man zu Beginn der NS-Herrschaft noch bemüht war, den Anschein einer normalen Haftanstalt zu wahren, war Himmlers erklärtes Ziel im Falle von Dachau genau das Gegenteil. In »Dachau zielte alles darauf ab, den ›wilden Terror‹ zu vertiefen und zu systematisieren, den spontanen Terror, der inkonsequent ist und dazu tendiert, gelegentlich zu erlahmen, durch reglementierten, entmenschlichten und darum konsequenten Terror zu ersetzen.«101 In den ersten sechs Jahren waren Dachau und andere Konzentrationslager auf deutschem Reichsgebiet
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Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1934-1938 (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 39), Boppard/Rhein 1991, S. 42ff. 98 Niels Weise, Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, München 2013, S. 214f. 99 Stanislav Zámeĉník, Das war Dachau, Frankfurt a.M. 20072 , S. 35. 100 Der Versuch, bereits früh das Konzentrationslager (Dachau) als einen rechtsfreien Raum zu etablieren, scheiterte zunächst am Kompetenzstreit zwischen staatlichen Institutionen (Gericht, Polizei, Staat) gegenüber Parteiorganisationen (hier in erster Linie die SS). Versuchte Interventionen durch Ermittlungsbestrebungen der Münchner Staatsanwalt konnten aber meist vereitelt oder bereits vor dem Entstehen verhindert werden. N. Weise, Eicke, S. 216f. 101 S. Zámeĉník, Das war Dachau, S. 36.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
»Abschreckungsmittel, Besserungsanstalt, Zwangsarbeiter-Reservoirs und Folterkammer«102 . Generell kann das Konzentrationslagersystem zu keinem Zeitpunkt isoliert vom Rest der Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 gesehen werden. Die Wechselwirkung zwischen den politischen Entscheidungen und Kriegsereignissen außerhalb des Lagers waren prägend für die inneren Gegebenheiten des gesamten nationalsozialistischen Konzentrationslagersystems
2.5.2
Theodor Eicke – Dachauer Modell
Theodor Eicke wurde mehr durch Zufall als durch eine strategische Planung Himmlers zum zweiten Kommandanten von Dachau. Trotzdem war seine Zeit als Kommandant prägend für das Lager Dachau und für das System der Konzentrationslager in Gänze. Eicke galt einerseits als ergeben und abhängig gegenüber Himmler. Aus diesem Grund, aber auch wegen seines organisatorischen Geschicks sowie eines freien Kommandantenpostens ernannte der Reichsführer der SS Eicke zum zweiten Kommandanten des Konzentrationslagers Dachau.103 Eicke schaffte es, wie von Himmler von Anfang an intendiert, Dachau zu einem Ort außerhalb jeglicher Gültigkeit von Recht und Gesetz zu machen. Pfahlbinden, Arrest, Strafarbeit und Strafexerzieren wurden durch Eickes am 1. Oktober 1933 in Kraft tretende »Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager« alltäglich für die Häftlinge. Gleichzeitig wurde diese Straf- bzw. Lagerordnung zum Vorbild für andere Konzentrationslager. Sie stellte die Grundlage für ein »normiertes System der Gewalt« dar.104 Die Normen gaben vor, für die Häftlinge bestehe die Möglichkeit, sich richtig verhalten zu können, um möglichen Strafen zu entgehen. Doch die »intendierte Normierung der Gewalt blieb von Beginn eine Farce.«105 Eicke war mächtig genug, um ›sein‹ »Dachauer Modell« als strukturgebend für alle anderen Konzentrationslager durchsetzen zu können. Entscheidend für dieses Muster waren folgende Punkte:106 »Systematisierung und Zentralisierung des Terrors durch Abschottung des Lagers gegenüber Justiz und Öffentlichkeit, […] Unterteilung der Lager-SS in Wachtruppe und Kommandantur, […] Arbeitseinsatz der Häftlinge und nicht zuletzt in der La-
102 Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 24. 103 N. Weise, Eicke, S. 220. 104 Johannes Tuchel, Planung und Realität des Systems der Konzentrationslager, in: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Göttingen 1998, S. 43-59, S. 43. 105 Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisation, Hamburg 1999, S. 30. 106 N. Weise, Eicke, S. 227.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
gerordnung und der Wachvorschrift, die den Anschein einer Art geregelten Strafvollzug vortäuschen sollten.«107 Ergänzt wurden diese Maßnahmen durch die Umorganisation des »bisherigen Unterstellungsverhältnisses«, d.h. Eicke bzw. Himmler standen nun den Lagern vor und die bisherige Wachmannschaft ging entweder in die SS über oder wurde entlassen.108 Wichtig für die Einschätzung der SS-Mannschaften im Konzentrationslager ist für die Forschung vor allem die gezielte Förderung von Hass der SS-Männer gegenüber den Häftlingen. Diese Zielsetzung ist ebenfalls auf die Figur Eickes zurückzuführen. Das »›Scharfmachen‹ der SS-Männer gegen die Häftlinge«109 sollte am Ende dieser Erziehung stehen. Der Zweck des Handelns wurde deutlich über das Mittel zum Zweck gestellt, so dass »nicht, was sie taten, sondern aus welchen Motiven sie handelten«110 entscheidend war für eine moralische Bewertung ihrer Handlung. Die Lagerhaft entmenschlichte die Inhaftierten im doppelten und vor allem im funktionellen Sinne – indem die Häftlinge nicht nur in ihrem Aussehen jeglicher Individualität beraubt wurden, wurde das brutale und gewaltvolle Handeln der Lager-SS überhaupt erst möglich. Die Ausübung von Gewalt gehörte somit für die »SS-Männer [zu einem ihrer] Initiationsriten«, um sich im Lageralltag zu bewähren, und zu einer Voraussetzung für eine Karriere in der Lager-SS.111 Die medizinische Versorgung der Häftlinge war auch im Konzentrationslager Dachau eine Unterversorgung. Medikamente und anderes notwendiges Material waren Mangelware. In Kombination mit der schlechten sanitären Versorgung des Lagers, der mangelnden Hygiene und der Unterernährung der Häftlinge hatte dies für die Inhaftierten eine toxische Wirkung. Immer wieder brachen Seuchen und Epidemien aus. Die erkrankten Häftlinge wurden ab dem Jahr 1942 durch Phenolspritzen getötet. Hinzu kamen die medizinischen Versuche u.a. Infektion von Häftlingen mit TBC und Malaria, Kälteexperimente und Versuche, die die Reaktion des menschlichen Körpers auf enorme Veränderungen des Luftdrucks erforschten.112
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Ebd. Ebd., S. 228. Ebd., S. 233. Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus (Schriften des HannahArendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 52), Göttingen 2014, S. 287. Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015, S. 65. Stanislav Zámeĉník, Dachau-Stammlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 2. Frühe Lager: Dachau. Emslandlager, München 2005, S. 233-274, S. 261ff.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
2.5.3
Statement des Ersten Lagerarztes Fritz Hintermayer
Hintermayer, der Angeklagte mit der Nummer 10 im Dachauer Prozess, beginnt seine vorprozessuale Aussage mit den Aufgaben und seiner Stellung als Arzt im Konzentrationslager Dachau vom Februar 1944 bis April 1945. Er schreibt in einem rein berichtenden und informativen Duktus. Auf die gegen ihn gerichteten Vorwürfe geht er nur implizit ein und externalisiert seine Schuld: »Weder mein Alter noch meine vorherigen Erfahrungen haben mich für die Stellung, die ich am Ende hatte, vorbereitet und qualifiziert.«113 Der Angeklagte Hintermayer beurteilt hier nicht sein Handeln, sondern seine Qualifikation. Hier schwingt unverkennbar eine ›wenn-dann‹-Konstruktion mit, die besagt, ›wenn ich ausreichend qualifiziert und vorbereitet gewesen wäre, hätte ich etwas gegen die Missstände unternehmen können‹. Seine explanative Äußerung mit exkulpativem Ziel gibt der im Raum stehenden Anklage Recht. Weil Hintermayer mit der Situation im Lager überfordert war, war er nicht dazu in der Lage, für eine ausreichende hygienische und medizinische Versorgung der Häftlinge Sorge zu tragen. Er beurteilt sein Handeln auch klar als »Misserfolg«114 . Noch einmal unterstreicht er dies durch eine ›wenn-dann‹Konstruktion in negativer Form, indem er die Resultate von Handlungsalternativen thematisiert und die Hypothese formuliert, dass »nur wenige andere gemeistert hätten«115 , was es zu bewältigen galt. Seiner Meinung nach waren zum einen die »Umstände, die ich nicht meistern konnte«116 und in »zweiter Linie […] meine Unfähigkeit das von mir bekleidete Amt auszufüllen«117 für seinen »Misserfolg als Lagerarzt«118 entscheidend. Diese Form von Äußerung gleicht einer Richtigstellung. Er weiß, dass etwas zur Änderung der Situation hätte stattfinden müssen – die Vorwürfe des Gerichts stellt er damit nicht in Frage. Um aber der Frage vorzugreifen, warum er dann nicht anders agiert hätte, rechtfertigt er sich mit seiner Unerfahrenheit und fehlenden fachlichen Eignung. Indem er durch die verwendete ›wenn-dann‹-Konstruktion die fiktionale Alternative erzählt, gleichzeitig sein Handeln mit der Begrifflichkeit des »Misserfolgs« aufwertet, wird die Motivation des moralisch richtigen Handelns vorgegaukelt, die aber aus seiner hier vorgegebenen Sicht ›bedauerlicherweise‹ erfolglos blieb. Die Tatsache der inhumanen und tödlichen Missstände der Konzentrationslagerhaft verharmlost Hintermayer als einen beruflichen »Misserfolg« und will sich der Verantwortung entziehen, weil er angeblich weder genügend (Lebens-)Erfahrung hatte noch die notwendige Position 113 114 115 116 117 118
Fritz Hintermayer, Statement, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/2, S. 1. Ebd.,. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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innerhalb der Lager-SS. Er entschuldigt so seine Verbrechen, gibt aber ein angebliches Bewusstsein für die Umstände vor. Hintermayer verbessert die Lagerhaft aber nur im Konjunktiv. Ein aktives Handeln bleibt aus. Durch dieses Vorgehen will sich Hintermayer zum Teilhaber der moralischen und rechtlichen Vorstellungen machen, die nun die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus vor Gericht bringen. Um sich trotz allem als kompetent darzustellen, folgt seiner Richtigstellung eine Bestandsaufnahme über die Gegebenheiten des Lagers. »Das Konzentrationslager Dachau hat während meiner Amtszeit […] aus etwa 20.000 Häftlingen bestanden. Es war für höchstens 10.000 Häftlinge gebaut und eingerichtet.«119 Von diesem numerischen Beweis– Zahlen wird eine besondere Beweiskraft zugesprochen – spinnt Hintermayer seine Klarstellung fort. Er stellt sich als der Lagersituation gegenüber ohnmächtig und ausgeliefert dar: »Dieser Überfüllung, der ich rat- und tatlos gegenüber gestanden bin«120 , und fügt erneut eine ›wenn-dann‹Konstruktion an, um sich zu rechtfertigen: »umso mehr, als jede Maßnahme, die vielleicht getroffen hätte werden können, ohnehin nutzlos gewesen wäre, da vor der erfolgreichen Bedingung wahrscheinlich eine neue Schwierigkeit über mich eingebrochen wäre.«121 Durch seine konsequente Darstellung als passiv sollen die RezipientInnen zum Schluss kommen, Hintermayer sei der Situation hilflos ausgeliefert gewesen und das, obwohl er bereit war, völlig altruistisch zu handeln. Gleichzeitig stellt sich die alternative Kausalität, formuliert in der ›wenn-dann‹-Konstruktion dieser Erzählintention – anders als von Hintermayer beabsichtigt – seiner Intention kontrastiv gegenüber. Er begründet sein Nicht-Handeln mit der Wahrscheinlichkeit, dass »eine neue Schwierigkeit über mich eingebrochen wäre«122 und unterlässt deshalb jegliche Aktivität. Er fördert so den Verdacht eines unzuverlässigen Erzählens, weil sich in den implizit genannten Handlungsalternativen für die RezipientInnen die Frage aufdrängt, ob es nicht andere Gründe für sein Nicht-Handeln gegeben habe. Es liegt also das Phänomen eines Erzählervorbehalts vor. Das eigene Interesse und nicht die Situation waren Handlungsanreiz für den Angeklagten. Die Überheblichkeit seiner Beurteilung der Situation – er kennt sogar das fiktionale Szenario – zielt in ihrer Konstruktion, Kausalität und Kohärenz auf die Entlastung der eigenen Person. Dass Hintermayer alleine schon wegen dieser Zielsetzung unzuverlässig erzählt, ist wenig verwunderlich.
119 120 121 122
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Passend zu seinem allwissenden Auftreten unternimmt er nicht den Versuch, seine Rolle als Lagerarzt klein zu reden, vielmehr benennt er die gesamte Bandbreite seines Aufgabengebiets. »Als erstem Lagerarzt waren mir alle ärztlichen, sanitären und hygienischen Installationen im Konzentrationslager Dachau unterstellt. Ich war für alle sanitären, ärztlichen und hygienischen Fragen, die mit den Häftlingen zusammenhingen, verantwortlich und im Allgemeinen mit der Betreuung der Häftlinge in ärztlichem, sanitärem und hygienischem Sektor beauftragt.«123 Neben der Vorgabe seiner Gewichtigkeit ist die Wiederholung seines Aufgabenbereiches »ärztlich, sanitär, hygienisch« auffallend. Will er sein Aufgabengebiet im Konzentrationslager Dachau damit einschränken, misslingt ihm dies. Merkwürdig ist es auch, weil er zu Beginn noch versucht, seine Rolle und Handhabe klein zu reden. Stattdessen informiert er hier en détail über seine Aufgaben. In der Folge offenbart Hintermayer hier die vergangenen Gegebenheiten, die aber seine Konstruktion des macht- und hilflosen Arztes wenig stützt, es sei denn, er will durch den Umfang seiner Aufgaben die Unmöglichkeit ihrer Bewältigung demonstrieren. Missstände im Lager Hintermayer benennt alle Missstände des Lagers, Überbelegung der Baracken, zu wenige sanitäre Anlagen sowie eine zu geringe Zahl an sauberer Kleidung, und verurteilt sie als ursächlich für die miserablen Zustände, »um diese schlechten Verhältnisse vollends katastrophal zu machen.«124 Erneut versucht der Angeklagte, sich so moralisch auf die Seite der Anklage zu stellen, denn er teilt die Ansicht des Gerichts, dass es sich um »katastrophale«125 Verhältnisse gehandelt habe. Der moralische Konflikt zwischen Handlungs- und Erzählgegenwart, den es gilt, in NSG-Verfahren erzählerisch zu entkräften, scheint im Falle von Fritz Hintermayer nie bestanden zu haben. Indem er die Missstände analog zu den Vorwürfen der Anklage des amerikanischen Militärgerichts benennt, positioniert er sich auf der ›richtigen‹ Seite. Folglich bleiben weltanschauliche Äußerungen nahezu komplett aus.126 Jegliche Schuld weist er von sich, wenn es um die – nicht direkt gestellte – Frage nach dem Zustandekommen der beklagten Zustände geht: »Doch möchte ich
123 124 125 126
Ebd., S. 1f. Ebd. Ebd. »Den Angeklagten wurde vorgeworfen, sie hätten an einem gemeinschaftlichen Vorhaben zur Begehung von Kriegsverbrechen teilgenommen und dadurch sowohl Militärangehörige alliierter Nationen als auch Zivilangehörige alliierter Nationen Grausamkeiten und Mißhandlungen unterworfen.« H. Lessing, Der erste Dachauer Prozess, S. 84.
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persönlich nicht dafür einstehen, dass dies tatsächlich geschehen ist.«127 Mit dieser Äußerung, die konkret das nur einmal im Monat stattfindende Wechseln der Kleidung der Häftlinge evaluiert, zieht er aber die Verlässlichkeit seiner Aussage in Zweifel. Erzählerisch und damit argumentativ ist er hier inkonsequent, weil sein Ziel nicht die Klärung der Umstände, sondern die eigene Person ist. Es lag weder damals noch zum Zeitpunkt seines Verfahrens in seinem persönlichen Interesse, wie oft die Häftlinge ihr Gewand wechseln durften. Für ihn hingegen ist entscheidend, weder für die Bekleidung der Häftlinge noch für die anderen Zustände im Lager verantwortlich gewesen zu sein bzw. nach 1945 dafür schuldig erklärt zu werden. Gleichzeitig zieht er aber so auch die Richtigkeit der Anklage in Zweifel. Einerseits will er sich als Experte etablieren, weil er eben Teil der Handlungsgegenwart war, andererseits kann er selbst aber nicht mit Sicherheit über die Vorgänge in seinem Aufgabenbereich Auskunft geben. Gleichzeitig stellt er so in Frage, ob andere dazu in der Lage gewesen wären. Um aber sein vergebliches Bemühen zu beweisen, zeigt er sich auch als aktiv handelnd, weil er »die Erbauung von 300 neuen Klosettmuscheln für das Lager beantragt«128 habe. Allerdings sieht er im Ausbleiben jeglicher Maßnahmen seine Unschuld an den Missständen bestätigt und »von der Nutzlosigkeit weiterer Vorstellungen überzeugt, habe ich wegen der Toilettenverhältnisse nichts mehr unternommen.«129 Hintermayer war also nicht grundlos untätig bzw. er hat den Versuch einer Verbesserung unternommen. Ihn selbst soll diese Darstellung um ein Weiteres entlasten, denn die Schuld an den wenigen sanitären Anlagen trifft nicht ihn. Allerdings kann er seine Schuldzuweisung an dieser Stelle nur wenig konkret machen. Die RezipientInnen können über diese wenig konkreten Ver- und Hinweise Hintermayers rätseln und spekulieren, da natürlich Hintermayer, ähnlich der Funktion eines Gerüchts, vermeintlich Erwiesenes zur Disposition stellt. Fleckfieberepidemie Winter 1944/45 Zu der Zeit, als Fritz Hintermayer erster Lagerarzt in Dachau war, brach eine Fleckfieberepidemie aus, die in den ersten drei Monaten des Jahres 1945 ca. 10.000 Häftlingen das Leben kosten sollte. Seine Ausführungen zum Problem der mangelnden Hygiene und der fehlenden Möglichkeiten zur Entlausung dienen letztlich zur Erläuterung des Ausbruchs der Fleckfieberepidemie. Vorwürfe und Nachfragen der Anklage bezogen sich also vor allem auf diese Epidemie, weshalb der Angeklagte sich zum Problem der Entlausung besonders explanativ äußert, die »ständig in
127 128 129
F. Hintermayer, Statement, S. 2. Ebd. Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
einem unfertigen Zustand«130 war. Erneut benennt der ehemalige Erste Lagerarzt deutlich, worauf die defizitären Umstände zurückzuführen sind. Sprachlich geht er mit einer auktorialen und unpersönlichen Erzählperspektive vor und verleiht dem berichtenden Stil bzw. dem Berichteten mit zahlreichen Detailinformationen Autorität. Sein generalisierendes Fazit, dass »[e]s also keine Prophylaxe gegen Epidemien«131 gegeben hat, ist deshalb wenig überraschend. Auch bei diesem thematischen Abschnittist es vor allem die verwendete ›wenndann‹-Konstruktion, die Hintermayer als unzuverlässigen Erzähler greifbar macht. In diesem Fall handelt es sich um eine solche Konstruktion retrospektiver Ausprägung. »Ich habe natürlich auch ohne den Grund gehofft, dass dies Bauchtyphus und kein Fleckfieber war, da mir die ganze Größe der Katastrophe im Falle des Ausbruchs von Fleckfieber klar war.«132 Damit will er unter Beweis stellen, dass er nicht vorsätzlich den Ausbruch einer Epidemie in Kauf genommen hat. Da sich aber sein Wunschdenken nicht bewahrheitete und deshalb weiterhin die Frage nach einer Verantwortlichkeit seiner Person bestand, geht er dazu über, wieder die Ursachen für den Ausbruch der Epidemie im Lager zu wiederholen: »[d]ie schlechten sanitären Maßnahmen, die mangelnde Entlausung und die überfüllten Wohnungsverhältnisse sowie durch Zugänge von Fleckfieberkranken aus anderen Lagern.«133 Erneut externalisiert Hintermayer seine Schuld und verweist auf die mangelnde Hygiene und Verpflegung anderer Lager. Es ist richtig, dass in den letzten Kriegsmonaten in Dachau aufgrund der ›Evakuierungen‹ der Lager im Osten zahlreiche unterernährte und kranke Häftlinge ankamen. Die konkreten Ursachen hierfür und für die schnelle Verbreitung der Epidemien in Dachau führen nicht dazu, dass er die unmenschlichen Haftbedingungen im Konzentrationslager thematisiert. Sein Fazit ist klar: Die Umstände, aber nicht er persönlich trugen Schuld an dem Tod der Häftlinge. Hintermayers erzählerischer Umgang mit dem konkreten Vorwurf von Mord In den beiden letzten Punkten geht Hintermayer dann auf den konkreten Tatvorwurf der Ermordung zweier schwangerer russischer Frauen und seiner Teilnahme als Lagerarzt an den Exekutionen in Dachau ein. Hintermayer soll die beiden Frauen durch die Injektion eines Narkotikums ermordet haben. In diesem Fall offenbart sich Hintermayers nazistische Weltanschauung deutlich: »Im Dezember 1944 oder Jänner 1945 hat das Reichssicherheitshauptamt die Erhängung von 2 schwangeren russischen Frauen verfügt. Der Lagerkommandant
130 131 132 133
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Obersturmbannführer Weiter hat jedoch unter Hinweis auf ihren erbarmungswürdigen Zustand verlangt, dass ich die Frauen an Stelle dessen durch je eine Injektion töten solle. Obwohl ich nicht sicher wusste, ob Obersturmbannführer Weiter das Recht habe, die Todesart, die im Todesurteil bestimmt war, abzuändern, habe ich doch aus Menschlichkeit die beiden Frauen mit Evipannatrium injiziert, umso mehr, als mir bekannt war, dass es gewöhnlich die Gepflogenheit zivilisierter Nationen ist, schwangere Frauen nicht vor der Entbindung hinzurichten.«134 Hintermayer stellt seine Ermordung der beiden Frauen als einen Gnadenakt dar, weil er »doch aus Menschlichkeit die beiden Frauen mit Evipanatrium injiziert«135 habe. Er zieht zwar in Zweifel, dass sein Vorgesetzter, Lagerkommandant Weiter, dazu berechtigt war, »die Todesart, die im Todesurteil bestimmt war, abzuändern«136 , entscheidet sich aber aus »Menschlichkeit«137 , Weiters Befehl zu befolgen. Die Frage, ob das Urteil des Reichssicherheitshauptamtes richtig ist, wirft Hintermayer offensichtlich nicht auf. Die weiteren Exekutionen, an denen er teilnahm, thematisiert er mit einem lapidaren Unterton: »Ich habe dann noch«138 . Wenn er schreibt, »[i]ch möchte betonen, dass alle diese Exekutionen auf den schriftlichen Befehl des Reichssicherheitshauptamtes und auf dem Exekutionsbefehl des Lagerkommandanten Obersturmbannführer Weiter durchgeführt wurden«139 , beruft er sich eindeutig auf den juristischen Sachverhalt des Befehlsnotstands. Der Nachsatz »ich selbst habe die nach der Exekution nötige Leichenschau vorgenommen«140 will zeigen, dass er nur das Ergebnis zu Protokoll gab, aber im Gegensatz zu den tödlichen Injektionen der beiden schwangeren Frauen nicht für die Ermordung selbst verantwortlich war. Er handelte ›nur‹ auf Befehl. Allerdings thematisiert er im Vergleich zu den beiden folgenden Schreiben den Zwang recht zurückhaltend.
2.5.4
Fritz Hintermayer als unzuverlässiger Erzähler
Dass es gerade die Fleckfieberepidemie ist, die bei Hintermayer besondere Erzählmotivation bewirkt, zeigt auch die Wahl dieser schiefen sprachlichen Naturbilder: Das Fleckfieber verbreitete »sich wie ein Wildfeuer«141 oder »die Fleckfieberepidemie [hat] in ständiger Ebbe und Flut durchschnittlich etwa 50 bis 80 Todesopfer
134 135 136 137 138 139 140 141
Ebd., S. 5f. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 2.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
am Tage gefordert.«142 Nicht ohne Grund verwendet der Angeklagte für seine Vergleiche Naturphänomene, auf die der Mensch selbst keinen Einfluss hat und denen er weitgehend ausgeliefert ist. Genau diese Position möchte er für seine Rolle als Lagerarzt geltend machen. Gleichzeitig gibt es ihm weiterhin die Möglichkeit, die Gegebenheit gemäß dem Faktischen wiederzugeben – wenn auch ausgesucht und im Sinne der eigenen Kausalität arrangiert –, jedoch kein Schuldeingeständnis machen zu müssen. Dass nicht er, sondern die Umstände ursächlich waren, wiederholt er dann erneut und erklärt ausführlich, dass der »Raummangel«143 die frühzeitige Entlassung der Häftlinge aus dem Krankenrevier verlangte und auch die Zahl der Ärzte »natürlich unzureichend«144 war. Im gesamten Statement von Hintermayer schwingt die fiktionale Alternative seines Handelns mit. Das ist zunächst ein Merkmal des unzuverlässigen Erzählens per se, da hierdurch ja die RezipientInnen eine Unzuverlässigkeit des Erzählten wahrnehmen. Hintermayer vermittelt seine Unzuverlässigkeit aber vor allem durch das Mittel der ›wenn-dann‹-Konstruktion. Wenn es mehr Ärzte im Lager gegeben hätte, hätte Hintermayer für eine andere medizinische Versorgung der erkrankten Häftlinge sorgen können. »Doch war es mir unmöglich, mehr Ärzte von ihrer anderen ärztlichen Tätigkeit im Lager abzuziehen.«145 Wegen der Umstände des Krieges und seiner Position hat er die »Vorschläge [von anderen] für unausführbar gehalten und daher nichts getan um sie zu verwirklichen.«146 Auch die Versorgung mit Medikamenten konnte er aus seiner Sicht wegen der Kriegslage nicht verbessern und hat deshalb »keinen Weg gesehen, den Vorrat zu vergrößern.«147 Stellt Hintermayer das Faktische im Kontext einer ›wenn-dann‹-Konstruktion dar, so negiert er die fiktionalen Alternativen seines Handelns, die wiederum in der Anklage erwähnt werden. Auch versucht er durch die Wiedergabe eines (vermeintlich) faktisch korrekten Berichts die Glaubwürdigkeit seiner Person und die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen zu stützen. Er greift möglichen Fragen bzw. Vorwürfen der Anklage vor (mangelnde ärztliche Versorgung, Maßnahmen gegen Seuchen und Epidemien, Vergrößerung des Krankenreviers und defizitäre Versorgung mit Medikamenten), schlägt sich so vermeintlich auf die moralische Seite der Anklage und des Gerichts, stützt, zumindest erzählerisch, deren Auffassungen und will sich so als Teil von deren Wert- und Normensystem darstellen. Da er aber als Teil der Lager-SS, noch dazu in führender Position, die Missstände nicht nur 142 143 144 145 146 147
Ebd., S. 3. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd.
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sah, muss er begründen, warum er trotzdem nicht handelte bzw. seine angeblichen Bemühungen wirkungslos waren. Er wählt hierfür den erzählerischen Weg der ›wenn-dann‹-Konstruktion, der es möglich machen soll, ihn von den Tatvorwürfen zu entlasten oder sogar davon zu befreien. Denn mittels dieses erzählerischen Vorgehens kann er sich konsequent als den Umständen und den Gegebenheiten ausgeliefert darstellen. Sein Vorgehen hat aber auch den ›Vorteil‹, dass es nicht schlicht als Lüge oder ein Leugnen bezeichnet werden kann. Markiert er seine Unzuverlässigkeit selbst– »Ich kann mich an Einzelheiten der Verpflegung nicht erinnern«148 – und personalisiert sein anschließendes Urteil dann aber explizit – »Doch war diese [Verpflegung] meiner Ansicht nach ausreichend«149 – entkräftet er nicht nur die zuvor markierte Unglaubwürdigkeit, sondern demonstriert seine Wissens-Autorität. Er zeigt so, dass auch bei fehlerhaften Details sein Gesamturteil korrekt ist. Aber nicht nur dies ist entscheidend, sondern auch die moralische Position, die er versucht, mittels dieser erzählerischen Strategie zu vermitteln. Seine Erzählmotivation beschränkt sich auf den juristischen Kontext der Erzählgegenwart – die Entkräftung von Tatvorwürfen. Die moralische Beurteilung seines Handelns liegt klar in der Handlungsgegenwart, wird aber nur beim Thema der Ermordung der schwangeren russischen Frauen greifbar. Deckt sich sein Urteil über das Vergangene mit den Erwartungen von Anklage bzw. Gericht, ist dies das Resultat seiner Erzählmotivation. Seine offensichtlich nazistische Prägung, seine begangenen Verbrechen und die juristische Erzählsituation veranlassen Hintermayer zu einem unzuverlässigen Erzählen bzw. die RezipientInnen, ihn als einen unzuverlässigen Erzähler wahrzunehmen.150
2.6
Vorprozessuales Schreiben in einem bundesdeutschen Verfahren zum Konzentrationslager Ravensbrück – Wally K.
Wally K.151 wurde am 26. September 1921 in Berlin geboren, wo sie bis zu ihrem 14. Lebensjahr eine Volksschule besuchte. Nach einer kurzen Beschäftigungszeit als Botin bei einer Buchbinderei arbeitete sie als Verkäuferin in der Kantine des Kaufhauses Hertie am Berliner Alexanderplatz. Mit Kriegsbeginn war sie dann als Stanzerin bei der Firma Lorenz dienstverpflichtet. Nachdem der Berliner Firmensitz 1943 ausgebombt worden war, wurde K. zusammen mit anderen Firmenange148 Ebd., S. 3. 149 Ebd. 150 Dass Hintermayer auch an den medizinischen Versuchen an Menschen teilgenommen hat, brachte erst der Nürnberger Ärzteprozess im Detail zutage. Auch hier belastete der ehemalige Häftlingsarzt Blaha den bereits gehängten Hintermayer. Wolfgang Uwe Eckart, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien 2012, S. 397. 151 In Kapitel 4.9. findet sich die Analyse von K.’s Gnadengesuch.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
hörigen nach Mittweida in Sachsen zur Arbeit in einer weiteren Niederlassung des Betriebs versetzt. Dort suchte die SS Aufseherinnen für die Außenlager des Konzentrationslagerkomplexes Ravensbrück. Nach Angaben von K. fanden sich keine freiwilligen Frauen für diesen Dienst, weshalb die rekrutierenden SS-Angehörigen etwa 50 Frauen für die Ausbildung als Aufseherinnen bestimmten.152 So kam Wally K. 1944, im Alter von 23 Jahren, zunächst zu einer zweiwöchigen Ausbildung in das Hauptlager Ravensbrück und wurde von dort aus zusammen mit anderen gerade ausgebildeten Frauen in das Außenlager Neustadt-Glewe gebracht. Dort war sie als Aufseherin für die Bewachung der Arbeitskommandos beim Abmarsch aus dem Lager, während der Arbeit der Häftlinge an den jeweiligen Arbeitsorten und auch nach der Rückkehr in das Außenlager zuständig. Ende April 1945 stellte sie beim Lagerkommandanten den Antrag auf vorzeitige Entlassung, um sich mit ihrem Freund in Melldorf in Holstein zu treffen. Im Vernehmungsprotokoll gibt K. an, kein Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Nach Kriegsende war K. bis zu ihrer Rückkehr nach Berlin für das britische Militär tätig. Erna H., ehemalige Inhaftierte des Außenlagers Neustadt-Glewe, erkannte die ehemalige Aufseherin am Berliner Bahnhof Zoo und veranlasste deren Festnahme. Ein Jahr später, im April 1951, wurde Wally K. wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Verurteilte »ihre Befugnisse weit überschritten hat[te]«153 und sie trotzdem »die Gelegenheit wahr[genommen habe], selbst eine gefürchtete Aufseherin zu werden.«154 Bei der Wahl der Strafe berücksichtigte die Berliner Strafkammer das junge Alter der Verurteilten, ihre Herkunft – »aus einer redlichen, einfachen Familie«155 – und sah keine pathologischen Gründe für ihr Verhalten als Aufseherin. Das Strafmaß fiel deshalb mit neun Monaten Gefängnisstrafe, wovon sie noch vier Monate verbüßen musste, gering aus und auch ihrem Antrag auf vorzeitige Entlassung vom Oktober 1951 wurde stattgegeben. In einem späteren Ermittlungsverfahren gegen zwei ehemalige SS-Angehörige durch die Staatsanwaltschaft Lübeck trat K. als Zeugin auf. Ihre umfangreiche Aussage deckte sich mit ihren Angaben aus dem früheren Verfahren gegen sie.156
152
153 154 155 156
K.’s Angaben über eine Verpflichtung zum Dienst als Aufseherin in einem Konzentrationslager sind durchaus plausibel. Es gab einen enormen Zuwachs von Außenlagern ab dem Herbst 1944, in denen die Häftlinge vor allem für die Rüstungsindustrie Zwangsarbeit leisten mussten. Wegen des erhöhten Personalmangels wurden deshalb Zivilistinnen in Betrieben als Aufseherinnen in den Außenlagern verpflichtet. Stefanie Oppel, Die Rolle der Arbeitsämter bei der Rekrutierung von SS-Aufseherinnen, Freiburg i.Br. 2006, S. 84. Urteil gegen Wally K. vom 24.9.1951, rechtskräftig am 26.9.1951, BArch, B 162/14270. Ebd. Ebd. Zeugenaussage von Wally K., Berlin 23.10.1968, BArch, B 162/8985.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
K. wird im Berliner Verfahren vom Jahr 1951 vorgeworfen, in ihrer Funktion als SS-Aufseherin Häftlinge mit Füßen getreten und geohrfeigt zu haben und »[w]eiterhin wird der Beschuldigten vorgeworfen, sie habe bei den geringsten Kleinigkeiten den Häftlingen das Essen entzogen und sie habe zur Meldung gebracht, wenn sie sich auf ihrer Arbeitsstelle mit den in der Fabrik angestellten Zivilarbeitern unterhielten. Auch soll sie das Angebot der dort beschäftigten Angestellten oftmals abgelehnt haben, das übriggebliebene Essen den arbeitenden Häftlingen zugute kommen zu lassen.«157 Der Prozess wurde in der damaligen britischen Zone durchgeführt. Dort war die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10, Artikel II, 1 c (Verbrechen gegen die Menschheit) für deutsche Täter sowie deutsche und staatenlose Opfer möglich. Die britische Militärregierung verkündete dies in der Anordnung Nr. 47 am 30. August 1946. Es handelte sich bei dem Strafverfahren gegen die Angeklagte K. um eines der letzten auf der Grundlage des KRG 10. Ab dem 31. August 1951 war in der britischen und französischen Zone das Reichsstrafgesetzbuch alleinige Grundlage für NSG-Verfahren. Für Berlin erfolgte diese Verfügung aber erst im Juni und Juli 1952.158 Das Kontrollratsgesetz regelte die »Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit«159 zu Schulden kommen lassen hatten. Art. II, 1c des Kontrollratsgesetzes thematisiert den Komplex der Verbrechen gegen die Menschheit. Darunter fallen Mord, Ausrottung, Versklavung, Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen. Der zweite Absatz des Artikels Zwei benennt den möglichen Täterkreis: »wer an der Tat teilnahm, sie befahl, begünstigte, billigte oder plante oder zu einer Organisation gehörte, die Verbrechen beging, oder wer eine herausgehobene politische, staatliche oder militärische Stellung einnahm oder im finanziellen, industriellen oder wirtschaftlichen Leben Schlüsselfunktionen einnahm.«160 Der dritte Absatz benennt die möglichen Strafbemessungen, die von Verlust der Ehrenrechte über Freiheits- bis hin zur Todesstrafe reichten. Die 10. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin sah die Misshandlung von Häftlingen durch K. als erwiesen an:
157 158
Vorführungsbericht, LA Berlin, B Rep. 058, Nr. 4624. Hans Christian Jasch, Wolf Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen, Stuttgart 2017, S. 49. 159 Gesetz Nr. 10 vom 20.12.1945, Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 3, 31.1.1946, S. 50ff. 160 E. Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie, S. 522.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
»Hiernach hat die Angeklagte Frauen, die wegen ihrer dem Nationalsozialismus feindlichen Gesinnung wegen ihrer jüdischen Rasse oder als ausländische Angehörige der von Hitler besetzten Länder im Konzentrationslager ihrer Freiheit beraubt waren, aus diesen Gründen verfolgt, indem sie sie unter Überschreitung ihrer Befugnisse als Aufseherin aus nichtigem Grunde oder ohne Anlaß unmenschlich mißhandelte […].«161 Das Gericht stützte sich vor allem auf die Zeugenaussage der ehemaligen Inhaftierten Erna H..162 Im Gegensatz zu dem Hamburger Strafverfahren, das im Kapitel zum performativen Erzählen das Gnadengesuch eines ehemaligen weiblichen Funktionshäftlings untersucht, berücksichtigt die Berliner Strafkammer nicht nur Straftaten von K., sondern kontextualisiert sie mit dem Ort des Geschehens – Konzentrationslager – und dem Zeitpunkt – NS-Herrschaft. Ihre Argumentation, sie habe gemäß den Vorstellungen ihres Vorgesetzten gehandelt, lässt das Gericht nicht gelten, »da sie jedenfalls in der Lage war, zu erkennen, daß hier Unrecht geschehen ist.«163 Eine Schlussfolgerung, K. habe nur gehandelt wie alle Aufseherinnen im Außenlager Neustadt-Glewe, lässt das Urteil ebenfalls nicht gelten, sondern benennt explizit die Möglichkeit anders bzw. »maßvoll«164 zu handeln, wie dies andere Aufseherinnen getan hätten.165 Um die vorprozessuale Aussage K.’s auch historisch besser einordnen und somit auch deren erzählerischen Wert genau bemessen zu können, soll vor der Analyse ihres Schreibens ein kurzer historischer Abriss über die Lagergeschichte Ravensbrück und das Außenlager Neustadt-Glewe folgen.
2.6.1
Konzentrationslager Ravensbrück und Außenlager Neustadt-Glewe
Die Geschichte des Konzentrationslagers Ravensbrück begann am 15. Mai 1939 mit der Auflösung des bisherigen Frauenkonzentrationslagers Lichtenburg in Prettin im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt und der Verlegung der dortigen Häftlinge in das im Norden Brandenburgs gelegene gleichnamige Dorf Ravensbrück, das später in die Stadt Fürstenberg an der Havel eingemeindet wurde. Das Lager wurde
161 162 163 164 165
Urteil gegen Wally K. vom 24.9.1951, rechtskräftig am 26.9.1951, BArch, B 162/14270. Ebd. Ebd. Ebd. Auch wenn das hier untersuchte Berliner Urteil in weiten Teilen den Erwartungen an ein adäquates Urteil gegen eine zum Zeitpunkt ihrer Tat noch recht junge Aufseherin– 21 Jahre – entspricht, so finden sich durchaus zeitspezifisch bedingte kritisch zu beurteilende Aspekte. Die Religionszugehörigkeit zum Judentum ist auch im Berliner Urteil noch als ›Rasse‹ klassifiziert und die Tatsache, dass die Häftlinge mehr sprachen, als sie durften, führt das Gericht auf das Geschlecht zurück.
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zunächst für ca. 3.000 Häftlinge errichtet, allerdings waren Planungen für mögliche spätere Erweiterungen bereits bei der Errichtung berücksichtigt worden. Die führenden Funktionsträger der Lager-SS waren auch in Ravensbrück Männer. Erst die Ebene unter der Lagerleitung und den Abteilungsleitern – Adjutant, Leiter der Politischen Abteilung, Schutzhaftlagerführer, Verwaltungsführer und der SS-Arzt – war mit Frauen besetzt. Im Gegensatz zum Kommandanturstab anderer Konzentrationslager gab es im Falle von Ravensbrück nur wenig personellen Wechsel. Von der Gründung bis zu seiner Versetzung nach Majdanek im August 1942 war Max Koegel Kommandant von Ravensbrück. Ihm folgte, bis zur Auflösung des Lagers, Fritz Suhren nach. Bis heute bekannt sind die beiden Oberaufseherinnen Johanna Langefeld und die ihr nachfolgende Maria Mandl. Langefeld konnte sich durch Flucht sowohl der Anklage als auch einem Prozess selbst entziehen. Sie starb Mitte der 70er Jahre eines natürlichen Todes. Maria Mandl dagegen wurde im polnischen Auschwitz-Prozess zum Tode verurteilt und im Januar 1948 hingerichtet.166 Häftlinge im Konzentrationslager Ravensbrück und seinen Außenlagern Die ursprünglich geplante maximale Häftlingszahl von 3.000 war bereits nach einem Jahr des Bestehens von Ravensbrück überschritten. Gegen Ende des letzten Kriegsjahres waren fast 44.000 Häftlinge im Lager. Bestand in den ersten Jahren noch keine unmittelbare Lebensgefahr durch die Haftsituation, änderte sich dies zunehmend mit dem andauernden Krieg. Das Sterben der inhaftierten Frauen wurde Teil des Lageralltags. Allein im Jahr 1944 verachtfachte sich die Todeszahl von zunächst 120 Frauen auf 811 Tote im Monat. Dies lag auch an der Ankunft von bereits halb verhungerten und geschundenen Frauen der Lager im Osten. Die zu verrichtende Zwangsarbeit der weiblichen Häftlinge war ›typische‹ Frauenarbeit. Zum Lager gehörten somit u.a. mehrere Schneidereien, eine Kürschnerei, eine Weberei sowie eine Spinnerei. Entsprechend der zunehmenden ökonomischen Ausbeutung von Konzentrationslager-Häftlingen gründete die SS in Ravensbrück die »Gesellschaft für Textil und Lederverwertung mBH«, die späteren »Deutschen Textil und Bekleidungswerke«. Wie im Konzentrationslager Dachau unterhielt auch die »Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung« eine Niederlassung in Ravensbrück. Wie auch in Auschwitz war in Ravensbrück die Rüstungsindustrie direkt im Lagerkomplex angesiedelt.167 Neben den politischen Häftlingen, »Asozialen« und »Berufskriminellen« waren zahlreiche Zeuginnen Jehovas und Roma-Frauen Teil der Häftlingsgesellschaft. Die 166 Annette Leo, Ravensbrück – Stammlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, S. 473-520, S. 515. 167 Johannes Schwartz, Weibliche Angelegenheiten. Handlungsräume von KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück und Neubrandenburg (Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts), Hamburg 2018, S. 58.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft unterschied sich entsprechend der Verfolgungspraktiken gegenüber Frauen zu denen gegenüber Männern. So wurde der Haftgrund »arbeitsscheu« für Frauen erst mit Beginn des Krieges relevant, sollte doch die Frau gemäß der nationalsozialistischen Ideologie sich ganz und gar der häuslichen Arbeit widmen. Die inhaftierten Jüdinnen wurden im Lager getrennt von den anderen Insassinnen untergebracht. Nicht nur ihre Verpflegung und medizinische Versorgung war schlechter, auch ihre Arbeitskommandos forderten wesentlich höhere körperliche Anstrengungen. Wie in allen Konzentrationslagern hatte der Beginn des Krieges auch in Ravensbrück enormen Einfluss auf die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft wie auch auf die Lagerbedingungen, alleine aufgrund der nun unterschiedlichen Nationalitäten der Insassinnen. Ab dem Jahr 1939 stellten Polinnen und ab 1941 Russinnen nationale Mehrheiten im Lager dar. War nach dem Abtransport der Jüdinnen nach Auschwitz diese Häftlingsgruppe zunächst nicht mehr existent, änderte sich dies aber mit der nahenden Roten Armee und den damit verbundenen Evakuierungen der Lager im Osten. Eine ähnliche Situation zeigte sich bei der kleineren Häftlingsgruppe der Sinti und Roma.168 Am besten waren die Überlebenschancen für diejenigen Häftlingsgruppen, die es schafften, sich gemeinschaftlich zu organisieren. Dazu gehörten die Gruppen der deutschen politischen Gefangenen und der polnischen Inhaftierten. Die geringsten Überlebenschancen hatten jüdische Häftlinge sowie Roma-Frauen, was an deren Zuteilung zu besonders schweren Arbeitskommandos, der schlechten medizinischen Versorgung und der unzureichenden Verpflegung lag. Die rassistische Hierarchisierung der Gesellschaft durch die nationalsozialistische Weltanschauung prägte also auch die Überlebenschancen der Häftlinge in den Konzentrationslagern. Die letzten Wochen des Bestehens von Ravensbrück waren einerseits von der Evakuierung des Lagers durch sogenannte »Todesmärsche« geprägt, andererseits durch die einmalige Rettungsaktion durch das schwedische Rote Kreuz. Durch diese gelang es, fast 7.500 Häftlinge, zunächst dänische und norwegische, später auch Angehörige anderer Nationen, nach Schweden in Sicherheit zu bringen. Himmler versprach sich von diesem Zugeständnis Sicherheiten für einen möglichen Separatfrieden. Nach der Befreiung der letzten Häftlinge durch die Rote Armee nutzte diese das ehemalige Lager bis in das Jahr 1994 für die Unterbringung ihrer Soldaten. Das Außenlager Neustadt-Glewe Das Außenlager Neustadt-Glewe wurde am 1. September 1944 für die Flugzeugproduktion der »Norddeutschen Dornier Werke Wismar« errichtet. Neben den dortigen Rüstungsarbeiten mussten die Frauen auch Schacht- und Erdarbeiten durch168 A. Leo, Ravensbrück – Stammlager, S. 478-496.
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führen. Wally K. erreichte somit zusammen mit den ersten Häftlingen das gerade neu errichtete Lager. Die Häftlingszahl von zunächst 300 verdreifachte sich bis zum Ende des Jahres. Bis zum Kriegsende sollte die Zahl auf ca. 5.000 Insassinnen ansteigen. Die Forschung bestätigt K.’s Angabe, dass zunächst Polinnen die Mehrheit der Häftlinge bildeten. Auch hier veränderte sich aber das Bild der Häftlingsgesellschaft noch einmal, als die Transporte aus den ›evakuierten‹ Lagern aus dem Osten Neustadt-Glewe erreichten. Da die meisten Häftlinge völlig unternährt waren, nahm auch die Zahl der Erkrankungen an Typhus, Tuberkulose und Ruhr stark zu. Eine genaue Zahl der Toten lässt sich allerdings nicht mehr rekonstruieren, da vermutlich aufgrund der zunehmend chaotischen Umstände kein Wert auf die sorgfältige Führung von Totenlisten gelegt wurde. Die katastrophalen Verhältnisse, wie auch K. sie schildert, das aber vor allem mit Blick auf die eigene Person, entsprachen der Realität. Ein Denkmal auf dem Friedhof und ein Gedenkstein auf dem Gelände des ehemaligen Außenlagers erinnern heute an die neunmonatige Existenz dieses Lagers.169 Frauen als Aufseherinnen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern Da Frauen nicht der SS angehören durften, waren sie Teil des weiblichen SSGefolges, unterlagen aber trotzdem der regulären SS-Gerichtsbarkeit. Ravensbrück wurde 1943 für die folgenden zwei Jahre Ausbildungslager für Aufseherinnen in Auschwitz, Majdanek und Bergen-Belsen. Wichtig für die Erklärung, warum Frauen sich u.a. für einen Dienst als Aufseherin in einem Konzentrationslager entschieden, war nicht nur die Aufwertung der eigenen Person durch das Tragen einer Uniform und der Macht gegenüber anderen Personen, sondern auch die als komfortabel empfundene Unterbringung in den Aufseherinnenhäusern. Zu Beginn handelte es sich zumeist auch um Frauen, die bereits als Wärterinnen in Gefängnissen gearbeitet hatten. Reizvoll war der Dienst aber auch wegen der geringen Ausbildungsdauer, den niedrigen Einstellungsvoraussetzungen und der ökonomischen Sicherheit. SS-Aufseherinnen wurden ab 1937 für das Konzentrationslager Lichtenburg, das erste Konzentrationslager nur für Frauen, benötigt. Bis zum Kriegsende waren ca. 3.000 Frauen als Aufseherinnen in den nationalsozialistischen Lagern tätig. Alle diese Frauen mussten eine Ausbildung absolvieren – mit Fortdauer des Krieges und steigendem Personalbedarf reduzierte sich die Dauer –, in der sie vor allem ideologisch geschult wurden. Für die praktische Ausbildung begleiteten sie erfahrene Aufseherinnen. Wally K.’s Ausbildung fiel in das letzte Kriegsjahr. Ihre Angabe, nach nur zwei Tagen Ausbildung bereits als Aufseherin eingesetzt worden zu sein, erscheint zwar recht kurz, aber doch sehr wahrscheinlich. Ab dem Jahr 1944 169 Karl Heinz Schütt, Angelika Meyer, Neustadt-Glewe, in: W. Benz, B. Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 4, S. 582-584.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
trugen die Aufseherinnen keine Waffen mehr und im Gegensatz zum bisherigen Usus wurden sie auch zur Bewachung außerhalb des Lagers eingesetzt, weswegen K. in ihrem Schreiben auch korrekterweise die Begleitung von Arbeitskommandos erwähnt. Durch den unmittelbaren Kontakt mit den Häftlingen hatten die Aufseherinnen einen besonders großen Einfluss auf die Lebensbedingungen der Inhaftierten. Es ist also wenig verwunderlich, dass Erna H. auch noch fünf Jahre nach ihrer Haft im Außenlager Neustadt-Glewe die ehemalige Aufseherin K. am Bahnhof Zoo wiedererkannte.170 Juristische Ahndung von Verbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück Ein Jahr nach Kriegsende führte die britische Armee zwei Jahre lang mehrere Prozesse wegen Verbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück. Der erste davon begann am 5. Dezember 1946, sechs weitere der »Hamburger Prozesse« sollten folgen. Neben den führenden männlichen SS-Angehörigen, die dort angeklagt, verurteilt und in der Mehrheit hingerichtet wurden, war Dorothea Binz die bekannteste unter den angeklagten Frauen dieses britischen Verfahrens.171 Wie ein Blick in die NSG-Datenbank des Instituts für Zeitgeschichte zeigt, fanden vor allem in der SBZ und in der späteren DDR zahlreiche Prozesse gegen ehemalige SS-Aufseherinnen statt. Allerdings wurden diese Prozesse zunehmend Teil des staatlich verordneten Antifaschismus, der eine rechtsstaatlich und juristisch einwandfreie Aufklärung nahezu unmöglich machte. Sowohl in den west- als auch ostdeutschen Verfahren und auch in deren öffentlicher Resonanz zeigte sich ein stereotypes Bild von weiblicher Täterschaft, das sich auch noch lange Zeit in der Forschung halten sollte. Nicht selten fanden sich typische »Komplementärvorstellungen« über Weiblichkeit wie Heilige-Sünderin oder Mutter-Hure. Weibliche Täterschaft wurde zumeist in skandalisierender Weise behandelt. So wurden das Bild einer sexuell abnormen Bestie immer wieder bemüht, private und emotionale Motive primär gemacht, den Frauen ihre Weiblichkeit abgesprochen und vor allem Äußerlichkeiten explizit gemacht.172 Handschriftliches vorprozessuales Schreiben von Wally K. K. richtete ihr 15-seitiges Schreiben vom 26. April 1951 an das Landgericht Berlin und den Generalstaatsanwalt. Das Schreiben gleicht einem Schulaufsatz. Mit dem 170 S. Oppel, Die Rolle der Arbeitsämter, S. 70. 171 Anette Kretzer hat zum ersten dieser insgesamt sechs britischen Ravensbrück-Verfahren eine nicht nur aus geschichtswissenschaftlicher, sondern ebenso aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte wichtige und eindrückliche Monografie vorgelegt. Anette Kretzer, NSTäterschaft und Geschlecht. Der erste britische Ravensbrück-Prozess 1946/47 in Hamburg, Berlin 2009. 172 Ljiljana Heise, KZ-Aufseherinnen vor Gericht. Greta Bösel – »another of those brutal types of women?« (Zivilisation und Geschichte, Bd. 1), Frankfurt a.M. 2009, S. 101-106.
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pathetischen Titel »An der Schwelle des Leidens! Ein kurzer Auszug, ½ Jahr bei der SS« verfolgt sie das Ziel einer erzählerischen Selbstviktimisierung. Überhaupt zeichnet das Schreiben der Beschuldigten eine strukturierte, überlegte und durchaus geschickte Wiedergabe der Ereignisse aus. Immer wiederkehrende Topoi wie z.B. ihre Zwangslage oder auch das implizite Thematisieren der Tatvorwürfe prägen ihr Schreiben. Wechselt sie den thematischen oder geografischen Schauplatz ihrer Erzählung, führt sie dies stets an. Den AdressatInnen soll es also möglichst leicht gemacht werden, ihrer Darstellung zu folgen. Zu Beginn ihrer Schilderung konzentriert sie sich auf die Vorgeschichte ihrer Zeit als SS-Aufseherin, benennt ihre damalige Zwangslage und negiert die Vorwürfe der ZeugInnen: »[ich] hatte mir nie etwas zu Schulden kommen lassen. Es half aber alles nichts, es war Zwang.«173 Mit diesem Gesamturteil über ihre Erfahrungen leitet sie dann zu ihrem »Weg nach Ravensbrück«174 über. Ihre Unfreiheit bleibt weiterhin Thema, denn nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern leiden unter dem »aufgebürdeten Zwang«175 , den sie als »ungeschriebenes Gesetz«176 klassifiziert. Mit generalisierenden Äußerungen, die sie in entpersonalisierter Form verfasst – das Erzähler-Ich verschwindet also vollkommen –, nimmt sie in Anspruch, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten über die damalige Situation erheben zu können: »Die ungeheuren Spannungen der Zeit, die in jedes Einzelleben drangen, sie gefährdeten uns.«177 Im ersten Teil des Satzes auktorialisiert K. die Erzählsituation durch die Brechung der Ich-Perspektive. So wird der Druck, unter dem sie stand, als objektiv vorhandene und kollektiv gültige Gegebenheit dargestellt. Das ›Wir‹ bleibt bewusst unspezifisch. Zwischen Häftlingen, Angehörigen der SS und dem weiblichen SS-Gefolge unterscheidet sie an dieser frühen Stelle noch nicht. Vielmehr bewirkt die wiederholte Betonung der eigenen Zwangssituation den Eindruck einer Egalisierung zwischen K. und den Inhaftierten. Indem sie dies immer und immer wieder formuliert, soll sich die eigene Darstellung als Wirklichkeit etablieren. Ihre Empathie ist vor allem selbstbezogen. Es ist wenig verwunderlich, dass sie ihre Erfahrung als eine von Passivität charakterisiert: »Ich spürte, daß meine Einwände [gegen den Dienst im Konzentrationslager] bedeutungslos dieser Macht gegenüber waren«178 . Den offiziellen Tätigkeitsbeginn als SS-Aufseherin gibt sie ebenso als passive Erfahrung wieder und schildert diese im militärischen Bild ihrer Uniformierung – 173
174 175 176 177 178
Schreiben Wally K. an Landgericht Berlin und Generalstaatsanwalt, BArch B 162/14270, S. 1. Diese Quellenangabe wird unter Angabe der jeweiligen Seitenzahl wie folgt abgekürzt ›Schreiben K.‹. Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd.
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»wurde ich eingekleidet«179 . Da die SS-Aufseherinnen weder Teil der SS noch der Wehrmacht waren, konnten sie sich des Argumentationsmusters des ›Befehlsnotstands‹ nicht bedienen. Die angeklagten Frauen argumentierten deshalb auf der Basis einer Dienstverpflichtung. K. macht diese besonders explizit, indem sie eine dramatische Reinszenierung verwendet und ihren Vorgesetzten direkt zitiert, nachdem sie gegen den Dienst als Aufseherin interveniert hatte: »[E]s passiert ihnen ja nichts. Sie haben nur ihren Dienst zu machen und außerdem man gewöhnt sich auch.«180 Noch einmal stärkt sie später diesen Aspekt, indem sie ihren Antrag auf Versetzung thematisiert: »So versuchte ich, und meldete mich zu einem Transport nach Berlin, der mir aber nicht genehmigt wurde.«181 Sie weist also bereits zu Beginn mehrfach auf den Zwang hin, dem sie ausgesetzt ist. Die Ich-Erzählerin tritt aber auch als Reflektorfigur auf und lässt ihre AdressatInnen direkt in ihre affektiven Prozesse hineinblicken, »Ich spürte, daß meine Einwände bedeutungslos dieser Macht gegenüber waren und fügte mich.«182 Um diese besagte Macht weiter zu klassifizieren und sprachlich zu unterstreichen, gibt K. die »Dienstanweisung« in Infinitivkonstruktionen – »wir haben die Insassen zur Zucht, Ordnung, Gehorsam, Sauberkeit und Arbeitsfleiß zu rufen, jedoch nicht gewalttätig zu mißhandeln oder zu Tode zu foltern«183 wieder. Nicht selten werden die Vorschriften von ihr auch im Präsens formuliert, wie sie dies gerade auf der zweiten Seite beim Verbot von Unterhaltungen zwischen Aufseherinnen und den inhaftieren Frauen macht. Hier handelt es sich um einen Vorverweis auf die angeblichen Vergehen der Inhaftierten Erna H., die K. ein Jahr zuvor am Berliner Zoo wiedererkannt und ihre Inhaftierung veranlasst hatte. K. wird später erzählen, dass die Zeugin H. trotz des Verbots wiederholt das Gespräch mit ihr gesucht hatte. Die Beschuldigte schreibt deshalb im Präsens: »Jegliche private Unterhaltung mit den Aufseherinnen sind streng verboten«184 und geht so – wenn auch implizit – rechtfertigend auf die Vorwürfe ein. Die AdressatInnen soll zu einer ihr möglichst gewogenen Sicht über die vergangenen Ereignisse kommen. Es zeigt sich einmal mehr, dass das Schreiben von ihr eindeutig strategisch und wohlüberlegt ist. Es handelt sich in keinem Fall um das Zufallsprodukt einer kohärenten Erzählung. Typisch für ihr Schreiben ist, dass sie die geschilderten Begebenheiten stets evaluiert. Was sie im Lager sieht, ist ein »grauenvolles Elend«185 , von einem »gro-
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Ebd. In der Uniformierung des Lagerpersonals steckte natürlich der Konnex von Autorität und Uniform. Allerdings wurden die Konzentrationslager durch die NS-Politik immer wieder als ein Teil des Kampfes an der sogenannten ›Heimatfront‹ dargestellt. 180 Ebd. 181 Ebd., S. 3. 182 Ebd., S. 2. 183 Ebd. 184 Ebd. 185 Ebd.
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ßen Vernichtungslager«186 habe sie nichts gewusst und die Verhältnisse im Lager waren ein »Wirrwarr«187 . Solche Bewertungen finden sich stets am Abschluss eines szenischen Raumes, den sie zuvor eröffnet hat. Mit »Nun der erste Tag im Lager und Dienst«188 markiert sie den Beginn der eigentlichen Geschichte. Was auf den ersten Blick wie der Anfang eines neuen Themenfeldes erscheint, zeigt sich aber durch ihre impliziten und expliziten Vor- und Rückverweise als kohärentes und plausibles Vorgehen. Um ihre Eindrücke zu dramatisieren, klassifiziert K. sich als Augenzeugin: »Es ist nicht zu beschreiben, was sich da so meine[n] Augen traute.«189 Sie rekonstruiert die Situation mit reflexivem und argumentativem Aufwand mit dem Resultat einer Distanz zwischen sich und den vergangenen Ereignissen. Durch diesen retrospektiven Blick stellt sie sich außerhalb der Handlungsgegenwart. Die folgenden Sätze, die die Situation im Außenlager Neustadt-Glewe charakterisieren, beginnen mit einer emotionalen Selbstdarstellung: »Ich war verzweifelt, fassungslos, verbittert über dieses Elend.«190 Die vorgegebene Empathie ist aber primär eine selbstbezogene. Die folgenden syntaktisch unvollständigen Sätze geben ihre Eindrücke genauer wieder: »Ein Strom von zusammengewürfelten Menschen, ob jung oder alt, reich oder arm, geistig wertvoll oder minderwärtig, schuldig oder unschuldig, lediglich beeinflusst durch den Zustand der Verhältnisse[,] durch das politische Zeitgeschehen.«191 Gleichermaßen finden sich hier evaluative – wertend auch hinsichtlich einer unreflektierten Übernahme der nationalsozialistischen Kategorisierung von Menschen – und unvollständige Sätze. Das Verschwinden des Erzähler-Ichs verleiht der Beschreibung eine besondere Objektivität und somit den Anspruch auf einen höheren Stellenwert hinsichtlich ihrer Gültigkeit bzw. Richtigkeit. Gleichzeitig befördert die Abwesenheit der Erzählerin das Verschwinden der Grenzen zwischen den Aufseherinnen und den Häftlingen. Die unzuverlässige Erzählerin K. will Zuverlässigkeit erlangen, indem sie nicht länger als Teil des Geschehens auftritt. Gemäß ihrem Erzählmuster schließt sie den szenischen Raum ihrer Ankunft in Ravensbrück mit einem Urteil über die Situation: »Es war eine Durchschleusung der Insassen.«192 Vermutlich meinte K. die Ankunft der Häftlinge unterschiedlicher Lager aus dem Osten, die wegen der nahenden Roten Armee ›evakuiert‹ wurden,
186 187 188 189 190 191 192
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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im Stammlager Ravensbrück, und die von dort aus in die verschiedenen Außenlager weitertransportiert wurden.193 Bereits bei ihrer Beschreibung der Häftlingsgesellschaft fiel ihre nationalsozialistisch geprägte Sprache, wenn es um Menschen geht, auf. Dies führt sie fort, wenn sie die nationalsozialistischen Häftlingskategorien übernimmt und von »Arbeitsscheue[n], sonstige[n] Verbrecher[n] und Ausschuß der Menschen«194 spricht. Mit aller Deutlichkeit zeigt sich hier, dass K. nicht nur aufgrund des Verdachts gegen sie, sie habe Verbrechen gegen die Menschheit begangen, als unzuverlässige Erzählerin zu werten ist, sondern auch aufgrund ihrer wenig differenzierten Urteilskraft jenseits der nazistischen Ideologie, einer fehlenden Distanzierung und ihrer offensichtlichen ideologischen Prägung. Ihre weltanschauliche Sicht ist ohne Zweifel auf ihr junges Alter zurückzuführen – zum Zeitpunkt der Machtübernahme war sie elf Jahre jung. Ihre Lebenszeit in der NS-Diktatur war damit länger als die Zeit danach bis zu ihrer Festnahme und fiel noch dazu in einen Lebensabschnitt, in dem solche Umstände sich besonders prägend auswirken. Dass bei K. die erwähnte erzählerische Verunsicherung aufgrund der widerstreitenden moralischen Vorstellungen von Erzähl- und Handlungsgegenwart bestand, ist offensichtlich. Dies mag auch eine Erklärung sein, warum sie sich häufig pathetischer Phrasen bedient. Sie scheut nicht, gebetsartige Formeln wie »Oh, dieses Hitlerregime, die Diktatur, so walte Gott die Gerechtigkeit der Menschheit«195 zu verwenden. Semantisch ist der Wert dieser Aussage vollkommen nichtssagend. Es zeigt sich darin aber eine völlige Externalisierung aller Probleme und der Eindruck einer Fremdbestimmung entsteht. Dementsprechend fällt ihre Evaluierung aus: »Die Geschehnisse, das Erleben, es [war] entsetzlich für mich.«196 Gleichzeitig versucht sie damit aber erzählerisch weiterhin den Eindruck einer unbeteiligten, lediglich beobachtenden Person zu vermitteln, die aufgrund ihrer Umgebung verzweifelt ist: »Ich leidete seelisch sehr darunter, mein einziger Wunsch, und flehen Daheim zu meinem Elternhaus war, nur fort von hier, fort von hier!«197 Das hier formulierte Selbstmitleid soll die Bewertung der Situation aus K.’s Sicht vordergründig machen. Ihr »Leiden« soll so ins Zentrum gerückt und ihre Handlungen in einem Licht der Verzweiflung gezeigt oder ganz zurückgedrängt werden.
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Fast die Hälfte aller weiblichen Häftlinge erreichte Ravensbrück in der zweiten Hälfte des Jahres 1944. Bernhard Strebel, »Himmelweite Unterschiede«. Über die Existenzbedingungen im KZ Ravensbrück 1939-1945, in: Hermann Kaienburg (Hg.), Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. Die Veränderung der Existenzbedingungen (Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 11), Berlin 2010, S. 105-123, S. 115. 194 Schreiben K., S. 3. 195 Ebd. 196 Ebd. 197 Ebd.
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K. erzählt über andere Aufseherinnen und SS-Angehörige Die Beschuldigte tritt auf, als wäre sie nicht beteiligt gewesen und hätte die Ereignisse lediglich beobachtet. Wenn sie über die Lagersituation berichtet, tritt sie als Expertin auf: »Durch meinen Dienst im Lager-Außenkommando hatte ich den Eindruck gewonnen«198 . Die anderen Aufseherinnen charakterisiert sie als »rücksichtlos«199 , »brutal«200 und schlagend. Dieses othering führt sie fort, indem sie zwischen dienstälteren und neuen Aufseherinnen unterscheidet, denn den »schon langjährigen Mitarbeiterinnen dieses Systems waren […] ihre Aufgaben in Fleisch und Blut schon übergegangen«201 . Doch ebenso normalisiert sie das von ihr selbst kritisierte Vorgehen durch die Begrifflichkeit der Aufgabe. Parallel dazu bringt sie so erneut das Thema des Handlungszwangs auf – einerseits war es normal, weil es nun einmal die Aufgabe der Aufseherinnen war, andererseits, weil es keine Alternative dazu gab, da es ja deren Aufgabe war. Ein ähnlicher Fall findet sich in ihrer Bezeichnung der verschiedenen Funktionshäftlinge als »Berufsgruppen«202 . Einerseits ist das auf das fehlende Vokabular für die Lagersituation zurückzuführen. Es werden in der Folge bekannte Begrifflichkeiten aus dem Alltag auf die Lagergeschehnisse angewandt. Andererseits geschieht hierdurch, genau wie im Falle der Aufgaben, eine sprachliche Normalisierung. Als K. auf ihre beiden Vorgesetzten Oberscharführer Weiß und die Kommandoführerin Frl. Pätzold eingeht, wiederholt K. ihre Formulierung, diesmal aber im Präsens, dass das »Aufgabengebiet schon in Fleisch und Blut übergangen ist.«203 Dahinter steckt auch eine Rechtfertigung für eigenes Verhalten, denn egal, welcher Konstitution man ist, die Begebenheiten des Lagers und die Arbeit als Aufseherin unterliegt einer Gewöhnung. So thematisiert K. immer wieder, wie sie genau dieser Habituation entgegenwirken will. In ihrer Darstellung eines ›typischen‹ Arbeitstages streut sie deshalb immer wieder wertende Kommentare ein, klassifiziert das Verhalten von sich und anderen Aufseherinnen als »verläßlich und aufrichtig«204 und spricht davon, dass »unser Betragen […] ein rein menschliches Dasein«205 war. Sie gibt an, »Ich habe das Vertrauen der Insassen zu mir gewonnen, und lief auch keine Gefahr, zum Trotze. Sie wußten durch meine Aufrichtigkeit, daß ich kein Unmensch war.«206 Deutlich stellt sie sich und die Aufseherinnen, die zusammen mit ihr im September 1944 in Neustadt-Glewe begonnen hatten, in Gegensatz zu denjenigen, de198 199 200 201 202 203 204 205 206
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Ebd., S. 8.
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nen ihre Aufgabe in »Fleisch und Blut übergegangen war«207 . Letztlich aber ist für sie nicht die Situation der Häftlinge für ihr Urteil über Weiß und Pätzold entscheidend. Sie stellt die »Rücksichtslosigkeit, fluchen, schikanieren«208 der Vorgesetzten in Bezug auf die eigene Person und die anderen Aufseherinnen ins Zentrum. Das erzählerische Ich tritt deshalb im Plural auf – »Es war schon so weit, daß wir oft dachten, wir seien selbst Häftlinge und keine freien Menschen.«209 Das erzählerische ›Wir‹ dient dazu, die Aussage glaubhafter zu machen. Nicht nur ihr ist es so ergangen, sondern ihre Kolleginnen nahmen die beiden Vorgesetzten genauso wahr. Diese Trennung zwischen einem ›Wir‹ der Aufseherinnen und den Vorgesetzten bekräftigt sie noch einmal, indem sie in einem indirekten Zitat dem Kommandoführer genau diese sprachliche Trennung in den Mund legt: »Der Kommandoführer wies mich energisch, er ist hier Kommandant, hier regiert er und wir haben ihm zu folgen. Andernfalls würde [er] von uns Aufseherinnen Meldungen nach Ravensbrück senden, mit der Begründung, dass wir den Dienstplan und Vorschriften seinerseits mißbrauchen.«210 Sie unterstreicht – wenig überraschend – diese Ausführung wiederum mit einem pathetischen Fazit, das in auktorialer Form den Anspruch erhebt, die Gegebenheiten aus ihrem damaligen Zustand korrekt und angemessen wiederzugeben, und gleichzeitig ihre ›unfreie‹ Situation untermauert: »Das Recht und die Angst, waren ein böses Spiel zwischen Kommandant und Aufseherinnen.«211 K. erzählt über die Häftlinge Nicht nur gegenüber den anderen Aufseherinnen, sondern auch gegenüber den Häftlingen distanziert sich K. erzählerisch: »Gemein und hinterlistig konnten auch die Häftlinge sein«212 . Sie will eine ausweglose Situation vermitteln – sie, die sich zurechtfinden muss, zwischen »gemeinen und hinterlistigen Häftlingen«213 und den rücksichtlosen und brutalen Aufseherinnen. Es ist wenig überraschend, dass ihre Beurteilung der Lagersituation wie folgt ausfällt: »Dann dieser Druck, der immer mehr verschleppten Menschen […] es war furchtbar gewesen«214 , um dann wieder das erzählerische Ich der Handlungsgegenwart in pathetischer und selbstmitleidiger Weise im Fazit zu thematisieren: »Es war ein bitteres Los, ich war immer noch betäubt und erstickte in mir jegliche Brutalität. Was ist das für eine Welt, Herr Gott du Gerechter, sei gnädig.«215 K. tritt hier als discordant narrator auf, be207 208 209 210 211 212 213 214 215
Ebd., S. 3 und 5. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 6-7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd. Ebd., S. 3-4.
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vor sie dann einen erneuten Wechsel des szenischen Raumes markiert: »Nun zu Neustadt-Glewe«216 . Das Verhältnis zwischen ihr und den Häftlingen beschreibt die ehemalige Aufseherin aber immer wieder als ein gutes und vertrauensvolles. Dabei bringt sie aber ebenso zum Ausdruck, dass es sich nicht um ein Verhältnis auf Augenhöhe handelt, wenn sie erwähnt, dass sie Häftlinge ermahnte, Regeln und Gesetze einzuhalten. Gut war das Verhältnis, wenn die inhaftierten Frauen sich an die Regeln hielten. Letztlich stellt sie sich als einer Pattsituation ausgeliefert dar. Sie muss zwischen den Anforderungen der Vorgesetzten und den Bedürfnissen der Häftlinge changieren, »so daß man mir Zwang aufbürdete[,] um zu handeln«217 . Ihre Ausweglosigkeit will sie damit unmissverständlich klar machen. Sie verschärft diesen Eindruck deutlich, als sie beginnt, ihr Fehlverhalten zu rechtfertigen, indem sie die Häftlinge anführt, »die sich nicht würdevoll, sauber und arbeitsam aufführten«218 und will dies mit »einem besonderen Fall«219 unterstreichen. K. geht auf die Vorwürfe gegen ihre Person ein Erst am Ende der fünften Seite geht K. auf die Vorwürfe – Misshandlungen von Häftlingen, im Speziellen Erna H. – gegen ihre Person ein. Sie beschränkt ihr Verhalten in den erzählten Ereignissen zunächst auf ein ›verbales‹ Antreiben der Häftlinge zu mehr Eile. Dies vollzieht sie aber in einem auffallend rechtfertigenden Ton und unterstreicht die angebliche Harmlosigkeit durch das Zitieren ihres Antreibens.220 Das Mittel der dramatischen Reinszenierung findet sich bereits an der Stelle, an der sie ihren Beginn als Aufseherin im Konzentrationslager thematisiert, vor allem in der Schilderung der Uniformszene, der Äußerungen des SS-Mannes, ihrer Dienstverpflichtung und damit ihrer fehlenden Wahlmöglichkeit. Ihr Drängen der Häftlinge sei nicht nur notwendig, sondern »äußerst notwendig« gewesen, weswegen »ich gestehe und tat es auch.«221 Auch an dieser Stelle macht sie den Zwang und ihren Versuch, den Druck, unter dem sie angeblich stand, möglichst nicht an die Häftlinge weiterzugeben, noch einmal sehr deutlich und relativiert ihre Befehle: »Meine Ausdrücke waren aber nichts persönliches und wurden mir zur Pflicht auferlegt.«222
216 217 218 219 220
Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Ebd. »geht nicht wie die Schnecken, oder haltet durch, oder dally, dally, oder auf polnisch: Schieche = ruhig, itsch = geht, zotam robisch = was macht ihr, prenko, prenko = schnell.« Schreiben K., S. 5-6. 221 Ebd., S. 6. 222 Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
K. benennt unterschiedliche Vergehen der Häftlinge wie das Sprechen mit den Zivilarbeitern der Rüstungsfabrik oder das Anfertigen von Werkzeug, um sich den Lageralltag zu erleichtern. Sie wiederholt auch hier wieder, dass die Vereinbarkeit zwischen der Einhaltung der Lagerordnung und einem Bewusstsein für die Situation der Häftlinge für sie keine leichtfertige Entscheidung gewesen sei. Sie »musste eingreifen«223 und Häftlinge, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, »warnte«224 sie. Schritt für Schritt nähert sich K. in ihrem Schreiben der Aussage der Hauptbelastungszeugin Erna H. an. Dies geschieht einerseits auf geografischem und andererseits auf chronologischem Wege. Parallel zu dieser Annäherung geht sie bereits auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe der Verbrechen gegen die Menschheit ein und evaluiert permanent das Verhalten anderer, ihr eigenes Verhalten und die Gesamtsituation. Stets aber wiederholt sie den Zwang, dem sie ausgeliefert war. Auf die Ereignisse rund um die Zeugin H. geht K. nicht nur deswegen so umfangreich ein, weil diese ihre Festnahme am Berliner Bahnhof Zoo veranlasste, sondern weil die Staatsanwaltschaft nur dazu befugt war, Verbrechen gegen deutsche Inhaftierte in Konzentrationslagern zur Anklage zu bringen. K.’s Erzählmotivation ist an dieser Stelle also besonders hoch. Wie sie sich in ihrem Schreiben zuvor schon als zunächst mahnend und, wenn dies nichts half, handelnd zeichnete, schildert sie so auch ihr Vorgehen bei H. Wichtig ist es hier vor allem, den Rahmen zu beachten, den sie den Ereignissen gibt. Sie stellt den Konflikt als einen rein zwischenmenschlichen dar, weitet ihn aus, weil H. angeblich andere Häftlinge zu Vergehen anstiftete, gibt aber weiterhin Verständnis vor – »Denn Hunger tut weh!«225 In einem schnippischen Ton äußert sie sich despektierlich über »Frl. H[.] [, die] trieb ihr Unwesen weiter«226 und unterstellt ihr, das Verfahren aus Rachegefühlen heraus angestoßen zu haben, »das [ihre Bestrafung] mag sie wohl nicht vergessen haben!«227 Verwunderlicherweise thematisiert sie nicht die Begegnung mit H. am Bahnhof Zoo im Jahr 1950, die zu ihrer Festnahme geführt hatte. K. verfolgt ganz deutlich das Ziel, die Zeugin in ihrer Glaubwürdigkeit zu diffamieren. Pejorative Wortwahl und Formulierungen sind hier auffallend dominierend. Sie verkehrt die Aussagen ins Gegenteil. Gleichzeitig nehmen die unwichtigen Details mit explanativem Ziel und die Bewertung der Person H.s zu. K. erweist sich somit deutlich als unzuverlässige Erzählerin. Ihr sinnspruchartiges Fazit im triumphierenden Duktus über die ›Causa H.‹ – »Von dem Zeitpunkt an war wieder Zucht und Ordnung in meiner Kolonne«228 – unterstützt diesen Eindruck. 223 224 225 226 227 228
Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd. Ebd., S. 11.
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K.’s Selbstviktimisierung Zum Ende fokussiert sich K. vor allem auf ihr eigenes ›Leiden‹ und das der anderen Aufseherinnen. Die lexikalischen Indikatoren wie »Unglück«, »Heimat«, »Krieg« und »Elternhaus« passend zum eigenen Opfer-Topos häufen sich. Der Informationsgehalt ist entsprechend niedrig und eine pathetische Formulierung findet sich erneut auch an dieser Stelle: »Die letzten Tage und schwere Stunden, wo der Krieg seine Spuren hinterließ [,] uns alles in uns hineinprägte [,] bleiben unvergesslich.«229 Die holprige Syntax gepaart mit den pauschalen Formulierungen passt zu ihrer Unzuverlässigkeit. Wenig überraschend folgt darauf eine Digression. K. zitiert ein »schwermütiges Lied«230 , das »geistig hochstehende und wertvolle«231 polnische Häftlinge gesungen hatten. Sie nutzt die Zitation dieses Liedes, um stellvertretend ihre eigene Gefühlslage zentral zu stellen und führt dies bis zu einer Täter-Opfer-Verkehrung fort: »Ich konnte es nachfühlen und mein Herz war zum Zerbrechen, die Mädels trösteten mich.«232 Hierin zeigt sich ein wichtiges Merkmal von NSG-Verfahren, das oftmals zur Enttäuschung der Überlebenden führte und die Grenzen juristischer Aufarbeitung demonstriert bzw. erst den Beginn einer konsequenten Auseinandersetzung darstellen kann. Das Handeln, die Sichtweise und der Lebensweg der TäterInnen stehen im Zentrum des gesamten Prozesses. Dies liegt zunächst einmal an dem juristischen Ziel der Aufklärung einer Straftat, zeigt aber gleichzeitig, dass dies erst der erste Schritt zur Aufarbeitung sein kann.
2.6.3
K. als unzuverlässige Erzählerin
K. zeigt sich als geschickte, aber unzuverlässige Erzählerin. Das Schreiben ist überlegt formuliert und sorgfältig strukturiert. Diese Struktur macht sie durch den transparenten Wechsel der szenischen Räume greifbar, der jeweils den Beginn eines neuen erzählten Details markiert, aber stets mit Querverweisen zum Vorherigen oder Nachfolgenden versehen ist. Sie leitet zu ihrer Darstellung von Erna H. mit den Worten »Jetzt zu einer besonderen Note, und zwar zu einer deutschen Insassin«233 über, verwies aber bereits wenige Seiten zuvor durch die Bemerkung über Häftlinge, die »im Lager ihr böses Spiel trieben« implizit auf H. Mit aller Deutlichkeit ist damit der hohe Grad an erzählerischer Konstruktion für die RezipientInnen greifbar. Ihre Kausalität dient einer Darstellung im eigenen Interesse, nicht einer selbstlosen Wahrheitsfindung. Immer wieder thematisiert sie implizit die gegen sie for229 230 231 232 233
Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 10.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
mulierten Vorwürfe, ohne sie selbst klar zu benennen. Geht es um informative Passagen, pflegt sie einen vollkommen sachlichen und unaufgeregten Berichtstil. Eindrücke, die v.a. mit emotionalen Adjektiven versehen werden, formuliert sie in einer personalisierten Form. Sie bedient sich dann aber oft der Unterstützung der anderen Aufseherinnen und markiert durch das ›Wir‹, dass nicht nur sie alleine die Umstände so wahrnahm. In den meisten Fällen beendet sie einen thematischen Abschnitt mit einem Sinnspruch, der das Vorangegangene bekräftigt und ein Fazit zieht. Da das Schreiben im Gegensatz zu einer Vernehmung oder dem späteren Prozessgeschehen nicht primär der Klärung des Sachverhaltes dient, sondern von K. vor allem dazu genutzt wird, die persönliche und emotionale Sicht zu vermitteln, überwiegen solche Passagen gegenüber den berichtenden. Sie betont besonders den Zwang, unter dem sie stand. Geht sie darauf ein, tritt K. vor allem als ein discordant narrator auf. Es finden sich nicht nur zahlreiche pathetisch anmutende Phrasen, sondern auch Sinnsprüche, die als besonders unangemessen auffallen. Beim Lesen entsteht oftmals der Eindruck, als evaluiere K. die jeweilige geschriebene Passage mit Redewendungen, die sie aus ihrem Alltag unreflektiert übernommen hat. Das Gericht bezweifelt im Urteil das Ausmaß ihrer Zwangslage und beurteilt ihre Lage wie folgt: »Auch hat die Angeklagte in keinem Notstande gehandelt und auch nicht geglaubt, daß ein solcher vorliegt. Sie konnte sich, wenn sie wirklich von ihren Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen worden wäre, auf das ausdrückliche Verbot berufen, die Häftlinge nicht zu mißhandeln. Im Übrigen ist aber auch durch nichts bewiesen, daß ihr selbst eine gegenwärtige Leibes- oder Lebensgefahr drohte«234 . Ihre Selbstvikitimisierung macht sie stark, nicht nur durch das Leid, das sie in den Lagern gesehen hat, sondern vor allem durch ein erzählerisch ausdifferenziertes ›Wir‹. Würde man vermuten, dass sie mit ›Wir‹ generell das Lagerpersonal meint, so durchbricht sie diese Erwartung. Einerseits schreibt sie sich in ein ›Wir‹ der Häftlingsgesellschaft ein, andererseits in ein ›Wir‹, das die Aufseherinnen meint, die wie sie am Ende des Krieges dienstverpflichtet wurden. Dagegen stehen immer die beiden Vorgesetzten, Oberaufseherin und Kommandant. Vor diesen galt es, die Häftlinge, aber vor allem sich selbst zu schützen, weshalb sie gezwungen war, die Häftlinge zu maßregeln. Der Zwang zu Pflicht und Gehorsam ist demnach ihr Handlungsanreiz. Nicht nur semantische Widersprüche überführen K. als unzuverlässige Erzählerin. Oft werden auch die inhaltlichen Fehler durch Marker für das unzuverlässige Erzählen gestützt. Generell ist das Schreiben an das Landgericht, im Gegensatz zum Brief an ihre Freundin Hella, von zahlreichen Syntax- und Rechtschreibfeh-
234 Urteil gegen Wally K., Berlin 26.9.1951, B 162/14270, S. 9.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
lern geprägt.235 Wenn es um die Versorgungssituation der Häftlinge geht, wird ihr Schreiben nicht nur auffallend fehlerhaft, sondern sie präsentiert ihre Handlungsmotivation gleich einem Werbespruch: »Die Gesundheit ist das höchste Gut.«236 Wenige Seiten zuvor hatte sie noch ihr Entsetzen über die halbverhungerten und kranken Häftlinge geäußert. Gleichzeitig ist die sprachliche Plattitüde mit dem erhöhten Rechtfertigungsdruck zu erklären, verweigerte sie doch den Häftlingen das übriggebliebene Essen des Lagerpersonals und der zivilen ArbeiterInnen. Sie sieht sich sogar dazu veranlasst, die Richtigkeit ihres Handelns noch einmal explizit zu machen, weil sie »ordnungsgemäß und gerecht gehandelt«237 habe. Bestätigung durch die Häftlinge In dem Wissen, dass den Inhaftierten mehr Glaubwürdigkeit zukommt, führt sie diese als ZeugInnen für ihre Unschuld an. Die damaligen Häftlinge hätten ihr Verhalten angeblich »bestens und dankend begrüßt«238 . Dieses Argumentationsmuster, als Aufseherin und als Retterin in der Not angetreten zu sein, was die Häftlinge mit Dankbarkeit registrierten und annahmen, ist eine typische Argumentation von angeklagtem Lagerpersonal in NSG-Verfahren; in erster Linie, weil es darum geht, der Vorstellung von der misshandelnden Aufseherin ein kontrastives Bild entgegenzusetzen. Diese Strategie führt K. fort und verbleibt nicht dabei, allgemein den Eindruck der Häftlinge von ihr als Aufseherin wiederzugeben, sondern holt sich in Form von erlebter Rede Unterstützung einer konkreten Inhaftierten, die sie als »eine der besten Aufseherin[nen]«239 bestätigte und »ihr [dies] oft Kameradinnen bekräftig[t]en«240 . K. beteuert, dass sie »Gehör und Gefühl gezeigt hat«241 , eine empathische Person ist, die kein Gefallen an der Misshandlung der inhaftierten Frauen fand. Das spätere Urteil des Gerichts zeigt, dass es ihr durchaus gelang, den Eindruck einer pathologischen Täterschaft zu verhindern: »Sie stammt aus einer redlichen, einfachen Familie und besaß weder von Natur aus noch durch Lebenserfahrung die erforderliche Geschicklichkeit, mit den Häftlingen umzugehen.«242
235 Brief von Wally K. an eine Freundin namens Hella aus ihrer Haft in Moabit befindet sich im gleichen Akt wie das hier untersuchte vorprozessuales Schreiben von ihr. Brief von Wally K. an Hella, 7.6.1951, BArch B 162/14270. 236 Urteil gegen Wally K., ebd., S. 7. 237 Ebd. 238 Ebd. 239 Ebd., S. 8. 240 Ebd. 241 Ebd. 242 Urteil gegen K.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
K. als fürsorgende Aufseherin Das Selbstbild, dass Wally K. hier vermittelt, ist das einer fürsorgenden Aufseherin, die mit »Gutmütigkeit, Geduld, Ausdauer«243 versucht, die wahren Schuldigen eines Vergehens zu finden, aber an der Verweigerung der Häftlinge scheitert und deshalb gezwungen ist »die nächstliegende Gruppe dieser Stelle zu bestrafen.«244 Nicht sie selbst, sondern die Umstände verlangten ihr Handeln, denn »es war Befehl, Befehl.«245 Sie geht sogar so weit, dass andere Häftlinge von ihr diese Bestrafung für gerechtfertigt hielten.246 Das Bild, das sie von sich entwirft, ist das einer fürsorgenden und umsichtigen Aufseherin. Die zuwiderhandelnden Häftlinge bestraft sie, diejenigen, die folgen, belohnt sie mit Zuwendung. Deutlich wird in diesem Bild aber das Machtgefälle, dessen K. sich mit Vorliebe bedient, auch wenn sie unentwegt ihre Zwangslage betont. Diese Rechtfertigungsmuster beweisen, dass sie sich der moralischen Konfliktsituation, die es galt, erzählerisch zu entschärfen, bewusst ist. Ihr Anspruch, gut und richtig, in einer moralisch integren Weise zu handeln, gemäß der Dienstordnung und den Anweisungen ihrer Vorgesetzten, stellte für sie bereits zum Zeitpunkt der Handlungsgegenwart ein Problem dar. K. und ihre Prägung durch die nationalsozialistische Weltanschauung Gleichzeitig stützen ihre nationalsozialistisch geprägten Formulierungen, wie z.B. die Häftlingskategorisierungen, den Eindruck einer unzuverlässigen Erzählerin. Verwunderlich ist diese weltanschauliche Prägung jedoch nicht. K. war im September 1944, als ihre zweitägige Ausbildung zur Aufseherin in Ravensbrück begann, erst 23 Jahre alt. Somit war sie elf Jahre jung, als die nationalsozialistische Machtübernahme geschah. Die nationalsozialistische Weltanschauung war für sie also bereits als Heranwachsende präsent. Dementsprechend finden sich in ihren Formulierungen immer wieder Anhaltspunkte für diesen Einfluss: Sie übernimmt Häftlingskategorien wie »Arbeitsscheue« oder bezeichnet die Häftlinge als »Ausschuss der Menschen« und stellt deren Verhaftung selbst überhaupt nicht in Frage. Die NS-Diktatur war für K. eine Wirklichkeit, die sie nicht hinterfragte.
2.7
Vorprozessuale Erzählung in einem Verfahren vor dem österreichischen Volksgericht in Wien – Ludwig W.
Anfang Juni 1946 berichtet die Arbeiter-Zeitung über die erhobenen Beschuldigungen gegen den ehemaligen Bauführer des Konzentrationslagers Mauthausen, Ludwig W.: 243 244 245 246
Schreiben K., S. 9. Ebd. Ebd. Ebd.
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»Der ehemalige Hauptscharführer in Mauthausen ist beschuldigt, zwei Häftlinge misshandelt zu haben, an einem Massenmord beteiligt gewesen zu sein, bei dem ein ganzer Transport von 500 bis 600 Häftlingen … bei minus 12 Grad zuerst in heiße Bäder gesteckt und … dann nackt in eisige Kälte hinausgetrieben ›wurde, bis sie alle, man kann es nicht anders nennen, krepiert waren‹. W. war eine Art Bauführer im Lager und hatte mehrere Baukommanden unter sich, unter anderem auch eines, in dem sich die nach Mauthausen verschickten 46 Wiener Feuerwehrleute befanden … Der Zeuge Stephan Panzocha erklärte, selbst Augenzeuge gewesen zu sein, wie W. einem Polen oder Russen, der sich von der Arbeit fernzuhalten verstand, eine Ohrfeige und einen Fußtritt versetzt habe. Der Zeuge selbst ist im Jahr 1938, als er sich weigerte, eine Arbeit außerhalb Österreichs, im Reich, anzunehmen, zu einer ›Einvernahme‹ zur Gestapo geladen worden, und ist von dieser Einvernahme – im Jahr 1945 zurückgekehrt … Der Zeuge Harreiter, der drei Jahre als politischer Häftling dort war, gab ebenfalls unter Eid an, er sei selbst dabei gewesen, wie W. einen abgezehrten, verhungerten Häftling, der sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, durch einen Hieb mit dem Schaufelstiel zu Boden gestreckt habe, weil er einen Stein, den er … zu schleppen hatte, gegen einen kleineren vertauschen wollte. Der wesentliche Punkt der Anklage allerdings, die Beteiligung am Massenmord, konnte durch keinen Tatzeugen erhärtet werden, da der Zeuge Hanreiter hier nur berichten konnte, was ihm ein jugoslawischer Mithäftling erzählt hatte … Der Wiener Feuerwehrmann Christian … meinte, daß W., mit normalen Maßstäben gemessen, wohl keine erfreuliche Erscheinung gewesen sei, daß er aber, gemessen an all der herrschenden viehischen Rohheit, für Mauthausen als ›verhältnismäßig anständiger Mensch‹ angesehen werden konnte. Das Gericht erkannte W. auch nur der beiden Mißhandlungsfälle schuldig.«247 Seit dem 22. Mai 1945 befand sich Ludwig W., geboren am 15. Dezember 1896, aufgrund dieser Anschuldigungen in Haft. Der Beschuldigte war verheiratet und Vater von zwei Kindern. Von 1915 bis 1918 kämpfte er an der italienischen Front. Ab dem Jahr 1926 war er bis zu ihrem Verbot im Jahr 1934 Mitglied der SPÖ. Aufgrund seiner Ausbildung zum Baupolier wurde W. nach seiner Ankunft im Konzentrationslager Mauthausen der dortigen Bauleitung zugeteilt. Ein halbes Jahr nach seiner Festnahme verfasste der Beschuldigte im Februar 1946 ein achtseitiges, handschriftliches Schreiben und adressierte dieses an den zuständigen Untersuchungsrichter Dr. Iro. Im Falle eines Verfahrens vor einem österreichischen Volksgericht waren Polizei und Gericht für die Beweiserhebung verantwortlich. Mit Einleitung der Voruntersuchung war von diesem Zeitpunkt an der Untersuchungsrichter für die Ermittlungen verantwortlich. Vom leitenden 247 Arbeiter-Zeitung, Wien 1.6.1946, zitiert nach: Hellmut Butterweck, Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien. Österreichs Ringen um Gerechtigkeit 1945-1955 in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung, Innsbruck 2016, S. 146.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Untersuchungsrichter konnte dann eine Untersuchungshaft für die Beschuldigten verhängt werden. Anders als in einem deutschen Strafverfahren gab die Staatsanwaltschaft mit dem Antrag auf Voruntersuchung alle weiteren Untersuchungen an das Gericht ab.248 Das Volksgericht Wien sah Ludwig W.’s Schuld als erwiesen an und verurteilte ihn am 4. Juli 1946 zu drei Jahren schwerem Kerker. Dass die Gewalttaten als Einzelfälle eingestuft wurden, wirkte sich mildernd für W. aus.249 Bevor ich aber darlege, inwieweit W. in seinem vorprozessualen Schreiben an den Untersuchungsrichter als unzuverlässiger Erzähler greifbar ist, folgt eine kurze Abhandlung zur Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen.
2.7.1
Konzentrationslager Mauthausen
Noch im gleichen Monat des »Anschlusses« der Republik Österreich an das Deutsche Reich, am 28. März 1938, verkündete der Gauleiter von Oberdonau, August Eigruber, im Völkischen Beobachter die Eröffnung des Konzentrationslagers Mauthausen. Mit Beginn des Krieges und seiner zunehmenden Dauer wurde die rücksichtlose Ausbeutung der Häftlinge als Arbeitskräfte für die Bau- und Rüstungsindustrie in Mauthausen immer wichtiger. Wie auch in Dachau waren die Häftlinge aber auch der Gefahr von medizinischen und ernährungsspezifischen Experimenten ausgesetzt, wobei der Tod der Versuchspersonen billigend in Kauf genommen wurde.250 Gründung von Mauthausen Neben der außenpolitischen Machtdemonstration waren es wirtschaftliche Überlegungen, die den raschen Aufbau eines Konzentrationslagers auf dem Gebiet der ehemaligen Republik Österreich antrieben. Die SS, die ja nicht nur als polizeiliche Instanz und Trägerin der politischen Säuberungen sowie des Massenmordes an den politisch und rassisch Verfolgten auftrat, sondern sich unter anderem durch wirtschaftliche Positionierungen im NS-Machtgefüge positionieren wollte, war seit dem Jahr 1937 auf der Suche nach einer Möglichkeit, in die Baustoffproduktion einzusteigen. So gründete sie im April 1938 die Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH (DESt). Die geografische Wahl der späteren Lager Mauthausen und Gusen251 war 248 Brigitte Rigele, Verhaftet. Verurteilt. Davongekommen. Volksgericht Wien 1945-1955 (Veröffentlichung des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Reihe B: Ausstellungskataloge, Heft 80), Wien 2010, S. 9. 249 Urteils des Volksgerichts Wien gegen Ludwig W., 31.5.1946, WStLa, LG Wien, Vg 1a Vr 277/45. 250 Christine Stahl, Sehnsucht Brot. Essen und Hungern im KZ-Lagersystem Mauthausen, Wien 2010, S. 59. 251 Das im Mai 1940 errichtete Außenlager von Mauthausen, das sich jedoch im Laufe des Krieges immer stärker zu einem eigenständigen und autonomen Lagerkomplex entwickelte und
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davon primär geprägt. Die SS schloss im Frühsommer 1938 mit der Stadt Wien einen Pachtvertrag über die Nutzung der dortigen Steinbrüche ab. Vier Monate nach der offiziellen Gründung des Konzentrationslagers Mauthausen trafen dann die ersten Häftlinge ein. Diese ca. 300 Personen, aus dem Konzentrationslager Dachau kommend, mussten die Lagerinfrastruktur aufbauen. Ausschließlich Männer der Häftlingskategorien »Berufskriminelle« und »Asoziale« gehörten zu dieser Gruppe. Im Dachauer Hauptverfahren und auch während der Volksgerichte sollte dieser »Häftlingstransport« in das oberösterreichische Lager immer wieder zur Sprache kommen. Charakteristika von Mauthausen Die Geschichte des KZ Mauthausen kann in vier zeitliche Abschnitte mit jeweils spezifischen Merkmalen unterteilt werden. Von August 1938 bis zum Sommer 1939 waren die Geschehnisse und Funktionen des Lagers vor allem durch den Lageraufbau geprägt. Die noch geringe Zahl von Außenlagern, eine relativ kleine Anzahl an Häftlingen und auch die niedrige Sterblichkeitsrate erinnern an die Spezifika der ersten Monate des Konzentrationslagers Dachau. Im Spätsommer 1939 war der Aufbau des Stammlagers weitgehend abgeschlossen, so dass vom Ende der ersten Phase gesprochen werden kann. Bis zum Juni 1943 änderte sich an der Situation trotz des andauernden Krieges wenig. Mit der Intervention des Rüstungsministers Speer wird das Lager dann jedoch in die Stufe III eingeteilt. Diese Einteilung der Konzentrationslager in unterschiedliche Stufen ist auf den Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich zurückzuführen. Er forderte in einem Erlass vom 1. Januar 1941 eine Differenzierung der Haft- und Arbeitsbedingungen und damit verbunden eine Einteilung der bestehenden Konzentrationslager in verschiedene Lagerstufen. Die Lagerstufe III war die schlechteste Kategorie. Die Häftlinge galten »[…] für schwerbelastete, unverbesserliche und auch gleichzeitig kriminell vorbestrafte und asoziale, das heißt kaum noch erziehbare Schutzhäftlinge«252 . Eine Ausbeutung ohne irgendwelche Rücksicht war die Folge. Im Spätsommer 1943, also in der oben erwähnten dritten Phase des Bestehens des Konzentrationslagers Mauthausen wurde die Lagerstufe explizit umgesetzt. Dies führte neben einer rücksichtslosen Produktionssteigerung in den Steinbrüchen zur vorsätzlichen Ermordung eines Großteils der Gefangenen. Die dritte Phase war vor allem durch die Unternehmungen der Produktionssteigerung und die Verlagerung der Fertigungsstätten unter Tage gekennzeichnet. Auch die Schwerpunktverschiebung auf die Rüstungsproduktion
deshalb in der Literatur als »Zwillingslager« oder »Doppellager« bezeichnet wird. Hans Marsalek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, Wien 20064 , S. 10 bzw. 18. 252 Zitiert nach: H. Marsalek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 35.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
war ein Resultat. Häftlinge, die als »unverbesserlich« oder »schwerbelastet« galten, wurden hier inhaftiert. Die Anzahl der Toten in Mauthausen und Gusen war bereits bis zum Jahr 1942 eine der höchsten in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.253 Die Außenlager von Mauthausen erstreckten sich zum Zeitpunkt der Befreiung über das gesamte spätere österreichische Staatsgebiet und darüber hinaus (auch in der Nähe von Passau, im heutigen Niederbayern, befand sich ein Außenlager). Insgesamt können 101 unterschiedliche Außenlager an 83 unterschiedlichen Orten für den gesamten Lagerkomplex Mauthausen gezählt werden.254 In seiner Struktur unterschied sich das Lager Mauthausen, abgesehen von der Doppellagerstruktur mit dem Außenlager Gusen, nicht vom »Dachauer Modell«. In der Zeit seiner Existenz standen insgesamt zwei Kommandanten dem Lager vor: Albert Sauer (August 1938 – Februar 1939) und Franz Ziereis. Im Gegensatz zu anderen Lagern zeigt das SS-Lagerpersonal, wie auch im Falle von Ravensbrück, eine hohe Kontinuität.255 Neben den üblichen Arbeitskommandos im Bau und der Produktion in Rüstungsbetrieben, im Ausbau der industriellen Infrastruktur und in der Errichtung von Kraftwerken und Verkehrsbauten war es im Falle Mauthausens vor allem die kräftezehrende und oftmals tödliche Arbeit in den umliegenden Steinbrüchen, die das Lagerleben prägten. Im Vergleich zu anderen Lagern im Deutschen Reich, mit der Ausnahme von Auschwitz, lag die Sterblichkeit im Konzentrationslager Mauthausen eindeutig am höchsten. Zwangsarbeit Der Arbeitseinsatz der Häftlinge war vor allem durch die nahegelegenen Steinbrüche geprägt. Die dortige kräftezehrende Arbeit dauerte in den Wintermonaten acht bis neun Stunden, im Sommer sogar elf Stunden. Durchschnittlich mussten die Häftlinge also in der Woche ca. 60 Stunden arbeiten. Die Rüstungsfertigung in den Werkstätten, diese Arbeit dominierte das Lager ab der zweiten Hälfte des Jahres 1943, sah eine tägliche Arbeitsdauer von 11 bis 12 Stunden vor. Die langen Arbeitstage, die wenige Zeit für Regeneration und der ständige Mangel an Nahrung führten zu einer raschen und anhaltenden körperlichen Erschöpfung der Inhaftierten.256 Signifikant für den Lagerkomplex Mauthausen ist nicht nur die vergleichsweise frühe Einrichtung von Außenlagern für die Zwecke der Kriegswirtschaft, sondern 253 C. Stahl, Sehnsucht Brot, S. 59. 254 Stanislaw Dobosiewicz, Vernichtungslager Gusen (Mauthausen-Studien, Bd. 5), Wien 2007, S. 21. (Übersetzung aus dem Polnischen, Originalausgabe von 1977). 255 Florian Freund, Betrand Perz, Konzentrationslager Mauthausen, in: W. Benz, B. Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 4, S. 293-470, S. 294. 256 F. Freund, B. Perz, Konzentrationslager Mauthausen, S. 302.
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vor allem auch die Dominanz der besonders kriegswichtigen metallerzeugenden und verarbeitenden Rüstungs-Staatsfirmen. Das Jahr 1942 und der andauernde Krieg veränderten dann die Gegebenheiten für die Häftlinge drastisch. Die nun errichteten Außenlager waren nicht nur größer, die 19 Außenlager zählten im Schnitt zwischen 400 bis 5.000 Häftlingen, sondern ihre Nutzung stand ganz im Zeichen der Rüstungsindustrie. Die Grundstoffund Rüstungsproduktion wurde dann auch ab dem Jahr 1943 wegen wiederholter alliierter Luftangriffe zur Verlagerung der Fertigungsstätten unter Tage verlagert. Die immer größer werden Anzahl Sterbender – fast 5.200 Menschen in den ersten Monaten des Jahres 1943 – zeigt, dass die Strapazen und das Leiden der Inhaftierten sich hierdurch drastisch verschlechtert hatten. So waren im Jahr 1944 ca. 50 Prozent der Häftlinge von Mauthausen im Bereich des Stollenbaus tätig. Neben der Arbeit für die Baustoff- und Rüstungsproduktion wurden die Häftlinge ab dem Jahr 1944 auch für Arbeiten zur Beseitigung von Kriegsschäden durch die Gauleiter bei der SS-Verwaltung von Mauthausen angefragt und verwendet. Der Wandel von einem zunächst kleinen Lager, das dann aber mit zunehmender Dauer des Krieges die Arbeitskraft der Häftlinge zu jedem Preis voll und ganz ausbeutete, belegen die Zahlen zur durchschnittlichen Überlebensdauer von Häftlingen im Lager: in der Zeit von August 1938 bis zum Herbst des folgenden Jahres lebten die Inhaftierten ca. 15 Monate, ab dem folgenden Winter bis zum Spätherbst des Jahres 1943 lag die Überlebensdauer nur noch bei ca. einem halben Jahr und ab Ende des Jahres 1943 bis zur Befreiung Mauthausens durch amerikanische Truppen reduzierte sich die Überlebenschance noch einmal. Häftlingsgesellschaft in Mauthausen Die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft von Mauthausen war seit der Gründung des Lagers im Jahr 1938 bis zu seiner Befreiung im Frühjahr 1945 zahlreichen Veränderungen unterlegen, die sich nicht nur in der wachsenden Zahl von Inhaftierten niederschlug. Generell war der Großteil der Lagerhäftlinge männlich. Das Alter der Häftlinge lag zu 70 Prozent zwischen 20 und 40 Jahren.257 Bis zum Ende des Jahres 1938 waren die Mauthausener Häftlinge mehrheitlich sogenannte »Berufskriminelle« und »Asoziale«. Aus Gründen der »Vorbeugung« wurden auch Zeugen Jehovas sowie Sinti und Roma bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in Mauthausen festgehalten. Der beginnende Krieg veränderte die nationale Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft. So kamen im Jahr 1941 neben deutschen, polnischen und tschechischen Gruppen holländische Juden, spanische Republikaner und sowjetische Kriegsgefangene in das Lager. 1941 waren mindestens 18.000 Häftlinge mit Namen 257 Das Alter lässt sich erst zuverlässigab dem Jahr 1943 mit entsprechenden Dokumenten belegen. C. Stahl, Sehnsucht Brot, S. 71.
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und Nummer in Mauthausen registriert. Im folgenden Jahr kamen Gefangene aus Mähren, Frankreich und Katholiken aus Tirol sowie verurteilte deutsche Häftlinge aus bayerischen Gefängnissen hinzu. Die Zahl der neuen Häftlinge im Jahr 1942 lag bei ca. 13.000 Personen. Auch im nächsten Jahr änderte sich nichts an der diversen Zusammensetzung der Häftlingsgruppen. Die steigende Anzahl von Häftlingen, im Januar 1943 wurde die Häftlingsnummer 20.540 und im Dezember des gleichen Jahres die Nummer 41.567 vergeben, führte zu einer zunehmend angespannten und immer schwierigeren (Über)Lebenssituation der Häftlinge. Auch die Hygiene- und Versorgungslage im Hauptund den Außenlagern von Mauthausen spitzte sich zu. Durch die nahende Rote Armee wurden zahlreiche Lager aufgelöst bzw. evakuiert. Die sogenannten »Todesmärsche« aus anderen Lagern – im Dachauer Hauptverfahren bilden diese »Evakuierungsmärsche« einen wichtigen Verhandlungspunkt – führten in das Hauptlager und westlicher gelegenen Außenlagern von Mauthausen. Die Folge war nicht nur eine heillose Überfrachtung des Hauptlagers und der Nebenlager, sondern auch ein zunehmendes Chaos, das die Versorgungslage der Häftlinge noch mehr verschärfte und darüber hinaus die Zahl an kranken und unterversorgten Häftlingen täglich ansteigen ließ. Im letzten Kriegsjahr 1945 nahm die Anzahl von Häftlingen aus bereits evakuierten Lagern noch stärker zu. Allein 9.000 Personen aus Auschwitz erreichten im Jahr 1945 Mauthausen. Mehrere 1.000 Inhaftierte aus den Lagern Sachsenhausen, Dora-Mittelbau, Groß-Rosen und Untersuchungshäftlinge von GestapoStellen aus Österreich und der Slowakei kamen ebenfalls hinzu. Die letzten Häftlinge, die Mauthausen vor der Befreiung durch die Amerikaner erreichten, waren fast 20.000 jüdische Häftlinge, die für den Bau des Ostwalls zur Abwehr der Roten Armee eingesetzt worden waren. Lager-SS in Mauthausen Anfang Oktober 1941 zählte die Lager-SS in Mauthausen mehr als 1.000 Personen. Der Inspekteur der Konzentrationslager stellt für das Lagerpersonal von Mauthausen Anfang des Jahres 1940 folgende Zahlen fest: 157 Angehörige des Kommandanturstabes, 33 Angehörige der Verwaltung von Mauthausen und Gusen. Den größten Anteil machten die Wachmannschaften von Mauthausen und Gusen mit mehr als 1.000 Personen aus.258 Im Winter 1944 stieg diese Zahl um ein sechsfaches, wegen der zahlreichen Evakuierungen von anderen Konzentrationslagern und der Außenlager von Mauthausen, an. Die Mehrzahl der Männer und Frauen waren nun nicht mehr Teil des Totenkopfverbandes der SS, sondern mehrheitlich Angehörige der Waffen-SS und der Wehrmacht. Zum Zeitpunkt der Befreiung hatte das gesamte
258 F. Freund, B. Perz, Konzentrationslager Mauthausen, S. 296f.
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Lagersystem von Mauthausen fast 10.000 SS-Angehörige. Der Großteil von ihnen hatte das Lager aber bereits vor der Ankunft der Alliierten verlassen. Mauthausen vor österreichischen Volksgerichten Neben den österreichischen Prozessen, den sogenannten Volksgerichten, die in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle spielen werden, gab es neben (bundes-)deutschen auch alliierte Verfahren. Die sogenannten DachauerMauthausenprozesse klagten die prominentesten Angehörigen der Mauthausener Lager-SS an. Insgesamt wurden 299 Personen im Rahmen von 62 Prozessen auf Grundlage des Anklagewortlauts »Violation of the Laws and Usages of War«259 zur Rechenschaft gezogen.260 Die österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 erklärte die Entnazifizierung und die Verfolgung von NS-Verbrechen zur Voraussetzung für einen souveränen österreichischen Staat.261 Die Gründung der Volksgerichte war eine Folge dieses Vorhabens. Der erste Volksgerichtsprozess fand in Wien am 14. August 1945 statt, drei Monate vor Beginn des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg. Allerdings waren die Volksgerichte nicht frei von Weisungen des Alliierten Rats. Eine eigenständige österreichische Justiz gab es erst im Jahr 1955, nachdem der Staatsvertrag unterzeichnet worden war. Hellmut Butterweck zählt in seiner umfangreichen kommentierten Quellensammlung zu den Presseberichten über die Volksgerichtsprozesse mehr als 23.477 Prozesse.262 Vor den österreichischen Gerichten standen Angehörige der Verwaltung und der Wachmannschaften, Funktionshäftlinge, aber auch Zivilarbeiter, die in den zahlreichen Betrieben der Rüstungsindustrie z.B. als Vorarbeiter oder als Ingenieure im Konzentrationslager Mauthausen gearbeitet haben. Vor den unterschiedlichen Volksgerichten wurden insgesamt 41 Personen wegen Verbrechen im ehemaligen Konzentrationslager angeklagt. Insgesamt sieben SS-Männer wurden wegen Tötungsdelikten im Konzentrationslager Mauthausen oder einem der Außenlager von einem österreichischen Volksgericht verurteilt. Ein Drittel dieser Angeklagten waren als Funktionsträger in der Häftlingsgesellschaft 259 Zitiert nach: Florian Freund, Konzentrationslager Ebensee. KZ-System Mauthausen – Raketenrüstung – Lagergeschehen, Wien 2016, S. 123. 260 Peter Eigelsberger (mit Vorarbeiten von Irene Leitner), Mauthausen vor Gericht. Die österreichischen Prozesse wegen Tötungsdelikten im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern, in: Thomas Albrich, Winfried R. Garscha, Martin F. Polaschek (Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck 2006, S. 198-228, S. 200. 261 Jeanette Toussaint, Österreichische Volksgerichtsverfahren gegen ehemalige SSAufseherinnen (1945-1950), in: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 17), Berlin 2007, S. 171-184, S. 171. 262 Hellmut Butterweck, Verurteilt und begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter, Wien 2003, S. 11.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
angeklagt und insgesamt sieben dieser ehemaligen Funktionshäftlinge erhielten ein Urteil.263
2.7.2
Ludwig W.’s vorprozessuales Schreiben an den Untersuchungsrichter
W. verfasste am 10. Februar 1946 während seiner Untersuchungshaft in Wien sein Schreiben an den Untersuchungsrichter Iro, er spricht ihn mit dem Titel eines Regierungsrates an. W.’s Anspruch auf ein Gegennarrativ Der Beginn seines Textes hat einen einleitenden Charakter. Sein Vorhaben, eine »wahrheitsgetreue Schilderung über meine Dienstleistung in Mauthausen«264 zu geben, seine Selbstcharakterisierung »ich benehme mich nach wie vor als Mann«265 und auch – implizit– den Anlass seiner Tätigkeit in Mauthausen führt er hier an. Er benennt allerdings an dieser Stelle noch nicht die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, sondern lediglich seine negativen Vorahnungen bzw. sein »Misstrauen«266 dem näherkommenden »Unglück«267 gegenüber, die er nach seiner Versetzung zur Waffen-SS hatte. Für ihn war es also das Schicksal, das ihn nach Mauthausen brachte. Dass die Vorwürfe gegen ihn an diesem Punkt noch nicht im Zentrum seines Schreibens stehen, liegt an seiner Zielsetzung, den Adressaten mittels des Schreibens zu einer Einstellungsänderung zu bewegen. Aus diesem Grund findet sich bereits im ersten Absatz ein direktiver Sprechakt, der W.’s Schreiben an ein Gnadengesuch erinnern lässt. Er bittet Iro darin, sein Schreiben »nicht mit Zweifel im Vorhinein anzusehen«268 . Diese appellativen Äußerungen finden sich im Verlauf immer wieder. Der Beschuldigte setzt es sich zum Ziel, ein Gegennarrativ zu den bisherigen Anschuldigungen und Zeugenaussagen zu entwerfen. Die Widersprüche zwischen seiner Sicht der Dinge und den Zeugenaussagen muss W. erklären. Analog dazu ist es ihm vor allem ein Anliegen, zu beweisen, dass er sich zu keinem Zeitpunkt in einer moralischen Konfliktsituation befunden hat. Seine weltanschauliche Selbstverortung und die Darlegung seiner Zwangslage spielen deshalb eine wichtige Rolle. In der Folge kommt es sowohl bewusst als auch unbewusst zur Form des unzuverlässigen Erzählens im gesamten Verlauf seines Schreibens.
263 264 265 266 267 268
P. Eigelsberger, Mauthausen vor Gericht, S. 200. Vorprozessuales Schreiben Ludwig W., Wien 10.2.1946, WStLa, LG Wien, Vg 1a Vr 277/45, S. 1. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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W.’s Zwangslage Seine Aufgaben im Konzentrationslager Mauthausen bezeichnet W. als »Dienstleistung«269 . Dieser Euphemismus banalisiert und normalisiert. Die Tätigkeit als Bauführer wird so auf die Erfüllung von angewiesenen Aufgaben reduziert. Nicht aus Eigeninitiative, sondern auf Befehl habe er gehandelt. Andere seien deshalb verantwortlich. Auch der Grund für seinen Aufenthalt in Mauthausen, »Ich wurde am 27.5.1944 als Jahrgang 1896 laut Verordnungsblatt nach Mauthausen zur Waffen-SS kommandiert (versetzt)«270 , soll noch einmal unter Beweis stellen, dass er nicht auf eigene Initiative, sondern auf Befehl und wegen des Zwangs zum Gehorsam gehandelt hat. Um seine Zwangslage mit institutioneller Autorität zu belegen, führt er einen Beamten des Wiener Landgerichts, den er als besonders glaubwürdig in den Augen des Adressaten einschätzt, da dieser ja ein Kollege des Untersuchungsrichters ist, namentlich als Zeugen für den bürokratischen Vorgang seiner Einziehung zur Waffen-SS an. Zweimal greift er deshalb auf die Formulierung »freiwilliger SS-Unterscharführer«271 bzw. »freiwilliger SS-Oberscharführer«272 zurück. Er setzt sich so in einen Gegensatz zu den freiwillig in die SS eingetretenen Männern. Ähnlich wie die Beschuldigte K. thematisiert er seine damalige Zwangslage, die ihm keine Wahl darüber ließ, ob er in der SS dienen wollte oder nicht. Allerdings äußert er sich bezüglich seines Zwangs zum Dienst in einem Konzentrationslager widersprüchlich. Weder erfahren die LeserInnen, was er vor seiner Abkommandierung zur Waffen-SS getan, und noch, was er vor seiner Ankunft in Mauthausen, als er aber bereits bei der Waffen-SS war, für Aufgaben hatte. Es liegt nahe, dass W. diesen Sachverhalt bewusst im Unklaren belässt. Indem er sich selbst als nie »[n]azifreundlich [und als] Feind der SS-Einheiten« charakterisiert, die Versetzung zur Waffen-SS in rückblickender Prophezeiung als ein näherkommendes »Unglück«273 markiert und die Selbstviktimisierung, »als Soldat 4 21 Jahre nur im Dreck alle Strapazen mitgemacht«274 zu haben, anführt, will er jegliche Entscheidungsfreiheit seinerseits negieren. Nachdem er das erste Mal seine Zwangslage– er wird dieses Thema aber noch öfter aufgreifen – in seinem Schreiben ausführlich abgehandelt hat, geht er dazu über, seinen eigenen Weg zu relativieren: »Es wurden damals genauso wie ich einige Tausend Mann so versetzt, darunter nahe [zu] 80 Prozent Dienstgrade.«275 W. wehrt sich so gegen den Vorwurf, ein Einzelfall gewesen zu sein, und ordnet sich hingegen als einer von vielen bzw. als typisch ein. 269 270 271 272 273 274 275
Ebd. Ebd., S. 1. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 1. Ebd. Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Auch am Ende seines Schreibens greift der Beschuldigte noch einmal die Zwangslage, der er sich ausgesetzt sah, auf. Er folgte »dem Befehl der jeweiligen Regierung [, zog] die Landser Uniform und […] SS-Uniform«276 an, weil er dazu gezwungen wurde. Um die Alternativlosigkeit zu betonen und den von den AdressatInnen im Raum stehenden Fragen nach anderen Handlungsoptionen zu begegnen, greift W. zum Mittel einer ›wenn-dann‹-Konstruktion– »Hätte ich mich damals geweigert, wäre ich wahrscheinlich bald gestorben«277 – und stellt sich selbst in der dritten Person »als kleiner armer Mann«278 dar, der seinem Schicksal hilflos ausgeliefert war. Durch die explizite und wiederholte Darlegung seiner Zwangslage, die er mit unterschiedlichen Mitteln und als durch verschiedene Gründe hervorgerufen belegt, ist sie Teil seiner Selbstviktimisierung. W. berichtet über Mauthausen Mit genauen Angaben von Daten berichtet der Beschuldigte darüber, wie er in das Konzentrationslager Mauthausen gelangt ist. Auffallend und in Widerspruch zu seiner sonstigen Darstellung ist hier die immer wieder angeführte Freiwilligkeit: Er meldete sich freiwillig zum Pferdetransport und »auf Grund meiner Bitte«279 und seinem Zivilberuf Baupolier wurde W. zur Bauleitung kommandiert. Seine Glaubwürdigkeit will er unter Beweis stellen, indem er die Logik seiner Argumentation offenlegt: »Ich führe diese Postenkette mit Nachdruck absichtlich an, den damit beweise ich einwandfrei, dass ich einzig und allein nur Bauwerke und die Bauweise, jedoch niemals Häftlinge zu beaufsichtigen, oder zu befehligen hatte.«280 Sein Offenlegen und Erklären der Argumentation soll ihm aber auch behilflich sein, seine Sicht der Dinge, seine Kausalität und kohärente Ordnung der Ereignisse als einzig richtige zu etablieren. Dazu passend verwendet er auch mit der Formulierung »beweise ich einwandfrei« eine Wirklichkeitsbeteuerung, ein typischer Marker für unzuverlässiges Erzählen. Sein Überbetonen der Richtigkeit seines Vorgehens ist ein Hinweis auf sein unzuverlässiges Erzählen. Dementsprechend gesteht er gewisse Sachverhalte ein: »Ich gebe ohne Umschweife zu […] schimpfte auch ich manchmal mit die Leute«281 . Sein Eingeständnis relativiert er jedoch sogleich und entkräftet damit die Logik, die aus diesen Begebenheiten Tatvorwürfe machen könnte, indem er auf die nicht korrekte Arbeit der Häftlinge und den eigenen 276 277 278 279 280 281
Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd.
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Rechtfertigungszwang gegenüber Vorgesetzten verweist. Einen Zusammenhang zwischen diesem eingestandenen Handeln und den gegen ihn erhobenen Vorwürfen weist er in besonders kraftvoller Weise zurück: »Aber kein Mann im ganzen Lager kam und könnte auftreten und mir nachsagen, dass ich jemals nur Einen Einzigen [vom Verfasser mit Großbuchstaben begonnen] auch nur das geringste Leid zugefügt hätte.«282 Der verwendete Konjunktiv soll neben dem kraftvollen Stil seine Argumentation sprachlich stützen. Zu seiner »Rechtfertigung« nährt er das Stereotyp vom ›schlagenden Kapo‹, den er davon abgehalten haben soll, Häftlinge zu misshandeln. Betrachtet man diese Passage noch einmal in Gänze, »Ich gebe ohne Umschweife zu, dass öfters während meiner Abwesenheit Arbeiten völlig unsachlich durchgeführt wurden, wo natürlich wieder ich bei meiner vorgesetzten Stelle den Nasenstüber bekam, so schimpfte auch ich manchmal mit die Leute. Aber kein Mann im ganzen Lager kam und könnte auftreten und mir nachsagen, dass ich jemals nur Einen Einzigen [vom Verfasser mit Großbuchstaben begonnen] auch nur das geringste Leid zugefügt hätte.«283 , findet sich an dieser Stelle ein Erzählervorbehalt. W. gibt zu, die Häftlinge ›geschimpft‹ zu haben, um aber dem Verdacht, mehr als dies getan zu haben, entgegenzutreten, negiert er, den Häftlingen durch sein Handeln Schaden zugefügt zu haben. Darüber hinaus begründet er sein Handeln und stellt es als bloße Reaktion auf die unsachgemäße Arbeit der Inhaftierten und den Druck seiner Vorgesetzten dar. Indem W. eingesteht, die ZwangsarbeiterInnen ›geschimpft‹ zu haben, die Arbeitsaufträge seiner Vorgesetzten befolgt und gleichzeitig verneint, dies in einer anderen Form als einer verbalen getan zu haben, schürt er mit seiner Begründung den Verdacht, mehr als nur sprachlich gehandelt zu haben. In einem Exkurs schließt W. einen Bericht über die Ankunft eines Häftlingstransports aus Auschwitz an. Abgesehen von der semantischen Unwahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich das »erstemal die unmenschliche Behandlung von Häftlingen gesehen«284 hat – im oberen Abschnitt wurde bereits über die Lagerstufe III Mauthausens und die Zustände ab dem Jahr 1942 referiert – scheint W. doch auf eine ihm bisher unbekannte Dimension im unmenschlichen Umgang mit den Häftlingen gestoßen zu sein, was sich in den verwendeten Sprachbildern niederschlägt. »Der Anblick allein lies mir das Blut in den Adern erstarren!«285 Sprachbilder finden sich im Schreiben des Beschuldigten immer wieder an Stellen, an denen ein erhöhter Druck, sich zu rechtfertigen, besteht.
282 283 284 285
Ebd. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Die Berichte über die Vorkommnisse und Geschehen im Konzentrationslager Mauthausen dienen in ihrer Auswahl klar dem Zweck der Entlastung. Genauso markiert er auch sein Berichten über die letzten Tage in Mauthausen: »Ein kleines, aber doch auch vielleicht nicht zu ignorierendes Beispiel meines reinen Gewissens.«286 Er schildert die Tage vor der Befreiung durch alliierte Truppen versehen mit Fakten und dem Anspruch eines allwissenden Erzählers, »flüchtete doch jeder Schuldbewusste, wenn er sich nicht selbst erschoss oder wie viele gleich an Ort und Stelle erschlagen wurde«287 . Im berichteten Geschehen stellt W. sich als frei von Schuld dar, weshalb er auch zusammen mit den Häftlingen nach deren Befreiung das Lager verließ. Er erzählt also von sich als einem der Inhaftierten und nicht als einem ehemaligen Aufseher, der schuldbewusst schon vorher das Lager verlassen hatte oder deswegen von den Häftlingen erschlagen wurde.
2.7.3
W. als unzuverlässiger Erzähler
Wiederholt verweist W. auf sein initiativloses Verhalten. So auch seine angeführte Untätigkeit bei der Bauleitung bis April 1945: Er »hatte nicht den Ehrgeiz oder das Verlangen mich um irgendetwas anzunehmen, was mir nicht ausdrücklich befohlen wurde, aber auch diese Befehle wurden nach Möglichkeit umgangen.«288 Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass er nur auf Befehl und unter Zwang gehandelt hat. Er greift somit auch an dieser Stelle die Argumentation des Befehlsnotstands auf. Diese Schlussfolgerung macht er dann auch explizit: »Ich konnte daher auch nie über eine Angelegenheit von solche Baustellen verantwortlich gemacht werden!«289 Die Unrechtmäßigkeit der Vorwürfe gegen ihn soll so deutlich werden. Seinen allgemein formulierten Unwillen über die Art und Weise der Arbeit konkretisiert er erzählerisch mit einem Ereignis von »Anfang Jänner 45«290 , wo er aus sachlichen Gründen versuchte, den »Arbeitsbefehl auf[zu]schieben, da ja bei dieser Kälte kein Mensch arbeiten konnte, obenauf, aber auch keine Frostschutzmittel für die Bindekraft des Mörtels vorhanden waren.«291 Seine Einwände wurden aber »abgelehnt und dringendst die rasche Aufführung dieser Mauer befohlen.«292 Nach einer solchen »Durchführung von Arbeiten [, bei] denen meine Nerven völlig versagten«, gelang es ihm, von der Bauleitung bis April 1945 von jeglichen Arbeiten
286 287 288 289 290 291 292
Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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entbunden zu werden und auch das Bild, von den Lagerumständen betroffen gewesen zu sein, vor dem Untersuchungsrichter zu etablieren. W. strebt an, sich weltanschaulich zu verorten: »Ich war, bin und bleibe Sozialist, ich war, bin und bleibe Mensch.«293 Damit will er seine ideologische Festigkeit jenseits des Nazismus unter Beweis stellen und demonstrieren, in keiner moralischen Konfliktsituation gewesen zu sein. So begründet er dann auch seine Aufzählung an angeblichen Wohltaten den Häftlingen gegenüber, dass er als »Mensch und Sozialist, aus purem Mitleid«294 gehandelt habe. Leitmotivische Begriffe wie »Menschlichkeit«295 und »Freiheit«296 häufen sich ebenfalls an dieser Stelle. Seinem eigenen Bild vom Menschen und Sozialisten stellt er den »Gesinnungslump und Nationalsozialisten«297 gegenüber und definiert sich als unschuldigen »aufrechten und anständigen Österreicher«298 . W.’s Diffamierung der Zeugen Die Zeugen und vor allem den Zeugen K., der besonders belastende Anschuldigungen formuliert hatte, versucht W. in ihrer Kompetenz (Wissen und Glaubwürdigkeit) zu diffamieren. In seinen Augen handelt es sich bei den Aussagenden um »fragwürdige, nach Ansehen strebende Herrn Zeugen«299 und beurteilt den Wert ihrer Informationen zynisch, wenn er sagt, dass sie »mit Meinung kompetent einspringen und Gefälligkeitsaussagen machen«300 . Sprachlich vollzieht er dies zunächst mit einer rhetorischen Frage, die die Absurdität von K.s Anschuldigungen vorführen soll: »Zeuge K[.] war damals Häftling und will über Ausweise von Dienst und Nichtdienstleitende heute informiert sein?«301 Seine rhetorische Frage versieht er dann auch noch mit einer expliziten Antwort, indem er seine argumentative Logik auf seinen aktuellen Aufenthaltsort überträgt, weil dieser Ort dem Adressaten, Untersuchungsrichter Iro, bekannt ist: »Ich glaube doch, dass der Angestellte oder Beamte auch hier im Landgericht über Dienstausweise oder Befugnisse besser informiert sein dürften, als der allem ferne stehende Häftling.«302 Seine Entgegnung auf den Vorwurf K.s mutet trotzig an, wenn er formuliert: »Ich hatte auf jeden Fall kein inneres Verlangen mich an so einer Stätte des Elends ohne befohlenen Dienst herum zu treiben.«303 Dahinter steckt aber auch, dem Ver293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303
Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
dacht, aus pathologischen Gründen im Lager Dienst getan zu haben, entgegenzuwirken. W. appelliert an den »Herr[n] Regierungsrat!«304 und zählt diesem die Fragen auf, die notwendig sind, um K. als unglaubwürdig zu enttarnen. Seine Charakterisierung des Zeugen bzw. dessen Aussagen bezeichnet er als »Nebelbilder«305 . Direkt stellt er deshalb dem Untersuchungsrichter auch die Frage »ist Ihnen dieser Zeuge H[.] oder K[.] noch immer genug vertraulich?«306 und evaluiert die Zeugenaussagen mit pejorativen Adjektiven wie »erträumt«307 und »fraglich«308 . Dagegen bewertet er seine Darlegung als »einwandfrei[e] Tatsachen, unzweifelhaft[e] Tatsachen«309 und stellt die Forderung, seine Sicht der Ereignisse zu berücksichtigen. Die Aussagemotivation der Zeugen hingegen sei es, »eine neue, höhere Staatsanstellung [zu] erträumen.«310 Sein Schreiben schließt mit einem moralischen Appell an den Richter und bittet ihn seinen Fall aus Gründen der »Gerechtigkeit«311 und entgegen angeblicher juristischer »Willkür«312 seine Darstellung zu beachten. Noch ein letztes Mal markiert er die Gründe für seine Haft als unrechtmäßig, weil »Denunzianten«313 das Verfahren gegen ihn erwirkt hätten. W. unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck Gerät der Beschuldigte unter erhöhten Druck, finden sich vermehrt Sprachbilder – im Falle des Exkurses über den ankommenden Transport aus Auschwitz zeigte sich dieses sprachliche Phänomen bereits – und explanative Äußerungen, die er in Listenform wiedergibt und mit Handlungsaufforderungen an den Adressaten Iro verbindet. Als W. den Vorwurf aufgreift, Häftlinge bestohlen zu haben, wird seine Sprache bildhaft, denn er beteuert seine Aussage mit der idiomatischen Wendung, »dass ich immer [ein] reines Gewissen und reine Hände behielt.«314 Dieses Stilmittel greift er wiederholt auf und wendet es in einem pathetischen Fazit über seine Zeit im Konzentrationslager Mauthausen an: »Ich kam mit reine[n] Hände[n] und Gewis-
304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314
Ebd., S. 6. Ebd. Ebd. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4.
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sen im Jahre 44 nach Mauthausen und genauso rein jedoch mit Grauen verliess ich am 8.5.46 diesen Ort.«315 Eine explanative Liste findet sich, als es um den Vorwurf geht, er habe die Häftlinge bei der Arbeit angetrieben. Er selbst thematisiert nicht, dass mit dem Vorwurf des Antreibens auch das Schlagen und Misshandeln der Häftlinge verbunden ist. Die Liste betrifft seinen Auftrag zum Umbau der Apotheke. Ausführlich und mit genauem Datenmaterial will er die Vorwürfe entkräften: »1. An Arbeit war nur zu leisten. Zirka 100m2 eine Decke mit Heraklitplattenbruchstücken zu verschalen und zu putzen. 2. 60m2 Fußboden mit fertig bereitgestellte[n] Bretter[n] zu belegen. 3. 4 Mauern mit neue[n] bereitgestellte[n] Ziegel[n] im Ausmaß von 60 m2 in 12cm stark aufzuführen und zu putzen. Dazu waren 46 Mann. Zu den 46 Mann, gab ich noch, weil zu wenig Baufacharbeiter darunter waren, 2 Polen Maurer dazu. Klossetanschluss machte ich persönlich selbst. Zu dieser angeführten Arbeit brauchten diese nur 48 Mann sage und schreibe 9 Wochen.«316 Weil W. hier auf einen konkreten Tatvorwurf eingeht, wählt er den Weg der explanativen Äußerung. So erklärt er einerseits das Ereignis, relativiert und kontrastiert es und kann so dem erhöhten Rechtfertigungsdruck begegnen. Dementsprechend endet seine Entgegnung auch nicht mit der Liste, sondern er führt seine Schlussfolgerung daraus an: »[j]eder Laie ohne jegliche Fachkenntnisse wird bei dieser beschriebenen Leistung von 48 Mann binnen 9 Wochen das Gefühl bekommen, dass da kein Antreiber interessiert gewesen sein kann. […] Jeder Fachmann unter [den] deutbar langsamsten Arbeitsbedingungen für diese Arbeit bestimmt nur mit der halben Arbeiteranzahl, also mit höchsten 24 Mann im schlimmsten Falle nur 2 Wochen rechnen können.«317 W. beginnt nun, digressiv vorzugehen. Nicht mehr die Tatvorwürfe sind Thema seines Schreibens, sondern die Zeugen, die diese Vorwürfe gegen ihn erhoben haben. Das wiederum verbindet er auch mit einem Vorwurf an das Volksgericht, da es »gemeinen Denunzianten oder auch nur unberechenbaren Wichtigtuern«318 Gehör schenkt, dafür sorgt, dass ein Unschuldiger »durch die Geduldsmaschine und Gerechtigkeit erwürgt wird.«319 Auch hier verwendet W. erneut rhetorische Figuren, aber nicht, weil er sich unter dem Druck der Rechtfertigung sieht, sondern
315 316 317 318 319
Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
weil er mit dieser pathetischen Äußerung einen möglichst emotionalen Eindruck vermitteln möchte. Eine weitere Liste findet sich im Schreiben, als W. angebliche Wohltaten den Inhaftierten gegenüber aufzählt. Er fordert den Untersuchungsrichter auf, eine Stellungnahme des Belastungszeugen dazu einzufordern, um diesen zu einer konträren Charakterisierung seiner Person zu zwingen.
2.8
Fazit über vorprozessuale Schreiben ehemaliger SS-Angehöriger bzw. Angehörige des weiblichen SS-Gefolges in NSG-Verfahren
Es lassen sich klar unterscheidbare Formen des unzuverlässigen Erzählens zwischen den beiden Beschuldigten mit niedrigem Dienstrang und dem Angehörigen der SS-Funktionselite nachweisen. Dies lässt sich einerseits thematisch, aber auch in den Lebenswegen, dem Gang des juristischen Verfahrens und der möglichen Bestrafung erklären. Sprachlich passiert vor allem bei den beiden Angeklagten niedrigeren Ranges viel. Sie sind bestrebt, ihre Zwangslage und das Argumentationsmuster von Befehlsnotstand bzw. Dienstverpflichtung zu stärken. Sowohl im Falle W.’s als auch K.’s wurden die Verfahren wegen einer Anzeige und belastenden Zeugenaussagen angestoßen. Es ist deshalb wenig überraschend, dass beide viel erzählerische Energie auf die Diffamierung dieser Aussagenden verwenden. Beide Beschuldigten verwenden pathetische Formulierungen, wenn es darum geht, spezielle Ereignisse und ihr Verhalten zu beurteilen. Durch diese Form geben sie den Äußerungen den Anspruch auf eine übergreifende Gültigkeit und ziehen andere Beurteilungen so in Zweifel. Hintermayer argumentiert vor allem mit der Unmöglichkeit, anders handeln oder die Umstände verändern zu können. Er benennt die Missstände, die auch das Gericht in der späteren Hauptverhandlung thematisieren wird. W. und K. verwenden einen Großteil ihrer Schreiben darauf, die Zeugen ihrer mutmaßlichen Verbrechen zu diffamieren. Im Falle von Hintermayer findet sich dies nicht. Er bleibt in seinen Schuldzuweisungen wesentlich allgemeiner. Letztlich ist dieser Unterschied aber auf die Prozesse selbst zurückzuführen. Sowohl das deutsche als auch das österreichische Verfahren stützt sich in erster Linie auf Zeugenaussagen. Es ist also wenig verwunderlich, dass die beiden viele Worte darauf verwenden, die Zeugen unglaubwürdig zu machen.
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2.9
Vorprozessuale Erzählung eines ehemaligen Funktionshäftlings vor dem österreichischen Volksgericht in Wien
Franz Diep. wurde im Dezember 1953 wegen des Verdachts, Kriegsverbrechen sowie Misshandlungen und Quälereien von Mithäftlingen begangen zu haben, in Klagenfurt festgenommen. Nach seiner Hauptverhandlung am 5. September 1955 wurde er noch am selben Tag zu sechs Monaten Kerkerhaft verurteilt. Diep., am 9. Juni 1901 in Linz geboren, war Angehöriger der Fremdenlegion und der Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg. Nach dem ›Anschluss‹ Österreichs schikanierte die Gestapo den verheirateten Diep. immer wieder, bis er schließlich 1941 auf der Grundlage des ›Heimtückegesetzes‹ vom Volksgerichtshof zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Eine anschließende Anklage gegen ihn wegen Hochverrats wurde zwar fallen gelassen, allerdings wurde er wegen Schändung zu 15 Monaten Zuchthaus verurteilt. Zunächst war er in Bernau am Chiemsee inhaftiert, ein halbes Jahr später wurde er als Facharbeiter einem Arbeitskommando und ins Zuchthaus Garsten in Oberösterreich überstellt, von dort kam er im Sommer 1943 als politischer Häftling ins Konzentrationslager Mauthausen. Als gelernter Maschinenschlosser wurde er schon bald in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Diep. war zuerst Teil eines Arbeitskommandos bei den Heinkel Flugzeugwerken, dann in Heidfeld bei Schwechat in dortigen Flugzeugwerken und über Floridsdorf schließlich in der Seegrotte bei Hinterbrühl im Bezirk Mödling in Niederösterreich. Nach seiner Ankunft im Heidfelder Flugzeugwerk wurde Franz Diep. zum Kapo ernannt und musste somit ein Arbeitskommando von ca. 100 Mann befehligen.
2.9.1
Funktionshäftlinge
Grundsätzlich muss beachtet werden, dass der Begriff der Häftlingsgesellschaft keine soziale Gemeinschaft meint.320 Wie in allen Konzentrationslagern bediente sich die Lager-SS zur Durchführung von Bewachung und Bestrafung von Häftlingen anderer Häftlinge. Laut Stanislaw Dobosiewicz belief sich die Gesamtzahl der Funktionshäftlinge in allen Bereichen der Lagerverwaltung in Mauthausen zwischen den Jahren 1940 und 1943 auf über 400 Häftlinge. Dies machte ca. 4 Prozent der gesamten Häftlingsgesellschaft aus.321 Diese Inhaftierten mussten »zwischen zwei Moralprinzipien wählen, weil beide gleichzeitig nicht zu erfüllen sind, bzw. [das eine] die Erfüllung des zweiten ausschließt.«322
320 C. Stahl, Sehnsucht Brot, S. 112. 321 S. Dobosiewicz, Vernichtungslager Gusen, S. 138. 322 Revital Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah (Psyche und Gesellschaft), Gießen 2001, S. 15.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
Letztlich kann von einer parallelen Lagerverwaltung gesprochen werden, die aber in allen Belangen und Entscheidungen von der SS abhängig war. Dies war ein besonders perfider Zug, für die Funktionshäftlinge während der Lagerhaft, allerdings zeigt die Analyse der Verfahren nach ihrer Befreiung ein Verbleiben in dieser »Grauzone« (Primo Levi). Wie in den meisten Konzentrationslagern auf deutschem Reichsgebiet waren vor Beginn des Krieges die meisten Funktionshäftlinge deutscher oder österreichischer Herkunft. Da die Häftlingsgesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt noch recht homogen war, zumindest was ihre nationale Zusammensetzung betraf, waren Sprachkenntnisse oder auch andere besondere Fähigkeiten nicht das entscheidende Kriterium für die Auswahl der Funktionshäftlinge durch die Lager-SS. Warum die Vorstellung, Funktionshäftlinge seien besonders grausam und brutal gegenüber ihren Mithäftlingen gewesen, omnipräsent ist, lässt sich leicht erklären. Anfänglich waren die von der SS ausgewählten Häftlinge vor allem in den Kategorien »Berufskriminelle« und »Asoziale« zu finden. Bewusst wählte die Lagerleitung Personen aus, die aufgrund ihrer Vorgeschichte und u.a. bereits im Lager durch Grausamkeit aufgefallen waren. Es ist nicht verwunderlich, dass erst mit dem andauernden Krieg und der zunehmenden Größe des Lagers auch die Auswahl der Funktionshäftlinge auf der Grundlage anderer Gesichtspunkte stattfand, wie Sprachkenntnisse, Schreib- und Formulierungsfähigkeit, um die wichtige und umfangreiche Arbeit in der Schreibstube erledigen zu können. Es ist also nicht verwunderlich, dass ab dem Jahr 1940 nicht mehr der Lagerälteste, sondern der Lagerschreiber de facto der Häftlingsgesellschaft des Konzentrationslagers Mauthausen vorstand.323 Vorteile für die Funktionshäftlinge waren, dass eine geringere Gefahr, von der SS-Wachmannschaft während eines Arbeitskommandos drangsaliert zu werden, bestand und der erleichterte Zugang zu Lebensmitteln und anderen überlebenswichtigen zusätzlichen Ressourcen das Leben im Lager in Teilen erleichterte.
2.9.2
Franz Diep.’s handschriftliche vorprozessuale Aussage
Knapp zwei Monate nach seiner Festnahme am 23. Dezember 1953 richtet Diep. seinen Bericht an das Landgericht Klagenfurt. Auffallend für sein sechsseitiges Schreiben, vor allem in Kontrast mit den drei oben besprochenen von Angehörigen der SS bzw. des weiblichen SS-Gefolges, ist der geringe erzählerische Wert. Dies ist allerdings auf keinen Fall wertend zu verstehen. So ist es typisch für das Schreiben, dass Diep. seine Angaben in Klammern immer wieder präzisiert oder verschlagwortet. Der Zweck, die AdressatInnen korrekt über die vergangenen Vorgänge zu informieren, wird dadurch offenbar. 323 C. Stahl, Sehnsucht Brot, S. 115.
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In nüchterner Sprache, reduziert auf wesentliche Informationen, geht er chronologisch geordnet auf seinen biografischen Weg seit seiner Verhaftung im Jahr 1941 durch die Gestapo ein. Weil Diep. eine Ausbildung als Metallarbeiter hatte, wurde er zur Zwangsarbeit in den Heinkel Flugzeugwerken in Heidfeld bei Schwechat eingesetzt – »Mitten im Werk umgeben von Stacheldraht und Hallen war für uns ein Lager errichtet worden.«324 Diep. über sich als Kapo Mit seiner Ankunft in Heidfeld begann auch seine Aufgabe als Kapo. Er informiert den Adressaten seines Schreibens, das Landgericht Klagenfurt, über seine Aufgaben als Kapo. Dazu gehörte das Führen der Häftlingskartei, »Krankmeldungen«325 vorzunehmen, »bei jedem Aus- und Einrücken zu und von der Arbeit die genaue Meldung«326 über die Zahl der Häftlinge an die Lagerleitung weiterzugeben und die »Essensausgabe [zu] überwachen«327 . Über die Arbeit im Werk erfährt man aber nichts Genaueres. Deutlich markiert er hier mit einer Passivkonstruktion, dass es sich nicht um eine freiwillige Entscheidung seinerseits gehandelt hat: »Auch ich wurde zum Kapo bestimmt«328 . Seine Zwangslage und der Druck, dem er ausgesetzt war, macht er durch die Schilderung eines konkreten Ereignisses deutlich. »Ein einziges Mal ist ein Capo durchgebrannt und der wurde nach 2 oder 3 Monaten wieder erwischt. Für diese Flucht wurde ich mit 25 Stockhieben und mit 1 ½ bis 2 Stunden aufhängen bei den Händen bestraft.«329 Er thematisiert die körperlichen und psychischen Folgen dieser Folter aber mit keinem Wort. Im Gegensatz zu den Formulierungen in den zuvor analysierten vorprozessualen Schreiben ist der geringe Grad eines rechtfertigenden Modus auffallend. Dieser Eindruck entsteht, weil Diep. auch diese schwere körperliche Misshandlung sachlich, berichtend und auf die bloße Darstellung des Sachverhaltes reduziert. Diep.’s Entgegnung auf die Tatvorwürfe Erst nach eineinhalb Seiten thematisiert der Beschuldigte erstmals den gegen ihn erhobenen Vorwurf, einen russischen Häftling im Außenlager in Floridsdorf (Wien) erschlagen zu haben. Er vollzieht dies, indem er die Plausibilität des Vorwurfs auf semantischer Ebene widerlegt und dies optisch hervorhebt, da er folgenden Satz
324 Vorprozessuales Schreiben von Franz Diep., Klagenfurt 10.2.1954, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55, S. 1. 325 Ebd. 326 Ebd. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 Ebd., S. 3.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
unterstreicht: »Ich habe seit Heidfeld dann niemals ein Kommando in den Werkstätten gehabt, also war es unmöglich einen Häftling an einer Werkbank zu erschlagen.«330 Diep. entscheidet sich, den Tatvorwurf des Mordes schlicht mit der Nennung eines Faktums zu entkräften. Dies fällt vor allem auf, weil in den vorprozessualen Aussagen der SS-Angehörigen bzw. der Angehörigen des weiblichen SS-Gefolges dies mit sprachlich aufwendigeren ›wenn-dann‹-Konstruktionen vollzogen wurde. Der Beschuldigte bleibt auch bei dieser deutlich reduzierten sprachlichen Vorgehensweise. Er verneint entschieden, mit toten Häftlingen von einem Arbeitseinsatz zurückgekehrt zu sein: »Ich betone ausdrücklich, dass ich nie mit einem Toten eingerückt bin.«331 Diese Aussage generalisiert er und bezieht sie auch auf andere Kapos und Mitglieder der Wachmannschaften der Außenlager – »Ich muss ausdrücklich betonen, dass weder in Heidfeld, noch in Floridsdorf und auch in Hinterbrühl ein Häftling von einem Capo oder der Wachmannschaft erschlagen oder erschossen wurde.«332 Sein Schreiben zeigt nur eine ausführliche, explanative Ausführung, in der er den Tatvorwürfen des Untersuchungsverfahrens begegnet. An dieser Stelle listet er folgende zwei Punkte als Belege seiner Unschuld auf: »1. Unser Lagerführer duldete absolut nicht, daß ein Häftling während der Arbeitszeit geschlagen, geschweige erst erschlagen wurde. 2. Unterstanden immer 10-20 Häftlinge einem Vorarbeiter (Zivilisten) und durfte ein Kapo bei der Arbeit nicht dreinreden (geschweige einen zu erschlagen). Außerdem wäre ein Totschlag sofort unter der Zivilbevölkerung bekannt geworden, da die Einwohner von Hinterbrühl in alles eingeweiht waren und ich dort überall bekannt war. Die Seegrotte war auch allen Zivilisten als Luftschutzkeller zugänglich.«333 Im dritten Punkt seiner Liste versucht er mit der Nachgeschichte unter Beweis zu stellen, dass die Aussage »Hätte ich so ein Verbrechen begangen, wäre ich schon lange nicht mehr hier«334 stimmt und er sich somit »bis heute in Untersuchungshaft für ein Verbrechen [befindet,] welches er nie begangen«335 hat. Er stellt also mit dem Folgenden die Plausibilität, Kausalität und schlicht die faktische Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe in Frage:
330 331 332 333 334 335
Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd.
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»1946 oder 1947 war ich in Hinterbrühl bei Bekannten (Fam. W[.] Hinterbrühl, Grutschgasse 8) auf Besuch. Ich hielt mich dort den ganzen Tag auf stattete Besuche ab und wurde eingeladen und bewirtet. […] 1946, 1947, 1948 war ich zum mindestens 15 bis 20 mal im russisch besetzten Gebiet. Teil[s] mit Auto teils mit Bahn. Auch wundert es mich, daß mich nach dem Zusammenbruch des 3ten Reiches niemand von unseren Vorgesetzten mich angezeigt hat. Weder H. Ingenieur U[.], noch Zivilarbeiter, Meister, Vorarbeiter, Einwohner von Hinterbrühl, Mödling noch jemand von unserer Wache. Ein Hauptscharführer und ein Oberscharführer sowie einige Mann, welche alle von der Luftwaffe zu uns kamen und beinahe immer unsere Wache waren, haben es nicht nötig gefunden, uns anzuzeigen. Bei unserer Wache waren 4 oder 5 Wiener.«336 Gerade weil es Diep. darum geht, die Schlussfolgerungen und Schuldzuweisung zu entkräften, finden sich in seinem Bericht ›wenn-dann‹-Konstruktionen, die die Argumentation der Gegenseite aufgreifen, sie in Relation zu seinen Fakten stellen und so ad absurdum führen: »(Einen Mörder hätte man dort sofort den Russen übergeben, da es sich ja in diesem Fall um einen solchen handelt.) Außerdem wäre es mir nie eingefallen die Russenzone zu überschreiten, geschweige erst dorthin zu fahren wo sich der Mord abgespielt hat.«337
2.9.3
Aussage des ehemaligen SS-Angehörigen Ludwig W. im Vergleich mit der Aussage des ehemaligen Funktionshäftlings Franz Diep.
Wie auch der Beschuldigte Ludwig W. thematisiert Franz Diep. die Morde an der Lager-SS und Funktionshäftlingen nach der Befreiung Mauthausens. Beide sehen ihr Überleben dieser Morde als Beweis ihrer Unschuld. W. formuliert seinen Beweis folgendermaßen: »Als am 5. Mai 45 die Tore von Mauthausen sich für die noch überlebenden KZ Häftlinge öffneten, flüchtete doch jeder Schuldbewusste, wenn er sich nicht selbst erschoss oder wie viele gleich an Ort und Stelle erschlagen wurde. Ich blieb ruhig in meiner einstigen Dienststelle in der Bauleitung mit einer großen Anzahl von KZ Häftlingen in Gesellschaft bis am 8. Mai zurück und fuhr erst als die Straßen etwas passierbar waren, mit 12 Mann der ehemaligen Lagerinsassen gemeinsam nach Wien.«338 Liest man dagegen die Formulierung Diep.’s, 336 Ebd., S. 4-5. 337 Ebd., S. 5. 338 Vorprozessuales Schreiben Ludwig W., S. 8. Zu den Ereignissen unmittelbar vor und nach der Befreiung durch das amerikanische Militär: Florian Freund, Bertrand Perz, Mauthausen, S. 333-335.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
»Bitte zur Kenntnis zu nehmen, dass nach der Befreiung durch die Amerikaner in Mauthausen ein blutiges Gemetzel stattfand, bei dem jeder Blockälteste, Kapo und andere welche sich ihren Mithäftlingen gegenüber etwas zu Schulden kommen ließen, ihr Leben lassen mußten. Von den 1.500-2.000 Häftlingen, welche mit mir beisammen waren, hat sich keiner gefunden der mir nahegetreten wäre, trotzdem ich angeblich gemordet habe.«339 fallen in diesem direkten Kontrast die Unterschiede des Erzählens zwischen dem ehemaligen SS-Angehörigen und dem ehemaligen Funktionshäftling besonders auf. W.’s Sätze sind von einem pathetischen, tragenden und emotionalen Ton geprägt. Diep. setzt die AdressatInnen dagegen in deutlich nüchternerer Weise in Kenntnis. Das birgt selbstverständlich einen Anspruch von Wissen in sich und die Zahl von 1.500 bis 2.000 Häftlingen soll seine Aussage in ihrer Glaubhaftigkeit stützen. Trotzdem offenbart der gestalterische Mehraufwand W.’s, der klar keinen informativen Charakter birgt, warum sich das unzuverlässige Erzählen gerade bei ihm, wie auch bei den anderen SS-Angehörigen in aller Deutlichkeit zeigt. Ein letztes Mal nutzt Diep. Sein vorprozessuales Schreiben, um gegen seine Anklage zu argumentieren. Er formuliert klar und deutlich die Absurdität der Vorwürfe und benennt die Motivation der angeführten Zeugen als »niederträchtiger Rache Akt«340 . Das Gericht sieht es jedoch als erwiesen an, dass Diep. vier Häftlinge »in ihrer Menschenwürde gekränkt und beleidigt hat«341 und somit Straftaten nach § 4 KVG begangen hat. Diep. wird deshalb am 5. September 1955 zu sechs Monaten Kerkerhaft verurteilt. Allerdings lässt das Volksgericht Wien seine Zwangslage nicht unbeachtet und erkennt an, dass Funktionshäftlinge »vielfach diese Schläge auch austeilen müssen, um nicht selbst geschlagen zu werden. […] Die von ihm verabreichten Stösse und Ohrfeigen seien somit teils zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendig gewesen, teils auch aus einem gewissen Selbsterhaltungstrieb entstanden.«342 Mildernd führt das Gericht auch eine Form der Habituation und des Referenzrahmens beim Verurteilten an, da er »durch seinen Lebenslauf und die Situation im KZ bedingte Verrohung«343 für sein Handeln verantwortlich gemacht wird. Trotzdem geht das Gericht nicht so weit, dass es die Organisationsweise und die Funktionen des Konzentrationslagers an sich thematisiert und in Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur und Herrschaftspraxis bringt. Verhandlung und Urteil orientieren sich konkret an den Vergehen des Angeklagten, die Umstände werden nur wenn nötig beachtet. Fraglich ist jedoch, ob 339 340 341 342 343
Vorprozessuales Schreiben von Franz Diep., S. 6. Ebd., S. 6. Urteil gegen Franz Diep., Wien, 5.9.1955, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55, S. 1. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5.
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dies als grundsätzliche Kritik gegenüber den Volksgerichten überhaupt erhoben werden kann, angesichts der Menge an Verfahren und dem rapide sinkenden politischen Interesse an der Ahndung von NSG.
2.10
Fazit über das unzuverlässige Erzählen in vorprozessualen handschriftlichen Aussagen – ein Vergleich
Ziel des Gerichts ist es, den zur Debatte stehenden Sachverhalt zu klären und herauszufinden, wie und ob der oder die Angeklagte an diesem Sachverhalt beteiligt war. Auf der Basis dessen, was im Vorfeld und im Laufe des Prozesses darüber eruiert werden kann, fällt der Richter oder die Richterin dann ein Urteil. Was gemacht wurde, steht also im Zentrum eines juristischen Verfahrens. Das Was ist auch für die narratologische Analyse entscheidend, weil hiervon abhängig ist, wie die Angeklagten erzählen. Jedoch darf nicht der Einfluss des institutionellen Rahmens vergessen werden, der nicht nur den Anlass zum Erzählen liefert, sondern das Erzählen auch normiert. Aus diesem Grund sind sowohl textinterne als auch textexterne Faktoren für die Diagnose eines unzuverlässigen Erzählens im Faktualen entscheidend. Ein grundlegender Faktor für das unzuverlässige Erzählen in juristischen Kontexten mit Fragen an die Aussagen von Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten ergibt sich aus der Tatsache, dass Erzählende, Autoren und Protagonisten des Geschehens eine Person sind. Im Falle der hier untersuchten Quellen handelt es sich um eine abgeschlossene Erzählung. Die Beschuldigten haben schriftlich bei Gericht ihre Sicht auf die vergangenen Ereignisse eingebracht. Die Form erhärtet somit den Verdacht eines unzuverlässigen Erzählens, da sie die Möglichkeit, die vergangene Geschichte im eigenen Sinne zu konstruieren, erhöht. Generell hat sich gezeigt, dass das unzuverlässige Erzählen in den vorliegenden faktualen Texttypen auf drei Ebenen greifbar ist: inhaltlich schlicht durch Widersprüche auf der Sachebene. Das heißt, die erzählten Fakten stehen in Widerspruch mit den anderen Beweismitteln. Zweitens sind die Erzählenden nicht nur AutorInnen, sondern auch ProtagonistInnen der rekonstruierten Vorgänge. Ihre Darstellung ist also in erheblichem Maße von Subjektivität geprägt. Zuletzt ist die weltanschauliche Prägung als Motiv und Grund für das Handeln damals sowie zum Zeitpunkt des Verfahrens ein weiterer Hinweis für die Unzuverlässigkeit der Erzählenden. Auf allen drei Ebenen kann das Erzählen sowohl gewollt als auch nichtintendiert auftreten. Dies zeigt sich bei allen vier hier analysierten Schreiben. Neben dieser und weiteren Gemeinsamkeiten zeigen sich jedoch auch Unterschiede. Beschuldigter Hintermayer Hintermayer verharmlost seinen Beitrag zur Existenz der nationalsozialistischen Konzentrationslager, obgleich er als erster Lagerarzt eine wichtige Position inner-
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
halb der Lager-SS hatte. Dies vollzieht er in erster Linie, indem er seine Arbeit als folgenlos und gescheitert beurteilt. Offen bleibt bei diesem Fazit, was zu einem positiven Urteil über sein Handeln als Lagerarzt geführt hätte. So ist die Perspektive, aus der er sein (Nicht-)Handeln klassifiziert, die des Nationalsozialisten und SS-Angehörigen. Die Lager und die Haft selbst stellt er deshalb nicht in Frage. Jegliche Schuld externalisiert er, da er nicht sich, sondern die Umstände für die Seuchen, Krankheiten und die vielen toten Häftlinge als verantwortlich sieht. Als es um den konkreten Vorwurf des Mordes geht, führt Hintermayer dazu kohärent den Befehlsnotstand als Grund an, warum er die Verbrechen begangen hat. Beschuldigte Wally K. Wally K.’s unzuverlässiges Erzählen unterscheidet sich von dem Hintermayers. Sie war im Gegensatz zum ehemaligen Lagerarzt des Konzentrationslagers Dachau nicht freiwillig Aufseherin im Außenlager Neustadt-Glewe, sondern wurde im letzten Kriegsjahr dienstverpflichtet. Sie zeigt sich aber vor allem unzuverlässig in ihrem Schreiben, weil die weltanschauliche Prägung wegen ihres jungen Alters bereits dem Faktor der Gewöhnung unterlag. Die inhumanen und faschistischen Ideen waren für sie schlicht alltäglich. Im Moment ihres vorprozessualen Schreibens scheint für sie deshalb das Einschreiben in die ›neue‹ moralische Ordnung nach 1945 unmöglich zu sein. Sie verfolgt explizit und ausführlich das Ziel der Selbstviktimisierung. Ihr gesamter Aufsatz »An der Schwelle des Leidens« dreht sich deshalb um ihre Sicht auf die vergangenen Geschehnisse, die von einem möglichen bevorstehenden Prozess geprägt ist. Empathie gegenüber den Inhaftierten lässt sich nicht finden. Sie zeichnet sich ebenfalls als Opfer der Umstände, im Gegensatz zu Hintermayer vollzieht sie dies aber mit einem wesentlich größeren erzählerischen bzw. gestalterischen Aufwand. K. betont ihre Zwangslage, die laut ihr ihre Situation signifikant prägte. Zum einen liegt hierin der Grund für ihre starke erzählerische Motivation, weil sie wegen der Unfreiwilligkeit ihres Dienstes das Verfahren als ungerecht empfindet. Sie stellt deshalb auch ihre Vorgesetzten wiederholt als verantwortlich dar. Zum anderen war eine geringe Strafe bereits zu Beginn des Verfahrens recht wahrscheinlich. Für die Angeklagten des Dachauer Prozesses war dagegen die Todesstrafe präsent. Hintermayers Positionierung ist eine andere. Als ehemaliger Lagerarzt eines Konzentrationslagers ist er sich über die Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe, an den Umständen der Haftsituation schuldig zu sein, durchaus bewusst, obgleich er trotzdem die Richtigkeit von Konzentrationslagern, der nationalsozialistischen Weltanschauung und die Haftgründe nicht in Zweifel zieht. Unzuverlässig ist sein Erzählen gerade deshalb, weil er die Missstände und die Folgen der Lagerhaft be-
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nennt, sich aber trotzdem, wie alle anderen Mitangeklagten des Dachauer Hauptverfahrens, als nicht schuldig bezeichnet. Beschuldigter Ludwig W. Der Beschuldigte W. entscheidet sich für eine dritte Variante einer schriftlichen vorprozessualen Aussage – Hintermayer wählte die Form eines Berichts, K.’s Schreiben vermittelte den Eindruck einer Erlebniserzählung. W. entwirft mit seinem Schreiben ein Gegen-Narrativ. Dies beginnt damit, dass er seine Tätigkeit in der Bauleitung als ›Dienstleistung‹ bezeichnet, diese so verharmlost und sich gleichzeitig als lediglich ausführend und ohne jegliche Eigeninitiative zeigen will. In W.’s Fall sind es vor allem die inhaltlich bedingten Widersprüche, die ihn als unzuverlässigen Erzähler erkennen lassen. Weltanschaulich lässt er sich kaum verorten, mit Ausnahme seiner Mitgliedschaft bei der SPÖ. Mit K.’s vorprozessualem Schreiben hat er gemein, dass beide ihre Glaubwürdigkeit stärken wollen, indem sie Belastungszeugen als unglaubwürdig darstellen und so ihr eigenes Erzählen als eine Wirklichkeitsbeteuerung auftreten lassen. Damit erzählen sie letztlich unzuverlässig. Hintermayer und W. eint der Berichtstil bzw. ihr Auftreten als Experten, wodurch sie versuchen, besonders plausibel und kohärent in ihrer Stellungnahme zu erscheinen. Beschuldigter Franz Diep. Nicht nur aufgrund Diep.’s damaliger Stellung als Funktionshäftling, sondern auch durch die Art und Weise seiner Formulierungen in seiner vorprozessualen Stellungnahme unterscheidet sich sein Schreiben von den drei zuvor erwähnten. Sein Schreiben zielt auf Information und Bericht. An nur wenigen Stellen rechtfertigt Diep. sein Verhalten. Dies mag daran liegen, dass er schlicht keinen Grund darin sah, weil es für sein Verhalten kaum bzw. keine Alternative gab. Der sprachliche und erzählerische Aufwand ist dementsprechend deutlich geringer als bei den drei SS-Angehörigen. Daran ändert sich auch nichts, als er den gegen ihn konkreten Tatvorwurf des Mordes thematisiert. Setzt man also die vier vorprozessualen Schreiben unter der Frage nach Markern für das unzuverlässige Erzählen zueinander in Relation, fällt auf, dass das subjektive und objektive Unrechtsbewusstsein, die hierarchische Stellung im Gefüge des Konzentrationslagers, aber auch die mögliche Bestrafung Einfluss auf das (unzuverlässige) Erzählen der Beschuldigten hat. Es ist also nicht überraschend, dass das Schreiben der Beschuldigten K. aus ihrer Rolle als unter den Wachmannschaften hierarchisch am niedrigsten stehende, jüngste und aus ihrer eigenen Sicht vermutlich ›unschuldigste‹ der vier Personen heraus die meisten Marker für das unzuverlässige Erzählen aufweist.
2. Unzuverlässiges Erzählen in (hand-)schriftlichen vorprozessualen Aussagen
(Nicht) erzählter Brückenschlag zwischen den Systemen Alle vier unternehmen keinen Versuch eines erzählerischen Brückenschlags zwischen dem nationalsozialistischen System und dem der Nachkriegsordnung. Sie ordnen sich nicht in die angestrebte Transgression hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit der Übergangsjustiz ein. Im Falle des ehemaligen Funktionshäftlings Diep. ist dies jedoch nicht erforderlich, er ist nie Teil der nationalsozialistischen Gesellschaft gewesen, was auch aus seiner Verhaftung durch die Gestapo und seiner Häftlingszeit in Mauthausen bzw. den dazugehörigen Außenlagern klar hervorgeht. Ludwig W. und Wally K. wie auch Fritz Hintermayer waren hingegen Teil der NS-Volksgemeinschaft. W. und K. wollen vor allem ihre Unschuld unter Beweis stellen. Beide können nicht als überzeugte Nationalsozialisten gesehen werden, sondern hatten sich pragmatisch und opportunistisch mit ihrer Lebenssituation arrangiert. Sich nun in die sich neu konstituierende demokratische Gesellschaft einzuerzählen, würde der angestrebten Kohärenz ihrer Schreiben zuwiderlaufen, da beide darin ihre Unschuld beteuern. Anders verhält es sich bei Fritz Hintermayer. Als einziger aller Beschuldigten gibt er bereits in seiner vorprozessualen Stellungnahme zu, dass er Menschen durch die Injektion eines Narkosemittels ermordet hat, auch wenn er es als Gnadenakt darstellt. Ihm konnte somit nicht nur die Beteiligung an der gemeinschaftlichen Planung von Verbrechen gegen die Menschheit nachgewiesen werden, sondern definitiv die Ermordung zweier schwangerer, russischer Frauen. Es stellt sich die Frage, ob er deshalb nicht einmal mehr den Versuch unternommen hat, sich in den angestrebten Übergang der Systeme einzubringen. Entscheidend ist, und dies zeigt sich später bei der Analyse hinsichtlich des performativen Erzählens, dass sich die vorprozessualen Aussagen noch voll und ganz auf die möglichen Vorwürfe in einer Anklageschrift konzentrieren. Im Gegensatz zum Gnadengesuch, bei dem die Angeklagten den Beurteilungsrahmen in ihre gegenwärtige Situation verschieben möchten und nicht mehr ihr vergangenes Handeln entscheidend sein soll, besteht im Vorfeld der Anklage noch die Möglichkeit, hierauf Einfluss nehmen zu können und mit der eigenen Darstellung zu überzeugen, um ›Schlimmeres‹ zu verhindern. Thema sind deshalb die vergangenen Ereignisse, mögliche Tatvorwürfe, die es zu entkräften gilt, und Belastungszeugen, die unglaubwürdig erscheinen sollen.
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3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Die Hauptverhandlungen der österreichischen Volksgerichte und das amerikanische Militärgericht von Dachau sind mit umfangreichen und detaillierten Protokollen dokumentiert. Durch die Aussagen der Angeklagten während der Verhandlung produzieren diese, in Reaktion auf die Fragen und Statements anderer Prozessbeteiligter, eine Selbsterzählung, die über die Person sowohl in den Zusammenhängen der Erzählgegenwart als auch danach Aufschluss gibt. Protokolle der Hauptverhandlungen – quellenkritische Anmerkungen Im Falle der hier analysierten Äußerungen der Angeklagten handelt es sich nicht um Wortprotokolle, die die Äußerungen der Angeklagten und anderer Prozessbeteiligter exakt wiedergeben, wie dies etwa in den Transkriptionen von narrativen Interviews der Fall ist. Das Gesagte wurde vielmehr geglättet, soll heißen, in korrekter Syntax und schlüssigen Formulierungen niedergeschrieben. Im Falle der beiden deutschen Strafverfahren der Landgerichte Hamburg und Berlin gibt es keine Protokolle der Hauptverhandlungen. Die (bundes-)deutsche Prozessordnung sieht eine Dokumentation des Prozessgeschehens nicht vor. Ausnahmen bildeten die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und der Stammheim-Prozess.1 Von beiden Prozessen gibt es auch Tonbandaufnahmen. Die Protokolle des amerikanischen Militärgerichts von Dachau wurden aus Kostengründen nur in englischer Sprache verfasst. Die ursprünglich deutschen Äußerungen der Angeklagten liegen also nur in übersetzter Form vor. Hellmuth Butterweck, der eine umfangreiche Sammlung zu den Presseberichten über die Volksgerichte in Österreich publiziert hat, beurteilt die Protokollführung im common law gegenüber der kontinentaleuropäischen Regelung wie folgt: »[D]ie im Kontinentaleuropa übliche Protokollführung in Strafprozessen kommt dem Idealziel, ›die volle Prozesswirklichkeit‹ wiederzugeben […] weniger nahe als
1
In Kapitel 2 findet sich die Analyse eines vorprozessualen Schreibens der später verurteilten Wally K. und in Kapitel 4 die Analyse der Gnadengesuche aus beiden Verfahren.
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das wortgetreue Protokoll der britischen und amerikanischen Gerichte. Im europäischen Strafprozess beeinflusst das Interesse des Richters, der Aufhebung eines Urteils vorzubeugen, bekanntermaßen oft die Protokollierung. Dass ein Vorsitzender seine Voreingenommenheit gegenüber Zeugen zu Protokoll gibt, ist kaum zu erwarten. Die Gefahr der Voreingenommenheit ist besonders groß bei politischen Verfahren und politisch motivierten, obrigkeitlichen sanktionierten Straftaten. Aber auch Zeitdruck, Mangel an qualifiziertem Personal und ähnliche Faktoren beeinträchtigen die Qualität der Gerichtsakten. Unter den Verhältnissen der Nachkriegszeit wurden diese negativen Faktoren maximiert.«2 Der Aussagewert der Protokolle des amerikanischen Militärgerichts von Dachau ist so gesehen höher als der der österreichischen Volksgerichte. Weil die vorliegende Analyse aber primär ihren Blick auf die Aussagen der Angeklagten richtet und falls notwendig – z.B. wenn der Angeklagte sich auf vorangegangene Zeugenaussagen bezieht – das gesamte Prozessgeschehen in den Blick nimmt, sind auch die Protokolle der Volksgerichte für diese Untersuchung geeignet. Gleichwohl müssen die einschränkenden Faktoren der Dokumentationen der Prozesse während der Analyse gegenwärtig sein. Kapitelstruktur In der Summe und im Einzelnen streben die Angeklagten kohärente und plausible Aussagen an. Es handelt sich dabei um ein überlegtes und austariertes Erzählen, das Plausibilität und Kohärenz anstrebt, »dies ist nicht schlicht durch unmittelbaren Seelenausdruck, sondern allein im erzählerischen Prozess zu bewerkstelligen«3 . Grundsätzlich gehe ich deshalb davon aus, dass die Aussagen eine Selbsterzählung ergeben. Die Frage, welche Merkmale hiermit verbunden sind, bildet einen wichtigen Punkt der folgenden theoriebasierten Überlegungen. Dem inhärent ist eine narrative Identität, die es gilt, durch die erzähltheoretische Methode zu eruieren. So bildet, gerade durch die Untersuchung eines amerikanischen Militärgerichts, das Phänomen der Wiedererzählung einen wichtigen Punkt. Darin wird aber auch das Erzählen als wichtiger Bestandteil der Argumentation deutlich, in der sich Emotionen – beabsichtigt und unbeabsichtigt – finden. Das Erzählen als argumentativer Akt, das emotionale Erzählen wie auch die damit verbundene Positionierung der Aussagenden und ihre Darstellung ihrer Handlungsmächtigkeit in der Handlungsgegenwart bilden die in den theoretischen Vorüberlegungen diskutierten Eckpunkte. Aus dem amerikanischen Militärprozess zum Konzentrationslager Dachau finden sich dann die Analysen zu den Aussagen von Johann Kick
2 3
H. Butterweck, Verurteilt und begnadigt, S. 14. T. Weitin, Zeugenschaft, S. 258.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
(Leiter der Politischen Abteilung) und Klaus Schilling (humanmedizinische Experimente an Häftlingen zur Erforschung eines Malaria-Impfmittels). Teil der Analyse zu den österreichischen Volksgerichten zu Verbrechen im Konzentrationslager Mauthausen sind die Aussagen von Franz Dop. (SS-Unterscharführer mit verschiedenen Positionen) und dem ehemaligen Funktionshäftling Franz Diep., dessen vorprozessuale Aussage im vorherigen Kapitel bereits untersucht wurde.
3.1
Selbsterzählung im Strafprozess
Der Strafprozess fördert in seiner Zielsetzung die erzählerische Komponente in besonderer Weise und deutlich stärker, als dies in zivilrechtlichen Verfahren der Fall ist. Aufgabe des Strafprozesses ist es, die (Straf-)Tat festzustellen, weshalb es zu einer Erzählung spätestens dann kommt, wenn das Urteil eine narrative Verknüpfung zwischen dem Ergebnis und dem Handeln, das hierzu führte, vollzieht. Da aber der Strafprozess vor allem eine »Suche nach Begründungen«4 ist, wird bereits vor dem Urteil, letztlich bereits zu Beginn des Verfahrens von den Angeklagten erzählt.5 Die Analyse der protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen fördert mit der grundlegenden Frage nach der moralischen (Selbst-)Verortung in Handlungsund Erzählgegenwart keinen bloßen Fortgang eines (Lebens-)Prozesses zutage. Dies ist auch der Erzählmotivation und dem normativen Rahmen, in dem die Erzählenden sich bewegen, geschuldet. Die situative Darstellung der Angeklagten ist entscheidend. Ziel der später folgenden Analysen ist es deshalb nicht, eine biografische Darstellung oder Auswertung vorzunehmen. Das close-reading dient vielmehr der Rekonstruktion einer Selbsterzählung – eine Erzählung, die vor allem besondere Erkenntnisse birgt, weil sie vom Erzählenden nicht bewusst erzeugt wird. Das ›Selbst‹ muss deshalb von den RezipientInnen erschlossen werden. Der Ausgangspunkt im Prozess ist zunächst immer die Reaktion auf die gerade gestellte Frage bzw. ein Reagieren auf das Statement eines anderen Prozessbeteiligten. Diese sofortige Reaktion, eine (Selbst-)Rechtfertigung oder auch eine Gegenanklage, versuchen professionell geschulte Prozessbeteiligte wie z.B. Strafverteidiger zu vermeiden, weil sie mehr Aufschluss gibt, als der (nichtprofessionell) Aussagende beabsichtigt hat.6
4 5 6
Thomas M. Seibert, Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 174), Berlin 1996, S. 13. Ebd., S. 87. T.M. Seibert, Gerichtsrede, S. 165.
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3.1.1
Warum und wie erzählt wird
In den hier untersuchten NSG-Verfahren hatten die Befragungen der Beschuldigten, die weiteren Ermittlungen und Zeugenbefragungen den Tatvorwurf erhärtet. Die Staatsanwaltschaft bzw. das Office of the Theatre Advocate verfasste daraufhin eine Anklageschrift, die u.a. eine Hauptverhandlung über die darin formulierten Vorwürfe forderte. Generell sollen Angeklagte vor Gericht – insofern sie nicht ihr Recht auf Schweigen in Anspruch nehmen, wovon in den hier untersuchten Fällen keiner der Angeklagten Gebrauch gemacht hatte – innerhalb der Prozessordnung auf Fragen des Gerichts, der Anklage und der Verteidigung reagieren. Ausschweifende und explanative Äußerungen sollen aus der Sicht aller professionellen Prozessbeteiligten möglichst verhindert werden, einerseits um den Fortgang des Prozesses nicht aufzuhalten, andererseits, weil ein großer Umfang einer Aussage nicht zwingend zu einer erhöhten Glaubhaftigkeit führt. Ziel der professionellen Seite ist »Ausdrücklichkeit […]. Sie wird am besten dadurch erreicht, dass ein Beweismittel den Wortlaut bietet, der Inhalt der Feststellung werden soll. Dieses Anliegen ist banal, wenn der Angeklagte oder das Opfer bekunden sollen, wer auf wen geschossen hat. Nicht mehr banal, sondern wiederum rätselhaft sind diese Bekundungen, wenn sie sich auf Gefühle, Einsichten und Absichten beziehen, das also, was Juristen die ›innere Tatseite‹ nennen.«7 Im Gegensatz zu den vorprozessualen Stellungnahmen (Kapitel 2) der Beschuldigten oder auch den Gnadengesuchen der Verurteilten (Kapitel 4) können die Angeklagten während der Hauptverhandlung nur schwerlich eine geschlossene und kohärente Erzählung entwerfen, da die Aussagen Teil eines Dialogs sind. Ihre Aussagen beziehen sich deshalb auf den Gesprächsverlauf und dessen Themen. Den Fortgang können die Angeklagten darüber hinaus nur bedingt beeinflussen, gehen ihre Äußerungen doch auf Fragen des Richters (im Falle des amerikanischen Militärgerichts reduziert sich dies auf ein Minimum, da sich seine Rolle wesentlich auf einen moderierenden Modus beschränkt), der Anklage und Verteidigung zurück. Daraus ein geordnetes Bild und ein zusammenhängendes Narrativ zu generieren – auch unter Einbezug der anderen Aussagenden – ist Aufgabe des Adressaten, des Richters.8 In jedem Fall liegt eine fragmentarische Erzählung vor, die das Subjekt der Verhandlung zum Gegenstand hat.9 Wie erfolgreich die jeweilige Aussage
7 8 9
Ebd., S. 166. A. v. Arnauld, Was war, was ist – und was sein soll, S. 39. »A trial consists of fragmented narratives and narrative multiplicity.« Paul Gewirtz, Narrative and Rhetoric in the Law, in: P. Brooks, P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories Narrative and Rhetoric in the Law, S. 2-13, S. 7.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
bzw. Selbsterzählung ist, hängt von der Fähigkeit der Angeklagten ab, auf die Dynamik der Hauptverhandlung einzugehen und sich darin möglichst geschickt und erfolgreich zu positionieren.10 Auch wenn die Äußerungen der Angeklagten immer wieder unterbrochen werden, findet sich mit einem Blick auf die Summe der Aussagen eine Selbsterzählung. Die geforderte Kausalität und Kohärenz einer Gerichtserzählung verlangt eine Struktur, die am besten durch ein Sich-Verorten erzeugt wird. Eng damit verbunden ist auch, dass durch das Erzählen dem Handeln nicht nur aus seiner damaligen Situation heraus Sinn gegeben werden, sondern diese Sinngebung nun vielmehr im Rahmen der Hauptverhandlung erfolgen soll. Welche dies ist, können die Angeklagten in ihrer Aussage selbst bestimmen. Allerdings muss sich dieser Sinn in die Vorstellung von Richtig und Falsch des Gerichts einfügen lassen. Gerade im Falle von Angeklagten in NSG-Verfahren ist die vermutlich größte Herausforderung, trotz Unterbrechungen und Nachfragen eine (fragmentarische) Selbsterzählung zu schaffen, die es vermag, den Brückenschlag zwischen den moralischen Vorstellungen von Handlungs- und Erzählgegenwart zu meistern. Schaffen sie es nicht, misslingt ihnen in jedem Fall eine glaubwürdige Konstruktion ihrer Unschuld. Es handelt sich letztlich, auch wenn diese Formulierung für den Sachverhalt ein wenig zu harmlos klingen mag, um eine »sprachliche Darstellung eines Wandels in der Zeit«11 . Die Fragmente der Selbsterzählung werden aber letztlich durch die RezipientInnen zu einem Ganzen zusammengefügt. Das Dialogische der Hauptverhandlung schränkt also die Einflussnahme mittels einer sprachlichen Gestaltung und inhaltlichen Auswahl, was für eine kohärente und plausible Selbsterzählung wesentlich wäre, stark ein. Die Erzählenden sind vielmehr gefordert, sich dem Ziel der Hauptverhandlung, der Klärung des Sachverhalts, unterzuordnen. Da die Aussagen der Angeklagten in dialogischer Form entstehen, also keine geschlossene Erzählung wie im Falle der vorprozessualen Schreiben und Gnadengesuche vorliegt, werden im Dialog jeweils unterschiedliche Stationen beleuchtet. Die Folge ist eine fragmentarische Erzählung. Für die Aussagenden ist dies herausfordernd, da es gilt, sich trotz des Prozessfortgangs nicht in Widersprüche zu verstricken. Genau diese Herausforderungen will sich das Verfahren des Kreuzverhörs zunutze machen, um möglichst an die Fakten zu gelangen. Vonseiten der AdressatInnen wiederum liegt genau darin der potentielle Erkenntnisgewinn, denn Brüche, Inkohärenzen und Widersprüche bergen wichtige Hinweise in sich.
10 11
A. v. Arnauld, Recht, S. 178. Arnulf Deppermann, Gabriele Lucius-Hoene, Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Opladen 2002, S. 21.
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3.1.2
Warum Selbsterzählung?
Gerade die Erzähltheorie erlaubt es, das Dargestellte jenseits des ›Was‹ des Erzählten zu untersuchen und so die Selbsterzählung selbst sowie die ihr inhärente Doppelbödigkeit zu eruieren. Der zweite Boden führt auf die Tatsache zurück, dass die Angeklagten ihre Identität, weltanschauliche sowie kulturelle Prägungen jenseits des vordergründigen Erzählten offenbaren.12 Die Auskunft über das Selbst gibt also auch Wissen jenseits des konkret formulierten Sachverhalts weiter. Die unterschiedlichen Selbstbilder werden mittels eines vom Angeklagten erzählten Tathergangs erzeugt. Durch verschiedene Nachfragen, Gegendarstellungen von ZeugInnen sowie andere Beweismittel bleiben diese Bilder jedoch nicht unwidersprochen. Der Begriff der Selbsterzählung bietet im Gegensatz zum autobiografischen Erzählen nicht nur ein weniger ausdifferenziertes und normativ vorgeprägtes Forschungsfeld, er berücksichtigt auch wesentlich stärker die Entstehungskontexte der Erzählung. Diese beeinflussen implizit und explizit das Erzählen und die Darstellung der (Lebens-)Ereignisse. Dies gilt ganz besonders im Falle von Gerichtsverfahren, in denen das Erzählen ein entscheidendes Mittel der Tat- und vor allem der Selbstdarstellung ist. Darüber hinaus berücksichtigt das Konzept der Selbsterzählung, dass nicht eine umfassende Lebensbiografie vor Gericht dargestellt wird. So versteht sich eine Selbsterzählung als: »[H]äufig anekdotenhafte, situationsabhängig unterschiedlich gehandhabte, aber jedenfalls in alltägliche Kommunikationskontexte bewusst eingebundene ›Selbstverstrickung‹ einer Erzählperson in ihre Erzählung [. Sie erfüllt] im Alltag wichtige Funktionen. […] Weil die Präsentation der Erzählinhalte von den lebensweltlichen Orientierungen des Erzählers geprägt ist, offenbaren sich in solchen Erzählungen ferner Einstellungen und Überzeugungen der Erzählperson.«13 Die kleine Form, die Prägung durch den Kontext und ihre Funktion innerhalb der Erzählzusammenhänge sind Komponenten, die die obige Definition von Selbsterzählung und die Aussagen der Angeklagten vor Gericht gemeinsam haben, gleichwohl die Zusammenhänge bei Letzteren keine alltäglichen sind. Der Aspekt der »bewussten […] Selbstverstrickung« hingegen muss differenzierter betrachtet werden. In bestimmten Fällen kann es für die Angeklagten von Vorteil sein, sich selbst in der Handlungsgegenwart zu verorten, andererseits wird oftmals die Nicht-Anwesenheit, fehlendes Erinnerungsvermögen oder eine komplett andere Tätigkeit als vom Gericht angeführt von den angeklagten Männern und Frauen
12 13
Elana Gomel, Bloodscripts. Writing the Violent Subject, Columbus 2003, S. 15. Thorsten Benkel, Authentische Erfindungen. Selbstdarstellungsstrategien in Erzählkontexten des sozialen Alltags, in: Antonius Weixler (Hg.), Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption (Narratologia, Bd. 33), Berlin, Boston 2012, S. 95-118, S. 97.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
vorgebracht. Indem sie so die gedankliche Landkarte (cognitive map – später wird darauf noch genauer eingegangen) (um-)bestimmen, versuchen sie gerade diese Selberverortung zu umgehen bzw. der der AdressatInnen entgegenzuwirken. In jedem Fall – und dies erfolgt sowohl bewusst und vor allem aber auch unbewusst – werden die Angeklagten durch ihr Erzählen über sich selbst und ihre Positionierungen in ihrem Verhalten und in ihrem Wesen erkennbar. Mit dem Blick auf die Selbsterzählungen wird es möglich, die Angeklagten über ihre bloße erzählerische Strategie hinaus zu greifen. Beim ersten Hinsehen würde man eher vermuten, dass eine »Selbsterzählung« im Sinne eines autobiografisch geprägten Erzählens sich in vor- und nachprozessualen Aussagen findet. Diese Annahme ist in keinem Fall falsch. Doch in der vorliegenden Analyse soll herausgearbeitet werden, dass ebenso in der Gesamtheit der protokollierten Aussagen eines Angeklagten eine (fragmentarische) Selbsterzählung vorliegt. Darüber hinaus können die vorprozessualen Schreiben und die Gnadengesuche zwar als Selbsterzählungen gewertet werden, aber der Erkenntnisgewinn mit Fragen nach dem unzuverlässigen sowie performativen Erzählen ist nicht nur höher, sondern auch exklusiver. Beide Quellenformen sind in sich geschlossene Darstellungen, die nicht durch eine Gesprächssituation geprägt sind. Die sprachlichen Handlungen in den Hauptverhandlungen sind zwar auch performative, doch um sie analytisch greifen zu können, reichen sprechakttheoretische Überlegungen nicht aus. In den Aussagen im Laufe der Hauptverhandlungen finden sich nur sehr selten Sequenzen, die ein Erzählen im engen definitorischen Sinne aufweisen. Die Summe der Äußerungen hingegen ist eine Selbsterzählung, die für den Moment der Gerichtsverhandlung konstruiert wurde. Das Erzählen und die Selbstdarstellungen finden aufgrund der dialogischen Form vor Gericht wesentlich subtiler statt, als das in den hier untersuchten vorprozessualen Schreiben und den Gnadengesuchen der Fall ist. Betrachtet man die Aussagen der Angeklagten als eine Form der Selbstdarstellung, so wird die Notwendigkeit dieser Vorgehensweise besonders deutlich. Zwischen den unterschiedlichen biografischen Momenten müssen Kausalitäten erzeugt werden. Nur so gelingt eine kohärente Selbsterzählung vor Gericht. Solche kausalen Verknüpfungen werden durch Diskursmarker wie die subordinierenden Adverbien ›weil‹ oder ›obwohl‹ angezeigt.14 Formulierungen wie ›ich denke‹, ›ich dachte‹, ›ich weiß nicht‹ bzw. die Verwendung von Verben wie eben ›denken‹ und ›wissen‹ sollen hier in ihrem semantischen Zusammenhang mit der
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Hardarik Blühdorn, Ad Foolen, Óscar Louredar, Diskursmarker. Begriffsgeschichte – Theorie – Beschreibung. Ein bibliographischer Überblick, in: Hardarik Blühdorn, Arnulf Deppermann, Henrike Helmer, Thomas Spranz-Fogasy (Hg.), Diskursmarker im Deutschen. Reflexionen und Analysen, Göttingen 2017, S. 7-48, S. 19.
133
134
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Berücksichtigung der Sprecherintention und gleichzeitig mit der Aufmerksamkeit auf die mögliche Zuhörerwirkung berücksichtigt werden.15
3.2
Wiedererzählen im Kreuzverhör
Die bereits erwähnte dialogische Form der Hauptverhandlung verlangt von den angeklagten Frauen und Männern immer wieder, ihre Aussagen auf weitere Fragen und Eingaben hin zu überdenken, zu revidieren oder auch zu verwerfen. In besonderer Weise ist dies in den Kreuzverhören im anglo-amerikanischen Raum der Fall. Aber nicht nur dort findet sich das Phänomen des Wiedererzählens.
3.2.1
Sich wiedererzählend erinnern
Verbunden mit dem Konzept des Wiedererzählens ist zunächst das Sich-Erinnern an ein oder mehrere vergangene Ereignisse, die aus unterschiedlichen Anlässen neu bzw. anders erzählt werden. Entscheidend ist dann, welche Aspekte sich verändern und welche nicht. An verschiedenen Stellen eines Strafprozesses findet sich das Phänomen des Wiedererzählens; sei es, dass die verschiedenen Prozessbeteiligten die Vorgänge aus ihrer Sicht (wieder-)erzählen oder ein- und dieselbe Person im Verlauf des Verfahrens auf dasselbe Ereignis eingeht. Im Falle des Strafverfahrens »versteht sich unter einer wiedererzählten Geschichte eine, die von der Protagonistin noch einmal erzählt wird, obwohl sie dem RezipientInnenkreis schon bekannt ist oder sein müsste.«16 Generell soll sich hier die Analyse des Wiedererzählens, gemäß dem Schwerpunkt der gesamten Arbeit, primär auf die Variationen durch die Angeklagten fokussieren, nicht aber so sehr auf die Reaktionen der anderen Prozessbeteiligten. Gleichwohl kann die Reaktion der anderen wiederum die Motivation zu einer erneuten, variierenden Darstellung veranlassen. Da hier nicht nur Verfahren nach der deutschen bzw. österreichischen Strafprozessordung untersucht werden, sondern ebenso der Dachauer Hauptprozess, ein amerikanisches Militärgericht, findet sich durch die Möglichkeit des Kreuzverhörs eine besondere Form des Wiedererzählens in den behandelten Texten. Martin Weiß, ehemaliger Lagerkommandant von Dachau, äußert sich auf die Frage der Verteidigung nach
15
16
Arnulf Deppermann, Nadine Proske, Arne Zeschel (Hg.), Verben im interaktiven Kontext. Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch (Studien zur deutschen Sprache, Bd. 74), Tübingen 2017. Kati Hannken-Illjes, »Es geht darum, was sie hier sagen«. Wiedererzählen im Straffall, in: Elke Schumann, Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder (Hg.), Wiedererzählen. Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis (Edition Kulturwissenschaft, Bd. 50), Bielefeld 2015, S. 295-316, S. 300.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Transporten von Häftlingen in die Euthanasieanstalt Schloss Hartheim, wo diese ermordet wurden, wie folgt: »When I came to Dachau, I knew nothing of these invalid transports. In the beginning of October I was on a business trip, when I returned, my physician at that time told me that an invalid transport had left. [Frage der Verteidigung:] Did you as commanding officer have anything to do with invalid transports that left Dachau? [Antwort Weiß:] No, as a matter of fact, my physician Dr. Walter told me these people had been selected by an assistant of Dr. Walter and a commission. [Frage der Verteidigung:] During the balance of your administration from October, 1942, to November 1943, did any other invalid transports leave Dachau? [Antwort Weiß:] No, in connection with a discussion in Berlin on the 20th of November I pointed out that we need not send any transports of ill people if we had to take ill people again. Invalid transportation did not take place anymore.«17 Das erneute Verhör durch die Verteidigung (re-cross examination) nutzt Martin Weiß dann, um seine Aussage über die betreffenden Transporte zu präzisieren und wehrt sich gegen das angebliche Gerücht der (ehemaligen) Häftlinge, es hätte sich um Todestransporte gehandelt. »No, during the year 1943 no invalid transport what so ever left Dachau. There seems to be a mistaken idea among all prisoners who appeared here before this court that any transport which left for filling up the work camp, or which left in orders of Oranienburg, which were transferred to other camps for work – that they were looked upon as a so-called liquidation transport. It is a fact that smaller and bigger transports went to Augsburg, Haunstetten, Kempten, Koetteren, Allach, and different by-camps; that these camps were filled out of the people of the concentration camp at Dachau. And that supplementation was done by prisoners that were sent to Dachau by invalid transports from other camps, after they were nursed to health in Dachau.«18 Weil sich einerseits die Angeklagten bereits vor dem Beginn der Hauptverhandlung zu den Tatvorwürfen geäußert haben, aber im Falle des Kreuzverhörs ebenso innerhalb des Prozessgeschehens Stellungnahmen der Angeklagten zu bestimmten Vorwürfen wiederholt eingefordert werden können, findet sich auch das Phänomen des Wiedererzählens in den Selbsterzählungen vor Gericht. Genau dies beabsichtigt die Methode des Kreuzverhörs, da durch das Wiedererzählen
17 18
Direct examination von Martin Weiß, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/3. Re-Cross examination von Martin Weiß, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/3.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
»neuen Versionen andere Perspektivierungen gewählt und neue Akzente gesetzt werden können. Dies betrifft sowohl strukturelle Aspekte wie Kondensierungen und Detaillierungen als auch Formen thematischer Relevanzsetzung, Positionierungen von Personen usw. Auf diese Weise können Wiedererzählungen Selbstdarstellungen und Beziehungsmuster neu verhandelt werden, selbstwertbedrohliche Erfahrungen entschärft, emotional problematische Inhalte uminterpretiert und in einen neuen Zusammenhang gestellt werden – im Sinne einer besseren Anpassung an aktuelle Erfordernisse […].«19 Genau diese Schritte – Entschärfung, Uminterpretation und neue Kontextualisierung – nimmt Weiß in seiner zweiten Aussage zu den Häftlingstransporten nach Hartheim vor. Er stellt aus seiner Sicht die angeblich falschen Mutmaßungen der Häftlinge richtig und gibt neue Informationen, die seine Darstellung stützen: Es habe sich nicht um Liquidierungstransporte, sondern um Transporte in Dachauer Außenlager gehandelt. Durch diesen neuen Kontext ist es dann auch nicht mehr relevant, ob Weiß von diesen Transporten gewusst oder sie sogar veranlasst hat, weil es sich ›lediglich‹ um Verlegungen von Häftlingen in andere Teile des Lagerkomplexes Dachau gehandelt habe. Die amerikanische Strafprozessordnung greift die Möglichkeit des Wiedererzählens in besonderer Weise durch die Möglichkeit eines Kreuzverhörs auf. Ob die Anpassung durch das Wiedererzählen die Erfordernisse tatsächlich besser erfüllen kann, hängt von der Blickrichtung ab. Im Unterschied zur Alltagserzählung, in der die sprechende Person das Wiedererzählen vor allem zugunsten der eigenen Darstellung nutzt, soll es im Falle des Kreuzverhörs der Sache, also der Wahrheitsfindung vor Gericht dienen. Im oben zitierten Fall gelingt es aber Weiß, die Ereignisse in einer für ihn günstigeren Weise darzustellen. Um solche Fälle möglichst gering zu halten, setzt sich das Kreuzverhör zum Ziel, die Antworten möglichst klar und kurz zu halten. Die Angeklagten sollen sich so durch ihre Aussagen festlegen. Die institutionellen Rahmenbedingungen sollen verhindern, dass erneut ein- und dieselbe Geschichte erzählt wird. Abgesehen davon stellt sich generell die Frage, ob dies im Mündlichen überhaupt möglich wäre.20
19
20
Elke Schumann, Gabriele Lucius-Hoene, Wiedererzählen als Möglichkeit, anders zu erzählen? Die wiederholte Rekonstruktion einer belastenden Kindheitsepisode: Eine vergleichende Analyse, in: Carl Eduard Scheidt, Gabriele Lucius-Hoene, Anja Stukenbrock, Elisabeth Waller (Hg.), Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust, Stuttgart 2015, S. 94-108, S. 95. Elke Schumann, Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder, Wiedererzählen. Eine Einleitung, in: E. Schumann, E. Gülich, G. Lucius-Hoene, S. Pfänder (Hg.), Wiedererzählen, S. 9-30, S. 11.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
3.2.2
Wiedererzählen als Beleg
Der entscheidende Punkt für die zugrundeliegende Fragestellung sind die drei unterschiedlichen Aussagemodi, die hinter dem Wiedererzählen stehen:21 Das gleiche Ereignis kann mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden, unterschiedliche Ereignisse mit der gleichen Bedeutung und ähnliche Ereignisse unter einen thematischen Schwerpunkt subsumiert werden. Die Wiedererzählung wird so zu einer »Belegerzählung«22 , mit der die Angeklagten argumentieren und sich rechtfertigen. Genau dies vollzieht Martin Weiß. Motivation für all diese Variationen ist stets das Narrativ, das durch die (fragmentarische) Selbsterzählung gebildet werden soll. In ihrer erzählerischen Reaktion ist es ihnen möglich, auf die erneuten Nachfragen und die zuvor dargelegten Kausalitäten variierend einzugehen. Sie können so Widersprüche zugunsten einer plausiblen und kohärenten Selbsterzählung glätten. Für die Angeklagten ist das Wiedererzählen somit Chance und Herausforderung gleichermaßen. Mit Blick auf das hier verfolgte Erkenntnisinteresse sind gerade die Punkte von »identitätskonstruierenden Prozessen [,] zur Bestätigung bereits vorgenommener Positionierungsakte [und] Neupositionierung[en]«, die eine Wiederzählung deutlich machen, wichtig.23 Die Gerichtsprotokolle von Verfahren aus dem Bereich der Übergangsjustiz geben Antworten auf die Frage nach der erzählerischen Brücke zwischen den sich grundlegend unterscheidenden, ja widersprüchlichen normativen sowie moralischen Systemen. Verwendet man also die Gerichtsprotokolle als zeithistorische Quellen, beachtet ihren erzählerischen Wert, insbesondere den des Wiedererzählens, werden die Angeklagten als Personen in ihrer weltanschaulichen Verortung und Positionierung greifbarer. Das Kreuzverhör kann also verstärkt Widersprüche und mögliche neu aufgeworfene Fragen greifen. Dies zeigt auch die in Teilen analysierte Hauptverhandlung des amerikanischen Militärgerichts in Dachau. Darüber hinaus soll es erneut die Antwort der Angeklagten auf ein Minimum reduzieren, idealerweise auf ein »Ja« oder »Nein«. Gleichzeitig kann hierdurch aber auch die Möglichkeit genutzt werden, ein Gegennarrativ zu entwerfen, indem das zuvor Ausgesagte als nicht richtig aufgedeckt wird. Die Angeklagten müssen also ihre Selbsterzählung immer wieder neu überdenken und nachbessern, um den dialogischen und inhalt-
21
22
23
»1. Same Event – Different Points [,] 2. Different Events – Same Point [,] 3. Similar Events – Same Theme«, Kathleen W. Ferrara, Therapeutic ways with words (Oxford Studies in Sociolinguistics), New York, Oxford 1994, S. 55. Carl Eduard Scheidt, Gabriele Lucius-Hoene, Die Wiedererzählung prototypischer Beziehungserfahrungen in der Psychotherapie, in: E. Schumann, E. Gülich, G. Lucius-Hoene, S. Pfänder (Hg.), Wiedererzählen, S. 227-242, S. 237. E. Schumann, G. Lucius-Hoene, Wiedererzählen als Möglichkeit, anders zu erzählen, S. 95.
137
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
lichen Anforderungen des gerichtlichen Gesprächs entsprechen zu können.24 Jedoch können sich diese Aspekte auch zum Vorteil der Angeklagten auswirken. Das Wiedererzählen ist für die in einer Hauptverhandlung aufgekommene Selbsterzählung somit ein wichtiger konstituierender Faktor, der sich in erster Linie, aufgrund der entsprechenden Prozessordnung, im Falle des amerikanischen Militärgerichts zeigt.
3.3
Narrative Identität
Im Wiedererzählen und darüber hinaus konstituiert sich in den Aussagen narrative Identität. Letztlich wird sie in der Verhandlung vor Gericht von den Angeklagten von den AdressatInnen eingefordert. Hierdurch soll die Handlungsmotivation geklärt werden, aber auch die Kausalitäten, die zur Schaffung erzählerischer Zusammenhänge notwendig sind, ermöglichen es den Angeklagten, ihre Sicht zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart kenntlich zu machen. In gewisser Weise ist die Darstellung einer narrativen Identität ebenfalls eine Voraussetzung für eine gelungene Gerichtsrede, vorausgesetzt, diese lässt sich positiv in das Urteil des Richters einfügen. Die narrative Identität der erzählenden Personen wird vor allem durch die geforderte Positionierung der Angeklagten konstituiert. Dies ist dann der Fall, wenn die Angeklagten über singuläre Phänomene berichten, nicht aber, wenn es sich um sich wiederholende Ereignisse und Vorgänge handelt.
3.3.1
Wie narrative Identität in der Hauptverhandlung entsteht
Die Konstruktion der Identität geschieht im Moment der kommunikativen Interaktion. Die konstruierte Identität besitzt nur in diesem interaktiven Moment Gültigkeit. Die hier gebildete (narrative) Identität eignet sich nicht für eine faktische Auswertung, die eine Rekonstruktion der Vergangenheit oder des biografischen Lebensweges per se erlaubt. Die Frage nach narrativer Identität zeigt gleichzeitig Möglichkeit und Grenzen dieses Blickwinkels auf. Einerseits müssen sich die Aussagen über die Identitätsrekonstruktion auf den Moment ihres Erzeugens beschränken, es können also nur bedingt generalisierende Aussagenüber Sein und Wesen der Aussagenden getroffen werden. Andererseits liegt die Stärke in der klaren Gewichtung auf das Subjekt und dessen Konstruktion von Identität. Das ist im
24
Marco Jaquemet, Credibility in court. Communicative practices in the Camorra trials (Studies in Interactional Sociolinguistics), Cambridge 1993, S. 159.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Falle der NSG-Verfahren wichtig, weil die Täterforschung stets von den Gegebenheiten ihrer zeitlichen Umstände beeinflusst ist (vgl. Einleitung).25 Da die Selbsterzählung ein interaktiver Akt ist, also immer auch eine Reaktion auf das Verhalten und die Fragen der AdressatInnen darstellt, beeinflussen die gewählten Stationen und Ereignisse die Herausbildung der Identität, da die Selbsterzählung die für das Gericht identitätsrelevanten von den nicht-relevanten unterscheidet. Dieser Aspekt wiederum steht in Zusammenhang mit mentalen Erzählskripten (mental models). Narrativität wird als identitätskonstruierend bestimmt, weil Erzählen ein »wirklichkeitskonstruktives und sinnstiftendes sprachliches Handeln«26 ist. Dass gerade die Selbsterzählung vor Gericht sich dazu eignet, die Frage nach der narrativen Identität zu stellen, liegt an der gemeinsamen Anforderung an die Vermittlung von (Lebens-)Ereignissen – Kontinuität und Kohärenz.27 Gerade mit der Frage nach dem erzählerischen Brückenschlag zwischen den beiden grundverschiedenen, gegensätzlichen und in Konflikt stehenden moralischen sowie normativen Systemen von NS-Staat und Nachkriegsordnung stellen sich Identitätsfragen in besonders dringlicher Art und Weise. Das Erzählen von Selbsterlebtem ist somit sowohl Selbstdarstellung als auch interaktionell mitbestimmte und emergente Selbstherstellung, mit dem das aktuell erzählende Ich ›Identitätsarbeit in Aktion‹ betreibt und für sich selbst einen bestimmten Geltungsrahmen und soziale Konsequenzen beansprucht.28
3.3.2
Erzählerische Positionierung
Darüber hinaus ist der Aspekt der Interaktion, normiert durch die jeweilige Strafprozessordnung, entscheidend, da die narrative Identität und in der Folge die Selbsterzählung einer gemeinsamen Autorschaft von Erzählenden und AdressatInnen unterliegt. Dies hängt auch mit der zugrundeliegenden Positionierungsarbeit der Gesprächsbeteiligten zusammen. Die erzählerische Positionierung ist vor allem in solchen institutionell aufgeladenen Erzählräumen wie dem einer gerichtlichen Hauptverhandlung zum Tatkomplex nationalsozialistischer Gewaltverbrechen ein erzählerisches Mittel, das einen »Bedeutungsüberschuss«29 produziert. Negativ formuliert handelt es sich bei diesem rhetorischen Akt der
25
26 27 28 29
Birgit Griese, Zwei Generationen erzählen. Narrative Identität in autobiographischen Erzählungen Russlanddeutscher (Biographie und Lebensweltforschung, Bd. 5), Frankfurt a.M. und New York 2006, S. 20-21. Arnulf Deppermann, Gabriele Lucius-Hoene, Narrative Identität und Positionierung, in: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 5, 1 (2004), S. 166-183, S. 167. Ebd. Ebd., S. 172. Elisabeth Zschache, Narrative Identität. Zur intersubjektiven Dimension narrativer Identitätskonstitution, Berlin 2015, S. 15.
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140
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Selbsterzählung vor Gericht um einen gescheiterten Versuch, Identität und die Abgrenzung von identitäts-konstruierenden Phänomenen vorzunehmen.30 Der Bedeutungsüberschuss bzw. der gescheiterte Versuch, Identität und das Andere den AdressatInnen zu vermitteln, soll in den späteren Analysen der Aussagen der Angeklagten in den Prozessen eruiert werden. Der zur Verhandlung stehende Konflikt wurde vom erzählten Ich verursacht. Die (damalige) Identität, gemeint ist die eigene soziale und berufliche Rolle, aber auch die Frage nach der weltanschaulichen Verortung muss von den Angeklagten als erzählenden Personen geklärt werden. Nur so kann das Gericht entscheiden, ob und wie weit die Angeklagten für den ihnen vorgeworfenen Tatkomplex verantwortlich waren. Da es sich bei den hier untersuchten frühen NSG-Verfahren um juristische Prozesse handelt, die zum Zeitpunkt einer staatlichen Umbruchund Übergangsphase stattfinden – eine Transgression von der nationalsozialistischen Diktatur zur demokratischen Ordnung (West-)Deutschlands – müssen die Angeklagten sich auch in der Erzählgegenwart positionieren. Soll eine schlüssige Kausalität entstehen, sind sie gefordert, die moralische Lücke zwischen diesen beiden Systemen zu schließen und sich selbst außerhalb dieses Konflikts zu stellen. Hier werden sich vor allem Unterschiede aufgrund des Dienstranges, des Zeitpunkts des Diensteinsatzes in einem Konzentrationslager und natürlich eine entscheidende Verschiedenheit zu den Funktionshäftlingen zeigen. Unterschiede zwischen Selbsterzählungen von angeklagten Frauen und Männern, also auf der Grundlage des Geschlechts, zeigen sich ausschließlich auf der pragmatischen Ebene. Frauen können aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen SS-Gefolge auf der Basis der Dienstverpflichtung argumentieren. Da die Zugehörigkeit zur SS aber Männern vorbehalten war, können nur diese auf der Basis des Befehlsnotstands argumentieren. Allerdings ähneln sich diese Argumentationsmuster stark. Letztlich ist die Darstellung der eigenen Person in der Vergangenheit stets geprägt von den Vorstellungen und Einstellungen der gegenwärtig Erzählenden.31
3.3.3
Erinnerte Position
Die Personen bzw. die Aussagenden folgen in ihrer Selbsterzählung einerseits ihren (auto-)biografischen Daten, andererseits passen sie diese Daten den Normen und Erfordernissen für diese Erzählung im Rahmen eines juristischen Strafverfahrens an. Noch dazu verzerren die Angeklagten die Selbsterzählung durch die 30
31
»[E]very writing [, story-telling] embodies a failed attempt at reconciling identity and difference, unity and diversity and self and other.« Michel Rosenfeld, Deconstruction and Legal Interpretation: Conflict, Indeterminacy and the Temptations of the New Legal Formalism, in: Durcilla Cornell, Michel Rosenfeld, David Gray (Hg.), Deconstruction and the Possibility of Justice, New York, London 1992, S. 152-210, S. 153. A. Deppermann, G. Lucius-Hoene, Narrative Identität und Positionierung, S. 176.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Rekonstruktion der Ereignisse. Sie erzählen im wahrsten Sinne des Wortes eine Geschichte bzw. leisten durch ihre Aussage (ungewollt) einen Beitrag zur Konzentrationslagergeschichte. Dieses Erinnern unterliegt bereits aus rein neurologischen Gründen einer Unzuverlässigkeit und die Erzählsituation vor Gericht motiviert diese in einer besonderen Weise (vgl. Kapitel 2).32 Neben diesem reflektierenden und instrumentalisierenden Moment des erinnerten Ereignisses ist die Subjektivität bezogen auf die Vergangenheit ein weiterer verfälschender Aspekt. Dieser Umstand lässt sich schlicht nicht vermeiden, weshalb neben den Zeugenaussagen und den Aussagen der Angeklagten auch andere Beweismittel zum Tragen kommen sollten.33 Gerade aber die frühen NSG-Verfahren zu Verbrechen in Konzentrationslagern waren gezwungen, sich primär auf (mündliche Zeugen-)Aussagen zu stützen.34 Da der Angeklagte anstrebt, sich durch seine Aussage zu entlasten, bildet dies den Rahmen, in dem er oder sie über das Vergangene berichtet. Mehr oder weniger bewusst geht er hierbei auf die Erwartungen der AdressatInnen ein, denn »[w]er sich eine vergangene Situation vergegenwärtigen soll, muß bereits über ein Ensemble möglicher Vorstellungen verfügen, aus dem sich dann das erwartete fest umrissene, individuelle und konkrete Signifikat formen kann.«35 Der Zweck dieser Erzählung ist damit eindeutig und klar. Der Angeklagte konstruiert eine Wirklichkeit, die sein Verhalten rechtfertigt, die eigene Sicht darauf positiv befördert und ihn oder sie vor Gericht entlastet, denn »Vergangenheit stellt sich stets im Spiegel der subjektiven Betrachtung dar.«36 Die vergangenen Ereignisse erschließen sich nicht derart geordnet und linear, wie es in den meisten autobiografischen Texten den Anschein macht. Diesen Anpassungen gilt es, mit der erzähltheoretischen Methode zu begegnen. Deshalb muss die Dimension von Zeit und ihre Narration beachtet werden. Die zeitliche Differenz vom Erzählen der Ereignisse und dem tatsächlichen Geschehen der Vorkommnisse führt ebenfalls zu ›Unregelmäßigkeiten‹. Der erinnernde Moment verfälscht – bewusst und unbewusst. Darüber hinausgehend erfordert die Darstellung des eigenen Subjekts in den zur (gerichtlichen) Verhandlung stehenden Ereignissen von den Aussagenden, sich selbst in diesen und bei diesen Ereignissen zu verorten oder, narratologisch gesprochen, eine erzählerische (Selbst-)Positionierung durchzuführen. Das Ziel einer möglichst kohärenten und plausiblen Selbstinszenierung als unschuldig ist aber beiden gemein.
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»Unser Gehirn setzt Informationsstücke so zusammen, dass sie für uns sinnvoll werden und sich daher wie echte Erinnerungen anfühlen. Das ist keine bewusste Entscheidung seitens der Person, die sich erinnert, sondern passiert automatisch.« Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht, München 2016, S. 19. A. v. Arnauld, Recht, S. 178. B. Rigele, Verhaftet. Verurteilt. Davongekommen, S. 9. T.M. Seibert, Zeichen, Prozesse, S. 114. T. Benkel, Authentische Erfindungen, S. 115.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
3.4
Erzählen als argumentativer Akt
Die Methodik zur Analyse der protokollierten Aussagen in den Hauptverhandlungen des amerikanischen Militärgerichts von Dachau und der österreichischen Volksgerichte zu Verbrechen im Konzentrationslager Mauthausen entleiht sich ihre Überlegungen und Vorgehensweisen u.a. bei der linguistischen Gesprächsanalyse bzw. Konversationsanalyse, wie sie für die Untersuchung von Alltagserzählungen verwendet wird und sich so der Diskursforschung anschließt. Die vorher verwendeten Fachtermini wie ›narrative Identität‹ sowie ›Erzählen‹ und ›Emotionen‹ lassen die Reichweite dieser Methode erkennen. Die Erzählung vor Gericht und die Aussagen der Angeklagten im Ganzen dienen als Argumentation für einen Widerspruch des in der Anklage formulierten Tatbestands. »In diesem Sinne ist die Narration Teil der argumentativen Strategie […]. Die Bindung an die Argumentation ist bestimmend für das Erzählen im Strafrecht […].«37 Aus diesem Grund finden sich argumentative Aktivitäten wie Begründen und Einwenden oder derartige Schlussmuster werden angewandt, die logisch rekonstruiert werden können.38 Zugespitzt formuliert stellt die Erzählung vor Gericht einen argumentativen Akt dar. Dieser ist vor allem von einer Selbstdarstellung des Angeklagten geprägt, denn mit einer Erzählung als Argument können die Angeklagten sich wesentlich überzeugender rechtfertigen: »[durch] Redewiedergabe, historisches Präsens, deiktische Aktualisierungen und andere Verfahren des Involvements des Zuhörers und durch die in der Epistemologie unserer Kultur tief verwurzelten Privilegien von Augenzeugenschaft, persönlicher Betroffenheit und unmittelbarem subjektiven Erleben ist Erzählen ein besonders geeignetes rhetorisches Verfahren, um Thesen, die man vertritt, glaubwürdig erscheinen zu lassen. […] Erzählen eine Form emphatischen Sprechens, das dem Zuhörer die Ablehnung erschwert, da mit der Ablehnung nicht nur eine Sachverhaltsdarstellung, sondern auch eine Selbst- und Gefühlsdarstellung zurückgewiesen werden würde.«39 Diese Selbstdarstellung findet also erzählend statt und wird folgerichtig als ›Selbsterzählung‹ bezeichnet. Die »Herstellung von Kohäsion/Kohärenz [also die Anordnung der] Ereignisse in eine sequenzielle sprachliche Abfolge«40 ist das Hauptziel. Aufschlussreich ist die Eruierung von argumentativen Schritten, da der Anlass 37 38 39
40
Kati Hannken-Illjes, Geschichte und Gegengeschichten – Erzählen im Strafrecht, in: Matthias Aumüller (Hg.), Narrativität als Begriff, Berlin 2012, S. 281-297, S. 283-284. A. Deppermann, Desiderata einer gesprächsanalytischen Argumentationsforschung, S. 19. Arnulf Deppermann, Gabriele Lucius-Hoene, Argumentatives Erzählen, in: Arnulf Deppermann, Martin Hartung (Hg.), Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien, Tübingen 20062 , S. 130-144, S. 132. H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 76.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
für die Erzählung stets ein »Handlungsproblem [und] daher seiner allgemeinsten Form nach als Problemlösungsverfahren zu charakterisieren [ist].«41 Im Falle einer Gerichtsverhandlung sind es natürlich die Reaktionen aller Teilnehmenden auf die Äußerungen der jeweils anderen, die den Fortgang und die Wahl der Schritte mitbestimmen. Im dialogischen Vorgehen sollen die offenen Fragen zur Klärung von Schuld bzw. Unschuld beantwortet werden. Ähnlich wie beim unzuverlässigen Erzählen muss einem guten Argument, das sich bei der AdressatIn durchsetzen konnte, trotz allem eine gewisse Skepsis entgegengebracht werden. Die bloße Tatsache, dass ein Argument vom Gegenüber angenommen wurde, bedeutet nicht zwingendermaßen, dass dieses auch einen Wahrheitsanspruch für sich reklamieren kann. Hierin verbirgt sich die rhetorische Komponente, die dem Argumentieren innewohnt. Dabei geht man davon aus, dass die Argumentation auf »wahrscheinlichen Annahmen, nicht auf wahren Sätzen beruht.«42 Gerade die Erzählung als argumentative Strategie besitzt deshalb einen hohen Erfolg für die Erzählende, da durch »emotionale und evaluative Qualifizierungen […] Lebendigkeit und psychologische Nähe des Geschehens [sowie] durch […] narrative Präsentation von Ereignissen ein Zugang zum Erzählten«43 überhaupt erst möglich wird. Dies findet sich durch die Herausarbeitung von »evaluative[n] Äußerungen [in] der Bandbreite von subtilen Andeutungen bis hin zu eindeutigen Stellungnahmen«44 . Gelingt es dem Angeklagten trotz aller prozessualen Gegenmaßnahmen, seine Sicht und seine Position nicht nur zu erklären, sondern vielmehr zu erzählen, werden die RezipientInnen möglicherweise emotional erreicht und die eigene Sicht auf die Vergangenheit kann so vermittelt werden. In der Folge bleibt es nicht nur bei einem bloßen Plädoyer auf nicht-schuldig oder schuldig, das die Angeklagten formulieren können. Sie können durchaus ein Schuldbewusstsein demonstrieren, da es möglich ist, es erzählerisch zu relativieren. Dies findet sich vor allem in der begrifflichen Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung wieder.45 Rechtfertigt sich der Angeklagte, gibt er durchaus zu, Missstände bzw. das eigene Fehlverhalten wahrgenommen zu haben, stellt aber seine Kausalität gegen die des Gerichts. Die Rechtfertigung ist nämlich keineswegs ein Schuldeingeständnis, sondern spielt die Frage nach der Schuld an die Fragenden zurück. Die Entschuldigung hingegen ist ein Schuldeingeständnis, dem jedoch eine Rechtfertigung folgen kann. 41 42 43 44 45
A. Deppermann, Desiderata einer gesprächsanalytischen Argumentationsforschung, S. 22. Kati Hannken-Illjes, Argumentation. Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation, Tübingen 2018, S. 75. H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 76. Ebd. J. Maxwell Atkinson, Paul Drew, Order in Court. The Organisation of Verbal Interaction in Judicial Settings (Oxford Socio-Legal Studies), London 1979, S. 140.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Da die protokollierten Aussagen ausgewählter Angeklagter des Dachauer Hauptprozesses sowie die protokollierten Hauptverhandlungen einzelner österreichischer Volksgerichtsverfahren danach untersucht werden, wie die Verdeutlichung der moralischen Lücke bzw. der moralische Brückenschlag zwischen Handlungs- und Erzählgegenwart den Angeklagten in ihren Aussagen gelingt oder missglückt, muss der analytische Blick zunächst auf das erzählerische Detail gerichtet werden. Nur so gelangt man über die erzählten Selbstbilder zur gesamten Selbsterzählung. Deshalb muss die »narrative Rationalität«46 untersucht werden. Dies beinhaltet die Frage nach den Wertvorstellungen. Wichtige Fragen für diesen Aspekt sind: Passen die Werte zum Grund der Erzählung, welche Konsequenzen bringen die Werte mit sich, sind die Wertvorstellungen personalisiert, also in Bezug zum Argumentierenden gesetzt und zuletzt, wie beeinflussen diese vermittelten Wertigkeiten die zwischenmenschliche Situation zwischen Argumentierendem und AdressatIn?47
3.5
Analysekriterien
Im Falle ihrer Aussagen in einer gerichtlichen Hauptverhandlung sind die Angeklagten in gewisser Weise dazu veranlasst, durch das Gespräch vor Gericht, in dem sie ihre Erzählungen und ihre Argumentation transportieren, zur Lösung eines bzw. ihres Problems beizutragen. Die Art und Weise der (fragmentarischen) Selbsterzählung ist also in erster Linie eine problemorientierte. Dementsprechend gilt es, einen Lösungsweg einzuschlagen, der für die Angeklagte selbst hilfreich ist
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K. Hannken-Illjes, Argumentation, S. 157. Walter R. Fisher nennt fünf Punkte, die eine logische Argumentation zu einer erfolgreichen machen: »First is the question of fact: What are the implicit and explicit values embedded in a message? Second is the question of relevance: Are the values appropriate to the nature of the decision that the message bears upon? […] Third is the question of consequence: What would be the effects of adhering to the values – for one’s concept of oneself, for one’s behaviour, for one’s relationships with others and society, and to the process of rhetorical transaction? […] Fourth is the question of consistency: Are the values confirmed or validated in one’s personal experience, in the lives or statements of others whom one admires and respects, and in a conception of the best audience that one can conceive? […] Fifth is the question of transcendent issue: Even if a prima-facie case exists or a burden of proof has been established, are the values the message offers those that, in the estimation of the critic, constitute the ideal basis for human conduct?« Walter R. Fisher, Human Communication as Narration: Toward a Philosophy of Reason, Value, and Action (Studies in Rhetoric/Communication), Columbia 1987, S. 109.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
und gleichzeitig die AdressatInnen zufriedenstellt: einen erzählerischen Fahrplan, der die erhobenen Vorwürfe entkräften kann.48
3.5.1
Sprachliche Schemata
Die räumliche, emotionale und auch weltanschauliche Orientierung vermitteln die Erzählenden in ihren Aussagen den AdressatInnen durch sogenannte cognitive maps49 und mental models50 . Im Idealfall – aus der Sicht des Aussagenden– gelingt so eine RezipientInnenlenkung. Wie auch im Falle des unzuverlässigen Erzählens produzieren die Angeklagten diese sprachlichen Schemata aber nicht immer bewusst. Gerade der unprofessionell Erzählende wird in einem mündlichen Verfahren dazu verleitet, sich in einer ihm nicht unbedingt förderlichen Weise zu äußern.51 Aber gerade deshalb ist ein close-reading mit einem historiografischen Interesse wichtig, da in der Unprofessionalität des Gesagten ein möglicher Erkenntnisgewinn liegt. Gedankliche Landkarten (cognitive maps) Das Schema der gedanklichen Landkarte (cognitive map) ist nur auf den ersten Blick eine geografische Größe. Gleichwohl existiert ein solches Skript auch dann, wenn räumliche Gegebenheiten Thema sind. Sie sind also zu finden, wenn räumlichsituative Aspekte bestimmter Handlungen und Ereignisse in einer Erzählung thematisiert werden. Solch ein Skript als Grundlage für das Erzählen/Berichten/Argumentieren bzw. über vergangene Ereignisse hat den strategischen Vorteil, dass diese Erzählmuster die Erwartungen des Publikums aufgreifen und bedienen. Gleichzeitig offenbaren sie aber implizite, also eine nicht beabsichtigte Weitergabe von Informationen. Für die Angeklagten sind die Skripte somit zweischneidig. Einerseits müssen sie sich der Erzählmuster bedienen, um ihre Sicht der Dinge überhaupt narrativieren zu können, andererseits geben sie hierdurch Hintergründe ihres Erzählens preis, die sie aus strategischen Gründen eigentlich nicht erwähnen wollen.52
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49 50 51 52
»[R]oadmaps [:] topics are heuristic; they provide a roadmap, or starting point, for the discussion of problems and the resolution of difficulties. They are both a method of problem recognition and a means of problem solution.« J.M. Balkin, A Night in the Topics, S. 214. H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 58. Ebd. T.M. Seibert, Gerichtsrede, S. 185. »Scripts embody normal expectations and normal practice in a culture; they capture the normal ways in which people go about and are expected to go about their ordinary lives […]. Established scripts […] are the hidden cargo in narratives, often tacit rather than explicit, but always there. Their presence is a precondition for narratives, which earn their right to be told only because some script has been breached or threatened with violation. You do not tell
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Als Träger von »sinnliche[r] Evidenz und szenische[r] Präsenz«53 geben die gedanklichen Landkarten Aufschluss über die ErzählerInnen. Aber nicht nur der konkrete Ort, sondern die erzählerische Konstruktion von Raum sowie die Auswahl der beschriebenen Räume liefert die dahinterstehende mentale bzw. kognitive Information, die sich dann wiederum zu einer gedanklichen Landkarte formiert. Der Erkenntniswert liegt hinter dem eindeutig Bezeichneten. Hier verschränkt sich also die inhaltliche Ebene mit der erzählerischen Repräsentation. Gleichzeitig muss darüber nachgedacht werden, ob diese Räume in ihrer Gesamtheit ein Netzwerk bilden, das eine weltanschauliche Verortung der Erzählenden zulässt. Bereits die Auswahl der repräsentierten Räume kann hier wichtig sein. Im Falle der Gnadengesuche ist nicht mehr der Raum des Lagers, sondern der familiäre und der zeitliche Raum der Nachkriegszeit präsent. Grund hierfür ist, dass dieser zum Beurteilungsmaßstab über das Gnadengesuch erhoben werden soll. Im Falle der Äußerungen während einer Hauptverhandlung muss allerdings beachtet werden, dass die Angeklagten hierüber nicht nur selbst entscheiden können. Denn auch die Anklage versucht, durch ihre Nachfragen strategisch die schriftlich formulierten Vorwürfe, Anschuldigungen und Vorgänge durch das mündliche Verfahren zu bestätigen. Der juristischen Seite geht es also auch um eine Absicherung durch Mündlichkeit.54 Die Angeklagten sind also bis zu einem gewissen Grad der Prozessdynamik ausgeliefert. Wollen sie bzw. ihre Verteidigung dem etwas entgegensetzen, können sie Fragen und Stellungnahmen anderer Prozessbeteiligter nur bedingt unbeachtet lassen. Machen sie dies dennoch, entsteht eine inhaltliche Leerstelle, die wiederum eine Information zu dieser Landkarte ist. Insofern soll ein solcher Ort erzählerisch nicht geschaffen werden. Auch dies zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der Gnadengesuche. Der Ort des Verbrechens sowie das damalige Geschehen und damit der Grund für die Verurteilung werden gemieden, in ihrer Wichtigkeit relativiert und sollen vor allem nicht länger als Maßstab für Entscheidungen dienen. Hingegen soll der familiäre, finanzielle und gesundheitliche Raum als Orientierung für eine mögliche Begnadigung etabliert werden. Aber nicht erst nach dem Urteil, sondern bereits zum Zeitpunkt des Prozesses finden sich entsprechende Landkarten. Der ehemalige Lagerarzt Witteler entwirft eine solche gedankliche Landkarte im Laufe seiner Aussage während des Dachauer Hauptverfahrens. Er lokalisiert seine Aufgaben an den jeweiligen Lagerorten. »[Frage der Verteidigung:] And what were your duties here in Dachau as chief physician? [Antwort Witteler:] As chief physician of the concentration camp, my task was an
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about a visit to the restaurant unless something not in the script occurs.« Anthony G. Amsterdam, Jerome Bruner, Minding the Law, Cambridge, London 2000, S. 121. H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 58. T.M. Seibert, Gerichtsrede, S. 186.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
organizing task, which consisted of taking care of the prisoners medically, as well as the camp of Dachau and also the outside camps. Secondly, I was in charge of the hygienic circumstances in Dachau as well as the outside camps. Third, I was in charge of the kitchens and quarters again in Dachau and the outside camps. Fourth, I took preventive measures. […] Furthermore, I assigned prisoners physicians in the blocks in Dachau. In every block there was one prisoner doctor. In the outside camps of Dachau I, again, had one prisoner doctor and one male nurse in each hospital. I stopped the practice of getting prisoner doctors to do any other type of work. They were used chiefly as physicians. I arranged so that the physicians or the doctors that came in had to report to me immediately. […] I also took the preventive measures in the hospital. The hospital consisted of 9 barracks and during my time the barracks were not connected with each other. So it might happen that a patient might be taken out of the barrack No. 9 for operation and carried in the open 5 times, so you had to figure that there would be complications, because he was carried out in the open. Therefore, I proposed to the commandant, as well as to Berlin, to build a passageway. These proposals were refused at first but they were carried out in the end, presumably because of the danger of fire that the barracks would catch fire– a large passageway was built so the barracks would be connected – it was a large hallway – then until 1944 there were not bathing facilities in the hospital – no shower or bath – the patients beginning in 1933 were not able to bath in the hospital – that, naturally, being a hospital was an impossible situation – therefore, I suggested that a bath with showers would be installed – I was refused by the construction company in Dachau so I went to see Obergruppenführer Pohl in Berlin and the installation was approved. They had to build a separate bathing and showering facility, a separate heating installation and a bath itself later on consisted of 6 bathing and showering facilities, a separate heating installation and a bath itself later on consisted of 6 bathing tubes and 30 showers. In this manner, it is possible that all the patients in the hospital could bath twice a week, if it was organized. This installation was finished when I was transferred. Furthermore, I opened up an eye clinic. The room for that I took away from Dr. Schilling. With that I also got the possibility for operations. Up to this time, there was no hot water in the operating room for disinfection of the hands. I fixed up a hot water installation. Furthermore, I improved the massage station by installing steam heat and running water.«55
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Dr. Wilhelm Anton Witteler war von Januar bis August 1944 erster Lagerarzt im Konzentrationslager Dachau. Im Dachauer Hauptverfahren wurde er zunächst zum Tode verurteilt, dann begnadigt und schließlich 1954 frühzeitig entlassen. Direct examination, Dr. Wilhelm Anton Witteler, geb. 20.4.1909, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/3.
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Die medizinische Versorgung der Häftlinge des Hauptlagers und der Außenlager, die sanitären Anlagen und damit die Hygiene für den gesamten Lagerkomplex, die Lagerküche und präventive Maßnahmen gegen den möglichen Ausbruch von Epidemien spinnt er als sein Aufgabennetz, innerhalb dessen er agiert hatte. Es entsteht der Eindruck, Witteler sei überall im Lager präsent gewesen und hätte an allen möglichen Stellen nachjustiert, optimiert und damit die Lebenssituation der Häftlinge verbessert. Die erzählte Omnipräsenz seiner Person im Lager soll ihn als pflichtbewussten wie auch umsichtigen Arzt zeichnen. Für die später analysierten Protokolle stellt sich also u.a. konkret die Frage: Schafft es der Angeklagte Johann Kick, ehemaliger Leiter der Politischen Abteilung im Konzentrationslager Dachau, diesen Ort seines verbrecherischen Handelns zu umgehen bzw. wie verortet er sich darin? Schafft der Arzt Klaus Schilling es, den Ort seiner Verbrechen – die Krankenstation für seine Menschenversuche für die Suche nach einem Malaria-Impfstoff – erzählerisch zu vermeiden oder kann er diesen Ort seiner Verbrechen umcodieren? Wo und vor allem wie verorten sich diese beiden Angeklagten dann aber im Hauptprozess auf der gedanklichen Landkarte des Gerichts? Da im Gegensatz zu den österreichischen Volksgerichtsverfahren die Prozessordnung des Dachauer Hauptprozesses ein Kreuzverhör ermöglicht, stellt sich auch die Frage, inwiefern diese Form der Vernehmung Einfluss auf die kognitive Landkarte hat. Mentales Erzählskript (mental models) In engerem Zusammenhang mit den kognitiven Landkarten stehen die sogenannten mentalen oder auch gedanklichen Erzählskripte. Bei diesen geht es nicht so sehr um einen konkreten Ort, vielmehr »gehen [diese] über situative Beschreibung weit hinaus [und stehen] in enger Verbindung mit Handlungs- und Ereigniszusammenhängen. Sie repräsentieren vielfältige und komplexe Aspekte der Wirklichkeit in Gedächtnis und Denken und eröffnen dem Zuhörer die Möglichkeit, sich imaginativ in die erzählte Szene zu versetzen.«56 Einerseits bilden das konkrete Ereignis des juristischen Verfahrens, andererseits die vergangenen Vorkommnisse, die überhaupt erst zum Prozess geführt haben, eine klar benennbare Hintergrundfolie dieser gedanklichen Modelle. Ohne diese ereignishafte Rahmung würden die mentalen Skripte nicht existieren. Die Angeklagten erzeugen sie in erster Linie erzählerisch, weil der Erfolg einer Aussage vor Gericht bestimmten Regeln und Normen unterworfen ist. Andreas von Arnauld spricht in diesem Kontext von den »internen Anforderungen«57 , die eine erfolg56 57
H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 58-59. A. v. Arnauld, Was war, was ist – und was sein soll, S. 33.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
reiche Gerichtserzählung erfüllen muss. Auf diese Weise können sie das Ziel von Kohärenz und (transparenter) Kausalität in der Darstellung ihrer Handlungsmotivationen am besten erzählerisch vermitteln. Weil der Erzählende auf eingängige Weise seine Sicht und Emotionen auf die Ereignisse primär setzt, sind sich die Gerichte durchaus der Unzuverlässigkeit von Erzählungen bewusst. Daher versucht die Anklage, die erzählerischen Möglichkeiten zu begrenzen, weil hinter diesen Skripten natürlich auch der Versuch einer sprachlichen Manipulation steckt. Lässt sich das gedankliche Modell hinter den Aussagen der Angeklagten eruieren, ist es möglich, hinter die bloße Strategie und das vordergründige Argument zu blicken. Nicht nur das ›erzählte‹ Selbst wird so greifbar. Auch weltanschauliche und moralische Sichtweisen bringt das Erzählen zutage und das selbst dann, wenn die Erzählenden dies eigentlich verhindern wollen: »It is not, to be sure, morally neutral, for it always seeks to induce a point of view. Storytelling, one can conclude, is never innocent. If you listen with attention to a story well told, you are implicated by and in it.«58 Letztlich vermittelt das Skript des Gedankenmodells die Handlungsmotivation der angeklagten Frauen und Männer. So sagte Edmund Schödl aus: »Unsere Arbeit ist keine solche, wo man die Leute mit Glacéhandschuhen anfasst. Ein etwas brutaler Ton ist etwas selbstverständliches. [Wir] mussten sie antreiben, weil auch wir angetrieben wurden. Auch wir waren gar nichts anderes wie die Häftlinge, nur dass wir halt abends frei waren. […] Ich wäre ja selbst ins KZ gekommen, wenn ich die Leute nicht angetrieben hätte.«59 Der Angeklagte bedient in seiner Darstellung das Skript von alltäglicher Arbeit und versucht so, den Eindruck von Normalität entstehen zu lassen. Laut seiner Aussage sind die Gegebenheiten eine Reaktion auf das eigene Erleben: Weil die Zivilarbeiter selbst angetrieben wurden, schneller zu arbeiten, gaben sie dies so an die Häftlinge weiter. Gleichzeitig will er klarmachen, dass zwischen ihm und den Häftlingen kein Unterschied existierte. Die Tatsache, dass er selbst nicht inhaftiert war, keine Häftlingsuniform tragen musste und schlicht nicht der Willkür und Brutalität der Lager-SS ausgesetzt war, wiegelt Schödl mit den Worten ab, »nur dass wir halt 58 59
Peter Brooks, The Law as Narrative and Rhetoric, in: Ders., P. Gewirtz (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 14-22, S. 16. Edmund Schödl wurde im Juli 1946 beschuldigt, als Obermonteur Häftlinge auf der Baustelle des Quarzwerks Roggendorf in der Nähe von Melk schwer misshandelt zu haben. Die Anklageschrift basiert auf den §§ 3 und 4 des KVG. Noch am gleichen Tag der Hauptverhandlung, dem 29. Juli 1946, wurde Schödl zu drei Jahren Kerkerhaft verurteilt. Edmund Schödl, geb. 23.10.1899, Protokoll Hauptverhandlung, Wien 29.7.1946, VG Wien, WStLa, LG Wien, Vg 1h Vr 2439/45, S. 2. Bei Butterweck finden sich Zitate von zwei Presseberichten, Neues Österreich und Arbeiter-Zeitung, die am 30. Juli 1946 über das Urteil berichteten. Hellmut Butterweck, Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien, S. 175.
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abends frei waren«. ›Frei‹ war aber ein Zustand, den die überlebenden Häftlinge erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der Lager erlebten. In keinem Fall war Freisein ein für sie allabendlich wiederkehrendes Phänomen. Die Gültigkeit seines Gesagten unterstreicht der Angeklagte Schödl durch das verwendete Präsens. Parallel zur Normalität thematisiert er aber vorsorglich seine Zwangslage und verbindet dies mit der Egalisierung seiner Situation mit der der Häftlinge. Allerdings ist seine Argumentation auf der Basis des Befehlsnotstands hinfällig, da Schödl weder der SS noch der Wehrmacht angehört. Da die Erzählmotivation im Kontext eines juristischen Verfahrens liegt, ist damit aber eine Doppelbödigkeit verbunden, da die Erzählgegenwart maßgeblich auf das Wie der Aussage einwirkt. Grundsätzlich werden die beiden Skripte – mental models und cognitive maps – aber vor allem durch verschiedene sprachliche Techniken erzeugt, da das Erzählen vor Gericht ein strategischer und argumentativer Akt ist. Das Gericht setzt sich die Wahrheitsfindung zum Ziel. Die Person, die erzählt – im hier untersuchten Fall die Angeklagten –, will mit ihrer Art und Weise des Aussagens überzeugen. Gerade deshalb ergibt es aber wenig Sinn, Argument und Erzählung im Falle eines juristischen Verfahrens zu trennen, da das Erzählen, wie bereits gesagt, zum argumentativen Akt wird im Sinne eines strategischen Erzählens. Paul Gewirtz sieht die Erzählung vor Gericht vor allem in ihrer Funktion als Argument.60 Ausgehend von einem engen Erzählbegriff ist dies vor allem auf einer pragmatischen Ebene sinnvoll, gleichwohl die Erzählung nicht nur ein argumentativer, sondern eben auch ein rhetorischer Akt ist, weil dahinter ein strategisches Vorgehen der Angeklagten steht. Im Unterschied zu Gewirtz’ Überlegungen geht es aber bei der vorliegenden Untersuchung darum, welche (Selbst-)Erzählung sich aus der Summe der Aussagen bzw. Argumente bildet. Auch wenn zwischen den einzelnen Aussagen Leerstellen vorkommen – umso kohärenter und plausibler die Aussage zu einem Thema ist, desto erfolgreicher kann sie sein.
3.5.2
Emotionales Erzählen – intendiert
Von einem engen Erzählbegriff ausgehend wird vor allem erzählt, weil Sachverhalte ebenso leicht kausal wie emotional miteinander verwoben werden können.61 Um das Erlebte erzählbar zu machen, muss das Erinnerte immer in irgendeiner Weise verfälscht werden. Es erfolgen somit bestimmte rhetorische Vorgehensweisen wie Plausibilisieren, Beschönigen und das Herstellen von Stringenz.62 ›Erzählbar‹ ist an dieser Stelle nicht mit dem Begriff der tellability gleichzusetzen, der die Relevanz
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Paul Gewirtz, Victims and Voyeurs. Two Narrative Problems at the Criminal Trial, P. Brooks., Ders. (Hg.), Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, S. 135-161, S. 136f. P. Gewirtz, Narrative and Rhetoric in the Law, S. 4. T. Benkel, Authentische Erfindungen, S. 103.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
eines Ereignisses meint und den daraus resultierenden Grund für das Erzählen darüber.63 ›Erzählbar‹ meint hier aber vielmehr die sprachliche und (strategisch) inhaltliche Variation, die ein erzählerisches Vermitteln des Erlebten überhaupt erst möglich macht.64 Das Ziel, die eigene Sichtweise als die richtige und die subjektive Konstruktion als die einzige Möglichkeit der vergangenen Wirklichkeit zu etablieren, bestimmt Inhalt und ebenso Form der Aussage. Viele Vorgehensweisen und Anforderungen für eine möglichst erfolgreiche Erzählung ähneln hier denen einer mündlichen Alltagserzählung. Die Unterschiede sind vor allem durch die Institution ›Gericht‹ und die damit verbundenen Regeln aus der Strafprozessordnung verbunden. Erzählende können einer möglichen Distanz vonseiten der AdressatInnen u.a. durch die Schilderung von Emotionen entgegenwirken. Die Angeklagten in NSG-Verfahren versuchen so, gegen die Vorstellung von ihnen als ›Bestien‹ oder ›Exzess-Täter‹ zu erzählen bzw. irgendwelche pathologischen Gründe für ihr Verhalten zu negieren. Eine dramatische Re-Inszenierung oder Wiedergabe in direkter Rede sind Mittel, die die AdressatIn emotional in die Erzählung der Angeklagten involvieren sollen. Emotionalisierung ist in diesem Fall dann eine »persuasive Strategie«65 . Hier ist wichtig, zu beachten, dass es sich nicht nur unbedingt um eine emotionale Darstellung mit einer entsprechenden Wortwahl handeln muss, sondern dass auch die Schilderung und Darstellung von Ereignissen die AdressatIn emotional ansprechen kann. »Sachverhalte werden mittels sprachlicher Strukturen so repräsentiert, dass bestimmte Perspektiven und Bewertungen vermittelt werden. Je nach Textgestaltung und -information entsteht eine kognitive Zwischenebene, die den Weltausschnitt auf eine sehr spezifische Weise repräsentiert. […] Realität [wird] (scheinbar objektiv) mittels Sprache bezeichnet, tatsächlich aber über bestimmte Strategien aus einem eingeengten, spezifisch emotional und damit [be]wertend unterlegten Blickwinkel referenzialisiert.«66 Diese strategische Emotionalisierung, mit dem Ziel, die jeweiligen AdressatInnen zu überreden, steht folglich nur scheinbar in einem Widerspruch zu einer rationalen Argumentation. Vielmehr kann die gezielte und strategische Verwendung von Emotionen sich eben als solche ausgeben. Im folgenden zitierten Fall wird der ehemalige Funktionshäftling Fritz Becher des Konzentrationslagers Dachau sogar
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David Herman, Basic Elements of Narrative, Malden 2009, S. 135. »Pointless stories are met (in English) with the withering rejoinder, ›So what?‹ Instead, the appropriate remark would be, ›He did?‹ or similar means of registering the reportable character of the events of the narrative.« William Labov, Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular, Philadelphia 1972, S. 366. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 20132 , S. 224. Ebd., S. 225.
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zum emotionalen Erzählen aufgefordert. Hierdurch zeigt sich, warum das emotionale Erzählen als ein strategisches Vorgehen gewertet werden kann: »[Frage der Verteidigung:] Becher, I have no further questions to put to you. However, in view of the seriousness of your situation, do you want to make any further statement to the court, or to unburden your heart in any way? You may do so. [Antwort Becher:] Yes. I would like to say that it happened that certain prisoners attempted to make homosexual digression on other prisoners, and, naturally, these people had to be corrected. It happened that people stole. For example, the smoking tobacco of a man was stolen. Thereupon I asked him whether that was true. He said ›No, I could swear to it, it was not true.‹ Then the other prisoner told me to search him, he had the tobacco in his pocket. And that was actually true. I found the tobacco belonging to the other man in his pocket. Then he told me that he had stolen, that he had a weak moment, and that on the next day he would be sorry for it. I could never refuse an order. In 1938, my comrade was shot by the SS block fuhrer, because he had refused the order for us to roll over in poison ivy. Or else I had to climb up on a tree and sing ›Silent Night‹ while two other comrades had to chop the tree down. Or else push a stick in the ground, and dance around it until it was finished. I cannot understand that these people are so cowardly today, and say that these things that happened in Dachau is a lie. The greatest shame on culture in Germany were the concentration camps and hell was in Dachau. That is all.«67 Becher erzählt hier über ein konkretes Ereignis – Diebstahl unter den Häftlingen – und verwendet das typische Mittel der Re-Inszenierung, indem er Mithäftlinge in direkter Rede zitiert. Er zieht selbst das Fazit aus dieser konkreten Geschichte: seine Zwangslage, die es ihm unmöglich machte, Befehle der SS abzulehnen. Er unterstreicht dies durch einen konkreten Fall eines anderen Funktionshäftlings, der von der SS erschossen wurde. Diesen evaluativen Einschub stützt Becher dann weiter durch die Aufzählung anderer Schikanen, die er im Konzentrationslager erleiden musste. Er schließt seine Aussage ab, indem er die anderen Angeklagten der Lüge beschuldigt und die nationalsozialistischen Konzentrationslager als Schande für die deutsche Kultur deklariert. Eindeutig handelt es sich hier um ein intendiertes emotionales Erzählen. Becher will seine Empörung und sein Entsetzen über die Geschehnisse zum Ausdruck bringen, gleichzeitig macht er aber auch den Unterschied zwischen sich, den Funktionshäftlingen und den angeklagten ehemaligen SS-Angehörigen deutlich. Er leugnet sein Handeln nicht, sondern gibt Auskunft über den unmenschlichen Lageralltag.
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Fritz Becher, direct-examination, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/3.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
3.5.3
Emotionales Erzählen – nicht-intendiert
Anders verhält sich dies, wenn Emotionen nicht erzählt werden, weil die Erzählenden bzw. Angeklagten eine bewusste Strategie damit verfolgen, sondern vielmehr ungewollte bzw. nicht intendierte Einblicke in die Hintergründe der sprechenden Person ermöglichen. Dies geschieht u.a. durch emotionale Konnotationen von Wörtern. Diese können besonders wichtig für »Äußerungsbedeutung oder den kommunikativen Sinn«68 sein. Man könnte davon sprechen, dass die Angeklagten sich ›verraten‹, oftmals im Gegensatz zu einer Vorgehensweise, die ihren Schwerpunkt auf eine schlüssige, rational geprägte und argumentativ kohärente Form stützt. Bei dieser Form von emotionalem Erzählen kann zwischen »erlebensdeklarierenden Formeln«, »metaphorischen Verwendungen«, der »Benennung von erlebensrelevanten Ereignissen« sowie der »Beschreibung der situativen Umstände eines Erlebens« unterschieden werden.69 Die beabsichtigte Verwendung ist vor allem ein Hinweis auf die explizite Strategie und somit auch auf die Themen, die für die Angeklagten aus verschiedenen Gründen vor allem in der Erzählgegenwart von Bedeutung sind. So ist die emotionale Wortwahl, also das nicht-intendierte Offenbaren von Gefühlslagen wichtig, um wiederum die Angeklagten hinter ihren strategischen Überlegungen greifbar zu machen. Die deskriptive Äußerung wie z.B. ›Ich war aufgeregt‹ ist nur auf den ersten Blick distanzierend. Dies liegt zum einen an der Vergangenheitsform und zum anderen an dem reflektierenden Charakter einer solchen Äußerung.70 Allerdings sind diese Form, ihre Wahrnehmung und vor allem ihre Bewertung des emotionalen Erzählens auch von den Erwartungen und Einstellungen der AdressantInnen bzw. RezipientInnen abhängig. Es überrascht nur wenig, dass die angeklagten ehemaligen SS-Angehörigen ein nicht-intendiertes emotionales Erzählen in nur wenigen Fällen in Bezug auf die eigene Person oder auf ihre weltanschauliche Prägung durch den Nationalsozialismus vornehmen.
3.5.4
Positionierung als Teil narrativer Identität und emotionalen Erzählens
Grundsätzlich begleitet die Eruierung einer Selbsterzählung die Frage nach den erzählerischen Positionierungen der Angeklagten, da sie ein wichtiger Bestandteil der narrativen Identität ist bzw. erst durch die erzählerische Positionierung narrative Identität erzeugt wird. »Positionierung bezeichnet zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf
68 69 70
M. Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, S. 135. Ebd., S. 145. Ebd., S. 147.
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einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind.«71 Es ist also zunächst egal, aus welchen Gründen und in welchem Rahmen erzählt wird, die Tatsache, dass dies geschieht, führt dazu, dass die erzählende Person sich positioniert und so ihren Standpunkt klarmacht. Dies geschieht durch die Vermittlung emotionaler Erfahrungen, durch Verwendung affektiver Bewertungen und das Urteilen über erzählte Ereignisse. Die Erzählenden präsentieren so bewusst und unbewusst ein Bild von sich und ihren (moralischen) Vorstellungen. »Die Geschichte fungiert als Träger einer Botschaft, einer Moral, die dem Plot mit seinem Ergebnis eingeschrieben ist, Werthaltungen und Weltsichten beinhaltet […].«72 Will man Genaueres über die Standpunkte der Aussagenden erfahren, muss die Erzählsituation beachtet werden. Durch die »doppelte Zeitperspektive«73 , gegeben durch das erzählende und das erlebende Ich, lässt sich erkennen, an welchen Stellen die Aussagenden den Versuch unternehmen, sich von den vergangenen Ereignissen und/oder dem erlebenden Ich zu distanzieren. Damit verbunden ist auch das Auftreten des Erzählenden als Reflektorfigur, der so das Erzählte in bewertender Weise einordnet und vermittelt.74
3.5.5
Handlungsmächtigkeit (agency)
Die Position im Erzählten und der Situation des Erzählens offenbart sich aber auch in der Darstellung der Handlungsmacht bzw. -mächtigkeit (agency) der Aussagenden: Von der Soziologie vorgeprägt und von der Linguistik aufgegriffen, zeigt sich der dargestellte Handlungsspielraum, z.B. wenn die Erzählenden sich als aktiv bzw. als passiv positionieren oder ihr vergangenes Handeln dementsprechend darstellen. Der Linguist Arnulf Deppermann unterscheidet zwischen sechs unterschiedlichen Ausformungen von Handlungsmacht bzw. deren Funktion in einem Gespräch: »1. Aktivität vs. Passivität, d.h., nicht Handelnder, sondern von Handlungen Betroffener zu sein; dabei zählt intentionale Unterlassung auch als Handeln, 2. Handlungsverursachung durch das Selbst (Autonomie) oder andere (Heteronomie), 3. Bewusstheitsgrad des Verhaltens, wobei vorbewusste Routinehandlungen eine wichtige Variante sind, 71 72 73 74
A. Deppermann, Gabriele Lucius-Hoene, Narrative Identität und Positionierung, S. 168. A. Deppermann, G. Lucius-Hoene, Rekonstruktion narrativer Identität, S. 23. Ebd., S. 115. Franz Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 19853 , S. 77.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
4. Kontrolle und Kontrollierbarkeit und damit Verantwortlichkeit des Handelns, 5. Intentionalitäts- und Planungsgrad: Während strategische und spezifische situiert entworfene Handlungen einen hohen Grad von Agency aufweisen, haben konventionelle, soziale präformierte Routinehandlungen einen mittleren Grad und unabsichtliche, ungeplante Handlungen geringe Agency; autonomes Handeln impliziert intentionales Handeln, 6. moralische Beurteilung hinsichtlich (Zweck-)Rationalität und ethischer Qualität des Handelns.«75 Auch hier ist entscheidend, dass die Darstellung der eigenen Handlungsmöglichkeiten in einem Gerichtsprozess weiterreichende Folgen haben kann und deshalb möglichst gering gehalten wird. Ein besonders bekannter Umstand ist das Argument des Befehlsnotstands. Hier werden die Aktivitäten im KZ und damit das Verbrechen zugegeben. Gleichzeitig sind die Beschuldigten aber durch Nennung dieses Notstands bestrebt, zu demonstrieren, dass ihre Tat nicht auf einer aktiven und vor allem nicht auf einer handlungsmächtigen, eigenen Entscheidung basiert.76 Ob die Angeklagten sich als aktiv oder passiv darstellen, wird auch mit Blick auf die Wahl und die semantischen Zusammenhänge verwendeter Negationen deutlich, da »[d]iese dazu [dienen], eine mögliche Interpretation der Handlung auszuschließen, zu der der Adressat aus Sicht des Sprechers gelangen könnte bzw. (anscheinend) bereits gelangt ist, die aber vom Sprecher als nicht intendiert negiert wird. […] Sie […] dokumentiert,wie der Sprecher nicht verstanden werden will.«77 Eine spezielle Form des Negierens ist das Leugnen, das – wie zu erwarten – häufig in den Verfahren vorkommt. Dahinter verbirgt sich der Versuch der Angeklagten, durch die eigene Darstellung auch eine eigene Wahrscheinlichkeit zu etablieren, die sie im Falle eines Gelingens idealerweise in die Rolle als Experte und somit in eine machtvollere Position vor Gericht versetzt. Eine typische Äußerung dieser Art wäre: »Es mag unglaubwürdig klingen, ist aber wahr.«78 Die soeben dargelegte Vorgehensweise zum Eruieren der Selbsterzählung im Laufe einer Hauptverhandlung erlaubt es, jenseits des »deklarativen Faktenwis75
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Arnulf Deppermann, Agency in Erzählungen über Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend. Sprachliche Praktiken der Zuschreibung von Schuld und Verantwortung an Täter und Opfer, in: C.E. Scheidt, G. Lucius-Hoene, A. Stukenbrock, E. Waller (Hg.), Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust, S. 64-75, S. 64. Ebd., S. 64. Arnulf Deppermann, Hardarik Blühdorn, Negation als Verfahren des Adressatenzuschnitts. Verstehenssteuerung durch Interpretationsrestriktionen, in: Arnulf Deppermann (Hg.), Deutsche Sprache 1/13. Themenheft: Interaktionale Linguistik des Verstehens, Berlin 2013, S. 6-30, S. 15. Christopher R. Browning, Die Debatte über die Täter des Holocaust, in: Ulrich Herbert (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt a.M. 1998, S. 148-169, S. 156.
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sens«79 – hier lag bisher das historiografische Hauptinteresse – »subtiles Handlungswissen«80 der Aussagenden zu erarbeiten. Wie sie dieses im Kontext ihres Selbst und ihrer Situation vor Gericht darstellen, wird so deutlich. Für die Selbsterzählung ist die Frage nach der Handlungsmacht wichtig, da sich diese nicht nur auf ein Ereignis bezieht, sondern in der Selbsterzählung eine umfassende Ausdeutung erfährt.81 Die Ergebnisse der folgenden Analysen können insgesamt sowohl Anzeichen für ein unzuverlässiges als auch für ein performatives Erzählen anzeigen. Deshalb wird die Untersuchung der Vernehmungs- und Gerichtsprotokolle zunächst vorgenommen, dann wird die Frage nach den Formen des unzuverlässigen Erzählens in den handschriftlichen vorprozessualen gestellt, um schließlich auf das performative Sprechen in den Gnadengesuchen der Verurteilten einzugehen.
3.6
Die juristischen Gegebenheiten für die Strafverfahren des österreichischen Volksgerichts und des amerikanischen Militärgerichts von Dachau
Zunächst soll ein kurzer Überblick zu den Besonderheiten und Unterschieden der jeweiligen Hauptverhandlungen zeigen, welch großen Einfluss die jeweilige Prozessordnung auf die überlieferte Form der Aussagen hat. Dazu gehört u.a. das bereits erwähnte Kreuzverhör der amerikanischen Strafprozessordnung, dessen ausführliches Wortprotokoll auch die Fragen an die Angeklagten inkludiert. Da von den beiden deutschen Strafprozessen in Hamburg und Berlin keine Protokolle überliefert sind bzw. nicht angefertigt wurden, finden sich in der späteren Analyse nur das Dachauer Hauptverfahren und österreichische Volksgerichte.
3.6.1
Österreichische Volksgerichte
In Österreich fand kein alliiertes Militärtribunal statt. Dies lag vermutlich an der frühen Entscheidung zu einer eigenen Gerichtsbarkeit in der österreichischen Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945. Darin war die Souveränität des wiedergegründeten Staates direkt an die Ahndung von NS-Verbrechen geknüpft.82 Die sogenannten Volksgerichte waren Teil der ordentlichen Senate, die an den Straflandesgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte (Wien, Linz, Graz, Innsbruck) beheimatet waren. Es handelte sich nicht um Sondergerichte. Als »Überprüfungs79 80 81 82
H. Seitz, Lebendige Erinnerungen, S. 48. Ebd. A. Deppermann, Agency in Erzählungen über Gewalterfahrungen, S. 74. J. Toussaint, Österreichische Volksgerichtsverfahren gegen ehemalige SS-Aufseherinnen, S. 171.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
instanz« fungierte der Präsident des Obersten Gerichtshofes.83 Die hohe Zahl an Verfahren, fast 23.00084 , führt auf die Zuständigkeit der Volksgerichte für die Entnazifizierung auf der Grundlage des Verbotsgesetzes (VG) zurück. Das VG kriminalisierte die NSDAP und all ihre Untergliederungen sowie die Mitgliedschaften darin. Eine weitere juristische Grundlage war das Kriegsverbrechergesetz (KVG). Dieses befasste sich u.a. mit Tatkomplexen wie Kriegsverbrechen (§ 1), Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenwürde (§§ 3 und 4), Deportationen (§ 5a), Denunziation (§ 7) oder auch Arisierung (§ 6).85 Im Falle der hier untersuchten Verfahren sind vor allem die Paragrafen 3 und 4, aber auch § 1 der Grund für eine Anklage bzw. Verurteilung. Wie auch der Dachauer Hauptprozess waren die Hauptverhandlungen der Volksgerichte öffentlich. Am ersten Prozess, der im August 1945 vor dem Volksgericht Wien stattfand, war das Interesse so groß, dass das Gericht Platzkarten vergeben musste. In den ersten drei Nachkriegsjahren wurden ca. 108.000 der insgesamt fast 137.000 Verfahren angestoßen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Krieg nahm darüber hinaus auch die Härte der Strafen ab. Außerdem wurden Verurteilte immer häufiger begnadigt. Dieser Kurs zeigt sich besonders deutlich, als zu Beginn des Jahres 1950 fast 90 Prozent der Schuldsprüche bereits erfolgt waren, der Anteil der Freisprüche aber noch bei knapp über 80 Prozent lag. Dieser Trend sollte aber bis 1955 noch deutlicher zutage treten. Eine ähnliche Entwicklung der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen gilt auch für Deutschland.86 Der Umfang und das Maß der Verurteilungen variierten zwischen den verschiedenen Standorten der Volksgerichte. In Wien wurde die Hälfte aller Schuldsprüche verkündet, weil dort zahlreiche nationalsozialistische Institutionen sesshaft gewesen waren, 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung Österreichs in Wien gewohnt hatte – zahlreiche Verfahren der Volksgerichte wurden angestoßen, weil Überlebende ihre 83
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86
Roland Pichler, »… es waren lauter Fälle wo man sich ausgesprochen ärgern musste.« Zwei Aufseherinnen des »Arbeitserziehungslagers« Oberlanzendorf vor dem Volksgericht Wien, in: NÖ Landesarchiv, NÖ Institut für Landeskunde von Niederösterreich, Verband Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine (Hg.), Tagungsbericht des 26. Österreichischen Historikertages Krems/Stein, 24. bis 28. September 2012 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine, Bd. 5, zugleich Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde, Sonderband 2015), St. Pölten 2015, S. 680-688, S. 682. H. Butterweck, Verurteilt und Begnadigt, S. 11. Claudia Kuretsidis-Haider, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung in Österreich, in: Walter Schuster, Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, S. 563-601, S. 595-597. Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried R. Garscha, Das Linzer Volksgericht. Die Ahndung von NS-Verbrechen in Oberösterreich nach 1945, in: Fritz Mayrhofer, Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz. Bd. 2, Linz 2001, S. 1467-1561. C. Kuretsidis-Haider, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung in Österreich, S. 567. H. Butterweck, Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien, S. 633.
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Peiniger von damals wiedererkannten – und vermutlich auch durch den Druck sowjetischer Besatzungsoffiziere.87 Da es keine Listen vom Lager-Personal gab, waren die Behörden auf das Wiedererkennen ehemaliger Täter durch ehemalige Häftlinge und die Recherchen des Counter Intelligence Corps der US-Amerikaner angewiesen.88 Um aber möglichst vielen der ehemaligen Angehörigen des Lagerpersonals von Mauthausen habhaft werden zu können, fand im April 1947 im Wiener Messepalast eine Ausstellung mit Fotos von 2.200 SS-Männern der Bewachungsmannschaft statt. Auch Fotos von inhaftierten ehemaligen Gestapo-Beamten wurden dort ausgestellt. Dies führte zu weiteren 200 Anzeigen.89 Verstärkte sich nach einer Anzeige der Verdacht durch die polizeiliche Vernehmung, beantragte die Staatsanwaltschaft die Einleitung einer Voruntersuchung, die ein Untersuchungsrichter führte. Im Laufe der Voruntersuchung bestand keine Möglichkeit, sich eines Rechtsmittels zu bedienen. Um die Volksgerichtsverfahren möglichst zügig vonstattengehen zu lassen, gab es keine Möglichkeit, Einspruch gegen die Anklage zu erheben, eine Nichtigkeitsbeschwerde oder eine Berufung einzulegen.90 Als Beweismittel dienten vor allem Zeugenaussagen. In der Hauptverhandlung zur Klärung der Schuldfrage, die manchmal mehrere Tage andauerte, wurden noch einmal alle ZeugInnen sowie die Angeklagten angehört. Nach dem Antrag auf Schuldspruch und einer abschließenden Rede des Verteidigers verkündete der Richter das Urteil. Sowohl der Haftantritt als auch ein Gnadengesuch, ein Antrag auf Haftentlassung oder ein Wiederaufnahmeantrag musste unmittelbar nach der Urteilsverkündung erfolgen.91 Ziel der Hauptverhandlung war die Klärung der Schuldfrage der Angeklagten. Mit dem Aufruf der Sache wurde der Prozess eröffnet. Nachdem die Angeklagten zu ihren Personalien befragt worden waren, folgte die Vereidigung der SchöffInnen. Bevor die Staatsanwaltschaft die Anklage vortrug, wurden ZeugInnen und mögliche Sachverständige aufgerufen. Darauf folgte das Beweisverfahren, das mit
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91
Annette Weinke, »Alliierte Angriffe auf die nationale Souveränität«? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich, in: Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 4), Göttingen 2006, S. 37-93, S. 68. P. Eigelsberger, Mauthausen vor Gericht, S. 204. H. Butterweck, Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien, S. 267. Hellmut Butterweck, Österreich und seine NS-Prozesse nach 1945. Politischer Opportunismus warf Mörder und Mitläufer in einen Topf, in: Peter Bettelheim, Robert Streibel (Hg.), Tabu und Geschichte. Zur Kultur des Kollektiven Erinnerns, Wien 1994, S. 45-67, S. 47. B. Rigele, Verhaftet. Verurteilt. Davongekommen, S. 9f.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
den Schlussvorträgen endete, und somit auch die Hauptverhandlung. In den meisten Fällen erfolgte das Urteil noch am selben Tag.92
3.6.2
Dachauer Militärgericht
Der erste Prozess vor dem amerikanischen Militärgericht fand auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau statt. Ab dem 15. November 1945 wurde für fast genau einen Monat über die Verbrechen von 40 ehemaligen Angehörigen der Lager-SS, je einem Wehrmachtsangehörigen und einem Zivilisten sowie drei ehemaligen Funktionshäftlingen verhandelt. 36 Angeklagte wurden am 13. Dezember 1945 zum Tode verurteilt, wovon 28 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg am Lech vollstreckt wurden. Alle Angeklagten waren zumindest zum Zeitpunkt der Befreiung durch die US-Army Teil des Dachauer Lagerpersonals. Dieser erste Prozess bildete den Auftakt von 119 folgenden Prozessen des US-amerikanischen Militärgerichts wegen Verbrechen im gesamten Konzentrationslagerkomplex Dachau. Allerdings verließ bereits im Juli 1957 der Letzte der zu einer Haftstrafe Verurteilten bzw. Begnadigten das Gefängnis. Rechtlich basierte das Verfahren auf dem Völkerrecht und der amerikanischen Rechtsordnung. Den Angeklagten wurde die Teilnahme an einem gemeinschaftlichen verbrecherischen Vorhaben (common design) und Kriegsverbrechen an Soldaten oder Zivilisten der alliierten Streitmächte vorgeworfen.93 Der Anklagepunkt des gemeinschaftlichen Vorhabens zu einem Verbrechen war niedrigschwelliger als der Vorwurf der Verschwörung (conspiracy), wie die Briten den Tatvorwurf zu ihrem Verfahren zum Konzentrationslager Bergen-Belsen formulierten, denn im Falle des gemeinschaftlichen verbrecherischen Vorhabens »musste die Anklage lediglich beweisen, dass die Beschuldigten sich einer kriegsrechtswidrigen ›bestimmten Praxis von Grausamkeiten und Misshandlungen‹ bewusst waren und dass sie diese Praxis ›aktiv förderten‹.«94 Jenseits der Angeklagten waren alle Prozessbeteiligten – Richter, Verteidiger und Ankläger – Offiziere der US-Army. Verbrechen an jüdischen Deutschen, deutschen politischen Häftlingen und generell an Inhaftierten, die nicht einer alliierten Nation angehört hatten, waren somit nicht Verhandlungsgegenstand des Dachauer
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Claudia Kuretsidis-Haider, »Das Volk sitzt zu Gericht«. Österreichische Justiz und NSVerbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945-1954 (Österreichische Justizgeschichte, Bd. 2), Innsbruck 2006, S. 22-28. Gabriele Hammermann, Verteidigungsstrategien der Beschuldigten in den Dachauer Prozessen und im Internierungslager Dachau, in: L. Eiber, R. Sigel (Hg.), Dachauer Prozesse, S. 86108, S. 89. M.S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau, S. 111.
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Militärgerichts. Auch konnten Delikte vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, also vor dem Dezember 1941, nicht verhandelt werden. Für alle nachfolgenden Prozesse zu Verbrechen in Konzentrationslagern sollte der Dachauer Hauptprozess eine Rechtsgrundlage darstellen. Die Protokolle demonstrieren, dass, wie in der amerikanischen Strafprozessordnung vorgesehen, der Richter nur sehr selten aktiv in das Prozessgeschehen eingriff. Das Militärgericht lehnte sich aber auch an die Gewohnheiten des kontinentalen Verfahrensrechts an. Im Anschluss an ein Schuld- bzw. Unschuldsbekenntnis der Angeklagten – in allen Dachauer Prozessen erklärten sich die Angeklagten für unschuldig – skizzierte die Anklage den zu verhandelnden Sachverhalt, woraufhin die Belastungszeugen vernommen wurden. Kamen hierbei neue Sachverhalte auf, war es für die Anklagevertretung möglich, einen Antrag auf Erweiterung der Anklage um diesen Punkt beim Gericht zu stellen. Danach folgte die Vernehmung der Angeklagten. Im Gegensatz zum kontinentalen Recht konnte das Gericht den Angeklagten eine Zeugnisverweigerung auch zu deren Lasten auslegen.95 Einen weiteren Unterschied zum kontinentalen Strafverfahren stellte die Möglichkeit des Kreuzverhörs dar. Das anglo-amerikanische Verfahren ist ein adversariales System, in dem sich die Anklage und Verteidigung gegenüberstehen. Dem Richter kommt hier eine moderierende Rolle zu, keine untersuchende.96 Die Belastungszeugen und Angeklagten wurden zunächst von ihrer Antragstellerseite befragt und dann von der Gegenseite. Nachdem die Anklage also die Belastungszeugen befragt hatte (direct examination), wurden sie durch die Verteidigung vernommen (cross examination). Traten neue oder andere Aspekte in den jeweiligen Aussagen auf, bestand auch die Möglichkeit einer erneuten Befragung durch die Verteidigung oder auch die Anklage (redirect examination bzw. recross examination).97 Dient die erste Befragung dazu, eine möglichst plausible und kohärente Aussage durch die Befragung zu erzielen, so greift der zweite Teil des Kreuzverhörs genau diesen Versuch auf und an. Inkonsistenzen und Widersprüche sollen durch das Nachfragen des Prozessgegners eruiert sowie aufgedeckt werden. Im Idealfall gelingt dies in einer Form, die es der Befragten lediglich ermöglicht, mit ›ja‹ bzw. ›nein‹ zu antworten. Das Kreuzverhör berücksichtigt damit die Möglichkeit, durch geschicktes Erzählen eine zwar plausible, aber deshalb nicht unbedingt richtige Abfolge der Ereignisse wiederzugeben. Aber auch das Ziel einer möglichst reduzierten Antwort zeigt, dass dem Erzählen vor Gericht ein gewisses Maß an Misstrauen entgegengebracht wird. Ziel des Kreuzverhörs ist es deshalb, Unstimmiges
95 96 97
H. Lessing, Der erste Dachauer Prozeß, S. 76. G. Hammermann, Verteidigungsstrategien, S. 9 und S. 77. K. Hannken-Illjes, Geschichte und Gegengeschichten, S. 284. H. Lessing, Dachauer Prozeß, S. 76.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
der Informationen oder einen unglaubwürdigen, täuschenden oder lügenden Angeklagten aufzudecken.98 Nach jedem Kreuzverhör ist es für die Anklage möglich, erneut ZeugInnen aufzurufen, um neue oder bereits bekannte Sachverhalte erneut zu verhandeln.99 Waren die Vernehmungen von ZeugInnen und Angeklagten abgeschlossen, zogen Anklage sowie Verteidigung Bilanz und schlossen damit das Beweisverfahren ab. Auf die dann geheime Beratung des Gerichts verkündete dieses anschließend die Frei- bzw. Schuldsprüche. Im Falle eines Todesurteils musste das Gericht das Urteil mit einer 2/3-Mehrheit fällen. Darauf folgte eine erneute Ausführung von Verteidigung und Anklage. Erst danach verkündete das Gericht sein Urteil. Für die Beweismittel galten keine Beschränkungen, die Beschuldigtenrechte waren hingegen eingeschränkt.100
3.7
Johann Kicks Selbsterzählung vor dem Dachauer Militärgericht
Johann Kick wurde am 24. November 1901 im badischen Waldau geboren. 1921 trat der verheiratete Vater in der Weimarer Republik in den Polizeidienst ein und wurde noch im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme Mitglied der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Seit dem 20. Mai 1937 gehörte er als Gestapobeamter der Politischen Abteilung (Abteilung II) des Konzentrationslagers Dachau an. Von Februar oder März 1938 bis zum August 1944 war er ihr Leiter. Aus welchem Grund sich Kick ab dem September 1944 für fünf Monate nicht mehr in Dachau befand und welche Aufgaben er nach seiner Rückkehr bis zur Befreiung der Häftlinge durch amerikanische Truppen innehatte, klärt der Prozess nicht. Nachdem er nach Kriegsende am 6. Mai 1945 durch das amerikanische Militär festgenommen wurde, verurteilte dieses Kick im Zuge des Dachauer Hauptprozesses zum Tode. Ende Mai 1946 wurde er im Gefängnis in Landsberg am Lech hingerichtet. Kick wurde im Prozess vor allem vorgeworfen, bei der Erstellung der Listen für die sogenannten ›Invalidentransporte‹ und damit bei der Selektion von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein sowie Inhaftierte bei Verhören misshandelt zu haben.
98
»[T]o uncover contradictions between two pieces of information, leaving the judge or jury to make the inevitable inference that the witness is unreliable, untrustworthy, uncooperative, misleading, lying.« M. Jaquemet, Credibility in court, S. 160. 99 Tomaz Jardim, The Mauthausen Trial. American Military Justice in Germany, Cambridge, London 2012, S. 32ff. 100 H. Lessing, Dachauer Prozeß, S. 77. M.S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau, S. 121.
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»Ein Zeuge sagte aus, Kick habe einen Polen mit einem Aschenbecher ins Gesicht geschlagen und dabei seine Zähne zertrümmert.«101
3.7.1
Politische Abteilung im Konzentrationslager
Alle Mitglieder der Lager-SS waren je nach Aufgaben und Zuständigkeitsverteilung in fünf Bereiche eingeteilt. Neben Kommandantur/Adjutantur, Schutzhaftlager, Krankenrevier bzw. Sanitätsabteilung und Verwaltung bildete die Politische Abteilung eine dieser Abteilungen. Sie war durch ihre strukturelle und institutionelle Verknüpfung mit der Geheimen Staatspolizei vor allem mit Verhören von Häftlingen und deren Exekutionen betraut. Folter und Mord zählten somit zu den Aufgaben dieser Abteilung. Da bürokratische Vorgänge, wie standesamtliche Angelegenheiten, die Registrierung der neuankommenden Häftlinge, Transporte, Aufbewahrung und Ergänzung der Häftlingsakten, dort organisiert wurden, verfügten die Angehörigen dieser Abteilung über einen besonders umfangreichen und detaillierten Einblick in die Häftlingsgesellschaft und die Abläufe des Lagers. Die Einteilung der Neuankommenden in die jeweilige Häftlingskategorie erfolgte ebenfalls durch die Abteilung II. In den dazugehörigen Schreibstuben waren Funktionshäftlinge eingesetzt. Sie konnten nicht nur stellenweise Einfluss nehmen, sondern waren vor allem im Gegensatz zu anderen Häftlingen oftmals schon frühzeitig über bevorstehende Vorgänge im Lager informiert. Johann Kick war als Leiter der Politischen Abteilung sowohl dem Kommandanten des Lagers als auch der Gestapo München unterstellt. Um ihre andere disziplinarische Zugehörigkeit als Polizeibeamte zu demonstrieren, trugen Kick und die Angehörigen der Politischen Abteilung vermutlich zumeist Zivilkleidung.102
3.7.2
Aussagen des Angeklagten Kick im Verhör durch die Verteidigung (direct examination)
Das Verhör der Verteidigung beschäftigt sich vor allem mit Kicks Aufgaben als Leiter der Politischen Abteilung. Ähnlich, wie es sich auch in der Analyse bei Schilling zeigt, sind die Zeugenaussagen – in der Regel von ehemaligen Häftlingen – nicht Thema dieses ersten Verhörs. Der Angeklagte und seine Sicht auf die vergangenen Ereignisse dominieren den ersten Teil. Im Unterschied aber zu Schilling dient das Verhör von Kick in großem Maße auch zur Rekonstruktion von Gegebenheiten, Abläufen und Funktionsweisen im Lager. Kick hatte als Leiter der Politischen
101
M.S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau, S. 112. 102 N. Wachsmann, KL, S. 135.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Abteilung einen umfassenden Ein- und vor allem Überblick über die Vorgänge im Konzentrationslager und der dortigen Politischen Abteilung. Aufgaben und Zuständigkeiten »I was chief of the Political Department. At first from May 1937 until March 1938 I was investigator for questioning. At that time, I was appointed chief of the department […] I had to register the prisoners, and the Gestapo of Munich which were in the so-called escape prison.«103 Sowohl die Befragung der Häftlinge als auch die schlichte Registrierung der Neuankommenden umfasste nur einen Teil seines Aufgabengebietes. Wie sich später noch herausstellen wird, steckt hinter den vermeintlich harmlosen Registrierungslisten wesentlich mehr als die bloße Erfassung von Personendaten und Befragungen. Zahlreiche Zeugen der Anklage belasteten Kick mit dem Vorwurf, den Inhaftierten während der Verhöre schwere Misshandlungen zugefügt zu haben. Verharmlosend will er sich auch darstellen, wenn er das Gericht über seine zuständigen Vorgesetzten aufklärt: »I was transferred to the camp commandant for the execution of police functions in the camp and as far as the State Police Office in Munich is concerned only so as disciplinary and economic cases and they had to be done from orders from the State Police in Munich – and if I would have violated any orders I would have been punished by the chief office, in Munich.«104 Nachdem Kick klarstellt, dass nicht er sich zum Dienst im Konzentrationslager gemeldet hatte, sondern dorthin versetzt wurde, stellt er sich als subalterner, befehlsempfangender Gestapo-Beamter dar. Weil er nicht nur der Gestapo-Stelle, sondern auch dem Lagerkommandanten disziplinarisch verantwortlich gewesen war, sei sein Handlungsspielraum stark eingeengt bzw. nicht vorhanden gewesen. Er beruft sich dezidiert auf einen Befehlsnotstand, allerdings im Modus des Konjunktivs. Was passiert wäre, wenn er Befehle missachtet hätte, weiß Kick damit zum Zeitpunkt seiner Aussage vor Gericht überhaupt nicht. Um seine Abhängigkeit auch sprachlich möglichst deutlich zu machen, dominieren Passivkonstruktionen nicht nur im oben angeführten Zitat. Die Verteidigung geht im Anschluss gerade auf das aktive Handeln Kicks während der Verhöre und anderer Abläufe ein. Als Leiter einer der Hauptabteilungen des Konzentrationslagers ist seine Darstellung der Passivität äußerst unglaubhaft. Es verwundert deshalb nur wenig, wenn Kick vorauseilend und ohne explizites Nachfragen auf die im Raum stehenden Vorwürfe von Misshandlungen eingeht:
103 Johann Kick, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film 1/3, S. 2. 104 Ebd., S. 3.
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»[Frage Verteidigung:] You testified that among your duties was the interrogation of prisoners – will you tell the court how you conducted your interrogations with the prisoners. [Antwort Kick:] These questionings were done in a very correct manner without exerting any force upon these prisoners and the written statements were sent to the authority which was requesting them without additions or applications.«105 Der Angeklagte geht nicht auf die Frage ein und thematisiert weder seine Position als Verhörender noch die Dienstabläufe. Er bleibt bei einer entpersonalisierten Schilderung der Vorgänge und vermittelt so den Eindruck, er hätte lediglich aus der beobachtenden Perspektive an den Verhören teilgenommen, ohne aktiv beteiligt gewesen zu sein. Neben dieser Darstellung seiner Position als bloßer Befehlsempfänger in der Hierarchie des Lagers erzählt er aber von sich auch als Helfendem. Kick gibt deshalb an, sich gegen die Exekutionen von Häftlingen ausgesprochen zu haben. Dieses Vorgehen benennt er aber nicht als einen Einzelfall, sondern als seine Reaktion auf alle verhängten Hinrichtungen. Da er dies bereits in seiner vorprozessualen Befragung erklärt hatte, nimmt die Verteidigung dies zum Anlass, nun in der Hauptverhandlung erneut danach zu fragen und fordert so ein Wiedererzählen ein. Kick entgegnet: »In all cases I tried to change the decision of the camp commandant despite of the fact that upon this request all procedure had been gone through already. If the camp commandant agreed to my request, and that happened in two of three cases that it was alright, and if this request was refused, I had no possible authority to change that request.«106 Da er einerseits betont, dass die bürokratischen Prozesse bereits passierten, als er angeblich intervenierte, unterstützt er so seine Selbstdarstellung als machtlosen Befehlsempfänger. Seiner Aussage nach wurde er nur über das Urteil zu einer Hinrichtung in Kenntnis gesetzt. Eine aktive Beteiligung an dieser Entscheidung schließt er durch diese Darstellung aus. Kick spricht deshalb vom Versuchen (›I tried‹), das er dem ›faktischen‹ Ergebnis gegenüberstellte. So betont er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens und gibt seinem Verhalten den Anstrich des Heldenhaften, da die Willkür seiner Vorgesetzten über den Erfolg seines Intervenierens entschied. Offensichtlich war sein Plädieren gegen eine Hinrichtung mit keinem Risiko für ihn verbunden. Dennoch möchte er damit unter Beweis stellen trotz der Unmöglichkeit auf Erfolg dagegengehalten zu haben.
105 Ebd., S. 4. 106 Ebd., S. 6.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Kicks erzählerischer Umgang mit belastenden Zeugenaussagen Weil Johann Kick fast volle sechs Jahre als Leiter der Politischen Abteilung unzählige Verhöre geleitet oder daran teilgenommen hat, haben die amerikanischen Militärs zahlreiche Zeugen ermittelt, die mit ihren Aussagen Kick schwer belasten. Anstatt aber mit sachlichen und argumentativ logischen Worten auf die Vorwürfe einzugehen, begegnet er den Anschuldigungen mit einer Formulierung, die die heutigen RezipientInnen vor allem an das Lachen der Angeklagten in Peter Weiss’ Ermittlung erinnert: »Anybody who knows me at all has to laugh about this accusation.«107 Die Verteidigung fordert aber wiederholt und in Bezug auf konkrete Zeugenaussagen eine Stellungnahme ein, woraufhin Kick in absoluter und unmissverständlicher Weise aussagt: »I never beat a person«108 oder auch »I never made any punishment.«109 Aussagen von Zeugen, die ihn belasten, dreht er stets in ihrer Aussage einfach um (1), sagt, er wäre zum angeblichen Tatzeitpunkt gar nicht im Lager gewesen (2) oder korrigiert den Sachverhalt in einer Weise, dass die Beschuldigung als nicht mehr haltbar erscheint (3). (1) »Neither with the selection of the details or transports did I have anything to do.«110 (2)«This statement is wrong in the first place because during the time he stated which was September 44 and 1945, and I was not in the camp altogether.«111 (3) »[Frage der Verteidigung:] You say you never knew of the existence of the standing Bunker? [Antwort Kick:] As long as I was chief of the Political Department. Later on I found out about it when I was here again as the man in charge of the police prisoners, I found it was here.«112 Der Leiter der Politischen Abteilung als »harmloser Bürokrat« Kick versucht, sich als einen befehlsempfangenden und befehlserfüllenden Polizeibeamten darzustellen. Seine Handlungsmöglichkeiten reduziert er auf ein Minimum. Sowohl seine Kompetenzen als auch seine Weisungsbefugnisse beschränkten sich laut seinen Aussagen auf die Erfüllung einzelner bürokratischer Schritte, die von anderen bestimmt wurden und für die er selbst keine gestaltenden Möglichkeiten besaß. Offensichtlich war Eichmann nicht der erste Angeklagte, der das Bild eines Schreibtischtäters entwarf, um seinen Beitrag am Mord an Millionen von
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Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10.
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Menschen zu verharmlosen. Kick grenzt seinen Handlungsspielraum dezidiert ein und beruft sich auf den Befehlsnotstand. Gleichwohl er zu einem passiven Verhalten gezwungen war, war er trotzdem gewillt, gegen Exekutionen aktiv zu werden. Entsprechend diesem erzählten Selbstbild dominiert eine von Passivkonstruktionen geprägte Sprache, die von ihm nur dann durchbrochen wird, wenn er sich als aktiv handelnd darstellen möchte. Gleichzeitig spricht er vielfach in einem bürokratischen Fachjargon, der nicht nur eine sprachliche Distanz zu den ›NichtWissenden‹ im Gericht aufbaut, sondern auch dazu dient, sich selbst als Experten und somit glaubwürdig zu erzählen. Dementsprechend positioniert er sich in Bezug auf die ›Invalidentransporte‹ nach Hartheim: »I could not change these lists because I was told this was an order of the Fuehrer himself. Besides that, the chief economic office [SS Wirtschafts- und Hauptverwaltungsamt] had to receive a report of every prisoner who was contained on these lists.«113 Kick greift hier einen angeblichen ›Führerbefehl‹ auf, wegen dem er die Listen nicht beeinflussen konnte. Erneut rechtfertigt er sein Handeln mit der Konstruktion eines Befehlsnotstands. Diesmal allerdings unterstreicht er die Unausweichlichkeit seines Gehorsams, wenn er mit einem ›Führerbefehl‹ argumentiert, da solche Befehle »von der SS- und Polizeigerichtsbarkeit als absolut verbindlich aufgefasst«114 wurden. Allerdings lässt Kick seine AdressatInnen darüber völlig im Unklaren, auf welchen Befehl des ›Führers‹ er sich bezieht. Verwunderlich ist es deshalb wenig, wenn die Verteidigung von Kick wissen will, ob er von der Richtigkeit der Befehle über die ›Invalidentransporte‹ überzeugt war: »[Frage der Verteidigung:] Do you know, of your own knowledge, whether or not these orders were correct? [Antwort Kick:] I cannot state that but I had to assume that they were correct because they came from the highest police authority of the Reich, which as far as I know was granted certain authorities by the government itself and these orders were handed down because of such grave offenses, as it was stated that according to the laws of war they were punishable by the death penalty.«115 Indem Kick die Befehlsverweigerung nun direkt mit der Konsequenz der Todesstrafe verknüpft, benennt er eindeutig den juristischen Sachverhalt eines Befehlsnotstands. Seine Argumentation geht also dahin, dass, egal ob die Befehle richtig oder falsch waren, er nach ihnen handeln musste. Mit dem Einschub »as far as I 113 114
115
Ebd., S. 6. Henning Radtke, Straffreiheit durch Führerbefehl? Die Rechtswirkung von nationalsozialistischem Rechtsverständnis in der Militärjustiz am Beispiel von SS- und Polizeigerichtsbarkeit sowie Wehrmachtsjustiz, 1939-1945, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 129 (2012), S. 214-266, S. 257. Kick, S. 8.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
know« markiert er darüber hinaus einen begrenzten Wissensstand, der ihm keine andere Wahl ließ, als von der Richtigkeit der Befehle auszugehen. Letztlich deutet Kick an dieser Stelle eine Zwangslage an, die er sowohl an den hierarchischen Strukturen, aber auch am Informationsstand festmacht. Selbst wenn er es geahnt hätte, wie er es hier aufwirft, dass die Befehle nicht richtig waren, fehlte es ihm am Wissen, um dies mit Sicherheit sagen zu können, und an Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen. Geht man von Kicks Schilderungen aus, gab es im Lager standardisierte, alltägliche und normierte Abläufe. So entsteht nicht nur der Eindruck von einem formalen und korrekten Rechtsstaat, sondern auch von einem Leiter der Politischen Abteilung, der lediglich die Rolle eines kleinen Rädchens im Getriebe einnahm. In seiner Erzählung redet er so seine Rolle in der Lager-Hierarchie klein, während er das Geschehen um sich hierdurch größer macht. Seine Position sei zu unwichtig gewesen, um aktiv eingreifen zu können. Analog zum Bericht über die standardisierten Vorgänge erzählt Kick den Umgang mit den Inhaftierten als einen normalen, weil er die Lagerhaft mit einem Arrest in einem gewöhnlichen Gefängnis gleichsetzt. Dies bewerkstelligt er u.a., indem er – anders als die Verteidigung – auf die für Konzentrationslager spezifischen Begriffe verzichtet, sondern von einer Polizeihaft spricht. »[Frage der Verteidigung:] Wolf also testified that prisoners who testified on political interrogation were sent to the bunker and the standing bunkers – what do you say to that? [Antwort Kick:] It is very possible that prisoners whom I questioned were sent to the individual arrests. It is the usual custom of police authorities to separate the offenders especially as there are more than one when the questionings are over. It also happened in these cases as far as it was necessary, but in the longest cases it took maybe two or three days at the most. I never sent anybody into the standing bunker, as chief of the Political Department, I never knew it existed.«116 Wie auch schon bei der Frage nach der Misshandlung von Häftlingen ist hier das formelhafte Leugnen des Angeklagten auffällig. Er beginnt stets mit »I never«. Dies mag einerseits dem dialogischen Prinzip der Hauptverhandlung geschuldet sein, die ausführliche und variable Formulierungen kaum zulässt. Andererseits macht dies den Eindruck eines Versprechens, das mit (übertriebener) Absolutheit – ›never‹ – Fragen negiert.
116
Ebd., S. 10.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
3.7.3
Aussagen des Angeklagten Kick im Kreuzverhör
Weil Kick es im Laufe der Befragung durch die Verteidigung geschafft hat, vor allem die bürokratischen Vorgänge jenseits seiner persönlichen Verantwortung zentral zu stellen, versucht die Anklage genau diesem bisherigen Übergewicht zu begegnen. Der Angeklagte weicht aber auf die Fragen der Anklage in ähnlicher Weise aus, wie er dies bereits bei den Nachfragen zu den belastenden Zeugenaussagen während der direct examinations getan hat. »[Frage der Anklage:] Kick, is it not a fact that under the administrative regulations of the concentration camp Dachau, it was impossible to execute an inmate unless the order of execution had passed through your department? [Antwort Kick:] That too, is not true, I said yesterday, that all these procedures went through the legal officer; as far as I know the legal officer did not use such forms [nimmt hier Bezug auf ein vorgelegtes Beweismittel der Anklage] as are described here; but the execution decree of the Reich Main Security Office was directly transferred to the Schutzhaftlagerführer; this form of which we speak here I only designed myself after I had been given the job by Obersturmbannführer Weiter.«117 Auch hier fährt Kick damit fort, seine Aussagen vor allem mit den bürokratischen Vorgängen zu füllen. Er will so weiterhin den Anschein erwecken, er habe nur über einen geringen Umfang an Befugnissen verfügt. Allerdings verrät ihn die Detaildichte, mit der er die Abläufe in seiner Gegendarstellung versieht. Sowohl die Menge an Informationen als auch die Nennung anderer Personen und deren Funktionen – zumeist hierarchisch höher gestellte SS-Angehörige, die er so belasten will, um sich im gleichen Zuge zu entlasten – sollen von Aufgaben und dem Handeln des Angeklagten ablenken. Dieser Detaildichte begegnet die Anklage mit Fragen, die fast immer mit dem Einschub »is it not a fact« eingeleitet werden, um ihn zu einer klaren und möglichst reduzierten Antwort zu bringen, idealerweise reduziert auf ein ›ja‹ oder ›nein‹. Ähnlich wie Schilling, der vor allem mit einem medizinischen ›Fachwissen‹ und Fachjargon gegen die Vorwürfe des Gerichts argumentiert, verfährt auch Kick, wenn er den detaillierten Fragen der Anklage – sie sind wesentlich präziser als die der Verteidigung – mit ebenso genauen Gegen- und Richtigstellungen begegnet. Das Kreuzverhör wird so zu einem argumentativen Schlagabtausch.
117
Kick, S. 17. Eduard Weiterer, geboren am 18. Juli 1889 in Eschwege, ab Oktober 1936 Verwaltungsführer bei SS-Einheiten, 1937 Eintritt in die NSDAP, ab dem 1. Oktober 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Dachau, 2. Mai 1945 Suizid. E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 665. Tom Segev, Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZKommandanten, Hamburg 1992, S. 162-164.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Sprachlich tritt Kick selbstbewusst auf, um die Sachverhalte aus seiner Sicht richtig darzustellen, und lässt keine Zweifel an der Richtigkeit der Aussagen in seinen Formulierungen aufkommen: »Here we deal with something else again; in this case here we deal only with the execution decrees of the Reich Main Security Office, which were done without the concentration camp doing anything about it; while there we speak of the requests which were made by the camp.«118 Letztlich verfolgt er damit das Ziel, die Anklage – sowohl die schriftliche Form als auch die vor Gericht personalisierte – zu diffamieren: Ein Prozess wird geführt, obwohl die Initiatoren keine Ahnung von den verhandelten Geschehnissen hatten. Die Anklage arbeitet hier sämtliche Vorwürfe gegen den Anklagten ab und verlangt eine klare und vor allem kurze Antwort des Angeklagten. So sind die Fragen in einer ausführlichen und präzisen Form gestellt, die dem Angeklagten nur eine knappe Antwort ermöglichen soll. Ein Wiedererzählen findet hier vor allem im Kontrast zu den vorherigen Zeugenaussagen der Anklage statt.
3.7.4
Erneutes Verhör durch die Verteidigung (redirect examination)
Diese Fragetechnik, die auf eine möglichst reduzierte Antwort abzielt, ändert sich wieder, als die Verteidigung den Angeklagten erneut befragt. So revidiert Kick in aller Ausführlichkeit seine Aussagen, die er im Vorfeld der Hauptverhandlung gemacht hatte und die vor allem die Grundlage für das Kreuzverhör der Anklage bildeten bzw. als Kontrastfolie zu den Aussagen Kicks im direct examination von der Anklage verwendet wurden: »These statements about requests for executions by the camp, as well as the time when the second list was handed over, were made by me in error; but thinking about it I could determine that these proposals for executions could be made only in the year 1944, and during the trial I could determine exactly the time when the second list [Listen über die Personen, die für einen ›Invalidentransport‹ vorgesehen waren] was handed over, because from the death list it could be since that past year registrated there, in October, November, 1942 than these second transports must have been carried out at this time or before this time.«119 Durch die genaue Darstellung der formalen Vorgänge umgeht es Kick, sich selbst darin zu verorten. Will man den ehemaligen Leiter der Abteilung II des Konzentrationslagers Dachau weltanschaulich verorten, so misslingt dies gerade wegen dieser unpersönlichen Schilderung von formalisierten Vorgängen. Besonders auffallend ist dies, wenn man kontrastiv dazu die Aussagen Schillings während der Hauptverhandlung liest. Im Falle Kicks verweilt die Vernehmung, gerade während 118 119
Ebd., S. 18. Ebd., S. 30.
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des Verhörs durch die Anklage, in einem wie Streit anmutenden Gespräch über die Richtigkeit von Details, Beweismitteln und der Frage, wie glaubhaft einzelne Aussagen sind. Zur Klärung über die Schuld Kicks tragen die Vernehmungen aber nur wenig bei. Diese Form ändert sich erst grundlegend, als die Verteidigung auf die angeblichen Misshandlungen während des Verhörs des Beschuldigten Kick durch das amerikanische Militär eingeht. Kick formuliert nun, in deutlichen Ich-Positionen: »The treatment at that time influenced to that extent, that I did not dare to refuse to sign, in spite of the fact that it did not contain the testimony I gave.«120 Durch diese Themenverschiebung – abgesehen davon, dass die Richtigkeit dieser Behauptung die vorprozessualen Verhöre nutzlos machen würde – ist nicht mehr länger Kicks Handeln, sondern die angebliche Misshandlung durch die amerikanischen Offiziere Thema.121
3.8
Prof. Dr. Klaus Karl Schillings Selbsterzählung vor dem Dachauer Militärgericht
Prof. Dr. Klaus Schilling war nicht als Angehöriger der SS, sondern als Zivilist angeklagt, Teil des gemeinschaftlichen Vorhabens gewesen zu sein. Im Konzentrationslager Dachau führte er als Tropenarzt medizinische Versuche an Menschen auf der Suche nach einem Impfstoff gegen Malaria durch.
3.8.1
NS-Medizin und Schillings Suche nach einem Malaria-Impfstoff
Die Mediziner in Konzentrationslagern hatten vor allem vier Aufgaben: »(1) arbeitsunfähige Patienten zu ›selektieren‹, um sie sodann zu vernichten; (2) körperliche Misshandlungen und Folter der Gefangenen unter dem lagerinternen Disziplinarsystem zu überwachen; (3) Hinrichtungen zu überwachen und (4) selbst Patienten zu töten. Die medizinische Abteilung des Konzentrationslagers Dachau hatte noch einen zusätzlichen Zweck: den Missbrauch von Gefangenen als ›Versuchskaninchen‹ für medizinische Experimente.«122 Medizinische Versuche an den Häftlingen wurden in zahlreichen Konzentrations- und Vernichtungslagern durchgeführt, so u.a. in Ravensbrück, Buchenwald sowie Auschwitz. Wie sich auch mit dem Blick auf Klaus Schillings Aussagen in der Dachauer Hauptverhandlung bestätigen lässt,
120 Ebd., S. 34. 121 Die vorprozessualen Verhöre wurden durch vereidigte amerikanische Offiziere durchgeführt. H. Lessing, Der erste Dachauer Prozeß, S. 234. 122 M.S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau, S. 114.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
»identifizierten sich [die Ärzte] in starkem Maße mit der NS-Diktatur, wofür mehrere Ursachen angeführt werden können. Die ›hygienische Revolution‹ des medizinischen Denkens hatte die Mediziner für gesellschaftssanitäre Utopien anfällig gemacht, während sich ihre eigene soziale Sicherheit stark verschlechterte. Sozialdarwinistisches Denken war den Ärzten seit der Jahrhundertwende vertraut und verhalf dem effizienzorientierten Paradigma des Heilens und Vernichtens sicherlich zu einer größeren Akzeptanz«123 . Schilling, 1871 in München geboren, kann vorbehaltlos dieser von Eugenik und rassenideologischem Denken durchfärbten Mentalität zugeordnet werden. Nachdem er in München und u.a. bei Robert Koch in Berlin Medizin studiert hatte, wurde er im ausgehenden 19. Jahrhundert Regierungsarzt in Togo und DeutschOstafrika.124 Zwischen 1905 und 1936 war er Leiter der tropenmedizinischen Abteilung am Robert-Koch-Institut in Berlin. Schilling war ein renommierter und angesehener Wissenschaftler. Für seine Studien zur Tsetse-Krankheit erhielt er ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung. Er forschte im Bereich der Ätiologie und der Tropenkrankheiten. Während eines längeren Forschungsaufenthalts in Italien begann Schilling mit seinen Arbeiten zu einem möglichen MalariaImpfstoff. Von 1932 bis 1944 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft seine Studien. Zunächst in Siena, dann in Volterra führte er dazu Versuche an psychiatrischen Patienten durch. In seinem Abschlussbericht behauptete Schilling, einen wirksamen Impfstoff gefunden zu haben. Nachdem Schilling in Rom auf den Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti gestoßen war und dieser den Tropenmediziner mit dem Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, bekannt gemacht hatte, beauftragte Himmler die beiden, Forschungen zu einem möglichen Malaria-Impfstoff fortzuführen. Nicht nur die Rückeroberung ehemaliger deutscher Kolonien war der Grund hierfür, es kam auch auf dem Balkan immer wieder zu Malaria-Erkrankungen von Wehrmachts- und SS-Angehörigen. Schilling führte ab Januar 1942 seine Versuche vor allem an geistlichen Inhaftierten in der Malaria-Versuchsstation des Konzentrationslagers Dachau durch.125 Nach einer Infizierung der Inhaftierten mit Malaria verabreichte er ihnen verschiedene Mittel, die zur Heilung führen sollten. Vermutlich wurden 1.200 Menschen Opfer dieser medizinischen Versuche, 30 starben in direkter Folge der Infizierung
123
Angelika Ebbinghaus, Mediziner vor Gericht, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Bd. 7), Wien 2008, S. 203-224, S. 217. 124 Diese ehemalige Kolonie umfasste heutige Gebiete von Ruanda, Burundi, Tansania und Mosambik. 125 Ein Bericht des ehemaligen Schreibers der Malaria-Versuchsstation Eugène Ost findet sich in Eugène Ost, Die Malaria-Versuchsstation im Konzentrationslager Dachau, in: Dachauer Hefte 4 (1988), S. 174-189.
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mit Malaria oder an einer Überdosis sowie bis zu 400 Inhaftierte aufgrund dadurch hervorgerufener Komplikationen. Überlebten die Häftlinge, so litten sie oftmals an Haarausfall, Fieber, Lähmungen und geschwollenen Gliedmaßen. Diese Folgen der medizinischen Versuche verschärften die Haftsituation im Konzentrationslager Dachau für die Menschen enorm und konnten schnell einem Todesurteil gleichkommen. Am 28. April 1946 wurde Schilling nach seiner Verurteilung im Dezember 1945 durch das amerikanische Militärgericht von Dachau in Landsberg am Lech hingerichtet.126
3.8.2
Aussagen des Angeklagten Schilling im Verhör durch die Verteidigung (direct examination)
Gemäß der amerikanischen Militärprozessordnung beginnt die Befragung des Angeklagten mit einem direct examination durch die Verteidigung. Zunächst werden die persönlichen Angaben, Alter, Familienstand und Beruf erfasst. Die ersten vier Seiten der Befragung umfassen somit vor allem seinen persönlichen und beruflichen Lebensweg. Auf die klaren Fragen reagiert Schilling mit kurzen, informativen und sprachlich nur wenig ausgestalteten Antworten. Ein interpretatorischer Spielraum ist hier nicht greifbar. Von einer fragmentarischen Selbsterzählung muss vor allem gesprochen werden, weil trotz der zu Beginn erfassten biografischen Daten vor allem die Ereignisse um Tatort und Tatzeit entscheidend sind. Konstruktion eines Befehlsnotstands? Die Verteidigung weist auf das Zusammentreffen des Angeklagten Schilling mit dem Reichsgesundheitsführer Conti127 hin. In diesem Zusammenhang wird das politische, staatliche und militärische Interesse an der Fortführung und Ausdehnung der Malaria-Experimente deutlich. Ausgerechnet dieses Treffen kann als Versuch gewertet werden, für die Situation Schillings einen Befehlsnotstand zu konstruieren. So führt er die Initiative für die Versuche im Konzentrationslager Dachau auf Contis Äußerung in Rom zurück: »Dr. Conti told me that he wanted to talk to me in more details that evening and at that conference he said it was
126
127
N. Wachsmann, KL, S. 500. M.S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SSPersonal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau, S. 115-116. E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 535. Leonardo Conti, von 1939 bis 1944 Reichsgesundheitsführer, erlangte als höchsten Rang den eines SS-Obergruppenführers; zudem war er Reichsärzteführer und Staatssekretär im Reichsinnenministerium und ab 1939 Leiter des ersten Hauptamtes für Volksgesundheit. In diesen Funktionen nahm er an der »Brandenburger Probevergasung« zur Vorbereitung der Aktion T4 teil. Noch vor Beginn des Nürnberger Ärzteprozesses nahm Conti sich das Leben.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
right to continue these experiments in Germany.«128 Die weitere Befragung geht chronologisch vor, indem sie zum Treffen mit Heinrich Himmler übergeht und in weiterer Konsequenz das hierarchische Verhältnis verdeutlichen möchte. Der angebliche Befehl wird noch zusätzlich personalisiert: »Himmler, himself, gave me the order to continue my studies in Dachau.«129 Unmittelbar danach relativiert Schilling diese persönliche Note des Befehls: »As far as I can remember there was no talk about that with Himmler. But I talked with Dr. Conti or Dr. Grawitz130 that the prisoners could be used voluntarily but this question was not discussed at all at that time.«131 Zunehmend können die RezipientInnen nun das (strategische) Vorgehen Schillings greifen. Seine Aussagen schränkt der Mediziner mit »soweit er sich erinnern könne« ein. Der Angeklagte möchte sich nicht festlegen und den Befehl zu den medizinischen Experimenten will er nun ebenfalls nicht mehr von Himmler persönlich erhalten haben. Entsprechend seiner späteren Äußerung mag sich dahinter bereits eine gewisse Form der wissenschaftlichen Eitelkeit verbergen, die es nicht zulassen möchte, dass andere als er selbst die Forschung nach einem Malaria-Impfstoff verfolgt haben. Von der Möglichkeit einer freien Entscheidung der Häftlinge über die Teilnahme an den Experimenten auszugehen, macht den Anschein, Schilling habe im Jahr 1941 wenig über die Haftbedingungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern gewusst. In seinen Aussagen pflegt er darüber eine Naivität an den Tag zu legen, die eine wissenschaftliche Entrücktheit vorgibt, letztlich aber schlicht verantwortungslos war. Für seinen Ehrgeiz und die Bereitschaft, die menschliche Würde so offensichtlich mit Füßen zu treten, mag auch das Theorem Kershaws über die Handlungsdynamik – »dem Führer entgegen arbeiten« – nicht greifen, denn Schilling arbeitet vor allem seinem – fragwürdigen – wissenschaftlichen Prestige entgegen. Durchführung der medizinischen Experimente und der erzählerische Umgang mit der konflikthaften Parallelität zweier Moralvorstellungen Wenn es zum Thema der konkreten Durchführung der Experimente kommt, kann Schilling sich als Experte darstellen. In der Folge stehen in der gesamten Befragung durch die Verteidigung nicht die Opfer der Menschenversuche, sondern die
128
Prof. Klaus Karl Schilling, Hauptverhandlung im Dachauer Hauptprozess, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozess, Film 1/3, S. 4-5. 129 Ebd., S. 6. 130 Ernst Grawitz, geboren am 8. Juni 1899 in Berlin, war ab 1937 Reichsarzt-SS und geschäftsführender Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. In seiner Funktion als Chef des Sanitätswesens der SS war er für die Menschenversuche in den Konzentrationslagern verantwortlich. Grawitz beging Ende April 1945 Selbstmord. E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 198. 131 Schilling, S. 6.
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Experimente und die Ansichten Schillings darüber im Zentrum. Das Leid der Häftlinge rückt vollkommen in den Hintergrund. Angesichts dessen ist es nur schlüssig, dass die Verteidigung argumentativ den Weg beschreitet, (mögliche) Erkenntnisse aus Schillings Versuchen zu belegen. Zuallererst ist es aber die Rolle des Experten, die es zu belegen gilt. Schilling verfolgt dies vor allem in einem überheblichen Sprachduktus: »I was asked hundreds of times why I do not work with animals. The simple answer is that malaria of the human being cannot be transmitted to animals – even highly developed apes, chimpanzees are not receivers of malaria. And that is a recognized principle of malaria experiments.«132 Der hier arrogante Grundton – 100 Mal habe er schon die gleiche Frage gestellt bekommen – und die Bewertung seiner Antwort als offensichtlich und allgemein anerkanntes Faktum zeigen Schilling als Angeklagten, der nicht nur über keinerlei Schuldbewusstsein verfügt, sondern auch zum Zeitpunkt des Prozesses noch von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt ist. Falsch liegen vielmehr die Personen, die ihm diese unqualifizierten Fragen zum wiederholten Male stellen. Besonders signifikant ist diese Ausführung, weil er weder durch die Verteidigung noch durch das Gericht nach einer Begründung für die humanmedizinischen Versuche gefragt wurde. Wenn er die Häufigkeit dieser Frage und ebenso seiner Antwort darauf markiert, soll das einerseits die Evidenz seiner Argumentation beweisen und anderseits seine Rolle als Experte festigen. Aus seiner Sicht schränkt er so gleichzeitig das Urteilsvermögen des Gerichts ein, wenn er die Unmöglichkeit von Tierversuchen als einen allgemein anerkannten Fakt markiert. Diese nicht eingeforderte Rechtfertigung könnte also letztlich als eine Form des Schuldeingeständnisses gewertet werden, gleichzeitig wird aber dieses Bekenntnis eingeschränkt, weil er sein Vorgehen als alternativlos darstellt. Das Bewusstsein, moralisch nicht richtig gehandelt zu haben, ist bei Schilling trotz allem vorhanden und dies nicht nur, weil er sich nun vor Gericht verantworten muss. Gesine Schwan nennt dies, unter Rückbezug auf die Überlegungen von Herbert Jägers Studie über Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, »konflikthafte Parallelität«133 . Klares Indiz hierfür ist die unaufgeforderte wiederholte Rechtfertigung der Menschenversuche in der Dachauer Malariastation. Schilling blendet die (Lebens-)Situation der Häftlinge vor Ort im Lager völlig aus und erweckt den Anschein, als habe es sich um ein völlig gewöhnliches ArztPatienten-Verhältnis gehandelt, wenn er das verwehrte Recht auf körperliche Unversehrtheit mit ärztlicher Fürsorgepflicht rechtfertigt. Das Konzentrationslager
132 133
Ebd., S. 11. Gesine Schwan, Wussten sie nicht, was sie tun? S. 142. Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt a.M. 1982.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
und die dortigen Lebensbedingungen für die Insassen kommen auf seiner gedanklichen Landkarte nicht vor. Er gibt den Anschein von herkömmlichem Verhalten in gewöhnlichen Umständen vor. Durch die erzählte Alltäglichkeit stellt Schilling in der Folge seine Anklage in Frage. Da er aber das Gewöhnliche und den Alltag so sehr betont, verursacht er einen gegenteiligen Eindruck: »If, in view of his paresis, he is still able to decide whether or not he wishes to be inoculated, then he can state whether he wants that treatment or not. If he no longer is able to decide whether or not he wants to be treated then it remains for the relatives of the patient concerned to be asked. When there are no relatives available, which happens from time to time, then I do not think that any physician would hesitate with malaria to use on the patient without his consent.«134 Als ungewöhnlich ordnet er sein Handeln ein, wenn er es als ein moralisches Plus vermittelt, dass er durch seine ›Forschung‹ half, einen Impfstoff gegen Malaria zu finden. »[Frage der Verteidigung:] Doctor, if Himmler were to ask you today to conduct these experiments that you conducted at Dachau, what would you answer him? [Antwort Schillings:] On volunteers, ›yes‹, on people who do not volunteer ›no‹. I believe that the burden on the soul of a person who has to do such things without consent is too large. Because of the tremendous importance which such a protective inoculation of malaria is, I could have had continued the experiments. In 1932 the Malaria Commission of the League of Nations determined that in that year about 17 million cases of malaria occurred in the world. In southern states of America there were approximately 1 million malaria patients in 1936. From that you can see easily what importance such a prophylactic inoculation would have.«135 In zunächst nicht personalisierter Form spricht er von der Last der Aufgabe von humanmedizinischen Versuchen. Er bereitet so also den Weg für ein empathisches Verständnis für sein Verhalten bei Richter und Anklage vor. Die Dringlichkeit seiner Forschungen begründet er mit Zahlen einer offiziellen Stelle, dem Völkerbund, um dann zum wiederholten Male seine Verbrechen als Mittel zu einem höheren Zweck zu rechtfertigen. Wenn Schilling an dieser Stelle deutlich macht, dass er erstens wusste, dass die Häftlinge zur Teilnahme an den Versuchen gezwungen wurden, und zweitens sich darüber im Klaren war bzw. ist, dass dies durchaus kein richtiges Verhalten war – schließlich gibt er an, die Versuche nur an Freiwilligen durchgeführt haben zu wollen –, unternimmt auch er den Versuch, sich selbst als Opfer der Umstände darzustellen. Auffallend ist an dieser Stelle das Bemühen, Emotionen in Bezug auf die eigene Person bei den AdressatInnen zu wecken. 134 135
Schilling, S. 21. Ebd., S. 21 und 22.
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Wenn Schilling die Durchführung seiner Versuche und den Umgang mit den Opfern dieser Experimente erzählt, dominieren die preußisch geprägten Sekundärtugenden, mit denen er die Art und Weise seiner ›Arbeit‹ beschreibt. Ähnlich wie Eichmann in seiner Selbstinszenierung vor dem Jerusalemer Gericht erscheint auch Schilling hierdurch banal in seinem verbrecherischen Handeln. So auch, wenn er auf die Frage, ob er mit Malaria infizierte Häftlinge auf eine andere Krankenstation verlegt hatte, eingeht: »[I]f a patient became sick in my ward of an infectious disease, then it would have been a crime against my duty as a doctor to let the patient lie among the other patients, because then I would have further infections in the ward. It would have been pitiful if I had transferred the man into another ward just to say that this man did not die in my ward.«136 Er argumentiert hier auf der Basis von Pflichtvorstellungen als Arzt und einer Idee von Ehre und Ehrlichkeit. Diese Vorstellungen projiziert er allerdings lediglich auf sein wissenschaftliches Arbeiten. Zu keinem Zeitpunkt bedauert er die Patienten. Ihren Zustand thematisiert er nur, wenn dieser seine wissenschaftliche Forschung tangiert. Am Ende des direct examinations geht Schilling erneut auf seinen erzählten ›Gewissenskonflikt‹ ein, nachdem die Verteidigung dezidiert nach seinen Motiven für die Durchführung der Malaria-Versuche gefragt hat: »Before the conversation took place with Doctor Conti, and above all, with Himmler, I stood, you might say, in front of a scale. On the one side there were the thoughts and considerations which each doctor must have if he desires to perform experiments on human beings. On the other side of the scales there was the great importance of these experiments. I said yesterday 17 million cases of malaria were determined by commission of the League of Nations, of which I am a member myself, and these millions of sicknesses, and even death cases, they constituted the heavy weight which tipped the scales. I knew of the responsibility and I took it upon myself, in the name of science, and above all, in the name of humanity.«137 Diese Rechtfertigung seiner Entscheidung, sich trotz der eigenen Bedenken für die Versuche an Menschen zu entscheiden, verbindet er mit einer direkten Adressierung der Zuhörerschaft – »you might say« – und legt dieser im wahrsten Sinne des Wortes seine Deutung seines moralischen Dilemmas in den Mund. Schilling führt in dieser bilanzierenden Aussage am Ende des direct examinations das sprachliche Bild einer Waage ein, um seinen Entscheidungskonflikt darzustellen. Entsprechend seiner Entscheidung für die medizinischen Versuche fällt der Teil für den Beleg, warum er so entschieden habe, umfangreicher aus und er rechtfertigt sich 136 137
Ebd., S. 26. Ebd., S. 27.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
mittels Sachbeweisen wie der Untersuchungen des Völkerbundes. Sein abschließender Satz über das Wissen um seine Verantwortung, die er im Namen der Wissenschaft und Menschheit auf sich nahm, gleicht einer heroischen Schlussformel. Hier gibt es den klaren Rückbezug seiner Entscheidung auf seine eigene Person, was er noch einmal mit der Verantwortung, die er alleine dafür trägt, verdeutlicht. Allerdings ist es durch seine Heroisierung keine Verantwortung im negativen Sinne, sondern Schilling stilisiert sich zum Opfer. Signifikant ist seine Formulierung ›im Namen der Menschheit‹, die – gewollt oder nicht gewollt – die Assoziation zu den ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ wecken. In seinen Augen trägt der Mediziner also diese Bürde, um Menschheit und Wissenschaft voranzubringen, und war in seinen Augen einer Zwangslage ausgesetzt. Sprachlich vollzieht er seine Schlussfolgerung durch einen Wechsel zwischen einer klaren personalisierten Darstellung und einem ent-personalisierten Stil, der einerseits die Objektivität, aber auch die Sachlichkeit seines Entscheidungswegs darstellen soll. Tod von Häftlingen infolge der Malaria-Versuche »According to my knowledge, not a single one died of uncomplicated malaria. Not a single case was told me by Doctor Blaha, who performed the autopsies that showed malaria as a pure cause of death without complication. It would have been of very great interest to see such a case and to determine that this is a case where death was caused by pure malaria.«138 Nicht nur an dieser Stelle, sondern immer wieder relativiert Schilling sein Wissen über die Versuche und ihre Folgen. Er bezieht das Ausgesagte dezidiert auf seinen persönlichen Wissensstand und führt gleichzeitig die Beteiligung anderer, vor allem des ehemaligen Funktionshäftlings Dr. František Blaha an. Er spielt so mit der Möglichkeit, dass er über bestimmte Vorgänge und Details nicht informiert wurde. Unterstellt er implizit dem Häftlingsarzt, Informationen unterschlagen zu haben, thematisiert er aber auch parallel die Haftbedingungen. Denn wären Häftlinge ›lediglich‹ an Malaria erkrankt, hätte Dr. Blaha ihn informiert. Die Objektivierung und Versachlichung der Versuchsopfer – im Folgenden wird dies noch genauer thematisiert – führt er auch hier wieder durch, wenn er sein Interesse an einem Malariaopfer aus medizinischem Interesse betont, den Tod eines Menschen aber nicht für erwähnenswert hält. Wenn er dies auch noch mit der Versorgung der Häftlinge verknüpft, generiert sein naiver und unbekümmerter Duktus zynische Züge. Da er an dieser Stelle die AdressatInnen wiederholt anspricht und dezidiert deren Schlussfolgerungen für falsch erklärt, markiert er für seine Aussage einen Wahrheitsanspruch:
138
Ebd., S. 25.
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»[Y]ou can say that the food that these people received was at least sufficient. At first, I was able to give the patients additional food, food in addition to their regular diet. This additional food was bread, fat, margarine, and above all, milk. That was the addition which was given the hard labourers. Under those circumstances, you cannot say, that the patients did not get enough to eat.«139 Auswahl der Häftlinge – Mensch als Material »The highest offices in Berlin conceded to me that I would be made available approximately 30 patients per month.«140 Dieser Satz kann nicht unbedingt als ein Zeichen für einen hohen Grad nationalsozialistischer Ideologisierung gewertet werden, Schilling zeigt sich hier vielmehr von einer Weltanschauung geprägt – man beachte, dass der Tropenmediziner Jahrgang 1871 ist –, die so gesehen den Nationalsozialismus mitgeprägt hat, und er demonstriert erneut, dass sein Handeln von seiner Hybris als Mediziner geleitet ist. In einer völligen Objektivierung spricht er von den Häftlingen – 30 Patienten pro Monat wurden ihm versprochen; die Menschen sind reines Material. In vollkommener Selbstverständlichkeit geht er davon aus, dass ihm die Inhaftierten für seine Experimente zustehen würden. Dies widerspricht aber wiederum der angeblichen Möglichkeit der Häftlinge, sich auf der Basis ihres freien Willens für oder gegen eine Teilnahme an den Versuchen entscheiden zu können, wie er behauptet: »[Frage der Verteidigung:] Were the patients that you used here in Dachau voluntary or involuntary? [Antwort Schilling:] This question was considered only with a very few patients. There were only about four or five patients who refused to be immunized. I talked to these four or five patients and I explained to them that the vaccination would not be dangerous to them and that these experiments are of such a great importance that they could cause a great scientific discovery. Then these four or five patients did not offer any resistance anymore. […] I want to state here that I never determined an individual patient for these malaria experiments, but I let my assistants select these patients – that is, the SS doctors.«141 Ganz deutlich will Schilling hier das Problem einer unfreiwilligen Teilnahme der Häftlinge an den Malariaexperimenten marginalisieren. So belegt er die vermeintliche Irrelevanz der Frage mit der geringen Zahl an Häftlingen, die sich weigerte, an den Versuchen teilzunehmen, und wiederholt diese Zahl von angeblich nur vier bis fünf Häftlingen insgesamt dreimal in diesem kurzen Absatz. Die bloße Zahl von
139 Ebd., S. 26. 140 Ebd., S. 14. 141 Ebd., S. 13f.
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115 Versuchsreihen und ca. 1.200 teilnehmenden Häftlingen demonstriert, dass die rein inhaltliche Ebene in seiner Aussage nicht richtig sein kann.142 In aller Deutlichkeit, mittels einer klaren Ich-Positionierung verknüpft mit einer Negation, will er zeigen, dass er niemanden zur Teilnahme gezwungen habe. Weil er aber selbst weiß, dass dem so nicht war, relativiert er seine Aussage und informiert darüber, dass die SS-Ärzte die Auswahl der Häftlinge vornahmen, weist so aber jede persönliche Verantwortlichkeit zurück. Aber jenseits dessen geben seine Äußerungen auch Auskunft über sein mentales Erzählskript. Selbst die Häftlinge wären von der Richtigkeit seiner Versuche überzeugt gewesen und selbst diejenigen, die sich zunächst weigerten, hätte er überzeugen können. Er suggeriert so, dass alle dazu bereit gewesen wären, im Dienste einer höheren Sache, der medizinischen Erkenntnis, die eigenen Interessen und Bedenken hintenan zu stellen. Schilling gibt vor, fürsorglich und verständnisvoll mit den Häftlingen umgegangen zu sein. Den Zweck seiner Fürsorge und seines Verständnisses, nämlich ausreichend Menschen für tödliche medizinische Versuche verfügbar zu machen, benennt er allerdings nicht. Diese Leerstelle wählt er bewusst, da die RezipientInnen sie so auch zu seinen Gunsten auslegen können. Allerdings weist der Kontext des Konzentrationslagers und der nationalsozialistischen Ideologie in eine andere Richtung. »All these patients were admitted with very few exceptions to the malaria ward before they were infected. There I saw them daily and the temperature was taken every three hours every day and night immediately after their admittance to the malaria ward. So therefore, it could be determined with great security that the patient who was admitted to the ward was not affected already. The smallest rise in temperature could be known at any time.«143 Dass nicht die Fürsorge für die Häftlinge, sondern vielmehr die Sorge um seine Forschung Motiv für seine Umsicht war, macht er auch noch einmal implizit, aber wegen der erhöhten erzählerischen Gestaltung erkennbar deutlich: »I myself, instructed them [assistants], ›Come back if you feel sick in any way at all‹ […] and one after the other was asked ›Do you feel well‹ or ›Do you have any fever‹ or anything that sort […] I told the patient, ›In your own interest, tell us if you have been ill. If you don’t tell meor don’t report yourself, then how can I treat you.‹«144 Es häuft sich hier das Mittel der szenischen Reinszenierung. Schilling verstärkt seine Position, indem er vorgibt, in der gesamten Malaria-Versuchsstation hät-
142 Wolfgang Uwe Eckert, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien 2012, S. 302. 143 Schilling, S. 12. 144 Ebd., S. 19f.
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te dieser angeblich fürsorgliche Ton vorgeherrscht. Gleichzeitig geht er in seiner Schuldzurückweisung so weit, dass er die Verantwortung für eine lebensgefährliche Erkrankung den Häftlingen selbst zuweist. Angeblich habe er die Häftlinge aufgefordert, sich im Krankheitsfall an ihn zu wenden: »That patients were afraid of my treatments and that they had medicine come from outside the camp, that I never knew. For such stupid patients I could do nothing.«145 Einerseits findet sich hier eine klare Schuldzuweisung an die Gefangenen, die sich laut Schilling durch Selbstmedikamentierung und Des-Information selbst in Gefahr gebracht haben. Andererseits mutet seine verwunderte Äußerung über die Angst der Inhaftierten vor einer Behandlung durch ihn zynisch an. Wenn die kranken Häftlinge aus der Sicht der SS keinen Nutzen mehr erbrachten und sich Schillings Versuchen auslieferten, konnten sie sogar für einen Todestransport nach Hartheim eingeteilt werden. Schilling informiert genau und detailliert über die Auswahl und das Vorgehen bei seinen Experimenten. Das Gericht soll so den Eindruck von einem sorgfältigen und gewissenhaften Mediziner erhalten. Entscheidend ist aber, dass die engmaschige Überwachung nicht dazu diente, möglichst früh zu diagnostizieren und dementsprechend effektiv zu behandeln. Viel eher sollte lediglich eine Vorerkrankung rechtzeitig erkannt werden, um nicht durch eine mögliche Ansteckung andere Häftlinge für die Versuche unbrauchbar zu machen und generell die Versuchsreihe nicht zu gefährden. Die Frage »Did any of your patients that you were experimenting with die as a result of the dosage with 6 grams of neo-salvarsan?«146 weist er entschieden und sehr deutlich von sich mit nicht nur einer Verneinung. Allerdings schränkt er die Negation ein, weil er angibt, dies wäre gemäß seinen Kenntnissen so gewesen: »No, not that I know of. Nothing of that sort was told to me.«147 Einerseits negiert Schilling also den Tod von Häftlingen infolge einer Injektion von Neosalvarsan, andererseits schränkt er den Anspruch dieser Aussage als gültige Wahrheit ein, indem er seine Antwort deutlich als eine subjektive markiert. Letztlich weicht er durch diese Form einer klaren Antwort aus. In Bezug auf diesen Wirkstoff sieht Schilling sich offensichtlich unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck, auch wegen der wiederholten Nachfragen der Verteidigung in diesem Zusammenhang. Dementsprechend nimmt das Maß seiner erzählerischen Gestaltung zu. So verwendet er erneut das Mittel einer szenischen Re-Inszenierung und belastet damit zugleich den Funktionshäftling Dr. Blaha, der als Arzt im Krankenrevier arbeiten musste. »If Dr. Blaha had told me, ›Here you have a case which was
145 Ebd., S. 20. 146 Ebd., S. 18. 147 Ebd.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
treated with neo-salvarsan‹, then I would have come to that autopsy room to see it. It was a high diagnosis to see if it was neo-salvarsan poisoning.«148 Der Häftling wird von ihm zu einer bloßen Sache und Versuchsträger enthumanisiert. Seine eigene Sorgfalt und Umsicht dienten lediglich seiner Studie. Durch ihre Funktion erhalten die Inhaftierten für den Tropenmediziner Relevanz, – »and then the patients were called as they were needed«149 . Schilling steht somit für eine Auffassung von Wissenschaftsethik, die bereits in völkischen Kreisen im Kaiserreich beheimatet war. Dazu passend sieht er sich als integrer, rein an der wissenschaftlichen Erkenntnis interessierter Forscher, der sich nur ungern die Hände schmutzig macht, denn die Auswahl der Häftlinge überlässt er den SS-Ärzten. Es mutet gerade deshalb völlig pedantisch und uneinsichtig an, wenn Schilling in der Hauptverhandlung seine Notizen über bestimmte Patienten als Beleg für sein korrektes Verhalten vorlegt.150 Er fährt exakt dieser Haltung gemäß fort, wenn er sagt: »After the number of candidates kept in reserve decreased, then I wrote an application to the commandant for new prisoners.«151 Autoritäten wie den Lagerkommandanten und Himmler erwähnt er immer wieder, um einerseits seine Unabhängigkeit, die Wichtigkeit seiner Untersuchungen, aber andererseits auf perfide Weise einen Befehlsnotstand für seine Person zu konstruieren. »It was an order from Himmler himself to the camp commandant that the commandant should grant me every possible support during my experiments. I know myself, that Himmler himself was personally interested.«152 Das persönliche Interesse des Reichsführers an seinen Versuchen instrumentalisiert er für eine subtile Konstruktion eines Befehlsnotstands. Offensichtlich weigert Schilling sich, die Unrechtmäßigkeit und menschenverachtende Dimension seiner Experimente überhaupt in Betracht zu ziehen. Letztlich entpersonalisiert er seine Versuche in Bezug auf sich selbst und auf die Häftlinge: Er ist nur an den ›wissenschaftlichen‹ Ergebnissen interessiert, die Leidtragenden stellen lediglich ein Mittel zum Zweck dar. Schillings Aussagen über die Malaria-Experimente sind gemäß einer wissenschaftlichen Abhandlung aufgebaut, entsprechen demnach also durchaus den argumentativen Anforderungen, denen eine (Selbst-)Erzählung vor Gericht entsprechen sollte. Seine Darstellungen sind jedoch völlig losgelöst von jeglichem ethischen Reflektieren über seine Verletzung der Würde der inhaftierten Menschen. Die Versachlichung und Ent-Individualisierung, die die nationalsozialistische Konzentrationslagerhaft mit der Nummerierung der Häftlinge, dem Kahlscheren ih148 149 150 151 152
Ebd., S. 19. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd.
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rer Köpfe und ihrer Uniformierung verfolgt, nimmt er bereitwillig oder zumindest billigend in Kauf. Sein Nicht-Einsehen basiert auf dem irrwitzigen Glauben, durch seine menschenverachtenden Versuche einen wichtigen Beitrag zur MalariaForschung leisten zu können. Er sieht sich dazu in der Lage, die Prioritäten richtig setzen zu können. Wenig überraschend prägt Schilling in seinen Aussagen den Eindruck von einem »mad monologist«153 .
3.8.3
Aussagen Schillings im Kreuzverhör
Während des direct examinations stellt Schilling Behandlung und Wirkstoffe, wie etwa das Mittel Pyramidon en détail dar. Er nutzt so vor allem die Gelegenheit, sein Wissen und ›Können‹ zu demonstrieren. Die Folgen für die Häftlinge geraten dadurch aber deutlich in den Hintergrund. Er spricht in erster Linie im medizinischen Fachjargon. Die Menschen als leidtragenden Teil der Versuche lässt er so völlig außer Acht. Tatsächlich ändert sich diese Perspektive dann im cross examination der Anklage. Nicht nur den heutigen RezipientInnen, sondern auch den zeitgenössischen AdressatInnen von Schillings Aussagen fiel die Formulierung »in the name of humanity«154 in seinem abschließenden Plädoyer des direct examinations auf. Die Anklage nimmt dies zum Anlass, Schilling zu fragen, warum er die Versuche nicht an sich selbst durchgeführt habe. Schilling weicht der Provokation durch diese Frage aus, beantwortet sie sachlich und argumentiert mit medizinischem Fachwissen, wenn er anführt, als ein bereits an Malaria Erkrankter keine zuverlässigen Ergebnisse für die Studie liefern zu können. Er will sich weiterhin mit ausführlichen medizinischen Berichten als gewissenhafter Arzt und Wissenschaftler vor Gericht positionieren, um so seine eigene Ausweglosigkeit bei der Suche nach einem Malaria-Impfstoff glaubhaft zu machen. In der Folge fordern Anklage und Gericht Schilling auf, seine Aussagen auf das Nötigste zu beschränken: »The question should be answered with the greatest conciseness and brevity, confined to the question itself, don’t go into the byways and highways, just briefly and concisely as possible.«155 Über den Tod von Häftlingen Schilling fährt auch während des Kreuzverhörs fort, analog zu seinen ›wissenschaftlichen‹ Versuchen, Mutmaßungen, Hypothesen und Möglichkeiten abzuwägen. Die tödliche Dimension seiner humanmedizinischen Experimente stellt er so nicht nur in Frage, sondern sie werden schlicht verharmlost und von ihm völlig
153 154 155
G. Allrath, »But why will you say that I am mad?«, S. 62. Schilling, S. 27. Ebd., S. 30.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
nonchalant als eine optionale Folge dargestellt. Wie gleichgültig ihm der Tod der KZ-Häftlinge ist, wird deutlich, wenn er sagt: »That is possible, but it is not impossible that those two people if they had had no malaria wouldn’t have died anyway of typhoid.«156 Einerseits weist Schilling hier eine mögliche Schuld von sich, andererseits macht er deutlich, dass es für ihn unerheblich ist, woran die Inhaftierten letztendlich verstorben sind, wenn der Tod der Häftlinge ohnehin wegen anderer Seuchen zu erwarten war. Auf den ersten Blick vermuten RezipientInnen hier einen Aussagenden mit pathologischen Zügen. Aber letztlich sind diese Aussagen angesichts seiner vorangegangenen Äußerungen nur kohärent und plausibel zu seiner bisherigen Selbstdarstellung bzw. seiner erzählten Haltung gegenüber den Häftlingen. Bereitwillig übernimmt er die De-Humanisierung der nationalsozialistischen Konzentrationslagerhaft und erklärt: »there were plenty that died in the camp«157 . Während Schilling vorgibt, selbst vollkommen altruistisch zu handeln, ist sein Umgang mit dem Menschen dem Utilitarismus geschuldet. In der Folge tritt er den Sterbenden vollkommen gleichgültig gegenüber, weil sie in seinen Augen keinen Zweck mehr erfüllen. Dass dieser Gleichmut und die Zweckmäßigkeit für ihn ein entscheidender Faktor für seine Menschenversuche war, belegt er dann auch, wenn er gegenrechnet: »I just mention that the mortality in the camp was in relation to two to seven.«158 Schilling übernimmt also bereitwillig das NS-Menschenbild und macht sich die nationalsozialistische Lagerhaft zunutze, wenn er die Inhaftierten für seine Versuche missbrauchen kann. Die Häftlinge reduziert er auf bloße Zahlen und rechnet diese gegeneinander auf, inwieweit sie für ihn von Nutzen sind. Das Kreuzverhör der Anklage unterscheidet sich von der Vernehmung durch die Verteidigung, weil sie die Folgen für die Häftlinge vordergründig stellt, und geht dann, entsprechend den Möglichkeiten, die die Form des Kreuzverhörs mit sich bringt, auf die Widersprüche der vorherigen Aussagen ein. Schilling soll so dazu gebracht werden, die Sachverhalte aus einer anderen Perspektive wiederzuerzählen. So geht es nun verstärkt um die Zahl der betroffenen Häftlinge, um eine genaue Zahl der Toten, um so die Verantwortlichkeit des Tropenmediziners möglichst klar und deutlich zu klären. Die Verteidigung bzw. Schilling setzte zuvor in erster Linie darauf, die angebliche ›Wissenschaftlichkeit‹ seiner Versuche zu belegen und blendete die Versuchspersonen weitgehend aus. Dies macht er vor allem, weil er sein eigenes Wissen und seine medizinische Professionalität vordergründig stellen möchte. Seine eigene Sicht auf die Ereignisse will er so konzise und argumentativ stimmig vermitteln. Wenn er diese subjektive Sicht deutlich markiert, will er seine Aussage so glaubhaft machen:
156 157 158
Ebd., S. 32. Ebd. Ebd.
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»If I remember correctly, I have no records of this, because my records were burned in my absence, noticed that with three patients at different times in the same say, the temperature rose, I examined the patients and then I found the first one and the second and the third, all had the characteristic rash of the skin which is sign of typhus. I myself had typhus in Persia and I knew this rash from other cases very well. So that I was convinced that here I was confronted with the typical, real, typhus. So it was my duty to remove these patients from the malaria ward because a transmittal from man to man is possible. From out of these five patients, according to my knowledge, two recovered and three died, so far as I know; I don’t know about the fourth.«159 Mit den formulierten Einschränkungen bzw. Markierungen möglicher Erinnerungslücken oder Unstimmigkeiten, wie z.B. durch die wiederholten IchPositionierungen, verfolgt Schilling einerseits, glaubwürdig zu wirken, andererseits beugt er so einem Vorwurf vor, er hätte etwas Falsches ausgesagt, indem er sich nicht genau festlegt. Schilling tritt aber auch, entsprechend seinem Selbstbild, nicht als Angeklagter, sondern als medizinischer Experte auf. Immer wieder betont er auch während des Kreuzverhörs die medizinische und wissenschaftliche Dringlichkeit seines Handelns. Letztlich konstruiert er einen Notstand, der ihm keine andere Wahl ließ. Er muss sich aber in dieser Weise äußern, da er noch einmal die Annahme entkräften muss, dass die genauen Zahlen der Toten der Malariaversuche von ihm verschleiert wurden, indem er die Häftlinge zum Sterben in andere Krankenstationen verwies. Letztlich kann er durch diese Konstruktion den Handlungsanreiz bzw. die Handlungsmotivation auf die äußeren Umstände extrahieren. Er kann sein Verhalten so als passiv und auf ein bloßes Reagieren reduzieren. Schillings gedankliche Landkarte »[Frage der Anklage:] And you selected Dachau as the place where you would perform your experiments rather than another camp did you not? [Antwort Schillings:] Yes, I picked Dachau because it was near the place where I was born.«160 Schilling hatte sich also für das Konzentrationslager Dachau aus persönlichen Gründen entschieden. Diese Antwort ist für ihn unverfänglich, alle anderen Gründe hätten unter Umständen seine Kenntnisse über die Haftbedingungen und seine Stellung zum nationalsozialistischen Staat offengelegt. Für seine gedankliche und geographische Landkarte – wo sind also für ihn persönliche, wo berufliche Orte?– unterscheidet Schilling zwischen szenischen Räumen eines Drinnen und 159 Ebd., S. 35. 160 Ebd., S. 56.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Draußen. Er selber verortet sich, nur wenig überraschend, als nicht zum Lager gehörig: »There were all sorts of rumours about the camp of Dachau, but as an outsider, one never knew what was going on in here.«161 Schilling verbindet mit seiner selbsternannten Position eines Nichtzugehörigen des Lagers keinerlei Verantwortung oder Beitrag zu den inhumanen Verhältnissen im Lager. Dies ist vor allem wichtig, da er sich so dem entscheidenden Anklagepunkt des common designs entziehen will. Wenn er Gerüchte erwähnt, gibt er unverfänglich zu, durchaus von den Haftbedingungen gewusst zu haben. Er belässt dies aber bewusst im Unklaren und bekräftigt die angebliche schlechte Informationslage mit einem Nachsatz. Sprachlich tritt er selbst als Person nicht in Erscheinung, sondern verwendet das unbestimmte Adverb ›man‹ bzw. ›one‹. Die Gerüchte waren für ihn aber nicht weiter interessant, weil es sein primäres Ziel war, seiner ›Arbeit‹ ungestört nachkommen zu können. Alles, was irrelevant für seine Versuche ist, ist Schilling egal: »[Frage der Anklage:] It was happening all around you wasn’t it, Doctor?« [Antwort Schilling:] No, around 9:00 o’clock in the morning I went to my laboratory. I went there directly from the gate, across the formation grounds. The same thing I went back at noon. It was my principle not to concern myself about things that were not my business.« Im letzten Satz des obigen Zitats – ›It was my principle not to concern myself about things that were not my business‹ – macht Schilling in aller Deutlichkeit noch einmal sein mentales Erzählskript klar. Wird dies allerdings zu deutlich von anderer Seite formuliert, schreitet Schilling ein: »[Frage der Anklage:] These prisoners were the guinea pigs upon which you performed were they not? [Antwort Schillings:] I ask the prosecutor not to use the expression guinea pig anymore – it is a lowering.«162
3.8.4
Erneute Vernehmung durch die Verteidigung
Dass für Schilling nicht der Mensch, sondern seine ›wissenschaftliche‹ Forschung Antrieb und Maßstab ist, wird auch noch einmal sehr deutlich, als es um die Zerstörung der Akten und damit der Beweise über die Malaria-Versuche an Menschen geht. Auch hier zeigt sich erneut, dass es einen Fortbestand bzw. zumindest einen Fortbestand moralischer Vorstellungen des nationalsozialistischen Denkens gab. »An order came from Berlin on 12 March 1945 to burn all documents which related
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Ebd. Ebd.
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to my experiments on malaria. I must confess that this order hit me at the innermost. This terrific amount of work involved just to destroy that – this is a terrible impression for me but I did not have any choice.«163 Dieser Abschnitt bildet eine Ausnahme, weil sich hier die einzige Stelle findet, in der Schilling emotional formuliert, allerdings nur in Bezug auf sich selbst und auf seine Forschung. Abgesehen von dieser Ausnahme zeigt seine Aussage aber auch Wiederholtes. Noch einmal stellt er sich als abhängig von höheren Stellen – Himmler – dar. Damit will er seine Verantwortlichkeit einschränken. Allerdings muss man sich klar machen, dass Schilling seine Schuld nicht in der Tatsache seiner Versuche mit Menschen sieht, sondern darin, dass die Ergebnisse darüber verloren gegangen sind. Die Schuld für diesen Verlust gibt er seinen Vorgesetzten. Sie waren also in seiner Sicht diejenigen, die nicht im Dienste der Menschheit und der Wissenschaft gehandelt haben. Passend hierzu plädiert der angeklagte Tropenmediziner, zumindest seinen Bericht fertigstellen zu dürfen, und spricht seine AdressatInnen direkt an: »[Y]ou have seen the size of the whole matter and you know the importance of malaria […] I don’t ask you as a court, I ask you personally to do what you can«164 . Er sieht sich vollkommen im Recht und ist von der Richtigkeit seines Vorhabens wie auch seines Handelns überzeugt. Den juristischen Kontext schiebt er sprachlich zur Seite und drängt die seiner Meinung nach richtige Sichtweise den AdressatInnen auf. Er geht dabei soweit, dass er versucht, die Angesprochenen emotional und moralisch zu beeinflussen, um ein Entgegenkommen bittet, denn wenn sie ihm ermöglichen würden, zumindest seinen Bericht fertigstellen zu können, wäre das »an enormous help for science, for my colleagues and a good part to rehabilitate my person.«165 Letztlich findet sich in seinem letzten Satz auch noch einmal eine Form der Selbstviktimisierung, erklärt er sich doch zu einem verhinderten und verkannten Wissenschaftler.
3.9
Franz Dop.s Selbsterzählung vor dem Wiener Volksgericht
Franz Dop., geboren am 7. Oktober 1922 in Eggendorf in Niederösterreich, muss sich ab dem 13. August 1946 vor dem Wiener Volksgericht wegen der Misshandlung von Häftlingen im Konzentrationslager Mauthausen und dessen Außenlagern Gusen sowie Wiener Neudorf verantworten. Das Gericht sieht seine Schuld als erwiesen an und verurteilt ihn noch am letzten Verhandlungstag, dem 23. August 1946, zum Tode durch den Strang. Im Wiederaufnahmeverfahren im April 1949 kann
163 Ebd., S. 58. 164 Ebd., S. 61. 165 Ebd.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Dop. den Tatvorwurf der Tötung wiederlegen und wird am 14. April 1949 zu lebenslanger Haft verurteilt. Franz Dop. sagt auch als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen aus.166 Dop. nennt in der Vernehmung nach seiner Festnahme am 6. September 1945 folgende biografische Stationen: Ab 1940 war er Anwärter für eine Mitgliedschaft in der NSDAP. Vier Jahre später erhielt er die Nachricht über seine Aufnahme in die Partei. 1941 meldete er sich freiwillig bei der Waffen-SS und rückte Ende Januar 1941 ein. Stationiert war er dann in Norwegen. Nachdem er nach seiner zweiten Verwundung keinen Dienst mehr an der Front leisten konnte, wurde er nach mehreren Lazarett-Aufenthalten ab dem Juli 1942 im Konzentrationslager Gusen »zum Aufsichtspersonal, […] Innendienst, Läuferdienst und auch Außendienst bei den Häftlingen«167 versetzt. Ein Jahr später, im März 1943, wurde er dann zur Bewachung von Arbeitskommandos in das Lager Wiener Neustadt verlegt. Von dort aus kam er im September 1943 in das Stammlager Mauthausen. Er war dort zum Dienst in der Verwaltung der Politischen Abteilung eingesetzt. Den höchsten Dienstgrad in der SS erreichte Dop. mit der Ernennung zum SS-Unterscharführer. Misshandlungen von Häftlingen thematisiert er bereits bei seiner ersten Vernehmung durch die Schutzpolizei der Stadt Gloggnitz. »Während meiner Dienstausübung im Lager Gusen und zwar beim Außendienst habe ich öfters beim Anmarsch zum bzw. Abmarsch vom Arbeitsplatz mehrere Häftlinge durch kräftige Rippenstöße mit dem Gewehrlauf mißhandelt.«168 Er gibt an, während seiner Aufsicht über die Außenkommandos im Außenlager Wiener Neudorf »15 Häftlinge, was mir noch erinnerlich ist, teils mit Ochsenziemer, teils mit Kinnhacken, teils schwer, teils leichter mißhandelt«169 zu haben. Später, im Stammlager Mauthausen, habe er Häftlinge »teils aus meinem eigenen Antrieb, teils auf Anordnung meiner Vorgesetzten […] in einen Kanzleiraum gerufen, oder gleich in der Aufnahmekanzlei bei der Aufnahme mißhandelt.«170 Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien nennt als Grund, er habe durch »Ausnützung seiner dienstlichen Gewalt Menschen in einen qualvollen Zustand versetzt und empfindlich misshandelt, es wurden durch die Tat die Menschenwürde und die Gesetze der Menschlichkeit gröblich verletzt und sie hatte in einzelnen Fällen den Tod der von ihr Betroffenen zur Folge.«171
166 P. Eigelsberger, Mauthausen vor Gericht, S. 208f. 167 Franz Dop., Vernehmung durch die Schutzpolizeidienststelle Stadt Gloggnitz, 6.9.1945, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 821/55, S. 1. 168 Ebd. 169 Ebd., S. 2. 170 Ebd. 171 Franz Dop., Anklageschrift Staatsanwaltschaft Wien, 30.5.1946, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 821/55, S. 1.
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Die Staatsanwaltschaft stützt somit ihre Anklage eindeutig auf den § 3 des Kriegsverbrechergesetzes und beantragt deshalb eine Hauptverhandlung vor dem Wiener Volksgericht. Diese fand am 13., 14. und 23. August 1946 statt.
3.9.1
Dop.s Aussagen während der Hauptverhandlung
Anders als bei seiner Vernehmung kurz nach der Festnahme stellt Dop. zu Beginn der Hauptverhandlung klar: »Die Misshandlung in Mauthausen gebe ich zu, sonst nichts.«172 Nachdem der ehemalige SS-Unterscharführer im ersten Absatz des Protokolls über die Hauptverhandlung auf die Tatvorwürfe der Anklageschrift eingegangen ist, verweist er auf seine Herkunft, die er zentral für seine Handlungsmotivation sieht und die somit, zumindest noch vor Beginn des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung, immer wieder tragend für einerseits die gedankliche Landkarte, aber auch das mentale Erzählskript ist. Dop. erzählt über seine soziale und familiäre Herkunft Seine familiäre und soziale Prägung stellt er als kausale Verknüpfung für seinen Lebensweg dar, auch um die Eigenständigkeit seiner Entscheidungen und damit seine Schuld zu relativieren. Gemäß seiner Darstellung haben vor allem die Gegebenheiten von außen seinen Weg signifikant bestimmt. Hierin liegt auch ein wesentlicher Unterschied zum amerikanischen Militärgericht bzw. zu dessen Akten, die keinen Einblick in den biografischen Werdegang der Anklagten bieten. »Ich habe sehr gut gelernt. Ich musste dann aus der Schule, da meine Eltern nicht das Geld hatten. Der Vater war arbeitslos. Ich suchte mir eine Lehre, ich wollte Mechaniker werden, doch habe ich keine gefunden. So musste ich als Hilfsarbeiter in die Spinnerei gehen. […] Im Herbst 1938 starb mein Vater und konnte daher keine Lehre mehr annehmen, da meine Mutter nicht so viel verdiente und meine Schwester nur einen Arm hat, denen ich helfen musste. Ich suchte mir wieder als Hilfsarbeiter eine Arbeit um für meine Mutter und Schwester zu sorgen.«173 Den Gegensatz zwischen dem, was Dop. eigentlich wollte, und dem, was dann aber tatsächlich für ihn möglich war, thematisiert er immer wieder und vor allem für seine Jugendjahre. Als letztlich entscheidend zeichnet er immer die äußeren Gegebenheiten, die er nicht beeinflussen konnte. Sprachlich stellt er diese Kausalkette einfach, aber gleichzeitig sehr klar und deutlich dar. Er verwendet weder besondere rhetorische oder andere sprachliche Mittel, um seiner Sicht der Dinge ein besonderes Gewicht zu verleihen. Daran wird sich auch im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung nur wenig ändern. 172 173
Franz Dop., Hauptverhandlung Volksgericht Wien, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 821/55, S. 2. Ebd., S. 2f.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Die Richtung seines Lebensweges bzw. die Abfolge der einzelnen Stationen erfolgt von ihm immer unmittelbar auf die Nennung des jeweiligen Abschnittes. Seine Biografie erscheint somit als logisch, konsequent und kausal schlüssig dargestellt, wenn er diese stets sogleich evaluiert. Er macht immer wieder deutlich, dass seine Möglichkeit der Einflussnahme auf seinen biografischen Werdegang nur beschränkt bzw. fremdbestimmt war. Dop.s weltanschauliche Selbstverortung Aufschlussreich ist auch die Liste seiner Vereins-Mitgliedschaften. Er war Fähnleinführer beim Jungvolk, zuvor Mitglied im Arbeiterturnverein, bei den Kinderfreunden und dann bei den roten Falken.174 Die politische Verortung der Vereine ist heterogen und die Begründung hierfür, wenn auch sprachlich von ihm nicht explizit als solche markiert, ist seine Sportbegeisterung, die im Gegensatz zu seinem politischen Desinteresse steht. Grundsätzlich charakterisiert er sich als friedfertig – »Ich habe nie mit jemanden gestritten oder gerauft«175 – und unpolitisch – »Ich habe mich politisch nicht betätigt.«176 Seine ersten Kontakte mit Organisationen der NSDAP beschreibt er dann – ähnlich seinem als bisher fremdbestimmt bezeichneten Lebensweg – als zufällige Begebenheit, nicht aber als eine eigenständige und bewusste Entscheidung. »Im April 1938 fand ich den Anschluss zur HJ [Hitlerjugend] durch den Betrieb, in dem ich arbeitete. Damals mussten alle Jungen in die HJ eintreten.«177 Die weltanschauliche Selbstverortung bzw. seine weltanschauliche Beeinflussung von außen thematisiert er immer wieder. Sie steht im Wechsel zu seiner Darstellung der konkreten Lebensabschnitte. Sein Handeln stellt er aber in jedem Fall als kurzsichtig und vor allem als kurzfristig, auf die unmittelbaren Erfordernisse hin ausgerichtet dar– ohne Gedanken an mögliche Folgen; so auch sein Austritt aus der evangelischen Kirche: »Ich bin bei meiner Beförderung zum Unterscharführer aus der ev. Kirche ausgetreten. Bei meiner Beförderung sollte ich aus der Kirche austreten und deshalb hatte ich eingereicht […]. Der Standartenführer Ziereis178 hatte sich immer geäußert, dass er es nicht gerne sehe, wenn jemand noch in einer Kirche ist.«179 Auffallend bei der Darstellung seines Lebensweges ist die fehlende Chronologie, aber auch die thematische Inkohärenz. So steht der Kirchenaustritt in ein-
174 175 176 177 178
179
Ebd. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd. Franz Ziereis, geboren am 13. August 1905 in München, 1924-1936 Militärdienst, ab Februar 1938 bis Kriegsende Kommandant des Konzentrationslagers Mauthausen, am 25. Mai 1945 an den Folgen einer Schussverletzung verstorben. E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 695. T. Segev, Die Soldaten des Bösen, S. 191-194. Franz Dop., Hauptverhandlung, S. 3.
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deutigem Zusammenhang mit seiner Dienstzeit im Konzentrationslager. Danach springt Dop. dann aber zeitlich zurück in den Abschnitt, als er Fähnleinführer bei der HJ war, und greift so gleichzeitig das Thema seiner Selbstcharakterisierung als friedfertig auf. Den Wechsel zwischen Darstellung von Ereignissen und Lebensweg sowie dessen Evaluation, die dazu dient, retroperspektiv Sinnzusammenhänge zu erzeugen, vollzieht er auch, als es um seine freiwillige Meldung zur SS geht: »Ich war begeistert, Soldat zu werden.«180 Weil er aber für die Wehrmacht noch zu jung war – erneut ein aus seiner Sicht von außen auferlegter Faktor –, meldete Dop. sich zur SS. Da er sich durchaus bewusst war, dass diese Freiwilligkeit belastend für ihn ist, schiebt er nach: »Ich wusste damals nicht, dass die SS solche Gräueltaten durchführte.«181 Geht man also von diesem Wissen um den verbrecherischen Charakter des Wesens und Handelns der SS aus, muss demnach der Angeklagte keine erzählerische Brücke zwischen den moralischen Vorstellungen des NS-Staates und denen der Nachkriegsordnung schlagen, da lediglich sein Unwissen, nicht aber die eigene moralische Vorstellung dazu führte, Mitglied in der SS werden zu wollen. Kohärent dazu beschreibt der Angeklagte sich als einen Verführten: »Ich war begeistert und habe mich gemeldet. […] Ich habe mich bloß durch die Propaganda [,] die für die SS gemacht wurde [,] entschlossen [,] zur SS einzurücken.«182 Dop. stellt somit implizit eine ›wenn-dann‹-Konstruktion in den Raum – wenn er über die Verbrechen der SS informiert gewesen wäre, wäre er nicht Mitglied geworden– und entschuldigt bzw. rechtfertigt sein Verhalten so durch mangelndes Wissen. Dop. und sein Wissen über die Vorkommnisse und Einrichtungen im Lager Nach seiner zweimaligen Verwundung an der Front beschreibt Dop. ernüchtert sein Soldatenleben: »Ich dachte mir, dass ich wegen meiner schweren Verwundung nicht mehr Soldat sein brauchte. Ich wollte in einen Zivilberuf.«183 Auch die Mitgliedschaft in der SS ist nun kein willkommenes Mittel mehr, um weiterhin Soldat sein zu können. Dop. gibt an, dass er keinen Zivilberuf ergreifen durfte. Er wurde stattdessen zum Dienst in einem der Konzentrationslager eingeteilt, wo mit zunehmender Dauer des Krieges und der damit verbundenen wachsenden Zahl von Häftlingen dringend Personal benötigt wurde. Im Lager Gusen beschreibt sich der Angeklagte in Bezug auf die Häftlinge in einer außenstehenden Position. »Ich sah nur die Häftlinge, wie sie einrückten.«184 Er hatte demnach einen beobachtenden Status. »Ich bin nicht in das Schutzhaftlager gekommen.«185 Somit hat er das Lagerinnere, wo die Häftlinge sich befanden, 180 181 182 183 184 185
Ebd. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
wenn sie nicht auf einem Arbeitskommando waren, nie betreten. Er unterscheidet in seiner gedanklichen Landkarte also zwischen den Menschen drinnen und ihm, der draußen stand. Erneut fehlt ihm vermeintlich zum damaligen Zeitpunkt das Wissen, um die Lage richtig beurteilen zu können: »Ich habe keinen Einblick gehabt.«186 Dass er wiederholt betont, nichts Genaueres gewusst zu haben und so den Ernst der Lage gar nicht greifen konnte, ist auffallend. Im Laufe des Beweisverfahrens, wenn er sich in direkter Konfrontation mit den Aussagen der Zeugen, ehemaliger Inhaftierter des Konzentrationslagers Mauthausen, sieht, gibt er dann auch nicht mehr länger das fehlende Wissen, sondern schlichtes Desinteresse für sein Verhalten an: »Es mag unglaublich erscheinen, aber ich hatte kein Interesse.«187 Zum Zeitpunkt des ersten Verhandlungstages aber rechtfertigt er sich noch mit fehlendem Wissen und einem mangelnden Überblick über die gesamte Lage. Er entschuldigt sich in gewisser Weise mit seiner Ahnungslosigkeit, die aber dann im direkten Gegenüber mit den Zeugen während des Lokalaugenscheins auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers endgültig aus seiner Argumentation verschwindet. Als es um sein Wissen über die Existenz einer Gaskammer im Lager Mauthausen geht, gibt er erneut an, dass er sich schlicht nicht dafür interessiert habe und lenkt von diesem Ort massenhafter Ermordung von Menschen ab, indem er von seiner angeblichen vielen Arbeit spricht und damit erklärt, warum er so manche offensichtliche Gegebenheit im Lager ausblenden konnte: »Ich habe gehört, dass eine Gaskammer hier war, ich habe mich nicht interessiert dafür. Das Verbot über das Nichtbetreten des Schutzhaftlagers ist im März oder April 1944 herausgekommen. Ich bin im Oktober 1943 nach Mauthausen gekommen. Ich kam aber nicht in das Schutzhaftlager und habe mich auch nicht für die einzelnen Obligationen interessiert. Ich hatte sehr viel Dienst. […] Es mag unglaublich erscheinen, aber ich hatte kein Interesse.«188 Die systematische Ermordung von Menschen bezeichnet Dop. als eine ›Obligation‹ unter vielen, um die er sich nicht weiter kümmerte, weil er so viel zu tun hatte. Dieser Versuch der Verharmlosung misslingt ihm. So beharrt er auch auf der Position des Unwissenden, als er in seiner Aussage zum Außenlager Wiener Neudorf wechselt. Seine Ahnungslosigkeit begründet er mit seiner Aufgabe dort: »Ich war als Schreiber zugeteilt. Ich wusste nichts über die Vorgänge im Lager. Die Berichte, die ich schrieb, waren nur über den Aufbau des Lagers.«189 Allerdings kann Dop. genau benennen, wo er die nötigen Infor-
186 187 188 189
Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 40. Ebd., S. 6.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
mationen über das Geschehen im KZ hätte finden können: »Berichte des Schutzhaftlagers habe ich nicht gesehen. Die Berichte der Häftlinge gingen nur über die Schutzhaftlager-Schreibstube und wurden nach Mauthausen weitergegeben.«190 Sein Eingrenzen des eigenen Wissensstands könnte auch lapidar als ›was ich weiß und was ich nicht wissen wollte‹ beschrieben werden. Als einer der Zeugen in aller Ausführlichkeit beschreibt, wie er misshandelt wurde, gibt Dop. vor, er habe nichts von diesem konkreten Fall gewusst. Der Zeuge aber entgegnet, er halte dies für unwahrscheinlich. Dies macht Dop.ʼs damaligen Wissensstand explizit: »Ich habe gewusst, dass Misshandlungen vorgekommen sind. Ich hörte auch, dass Häftlinge an den Turm gestellt wurden. Ich hörte auch von Exekutionen, aber ich hatte innerhalb des Schutzhaftlagers keinen Einblick.«191 Dop. erklärt die Aussagen des Zeugen – indirekt – für möglich, er bestätigt sie aber nicht endgültig. Im Gegensatz zu anderen Angeklagten in NSG-Verfahren diffamiert er die Zeugen nicht. Seine Äußerungen gegenüber den Aussagen der Zeugen während der Hauptverhandlung sind derart, dass er sich nicht erinnern kann, er die Zeugenaussagen für nicht richtig bzw. unwahrscheinlich erklärt oder sie vereinzelt für plausibel hält, wenn er sie auch nicht bestätigt oder für korrekt befindet. Generell ist er aber, im Gegensatz z.B. zu den beiden oben analysierten Angeklagten Kick und Schilling, deutlich zurückhaltender in seinen Reaktionen und Entgegnungen den ehemaligen Häftlingen gegenüber. Dop. und der Vorwurf der Misshandlung von Häftlingen Seinen Wechsel zwischen einzelnen Stationen und deren kausale Verknüpfung – letztlich verfolgt er so das Ziel, eine lineare und kohärente Selbsterzählung zu entwerfen – unterbricht er, als er von seiner Bestrafung eines Häftlings erzählt. »Ich kann mich erinnern, dass ich einem Häftling einmal eine Ohrfeige gegeben habe, der bei uns aufgeräumt hat, weil er damals einen Zettel vom Tisch wegnahm. Ich habe ihm die Ohrfeige erst später gegeben, als ich erfuhr, dass eine Meldung fehlt. Ich suchte ihn, er war unter Tags in den Baracken. Ich stellte ihn zur Rede und fragte ihn, was er vom Tisch weggenommen habe. Er leugnete und deshalb gab ich ihm eine Ohrfeige. […] was weiter mit dem Häftling geschehen ist, weiß ich nicht.«192 In einer für Dop.ʼs Aussagen typischen einfachen Syntax und in klaren Zusammenhängen bringt er hier eine Erzählung – im begrifflich engeren Sinne – vor. Dies macht er, weil es sich letztlich um eine Lappalie handelt, wenn man beachtet, dass ihm von der Staatsanwaltschaft Misshandlungen von Häftlingen mit Todesfolge
190 Ebd. 191 Ebd., S. 25. 192 Ebd., S. 6f.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
vorgeworfen werden. Dass er einer Ohrfeige, die zur damaligen Zeit ein legitimes erzieherisches Mittel war, so viel Raum gibt, dient dem Zweck, sein Verhalten im Lager generell als harmlos darzustellen, weshalb er den erzählten Vorfall auch deutlich als Einzelfall markiert: »Dieser Vorfall war im August 1943. In Wiener Neudorf hatte ich sonst keinen Vorfall. Ich habe auch niemanden geschlagen, noch mit dem Gewehr gestossen.«193 Als Dop. in seinem Bericht einen erzählerischen Ortswechsel in die Politische Abteilung des Konzentrationslagers Mauthausen vornimmt, beschreibt er seine dortigen Aufgaben in einem Duktus vollkommener Alltäglichkeit: »Zuerst hatte ich die Briefzensur über. Ich musste auch Post erledigen. Als ich dann befördert wurde, erhielt ich das Referat über die Entlassung und Überstellungen der Häftlinge. […] Bei mir brauchten sie [die Häftlinge] nur unterschreiben und erhielten Belehrung, dass sie über das KZ-Lager nichts erzählen dürfen und wurden dann mittels Sammeltransport weitergeschickt.«194 Dieser Abschnitt erinnert stark an die Art und Weise der Aussagen von Johann Kick. So schildert Dop. ein vermeintlich legitimes und völlig banales bürokratisches Prozedere, in dem er selbst nur die Rolle eines kleinen Rädchens ohne größere Einflussmöglichkeiten übernahm – »Ich hatte nur die Papiere.«195 Nachdem er seine Aufgaben in der Politischen Abteilung als grundsätzlich harmlos klassifiziert hat, geht er dann auf die Vorwürfe der Misshandlung von Häftlingen dort ein: »Ich war auch bei den Schlägereien beteiligt. Anfangs wurde ich vom OberSturmführer Schulz aufgefordert, zu schlagen, später aber habe ich selbst hingeschlagen. Es waren zum Teil schwer Vorbestrafte. […] Ich war bei keiner Misshandlung dabei, wo einer sofort gestorben ist. Bei der Misshandlung waren 3 SS-Männer beteiligt. Ein Ochsenziemer war da. Die Misshandlung dauerte ca. 10 Minuten. Wenn einer umgefallen ist, wurde er mit Wasser übergossen und dann hinausgeschickt bzw. getragen. Sessel hat er keinen bekommen. […] Ich habe nicht beobachtet, dass einer der Misshandelten tot gewesen wäre. Die Häftlinge mussten dann noch ½ oder ¾ Stunde draußen stehen und da hat man ja gesehen, dass sie leben.«196 Dop. handelte auf Weisung bzw. Befehl. Er entschuldigt seine Gewalt mit dem Hinweis, dass es sich nicht um Unschuldige gehandelt hätte, die von den Misshandlungen betroffen waren. Hier kann erstmals das nationalsozialistische Menschenbild
193 194 195 196
Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
in seinen Äußerungen wahrgenommen werden, das sich auch in den Häftlingskategorien widerfindet. Um seine Taten zu entschuldigen, bedient sich Dop. gerne dieser Sichtweise. Gleichzeitig relativiert er seine Misshandlungen, da keiner der Häftlinge an den Folgen sofort verstorben wäre. Im Bewusstsein, dass er hier Raum für Mutmaßungen über einen späteren Tod der Misshandelten eröffnet, führt er später noch den Beleg des »Strafestehens« an. Wären die Häftlinge in der Folge der Folter verstorben, hätten sie diese Strafe nicht mehr tragen können. Um seine Unschuld unter Beweis zu stellen, entkontextualisiert er dieses weitere Martyrium, das nicht dazu diente, sicher zu gehen, dass Häftlinge nicht an den Folgen ihrer Verletzungen verstarben, sondern ihrer weiteren Schikane diente. Der Angeklagte ist sich offensichtlich des Zynismus seiner Schlussfolgerung nicht bewusst. Mit aller Deutlichkeit erzählt Dop. hier von einer routinierten Vorgehensweise bei der Drangsalierung von Menschen, die auch deren Tod in Kauf genommen hat. Die Selbstverständlichkeit und ständige Präsenz von Gewalt im Lager führte bei ihm und anderen SS-Angehörigen zu einer Habituation von Gewalterfahrung und Gewaltausübung. So gibt er an, den Überblick verloren zu haben, weil die Gewalt alltäglich war und keiner daran Anstoß nahm: »Ich kann mich auf die Zahl nicht mehr so erinnern, wie viele ich misshandelt habe. Ich war bei jeder Misshandlung nicht dabei. Es werden ca. 50 Häftlinge gewesen sein, es können auch mehr gewesen sein.«197 Dass der Angeklagte seine Schilderung der Misshandlung direkt an die Nennung seiner (bürokratischen) Aufgaben anschließt, stützt diese Annahme deutlich. Als ob die Klarstellung »Ich habe wohl mit dem Ochsenziemer geschlagen, aber mit den Füssen habe ich nicht getreten«198 etwas ändern könnte, präzisiert er seine Misshandlung der Häftlinge und wiederholt: »An diesen Misshandlungen, an denen ich teilgenommen habe, war keiner tot.«199 Seine zuvor generelle Schilderung des offensichtlich etablierten Prozedere der Folter von Häftlingen versieht er mit einem erzählerischen Beleg: »Heinrich K. kenne ich. […] Ich hatte den Befehl ihn hereinzuführen und mit ihm ein Scheinverhör zu machen. […] Ich fragte ihn, was er angestellt hat und da wollten schon die anderen SS-Leute hinschlagen. Um eine größere Schlägerei zu verhindern hatte ich ihm dann einen Faustschlag versetzt, da er mir verneinte, dass er sich politisch betätigt hat. Ich musste ihn auf Befehl des Ober-Sturmführers Schulz nochmals fragen, und Hauptscharführer Bruckmaier gab ihm einen Faustschlag, Krüger hat ihn dann getreten. Ich musste ihn dann wieder hinausführen. Er konnte gehen.«200 197 198 199 200
Ebd., S. 11. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
Laut Dop. handelte er auf Weisung eines Vorgesetzten und inszeniert sich darüber hinaus als gut bzw. besser handelnd als die anderen, weil er nur zuschlägt, um Schlimmeres zu verhindern. Diese Argumentation erinnert stark an das Muster, Häftlinge geohrfeigt zu haben, um keine Meldung an Vorgesetzte über deren Vergehen machen zu müssen und so schlimmere Strafen verhindert zu haben. Seine kausalen Verknüpfungen springen aber durcheinander. Deutlich wird allerdings, dass die Erzählung einerseits als Beleg für die vorherige allgemeine Schilderung dienen soll, aber auch dafür, dass er auf Verlangen des Vorgesetzten und der allgemeinen Gegebenheiten im Lager geschlagen hat, nicht aber, weil er Lust daran hatte. So formuliert er dies auch mit aller Deutlichkeit: »[i]ch war damals sehr beeinflusst von der ganzen Umgebung.«201 Die Staatsanwaltschaft konfrontiert ihn daraufhin mit seinem Ruf als Schläger im Lager, worauf er antwortet: »Mir ist nicht bekannt, dass ich als Schläger im Lager berühmt war. Mir ist bekannt, dass die Häftlinge nicht gerne in die Politische Abteilung gegangen sind. Sie wussten, dass es dort Schläge gibt, es haben durchwegs alle in der politischen Abteilung geschlagen. Wer unter den bekannten Schlägern war, weiß ich nicht.«202 Seine Entgegnung banalisiert einerseits sein Verhalten, weil alle in der Politischen Abteilung zugeschlagen haben, andererseits stellt er sich außerhalb der anderen, da er sich nicht zu den »bekannten Schlägern« zählt. Während der Hauptverhandlung fand am 14. August 1946 ein Lokalaugenschein auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen statt. Von einem der ehemaligen Zeugen wird Dop. beschuldigt, einen jugoslawischen Häftling im Bad erschlagen zu haben. Der Angeklagte gerät zunehmend in Bedrängnis und wiederholt die Negation dieses Vorfalls, um den AdressatInnen die Deutung der Aussage des Zeugen zunächst als unglaubhaft aufzudrängen oder zumindest nicht mit seiner Person in Verbindung zu bringen: »Ich war nie im Bad. Ich bin heute das erste Mal im Bad. […] Ich kann immer wieder sagen, dass hier sich nichts abgespielt hat und ich nicht dabei war. Ich kann es nicht zugeben, ich war nicht dabei. Es mag möglich sein, dass der Vorfall sich ereignet hat, aber ich war nicht dabei.«203
3.9.2
Dop.s Plädoyer am Ende der Hauptverhandlung
Nach dem Lokaltermin wurde die Hauptverhandlung auf dem Gemeindeamt Mauthausen fortgeführt. Dop. beginnt dort mit einem wiederholten Plädoyer für
201 Ebd., S. 11. 202 Ebd., S. 11f. 203 Ebd., S. 39.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
seine mindere Schuld, weil er vieles nicht wusste, sich nicht dafür interessierte oder verblendet war: »Ich bleibe dabei, dass ich nie im Schutzhaftlager war. Ich war nur dienstlich dort. Ich bin niemals in das Bad gekommen. Ich habe den Jugoslawen nicht erschlagen. Ich gebe die Misshandlungen von Häftlingen auf der Politischen Abteilung zu. Ich habe schon einmal gesagt, dass ich so eingenommen war, ich glaubte, ich mache es richtig. Ich habe damals unbedacht gehandelt. Ich war erst 21 Jahre alt. Als ich aus dieser Umgebung herauskam, wurde es mir erst klar, ich bereue diese Taten.«204 Noch einmal thematisiert Dop. zur Entschuldigung seiner Verbrechen die Habituation und macht den Referenzrahmen des Konzentrationslagers verantwortlich, der seine moralische Urteilskraft aussetzen ließ. Erst nachdem er das Lager verlassen hatte, konnte er deshalb das Ausmaß der dortigen Verbrechen und auch sein eigenes Fehlverhalten einschätzen. Dop. schlägt die erzählte moralische Brücke zwischen den sich widersprechenden Moralvorstellungen, indem er keine konflikthafte Parallelität dieser Moralitäten feststellt, sondern vielmehr das Konzentrationslager zu einem rechts- und moralfreien Raum erklärt. Erneut rechtfertigt er sein Handeln einerseits mit den Weisungen seiner Vorgesetzten und andererseits mit den Gegebenheiten bzw. Gewohnheiten vor Ort: »Bei meinem Dienstantritt wurde ich belehrt, dass die Häftlinge, die im Lager sind, Verbrecher sind und mit denen nicht viel geredet werden darf. Ich wurde zum Schlagen angehalten, später schlug ich von selbst. Ich weiß selbst nicht, was Schulz bewogen hat, uns zum Schlagen anzuhalten.«205 Weil es leichter war, den Weisungen der Vorgesetzten zu gehorchen, die Inhaftierung der Häftlinge nicht zu hinterfragen und die einmal angefangenen Misshandlungen von Häftlingen zu unterbrechen einem Schuldeingeständnis gleichgekommen wäre, fuhr Dop. wie gewohnt fort.
3.10
Selbsterzählung des ehemaligen Funktionshäftlings Franz Diep. vor dem Wiener Volksgericht
Bereits im Kapitel über das unzuverlässige Erzählen war das vorprozessuale Schreiben Diep.ʼs Gegenstand der Analyse. Seine Vorgeschichte als Soldat bei der Fremdenlegion und bei der Internationalen Brigade führte unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland im März 1938 zu Schikanen und zur späteren Festnahme durch die Gestapo. Ein Verfahren wegen Diebstahl gegen ihn, in dem 204 Ebd., S. 44. 205 Ebd., S. 65.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
er zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde, wurde nach 1945 wiederaufgenommen, weil Zeugen zu Falschaussagen genötigt worden waren. Ab dem Jahr 1943 war der Angeklagte Häftling in Mauthausen gewesen, wo er kurz nach seiner Ankunft zum Funktionshäftling ernannt wurde. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Diep. seine Mithäftlinge »in ihrer Menschenwürde gekränkt und beleidigt«206 hatte, und verurteilte ihn auf der Grundlage des § 4 des Kriegsverbrechergesetzes zu sechs Monaten Kerkerhaft.
3.10.1
Diep.s Aussagen während der Hauptverhandlung
Weil Häftlinge sich Kartoffeln genommen hatten, bekam Diep. den Auftrag »mit den Häftlingen auszurücken und dies abzustellen. Dadurch wurde er zum Kapo ernannt, »ich sollte es erst nur 3 Tage sein, bin es jedoch in der Folge geblieben.«207 Der Angeklagte stellt hier klar, dass es nicht seine Entscheidung war, sondern er der Weisung der Lager-SS folgte. Somit stellt er bereits zu Beginn seiner Gerichtserzählung klar, in welchem Zusammenhang die AdressatInnen sein Handeln einzuordnen haben – als Häftling war er der Willkür der SS völlig ausgeliefert, als Funktionshäftling gerät er noch dazu in die schwerwiegende Zwangslage, im Namen der SS gegen seine Mithäftlinge agieren zu müssen. Diep. über den Vorwurf der Misshandlung von Mithäftlingen Auf die Frage, ob Diep. Häftlinge in seiner Funktion als Kapo geschlagen habe, rechtfertigt er sich in widersprüchlicher Weise: »Ich war Kommandokapo und als solcher habe ich bei der Arbeit mit den Leuten nichts zutun gehabt, ich bin nur mit ihnen aus- und eingerückt. Wenn nun innerhalb des Kommandos etwas geschehen ist, so habe ich dies nicht der SS gemeldet wie ich es eigentlich hätte tun sollen, sondern habe ich es in eigener Regie erledigt, dabei ist vielleicht auch vorgekommen, dass ich Ohrfeigen austeilen musste.«208 Noch einmal präzisiert er seine Ausgangslage im Lager – Kommandokapo – um klarzustellen, dass er, auch wenn es anders erscheinen mag, ein klares Aufgabengebiet hatte, innerhalb dessen er sich bewegen musste. Sein Nachschub, in dem er auf die eigentliche Frage nach der Gewalt gegen Mithäftlinge überhaupt erst eingeht, rechtfertigt Gewalt als Mittel, um Schlimmeres zu verhindern. Diese Argumentationsweise führt er immer wieder an, denn nur so wäre es für ihn möglich gewesen,
206 Franz Diep., Urteil des Volksgerichts Wien vom 5.9.1955, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55, S. 1. 207 Franz Diep., Hauptverhandlung, 5.9.1955, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55, S. 3. 208 Ebd., S. 3f.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
die Forderungen der SS und gleichzeitig die Kameradschaft zu seinen Mithäftlingen für sich in Einklang bringen zu können: »durch kleine Ohrfeigen […], weil [er] sonst eine Meldung bei der SS machen hätte müssen.«209 Darüber hinaus relativiert er die Häufigkeit der Vorkommnisse, weil er nicht mit Absolutheit aussagt, Häftlinge auch tatsächlich geohrfeigt zu haben. Er will seine Lage differenzierter und wesentlich vertrackter verstanden wissen und stellt als seine Handlungsprämisse dar, seinen Posten als Kapo zugunsten seiner Mithäftlinge zu nutzen. Seine gedankliche Landkarte entspricht der Darstellung seiner Handlungsmotivation. Mit einer Beispielerzählung untermauert er seine Darlegung argumentativ: »Zum Beispiel bei der Sache bei der ich eine[m] Franzosen 120 Stockhiebe gegeben haben soll und nachher noch mit Wasser begossen hätte, ist vollkommen unrichtig, es waren doch auch immer Zivilleute dabei und vor diesen wäre so etwas unmöglich gewesen«210 Mit diesem Beleg widerlegt er aber ebenso die Plausibilität belastender Zeugenaussagen und der Anklageschrift und nennt implizit mögliche Zeugen, die Zivilarbeiter in den Rüstungsfabriken. Aber auch die Lagerordnung führt er als Gegenargument zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen an: »Wir hatten doch auch den Auftrag, dass kein Häftling geschlagen werden durfte.«211 Die Wiederholung seiner Argumentation, die Ohrfeigen wären die einzige Möglichkeit gewesen, Strafen durch die SS zu verhindern, nimmt er auch in Form einer ›wenn-dann‹-Konstruktion vor, um erneut die Alternativlosigkeit, aber auch die Absolutheit einer fehlenden Handlungsalternative unter Beweis zu stellen. Auffallend ist, dass der Angeklagte im folgenden Zitat in Bezug auf das ›MeldungMachen‹ den Konjunktiv verwendet – er selbst hat ja keine Meldung gemacht, will er hiermit zum Ausdruck bringen. Die Folge daraus, dass andere Meldungen über Vergehen der Häftlinge gemacht hatten, formuliert er im Indikativ und macht so deutlich, dass die Folge faktisch erwiesen ist bzw. war: »Wenn man über einen Häftling, der sich etwas zuschulden hat kommen lassen, eine Meldung geschrieben hätte, dann wurde dieser schwer von der SS misshandelt, aus diesem Grund machte ich keine Meldung, sondern regelte die Sache in eigener Regie, manchmal auch dadurch, dass ich dem Betreffenden den Nachschlag beim Essen entzog.«212 Warum sich trotz seines im Rahmen der Möglichkeiten korrekten Verhaltens zahlreiche Belastungszeugen gegen ihn gefunden haben, kann er sich nicht erklären,
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Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 5.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
denn »Ich traf nachher noch viele Leute aus dem KZ Mauthausen, wenn ich wirklich so ein Rohling gewesen wäre, hätte man mich mit Sicherheit behandelt wie all die Anderen.«213 Er zieht somit die Anschuldigung in Zweifel und versucht, der Größenzahl an Belastungszeugen – die Staatsanwaltschaft fragt: »Aber es ist doch auffällig, dass so viele Leute Sie belasten?«214 – eine andere Größe entgegenzusetzen, die Personen, die er nach der Haftzeit wiedergetroffen hatte und die seine Darstellung von Kameradschaft und Loyalität stützen.
3.10.2
Diep. erzählt von sich als ein Häftling unter vielen
»[I]ch hatte genug mit mir selbst zu tun, da ich ja selbst ständig gefährdet war«215 . Die Zwangslage, unter der er wie alle anderen Häftlinge litt, durch seine Aufgaben als Funktionshäftling aber in verschärfter Form, war maßgeblich für sein Verhalten. Was er tat, tat er also aus Gründen, um sein Überleben im Konzentrationslagersystem zu sichern. Sein Handlungsantrieb war demnach nicht die Einhaltung der Lagerordnung oder gar die Drangsalierung der anderen Inhaftierten. Dies stützt er auch, indem er seine Stellung in der Lagerhierarchie als den anderen Häftlingen gegenüber vollkommen gleichwertig darstellt: »Ein Kapo hat aus der selben Schüssel wie jeder andere Häftling essen müssen, er hat keinerlei Zubussen gehabt.«216 Ein Zeuge beschreibt ihn als Choleriker, der in seiner Wut auch zugeschlagen hat. Dieser Charakterisierung stellt der ehemalige Funktionshäftling sein eigenes Leiden als KZ-Häftling entgegen: »Das ist nicht richtig, ich habe nie Tobsuchtsanfälle bekommen. Im Gegenteil ich musste selbst unzählige Ohrfeigen einstecken, ebenso auch Stockschläge. Es hat keinen Rapportführer gegeben, von dem ich nicht geschlagen wurde, sie sahen mich alle als Bolschewisten an.«217 Er betont aber nicht nur, wie auch die anderen Häftlinge der Willkür der SS ausgesetzt zu gewesen zu sein, sondern dass er gerade wegen seiner Stellung als Funktionshäftling zusätzliche Schikanen ertragen musste, weil er für das angebliche Fehlverhalten anderer verantwortlich gemacht wurde: »doch musste ich für die anderen Häftlinge unzählige Strafen über mich ergehen lassen, so zum Beispiel einmal, weil ein Häftling seine Haare nicht geschnitten hatte und dies vom Rapportführer bemerkt wurde, bekam ich 50 Stockhiebe, einmal wurde ich zwei Stunden lang aufgehängt, während dessen man mir mit Dach-
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Ebd., S. 6. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
latten über die Füsse schlug, aber ich selbst habe mir derartige Misshandlungen nicht zuschulden kommen lassen.«218 Diep. konstatiert hier einen allgemeingültigen Zustand – zahlreiche Misshandlungen, die er über sich ergehen lassen musste –, um sie dann mit konkreten Fällen der selbsterlittenen Folter zu belegen. Seine Argumentation und vor allem seine Selbsterzählung, die ihn als Kameraden gegenüber den Mithäftlingen, nicht aber als Handlanger der SS zeigen soll, will er so unter Beweis stellen. Er will das Bewusstsein für das perfide System der nationalsozialistischen Konzentrationslager schärfen, indem er nicht nur sein eigenes Ausgeliefertsein, sondern auch das anderer Häftlinge thematisiert: »Dreimal bekam ich 25 Stockschläge, einmal 15 und einmal wurde ich 2 Stunden lang aufgehängt, dabei wurde ich von der SS und auch von Häftlingen geschlagen, Herr Winterstein [ein Zeuge im Verfahren gegen Diep. und ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Mauthausen], musste mir damals sogar die Füsse halten, sonst wäre er geschlagen worden.«219 An diesem Punkt unterscheidet er sich wesentlich von den Aussagen der drei oben analysierten Angeklagten. Diep. will selbstverständlich durch diese Argumentation seine Position stärken, was ihm nur gelingen kann, wenn das Gericht ein Gesamtbild der sozialen Strukturen und Hierarchien im Lager bekommt. Seine Zwangssituation ist somit exemplarisch für die Gegebenheiten, wie sie für zahlreiche andere Häftlingen ebenfalls gegolten haben.
3.11
Selbsterzählung vor Gericht – ein Fazit
Alle vier Angeklagten stellen ihre Darstellungen der Ereignisse klar in die Zusammenhänge des Gerichts. Deshalb würde der Begriff eines autobiografischen Erzählens die im Dialog zwischen den Prozessteilnehmenden entworfenen Selbstbilder der Angeklagten nicht zutreffen. Hierin liegt in aller Eindeutigkeit die Erzählmotivation. Ihre Selbsterzählung konzentriert sich deshalb vor allem auf Stationen und Ereignisse, die Thema der Hauptverhandlung sind. In nur begrenzter Weise sind die vier dazu in der Lage, diese Orte selbst auszuwählen. Ihre gedanklichen Landkarten sind somit weitgehend fremdbestimmt. Anders ist dies im Falle der mentalen Erzählskripte, bei denen die Angeklagten wesentlich stärker ihre eigenen Beweggründe und Handlungsantriebe benennen können. Wie unterschiedlich die Angeklagten ihr Verhalten und Handeln aber rechtfertigen, liegt auch daran,
218 219
Ebd., S. 5. Ebd., S. 6.
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
wie sie versuchen, die einzelnen Ereignisse kohärent und plausibel ineinanderzufügen, um eine narrative Identität für die AdressatInnen erkennbar zu machen. Fazit über die Selbsterzählung Johann Kicks Kick erzählt von sich als einem Polizeibeamten, der nicht aus eigener Entscheidung in der Politischen Abteilung zunächst für die Verhöre und später als deren Leiter im Konzentrationslager Dachau tätig war. Verknüpft man diese Selbsterzählung mit der Frage nach der gedanklichen Landkarte, die er für sich und seine AdressatInnen entwirft, so stellt er sich ähnlich dar, wie dies auch der Angeklagte Klaus Schilling tut: als Außenstehender. Zum Teil verortet er sich aber überhaupt nicht in den dargestellten Abläufen. Immer wieder erwecken seine Aussagen den Eindruck, er hätte nie mehr als einen beobachtenden Status im Lager innegehabt. Da Kick als Gestapobeamter disziplinarisch aber nicht nur der Gestapo München gegenüber verantwortlich war, sondern auch dem Lagerkommandanten, und spätestens ab März 1938 als Leiter der Abteilung II bestens über die Vorgänge des Lagers informiert war, ist das Bild des Außenseiters nicht haltbar. Dazu analog thematisiert er selbst nie den Umgang bzw. Kontakt mit Häftlingen, wenn auch klar ist, dass er diesen wegen der von ihm geleiteten Verhöre zu Genüge hatte. Sprachlich wird seine Teilhabe an den Verbrechen aber dennoch durch die Detaildichte der Informationen und einem Fachjargon greifbar. Weltanschaulich ist Johann Kick in keiner seiner Aussagen während der Hauptverhandlung greifbar. Er äußerst sich weder despektierlich über die Häftlinge noch befürwortet oder lehnt er deren Inhaftierung ab. Selbst als er angibt, gegen die Befehle zur Hinrichtung von Häftlingen immer interveniert zu haben, begründet er nicht, warum er dies getan hat. Suchen die RezipientInnen nach einer gedanklichen Landkarte in seiner Selbsterzählung, werden sie kaum bzw. nicht fündig. Dies begründet sich im mentalen Erzählskript, das das Bild eines bloßen Befehlsempfängers transportiert. Seine Aussagen sind deshalb vor allem Informationen über die bürokratischen Abläufe, die sein Handeln klar normierten. Letztlich bagatellisiert er so seine Funktion als Leiter einer der wichtigsten und einflussreichsten Stellen in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager. Wiederholt aber argumentiert er auf der Basis des Befehlsnotstands und betont deshalb, nicht nur einer, sondern zwei Dienststellen, Gestapo und Lagerkommandantur, unterstellt gewesen zu sein. Er verknüpft damit in der Folge implizit, dass er, hätte er nicht selbst eine Bestrafung fürchten müssen, selbstverständlich anders gehandelt hätte. Anders aber als in den vorprozessualen Aussagen oder auch in den späteren Gnadengesuchen der Beschuldigten bzw. Verurteilten von NSG-Verfahren formuliert er diese gedankliche ›wenn-dann‹-Konstruktion nicht aus. Sie soll aber sein Handeln rechtfertigen und ihn gleichzeitig, passend zu seinem mentalen Erzählskript, als einen lediglich Ausführenden vermitteln. Nimmt man den Begriff
201
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
der gedanklichen Landkarte ernst, so benennt Kick nur bestimmte ›Orte‹ auf dieser Karte. Die Leerstellen sollen entweder ihn belastende Ereignisse und Abläufe vertuschen oder die Benennung des einen gedanklichen Ortes, soll eine ihm günstige Interpretation der Leerstelle durch die AdressatInnen befördern. Gerade dadurch aber, dass der Angeklagte den Befehlsnotstand und seine beschränkte Handlungsfähigkeit häufig wiederholt, kippen diese Äußerungen ins phrasenhafte und verlieren an Glaubhaftigkeit. Fazit über Schillings Selbsterzählung Schillings gedankliche Landkarte, die sich einerseits hier am Ende seiner Aussage während der Hauptverhandlung, aber auch schon vorher immer wieder deutlich zeigt, ist seine Auffassung, ein Außenseiter bzw. kein Zugehöriger des nationalsozialistischen Lagerkomplexes von Dachau gewesen zu sein. Als Außenstehender war er aber nicht nur kein Teil des Konzentrationslagers, sondern auch nicht am gemeinschaftlichen Plan (common design), der in der Anklageschrift, erstellt vom Office of the Theatre Advocate, Dreh- und Angelpunkt darstellt, beteiligt. Nach den Aussagen des Anklagten bildeten lediglich medizinische Fragen und wissenschaftliche Notwendigkeit seine Handlungsmotivation. Dieser Notwendigkeit gibt er immer wieder den Anschein einer Zwangslage. Angetrieben von der preußisch anmutenden Tugend der Pflichterfüllung und seiner Ehre als Arzt sieht er sich im Dienst der Wissenschaft und des Menschen. Allerdings zeugt seine einzige emotionale Regung am Ende der erneuten Vernehmung durch die Verteidigung, als es um die Zerstörung seiner Forschungsunterlagen geht, dass nicht die höheren Ziele, sondern vor allem die eigene Eitelkeit die Triebfeder seines Handelns darstellt. Zu seinem Bericht über Pflicht und Ehre passt aber auch, dass er die verbrecherische und menschenverachtende Dimension seines Handelns vollkommen ausklammert. Dies schlägt sich nieder in einer erzählten Alltäglichkeit über die Malaria-Versuche. Schilling erzählt von einem Arbeitstag, der um 9 Uhr beginnt und am späten Nachmittag endet. Auch sein Umgang mit den Häftlingen als Patienten und vor allem deren Verhalten wird von ihm in einen gewöhnlichen Rahmen gestellt. Er handelte als gewöhnlicher Arzt und Wissenschaftler. Dieses mentale Erzählskript zeigt, dass Schilling versucht, die konflikthafte Parallelität von NS-Moral und einem unveränderlichen moralischen Kern zu bewältigen. Die Politische bzw. militärische Dimension, die seine Vorgesetzten verfolgten, blendet er aus, gleichwohl er zu Beginn vor allem die Person Himmlers anführt, um die Relevanz seiner Suche nach dem Malaria-Impfstoff zu unterstreichen. Dazu analog zeichnet er sich selbst als Opfer und nur bedingt handlungsfähig. Dies vollzieht er aber mit zwei unterschiedlichen Ansinnen – einerseits will er so zeigen, dass andere ihn hinderten, effektiv zu forschen, und er von äußeren Bedingungen abhängig war, die er nur bedingt beeinflussen konnte. Andererseits heroisiert er sich als Opfer, weil er
3. Selbsterzählung der Angeklagten in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen
sich in den Dienst einer höheren Sache, Wissenschaft und Menschheit stellte. Der Utilitarismus im Umgang mit den Menschen und der angebliche Altruismus sich selbst gegenüber, die Bereitschaft, die Häftlinge nicht mehr als Menschen, sondern lediglich als Mittel zum Zweck zu sehen und diese Sichtweise auch noch zu heroisieren, zeigt aber, dass Schilling alles andere als ein Außenseiter war. Vielmehr kann auch er als Angehöriger der NS-Elite gezählt werden. Ein Parteibuch war hierfür offensichtlich nicht notwendig. Fazit über Franz Dop.s Selbsterzählung Anders als die Akten des amerikanischen Militärgerichts zum Dachauer Hauptprozess – die oben analysierten Aussagen der beiden Angeklagten Prof. Dr. Karl Schilling und Johann Kick entstanden im Zuge dieses Verfahrens – eröffnen die Protokolle der Hauptverhandlung der österreichischen Volksgerichte einen umfassenderen Blick auf den Angeklagten. Durch die Informationen über seine soziale und familiäre Herkunft lassen sich seine Äußerungen, gerade mit der Frage nach einem mentalen Erzählskript, besser beurteilen. Dop. war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 24 Jahre, als er zu seinem ersten Dienst in einem Konzentrationslager kam, noch keine 20 Jahre alt. Seine Orientierung suchte er so – wie er dies bereits während seiner Vernehmungen als Beschuldigter angibt – in unterschiedlichen Vereinen. Der Antrieb seines Handelns war stets ein kurzfristiger, der zwar zunächst vor allem familiär bedingt war, weil er seine Angehörigen finanziell unterstützen musste, doch die erzählte biografische Verknüpfung seiner Versetzung in das Konzentrationslager Mauthausen und dem Kameraden, der ihm von der dortigen Sportgemeinschaft erzählt hatte, bildete durchaus einen jungen Mann ab, der es vermag, sich trotz seiner Arbeit in einem Konzentrationslager einen gewöhnlichen Alltag zu schaffen. In seiner Stellungnahme über sein damaliges Handeln während des Prozesses lässt Dop. aber bereits zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung – nicht wie oftmals bei anderen erst im Gnadengesuch – Reue und Einsicht erkennen. Angesichts seiner heterogenen Vereins-Vergangenheit – er war auch bei linkspolitischen Vereinen aktiv –, dem Kirchenaustritt als Reaktion auf die Äußerungen des Lagerkommandanten Franz Ziereis und dem hohen Maß an Gewöhnung an Gewalt erzählt der ehemalige SS-Unterscharführer von sich weder als einer moralisch gefestigten noch politisch in irgendeiner Richtung festgelegten Persönlichkeit. Beides, sein Schuldbewusstsein und seine Darstellung als unreife Person, ist jedoch vor allem im Zusammenhang seines Entstehungsprozesses in einem Gerichtsverfahren einzuordnen. Als RezipientIn kann deshalb nicht daraus geschlossen werden, dass dem auch so ist bzw. war. Vielmehr muss das strategische Erzählen, das die Aussage eines Angeklagten wie Dop. vor Gericht in erster Linie bestimmt, den dominanten Beurteilungsrahmen bilden. Daran gemessen, stellt er sich als junger
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Mann vor, der, um während seiner Dienstzeit im Konzentrationslager innerhalb seines Gewissens weiterhin agieren zu können, bewusst Orte des Konzentrationslagers, wie z.B. die Gaskammer oder auch das Krematorium ausblendet. Sie sind nicht Teil seiner gedanklichen Landkarte. Im Verfahren wiederholt er immer wieder, dass er sich schlicht für diese Einrichtungen nicht interessiert hat, vermutlich in der Hoffnung, dass Unwissenheit schützt. Fazit über die Selbsterzählung des Angeklagten Diep. Diep.ʼs Situation ist eine völlig andere als die der drei zuvor analysierten Angeklagten Schilling, Kick und Dop. Alle drei beteiligten sich freiwillig an den nationalsozialistischen Verbrechen. Auch wenn Dop. den Referenzrahmen des Konzentrationslagers als Rechtfertigung und Exkulpation für seine Verbrechen anführt, der Zwangslage eines Funktionshäftlings ist dies definitiv nicht gleichzusetzen. Diese Ausgangssituation ist signifikant für Diep.ʼs Handlungen. Er steht als Häftling und durch seine besondere Stellung als Funktionshäftling zwischen seinen Mitinhaftierten und der Lager-SS, denn die Lagerordnung und die Befehle der SS waren für ihn von absoluter Gültigkeit. Diep.ʼs mentales Erzählskript vor Gericht basiert zum einen auf der Motivation, die eigene Unschuld unter Beweis zu stellen, hier unterscheidet er sich nur wenig von den anderen Angeklagten, zum anderen aber auch auf seiner politischen Orientierung, die Ursache für seine KZ-Haft war. Als ehemaliger Soldat der Fremdenlegion und der Internationalen Brigade war er in der nationalsozialistischen Auffassung ein »bolschewistischer Feind«. Dass er nach seiner Verurteilung nach dem ›Heimtückegesetz‹ nicht mehr freikam und wegen seiner Sprachkenntnisse nach nur kurzer Zeit im Konzentrationslager als Funktionshäftling bestimmt wurde, überrascht nicht. Seine gedankliche Landkarte legt deshalb zwei Schwerpunkte: erstens eine Reaktion auf die erhobenen Vorwürfe, seine Mithäftlinge schwer misshandelt zu haben, zu zeigen und zweitens seine persönliche Position als Funktionshäftling gegenüber den Mitinhaftierten und die damit verbundenen Konsequenzen dar- bzw. klarzustellen. Damit dies kohärent ist, muss es Diep. vor allem in seine Geschichte einbetten, was bedeutet, dass er sich nicht von den anderen abgrenzt, sondern sich vielmehr als Teil der Häftlingsgesellschaft darstellt. Er positioniert sich in dieser Weise klar als Häftling, nicht als Vertreter der SS, und erklärt sich damit auch deutlich als der sogenannten Grauzone ausgeliefert.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Das Phänomen der Performativität findet sich beim vorliegenden Quellenkorpus in Bezug auf die Gesamtebene, da das juristische Verfahren an sich ein performatives Phänomen ist. Das Urteil stellt einen »illokutionäre[n] Sprechakt [dar], der [die] Lesart des Geschehens für alle Parteien festlegt«1 . Es ist allerdings wichtig, zu beachten, dass nicht alle illokutionären Sprechakte auch performativ sind.2 Der performative Charakter des juristischen Verfahrens ist in den hier untersuchten Fällen besonders prägnant, da die Prozesse Teil einer Übergangsjustiz (Transitional Justice) sind. Sie charakterisiert nicht nur der gemeinsame Sachverhalt der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, sondern auch, dass das Tatgeschehen in einem anderen, nicht demokratischen und nicht rechtsstaatlichen Systemstattgefunden hat. Die Verfahren stellen einen wichtigen (juristischen) Schritt hin zur Transgression der Staaten zu einem nun demokratisch-rechtsstaatlichen System dar. Voraussetzung für diese Transgression ist das Phänomen der Performativität. Im Laufe eines Gerichtsverfahrens gibt es einzelne Abschnitte, die mehr, und andere, die weniger stark performativ sind. Gnadengesuch Mit Blick auf die Verurteilten ist es vor allem das Gnadengesuch, das, neben dem richterlichen Urteil, in Gänze einen illokutionären Sprechakt darstellt und so von einem performativen Charakter geprägt ist. Das Gnadengesuch ist Teil des Begnadigungsverfahrens, aber kein offizielles Rechtsmittel, im Gegenzug bedeutet dies aber auch, dass die Bewilligung eines solchen Gesuchs jenseits der rein rechtlichen Gegebenheiten möglich ist. Erfolgreich ist die Begnadigung, wenn den Verurteilten ihre Strafe teilweise oder in Gänze erlassen worden ist. Die Begnadigung »dient als Mittel zur Verwirklichung individueller Gerechtigkeit durch Ausgleich der Här-
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A. v. Kempen, Die Rede vor Gericht, S. 10. John R. Searle, Daniel Vanderveken, Foundation of Illocutionary Logic, Cambridge 1985, S. 182.
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ten des Gesetzes sowie durch Kompensation von Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten Verhältnissen«.3 Im Gnadengesuch geht es den Verurteilten der NSG-Verfahren nicht nur darum, sich durch verschiedene explizite und implizite Sprachhandlungen in den wirklichkeitskonstituierenden Sprechakt des richterlichen Urteils einzufügen. Der Gnadenakt, vollzogen von der Exekutive, kann aber das Urteil selbst nicht außer Kraft setzen. Das Begnadigungsrecht zeigt aber, warum die Verurteilten in erster Linie ihr vergangenes Handeln als Bemessungsgrundlage ihrer Strafe durch ihre gegenwärtige Situation ablösen wollen. Der Gnadenakt dient dazu, »ein erst infolge neuerer Entwicklungen unangemessen gewordenes Urteil den veränderten Realitäten anzupassen.«4 Nicht mehr die Straftat, sondern die Gegenwart soll über Erfolg oder Misserfolg des Gnadengesuchs entscheiden. Ihre Schreiben, gerichtet an unterschiedliche AdressatInnen, müssen sie den verschiedenen formellen und inhaltlichen Anforderungen anpassen. Es finden sich also Formeln und Floskeln, die typisch für das formelle Gesuch sind. Jenseits dessen werden aber die Schreibenden und deren Ziele – Strafminderung bzw. Straferlass – deutlich. Kapitelstruktur In den Analysen der folgenden vier Gnadengesuche soll aber nicht so sehr die Frage nach dem Erfolg, sondern vielmehr der Weg und die Strategie, von denen sich die Verurteilten einen möglichst großen Erfolg versprechen, im Zentrum stehen. Im Folgenden werden drei Schreiben von verurteilten ehemaligen Angehörigen der Lager-SS bzw. des weiblichen SS-Gefolges untersucht: Michael S., verurteilt wegen der Misshandlung von Häftlingen des Konzentrationslagers Mauthausen durch das Wiener Volksgericht; Walter Adolf Langleist, der sich als ehemaliger Lagerkommandant der Kauferinger Außenlager vor dem amerikanischen Militärgericht in Dachau verantworten musste, und Wally K., deren vorprozessuales Schreiben über ihre Zeit als Aufseherin in einem der Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück bereits im Hinblick auf das unzuverlässige Erzählen untersucht wurde. Den letzten Punkt der Analyse bildet dann das Gesuch des ehemaligen weiblichen Funktionshäftlings Anneliese Margarethe Obry. Wie auch K. musste sie sich vor einem deutschen Gericht verantworten. Zuvor erfolgt aber ein theoretischer Teil, der sich mit den Fragen des performativen Erzählens in juristischen Kontexten und vor allem im Gnadengesuch auseinandersetzt.
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Lutz Meyer-Goßner, Strafprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen (Beck’sche Kurz-Kommentare, Bd. 6), München 201154 , S. 1582. Michael Heghmanns, Strafverfahren. Strafrecht für alle Semester. Grund- und Examenswissen kritisch vertieft, Heidelberg 2014, S. 381.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
4.1
Performativität als Grundeigenschaft eines juristischen Verfahrens
»Performanz, Performance und Performativität […] beziehen sich auf das Gemachtsein von Sprache und Wirklichkeit und dienen der Analyse von sozialen Selbstdarstellungen […].«5 Will sich jemand also, wie im Gnadengesuch, strategisch möglichst erfolgreich darstellen und auf diese Weise auf die Wahrnehmung der AdressatInnen von Vergangenem und vor allem der erzählenden Personen Einfluss nehmen, so geschieht dies auf einem performativen Weg. Performativität als omnipräsentes Merkmal von juristischen Einrichtungen und Vorgängen zu erklären, ist somit nur konsequent, denn die Selbstdarstellung und die Auseinandersetzung mit ihr ist ein Kernanliegen des Strafverfahrens.6 Allerdings, auch wenn die Verurteilten vorhaben, in performativer Weise die entscheidende Instanz zu beeinflussen, der Erfolg des Gesuchs entscheidet darüber, ob es tatsächlich eine Veränderung bewirken konnte.
4.1.1
Juristische Verfahren und die Theateranalogie
Susan Sontag wirft mit Blick auf den Eichmann-Prozess in Jerusalem die Analogie zwischen Theater und Gerichtsgeschehen auf: »The trial is peerminently a theatrical form«.7 Denn bei einer Theateraufführung wird, wie im Gerichtsprozess, im Moment der Aufführung durch das u.a. sprachliche Handeln ein Ereignis dargebracht.8 Auch Erika Fischer-Lichte attestiert dem Gerichtsprozess einen performativen Charakter. Sie begründet ihre Annahme vor allem auf den zahlreichen Transformationen, die sich im Lauf des gesamten Prozesses finden, und stellt im Vergleich zum Geschehen auf einer Theaterbühne fest: »Auch im Falle von Gerichtsverfahren sind eine Fülle von institutionellen und subjektiven Gelingensbedingungen zu beachten, von denen der Verlauf des Prozesses abhängt und entsprechend die Entfaltung des transformatorischen Potenzials. Ganz gleich, wie lange sich ein Verfahren hinziehen mag oder welche speziellen
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7 8
Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Rowohlts Enzyklopädie), Hamburg 20093 , S. 109. »[L]aw is the ultimate performative institution: producing the framework of subjecthood and subjectivity through discursive acts.« Julie Stone Peters, Legal Performance Good and Bad, in: Law, Culture and the Humanities 4 (2008), S. 179-200, S. 181. Susan Sontag, Against Interpretation, New York 1966, S. 126. Klaus W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität. Einige Ausdifferenzierungen zur Unterscheidung eines Theoriefeldes, in: Ders. und Jörg Volbers (Hg.), Theorien des Performativen. Sprache, Wissen, Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 13-41, S. 25.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Verfahrensordnungen zugrunde gelegt werden, lässt sich auch hier […] die Struktur eines Übergangsrituals erkennen.«9 Der Aspekt des Performativen findet sich demnach in allen Abschnitten des juristischen Verfahrens. Dies liegt auch daran, dass die Performativität des Gerichtsverfahrens das Gesetz wahrnehmbar macht. Es wird so konkret und für die Sinne greifbar.10 Gleichzeitig bietet diese Blickrichtung aber die Möglichkeit, den juristischen Verfahren mit kulturhistorischen Ansätzen und dem Ausgesagten nicht nur mit der Frage nach den Inhalten begegnen zu können. Das Performative der Aussagen ist eine Grundeigenschaft des gesamten juristischen Verfahrens. Wichtig ist deshalb aber auch, aufmerksam auf Teile zu achten, bei denen das Performative nicht zu gelingen vermag oder gar nicht erst angestrebt wird. Dies kann unter anderem durch die Dynamik und die Interaktion der unterschiedlichen Prozessbeteiligten sowie durch die unterschiedlichen Phasen mit jeweiligen Auswirkungen bedingt sein. Ebenso muss der Einfluss der jeweiligen Strafprozessordnung beachtet werden. Der zentrale Punkt, die Rekonstruktion der Ereignisse, die Gegenstand vor Gericht sind, weist erneut Parallelen zum Theatergeschehen auf. Im Theater und vor Gericht repräsentieren die Beteiligten Abwesendes und verweisen auf Anderes, damit in Zusammenhang stehende Sachverhalte sowie Personen. Die Illusion und die Körperlichkeit der Anwesenden sollen dem Publikum das Vergangene im Modus des ›als ob‹ vermitteln.11
4.1.2
Ebenen und Beteiligte des Performativen
Jenseits der offenkundigen Theateranalogie bestätigt auch ein genauerer Blick in die Vorgänge die Evidenz des Performativen im Juristischen. Marie Maclean benennt die unterschiedlichen Teile und vor allem deren Verhältnis zueinander, die für einen performativen Vorgang bestimmend sind. Beide Teile, die Erzählenden und das Publikum, stehen in einer interaktiven Beziehung zueinander. Ihr Zusammenwirken ist aber nicht nur kooperativ und konsensorientiert, sondern auch
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E. Fischer-Lichte, Einführung, S. 117. J.S. Peters, Legal Performance Good and Bad, S. 179-180. »But, like theatre, it often works through representation or the staging of things that may be an illusion: figuring something absent (like metaphor or conjuration) or pointing to an elsewhere (like metonymy or the indexical). In this, law shares theatre’s condition of simultaneous corporality and illusoriness: it is real and happening here (in the bodies brought before those who watch), but it is also somehow always […] in the subjunctive mood, the ›as if‹.« Julie Stone Peters, Law as Performance. Historical Interpretation, Objects, Lexicons, and Other Methodological Problems, in: Elizabeth T. Anker, Bernadette Meyler (Hg.), New Directions in Law and Literature, New York 2017, S. 192-209, S. 206.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
von einer wechselseitigen Machtdemonstration geprägt. Der Austausch der beiden beteiligten Parteien beruht auf der gegenseitigen Anerkennung von Regeln und Erwartungen. Aber nicht nur wegen der gemeinsamen Regeln, sondern auch aufgrund des Erzählten stehen Sender und AdressatInnen in einer Beziehung zueinander.12 Analysiert man die Gnadengesuche, so steht vor allem der Sender, also der oder die Verurteilte im Mittelpunkt, gleichwohl der Adressat durch seinen Einfluss auf den Sender und seiner Entscheidungsmacht über den Erfolg des Gesuchs ebenso involviert ist, allerdings nicht in der gleich starken Präsenz. Die Beziehung zwischen diesen verschiedenen Gegebenheiten und deren Interaktion stellt demnach die Grundlage für die Analyse eines juristischen Geschehens dar. Untersucht man also ein juristisches Verfahren nach den performativen Vorgängen, so können unterschiedliche Ebenen, Vorgänge, Dynamiken und Interaktionen untersucht werden. So ist »[d]ie Bezugnahme auf das Performative […] motiviert durch eine kritische Einstellung gegenüber der Idee der Repräsentation, genauer: gegenüber der Identifizierung von ›Zeichen‹ und ›Repräsentation‹«13 typisch für die Interaktion zwischen den Prozessbeteiligten.
4.1.3
Performativ erzeugte Wirklichkeit
Ein quellenkritischer Umgang mit den vorliegenden zeithistorischen Überlieferungen verlangt also unbedingt nach der Frage des performativen Erzählens. Jenseits dessen können zwei große Bereiche der Performativität im juristischen Verfahren unterschieden werden; zum einen, bezogen auf die Aussagen der Prozessbeteiligten selbst, die durch ihre Darlegungen eine Sprachhandlung vollziehen. Diese sollen die AdressatInnen einerseits durch die performative Sprachhandlung über eine sprachlich erwirkte Wirklichkeit in Kenntnis setzen, andererseits soll diese Wirklichkeit als reale Tatsache überzeugen. »Als Wirklichkeit […] wird eine Situation erfahren, in der ein Akteur an einem besonders hergerichteten Ort zu einer bestimmten Zeit vor dem Blick anderer (Zuschauer) etwas tut. Wirklichkeit erscheint in diesem Sinne prinzipiell als theatrale Wirklichkeit.«14 12
13
14
»Narrative performance thus involves an intimate relationship which, like all such relationships, is at once a co-operation and a contest, an exercise in harmony and a mutual display of power. It is both ›act‹ and interaction, and implies a contract, a recognition of obligation and expectation, thus acknowledging the rules which govern the interplay. The two parties to the agreement, the narrative performers and the narrative audience, must be seen in their relationship to the text and to each other.« Marie Maclean, Narrative as Performance. The Baudelairean Experiment, London 1988, S. XIIf. Sybille Krämer, Was haben Performativität und Medialität miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der Aisthetisierung gründende Konzeption des Performativen, in: Dies. (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 13-32, S. 19. Erika Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, in: Dies., Doris Kolesch (Hg.), Kulturen des Performativen, Paragrana 7, 1 (1998), S. 13-29, S. 25.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Zum anderen, ist aber das gesamte Geschehen vor Gericht ein performatives. Fischer-Lichte bezieht ihre Begrifflichkeit von Wirklichkeit stark auf die Umstände des Theaters, doch kann dies, weil das Gericht bzw. das Gerichtsverfahren ebenfalls ein Ort des Performativen ist, auch auf den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand übertragen werden. Von Wahrheit oder Unwahrheit an dieser Stelle zu sprechen, wäre wenig zielführend, da diese Kriterien zur Beurteilung der Aussagen keinen wesentlichen Beitrag leisten können.15 Vielmehr ist in der Rekonstruktion und symbolischen Darstellung des zur Verhandlung stehenden Ereignisses ein wichtiger Informationsgehalt zu erkennen. Durch die institutionelle Rahmung des Gerichts und die rechtsstaatlichen Grundregeln wie der Rechtssicherheit erhalten die (sprachlichen) Handlungen darüber hinaus eine Legitimierung. Ist das Theater vor allem als ein Ort der Illusion bekannt, so ist im Gegensatz dazu der Ort des Gerichts vor allem ein realitätsbildender und transformierender Platz. Das Gericht erhebt den Anspruch, Vergangenes zu rekonstruieren, indem durch die verschiedenen Aussagen bzw. Erzählungen die Ereignisse benannt, ihre Tragweite möglichst geklärt und die Folgen daraus mit den Gesetzen in Relation gesetzt werden. Das gesamte juristische Verfahren ist von symbolischen und rituellen Handlungen geprägt. So erzeugt Sprache Wirklichkeit durch performative Akte, die gerade für Beschuldigte, Angeklagte oder auch Verurteilte nicht nur symbolische, sondern körperlich spürbare Konsequenzen z.B. durch Freiheitsentzug haben können.16 Die Besonderheit der hier untersuchten Quellen liegt in ihrer zunächst klaren Kategorie als Traditionsquellen. Allerdings zeichnen sie sich durch die doppelte Wesensart hinsichtlich ihrer Quellenkategorie aus. Denn es handelt sich um Überlieferungen, die neben ihrem Anteil als Traditionsquelle ebenfalls Merkmale eines Überrestes aufweisen. Dieser Teil mit den Informationen, die er enthält, war bzw. ist so gesehen ein Zufallsprodukt, dessen Inhalte nicht willentlich überliefert wurden. Dieses Phänomen kommt durch den narrativen Charakter der Quellen zustande. An das Erzählte kann in der Analyse stets die Frage nach dem, ›Was erzählt wird‹ aber eben auch nach dem, ›Wie erzählt wird‹ herangetragen werden. Die Frage nach dem ›Wie‹ des Erzählens entspricht dabei dem Überrestanteil, also dem Teil, der von den Erzählenden nicht-intendiert mitgeteilt wird. Das Medium der Erzählung stellt die Sprache dar. Durch das Erzählen mittels Sprache wird »Kraft seiner Medialität immer auch [ein] Überschuss gegenüber dem, was vollzogen wird [, geschaffen]. Auf dieses Surplus des Gebrauchs gegenüber seinem Programm zielt
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Ekkehard König, »Performativ« und »Performanz«. Zu neueren Entwicklungen in der Sprechakttheorie, in: E. Fischer-Lichte, Doris Kolesch (Hg.), Kulturen des Performativen, S. 59-70, S. 61. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der historischen Richtigkeit im Sinne ›wie ist es gewesen‹ nicht, da hier die Frage nach der erzählerischen Konstruktion vordergründig ist. J.S. Peters, Law as Performance, S. 206.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
die Reflexionsfigur der Performativität.«17 Der hier erwähnte Überschuss ist analog mit dem Begriff des Überrestes zu setzen. Der durch das ›Wie‹ des Erzählens produzierte Überrest bzw. Überschuss stellt somit die Reflexionsfigur der Performativität dar. Somit steht der Akt des Erzählens18 im Zentrum dieser Analyse.
4.2
Übergangsjustiz (Transitional Justice) und Transformation durch Performativität
Die erwähnte Transgression der unterschiedlichen Aussagen findet in Form des richterlichen Urteils statt. Die Aussagen aller Prozessbeteiligten – Zeugen, Angeklagte, Verteidigung und Anklage – finden Eingang in dieses Urteil, deshalb bildet dieses Narrativ als Ergebnis die Transgression ab: Erst mit dem Urteil der letzten Instanz ist die Schwellenphase an ein Ende gekommen und die Transgression vollzogen.19 Der Richter bildet hierfür durch das Urteil ein Narrativ, das aber auch die Aufgabe hat, die gesetzlichen Vorgaben durchzusetzen und zu sichern.20 Der Begriff der Transgression bezeichnet »eine Überschreitung des legalisierten oder ritualisierten Geschehens, das innerhalb einer Kultur im Gange ist […]. Transgressionen [sind] Überschreitungen und (unter der Hand sich vollziehende) ›Umfrisierungen‹ des durch den gesetzten Rahmen vorgegebenen Codes […].«21 Das richterliche Urteil ist also entscheidend für die Transgression. Allerdings sind ebenso die Äußerungen während der Hauptverhandlung hierfür wichtig. Gerade aber bei nachprozessualen Äußerungen, wie dem Gnadengesuch, findet sich das Phänomen auch, wenn die Gesuche Erfolg haben.
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Sybille Krämer, Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?, in: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, S. 78-90, S. 83. »[A]ct of narration«. Ute Berns, Performativity, in: Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid, Jörg Schönert (Hg.), Handbook of Narratology (Narratologia, Bd. 19), Berlin 2009, S. 370-383, S. 371. E. Fischer-Lichte, Einführung, S. 117. Greta Olson spricht im Falle des richterlichen Urteils auch vom sogenannten »master-narrative«. Greta Olson, Narration and Narrative in Legal Discourse, in: Peter Hühn u.a. (Hg.), Living Handbook of Narratology, www.lhn.uni-hamburg.de/article/narration-and-narrativelegal-discourse, abgerufen am 5.12.2019. Monika Fludernik, A Narratology of the Law? Narratives in Legal Discourse, in: Critical Analysis of the Law 1, 1 (2014), S. 87-109, S. 96. Gerhard Neumann, Rainer Warning, Transgressionen. Literatur als Ethnographie, in: Dies. (Hg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 98) Freiburg i.Br. 2003, S. 7-16, S. 10.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Letztlich bildet die Verknüpfung von Performativität mit dem Blick auf die Narrative vor Gericht die Möglichkeit, eine Antwort auf die weltanschauliche (Selbst)Verortung der Angeklagten zu finden. Denn diese Wahrnehmung erlaubt es, eine Erzählung als Bestandteil eines sozialen und interaktiven Kommunikationsprozesses zu sehen. Ein wichtiger Forschungsansatz ist hier die sogenannte socio-narratology, die eben genau diese Aspekte mit den bisherigen narratologischen Überlegungen verknüpfen möchte.22 Gleichzeitig bildet eben gerade diese soziale Interaktion die Basis für die performative Wirkung von Erzählen.
4.2.1
NSG-Verfahren als Beispiel für Transgression
Transgression findet sich auch im Fachterminus der ›Übergangsjustiz‹ wieder. Gerade der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen fällt hier eine historische Dimension hinsichtlich der Erstmaligkeit einer solchen juristisch intendierten Ahndung von Verbrechen, aber auch hinsichtlich der Dimensionen der begangenen Verbrechen zu. Die Delikte wurden in einem rechtlichen Rahmen begangen, der diese ermöglicht hat, rechtlich verfolgt wurden sie aber in den juristischen Gegebenheiten eines nachfolgenden Rechtssystems. Letztlich greift an dieser Stelle auch die Begrifflichkeit des sozialen Dramas nach Victor Turner. Der Ablauf eines solchen Dramas lässt sich in vier aufeinanderfolgende Bereiche gliedern: Der Bruch bzw. Konflikt sowie die darauffolgende Krise stehen in einem engen Zusammenhang, da beide den Anlass für das soziale Drama liefern. Die beiden folgenden Punkte, Bewältigung und Reintegration, wären dann im Zusammenhang mit der Übergangssituation zwischen zwei staatlichen und rechtlichen Systemen zu sehen.23 Der Begriff der Transgression begründet sich in den gesellschaftlichen, politischen und rechtsstaatlichen Strukturen, die sich zum Zeitpunkt solcher juristischen Verfahren im Übergang befinden.24 Die Frage nach einem performativen Erzählen ist also für diese Prozesse zwingend notwendig. Der Anspruch einer Übergangsjustiz ist es, einen essentiellen Beitrag zur Demokratisierung einer Nation zu leisten. Dies soll u.a. durch die Befriedung der Gesellschaft durch die juristische Ahndung und Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschheit (crimes against humanity) gewährleistet werden. Für die Angeklagten ist das Sich-ein-Erzählen in eine sich neuformierende Gesellschaft ein wichtiges Ziel. Dieses besondere performative Phänomen findet sich nicht bei allen Rechtsquellen, sondern ist auf Verfah22
23 24
David Herman, Toward a Socionarratology: New Ways of Analyzing Natural-Language Narratives, in: Ders. (Hg.), Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus 1999, S. 218-246, S. 218. D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 119f. Louis Bickford, Transitional Justice, in: Dinah L. Shelton (Hg.), Encyclopedia of Genocide and Crimes Against Humanity, Detroit 2005, S. 1045-1047.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
ren, die auf Grundlage des internationalen Völkerrechts abgehalten werden, und Nationen, die sich im Moment ihrer Neukonstitution befinden, beschränkt. Diese Form der Performativität des juristischen Verfahrens ist für die Einordnung der Aussagen der Angeklagten wichtig, da die Prozesse eben auch Teil eines politischen Systemwechsels waren bzw. sind. Mit dem Blick auf die Angeklagten und die performativen Merkmale ihrer Aussagen ist es der Aspekt der Transgression, der hier wichtig ist. ›Transgression‹ meint die »Praxis der Überschreitung, der Entgrenzung, Karnevalisierung und Durchbrechung von Codes und betrifft eine performative Überschreitung des legalisierten oder ritualisierten Geschehens«25 innerhalb einer Gesellschaft selbst. Die Idee hinter der Transgression ist vor allem wichtig, da sich diese Begrifflichkeit von der des Rituals abgrenzen lässt. Victor Turners ethnologisch motivierte Überlegungen zum Korrelat von Ritual und Performativität waren ein voraussetzungsreicher Schritt zur Idee der Transgression als Merkmal des Performativen.26 Während das Ritual vor allem eine befriedende und stabilisierende Funktion übernimmt, ist im Falle der Transgression das Gegenteil der Fall. Ihr ist eine Subversion zu eigen, die ein »innere[s] ›Umfrisieren‹ herrschender Codes«27 verfolgt. Gerade deshalb vermag es dieses Phänomen, das Andere, also die moralische und weltanschauliche Verortung der Angeklagten jenseits der Regeln nach 1945 zutage zu fördern. Dies führt in der Konsequenz zu einer »Vertextung«28 , soll heißen: Offenlegung von Wissen über die (Selbst-)Verortung der Angeklagten. Die Transgression greift somit auch den reflexiven Moment in den Aussagen der Angeklagten, wobei dieser nicht zwingend durch eine bewusste Äußerung formuliert wird, sondern durch das Meta-Narrativ auffindbar ist.
4.2.2
Verbrechen gegen die Menschheit vor Gericht
Die Erstmaligkeit von Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen ist natürlich durch das Ausmaß dieser Verbrechen gegeben. Prozessen wie dem gegen Adolf Eichmann kommt somit jenseits des Sammelns von Fakten und Wissen über die Verbrechen eine wichtige Dimension der Einordnung und Interpretation der rekonstruierten Ereignisse zu. In dieser Weise deutet Shoshana Felman die Bedeutung des Jerusalemer Eichmann-Prozess: »The Eichmann trial sought [. . .] not only to establish facts but to transmit (transmit truth as event and as the shock of an encounter with events, transmit history
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D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 126. John Tulloch, Performing Culture. Stories of Expertise and the Everyday, London, Thousand Oaks, New Delhi 1999, S. 2. D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 127. Ebd.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
as an experience). The tool of law was used not only as a tool of proof of unimaginable facts but, above all, as a compelling medium of transmission – as an effective tool of national and international communication of these thought-defying facts.«29 Warum der Eichmann-Prozess in Israel und international für eine veränderte Wahrnehmung der Shoah sorgte, wird in der Aussagen Felmanns deutlich. Nicht nur die bloße Rekonstruktion und die juristische Ahndung eines Verbrechens wurden deutlich, sondern auch mit aller Deutlichkeit noch einmal der Zäsurcharakter. Die Prozesse zu Verbrechen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern sind Bestandteil dieses juristischen Phänomens, dessen bekanntestes Beispiel die Nürnberger Prozesse darstellen. Es handelte sich beim Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg allerdings keinesfalls um das erste juristische Verfahren, das sich Verbrechen gegen die Menschheit zum Gegenstand gemacht hatte. Vielmehr waren auch die Verfahren der österreichischen Volksgerichte, das amerikanische Militärgericht in Dachau und die (bundes-)deutschen Verfahren solche Prozesse. Das amerikanische Militärgericht von Dachau klagte die ehemaligen Angehörigen der Konzentrationslager-SS an, in »Dachau oder seiner Umgebung vorsätzlich und rechtswidrig dazu angestiftet, dabei geholfen, darin unterstützt und daran teilgenommen zu haben, daß die Lagerinsassen Grausamkeiten, Mißhandlungen bis hin zu Tötungen, Verprügelungen, Folterungen, Verhungerungen, tätlichen Übergriffen und Erniedrigungen ausgesetzt wurden.«30 Der amerikanischen Anklage war es vor allem ein Ziel, den Angeklagten nachzuweisen, dies als ein gemeinschaftliches Vorhaben (common design) geplant zu haben.31 Die österreichischen Volksgerichte agierten auf der Grundlage des Verbotsgesetzes (VG) und des Kriegsverbrechergesetzes (KVG), welches in § 4 explizit Verbrechen gegen die Menschheit und Menschenwürde aufgreift.32 Bei den (bundes)deutschen Gerichten ist ein differenzierter Blick notwendig, da in der amerikani-
29 30 31
32
Shoshana Felman, The Judicial Unconscious. Trials and Traumas in the Twentieth Century, Cambridge u.a. 2002, S. 133. H. Lessing, Der erste Dachauer Prozess, S. 84. Michael S. Bryant, Dachau Trials. Die rechtlichen und historischen Grundlagen der USamerikanischen Kriegsverbrecherprozesse, 1942-1947, in: Henning Radtke, Dieter Rössner, Theo Schiller, Wolfgang Form (Hg.), Historische Dimensionen von Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg (Studien zum Strafrecht, Bd. 9), Baden-Baden 2007, S. 111122, S. 119. C. Kuretsidis-Haider, Das Volk sitzt zu Gericht, S. 47.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
schen Besatzungszone eine Anklage auf der Grundlage von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nicht möglich war, in den übrigen jedoch schon.33
4.3
Performative Aussagen im juristischen Verfahren
Das erzählte Geschehen der Angeklagten muss möglichst plausibel und kohärent sein, um sich als glaubhaft durchsetzen zu können. Von einem überzeugenden sprachlichen Handeln spricht man, »wenn er [der Angeklagte] seine(n) Gesprächspartner über ein […] relevantes Thema informiert; Argumente für oder gegen das geschilderte Thema vorbringt; bei seinem (seinen) Gesprächspartner(n) gezielt bestimmte Emotionen, Gefühle auszulösen versucht; das geschilderte Thema bewertet.«34 Seine Handlung ist persuasiv und appellativ, denn er setzt sich zum Ziel, die RezipientInnen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Sind die überlieferten Quellen, also Protokolle der Vernehmung des Beschuldigten, Gerichtsprotokolle und alle vor- sowie nachprozessualen Aussagen, Traditionsquellen, so gibt es, wie bereits erwähnt, dennoch einen Anteil dieser Quellen, der als Überrest zu definieren ist. Dieser Überrest wird durch das performative Erzählen der Angeklagten erzeugt, denn durch das Schreiben eines Gnadengesuchs interpretieren die LeserInnen nicht nur den Text selbst, sondern auch die ProduzentInnen dieses Textes.35 Überträgt man diese Aussage auf die Analyse der Gnadengesuche, so schaffen die Verurteilten auf performativem Wege ein bestimmtes Bild von sich, wahrgenommen durch die AdressatInnen ihrer Schreiben. Der Anspruch der Schreibenden ist es dabei, dass ihre Erzählung eine wirklichkeitskonstituierende ist. Dieses Bild bzw. diese Wirklichkeit ist natürlich zuallererst ein(e) strategische(s), welche(s) der Erzählsituation vor Gericht geschuldet ist.
4.3.1
Skalierte Performativität
Die Sprachphilosophin Sybille Krämer hat deshalb Performativität skaliert. Krämer unterscheidet zwischen drei Stärken von Performativität: schwach, stark sowie radikal. Letzteres ist die »Fähigkeit des Performativen, eine operativ-strategische Funktion zu erfüllen, welche die Grenzen von dichotomischen Klassifikatio33 34
35
E. Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie, S. 555. Zitiert nach: Jacek Makowski, Zum Wesen der Sprachmanipulation, in: Ders. (Hg.), How Not To Do Things With Words. Beiträge zur Sprache in Politik, Recht und Werbung, Lodz 2011, S. 13-26, S. 17. »The process of creating the self through text allows a person to exist that is interpreted over and over by other readers.« Shane T. Moreman, Memoir as Performance. Strategies of Hybrid Ethnic Identity, in: Text and performance quarterly, 29 (2009), S. 346-366, S. 349.
215
216
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
nen, Typologien und Theorien aufzeigt und unterläuft«36 . Dagegen steht die zweite Form, die starke Performativität: die Möglichkeit einer Veränderung der Sache durch Sprache. Das richterliche Urteil kann als ein starkes Konzept von Performativität verstanden werden, die Aussagen der Beschuldigten bzw. Angeklagten und ein Gnadengesuch von Verurteilten sind dagegen nur in Ausnahmefällen performativ. Mehrheitlich sind sie dies in einem eher schwachen Sinne. Dies bedeutet, dass die Aussagen, gehandhabt als sprachliche Handlungen, einen performativen Charakter aufweisen, auch wenn ihnen keine wirklichkeitskonstituierende Fähigkeit zu eigen ist. Ihre Performativität findet sich in »eine[r] emotionale[n] oder sinnliche[n] Affizierung [der RezipientInnen in Form einer] ›funktionale[n] Performativität‹«37 , weshalb die Assoziation zum perlokutionären Sprechakt nicht nur naheliegend, sondern auch logisch konsequent ist.38 Auch Ute Berns eröffnet eine Skalierung von Performativität. Sie macht den unterschiedlichen Grad aber vor allem an der Form – verkörpert oder nicht-verkörpert –, in der das Performative stattfindet, fest. Die hier untersuchten Quellen lassen theoretisch beides zu. Der Angeklagte ›performt‹ letztlich im Moment seiner Aussage und das Ausgesagte evoziert gedanklich Geschehnisse bei den RezipientInnen.39
4.3.2
Blick hinter das vordergründig Erzählte
Die Verurteilten von NSG-Verfahren wollen sich in ihren Gnadengesuchen nicht nur als unschuldig zeigen, sondern auch unter Beweis stellen, dass weder die nationalsozialistische Weltanschauung40 noch eine pathologische Verbrecherpsyche oder ein niederer Beweggrund ihre Handlungsmotivation war. Vielmehr soll das Selbst als das eines rechtschaffenen, Normen und Gesetze achtenden und unauffälligen Durchschnittsmenschen erzeugt werden. Dieses Bild richtet sich vor allem in die Zukunft, weil sie in ihren Schreiben die gegenwärtige (Haft-)Situation 36 37
38
39 40
E. Fischer-Lichte, Einführung, S. 44. Ekkehard König, Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen aus linguistischer Perspektive, in: Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.), Theorien des Performativen. Sprache, Wissen, Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 43-67, S. 46. Erika FischerLichte, Einführung, S. 44. E. König, Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen, S. 44. Der perlokutionäre Sprechakt bezeichnet, der Terminologie Searles folgend, die Effekte des illokutionären Sprechaktes oder auch anderer Sprechakte auf die AdressatInnen. U. Berns, Performativity, S. 372. Mit »Weltanschauung« ist hier Folgendes gemeint: »Worldview includes the presuppositions, intentions, meanings, rules, norms, values, principles, practices, and activities through which people live their lives. It is a fundamental orientation that includes the core cultural ideas of what is good, what is normal, and what is the self. [W]orldview is a cultural construction that frames an individual’s perception of his or her social world and, subsequently, influences their actions within that social world.« J. Waller, Becoming Evil, S. 171.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
als Hindernis für ein solches Verhalten begründen. Der erzählerisch produzierte ›Überrest‹ dieser Quellen erlaubt es aber, hinter dieses vordergründig erzeugte (Selbst-)Bild zu blicken. Wie auch das Konzept des unzuverlässigen Erzählens stellt die Untersuchung der Performativität eine interpretatorische Strategie dar, also die Möglichkeit, dem erzählerisch produzierten Überrest im close-reading zu begegnen, und eröffnet so einen neuen und anderen Umgang mit den Gerichtsquellen von NSG-Verfahren. Dies liegt daran, dass Performativität nicht nur Machtverhältnisse abbildet, sondern hierdurch Macht überhaupt erst greifbar wird, denn wer sich durchsetzen will, vollzieht dies auf performativem Weg.41 Mit der Frage nach der Performativität der Angeklagten in ihren Aussagen über die zur Verhandlung stehenden Ereignisse verlagert sich die Fragestellung auf die erzählerisch erzeugte Wirklichkeit. Die erzählten Ereignisse selbst werden zweitrangig.42 Durch ihr sprachliches Handeln wollen die Erzählenden eine bestimmte Bedeutung und Haltung erwirken, aber auch vermitteln. Deshalb müssen die unterschiedlichen Wege, soll heißen, soziale Herkunft, beruflicher Werdegang und familiäre Umstände der Angeklagten, die zum Dienst im Konzentrationslager führten, berücksichtigt werden. Besonders deutlich zeigt sich der Aspekt des performativen Erzählens in den Gnadengesuchen der Verurteilten. Indem die Verurteilten die verschiedenen biografischen Stationen, das private Umfeld und die begangenen Verbrechen kausal miteinander verknüpfen, versuchen sie, ihr Handeln zu erklären und zu entschuldigen, um sich so zu entlasten. Das Gesuch ist dezidiert an eine AdressatIn gerichtet, der hierdurch zu einer Handlung – Strafminderung, Straferlass etc. – veranlasst werden soll.
4.3.3
Performative Sprechakte
»How to do things with words« nennt Austin seine Vorlesungsreihe, in der er seine sprachphilosophischen Überlegungen der Sprechakttheorie zur Performativität darlegt. Der Begriff performativity ist ein Neologismus. »›[P]erformative‹ […] The name is derived, of course, from ›perform‹, the usual verb with the noun ›action‹: it indicates that the issuing of the utterance is the performing of an action«43 . Austin will mit diesem von ihm neu benannten Phänomen sprachliche Äußerungen bezeichnen, die nicht nur von rein deskriptiver Art sind, sondern bei denen im Sprechen gleichzeitig eine Handlung vollzogen wird, indem durch den Sprechakt eine Transgression hervorgerufen wird. Die theaterwissenschaftliche Sicht auf 41 42
43
»[P]erformativity as not only being constitutive of power but at the same time being implicated in that which is opposes.« J. Tulloch, Performing Culture, S. 66. Diese Vorgehensweise ist überhaupt erst möglich, da die Forschung zur NS-Geschichte bereits so weit fortgeschritten ist, dass ein nicht nur rein rekonstruktives, auf die Ereignisabfolge konzentriertes Lesen der Quellen möglich ist. J.L. Austin, How To Do Things With Words, S. 6.
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218
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Performativität beschränkt sich aber nicht nur auf den Sprechakt, sondern untersucht Merkmale wie Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit.44 Gerichtsverfahren, von denen Ton- bzw. Videoaufnahmen existieren, würden eine Untersuchung erlauben, die sich eben stärker auf ihren Performance-Charakter – einer verkörperten Präsentation vergangener Ereignisse vor einem Publikum an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit45 – konzentrieren. Die getroffene Quellenauswahl erlaubt eine Analyse auf der Ebene aller vier Kategorien jedoch nicht, da es sich um Verfahren handelt, von denen zwar überlieferte Protokolle und handschriftliche Eingaben vor Gericht, allerdings höchstens Fotografien der Angeklagten und des Gerichtsraumes existieren. Durch die Archivierung dieser ›Aufführungen‹ vor Gericht kam es darüber hinaus zu einer Art Verschiebung der Kategorie der Zeitlichkeit, da durch die Überlieferung eine gewisse Form der Fixierung des Ereignisses stattgefunden hat. Will man zwischen einer verkörperten und nicht-verkörperten Form der Performativität unterscheiden, so scheint es sich nur auf den ersten Blick um die Form einer nicht-verkörperten zu handeln. Doch genau genommen liegt hier die bereits oben angesprochene Überlieferungslücke vor, die gewisse Aspekte des Performativen des juristischen Verfahrens nicht fixiert hat. Trotzdem handelt es sich um die Form einer verkörperten, performativen Vermittlung der vergangenen Ereignisse. Allerdings ähnelt die Rezeptionsleistung hier eher der einer im Umgang mit einer nicht-körperlichen Vermittlung von vergangenen Ereignissen. Es kann in diesem Sinne von einer gedanklichen Performanz46 gesprochen werden, wenn es um die Wahrnehmung der Vorgänge durch die RezipientInnen geht.
4.3.4
Komplexität performativer Sprachhandlungen im Gnadengesuch
Die Ebene eines nicht-körperlichen und körperlichen Performens eines Ereignisses verschwimmt in der Folge. Dies liegt u.a. daran, dass der Sprechakt in den vorliegenden Texten eine größere Komplexität mit sich bringt, als das in den sprechakttheoretischen Überlegungen von Austin der Fall ist. »Identität von Sprechenden und Handlung«47 sowie »Simultaneität von Gesprochenem und Handlung«48 sind aber in jedem Fall wichtige Merkmale einer performativen Äußerung. Dies gilt auch für umfangreichere und komplexere Schreiben, wie die hier untersuchten Gnadengesuche. Identität und Simultaneität verlangen zunächst in der Syntax eine Formulierung in der ersten Person Singular Präsens. Am Tempus lässt sich bereits 44 45 46 47 48
E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Ute Berns meint mit Performance-Charakter »embodied live presentation of events in the co-presence of an audience at a specific place and time«, U. Berns, Performativity, S. 370. Ute Berns spricht hier von einer »mental performance«. U. Berns, Performativity, S. 373. K.W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität, S. 21. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
der Grund für die Existenz des nicht-körperlichen und körperlichen Performativen erkennen. Die Komplexität der Aussagen vor Gericht verlangt, eine grammatische Struktur um beides – die Rekonstruktion der vergangenen Ereignisse vor Gericht und die Darstellung der eigenen Person im möglichst günstigen Licht – in eine kohärente Vermittlungsform bringen zu können. Gerade die Verknüpfung der vergangenen Ereignisse mit der Interpretation dieser durch die Aussagen im Moment des juristischen Verfahrens macht den Schritt vom rein Deskriptiven zum Performativen aus. Die Verknüpfung der nicht-körperlichen und körperlichen Form von Performativität findet sich hier also einerseits durch die Illusion von Performativität, die nur durch bloßes Erzählen erzeugt wird.49 Andererseits findet schlicht die Rekonstruktion eines Ereignisses zur Klärung eines strafrechtlich relevanten Falles statt. Gerade die erzeugte Illusion ist besonders wichtig im Falle eines juristischen Verfahrens, da sich an dieser Stelle die Möglichkeit eines strategischen Erzählens vor Gericht bietet bzw. sogar eine Lenkung der RezipientInnen möglich sein kann. Dieses strategische Erzählen50 kann vor allem seine Wirkung durch die Erzeugung von Narrativen entwickeln. Austin schließt für die performative Sprachhandlung aus, dass sie beschreibt, berichtet oder Feststellungen formuliert. Auch ist die Unterscheidung in ›wahr‹ und ›falsch‹ weder charakteristisch noch zielführend. Wie sich in den späteren Analysen zeigt, ist vielmehr die Frage nach einer Wirklichkeitskonstruktion sinnführend. Performative Sprechakte sind illokutionär, aber nicht alle illokutionären Sprechakte sind auch performativ. Die sprachliche Handlung besteht schlicht in der Formulierung von etwas und präsentiert so die Intention hinter den bloßen Wörtern.51 Wie bereits in den vorherigen Kapiteln stellt die Analyse nicht die Frage an die Ergebnisse, sondern vielmehr an den sprachlichen Weg dorthin. Austins Schüler Searle präzisierte die Unterscheidung von illokutionären Sprechakten zu einer »universalpragmatischen Typologie«52 . Seine Taxonomie ist »unabhängig von den 49 50
51
52
Ute Berns nennt dies »evocations of the illusion of performativity in purely verbal narrative«. U. Berns, Performativity, S. 372. Es wird hier bewusst ein weiter Begriff des Erzählens gewählt. Die Aussagen vor Gericht werden dann in den jeweiligen Feinanalysen differenziert betrachtet. Berichten, erzählen, vermitteln sind nur drei von zahlreichen Formen, die sich in den hier untersuchten Quellen finden. Doch aus Gründen der Lesbarkeit, aber vor allem der Präzision, also um das Besondere im jeweils Ausgesagten in aller Feinheit benennen zu können, wird dann auf die jeweilige Differenz zum Erzählen verwiesen. Die Pragmatik formuliert dies als »the force of intention behind the words.« Alicia MartínezFlor, Esther Usó-Juan, Pragmatics and speech act performance, in: Dies. (Hg.): Speech Act Performance. Theoretical, empirical and methodological issues (LL and LT, Bd. 26), Amsterdam, Philadelphia 2010, S. 3-20, S. 7. J.L. Austin, How To Do Things With Words, S. 6. Peter Auer, Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern, Berlin, Boston 20132 , S. 85.
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220
Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Formen ihrer einzelsprachlichen Realisierung«53 und deshalb geeignet für die Frage nach dem performativen Erzählen in Gnadengesuchen. Allerdings wiegen die perlokutionären Effekte schwerer – Folgen der illokutionären Akte –, als das Searle in seinen Überlegungen berücksichtigt hatte. Solche Effekte sind jene durch den Sprechakt erreichten Wirkungen, die ein gemeinsames Verstehen über einen Sachverhalt und somit letztlich eine Reaktion bei den AdressatInnen sicherstellen sollen.54 Grundlegend für die Unterscheidung illokutionärer Sprechakte ist der Zweck ihrer Äußerung. Die Sprechakte sollen beim Publikum die Tatsachen-ÄußerungsRelation im Sinne des Verurteilten verändern. Das Schreiben dient also in erster Linie dazu, die Wirklichkeitskonstruktion bei den RezipientInnen im Sinne des Schreibenden zu beeinflussen.55 . Es gibt deshalb Sprechhandlungen, die Tatsachen und Äußerung in einer Weise verbinden, dass das Bezeichnende zuerst da war und das Bezeichnete dieses in direkter Weise benennt. In dieser Form der Sprachhandlung geht es um eine Reaktion. Eine Person sieht einen Gegenstand und benennt diesen unmittelbar.56 Das Gnadengesuch ist ein direktiver Sprechakt. Die Intention dieser Sprachhandlung ist es, die AdressatInnen zu einer bestimmten, erwünschten Handlung zu bringen. Aber auch kommissive Sprechakte finden sich häufig in diesen Gesuchen. Die Sprechenden wollen durch die Formulierung zeigen, was sie zukünftig vorhaben, und verbinden dies oftmals mit einem Versprechen. Dies kann einerseits die Form haben, dass ein Verurteilter sein Versprechen mit einer Bedingung für dessen Einlösung verknüpft: Wenn der Richter dem Gnadengesuch stattgibt, dann kann der Verurteilte sich in bestimmter Weise – es handelt sich dabei natürlich um die vom Gericht gewünschte Verhaltensweise – benehmen. Andererseits kann ein solcher Sprechakt auch mit der Äußerung eines Schuldgeständnisses bzw. Schuldbewusstseins verbunden sein. Oftmals tritt ein Kommissivum dann zusammen mit einem expressiven Sprechakt57 – also einer emotionalen Äußerung – auf. Die Expressiva gehören zu den nicht performativen Sprechakten, geben aber Aufschluss über die mentale Verfasstheit der Sprechenden bzw. über die Emotionen derer und sind deshalb wichtig für die Einordnung der anderen Sprechakte.
53 54 55
56 57
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (Bd. 1), Frankfurt a.M. 19874 , S. 429. S. Staffeldt, Einführung in die Sprechakttheorie, S. 43. Searle formuliert dies folgendermaßen: »to get the world to match the words [and] to make the words match the world«. John R. Searle, A Taxonomy of Illocutionary Acts (Reprinted from Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 6) Trier 1976, S. 2. Die Pragmatik benennt dies als einen »›word-to-world‹ direction of fit«. Nicolas Allott, Key Terms in Pragmatics, London, New York 2010, S. 22. Typische Fälle hierfür wären Geständnisse, Enthüllungen sowie Offenbarungen. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1), S. 429.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Genauso kann aber auch die Beteuerung der Unschuld als Anlass zum Gnadengesuch genommen werden. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt deswegen dem Sprechakt der Deklarativa, der eine Tatsachenentscheidung darstellt. Typische Verben wären: ernennen, entlassen, nominieren, abdanken, den Krieg erklären, kapitulieren, taufen, trauen, verhaften, begnadigen, jemandem etwas vermachen, definieren, jemandem oder etwas einen Namen geben, etwas als etwas abkürzen, freisprechen, schuldig sprechen. Deklarativa erfordern eine institutionelle Verankerung, um das Gesprochene auch durchsetzen zu können. Bedient sich nun der Verurteilte einer Deklaration in seinem Gnadengesuch, ist dies nicht nur als ein institutionalisiertes Sprechen im Rahmen einer nachprozessualen Eingabe vor Gericht zu sehen. Vielmehr kann solch ein Sprechakt auch als ein Versuch gewertet werden – vor allem wenn es sich um eine implizite Form eines deklarativen Sprechaktes handelt –, der im Urteil festgelegten Machtpositionen entgegenzutreten bzw. diese zu seinen Gunsten zu wenden. Der Verurteilte kann auf diese Weise den Geltungsanspruch des richterlichen Urteils in Zweifel ziehen.58 Durch eine solche Äußerung können die Sprecher »die Welt, indem sie das Bestehen eines Sachverhalts proklamieren und eben dadurch dafür sorgen, daß dieser Sachverhalt besteht«59 , verändern. Aus diesen Gründen ist der illokutionäre Zweck oder auch die Intention der jeweiligen Sprachhandlung entscheidend.60 Damit geht die zeitliche Dimension einher, soll heißen, auf welchen zeitlichen Abschnitt sich das Geäußerte bezieht, die soziale Dimension – also die Frage nach den Folgen für ZuhörerInnen und/oder SprecherInnen – und die sachliche Dimension – gemeint ist damit der Bezugspunkt des Sprechaktes.61 Auch wenn dieser Sprechakt nur implizit ist, also ohne die Verwendung eines bestimmten illokutionären Verbes, welches den Sprechakt unmissverständlich markiert, muss dieser Punkt explizit gemacht werden können.62 Geht man zurück auf die bereits oben erwähnten sprachphilosophischen Überlegungen zum Sprechakt, so existiert das Performative auf zwei Ebenen. Ganz basal finden im Bereich der story unterschiedliche Sprechakte statt. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Strukturierung und Interpretation des Erzählten durch diese Sprechakte. So gesehen kann ein ganzes literarisches Werk zu einem Sprechakt werden.63 Aus diesem Grund ist ein Sprechakt wesentlich komplexer, als dies bei Searle den Anschein macht. Das Gnadengesuch des Verurteilten ist somit einerseits von einzelnen Sprechakten geprägt, andererseits handelt es sich bei all die58 59 60 61 62 63
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1), S. 433. John R. Searle, Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation, Berlin 2012, S. 27. J.R. Searle, A Taxonomy of Illocutionary Acts, S. 3. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1), S. 431. John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969, S. 68. U. Berns, Performativity, S. 373.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
sen Äußerungen in ihrer Gesamtheit um einen großen, komplexen Sprechakt. So erklärt sich dann auch, warum ein Sprechakt zwar durchaus in seiner grundlegenden grammatikalischen Form die erste Person Singular, Präsens und Indikativ aktiv aufweist, dies jedoch in keinem Widerspruch zum Gnadenschreiben als Sprechakt steht.64
4.4
Erzählerische Ziele im Gnadengesuch
Die Performativität im juristischen Verfahren findet sich durch die Vielzahl an dementsprechenden sprachlichen Handlungen. Dies bedeutet, dass der Nachweis der Performanz die Performativität begründet. Die Komplexität der hier untersuchten Äußerungen liegt in der Performanz, die eben ein (Selbst-)Bild der Unschuld, des Nicht-ideologisiert-Seins durch die nationalsozialistische Weltanschauung, der psychischen Gewöhnlichkeit sowie eine ›Disposition‹, sich in die sich neu konstituierenden demokratischen Staaten integrieren zu können, zeigen soll. In diesen Zielen unterscheiden sich die Verurteilten kaum. Doch die Strategie, mit der sie dieses Ziel verfolgen, ist divers. Die Unterschiede zeigen sich u.a. bedingt durch die unterschiedliche hierarchische Stellung der Angeklagten. Die Angeklagten der alliierten Prozesse, wie der hier ausgewählte erste Dachauer Prozess des amerikanischen Militärs, sind hierarchisch hochstehende Personen wie der ehemalige Lagerkommandant Martin Weiß. Allein durch seine genaue Kenntnis um die unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen konnte er subtiler formulieren und argumentieren. Dieses Vermögen über ein anderes und umfangreicheres Erzählen darf aber nicht auf einen bestimmten Bildungsgrad bezogen werden. So werde ich im Analyseteil dieses Kapitels das Gnadengesuch von Walter Adolf Langleist, Angeklagter und durch das amerikanische Militärgericht verurteilter Angehöriger der SS-Funktionselite, untersuchen. Ein geschlechtsspezifischer Unterschied zwischen den Gnadengesuchen von SS-Angehörigen bzw. Angehörigen des weiblichen SS-Gefolges hinsichtlich ihres performativen Erzählens fand sich nicht. Diese Ähnlichkeit lässt sich u.a. durch das normierte Erzählen vor Gericht erklären, wirft aber auch die Frage auf, ob es überhaupt ein geschlechtsspezifisches Erzählen gibt. Die jeweilige Strafprozessordnung und generell das Erzählen und Argumentieren angesichts von (staatlichen) Autoritäten führt zu einer Ähnlichkeit im (strategischen) Vorgehen, da das Ziel einer Überzeugung mittels der gewählten Formulierungen allen Äußerungen gemein ist. Sehr wohl zeigen sich aber Unterschiede zwischen den Gnadengesuchen der SS-Angehörigen und der eines weiblichen Funktionshäftlings.
64
J.L. Austin, How To Do Things With Words, S. 5.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Doppelbödigkeit der Gnadengesuche Das Schreiben der Verurteilten ist zunächst stark deskriptiv, da es darum geht, den Nichtwissenden über die vergangenen Ereignisse und vor allem über die gegenwärtige Situation in Kenntnis zu setzen. Deskription und Rekonstruktion sind somit Bestandteile der performativen Äußerungen und erklären, warum die von Searle und Austin konstatierte grammatikalische Form, die Komplexität performativer Äußerungen, nicht greift. Die deskriptiven Anteile der Aussagen sind somit Teil der performativen Äußerungen der Verurteilten. Sie sollen eine Transgression erwirken, die die Verurteilten zu unschuldigen bzw. minder schuldigen Personen machen. Die Gnadenschreiben weisen das Merkmal der Doppelbödigkeit auf, das auch ein wichtiges Merkmal der vorprozessualen Schreiben ist.65 Dass diese doppelte Struktur gerade im Bereich von Recht und Performativität auffindbar ist, liegt auch an der Wechselhaftigkeit als Grundeigenschaft des Rechts.66 Beide Ebenen stehen in einem konflikthaften Verhältnis zueinander. Indem das performative Erzählen vordergründig ein bestimmtes Bild erzeugen möchte, produziert es im gleichen Moment eine parallele Erzählung, die es im Vorliegenden zu eruieren gilt. So verortet sich Franz Dop., Angeklagter vor dem Wiener Volksgericht, in der Hauptverhandlung im August 1946 mit der Äußerung »Ich war immer evangelisch«67 gleichermaßen religiös sowie weltanschaulich. Der spätere Kirchenaustritt, den er kausal mit den abfälligen Äußerungen des Lagerkommandanten Ziereis über Kirchenmitglieder verknüpft, und die Aufzählung der zahlreichen Vereinsmitgliedschaften zeichnen ihn aber nicht als weltanschaulich gefestigte Person.68 Dieser Konflikt führt in diesem Beispiel deutlich zu einer Instabilität und einer wenig überzeugenden Selbstdefinition des Angeklagten. Wegen dieser weltanschaulichen Unbestimmtheit ist davon auszugehen, dass bei Dop. durchaus ein Bewusstsein für eine Moral jenseits der NS-Moral und deren Widersprüchlichkeit zueinander bestand. Diese moralische Verunsicherung muss allerdings nicht zwingendermaßen ein Schuldbewusstsein mit sich bringen. Es besteht also ein Wider65
66
67 68
Klaus W. Hempfer erklärt so, warum das Vorhandensein von Vergangenheitsformen im eigentlich Präsens fordernden performativen Sprechakt möglich ist. K.W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität, S. 26. Fischer-Lichte führt diese Doppelbödigkeit auf die Grundeigenschaft der Ambivalenz, die allen performativen Prozessen zu eigen ist, zurück. Denn performative Prozesse konstituieren sich stets aus einer passiven Komponente – dem Geschehen-Lassen – und einer aktiven Komponente – dem Kreieren. E. Fischer-Lichte, Einführung, S. 88. »Law oscillates between theatricality and anti-theatricality, visibility and invisibility, makebelieve and reality – an oscillation that is not an exception in law’s history, but a chronic refrain, deep in the structure of its institutions, practices, doctrines, and, above all, the events and practices through which it unfolds.« J.S. Peters, Law as Performance, S. 207. Franz Dop., Hauptverhandlung vor dem Volksgericht Wien, 13. und 14. August 1946, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 821/55, S. 3. Ebd.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
streit zwischen dem Subjekt, das sich als Teil der sich neuformierenden, demokratischen Gesellschaft darstellen will, und einem Subjekt, das sich in den rechtlichen und moralischen Regeln des Nationalsozialismus bewegt hat. Die Performanz im Gnadengesuch der Verurteilten soll aber das Bild von Angehörigen der demokratischen Gesellschaft schaffen. Der ehemalige SSOberscharführer Anton Endres vollzog diesen Schritt auf explizite Weise in seinen beiden Gnadengesuchen, gerichtet an das amerikanische Militärgericht Dachau. Er bittet um die Aufhebung der gegen ihn verhängten Todesstrafe, um sich in einem kommissiven Sprechakt als »ein nützliches Glied einer neuen deutschen Demokratie«69 anzubieten. Die militärische Sprechweise und die Sichtweise, sich als kleiner Teil dem großen Ganzen dienlich zeigen zu wollen, sind Denkweisen, die sich vor allem in der durchwegs militarisierten NS-Gesellschaft finden lassen. Ob die performativen Sprechhandlungen allerdings gelingen, entscheidet sich im vorliegenden Kontext auf der Ebene der AdressatIn.
4.4.1
Strategische Ziele
In den Gnadengesuchen der Verurteilten finden sich erneut ›wenn-dann‹Konstruktionen. Damit sind Äußerungen in der Art wie ›Wenn ich in dieser Art und Weise gehandelt hätte, wäre dieses oder jenes passiert‹ gemeint. Die Verurteilten können dadurch idealerweise die Tatsachen-Äußerungs-Relation beeinflussen. Gleichzeitig stellen sie so der Begründung des Urteils eigene Kausalitäten und Ursachen für ihr Handeln entgegen. In dieser Form stellt der Verurteilte Ferdinand Polsterer die Darstellung der vernommenen Zeugen, auf deren Grundlage das Urteil gegen ihn gefällt wurde, in Frage: »Auch kann ich nicht der gefürchtete Mann, als den man mich hinstellt, gewesen sein, da sich der Gefangene ohne mich zu fragen aus der Gruppe entfernte.«70 Polsterer interpretiert das im Urteil des Volksgerichts Wien von ihm gezeichnete Bild als eine Kategorisierung seiner Täterschaft. Durch seine Gegendarstellung zieht der
69
70
In beiden Gnadengesuchen formulierte Endres in nahezu identischer Weise, sich im neuen demokratischen Staat nützlich machen zu wollen. Anton Endres war SS-Oberscharführer. Er durchlief seine Ausbildung im Jahre 1939 im Konzentrationslager Dachau und war dort mit Unterbrechungen sowohl im Krankenrevier der Häftlinge als auch in dem der SS-Truppe als Sanitäter tätig. Endres’ Todesurteil wurde im Mai 1946 im Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg am Lech vollstreckt. Anton Endres, Gnadengesuche vom 21.12.1945 und 10.2.1946, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozess, Film 1/4. Ferdinand P., Gnadengesuch vom 6.3.1953, Stadt und Landesarchiv Wien, LG Wien, Vg 1d Vr 6923/46, S. 51. P., geboren im Juli 1886, wurde beschuldigt, im Mauthausener Außenlager St. Valentin als Teil des Wachkommandos der dortigen Nibelungenwerke Häftlinge bewusstlos und tot geschlagen zu haben. Im Dezember 1947 wurde er deshalb zu 12 Jahren schwerem Kerker verurteilt.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
verurteilte Polsterer die Folgerungen des Gerichts, das die Tatsache des Urteils auf den Äußerungen der Zeugen begründet, in Zweifel. Jon McKenzie, angelehnt unter anderem an Schechners Überlegungen zur Performativität, erkennt darin vor allem den Schwellencharakter des Performativen – also die Möglichkeit der Veränderung eines Zustandes durch einen performativen Sprechakt.71 Findet sich ein solcher Versuch der Einflussnahme auf das Verhältnis von Tatsachen und Äußerungen, könnte man Polsterer auch konkret unterstellen, dass er so den Versuch unternommen hat, eine Illusion über seine Person bzw. seine Handlungsabsichten zu entwerfen. Die Aufhebung des moralischen Konflikts, der ein Hindernis für eine Mitgliedschaft in einer sich neu und vor allem demokratisch formierenden Gesellschaft darstellte, ist vor allem für die hier untersuchten Verfahren vor (bundes-)deutschen und österreichischen Gerichten relevant. Den Angeklagten des Dachauer Hauptprozesses war in der Mehrheit bewusst, dass es nur im Ausnahmefall gelingen würde, das Todesurteil zu umgehen. Das Mittel des performativen Erzählens in den Gnadengesuchen der Verurteilten ist, wie beim unzuverlässigen Erzählen in den vorprozessualen handschriftlichen Äußerungen der Angeklagten, als eine Positionierung innerhalb des gerichtlichen Machtdiskurses zu werten. »Positionierung bezeichnet zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind.«72 Im Gegensatz zum unzuverlässigen Erzählen ist aber das performative mit einer direkten Aufforderung an die AdressatIn verbunden. So stellt das Gnadengesuch in seiner Gesamtheit einen direktiven Sprechakt dar, der die AdressatInnen zum Handeln im Sinne des Verurteilten bringen soll. Weil es sich aber auch um einen Machtdiskurs handelt, muss die soziale Dimension von Performanz beachtet werden: »den Vollzug einer sozialen Handlung im Hinblick auf einen intendierten Sinn. Der Sinn, so unterstellt das Konzept in aller Regel, geht dem Vollzug voraus.
71
72
»[L]iminality can be theorized not only in terms of a time/space of antistructural play, but also in terms of a time/space of structural normalization. Further, the subjunctive mood of the ›as if‹, used by Schechner and others to theorize liminality, must be understood not in opposition to an indicative mood of ›it is‹, but as intimately related to an imperative mood which commands ›it must be.‹ Perform – or else: the liminal-norm is a command performance.« Jon McKenzie, Perform or Else. From Discipline to Performance, New York, London 2001, S. 168. A. Deppermann, G. Lucius-Hoene, Narrative Identität und Positionierung, S. 168.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
Im Vollzug entfaltet sich der Sinn [bzw. die] beabsichtigte Aussage im gesprochenen Satz.«73 Die Performanz ist somit eine Voraussetzung einer erzählerischen Wirklichkeitskonstruktion vor Gericht, da das Performative mittels Sprache Wirklichkeit konstruiert und so eine jeweilige Vorstellung davon vermittelt.74 Dieser Prozess, der Wirklichkeit erzeugt, ist ein grundlegendes Merkmal von Performativität, denn performatives Handeln erzeugt Sinn, der von allen Beteiligten wahrgenommen wird. Ist dies nicht der Fall, so ist das sprachliche Handeln kein performatives.75 In der Analyse ist das »Ensemble von Techniken und Praktiken […] der Inszenierung von Wirklichkeit« eruierbar. Diese Techniken und Praktiken des Erzählens, die durch das Handwerkszeug der Erzähltheorie analysiert werden, sind u.a. das Resultat des performativen Sprechens. Der oder die einzelne Angeklagte verfolgt eine Inszenierung der eigenen Person im Hinblick auf die Notwendigkeiten (u.a. Anklagepunkte, Zeugenaussagen) im juristischen Verfahren. Im Falle der Gnadengesuche findet sich dies ebenso, denn die Aussagenden möchten auf diese Weise Einfluss auf die Wirklichkeitskonstruktion des Gerichts nehmen, denn »[a]ls Wirklichkeit […] wird eine Situation erfahren, in der ein Akteur an einem besonders hergerichteten Ort zu einer bestimmten Zeit vor den Blicken anderer (Zuschauer) etwas tut.«76 Gelingt ein performatives Sprechen, so kann der Fortgang des Verfahrens durch die Beteiligten tatsächlich beeinflusst werden. Das liegt in der Tatsache begründet, dass »[s]tatt der Illusion von Wirklichkeit [,] die Aufführung sich selbst als eine Wirklichkeit« hervorbringt.77 Ein solches performatives Sprechen eines Verurteilten wäre gelungen, wenn dessen Gnadengesuch erfolgreich ist. Völlig klar ist dabei, dass es sich bei einem Gnadengesuch u.a. um ein Phänomen der Rechtfertigung handelt, das aber nicht allein ausschlaggebend für seinen Erfolg ist. Manipulation Die Gnadengesuche der Verurteilten unterliegen einer klaren Zielorientierung: Nach Möglichkeit soll die veränderte gegenwärtige Situation und – obwohl dies
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Lucian Hölscher, Die Gegenwart als Performanzraum von Zukunft und Geschichte. Perspektiven einer Neuen Annalistik im 20. Jahrhundert, in: Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann (Hg.), Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung, München 2013, S. 129-139, S. 129. Die englischsprachige Forschungsliteratur greift dies mit dem Terminus »active world-making use of language«. Jonathan Culler, Philosophy and Literature. The Fortunes of the Performative, in: Poetics Today (21/3) 2000, S. 503-519, zitiert nach: K.W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität, S. 32. E. Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, S. 25. Ebd. E. Fischer-Lichte, Einführung, S. 13.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
nicht Bestandteil einer Entscheidung über den Gnadenakt ist– die begangene Tat nicht als Straftat dargestellt werden. Sie wollen so eine Strafminderung oder gar einen Freispruch erzielen. Das Gnadengesuch ist somit Teil des »Strafverfahren[s] [als] persuasives Unternehmen«78 . Der Zweck, das Gegenüber durch manipulatives Sprechen zum Handeln im Sinne der eigenen Ziele zu motivieren, findet sich folglich in den Gesuchen der verurteilten Frauen und Männer. Allerdings kann diese Absicht nicht für alle Aussagenden in den hier untersuchten NSG-Verfahren absolut gesetzt werden. Es sind die Häufigkeit der benutzten Sprechakte und deren Zielrichtung, die über ein manipulatives Vorhaben Aufschluss geben. Das Vorhaben, möglichst überzeugend gegenüber der Zuhörerschaft aufzutreten, ist richtungsweisend für die Darlegung von Informationen und das argumentative Vorgehen.79 In der Folge bietet der Blick auf die angestrebte Transgression die Möglichkeit, die Verurteilten in ihrer Motivation voneinander zu unterscheiden. Ist es ihnen ein Anliegen, sich für ihre begangenen Taten verantwortlich zu zeigen? Wollen sie lediglich ein authentisches Bild der Lagersituation zeichnen, um ihr Handeln in entlastende Zusammenhänge betten zu können? In den vorprozessualen Aussagen des ehemaligen Funktionshäftlings Karl Sasko findet sich das Gegenteil. Sasko war im Dezember 1946 vor dem Volksgericht Wien angeklagt, da er als Funktionshäftling im Krankenrevier des Außenlagers Hinterbrühl kranke Mithäftlinge zum Zeitpunkt der Räumung des Lagers durch die Lager-SS mit Benzinspritzen in deren Herzen getötet haben soll. In kraftvollem Stil und mit zahlreichen Ich-Positionierungen pocht er auf seine Unschuld. Er bestärkt dies, indem er eine explizite Negation der gegen ihn erhobenen Vorwürfe formuliert: »Ich habe mit der Tötung dieser Menschen überhaupt nichts zu tun und ich bestreite auf das entschiedenste […].«80 Sasko bekennt sich dann aber schuldig, als der Untersuchungsrichter angibt: »[…] dargetan und dem Beschuldigten nahegelegt ein Geständnis abzulegen, welches bei der Bemessung der Strafe sicherlich entsprechend berücksichtigt werden würde, da anzunehmen ist, dass die Einspritzungen auf Befehl der SS vorgenommen wurden.«81 In der Folge berichtet er in einem knappen, berichtenden Stil, der völlig auf Informationsvermittlung ausgerichtet ist, über die Vorkommnisse der letzten Tage des Bestehens des Mauthausener Außenlagers Hinterbrühl.82 Ähnlich verhält es
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Kati Hannken-Illjes, Mit Geschichten argumentieren – Argumentation und Narration in Strafverfahren, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006), S. 211-223, S. 211. J. Makowski, Zum Wesen der Sprachmanipulation, S. 17. Karl Sasko, Vernehmung des Beschuldigten, 26.10.1946, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55. Karl Sasko, Fortsetzung der Vernehmung des Beschuldigten, 20.12.1946, WStLa, LG Wien, Vg 8e Vr 781/55. Das Außenlager Hinterbrühl wurde zur Verlegung der Flugzeugproduktion der HeinkelWerke zum Schutz vor alliierten Luftangriffen von Wien-Schwechat ab der zweiten Jahreshälfte 1944 in den dortigen Stollen verlegt. Saskos Tötungen von Mithäftlingen auf Befehl
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sich beim Erzählen des ehemaligen Funktionshäftlings Emil Mahl im ersten Dachauer Prozess. Sein Erzählen ist vor allem ein parteiisches und empathisches und soll dem Gericht die Lagersituation der Häftlinge vermitteln. Anders als ehemaligen Angehörigen der Lager-SS geht es Mahl weniger darum, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften, als vielmehr über die perfide Funktionsweise des Lagersystems zu informieren.83 Ausrede Fritz Breithaupt kategorisiert die Ausrede als nicht performativ, »sondern [als] ein[en] kontextgenerierende[n] Akt.«84 Der oder die Aussagende stellt die vergangenen Ereignisse in einen anderen Zusammenhang und behebt durch die Kontextverschiebung den belastenden Aspekt. Ein grundlegender Widerspruch im gleichen Ereignis, dargestellt von den gegnerischen Seiten, hat gerade für die hier gestellten Fragen an die Gnadengesuche keine Auswirkung, da »nicht unbedingt […] die Fakten und tatsächlichen Handlungen, die ausgeführt wurden, also de[r] objektive[…] Sachverhalt«85 im Mittelpunkt stehen. In aller Deutlichkeit zeigt sich hier noch einmal, dass Tatsachen im Laufe der NSG-Verfahren und ganz besonders im Falle der geschlossenen, also nicht durch andere Teilnehmer unterbrochenen Darstellungen, wie in den vorprozessualen Schreiben und den Gnadengesuchen, nur bedingt endgültig eruiert werden können.86 Doch beachtet man, dass es sich bei performativen Äußerungen »um Sprachsignale [handelt], die durch affektiv-konnotative Ausnutzung von Wortbedeutungen und Satzbedeutungen auf eine bestimmte Affektstruktur zielen«87 , gerät die These über den nicht-performativen Charakter der Ausrede durch Breithaupt ins Wanken. Allerdings ist es vor allem der Kontextbezug, den Breithaupt ja gerade stark macht für seine Behauptung. Die Referentialität der Sprachhandlung ist durch den Kontext des Gerichtsverfahrens gegeben. Gerade das Gnadengesuch ist in hohem
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des SS-Unterscharführers und Leiters des Lagerreviers Hoffmann sind im Zusammenhang mit der Evakuierung aller KZ-Außenlager im Großraum Wien mit dem Vormarsch der Roten Armee zu sehen. Die Website der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen bietet Informationen zu den verschiedenen Außenlagern dieses Lagerkomplexes, https://www.mauthausen-memorial.org/de/Wissen/Die-Aussenlager#map||51, abgerufen am 5.12.2019. Emil Erwin Mahl, geboren am 9. November 1889, war ab dem Jahr 1940 bis zur Befreiung durch die Amerikaner im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Nach eigener Aussage war er ab Juli 1944 als Kapo beim Lagerkrematorium tätig. BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozess, Film Nr. 1/2. Fritz Breithaupt, Ausrede und Rechtfertigung, in: Matías Martínez (Hg.), Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017, S. 220-223, S. 221. Ebd. S. Weigel, Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage, S. 124. J. Makowski, Zum Wesen der Sprachmanipulation, S. 17.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Maße referentiell, da es sich auf die durch das Urteil geschaffene Wirklichkeit bezieht, den familiären und sozialen Rahmen der Verurteilten, und ja dadurch den Grund für diese Äußerung erhält. Das illokutionäre Verb könnte also, selbst wenn es nicht explizit genannt wird, zum einen eingesetzt werden, zum anderen besitzt es eben auch einen Referenzpunkt.88 Das Gnadengesuch, vorausgesetzt, es erfolgt nicht in Form eines Schuldeingeständnisses, ist ein sprachlicher Akt der Ausrede. Die Ausrede als eine Form des Gegennarrativs stellt einen Gegenentwurf zur vorangegangenen Wirklichkeitsdarstellung, dem richterlichen Urteil, dar, das gleichzeitig auch den Beweggrund für diese sprachliche Äußerung darstellt. Betrachtet man nun das Merkmal der Persuasion, dass sie eine sprachliche Äußerung ist, mit der Affekte erzeugt werden, so wird deutlich, warum die Verurteilten sich der Möglichkeit der Narrativierung der Ereignisse und Lebensumstände bedienen. Mittels einer Erzählung können die Affektstrukturen der AdressatInnen wesentlich leichter, subtiler und auch erfolgreicher erreicht werden, aber auch die der Erzählenden besser vermittelt werden.89
4.4.2
Zeugnis ablegen
Die Angeklagten haben vor Gericht die Möglichkeit der Zeugnisverweigerung, da sie sich nicht selbst belasten müssen, weswegen sie auch – im Gegensatz zu allen anderen Teilnehmern des juristischen Verfahrens – nicht dem Wahrheitsgebot verpflichtet sind. Sagt der Angeklagte jedoch vor Gericht aus, kann dem Geäußerten zunächst ähnlich der Aussage des Zeugens begegnet werden, da er ebenfalls (ein subjektives) Zeugnis über die vergangenen Ereignisse ablegt. Im Moment der Aussage sind es somit die Geschichten und Sichtweisen der Angeklagten, die dem Gericht mitgeteilt werden, weshalb es »kein fiktives Zeugnis geben [kann], sondern nur ein simuliertes.«90 Diese subjektive Sichtweise schlägt sich im Falle eines Gnadengesuchs noch einmal verstärkt nieder, da korrigierende Dynamiken des Prozessgeschehens hier völlig fehlen. In beiden Fällen aber agiert der Aussagende als Vermittler oder auch als Bote. Die subjektive Prägung dieser Erzählung ist zunächst keine Besonderheit, ist doch jegliche Wissensvermittlung stark durch die Übermittlung geprägt.91 Regeln und Konventionen, die es vermögen, möglichst glaubwürdig bei den ZuhörerInnen zu wirken, sind uns aus dem alltäglichen Leben bekannt. Sybille Krämer spricht deshalb von einer »Grammatik der Zeugenschaft«:92 Dabei ist es zunächst wichtig, dass die ZeugIn selbst als ein verkörpertes 88 89 90 91 92
K.W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität, S. 22. James M. Wilce, Language and Emotion (Studies in the Social and Cultural Foundations of Language, Bd. 25), Cambridge 2009, S. 95f. S. Weigel, Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage, S. 116. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung, Frankfurt a.M. 2008, S. 226. Ebd., S. 229-232.
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Beweismittel mit der Autorität einer unmittelbaren Wahrnehmung des Vergangenen und als solches in Interaktion mit dem Publikum auftritt. Mit diesem »Hörakt« der Zuschauer ist die Frage nach dem Erfolg, also der Glaubwürdigkeit, verbunden. Diese »illokutionäre Kraft« – egal ob diese durchsetzungsfähig ist oder nicht – wird durch den Sprechakt bewirkt, der performativ ist, denn »Zeugenschaft beruht auf der Transformation einer Wahrnehmung in eine sprachliche Aussage: Gesehenes soll in Gesagtes, sinnlich Rezipiertes in sprachlichen Sinn verwandelt werden. Der Zeuge hat eine Art von Übersetzung bzw. Umschrift seiner privaten Erfahrung in eine öffentliche Stellungnahme zu leisten.«93 Der Akt des Zeugnisablegens ist demnach ein performativer (Sprech-)Akt, der aber gerade deswegen in einem hohen Maße von Veränderungen des Erfahrenen geprägt ist. An dieser Stelle ist es dann aber wichtig, die Unterschiede zwischen dem Zeugnis eines Gerichts-Zeugen, eines vor Gericht Angeklagten und einem vom Gericht Verurteilten zu beachten. Krämer stellt fest, dass die ZeugIn durch die institutionelle Zuweisung dieser Rolle Glaubwürdigkeit und Autorität erhält. Anders verhält sich dies im Falle des Angeklagten und Verurteilten, dessen Aussage zwar einen anderen Blickwinkel auf die Geschehnisse werfen kann, dessen Rolle jedoch qua Institution problematisiert wird bzw. problematisch ist.94
4.5
Aushöhlung des Machtdiskurses vor Gericht durch performative Sprechakte
Das Gelingen von Performativität setzt wiederholende bzw. ritualisierte Elemente wie das Zitieren früherer Sprechakte und bereits bestehende Strukturen voraus.95 Die sich wiederholenden Elemente enthalten ein wichtiges Erkenntnispotential, da sich in ihnen kulturelle Muster und Gewohnheiten offenlegen. Somit sind die Zitation bzw. Wiederholung etablierter bzw. autoritativer oder auch machtbezogener Gegebenheiten in den Aussagen der Angeklagten bzw. Verurteilten in ihren Gnadengesuchen Normen und Werte, die durch die nationalsozialistische Weltanschauung geprägt sind. Aber auch die Frage nach einer Zitation der Werte des neuen demokratischen Systems ist wichtig. Im Gnadengesuch in einem Verfahren aus dem Bereich der Übergangsjustiz geht es auch darum, sich als Teil der neuen Wertegemeinschaft zu zeigen, um möglichst erfolgreich mit dem eigenen Ansinnen
93 94 95
Ebd., S. 233. Ebd. »[P]erformative succeeds only because it is ritualized practice, echoing prior speech actions and therefore ›citing‹ prior authoritative practices«. J. Tulloch, Performing Culture, S. 3.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
zu sein. Der Einwand, es sei unsicher, ob vor Gericht tatsächlich ein ritualisierter Sprechakt und somit ein performatives Erzählen überhaupt zu finden sei, ist durch das bereits angesprochene Machtgefälle im juristischen Verfahren egegeben.96 Damit verbunden sind die Überlegungen zu Gegennarrativen. Sie sind entscheidend für die Verortung eines Erzählgegenstandes. Ende der 80er Jahre sind es die feministische Theorie und die critical race theory, die diese Thematik aufgreifen. Der Eindruck eines rituellen Handelns vor Gericht, das zu einer performativen Rechtserzeugung führt, ist problemlos anhand der Quellen zu verorten. Dies liegt daran, »[w]eil erzeugen in der Sprache performativ funktioniert, Rechtserzeugung ihrerseits in der Sprache geschieht und diese Gegebenheit konstitutiv für die Rechtserzeugung ist, [so] muss angenommen werden, dass Rechtserzeugung performativ funktioniert.«97
4.5.1
Ritual und Performativität
Da das Ritual seine Performativität vor allem durch die sich wiederholende Handlung erlangt, ist die Frage nach Redundanz in den Aussagen der Angeklagten signifikant für ihr Vorhaben, die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit als entscheidende Größe zu etablieren. Jedoch handelt es sich nicht um eine identische Wiederholung, sondern der Begriff der »Vorgängigkeit«98 ist letztlich treffender. Die Vorgängigkeit meint keine exakte oder identische Wiederholung, sondern vielmehr eine Anlehnung und einen Rückbezug auf bereits etablierte Gegebenheiten. Dieser Aspekt lässt sich, wie es sich in der genaueren Analyse des folgenden Unterkapitels zeigt, vor allem am Beispiel der vier Gnadengesuche von Michael S. darlegen. Einerseits demonstrieren die vorgängigen Aspekte die gewünschte Lesart der Gegebenheiten. Andererseits offenbart sich die Intention der Verfasser aber ebenso in den Unterschieden. Dies ist entscheidend, da erst so ein Gelingen des illokutionären Sprechaktes möglich ist.99 Es entscheiden aber nicht nur die physischen 96
97
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»Es gibt kein reziprokes Verhältnis von Sprecher und Hörer, vielmehr muss ein Macht- und Autoritätsgefälle vorhanden sein […]. Ob eine Rede in diesem ursprünglichen Sinne performativ ist oder nicht […] hängt ab von den Machtverhältnissen in einer Gesellschaft, von ihren sozialen Institutionen und Gepflogenheiten.« Sybille Krämer, Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität, in: E. Fischer-Lichte, Doris Kolesch (Hg.), Kulturen des Performativen, S. 35-57, S. 41. S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, S. 178. Zum Zusammenhang zwischen Ritual und Performativität ist vor allem Victor Turner, The Ritual Process. Structure and AntiStructure, London 1969 wichtig. S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, S. 143. »Daß die Kraft performativer Handlungen durch Bezugnahme auf Konventionen erklärbar wird, heißt für Judith Butler also, daß diese performativen Handlungen durch ihre Zitatförmigkeit und ihre Ritualität charakterisierbar sind. Ein Vollzug wird genau dadurch zu einem Ritual, daß er eine ihm in der Zeit vorausliegende Handlungsfigur wiederholt, also ›zitiert‹.
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und rituellen Handlungen über die Performativität bei juristischen Verfahren, sondern ebenso die sprachlichen (nicht-ritualisierten) Handlungen. So wird auch die eigene Inszenierung der angeklagten Frauen und Männer auf performative Weise erzeugt.
4.5.2
Judith Butlers Begriff von Performativität
Bezüglich des Performativitätsaspektes im Kontext sprachlicher Handlung ist das vorliegende Projekt vor allem an Judith Butlers theoretisches Denken von Performativität und Gender anschlussfähig.100 Butler hat ihren Performativitätsbegriff entlang des Diskurses um die Genderproblematik entworfen. Sie sieht im Vollzug eines Sprechaktes eine performative Handlung. In ihren Überlegungen findet sich auch eine Verknüpfung zwischen Ritual und Performativität, da sie sich wiederholende (rituelle) Handlungen als typisch für Machtdiskurse kennzeichnet.101 Der oder die Angeklagte bzw. Verurteilte ist demnach ein performativ handelndes Subjekt innerhalb eines Machtdiskurses. Butler verhandelt in ihren Darlegungen zur Performativität Fragen jenseits der bloßen linguistischen Phänomene, denn in diesen sprachlichen Handlungen zeigen sich Einflüsse, die sich durch eine entsprechende Analyse erst finden lassen. Es handelt sich dabei vor allem um kulturelle und weltanschauliche Prägungen, die Niederschlag finden in den sprachlichen Darstellungen. Dieser Sachverhalt kann problemlos auf das juristische Geschehen übertragen werden. Indem das Gerichtsverfahren Anlass zum Erzählen gibt, können die erwähnten Prägungen der Aussagenden herausgearbeitet werden – vor allem die Untersuchung des impliziten Sprechaktes eignet sich hierzu. Denn im Falle des expliziten Sprechaktes handelt
Und auf diese Verbindung von Konventionalität mit Ritualität kommt es an.« Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2001, S. 251. J. Tulloch, Performing Culture, S. 3. 100 Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York, London 1999. 101 Judith Butler, Bodies That Matter, New York, London 1993, S. 12f. Anna-Lisa Müller, Sprache, Subjekt und Macht bei Judith Butler, Marburg 2009, S. 130. Den Aspekt der Wiederholung bzw. Zitation im Rahmen der Performativitätstheorie führte Jacques Derrida ein. Aber auch wenn auf Derrida die Idee der Wiederholung zurückgeht, so hat er doch streng genommen keine explizite Performativitätstheorie entworfen. Dennoch waren und sind seine Überlegungen unerlässlich für die poststrukturalistische Fortentwicklung der Performativität. J. Tulloch, Performing Culture, S. 2-11, S. 3. K.W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität, S. 27. Passend zur Verknüpfung von Wiederholung und Ritual bezieht sich Butler in diesem Punkt nicht auf Austins sprachphilosophische Überlegungen, sondern auf die Überlegungen von Victor Turner über das Ritual als performative Größe. K.W. Hempfer, Performance, Performanz, Performativität, S. 35.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
es sich um eine bewusste sprachliche Handlung, die für beide Seiten, AdressatIn und KommunikatorIn, greifbar ist. Bei dem impliziten Sprechakt kann zwar durchaus eine bewusste Sprachhandlung vorliegen, doch soll die implizite Form die Sprecherintention verschleiern. Aber gerade, weil es sich eben um ein institutionalisiertes Erzählen handelt, kann nicht die Identität der Erzählenden erarbeitet werden. Denn auch die Gnadengesuche sind den Normen und Zwecken eines juristischen Verfahrens unterworfen. Im Gegensatz zu narrativen Interviews formulieren die Verurteilten ihre Gnadengesuche auf ein klares Ziel hin. Die Analyse hinsichtlich eines performativen Erzählens legt dann ihre Strategie offen. Die Unmöglichkeit der Kategorisierung von performativen Äußerungen (im juristischen Verfahren) in ›wahr‹ und ›falsch‹, dafür aber in eine des Gelingens und Nicht-Gelingens, zeigt darüber hinaus, warum diese Blickrichtung für die vorliegende Analyse unumgänglich ist.102 Die Begrifflichkeit des Performativen, also die Frage danach, wie der Sprechakt durchgeführt wird, kann ex negativo nur unzureichend geklärt werden. Wichtig ist deshalb, den sprachlichen Handlungsvollzug selbst möglichst genau zu beschreiben. Dabei sind besonders die Kontextualisierungen in der Erzählung der Verurteilten und ihre Abgrenzung von diesen Kontexten interessant, da die Schreibenden die Erwartungen der entscheidenden Stellen aufgreifen. Die Verurteilten rekurrieren damit auf ein Wissen oder zumindest auf Vorstellungen über den Sachverhalt des Verfahrens bei den AdressatInnen ihrer Gesuche. Die um Gnade bittenden Personen müssen sich aber, um für unschuldig gehalten zu werden, von diesen Erwartungen ›frei-erzählen‹ bzw. Gegenteiliges offerieren. Das dargestellte Ereignis wird also durch den performativen Vorgang umcodiert. Das verurteilte Subjekt versucht durch die performative Erzeugung eines ›unschuldigen‹ Bildes von sich selbst, unter Beweis zu stellen, dass es unberechtigt Teil des Machtdiskurses vor Gericht geworden ist. Des Weiteren sind es nicht nur bewusst gesteuerte Bilder über die Vergangenheit und die Gegenwart, die sich im Laufe des Erzählens vor Gericht finden. Vielmehr konstituieren alle Prozessbeteiligten und somit auch die Verurteilten Bilder, Erzählungen und andere Symbole auf unbewusste Weise, die vor allem dazu dienen, kausale Zusammenhänge greifbar zu machen.103 So findet hier eine Performativität auf zwei Ebenen statt: einerseits auf einer bewussten und steuernden Ebene, die vom Handelnden aktiv bedient wird, und andererseits auf einer unbewussten Ebene, die wiederum stark durch bestimmte soziale und kulturelle Einflüsse geprägt ist.
102 S. Müller-Mall, Rechtserzeugung, S. 61. 103 Daniel A. Farber und Suzanna Sherry sprechen von einem »conscious process of reasoning«. D.A. Farber, S. Sherry, Legal Storytelling and Constitutional Law, S. 49.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
4.5.3
Performativität als Mittel der Durchsetzung eines Gnadengesuchs
Trotz der vorherigen Einschränkung gibt die Frage nach der Performativität bzw. Nicht-Performativität eines Sprechaktes hier den Ausschlag. Denn nur im Falle eines performativen Sprechaktes wird solch eine Sprachhandlung mit der Absicht einer Wirkung bei den AdressatInnen vollzogen. Deshalb ist der Zweck einer performativen Äußerung entscheidend, um das performativ intendierte Erzählen interpretieren zu können. Die moralische Lücke zwischen den weltanschaulichen Vorstellungen des Nationalsozialismus und denen der Alliierten und der späteren Bundesrepublik lässt sich also u.a. durch die einerseits vergangenen reproduzierten Machtpositionen eruieren und andererseits durch den aktiven Versuch des Sichein-Erzählens in das Wertesystem der neuen Ordnung. Dieses Sich-ein-Erzählen des Sprechers muss sich Performativität zum Ziel setzen, um die erzielte Transformation erreichen zu können. Das Gnadengesuch vollzieht deshalb als Rahmen eine perlokutive Sprachhandlung. Aber im Gesamten sind diese Schreiben derartig komplex, dass sie als sprachliche »Mehrfachhandlungen«104 zu charakterisieren sind. Das Phänomen der Transgression findet sich in den Gnadengesuchen also in zwei Richtungen: Einerseits verfolgen die Angeklagten eine Grenzüberschreitung, indem sie sich erzählerisch im ›neuen System‹ verorten wollen, und andererseits übertreten sie eine Grenze durch die Repräsentation von Wertvorstellungen, die gegenläufig zur neuen Ordnung sind. Durch die Performativität, die sowohl als Grundeigenschaft des juristischen Prozesses auftritt, aber ebenso charakteristisch für die Aussagen ist, geben die Aussagenden über Wert- und Normvorstellungen preis: »[T]he materialization of norms requires those identificatory processes by which norms are assumed or appropriated and these identifications precede and enable the formation of a subject, but are not, strictly speaking, performed by a subject«.105 Es sind die Regeln, vorgegeben durch die Strafprozessordnungen und kulturellen bzw. moralischen Vorstellungen der Zeit der Prozesse, die sich performativ niederschlagen. Aber gerade die Normen der Zeit vor 1945 finden sich im Erzählten wieder. Die Verunsicherung oder Konflikte und die moralische Lücke zwischen der NS-Diktatur und den nun demokratischen Staatsordnungen führten bei den Verurteilten zu unterschiedlicher Wahrnehmung des Vergangenen. Dies zeigte sich noch einmal besonders im hier untersuchten Phänomen des unzuverlässigen Erzählens. Letztlich geht es also bei der Untersuchung der Frage nach dem performativen Erzählen darum, den reflexiven Moment – dieser muss den Erzählenden
104 Wolfram Bublitz, Christian R. Hoffmann, Englische Pragmatik. Eine Einführung (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik), Berlin 20193 , S. 90. 105 J. Butler, Bodies That Matter, S. 15.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
nicht unbedingt bewusst sein – herauszuarbeiten. Es ist also das Meta-Narrativ, das durch diese Herangehensweise zutage tritt. Butlers Überlegung zur Performativität hat nicht nur die Verknüpfung von Macht und Sprache zum Thema, sondern stellt auch die Frage nach der Rolle des Körpers. So wirft sie die Frage auf, wie und ob Performativität lediglich als Textphänomen zu greifen ist. Eine Korrelation zwischen Text und Körperlichkeit findet sich auf der Ebene des Lesens, aber das Zusammenspiel vom Wie und den Kontexten sowie die Wirkung auf die RezipientInnen sind nur schwer dokumentierbar.106 In Bezug auf narratologische Überlegungen findet sich Performativität auf zwei Ebenen: erstens auf der Ebene einer verkörperten Präsentation, einer Erzählung, und zweitens auf der Ebene einer Präsentation, die sich nur im Bereich der Erzählung befindet.107 Diese Formen der Performativität, und damit die Möglichkeit der Analyse beider Ebenen, finden sich im Falle eines Gerichtsprozesses. Allerdings muss hierzu eine Dokumentation der Körperlichkeit (Video- und Tonaufnahmen) stattgefunden haben. Der vorliegende Quellenkorpus bietet diese Möglichkeit nicht. Die rein textuellen Quellen, nur selten sind in den Akten Fotografien oder Skizzen enthalten, beziehen sich auf die Rekonstruktion des vergangenen Tathergangs und dienen als Beweismittel. Trotz der reinen Textform ist eine Analyse mit der Frage nach Performativität möglich. Besonders häufig treten performative Sprachakte im Falle des Gnadengesuchs auf. Diese Form von Stellungnahme der Verurteilten, die eine Reaktion auf das richterliche Urteil und das darin festgelegte Strafmaß darstellt, ist zunächst, in Gänze betrachtet, ein direktiver Sprechakt, da es die AdressatInnen entsprechend der darin formulierten Bitte zu einer Handlung veranlassen soll. Die Darlegung der Tatsachen entsprechend ihrer Äußerungen kann also gemäß ihrer Darstellung besonders wirksam entfaltet werden, da sie im Gnadengesuch nicht durch andere Prozessbeteiligte – wie im Falle der Aussage während des Prozesses – unterbrochen werden. Generell stellt die Untersuchung von Gnadengesuchen in Bezug auf die performativen Merkmale die Beurteilungskategorie von Miss- bzw. Gelingen in Frage oder rückt vielmehr die moralische Überbrückung zwischen zwei Wertesystemen, die hier das entscheidende Kriterium darstellt, ins Zentrum. Mit der Frage nach dem Erfolg einer performativen Äußerung ist auch verbunden, ob ein »transformatorische[s] Potential« überhaupt entfaltet werden kann.108 Die Analyse legt ihren Schwerpunkt jedochauf die Erarbeitung des Zwecks der sprachlichen Handlung (illocutionary points) und dem psychologischen Zustand (psychological state) der SprecherInnen. Die Frage nach dem Gelingen würde für die
106 Vor dieses Problem sieht sich immer wieder die Theaterwissenschaft gestellt – wie lässt sich der einmalige Moment der Aufführung fixieren? 107 U. Berns, Performativity, S. 370. 108 E. Fischer-Lichte, Einführung, S. 113.
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Untersuchung also keine relevanten Antworten liefern können.Die These, nur ein gelungener Sprechakt kann letztlich performativ sein, mag zwar richtig sein. Doch egal, ob gelungen oder nicht, entscheidend ist hier, ob der Verurteilte einen performativen Sprechakt erzielen wollte.109 Die Frage nach dem Gelingen des Gnadengesuchs würde die Analyse auf den Rahmen der perlokutiven Sprachhandlung reduzieren, eine Handlung, deren Ziel es ist, bestimmte Resultate bei den AdressatInnen zu erlangen. Diese sprachliche Rahmenhandlung täuscht aber auf den ersten Blick über den dominierenden performativen Charakter der Gnadengesuche hinweg. Ausschlaggebend sind hier referentielle Äußerungen, also eine Sprachhandlung mit der Möglichkeit eines Rückbezugs auf die Wirklichkeit. Diese Sprachhandlungen erfüllen den Zweck, Einfluss auf eben diese Realität zu nehmen, und haben eindeutig einen performativen Charakter, denn nur auf diese Weise kann die von den Erzählenden angestrebte Transgression (sprachlich) erreicht werden. Für die hier vorliegende Untersuchung offerieren die assertiven Sprechakte die Möglichkeit, das Denken und die Sichtweisen der Sprachhandelnden zu eruieren.110
4.6
Performativität von Gnadengesuchen in NSG-Verfahren
Das Gnadengesuch als Reaktion auf das richterliche Urteil ist performativ. In den hier untersuchten Fällen nehmen die AdressantInnen jedoch stets zu Beginn einen expliziten direktiven Sprechakt unter der Verwendung eines illokutionären Verbes vor. Dies liegt an den stark formalisierten und institutionalisierten Gegebenheiten im juristischen Verfahren. ›Ich bitte hiermit höflichst das Gericht‹ wäre ein solcher typischer Beginn eines Gnadengesuchs. Das Besondere eines Gnadengesuchs findet sich in der möglichen Kombination von verschiedenen Sprechakten innerhalb des großen übergeordneten Sprechaktes. Hier liegt die besondere Erkenntnismöglichkeit, da das vermehrt sprachliche Handeln zeigt, wo die Verurteilten eine Notwendigkeit von sprachlicher Aktivität in Form von z.B. Rechtfertigungen und Klarstellungen sehen. Würde man Performativität als einen messbaren Wert annehmen, so weist diese Äußerung des Verurteilten im Gesuch um Strafminderung oder Straferlass ein besonders hohes Maß an Performativität auf. Denn performatives Erzählen schafft die Möglichkeit, Einfluss auf die Tatsachen-ÄußerungsRelation zu nehmen, da Sprache Wirklichkeit schafft. Die Sprechakte verfolgen
109 Judith Butler führt deshalb die Performativität auf die Sprachstruktur an sich zurück und lehnt das Miss- bzw. Gelingen für eine Diagnose des Performativen ebenfalls ab. Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, London, New York 1997, S. 102. S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 244. 110 G. Hindelang, Einführung in die Sprechakttheorie, S. 49.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
somit das Ziel, mittels der Äußerung die gegebenen Tatsachen zu verändern und weniger die Äußerung den Tatsachen anzupassen. Häufige performative Sprechakte im Gnadengesuch Die Verurteilten formulieren in ihrem Gesuch noch einmal ihre Sichtweise auf die Gegebenheiten und Umstände, die zu ihrer Anklage und Verurteilung geführt haben (assertive Sprechakte). Diese Sichtweise wird als ein Sachverhalt wiedergegeben, der den Anspruch erhebt, auch die Tatsachen wiederzugeben, wie sie eben der Fall sind (deklarative Sprechakte). Indem die Angeklagten äußern, welche Handlungen und Lebensweisen sie in der Zukunft verfolgen wollen (kommissive Sprechakte), versuchen sie, mittels ihrer Äußerung der AdressatIn ihres Gesuchs zu einer Handlung, also einer Strafminderung oder einem Freispruch, zu bewegen (direktive Sprechakte). Der Sprechakt der Expressiva ist zwar kein performativer, findet sich aber aus wichtigen Gründen immer wieder in dem umfassenden Äußerungsakt des Gnadengesuchs. Die Expressiva dienen dem Ausdruck von Emotionen, personalisieren so das Geäußerte und können hierdurch mit den anderen verwendeten Sprechakten zur Durchsetzung der formulierten Vorhaben und Ansinnen führen. Die drei untersuchten Gnadengesuche von SS-Angehörigen bzw. Angehörigen des weiblichen SS-Gefolges stammen von einem ehemaligen SSUnterscharführer des KZ-Außenlagers Ebensee, einem SS-Hauptsturmführer, der zuletzt Kommandant im Dachauer Außenlager Mühldorf war, und einer Aufseherin aus dem KZ-Außenlager Neustadt-Gleve, das Teil des Lagerkomplexes Ravensbrück war. Außerhalb dieser Trias findet sich auch eine Analyse der Aussagen eines ehemaligen weiblichen Funktionshäftlings aus dem Konzentrationslager Neuengamme, die nach ihrer fünfjährigen Haftzeit in Ravensbrück in das Außenlager Helmstedt-Beendorf gebracht wurde.
4.7
Gnadengesuche eines Verurteilten des Wiener Volksgerichts – Michael S.
Gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Michael S. erhob die Staatsanwaltschaft Wien am 8. April 1948 Anklage wegen »Quälerei und Misshandlung« (§ 3 KVG) im ehemaligen Außenlager Ebensee des KZ Mauthausen. S. war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt und hatte die Grund- und Hauptschule sowie eine Landwirtschaftsschule besucht. Er war von Februar 1944 bis Januar 1945 als Postenführer der Wachkommandos des Außenlagers Ebensee eingeteilt.
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4.7.1
Außenlager Ebensee
Das Außenlager Ebensee sollte für die Errichtung von Stollenanlagen zur Fertigung der V2-Rakete errichtet werden, wurde aber nach der Fertigstellung nur für kurze Zeit als Raffinerie genutzt. Andere Stollen betrieb die Steyr-Daimler-PuchAG. Das Lager bestand von November 1943 bis zur Befreiung der Häftlinge durch das amerikanische Militär im Mai 1945. Kurz vor der Befreiung waren in diesem Lager fast 16.500 Häftlinge inhaftiert. Diese wurden zunächst nach beruflichen bzw. fachlichen Qualifikationen für die Zwangsarbeit ausgesucht, dann aber diente Ebensee, wie zahlreiche andere Mauthausener Außenlager, primär zur Entlastung des Hauptlagers. Die Statistiken zur Todesrate fallen nur auf den ersten Blick verhältnismäßig niedrig aus, da die meisten nicht mehr arbeitsfähigen Inhaftierten nach Mauthausen geschickt wurden und dort infolge ihrer Krankheiten und der erlittenen Strapazen verstarben. Die wachsende Zahl der Toten in den letzten Kriegsjahren im Hauptlager Mauthausen gibt folglich auch Auskunft über die rapide steigende Zahl von Toten in den Außenlagern und Außenkommandos. Eine »Evakuierung« des Lagers kurz vor der Befreiung durch die Amerikaner war nicht vorgesehen. Die Häftlinge sollten zusammen in den Stollen in die Luft gesprengt werden. Sowohl dieses Gerücht als auch das der nahenden alliierten Truppen führte zum erfolgreichen Widerstand der Häftlinge. Neben den österreichischen Volksgerichtsprozessen befasste sich u.a. das amerikanische Militärgericht in Dachau zweimal mit den Verbrechen im Außenlager Ebensee. Vor einem französischen Militärgericht musste sich der ehemalige Rapportführer Hans Bühner verantworten.111
4.7.2
S.’s Biografie und seine Aussagen im Laufe seines Volksgerichtsprozesses
Bereits im Laufe der Vernehmung Michael S.’s als Beschuldigter im April 1947, also noch vor der Hauptverhandlung, relativiert er zunehmend seine Handlungen. Zu Beginn gibt er noch zu, Häftlinge geschlagen zu haben, rechtfertigt dies aber als eine Reaktion auf ›sexuelle Unzucht‹ und Arbeitsverweigerung.112 Dass ein völliges Unverständnis einerseits für die Vorwürfe gegen ihn und andererseits keinerlei Bewusstsein für das Verbrecherische seiner Taten vorhanden ist, demonstriert
111 112
Florian Freund, Ebensee, in: W. Benz, B. Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 4, S. 354-360. Der genaue Wortlaut seiner Äußerung ist: »Was meine Angaben vor der Gendarmerie bezüglich Schläge betrifft, so möchte ich hierzu angeben, dass es sich auch hierbei nicht um politische Häftlinge, sondern um Homosexuelle handelte, bei denen man Arbeitsverweigerung nicht einreißen lassen konnte.« Fortgesetzte Vernehmung des Beschuldigten Michael S. durch das Bezirksgericht Hollabrunn, 11.10.1947, WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
er mit der vorwurfsvollen und sarkastischen Metapher »Nebeltaten« für die Misshandlung von Häftlingen. In der Hauptverhandlung kategorisiert er sein Verhalten dann nur noch als gelegentliches Vergehen ohne Regelmäßigkeit: »[I]ch habe nur hier und da Ohrfeigen ausgeteilt«113 . Die protokollierten Aussagen von Michael S. zeigen keinerlei Einsicht, Reue oder Einfühlungsvermögen gegenüber den Häftlingen. Vielmehr sind seine Rechtfertigungen von Relativierungen, Pauschalisierungen und Unverständnis gegenüber der Anklage geprägt. S.’s Wahrnehmung und Urteilskraft kann durchaus als umfassend durch die nationalsozialistische Weltanschauung geprägt bezeichnet werden. Auch die biografischen Daten vermitteln ein ähnliches Bild: Geboren Anfang der 20er Jahre, war für ihn mit dem Anschluss Österreichs im Jahr 1938 die Begegnung und der Umgang mit dem Nationalsozialismus noch vor seiner Volljährigkeit alltäglich. Diese ideologische Gewöhnung zeigt sich auch in der völligen Übernahme der Häftlingskategorien und die damit verbundenen Stereotype, die er in seinen Aussagen wiedergibt, wie ›arbeitsunwillige Homosexuelle‹. Noch am Tag der Hauptverhandlung, Anfang Juli 1948, wurde S. zu 15 Jahren schwerem Kerker verurteilt. Seine in der Hauptverhandlung vermittelten Ansichten und die Rechtfertigungen über sein Verhalten ändern sich dann scheinbar in seinen Gnadengesuchen. S. verfasst solche Schreiben, adressiert an unterschiedliche Personen. Ein erstes richtet er handschriftlich Anfang September 1951 an das Wiener Volksgericht. Er bittet darin um den Erlass seiner Reststrafe. Er wiederholt dies drei Monate später in einem Schreiben an den damaligen Justizminister und richtet im darauffolgenden Jahr ein Gnadengesuch an den früheren österreichischen Bundeskanzler Leopold Figl. Im Jahr 1953 bat er mit einem letzten Gesuch beim Obersten Gerichtshof in Wien um Strafminderung.
4.7.3
S.’s Gnadengesuch an das Wiener Volksgericht
Der erste Absatz von S.’s Gnadengesuch vom September 1951 beginnt mit einem formelhaften Satz: »Erlaube mir hiermit, folgendes Gesuch um Begnadigung meiner Reststrafe einzubringen.«114 Die rahmende Sprachhandlung der Perlokution eines Gnadengesuchs – also ein Sprech- bzw. Schreibakt, der die AdressatInnen zu einer zukünftigen Handlung bewegen soll – wird hier gleich zu Beginn klar: »Ich bitte das Gericht höflichst um gütige Erledigung […].«115 Diese ersten Formulierungen sind vor allem dem institutionalisierten und normierenden Rahmen des Gerichts geschuldet. Bevor der Verurteilte jedoch eine Erklärung für die von ihm begangenen Verbrechen vorbringt, rückt er die vergangenen Ereignisse in den Hintergrund
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Hauptverhandlung gegen den Angeklagten Michael S. vor dem Landgericht Wien, 3.7.1948, WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47. Gnadengesuch von Michael S. an das VG Wien, 6.9.1951, WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47. Ebd.
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und etabliert die Gegenwart als vorrangiges Beurteilungskriterium, entsprechend den Voraussetzungen für einen Gnadenakt durch die Exekutive. So gibt er an, dass vom Erlass seiner Reststrafe »die Sicherung [seiner] Existenz […] abhängt.«116 In der Mitte des Gnadengesuchs führt er dies genauer aus, als er von der Krankheit des 69-jährigen Vaters und der 71-jähirgen Mutter berichtet. Auch die eigene Erkrankung an Epilepsie führt er ausführlich im Mittelteil seines Gnadengesuchs an. Er schildert detailliert die nachträglich veränderten Verhältnisse, die nicht nur sein Ansinnen rechtfertigen, sondern den AdressatInnen auch den Grund für einen Gnadenakt liefern soll. Diese Darlegungen, die letztlich zwei Drittel seines Gesuchs ausmachen, können als ein Sprechakt der Kategorie ›Expressiva‹ gewertet werden. S. emotionalisiert seine aktuelle Situation stark. Er führt die Gründe hierfür genau aus und lässt keinen Raum für weitere Fragen oder Spekulationen. Zum einen liegt dies an der Tatsache, dass es sich um ein Schreiben an das Gericht handelt, andererseits kann der Verurteilte so möglichst genau die Einschätzung seiner Person und Situation leiten. Darüber hinaus, wie dies bereits das Kapitel zur Selbsterzählung in den protokollierten Aussagen der Hauptverhandlungen zeigte, können die Schreibenden durch emotionales Erzählen größeren Einfluss auf die AdressatInnen nehmen. In der Folge dramatisiert er seine persönliche und familiäre Situation und kategorisiert sein Gnadengesuch als »de[n] letzte[n] Ausweg, den ich weiß«, da die »Sicherung [s]einer Existenz davon abhängt«117 , ob er begnadigt wird oder nicht.
4.7.4
S.’s Darstellung seiner Vorgeschichte
Bevor S. allerdings seine gegenwärtige Situation weiter zu einer Leidensgeschichte formt und sich so selbst als Opfer darstellt, geht er auf die Gründe seiner Verurteilung ein. Dies erfolgt gleich anschließend an die formelhafte Vorrede, im ersten Drittel seines Schreibens. Die Darlegung des Sachverhaltes bzw. der Kausalität zeichnet die Sicht des Verurteilten: »Ich weiß heute, welche Schuld ich mit meinen Handlungen auf mich geladen habe, bitte aber zu bedenken, daß dieselben das Produkt der damaligen Erziehung in Verbindung mit der Zeitentwicklung, unterstützt durch die Kriegsverhältnisse und das junge Alter waren, daher die fehlende richtige Übersicht der Lage.«118 Die Deklaration »ich weiß heute« markiert den Beginn des Sprechaktes von S.’s erstem Gnadengesuch. Er proklamiert seinen Wissenstand, versieht diesen mit einer zeitlichen Markierung – ›heute‹ – und fordert so die AdressatInnen auf, die
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Ebd. Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
damaligen Taten nicht mit dem heutigen Wissen zu beurteilen. Weil er selbst sein Handeln als falsch bewertet, spricht er dem Urteil eine Rechtmäßigkeit zu, relativiert aber die Richtigkeit, wenn er sein Handeln als zeittypisch und als Jugendsünde banalisiert. Der Verurteilte versucht hier eine Umkehrung bzw. Änderung der sogenannten Tatsachen-Äußerungs-Relation (direction of fit), die sich hier im Gegensatz zum juristischen Verfahren geändert hat. Noch als Angeklagter im Verfahren passt S. die Tatsachen den Äußerungen an– weil Häftlinge nicht arbeiten wollten, bekamen sie von ihm Ohrfeigen. Das Gericht vertritt jedoch die umgekehrte Sichtweise, dass die Inhaftierung und der Zwang zur Arbeit unrecht und in der Folge auch die Ohrfeigen strafbares Handeln waren. Daher nimmt er die Tatsache seiner Handlungen und vor allem die Tatsache der Verurteilung zum Anlass, nun ein Schuldeingeständnis zu formulieren.119 Allerdings schränkt er eben dieses Eingeständnis von Schuld ein, indem er nicht sich, sondern die damalige Situation verantwortlich macht. Diese entpersonalisierte Verantwortlichkeit – nach dem Motto ›nicht ich, sondern die Umstände waren schuld‹ – ist eine typische und weit verbreitete Exkulpationsstrategie der Angeklagten und Verurteilten in NSGVerfahren. Die Sozialpsychologie spricht in diesem Fall von einem sogenannten Referenzrahmen und meint damit den Einfluss von Krieg, nationalsozialistischer Weltanschauung und der Bedingungen des Konzentrationslagers auf das Handeln und Denken der Menschen.120
4.7.5
Relativierendes Schuldeingeständnis
S. formuliert dieses erste Schuld(ein)geständnis, »Ich weiß heute, welche Schuld ich mit meinen Handlungen auf mich geladen habe«121 , in einem starken Stil mit deutlicher Ich-Positionierung. Seine Bezeichnung »Handlungen« für die von ihm begangenen Verbrechen trägt aber deutliche euphemistische Züge und er führt auch nicht weiter aus, was für Straftaten er begangen hat. Dieses persönliche Eingeständnis seiner Schuld ändert sich aber schon bald im weiteren Verlauf seines Schreibens. Er verändert dies u.a., indem er die kausalen Zusammenhänge für seine Verbrechen anders darstellt. Seine Verbrechen begründet er in auktorialisierter Form und formuliert ent-personalisiert, »daß dieselben [S.’s Verbrechen] das Produkt der damaligen Erziehung in Verbindung mit der Zeitentwicklung, unterstützt
119
Das häufige Eingeständnis von Angeklagten, Ohrfeigen an Häftlinge ausgeteilt zu haben, liegt einerseits an der gesellschaftlichen Akzeptanz und vor allem Wahrnehmung als geringfügige Bestrafung dieser Züchtigungsform. Gleichzeitig verbirgt sich dahinter aber auch die Wahrnehmung der Inhaftierten als zu erziehende Menschen. 120 Sönke Neitzel, Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 2011, S. 16-46. 121 S., Gnadengesuch, 6.9.1951.
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durch die Kriegsverhältnisse und das junge Alter waren«122 . Die im Zitat benannten Referenzrahmen – Alter, Erziehung und der Krieg – verwendet S., um sich als ausgeliefert und ohnmächtig gegenüber diesen Umständen darzustellen. Diesen ersten Absatz seines ersten Gnadengesuchs schließt er mit den erklärenden Worten: »daher die fehlende richtige Übersicht der Lage«. Michael S. behauptet somit, gar nicht in der Lage gewesen zu sein, den heutigen Maßstäben gemäß zu handeln. Hinter diesem deklarativen Sprechakt steckt auch eine ›wenn-dann‹-Konstruktion und er wird darüber hinaus mit einem impliziten kommissiven Sprechakt verbunden, nämlich dass S. mit einer anderen Kenntnis und einem besseren Überblick die damalige Lage anders hätte beurteilen können und in der Folge auch keine Verbrechen begangen hätte. All dies bettet er in den direktiven Sprechakt an die AdressatIn ein: »bitte aber zu bedenken«. Der Verurteilte fordert so das Gericht auf, seine Erklärung und seine Lesart der vergangenen Ereignisse zu beachten. S. zeigt noch einmal Fakten auf, deren Beachtung in der Konsequenz – so seine Sichtweise – zu einer Strafminderung führen muss. Gleichzeitig stellt er damit klar, dass er nicht aus einem niederen Ansinnen heraus strafbar gehandelt hat, sondern aus mangelndem Wissen und der Unkenntnis über andere Möglichkeiten. Letztlich bestreitet er nicht, ›falsch‹ gehandelt zu haben, doch er stellt klar, welche Gründe ihn dazu bewogen haben. Er vermittelt dies in passiver Form, weil die Gewohnheit und nicht seine Initiative die treibende Kraft war. S. folgert deshalb im deklarativen Modus: »Trotzdem glaube ich, sagen zu dürfen, dass ich mit unbarmherziger Strenge bestraft wurde«123 . Eine Strafe hält er also durchaus für richtig, doch ihren Umfang stellt er im Gnadengesuch in Frage. Selbstverständlich geht er davon aus, dass die eigenen Forderungen gerechtfertigt sind und erhebt einen Wirklichkeitsanspruch auf seine Sicht der Dinge. Die devoten Äußerungen »glaube ich« und »sagen zu dürfen«, erkennen nur vordergründig die asymmetrische Gesprächssituation an. Diese Formeln sind einzig der vermeintlichen Anerkennung der Autorität des Gerichts geschuldet. Weil man dies im vorhandenen Kontext so sagt – also dem Machtritual in Bezug auf das institutionalisierte Erzählen geschuldet – verwendet S. diese Floskeln. Andererseits muss auch berücksichtigt werden, dass der von ihm reklamierte Wirklichkeitsanspruch wichtig für ein Gelingen des hier formulierten Sprechaktes ist. S. will so demonstrieren, dass das Gericht in seinem Urteil nicht alle damaligen situativen Umstände beachtet habe und stellt so in Frage, ob das Strafmaß gerechtfertigt ist. Dies versucht er vor allem durch ein komparatives Erzählen zu erreichen: »dass ich mit unbarmherziger Strenge bestraft wurde, besonders im Vergleich zu manchen Urteilen und in den darauf-
122 123
Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
folgenden Jahren, für ähnliche und noch schwerere Straftaten, welche mit meiner Straftat gar nicht in Einklang zu bringen sind.«124 Seine Strafe ist also nicht nur nicht adäquat, sondern auch ungerecht im Vergleich zu ähnlichen Fällen. S. stellt zwei Vorkommnisse, also die eigene Verurteilung und die Verurteilung anderer Angehöriger der Lager-SS, in Relation zueinander. Dieser repräsentative Sprechakt zieht zwar nicht das gesamte Gerichtsverfahren in Zweifel, doch wird die Rechtmäßigkeit des Urteils in jedem Fall in Frage gestellt. Diese Wahrnehmung deckt sich mit S.’s Verhalten während des Verfahrens. Er formuliert deutlich die Einsicht, straffällig gehandelt zu haben, doch gleichzeitig weist er die Verantwortung für sein Handeln von sich, weswegen er das Strafmaß auch für unangemessen erklärt. Das erste Gnadengesuch von Michael S. ist also weniger ein Schuldeingeständnis als eine weitere Rechtfertigung und Erklärung für sein Handeln im Konzentrationslager Ebensee.
4.7.6
S.’s Selbstviktimisierung
Letztlich ist also die Formulierung über eine eigene Schuld Mittel zum Zweck, weshalb Michael S. fortfährt, sich weiterhin als eine den Umständen ausgelieferte Person darzustellen. Er bezieht dies aber nun nicht mehr nur auf seine Vergangenheit als Angehöriger der Lager-SS, sondern weitet diesen Sachverhalt auf seine gegenwärtige Situation und die seiner Familie aus. Er steigert die Dringlichkeit der Umstände so weit, dass nicht er selbst, sondern die Familiensituation ihn zum Handeln zwingt. Ginge es nur um ihn, hätte er sich mit der Situation abgefunden: »Ich habe versucht, mich mit meinem Schicksal als Mann abzufinden, doch zwingt mich die prekäre Situation meiner Familie und Angehörigen, Sie um Anwendung des Gnadenrechts zu bitten.«125 Das ominöse »Schicksal« für seine Lebenssituation verantwortlich zu machen, zeigt noch einmal deutlich, wie S. versucht, sich als Opfer und damit als ausgeliefert zu stilisieren. Er unterstützt diesen Eindruck mit den Emotionen, die durch die verwendeten expressiven Sprechakte vermittelt werden sollen. An dieser Stelle zeigt sich auch, warum die Expressiva, obwohl sie nicht performativ sind, wichtig für einen Erfolg der anderen, performativen Sprechakte sind. In der Folge spitzt er seine Wahrnehmung der Gegebenheiten zu, formuliert nicht mehr nur Resignation, sondern stellt sich als verzweifelt dar und finalisiert das Gnadengesuch als einziges Mittel aus dieser Ausweglosigkeit: »Dies ist daher der letzte Ausweg, den ich weiß und ich bitte sie inständig, meinen Ausführungen Gehör zu schen-
124 Ebd. 125 Ebd.
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ken, mir das Vertrauen an die Mitmenschen und unserer Zukunft, durch einen Akt der verzeihenden Einsicht wieder zu geben.«126 S. appelliert hier sehr deutlich an das Gericht. Die dramatisierende Formulierung »letzte[r] Ausweg« nutzt er, um sich erneut selbst als Opfer darzustellen – er habe durch seine Erfahrungen das Vertrauen gegenüber den Menschen verloren. Die Verantwortlichkeit für die von ihm begangenen Straftaten und den vorangegangenen Prozess versucht er auf diesem Wege als Beurteilung über sein Gnadengesuch als irrelevant darzustellen. Sein Gesuch ist nur in wenigen Teilen retrospektiv, sondern orientiert sich deutlich an der Gegenwart. Dies stützt die Sicht auf Michael S. als einen Verurteilten, dem es nicht gelingt, eine Wahrnehmung des Vergangenen, Gegenwärtigen und auch des Zukünftigen jenseits der eigenen Persönlichkeit unternehmen zu können. Zusammenhänge zwischen den vergangenen Ereignissen und seiner gegenwärtigen Haftstrafe formuliert er nur vage, wenn er das Urteil selbst nicht generell als falsch wahrnimmt. Dennoch bleiben ein klares Schuldeingeständnis und eine kausale Verbindung zwischen seinen Straftaten und der Haft als Folge aus. Im gesamten Gnadengesuch an das Volksgericht Wien reflektiert er nicht sein Handeln und die Folgen. Er gibt nicht einmal vor, dies zu tun. Klar ist jedoch auch, dass ein Gnadengesuch eine klare Zielrichtung der Strafminderung bzw. Strafbefreiung verfolgt und somit bestimmte Forme(l)n gepflegt werden und bestimmte Strategien angewandt werden (müssen). Folglich findet sich im oben zitierten Satz über die Ausweglosigkeit seiner Situation keine Auktorialisierung der Erzählsituation, sondern Michael S. verfolgt, bedingt durch die deutliche Ich-Positionierung, eine Zentrierung auf die eigene Person. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass nur eine schlüssige und plausible Darstellung seiner ›nachträglich veränderten Verhältnisse‹ entscheidend für den Erfolg seines Gnadengesuchs sein kann. Dem Volksgericht als Adressaten soll so eine Einfühlung in die Person des Angeklagten ermöglicht werden, weswegen S. die Gegebenheit dramatisiert und zuspitzt, geradeweil es darum geht, eine Veränderung der Verhältnisse zum Schlechteren zu beweisen.
4.7.7
Moralischer Druck auf das Volksgericht
Der Verurteilte versucht, Druck auf das Gericht zu erzeugen, indem er nicht nur appelliert, sondern moralischen Druck aufbaut: »Ich weiß, daß es in Ihrer Macht liegt und bitte Sie daher, die Würde Ihres Berufes in die Sphäre erlebter Menschlichkeit zu erheben, indem Sie mich durch Gnade meiner Familie wiedergeben.«127
126 127
Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
S. verknüpft hier die Würde des Amtes und Menschlichkeit in Bezug auf die eigene Begnadigung. In der Folge erhebt er das Gericht zu einer nahezu gottgleichen Institution, die dazu in der Lage ist, über ihn und die Zukunft seiner Familie zu richten. Parallel dazu erkennt er dadurch die asymmetrische Gesprächssituation an bzw. gibt dies zumindest vor. Letztlich soll es dem Wiener Volksgericht so unmöglich sein, das Gesuch abzulehnen, denn S. unterbreitet hier dem Gericht den Konnex ›Bist Du ein guter Mensch, dann begnadigst Du mich‹. So übt er moralischen Druck auf das Gericht aus. Dementsprechend wirken seine Formulierungen vorwurfsvoll und die Gewissheit, mit der er die Möglichkeiten des Gerichts benennt – »ich weiß, daß es in ihrer Macht liegt« –, ist als einführender, aber vor allem als themengebender Auftakt für diesen Satz einzuordnen. Das Schreiben ist hierdurch weniger ein Gesuch, sondern vielmehr eine Aufforderung, im Sinne des Antragsstellers zu handeln. S. beurteilt im ersten Gnadengesuch die Gründe für sein vergangenes Handeln und die Auswirkungen seiner Haft für seine Familie sowie Angehörigen als Schicksal. Nicht er, sondern die Zeit und andere sind schuld. Er selbst gesteht zwar ein, nicht richtig gehandelt zu haben, doch gleichzeitig macht er deutlich, dass für ihn keine andere Wahl bestand. Genau diese Logik überträgt er nun auf das Volksgericht Wien, das sehr wohl imstande ist, aktiv zu werden. Mit großer Gewissheit sieht er sich ungerecht bestraft und als Opfer der Umstände, damals wie heute. Mit genau diesem (Selbst-)Verständnis fordert er die Anerkennung seines Gnadengesuchs durch das Wiener Gericht.
4.7.8
S.’s zweites Gnadengesuch an Justizminister Otto Tschadek
Michael S. verfasste sein zweites Gnadengesuch Anfang Dezember 1951.128 Er richtete das Schreiben an den damaligen österreichischen Justizminister Otto Tschadek. Sein erneutes Ersuchen um Gnade ist zunächst eine Reaktion auf den gescheiterten Wiederaufnahmeantrag seines Rechtsanwalts. Inhaltlich finden sich zunächst keine nennenswerten Neuerungen in diesem Schreiben. Der Verurteilte hat sich also ein fixes Rechtfertigungs-Narrativ bereitgelegt. Allerdings zeigt der genaue Blick auf die vorgenommenen Sprechhandlungen, dass sich die Argumentationsstrukturen des ersten Gnadengesuchs in diesem zweiten verschärft bzw. präzisiert haben. Formulierte S. noch im ersten Schreiben »Ich weiß heute, welche Schuld ich mit meinen Handlungen auf mich geladen habe«129 , so schreibt er nun »Ich weiß zwar heute, welche Schuld ich mit meinen damaligen Handlungen auf mich geladen habe«130 . Dieser deklarative Sprechakt wird durch das Adverb
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Gnadengesuch von Michael S. an den Justizminister Otto Tschadek, 6.12.1951, WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47. 129 S., Gnadengesuch, 6.9.1951. 130 S., Gnadengesuch, 4.12.1951.
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›zwar‹ und die im zweiten Teil nun hinzugefügte zeitliche Angabe der Vergangenheit (›damalige‹) in seiner Performativität gestärkt. Dies bedeutet, dass S. die Unterschiedlichkeit zwischen den damaligen und heutigen Gegebenheiten verstärkt zum Ausdruck bringen möchte. Gleichzeitig trennt er damit deutlicher Vergangenheit und Gegenwart voneinander und will so die Zusammenhänge zwischen der einen sowie der anderen Zeit trennen. Dem Gericht unterstellt er damit, dass die Urteilsfindung die Fakten nur unvollständig beachtet hat und das Urteil somit nicht gerecht ist. Er deklariert seine Sichtweise nicht nur, sondern markiert deutlich, was auf der Grundlage der von ihm dargelegten Situation stattdessen richtig gewesen wäre. Für seine Sicht erhebt er einen deutlichen Anspruch auf Wirklichkeit. Die »unbarmherzige Strenge« des Urteils und das Übergehen der Möglichkeit des »außerordentlichen Milderungsrechts« beweist für S. seine vorangegangene Proklamation.131 Parallel dazu verfolgt er damit auch deutlich das Ziel, die Voraussetzungen für ein Gelingen des Gnadenaktes zu erreichen, indem er die Vergangenheit zunehmend in den Hintergrund drängt. Demonstrierte der Angeklagte im ersten Gnadengesuch zumindest in Ansätzen Reue und Einsicht über sein vergangenes Handeln, geht er nun einen Schritt weiter, wenn er generell die Straffälligkeit seines Verhaltens in Zweifel zieht. Er stellt deshalb in Frage, ob der Begriff der Straftat überhaupt richtig ist für die Bezeichnung seines Verhaltens.132 Seine repräsentative Sprechhandlung des Schuldeingeständnisses muss also, auch wenn er dies nicht bezweckt, weil es seinem Ziel der Strafminderung gegenläufig sein kann, auf der performativen Ebene misslingen. Den Umständen ausgeliefert Auch das Zusammenspiel von Tatsache und Äußerung kehrt sich in diesem zweiten Gnadengesuch in einer Weise um, dass S. die vergangenen Tatsachen den Äußerungen entsprechend anpasst. So kategorisiert sich der Verurteilte als pflichtbewussten Soldaten mit moralischem Kompass und stellt dem Justizminister folgende rhetorische Frage: »Habe als Soldat auch nur meine Pflicht getan, oder sollte es besser gewesen sein, wenn ich als Denunziant meiner vorgesetzten Dienststelle jeden Sünder gemeldet hätte, oder war es nicht besser, daß ich in der damaligen Zeit den Sündern einige Ohrfeigen für ihre Tat gab und die Sache war wieder erledigt.«133
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Ebd. »[…] denn im Vergleich zu anderen Urteilen und in den darauffolgenden Jahren, wo für ähnliche und noch viel schwerere Straftaten, welche mit meiner Straftat, wenn man es so nennen muß, gar nicht in Einklang zu bringen sind«. S., Gnadengesuch, 4.12.1951. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Er verwendet die abstrahierende Zeitangabe ›damalige Zeit‹ und verfolgt so weiter die Negation, mit den heutigen rechtlichen Mitteln das damalige Geschehen be- bzw. verurteilten zu können. S. stilisiert somit eine Ausnahmesituation, in der auch aus heutiger Sicht ein ungewöhnliches Verhalten erforderlich war. Wenn er die Häftlinge, die ausgeliefert und rechtlos in einem Konzentrationslager einsaßen und gegen die Lagerordnung verstoßen hatten, als Sünder bezeichnet, zeichnet er weiter das Bild einer schicksalhaften Situation, in der TäterInnen wie Opfer den Umständen ausgeliefert waren. Der Verurteilte führt hier auch die verharmlosende Argumentationsstrategie, die er bereits in der Hauptverhandlung verwendet hatte, weiter. S. versucht damit nicht mehr auf performativem Wege, Reue und Einsicht glaubhaft an den adressierten Justizminister zu richten, sondern vielmehr proklamiert er seine Unschuld. Indem er die von ihm vorgegebene damalige Handlungsalternative mit den gegenwärtigen Maßstäben beurteilt, heroisiert er diese, denn die Alternative wäre nach S. eine Denunziation gewesen, bemessen mit dem KVG ein Straftatbestand. Als heroisch deklariert er sich auf diese Weise, weil sein damaliges Verhalten nicht gemäß den geltenden Dienstvorschriften war. Er stellt seine Handlungen gegenüber den Häftlingen deshalb als wohlwollend und schützend dar. Durch die nachträgliche Heroisierung seines Handelns gibt er in seinem Schreiben vor, dass ihn ein moralischer Referenzrahmen jenseits der nationalsozialistischen Weltanschauung leitete. Damit gerät jedoch seine erste Darstellung als ein junger SS-Angehöriger, dem das Wissen und die nötige Erfahrung gefehlt hat, ins Wanken. S. sieht rückblickend sein Verhalten also als moralisch richtig an. Nicht nur das rechtmäßige Zustandekommen seiner Verurteilung, sondern auch die Ablehnung seines Gnadengesuchs thematisiert er nun: »Weiters möchte ich noch erwähnen, daß schon manches Urteil aufgehoben wurde und man bei der Wiederaufnahme zur Einsicht kam, daß dies erste Ergebnis nur auf Verleumdung und Haß fußte.«134 Der Anlass, die Ablehnung seines Wiederaufnahmeantrags, wird hier deutlich. S. zieht nicht nur in Zweifel, rechtmäßig vom Gericht verurteilt worden zu sein, ›Verleumdung und Haß‹ von Zeugen führt er an, sondern reklamiert juristisch unzulässige Punkte, die zu dieser Entscheidung führten, für sein Wiederaufnahmeund Gnadengesuch.
4.7.9
Michael S.’s Gnadengesuch an den Bundeskanzler Leopold Figl
Im dritten Gnadengesuch von Michael S. an den Bundeskanzler Leopold Figl führt er die Gestaltung eines Gegen-Narrativs zum Urteil fort. Das richterliche Urteil und das Strafmaß wurden, seiner Einschätzung nach, nicht auf Grundlage von ermittelten Fakten bemessen, sondern er ordnet die 15-jähirge Kerkerhaft als »was ja 134
Ebd.
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damals wohl zeitbedingt war«135 ein. Die Gewohnheit, nicht aber juristische Normen erklärt er so zum Grund seines Strafmaßes. Die Partikel ›wohl‹ lässt einen patzigen Unterton wahrnehmen und einen ersten, aber auch sehr deutlichen Versuch des Verurteilten, sich im Machtdiskurs um die Frage des Gnadenrechts als wahrnehmbares und sich ermächtigendes Subjekt zu positionieren. Diese Beobachtung deckt sich vor allem mit der Häufigkeit von proklamierenden und beurteilenden Sprachhandlungen, die S. in den Gnadengesuchen von sich gibt. Folglich sieht sich S. im Gegensatz zum Gericht in der Lage, die Gesuche nach Haftherabsetzung, Urteilsprüfung und Beantragung von Wiederaufnahme seines Verfahrens adäquat beurteilen zu können: »obwohl für alle drei schwerwiegende Gründe vorhanden gewesen waren, was ja in deren Eingabe und Erhebungen ersichtlich ist.«136 Im Vergleich zu den beiden bisherigen Gnadengesuchen steigert sich diese Sicht auf seine Verbrechen. Das Urteil über seine Verbrechen ist also nicht nur ungerecht, sondern letztlich auch falsch. Passend zum Machtdiskurs, der losgekoppelt von seinen Straftaten stattfindet, führt S. nun auch Autoritäten an, die sein GegenNarrativ beglaubigen sollen, wie z.B. den Bezirkshauptmann »persönlich«, die sein Anliegen »wärmstens befürworte[n]«.137 Straftaten als Jugendsünden In signifikanter Weise kippt dieser selbstbewusste und autoritäre Ton dann im zweiten Teil dieses Gnadengesuchs, als es um die persönliche und familiäre Situation des Verurteilten geht. Strategisch liegt das an der Tatsache, dass diese Umstände letztlich über den Erfolg bzw. Nicht-Erfolg seines Gesuchs entscheiden. Will sich S. noch im ersten Teil als Machtäquivalent im nachprozessualen Diskurs um seine mögliche Begnadigung positionieren, so ist es jetzt ein leidvoller, um Mitleid werbender Unterton, der den Bundeskanzler Figl in die Position des Entscheiders stellt und dessen Mitleid wecken soll. Der Verurteilte ordnet sich damit wieder in die asymmetrische Gesprächssituation ein. Diese Vorgehensweise wählt er als Überleitung zu seiner aktuellen persönlichen Situation. Nicht mehr nur die alternden Eltern, die keine Kraft mehr zum Erhalt des landwirtschaftlichen Betriebs haben, sondern auch die notwendige Unterstützung der Ehefrau und vor allem die Erziehung der Kinder werden nun von ihm angeführt. Zum ersten Mal verwendet S. die Sprachhandlung eines kommissiven Sprechaktes. Allerdings macht er dies auf implizite Weise: »Dazu kommen meine Kinder jetzt in das Alter wo sie den Vater nicht entbehren können, denn sie sollen ja zu fleißigen strebsamen Menschen Erzogen werden, 135 136 137
Gnadengesuch von Michael S. an den Bundeskanzler Leopold Figl, 29.9.1952. WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47. Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
nicht das sie schon von jung auf hören und sehen müssen, daß ihr Vater durch seine junge verblendete politische Vergangenheit hinter Kerkermauern sitzt.«138 Neben einer Verharmlosung seiner Verbrechen, die er hier als Jugendsünde kategorisiert – »junge verblendete politische Vergangenheit« –, ist es vor allem die Demonstration und Notwendigkeit seiner Rolle als Vater, der er nachkommen will. Er konstatiert, dass seine Anwesenheit in der Familie für eine gelungene Zukunft der Kinder entscheidend ist. S. tritt also von der Position des Fordernden zurück und begibt sich in die Haltung des Bittstellers, indem er unterwürfig formuliert: »Verzeihen Sie Seine Exilenz, daß ich mir erlaube an Sie zu schreiben«139 , und vollzieht danach erneut einen kommissiven Sprechakt: »Bin jeder Zeit bereit an dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes mitzuwirken, denn meine verblendete Jugend war mir eine Lehre für mein ganzes Leben, leider mußte ich obendrein hohes Lehrgeld zahlen.«140 Seine Verbrechen – Misshandlung von Häftlingen in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager – kategorisiert er nun als Jugendsünden, die einen Mehrwert für seine Entwicklung zu einem reifen Erwachsenen darstellen. Letztlich rechtfertigt und entschuldigt Michael S. hier nicht nur seine Vergehen, sondern er entwirft darüber hinaus ein Lebensnarrativ, das es ihm möglich macht, die eigenen Verbrechen in eine Kausalität zu bringen, die seinen biografischen und moralischen Vorstellungen entspricht. Erneut kann die Analyse hier die Verkehrung der Tatsachen-Äußerungs-Relation offenlegen, da S. die Realitäten über sein Handeln den Äußerungen in seinem Gnadengesuch anpasst und das Schreiben so kohäsiv ist. S. als Bittsteller Dies ändert sich im letzten Absatz des Gnadengesuchs an Figl. Hier greift S. auf die eigentliche Sprechaktform eines Gnadengesuchs zurück und formuliert in einem direktiven Sprechakt auf appellative und unterwürfige Weise: »Bitte Sie daher Herr Bundeskanzler mir in meiner verzweifelten Lage zu helfen, denn es geht nicht nur mein Familienglück und meine Existenz, sondern auch der Wohlstand meiner alten Eltern auf dem Spiel. Erlösen Sie bitte Herr Bundeskanzler meine unschuldige Familie von dem harten Joche des Kummers und der Sorge; tragen Sie Herr Bundeskanzler bei [,] meinen alten Eltern einen schönen Lebensabend zu bereiten, indem mir Sie wehrte Exellenz, zu meinen Angehörigen verhelfen. Verzeihen Sie Exellenz, daß ich mir erlaube, an Sie zu schreiben, aber bevor
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ich meine ganze Lebenszeit aufgebe, möchte ich Sie noch Herr Bundeskanzler um ihre Hilfe bitten.«141 Der Verurteilte rückt hier die Machtfrage wieder aus dem Zentrum und macht durch die wiederholte direkte und unterwürfige Anrede des Adressaten vielmehr die Hierarchie und Entscheidungsgewalt deutlich. Gleich bleibt aber die NichtThematisierung der Schuld und des Grundes seiner Verurteilung. Formulierungen, die Reue, ein Schuldbewusstsein oder gar Mitgefühl den Betroffenen gegenüber offenbaren würden, bleiben aus.
4.7.10
S.’s viertes Gnadengesuch an den Obersten Gerichtshof Wien
Am 20. Januar 1953 verfasste Michael S. sein viertes und letztes Gnadengesuch und bittet darin den Obersten Gerichtshof Wien um Urteilsprüfung, Haftherabsetzung und Begnadigung.142 Den formalen Anforderungen eines Gnadengesuchs entsprechend, beginnt der Verurteilte in seiner formalen Vorrede mit einem direktiven Sprechakt und formuliert unmissverständlich, welche Handlungen er beim Adressaten seines Gesuchs erreichen möchte – den positiven Bescheid über einen Gnadenakt. Gegenwart als Entscheidungsgrundlage Er nennt zunächst den Leistenbruch des Vaters und die Herzerkrankung der Mutter sowie die dadurch verschärfte familiäre Situation für seine Ehefrau, die neben der Pflege der Eltern und der Erziehung der Kinder sich auch um die Landwirtschaft kümmern muss. S. setzt damit erneut die gegenwärtigen Umstände zentral. Durch den Rückblick auf die Folgen seines Fehlens heroisiert sich S. nicht nur implizit als möglichen Retter, dessen Hilfe unentbehrlich ist. So gelingt es ihm, den familiären Zustand wirtschaftlich wie auch gesundheitlich emotional aufzuladen, wenn er indirekt seine zukünftige Handlungsabsicht, den Hof der Eltern zu retten, konstatiert: »Mein 6-jähriges Fehlen in derselben [elterlichen Landwirtschaft] macht sich überall bemerkbar, sodass meine Angehörigen fast nicht mehr ein und aus wissen und einem wirtschaftlichem Fehlchtung [?] nach dem anderen ausgesetzt sind.«143 Im Anschluss daran thematisiert er ausführlich den Ablauf der Hauptverhandlung und versucht, die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Verfahrens aufzuwerfen. So verfolgt S. nun das Ziel, sich durch die Verwendung eines umfassenden
141 Ebd. 142 Gnadengesuch von Michael S. an den Obersten Gerichtshof in Wien, 20.1.1953. WStLa, LG Wien, Vg 12 Vr 2992/47. 143 Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
deklarativen Sprechaktes im Machtdiskurs des nachprozessualen Entscheidungsverlaufs zu seinem Gnadengesuch als Experte zu positionieren. Die Höhe seiner Strafe sieht er nicht als Resultat seiner verurteilten Handlungen, sondern kommentiert das Strafmaß erneut mit den Worten: »was ja damals wohl zeitbedingt war.«144 Er unternimmt somit den Versuch, die Kausalität des Urteils, nämlich seine Misshandlung von Häftlingen, zu unterlaufen. Der Verurteilte entwirft auch hier in seiner Sprachhandlung erneut ein Gegennarrativ zum richterlichen Urteil. Dies tritt zusammen mit einer zunehmenden Verwendung juristischer Begrifflichkeiten auf, um das Machtgefälle zwischen sich und dem Adressaten, dem Obersten Gerichtshof, zu seinen Gunsten zu verschieben: »Habe daher im Lauf der Zeit durch meinen Rechtsanwalt Strafherabsetzung nach St. P. O. 410 wie eine Urteilsprüfung und auch eine Wiederaufnahme beantragen lassen, welche verworfen wurden, obwohl für alle drei schwerwiegende Gründe vorhanden gewesen waren, was ja in deren Eingaben und Erhebungen ersichtlich ist.«145 Den Zweifel an der Gerechtigkeit, aber vor allem an der juristischen Richtigkeit des Urteils formuliert er darin erneut. Gemäß der Logik, dass nicht er, sondern die Umstände Schuld an den von ihm begangenen Verbrechen haben, begründet er seine Forderung auch mit dem Hinweis, dass »in mehreren Fällen wo die Leidtragenden ebenfalls zu hohen Kerkerstrafen verurteilt wurden und auch noch nicht die halbe verbüßt hatte, Erfolg hatten.«146 Auffallend ist der zunehmend identische Wortlaut zum vorherigen Gnadengesuch an den Bundeskanzler. Gegenwart und Zukunft des Verurteilten sowie seiner Familie Aber nicht nur durch die Expertenrolle will S. seine Position gegenüber dem Gericht stärken, sondern auch, indem er sich erneut auf amtliche Autoritäten wie die Gemeinde Aspersdorf und den Bezirkshauptmann beruft. Der Zweck seiner Aussage, die juristische Fehlerhaftigkeit seiner Verurteilung sowie die angebliche Ungerechtigkeit im Umgang mit sich zu beweisen, spitzt sich in den Formulierungen von Gnadengesuch zu Gnadengesuch zu. Dies zeigt sich in seinen Schreiben vor allem in der zunehmenden und letztlich völligen Loslösung des Urteils von den eigenen verbrecherischen Handlungen, die er mit seinen sprachlichen Handlungen verfolgt, obwohl das Ausmaß des begangenen Verbrechens die Grundlage für die Strafbemessung im richterlichen Urteil darstellt. S. stützt diese Entkopplung durch wiederholte Formulierungen der Selbstviktimisierung (z.B. »Leidtragende«
144 Ebd. 145 Ebd. 146 Die hier gewählte Selbstbezeichnung als »Leidtragende« ist eine klare Selbstviktimisierung. S., Gnadengesuch, 20.1.1953.
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für sich und andere zu hohen Kerkerstrafen Verurteilte) und Verharmlosung (»verblendete politische Vergangenheit« als Euphemismus für seine Dienstzeit im Konzentrationslager).147 Auch durch einen erneut verschobenen zeitlichen Fokus verstärkt sich diese kausale Loslösung. Es sind nun nicht mehr nur die alternden und hilfebedürftigen Eltern, sondern er rekurriert nun wiederholt auf seine Verantwortung als Familienvater: »[d]azu kommen meine Kinder jetzt in das Alter wo sie den Vater nicht entbehren können, den sie sollen zu fleißigen strebsamen Menschen erzogen werden, nicht das sie schon von jung auf hören und sehen müßen, daß ihr Vater durch seine junge verblendete politische Vergangenheit hinter Kerkermauern sitzt.«148 Jenseits der zeitlichen Fokusverschiebung und dem damit verfolgten Ziel, die Vergangenheit als Beurteilungsgröße irrelevant erscheinen zu lassen, weist der Verurteilte so dem Gericht auch die Verantwortlichkeit zu, falls seine Kinder nicht »fleißig« und »strebsam« werden sollten. S. verhandelt damit nicht mehr seine Schuldfrage, sondern die potentielle Schuld des Rechtssystems durch eine unangemessene Bestrafung seiner Person. Diese Lesart lässt auch der folgende kommissive Sprechakt zum Ende des Gnadengesuchs zu: »bin jeder Zeit bereit an dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes mitzuwirken, denn meine verblendete Jugend war mir eine Lehre für mein ganzes Leben, leider mußte ich obendrein hohes Lehrgeld zahlen.«149 Wenn S. auch das Versprechen gibt, am Aufbau des »gemeinsamen« Vaterlandes – er positioniert hier das ›wir‹ bzw. ›unser‹ und stellt sich somit erneut auf Augenhöhe mit den AdressatInnen des Gnadengesuchs– wird trotzdem der Zweck dieses Sprechens und die Strategie seines Vorgehens offensichtlich. Unrechtmäßigkeit des Verfahrens und des Urteils Wie auch schon im vorhergehenden Gnadengesuch stellt S. Wirkung und Kausalität seiner Verurteilung in Frage, indem er aufzeigt, dass nicht er, sondern seine Angehörigen durch das Urteil bestraft werden: »Glaube kaum, das sich dies alte Leute verdient haben, welche getreu der Scholle und dem Vaterland ihre Arbeit verrichteten.«150 Dieser Teil von Michael S.’s gegenwärtigen Problemen nimmt den Raum der ersten eineinhalb Seiten seines Gnadengesuchs ein. Erst dann eröffnet S. erneut die Anfechtung seiner Verurteilung und des juristischen Machtdiskurses, indem er die Rechtmäßigkeit seines Prozesses in Zweifel zieht und angebliche Verfahrensfehler benennt, die vor allem nach seiner Meinung der Konstruktion eines
147 148 149 150
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Komplotts gegen seine Person gleichkommen. Hierfür wählt er einen assertiven Sprechakt, um erneut eine Gegenwirklichkeit zu den Ermittlungsergebnissen und vor allem zum richterlichen Master-Narrativ des Urteils zu erlangen: »bei meiner Durchsicht des Verhandlungsprotokolles bemerkte ich, daß bei den ersten Aussagen den Zeugen verschiedenes unklar ist, da zuerst diese Zeugen alles fest behaupteten und bei den weiteren Aussagen nicht mehr wußten, von wo sie dieses oder anderes hörten und sagten. Es ist sehr bezeichnend, da ich einige Male in den Zeitungen ausgeschrieben war, daß sich Geschädigte oder solche welche glauben durch mich geschädigt worden [zu] sein, melden sollten. Es hat sich auf diesen Aufruf in den Zeitungen als auch von den KZlern niemand gemeldet, obwohl während dieser Zeit schon sehr viele ehemalige KZ-Häftlinge in Wien waren. Es war keinen der sich durch mich geschädigt fühlte, denn sonst wären wohl bei der Verhandlung außer den einigen Wachposten auch ehemalige KZler erschienen.«151 S. verifiziert seine Sicht mit Aussagen ehemaliger KZ-Häftlinge, deren Glaubwürdigkeit er im Absatz zuvor noch in Zweifel zog und verleiht seiner Aussage institutionelle Autorität durch die Nennung von Personen öffentlichen Rechts wie der Gemeinde Aspersdorf, dem Bezirkshauptmann und der Sicherheitsdirektion für das Land Niederösterreich. S. bleibt bei seinem Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Prozesses und geht dazu über, nun eine Selbstvikitimisierung bei gleichzeitiger Verharmlosung seiner Taten durchzuführen: »Ich selbst erlitt während des Krieges zweimal eine Kopfverletzung und einen Lungenriß, kam aus diesem Grund auch als Ausbilder nach Ebensee. Als die Rekruten aus Ungarn und Rumänien (Volksdeutsche) soweit ausgebildet waren, daß sie als Soldaten gewertet werden konnten, wurden wir alle der Bewachungsmannschaft zugeteilt.«152 Semantisch liegt hier nicht nur eine pejorative Aussage gegenüber den »Volksdeutschen« vor, sondern auch die Information, dass S. nicht freiwillig, sondern wegen Verletzungen an der Front zum Dienst im Konzentrationslager Ebensee eingeteilt worden war. »Nun glaube ich, daß es dem hohen Gericht schon bekannt sein wird, daß ich tatsächlich an Epilepsi leide und dagegen auch hier ärztlich behandelt werde. Bin nun mit meinen Nerven zu Ende, da zumal nirgens eine Aussicht auf Klärung meiner Angelegenheit bestand.«153 Die Annahme des Verurteilten, letztlich ein Justizopfer zu sein, verschärft sich. Die Nicht-Berücksichtigung seiner Krankheit sieht er dabei als Beleg an. In seinem
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darauffolgenden kommissiven Sprechakt verknüpft Michael S. dies mit der Bedingung einer Begnadigung – auch hier ist es vor allem die ›Rettung‹ der Familie und seine altruistische Vaterlandsliebe, die seine Person in pathetischer Weise charakterisieren soll: »Bin jeder Zeit bereit an dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes mitzuwirken, denn Ihre Einsicht und Ihr Verständnis wird mir den Lebensmut wiedergeben. Durch meine Hände Arbeit sind wohl alle Voraussetzungen für ein redliches Fortkommen meiner und meiner unschuldigen Familie gegeben, denn meiner Hände Fleiß wird es gelingen, die elterliche Landwirtschaft wieder hochzubringen und das Wohl zweier Familien zu sichern.«154 Er fügt dann die Formel, einen letzten expliziten direktiven Sprechakt, an: »Bin von ihrer gütigen Erledigung überzeugt und danke im Voraus.«155 Der ›Dank im Voraus‹ verdeutlicht S.’s Erwartungshaltung einer positiven Entscheidung über sein Gesuch.
4.7.11
Fazit über S.’s vier Gnadengesuche
Die Performativität bezogen auf den Vergleich der vier aufeinanderfolgenden Gnadengesuche von Michael S. liegt vor allem in einer zunehmenden Themenverschiebung. Immer weniger steht die Schuldfrage im Zentrum, vielmehr konzentriert sich S. auf eine wiederholte und immer ausführlichere Darstellung seiner Familiensituation und der Frage, ob seine Strafe angemessen ist. Seine Verbrechen als Ursache des Prozesses gegen ihn und der Grund für das Strafmaß von 15 Jahren Kerker spielen irgendwann eine kaum mehr erwähnenswerte Rolle in seinen Schreiben. In der Folge reduziert er die vergangenen Ereignisse als Verhandlungsgröße zunehmend und schließlich verhandelt oder rechtfertigt er sie sprachlich noch nicht einmal mehr. Zentral ist vielmehr die Schuldfrage hinsichtlich der juristischen und moralischen Richtigkeit seiner Verurteilung. Bezeichnend für S.’s Gnadengesuche ist die nahezu völlige Abwesenheit von kommissiven Sprechakten. Dagegen werden die Deklarative S.’s immer deutlicher und häufiger bis hin zu einem alternativen Wirklichkeitsentwurf, der die Äußerungen zu tatsachenkonstituierenden Handlungen macht. Überzeugt von seiner Unschuld, der Banalität und Lässlichkeit seiner Verbrechen im Konzentrationslager, bemisst er seine Verurteilung vor allem als ungerecht. In der Folge sieht er auch keinerlei Notwendigkeit, irgendwelche Versprechen zu geben. In den ersten beiden Gnadengesuchen findet sich zwar ein Schuldeingeständnis, wobei dieses
154 155
Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
bereits in seiner zweiten Ausführung so stark relativiert wird, dass S. klar die Umstände und nicht die eigene Entscheidung zur Straftat als Ursache benennt. Anfang Mai 1973 wurde die Strafe von Michael S. getilgt, ob seine Gnadengesuche zu einer früheren Entlassung aus der Haft geführt hatten, lässt sich aus dem Akt im Stadt- und Landesarchiv Wien nicht entnehmen.
4.8
Gnadengesuch eines Verurteilten des Dachauer Hauptprozesses – Walter Adolf Langleist
Im Gegensatz zu Michael S., der in der Hierarchie der Konzentrationslager-SS weit unten stand, handelt es sich im Falle von Walter Adolf Langleist um das genaue Gegenteil.156 Der gelernte Mechaniker Langleist hatte den Dienstrang eines SSHauptsturmführers inne.157 1893 in Dresden geboren, trat er bereits 1930 in die NSDAP ein, war Führer des SS-Abschnitts XIII in Stettin und ab dem April 1942 Kommandant der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Majdanek. Da Martin Weiß zwischen November 1943 und Mai 1944 Kommandant von Majdanek war, ist davon auszugehen, dass die beiden sich bereits aus dieser Zeit kannten. In jedem Fall begegneten sie sich im letzten Kriegsjahr im KZ-Außenlager Mühldorf.158 Neben der Rolle als Kommandant der Wachmannschaft im Konzentrationslager Dachau von August 1943 bis Mai 1944 war er zwischen September und November 1944 Kommandant des Außenlagers Kaufering Nr. 4. und anschließend Kommandant im Außenlager Mühldorf.159 Langleist repräsentiert auch die personelle Kontinuität zwischen den an der Durchführung der »Euthanasie« und den am Holo156 157
158
159
Gnadengesuch von Walter Adolf Langleist, 23.1.1946, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozess, Film Nr. 1/4. Ich halte mich bei seinem Dienstrang an die Angaben, die sich in den Akten des amerikanischen Militärgerichts befinden. In der Literatur wird Langleist aber auch dem Dienstrang des Sturmbannführers und des Obersturmbannführers zugewiesen. Laut Edith Raim nennt die SS-Personalkartei des Bundesarchivs Koblenz den Dienstrang eines Sturmbannführers. An seiner Zugehörigkeit zur Funktionselite der Konzentrationslager-SS ändert dieses Detail aber ohnehin nichts. Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf, Landsberg/Lech 1992, S. 156-157, FN 42. Weiß leitete ab dem November 1944 die SS-Weingut-Betriebs GmbH. Die Leitung hatte ihm die Amtsgruppe D des SS-WVHA übertragen. Das Unternehmen fasste, getarnt als Weinunternehmen, mehrere Rüstungsträger zusammen und war unter anderem mitverantwortlich an der Errichtung eines unterirdischen Betonbunkers für den Flugzeugbau. Edith Raim, Das Ende von Kaufering IV, in: Dachauer Hefte 20 (2004), S. 139-156, S. 140. Edith Raim, Mühldorf, in: W. Benz, B. Distel, Der Ort des Terrors, Bd. 2, S. 389-395, S. 390. E. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 357 und 664. Sabine Schalm benennt Langleist irrtümlicherweise Langleis. Sabine Schalm, Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ-Dachau 1933-1945 (Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 10), Berlin 2009, S. 107.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
caust Beteiligten. Bevor er seinen Dienst in der Konzentrationslager-SS antrat, war Langleist für die Räumung psychiatrischer Einrichtungen im besetzten Polen verantwortlich. Dass diese Menschen umgebracht werden sollten, musste nicht mehr explizit betont werden.160 Im Zuge des Dachauer Hauptverfahrens wurde Langleist zum Tode verurteilt und im Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg am Lech hingerichtet. Unter anderem sagten Zeugen aus, Langleist habe einen Häftling in eine Grube gestoßen, woraufhin dieser verstarb, und er habe einen weiteren Häftling mit einem Holzknüppel zu Tode geprügelt. Allein seine Aufgaben und sein Dienstrang weisen Langleist als Mitglied der Funktionselite der Konzentrationslager-SS aus. Der kleinbürgerliche Beruf und eine fehlende akademische Laufbahn sind dabei weitere typische Merkmale von SS-Angehörigen der »Aktion T4« und der »Aktion Reinhardt«, wie Sara Berger dies in ihrer Netzwerkanalyse feststellte.161
4.8.1
Kauferinger Außenlager
Das Außenlager Kaufering Nr. IV, nahe der Gemeinde Hurlach im Landkreis Landsberg am Lech gelegen, war eines der insgesamt elf Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Zusammen mit Häftlingen aus Auschwitz bauten Dachauer Insassen den bald größten Außenlagerkomplex von Dachau. In Kaufering sollte, geschützt vor alliierten Bombenangriffen, Rüstung unter Tage gefertigt werden. Vorher mussten die Inhaftierten solche Bunkeranlagen überhaupt erst einmal errichten. Häftlinge der polnischen Ghettos Łódź, Kaunas und Siauli sowie jüdische Inhaftierte von Auschwitz kamen wegen der vorrückenden Roten Armee in die Außenlager Kauferings. Die Zahl der Inhaftierten schwankte zwischen mehreren 1.000 und einigen 100 Häftlingen. Die humanitären Zustände waren katastrophal. Die Häftlinge mussten vielfach in Lehmhütten nächtigen und hatten weder regelmäßige Verpflegung noch sanitäre Anlagen zur Verfügung. Das Resultat dieser menschunwürdigen Unterbringung waren u.a. eine Fleckfieberepidemie und Quarantänemaßnahmen. Zwischen den Monaten Februar und März 1945 wurden allein 1.000 Häftlinge in das nun als Sterbelager umfunktionierte Kaufering IV gebracht. Da die SS auch eine Evakuierung dieses Außenlagers vorsah, wurden, wie häufig zum Ende des Krieges, Häftlinge in der Tötungsanstalt auf Schloss Hartheim umgebracht. Teile der Häftlinge wurden durch die amerikanische Armee im April 1945 befreit, andere befanden sich auf einem ›Todesmarsch‹, so dass ihre Befreiung erst einen Monat später erfolgte.162 160 Heike Bernhardt, »Euthanasie« und Kriegsbeginn. Die frühen Morde an Patienten aus Pommern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44, 9 (1996), S. 773-788, S. 775. 161 S. Berger, Experten der Vernichtung, S. 302. 162 Einen knappen und informativen Überblick über die Außenlager Kaufering bietet der lexikalische Artikel von Edith Raim im zweiten Band der Reihe »Der Ort des Terrors«. Edith Raim, Kaufering, in: W. Benz, B. Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 2, S. 360-373. Raim führt
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
4.8.2
KZ-Außenlager Mühldorf
Das Außenlager Mühldorf, das Langleist ab dem November 1944 befehligte und somit vor Ort der ranghöchste SS-Angehörige war, teilte sich wiederum in weitere vier Lager auf (Mettenheim, Waldlager bei Ampfing, Mittergras und Thalham). Zum Ende des Krieges befanden sich gut 4.500 Häftlinge in den Mühldorfer Außenlagern. Wie auch bei den Kauferinger Außenlagern waren die (Über-)Lebensbedingungen der Inhaftierten oftmals unmöglich. Grund für die katastrophalen Umstände war die Ausbeutung der Menschen als Arbeitskräfte durch die nahezu alleinige Organisation und Verwaltung der Mühldorfer und Kauferinger Außenlager durch die Organisation Todt163 sowie die Radikalisierung durch den verlorenen Krieg. Die Haftbedingungen in Mühldorf kosteten vermutlich fast der Hälfte aller Häftlinge das Leben (ca. 4.000 Menschen). Zu den Verbrechen im Außenlager Mühldorf führte das amerikanische Militärgericht in Dachau im April und Mai 1947 einen eigenen Prozess, den Mühldorf-Prozess, durch.164
4.8.3
Langleists Aussagen während der Hauptverhandlung
Zuständig für die Prüfung eines Gnadengesuchs eines Verurteilten eines amerikanischen Militärgerichts war ab dem Juni 1947 der chief of the post trial branch. Eine Beurteilung der Gesuche erfolgte durch war crime boards.165 Langleist sagte bereits in der Hauptverhandlung des Dachauer Hauptprozesses aus. Die Verteidigung befragte ihn dort zunächst nach seinen generellen Befugnissen und Aufgaben als Kommandant der Wachmannschaft des Konzentrationslagers und im Speziellen nach seinen Aufgaben in Dachau. Hierin zeigt sich ein
die Tötung durch Gas auf die Rückkehr der Angehörigen der Lager-SS aus den Konzentrationslagern bzw. Vernichtungslagern außerhalb des Reichsgebiets zurück. Die Ermordung von tausenden Menschen gehörte für diese SS-Angehörigen seit mehreren Jahren zum Arbeitsalltag. Dass das Lager sich nun auf Reichsgebiet befand, machte für diese Männer keinen Unterschied. Edith Raim, Das Ende von Kaufering IV, S. 155f. 163 Die Organisation Todt (OT) war für kriegswichtige Bauprojekte zuständig und wurde im Jahr 1938 im Zuge des Westwallbaues gegründet. Ihre Bezeichnung geht auf ihren Gründer Fritz Todt zurück. Mehr als 1,5 Millionen Menschen mussten für die OT Zwangsarbeit leisten. Eine Untersuchung der OT kann aber, aufgrund ihres weiterverzweigten – geografisch und institutionell – Charakters Einblick in sämtlich Bereiche der NS-Herrschaftsstruktur und NSHerrschaftspraxis geben. Fabian Lemmes, Zwangsarbeit im besetzten Europa. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940-1945, in: Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler (Hg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im »Dritten Reich« (Perspektiven. Schriftenreihe der BMW-Group – Konzernarchiv, Bd. 3), München 2010, S. 219-252, S. 220. 164 Edith Raim, Mühldorf. 165 H. Lessing, Der erste Dachauer Prozess, S. 274-275.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
wichtiges Grundanliegen des amerikanischen Militärgerichts: Jenseits einer Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen geht es auch darum, sich Wissen um die Funktionen und den Alltag eines Konzentrationslagers zu verschaffen. Dies bot für Langleist die Gelegenheit, sich als Spezialist und die Abläufe sowie Gegebenheiten auf für ihn vorteilhafte Weise darzustellen. Auf die Frage, warum Langleist als Lagerkommandant nach Kaufering IV versetzt wurde, stellt er sich einerseits als machtlos im Streit mit der Organisation Todt dar, andererseits betont er, dass er trotz der Aussichtslosigkeit auf Erfolg seinen Widerspruch und die Bemühungen um eine Verbesserung der Situation der Häftlinge nicht aufgegeben habe: »my protests against the too high demands as to the working power of the prisoners always met resistance«166 . Seine Versetzung als Kommandant in das Außenlager Kaufering IV sei mit seinem angeblich unermüdlichen Einsatz für die Häftlinge in direkten Zusammenhang gestanden. Diese Darstellung wird sich auch in seinem Gnadengesuch finden. Das Bild vom helfenden, verständigen und sich sorgenden Kommandanten hält Langleist im Prozess auch bei der Befragung zur Lagersituation in Mühldorf aufrecht: »After conferences I could obtain a three-shift system, so that the working hours of the prisoners only amounted to eight hours each.«167 Was Langleist hier als einen Erfolg seiner Bemühungen vermitteln möchte, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, wenn man bedenkt, dass die Häftlinge unterernährt, krank und völlig geschunden waren. Auch wenn er mit den klaren Ich-Positionierungen das Bestreben nach einer tatsächlichen Verbesserung für die Häftlinge auf sich zurückführt, die Motivation für sein Handeln – eine utilitaristische Ausrichtung zur Verbesserung der Arbeitsleistung der Inhaftierten verbunden mit einem klaren Karrieredenken – ist trotzdem deutlich. Allein die klare Ausrichtung der Lager auf diese maximale Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge in der zweiten Kriegshälfte ab dem Winter 1941/1942 lässt daran keine Zweifel aufkommen.168 Ein ehemaliger Häftling beschuldigte in seiner Zeugenaussage Langleist, einen Häftling mit einem Stück Holz zu Tode geprügelt zu haben. Langleist versucht, dies mit einem zynischen Kommentar zu diskreditieren. Dagegen nimmt er andere Angehörige der Lager-SS gegen die gerichtlichen Anschuldigungen in Schutz:
166 Walter Adolf Langleist, Hauptverhandlung im Dachauer Hauptprozess, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/3. 167 Ebd. 168 Karin Orths Einteilung erfolgt in sechs Phasen: frühe Lager, Zentralisierung, Entstehung des Systems der Konzentrationslager, erste und zweite Kriegshälfte sowie das letzte Jahr und die Evakuierungen. K. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 21.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
»Kirsch169 performed it very well: […] I got to know Kramer170 as a very able camp leader.«171 Langleists Gnadengesuch Langleists Interpretation der Gegebenheiten im Lager und vor allem die Einordnung seines Handelns als fürsorglich und am Wohl der Häftlinge orientiert ändert sich dann auch in seinem Gnadengesuch, das er am 23. Januar 1946 verfasste, nicht. Auch bei seiner Positionierung als Spezialist bleibt er. So ist der erste Teil des Gnadengesuchs vor allem im berichtenden Stil gefasst und wiederholt die Inhalte seiner Aussagen vor Gericht. Er unternimmt so den erneuten Versuch, die Gegebenheiten in einem für ihn günstigen Licht darzustellen, vor allem wenn er im zweiten Teil seines Gesuchs eine Interpretation und Deutung seines Handelns im Lagergeschehen vornimmt. Langleist schrieb sein Gnadengesuch unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Die Argumentation auf der Basis einer veränderten persönlichen Lage, wie sie Michael S. in seinem Gesuch drei Jahre nach seiner Verurteilung anwendete, war für Langleist nicht möglich. Zwischen seiner Verurteilung und dem Gnadengesuch liegen nur wenig mehr als vier Wochen. Unfreiwillig bei der Lager-SS Den berichtenden ersten Teil beginnt Langleist in formaler Weise mit einem formelhaften direktiven Sprechakt, »Ich bitte nach meiner Verurteilung im Dachauer Prozess […] [d]as Gnadengesuch einreichen zu dürfen und bitte die angeführten
169 Johann Viktor Kirsch gibt in seiner vorprozessualen Stellungnahme folgende persönliche Daten und für den Prozess wichtige biografische Stationen an: Geboren wurde Kirsch am 15. Februar 1891 im saarländischen Marpingen und war während des Krieges zunächst Soldat bei den Landschützen. Ab dem Jahr 1944 wurde er zur SS abkommandiert und erhielt eine dreiwöchige Ausbildung im Konzentrationslager Auschwitz. Als ein Wachhabender begleitete er einen Gefangenentransport in das Außenlager Kaufering I, wo er dann auch ab dem Spätsommer 1944 das Arbeitskommando führte. Da er Ende April einen sogenannten Todesmarsch begleitete, wurde er von den Amerikanern in Miesbach festgenommen. Statement Johann Viktor Kirsch, BayHStAA, OMGUS Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/2. 170 Alfred Kramer, nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung 46 Jahre alt und aus Waldenburg in Schlesien, benennt in seiner vorprozessualen Stellungnahme folgende biografische Stationen: September 1939 Tätigkeit im Konzentrationslager Buchenwald, zwei Jahre später Versetzung nach Lublin, von wo er dann im Sommer 1944 in das Konzentrationslager Dachau versetzt wurde. Dort war er im gleichen Jahr von September bis November Lagerführer im Außenlager Kaufering I. Ende April 1945 versuchte Kramer, mit dem Fahrrad vor den Alliierten nach Tirol zu flüchten, wurde aber von den Amerikanern Anfang Mai festgenommen. Statement Alfred Kramer, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/2. 171 Direct examination von Walter Adolf Langleist, BayHStAA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Film Nr. 1/3.
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Einzelheiten zu berücksichtigen.«172 Er ordnet sich also auf der formalen Ebene dem Gericht unter, indem er die Entscheidung über einen möglichen Gnadenakt klar dem Gericht zugesteht. Gegenläufig zu dieser Unterordnung, die als pragmatisches Vorgehen einzuordnen ist, zeigen sich dann Langleists Klar- bzw. Richtigstellungen auf der semantischen Ebene: Er war unfreiwillig Kommandant einer Wachmannschaft eines Konzentrationslagers geworden. Seinen Wunsch nach einer Versetzung zur kämpfenden Truppe an die Front datiert er auf das Jahr 1941. Dies steht jedoch im Widerspruch zu Langleists Zugehörigkeit zu einem Kreis der SS, der noch vor dem Beginn der systematischen Ermordung rassisch und politisch Verfolgter des NS-Regimes bereits an der Ermordung psychisch Kranker in Polen beteiligt war.173 Er gehörte damit klar zur Gruppe der KonzentrationslagerSS. Trotzdem macht er die Entscheidung seiner Vorgesetzten für seine Arbeitsstelle im Konzentrationslager verantwortlich und weist so jegliche Eigenverantwortlichkeit von sich. Diesen Punkt wird er im zweiten Teil seines Gnadengesuchs dann auch noch weiter schärfen. Seiner Klarstellung schließt er dann unmittelbar eine Stellungnahme der Urteilsbegründung über das geplante gemeinschaftliche Vorhaben an: »Die erste Anklageschrift legt allen Angeklagten einen gemeinschaftlichen Plan zur Last, wonach das später ermittelte Vorgehen ausgeführt worden wäre.«174 Die Anklage des amerikanischen Militärgerichts lehnte sich dabei an den von den Briten im Prozess zu Verbrechen im Konzentrationslager Bergen-Belsen erhobenen Tatvorwurf der Verschwörung an. Dieser Prozess fand in den Monaten September bis November im Jahr 1945 statt und war so ein unmittelbarer juristischer Vorläufer des Dachauer Prozesses. Im Gegensatz zum Vorwurf der Verschwörung war die Voraussetzung zu einer Verurteilung gemäß dem Vorwurf des geplanten gemeinsamen Vorhabens niedriger angesetzt, denn »[d]er Nachweis einer ›gemeinsam vorgefassten Absicht‹ zwischen demBeschuldigten und seinen Komplizen [war] ausreichend.«175 Langleist führt diese juristische Gegebenheit an, um daran erneut einen direktiven Sprechakt zu formulieren: »Zu meiner Entlastung hinsichtlich gemeinsamen 172 173 174 175
Langleist, Gnadengesuch, 23.1.1946. S. Berger, Experten der Vernichtung, S. 37. Langleist, Gnadengesuch, 23.1.1946. M.S. Bryant, US-amerikanische Militärgerichtsprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau, S. 111. Genauer geht Bryant in einem anderen Aufsatz auf den Anklagepunkt common design ein. Hier heißt es: »Um common design anzunehmen, brauchte man, im Unterschied zu einem gemeinsamen gefassten Plan bei der conspiracy, lediglich den Nachweis eines gleichgerichteten Willens (community of intention) beim Angeklagten und seinem Komplizen. Für eine erfolgreiche Strafverfolgung in den Dachauer Prozessen reichte der Beweis, dass ein Angeklagter sich der ›KZ-üblichen‹ Gräueltaten, die gegen die Gesetze des Krieges verstießen, bewusst gewesen war und er daran aktiv teilgenommen hatte. Wenn diese Elemente festgestellt wurden, wurde von einer Handlung im Rahmen eines common design ausgegangen.« M.S. Bryant, Dachau Trials, S. 119f.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
Vorhabens darf ich bitten, folgende wirklich vorhandenen Entschuldigungsgründe vortragen zu dürfen«176 . Beim genauen Lesen dieser Formulierung fällt auf, dass er sich in Widersprüche verstrickt. Trotz seiner Negation, am vorgeworfenen gemeinsamen Plan teilgenommen zu haben, gesteht er implizit ein, sich eben doch daran beteiligt zu haben. Diese Annahme wird durch das beteuernde Adverb ›wirklich‹ im oben zitierten Satz gestützt. So gesehen bittet Langleist in seinem direktiven Sprechakt nicht um einen Freispruch von einer Schuld, die er nicht begangen habe, sondern vielmehr – wie er es selbst formuliert – bittet er um ›Entlastung‹. Langleist als Fürsprecher der Häftlinge und als Außenstehender Sehr deutlich und klar auf die eigene Person als Erzählender bezogen und in beteuerndem Ton, im Gegensatz zum vorherigen enttarnenden Sprechakt, geht er dazu über, nicht nur seine Unwissenheit über alle im Prozess genannten Verbrechen kundzutun, sondern die »willkürliche Gewalt«177 im Lager abzulehnen. Es wiederholt sich an dieser Stelle also die Darstellung seiner Person aus den Aussagen während des Gerichtsprozesses, worin er sich als SS-Mann, der stets um das Wohl der Häftlinge bemüht war, beschreibt. Seine Unwissenheit über die Vorkommnisse im Konzentrationslager Dachau betont er dabei besonders: »Ich habe nie im Entferntesten auch nur geahnt, dass innerhalb des Konzentrationslagers Möglichkeiten für Dinge waren, wie sie in durch den Prozess offenbar wurden.«178 Seine angebliche Unwissenheit stützt er durch eine Teilung des szenischen Raumes der Handlungsgegenwart. Er als Kommandant des Dachauer Wachbataillons sei für den äußeren Bereich des Lagers zuständig gewesen. Die verhandelten Verbrechen fanden aber innerhalb der sogenannten Postenkette statt. Seine Rolle als Kommandant der Außenlager Kaufering IV und Mühldorf und damit das eindeutige Wissen um Missstände und Verbrechen innerhalb der Postenkette unterschlägt er dabei völlig. Stattdessen geht Langleist nun dazu über, sich als pflichtbewussten und rechtschaffenen Soldaten darzustellen – er charakterisiert sich so als stabile und moralisch integre Persönlichkeit. Dies beansprucht er nicht nur für seine Dienstzeit im Konzentrationslager, sondern als Grundkonstante seines Charakters und seines Handelns. Besonders zeigt sich dies, wenn er formuliert: »habe ich meinen Dienst mit innerlich sauberer Gewissenhaftigkeit ausgeführt. So habe ich mich in meinen Handlungen nicht von Hassgefühlen leiten lassen. Ich sah nichts, als die Pflicht, den mir zugewiesenen Dienst so ordnungsgemäß durchzuführen, wie es nur denkbar war.«179
176 177 178 179
Langleist, Gnadengesuch, 23.1.1946. Ebd. Ebd. Ebd.
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Langleist als gewöhnlicher Soldat Langleist will sich als pflichtbewusster SS-Angehöriger verstanden wissen, weshalb er den Befehlsnotstand für die Ausführung seiner Taten ausführlich darlegt: »Ein Reichsführer-SS-Befehl bezeichnete den Dienst beim Konzentrationslager ›einen Dienst vor dem Feinde‹, was durch Verteilung entsprechender Kriegsauszeichnungen unterstrichen wurde. Der Reichsführer-SS war der höchste militärische Vorgesetzte der Waffen-SS, welcher die Wachsturmbanne angehörten und der ich in aller Form vereidigt war, wie jeder Soldat einer anderen Armee. Befehls- und Gehorsamsverweigerung stand – wie ebenfalls in jeder anderen Armee während des Krieges – unter Todesstrafe. Es gab kein freiwilliges Ausscheiden aus der Waffen-SS nach eigenem Ermessen, sondern nur soldatische Pflichterfüllung. Jeder gegebene Befehl war heilig und oberstes Gesetz. Es gab nach ergangenen Befehlen keine ›eigene Ermessensfreiheit‹ oder ›eigenmächtiges Handeln‹, sondern nur soldatischen Gehorsam, worauf auch jede militärische Planung aufbaut. Jeder hatte an dem ihm zugewiesenen Platz zu stehen, bis er aus dienstlicher Notwendigkeit abgerufen wurde.«180 Langleist bemüht sich hier, sich als gewöhnlichen Soldaten darzustellen. Er war aber kein gewöhnlicher Soldat, sondern Angehöriger der SS und darüber hinaus Mitglied eines elitären Kreises der Konzentrationslager-SS. Die Alliierten erklärten in den Nürnberger Statuten die SS zu einer verbrecherischen Organisation und bereits die Mitgliedschaft darin war ein Straftatbestand. Langleists frühe Beteiligung an rassistisch motivierten Euthanasiemorden und sein Einsatz in den ersten Vernichtungslagern beweisen, dass sein Versuch, sich als gewöhnlichen Soldaten zu präsentieren, seine tatsächliche Rolle völlig verharmlost. Er setzt hier den Dienst in Konzentrationslagern mit dem Kampf an der Front gleich, wobei die Häftlinge den Feind verkörpern. Implizit macht er so den Referenzrahmen des Krieges, aber auch den »Ehrenkodex« der SS für seine Verbrechen verantwortlich. Er übernimmt hier die Sprache und Metaphorik der nationalsozialistischen Ideologie, deren assertiven Sprechakt über die Gegebenheiten der Welt er reformuliert. Die Relation von Tatsache und Äußerung zielt hier klar auf eine Anpassung. Mittels des deklarativen Sprechakts proklamiert Langleist den Kriegszustand für die Lagersituation und setzt so den Dienst im Konzentrationslager mit dem an der Front gleich. Seine Informationen über den Dienst bei der SS nutzt er, um sich als Experte darzustellen. Der ehemalige Kommandant als Experte Danach geht Langleist auf seine Zeit als Kommandant des Außenlagers Kaufering IV ein. Er wiederholt darin, wie er es bereits im Verfahren selbst ausgesagt hatte: 180 Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
»Meine insgesamt 4-5 wöchentliche Tätigkeit in Kaufering, hat mir nichts als Kampf mit der dortigen Oberbauleitung der Organisation Todt (O.T.) um Verbesserung der Lebenslage der Häftlinge und einem vollwertigen Ausbau der vor meinem Eintreffen schon bestehenden Unterkunftslager gebracht.«181 Der Einschub mit dem auffälligen Tempuswechsel ins Präsens und somit als Einordung des vorherig Gesagten benennbar, »ich muss das [er meint damit die, wie er es formuliert, »unablässige und unwiderlegbare Fürsorge für die Häftlinge«] zu meiner Entlastung immer wieder anführen«182 , zeigt, welcher implizite Sprechakt sich hinter diesem Gnadengesuch verbirgt. Es ist nicht der direktive Sprechakt, wie es die häufigeren expliziten Äußerungen wie »Ich bitte meinem Hinweis Gehör zu schenken«183 vermuten lassen. Der Einschub macht vielmehr deutlich, dass ein assertiver Sprechakt vorliegt. Langleist formuliert also in seinem rückblickenden Bericht, verbunden mit der Charakterisierung seiner eigenen Person und der Schilderung weltanschaulicher Gegebenheiten, ein Gegennarrativ zur Sichtweiseüber die Tatsachen im richterlichen Urteil. Seine kaltblütige, aber für seine Belange logische Folgerung »Man müht sich nicht ohne Unterlass in helfender Weise für anvertrautes Menschengut, um es auf der anderen Seite misshandelnd zu vernichten«184 ist ebenso ein assertiver Sprechakt, der die Darlegungen des Gerichts negieren soll. Indem Langleist durch diese Sprechhandlung demonstriert, die Abläufe im Konzentrationslager bestens zu kennen, will er auch im Diskurs mit dem amerikanischen Militärgericht eine gewichtigere Position als den um Gnade Bittenden für sich erlangen. Jenseits dessen demonstriert die pejorative Wortwahl zur Bezeichnung der Häftlinge – »Menschengut« – aber deutlich, welch Geistes Kind Langleist ist. Dies deckt sich mit der Charakterisierung der Angehörigen der LagerSS von Dirk Riedel, der die ideologisch aktiven und vor allem (straf-)rechtsfreien Handlungsrahmen als Grund für das verbrecherische Handeln sieht. Da Langleist 1893 geboren wurde und bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die SS eingetreten war, ist davon auszugehen, dass die nationalsozialistische Weltanschauung ihn bereits zur Zeit der Weimarer Republik prägte.185 Allerdings gibt das Gnadengesuch auch preis, dass Langleist sich über das Ausmaß und vor allem über die Ausweglosigkeit seiner Situation durchaus bewusst ist: »Ich habe ja keine andere Verteidigung mehr, als mein eigenes gutes Gewissen und
181 182 183 184 185
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Dirk Riedel, Lagerführung und Wachmannschaften der Kauferinger KZ-Außenlager, in: Angelika Benz, Marija Vulescia (Hg.), Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter in den nationalsozialistischen Lagern (Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 14), Berlin 2011, S. 146-158, S. 150.
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das ist wirklich nicht belastet.«186 Langleist schließt sein Gnadengesuch ab, indem er die Struktur seines Schreibens selbst einordnet. Er sieht dabei den Bericht des ersten Teils als Begründung für die Deutung und Interpretation seines Handelns und formuliert analog dazu erneut einen direktiven Sprechakt: »bitte ich nochmal um Gnadenerweis oder Aufhebung des Urteilspruchs«.187 Fazit über Langleists Gnadengesuch Langleist nutzt die Möglichkeiten des performativen Erzählens im Gnadengesuch deutlich weniger, als das Michael S. in seinen vier Gnadengesuchen getan hat. Da die juristische Ahndung der Verbrechen im ehemaligen Konzentrationslager Dachau das erste Verfahren eines amerikanischen Militärgerichts darstellte, war der exemplarische Charakter und die zeitliche Nähe zu den Straftaten ein sehr deutliches Signal über die rigide Handhabe aller juristischen Möglichkeiten durch die Amerikaner. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Langleist sich seiner Ausweglosigkeit bewusst war und ihm auch klar war, dass sein Gesuch um Gnade nur wenig erfolgversprechend war.
4.9
Gnadengesuch einer Verurteilten des Landgerichts Berlin – Wally K.
Bereits im Kapitel zum Aspekt des unzuverlässigen Erzählens habe ich eine vorprozessuale, handschriftliche Einreichung von Wally K. beim Landgericht Berlin untersucht.188 Wally K.’s Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis erfolgte Mitte September 1951. Sie richtete ihr Gnadengesuch genau einen Monat später, am 18. Oktober 1951, an den Landgerichtsdirektor. War ihre vorprozessuale Darstellung der Geschehnisse noch von großem erzählerischem Aufwand und Können geprägt, so ist ihr kurzes Gnadengesuch dagegen sachlich, präzise und nur wenig narrativ ausgestaltet. Dies liegt mit großer Wahrscheinlichkeit an der zu verbüßenden Reststrafe von nur noch zehn Wochen. Darauf lassen sich auch die weitgehend fehlenden formalisierten Passagen zurückführen. So benennt sie kurz die Situation – Verurteilung, Grund der Verurteilung und Strafmaß – um dann erst mit einem direktiven Sprechakt den Adressaten des Gesuchs, den Präsidenten des Landesgerichts, an-
186 Langleist, Gnadengesuch, 23.1.1946. 187 Ebd. 188 Gnadengesuch der Wally K. vom 18.10.1951, LA Berlin B Rep. 058, Nr. 4626 (Gnadenheft). Um Redundanzen zu vermeiden, finden sich an dieser Stelle keine weiteren biografischen und historiografischen Details.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
zusprechen: »Den Rest der Strafe, bitte ich Sie höflichst, mir im Gnadenwege zu erlassen, bezw. Bewährungsfrist zuzubilligen.«189
4.9.1
K. begründet ihr Gesuch
Sie weist zunächst implizit zurück, dass dieser Begnadigungswunsch etwas mit ihrer Person zu tun haben könnte, sondern führt ihr Ersuchen auf die Lebenssituation ihrer Eltern zurück: »Im Hinblick meiner Inhaftierung, verspürten auch meine I. Eltern eine erhebliche Belastung. Die verdrießlichsten Gefühlsregungen und widerspiegelnden Reaktionen blieben nicht aus.«190 So erfolgt eine Demonstration von Mitgefühl für ihre Eltern und gleichzeitig umgeht sie es so, den Grund für ihre Haftstrafe genauer zu thematisieren. Trotzdem formuliert sie mit der IchPositionierung »auch meine Eltern« gleichzeitig, dass die Haftsituation auch für sie »eine erhebliche Belastung« darstellt. Sie emotionalisiert ihre Lebensumstände durch die Formulierung: »Die verdrießlichsten Gefühlsregungen und widerspiegelnden Reaktionen blieben nicht aus. Die Krankheitserreger, so auch die geistigseelische Verfassung, lassen zu wünschen übrig.«191 Dieser Umstand lässt sich aber nicht eindeutig den Eltern oder der Schreibenden zuordnen. Indem sich K. hier nicht festlegt, lässt sie sich so Optionen der Ausflucht, denn selbst wenn die emotionalen Äußerungen ihrer Person zugeschrieben werden, ist nicht klar, ob sie über die Haftsituation, die Situation ihrer Eltern oder über ihre Verurteilung ungehalten ist. Ob der Begriff »Krankheitserreger« der nationalsozialistischen Weltanschauung zuzuordnen ist oder sich auf eine Erkrankung der Eltern bezieht, klärt sich auch nicht bei ihrer erneuten Erwähnung der Eltern auf. In diesem weiteren direktiven Sprechakt führt sie den Grund für ihr Gnadengesuch eindeutig auf die Lebenssituation ihrer Eltern zurück: »Da meine l. Eltern, schon im ziemlich hohen Lebensalter bzw. 66 und 64 stehen, wir auf gegenseitige Unterstützung verbunden, bitte ich Sie höflichst, dies ergebenst zu berücksichtigen.«192 Dadurch signalisiert sie zumindest auf der formalen Ebene eine Anerkennung ihrer Situation. Im Gegensatz zu Walter Adolf Langleist und Michael S. stellt sie somit die Rechtmäßigkeit des Gerichtsverfahrens nicht in Frage und auch ihre Verurteilung sowie ihr Strafmaß werden nicht in Bezug auf Fehler seitens des Gerichts von ihr bemängelt. K. unternimmt somit im Gegensatz zu den vorherigen Verurteilten keinen Versuch, mittels ihrer performativen Sprachhandlungen die Tatsache-ÄußerungsRelation zu ihren Gunsten zu verändern.
189 190 191 192
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Mit dem nächsten direktiven Sprechakt wechselt die Verurteilte das Thema. Nicht mehr die elterliche Situation spielt eine Rolle, sondern ihre zukünftige Lebenssituation, die sich durch das Verfahren und ihre Verurteilung verändert hat: »Wenn ich eine Bitte auch aussprechen darf, so geht sie dahin, dass ich nach meiner Entlassung dem Westsektor angegliedert werde. Denn durch die polit. Spannungen der Zeit, meiner verhängnisvollen Affäre, ist meine Person im öffentlichen Leben und bei meinem ehemaligen Wohnsitz gefährdet. Aufnahme würde ich bei meiner Schwester hier im Westen oder bei Verwandten finden!«193 In dieser Bitte geht sie das erste Mal kurz auf die Gründe ihrer Verurteilung ein, wenn auch verklausuliert als »verhängnisvolle Affäre«. Diese Chiffre ist letztlich eine Vernebelung und auch ein Euphemismus für ihre Verbrechen. Wobei sich dieser Blick auf ihre Taten mit deren Einordung in ihrer vorprozessualen handschriftlichen Äußerung deckt. K. verhandelt zu keinem Zeitpunkt in ihrem Gnadengesuch, das auch nur eine halbe Seite umfasst, ihre Schuldfrage. Die Handlungsgegenwart, derentwegen sie verurteilt wurde, spielt keine ernst zu nehmende Rolle. K. nutzt die Möglichkeit, sich mittels des Gnadengesuchs in das Normensystem der Erzählgegenwart einzufügen, nicht. Ein performatives Erzählen als Brückenschlag findet sich somit in ihrem Gesuch nicht. Ob sie dies nicht tut, weil sie sich frei von jeglicher Schuld fühlt oder weil sie diese Möglichkeit bzw. Notwendigkeit schlicht nicht erkennt, muss ungeklärt bleiben. Ihr vorrangiges Ziel formuliert sie dann am Ende ihres Gnadengesuchs. Sie will, nachdem sie ihre Haftstrafe verbüßt hat, in den Westsektor überstellt werden.
4.9.2
Fazit über K.’s Gnadengesuch
Im Verhältnis zu Michael S.’s und Walter Adolf Langleists Gnadengesuchen stellt sich das Schreiben von Wally K. – hinsichtlich des Vermögens eines performativen Erzählens – als besonders misslungen, ineffizient oder, aus Sicht der Wissenschaftlerin, weniger ertragreich dar. Dies kann einerseits am fehlenden sprachlichen Vermögen für diese Textsorte, an einer fehlenden bzw. unvermögenden Unterstützung durch einen Rechtsbeistand oder an der deutlich geringeren Motivation wegen der nur geringen Strafe liegen. Allerdings hat sie in ihrer vorprozessualen handschriftlichen Stellungnahme unter Beweis gestellt, dass sie durchaus über ein umfassendes erzählerisches Können verfügt und dies auch gekonnt einsetzen kann. Dieses kurze und wenig strategische Gnadengesuch steht somit in einem deutlichen Kontrast zu ihrer vorprozessualen schriftlichen Aussage.
193
Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
4.10
Fazit über die Gnadengesuche ehemaliger SS-Angehöriger bzw. einer Angehörigen des weiblichen SS-Gefolges
Nur auf den ersten Blick erscheinen die Gnadengesuche der drei TäterInnen nicht als besonders divergent. Rein formal ist zunächst die Kürze von K.’s Gesuch auffällig. Die deutlich geringere Haftstrafe erklärt die geringere Motivation sprachlicher Rechtfertigung. In der Folge nutzt die Verurteilte performative Sprechakte jenseits der formalen Erfordernisse kaum. Einerseits besteht dafür kein Erfordernis, weil sie Urteil und Zuständigkeit des Gerichts nicht in Zweifel zieht und somit die ihr zugewiesene Position im Machtdiskurs vor Gericht akzeptiert. S. und Langleist führen dies in ihren Gnadengesuchen aber durchaus an. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass K. als einzige performative Sprechhandlung den direktiven Sprechakt anwendet. Sie demonstriert hierdurch die Anerkennung des Gerichts und ihre Rolle im prozessualen Machtdiskurs. Letztlich ist dies aber vor allem am illokutionären Zweck ihres Gnadengesuchs festzumachen: Nach der Freilassung aus dem Gefängnis in Moabit möchte sie dauerhaft nach West-Berlin übersiedeln. Für K. besteht keine größere Notwendigkeit, auf ihre Zeit als KZ-Aufseherin einzugehen. In der Folge stellt sich in K.’s Augen das Problem eines möglichen moralischen Konflikts überhaupt nicht. Die Erzählgegenwart ist für sie der einzige Maßstab. Anders verhält sich dies im Falle der beiden Verurteilten S. und Langleist. Beide halten die formellen Vorgaben des Gnadengesuchs ein, indem sie es vordergründig als direktiven Sprechakt handhaben. Durch andere Formen performativer Sprechakte versuchen sie jedoch, nicht nur das Ziel der um Gnade bittenden Sprachhandlung zu erwirken, sondern vielmehr durch ihre Äußerungen geschickt die vorgegebenen Machtstrukturen zu unterlaufen. Beide vollziehen diesen Schritt durch eine Änderung der Relation von Tatsache und Äußerung. Die geschilderten Realitäten werden entsprechend ihren Äußerungen dargestellt. Beide treten in den Passagen über ihre im Konzentrationslager begangenen Verbrechen in einem starken Stil auf und personalisieren ihre Formulierungen in Bezug auf die eigene Rolle. Langleist verwendet im entsprechenden Abschnitt den Fachjargon eines SS-Angehörigen, der in der Hierarchie in den oberen Rängen zu finden war. Jedoch gibt es einen wesentlichen Unterschied in ihrer Stellungnahme gegenüber ihren Verbrechen. S. gibt zumindest auf implizite Weise ein Schuldbewusstsein vor, auch wenn er sagt, dass ihm in seiner Zeit als Teil des Wachkommandos im Außenlager Ebensee das nötige Wissen für ein moralisch und juristisch richtiges Handeln gefehlt hätte. Langleist täuscht dagegen völliges Unwissen über die verbrecherische Dimension seines Handelns und der gesamten Lagersituation vor. S. reklamiert für seine Wirklichkeitskonstruktion eine Gültigkeit für seinen persönlichen Rahmen, wohingegen Langleist wesentlich umfassendere Geltungsansprüche für den Wirklichkeitsgehalt seiner Aussagen erhebt. Für ihn stellt die Parallelität
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
zweier moralischer Wertesysteme auch keinen zu überbrückenden Konflikt dar. Vielmehr integriert er die zur nationalsozialistischen Weltanschauung passenden Vorstellungen und sieht dagegenstehende Einwände als nicht gegeben. S. hingegen erkennt den Konflikt, benennt ihn sogar, will sich aber wegen seiner angeblichen Ahnungslosigkeit nicht als schuldig bezeichnen, weil er zum Zeitpunkt seiner vor Gericht verhandelten Taten nicht über das Wissen verfügt habe, diese als Verbrechen einordnen zu können. Hierin greift wiederum eine Exkulpationsstrategie, die beide ehemaligen SS-Angehörigen für sich bemühen: der Referenzrahmen. S. begründet sein Handeln einerseits mit seinem noch jungen Alter und vor allem mit dem Referenzrahmen des Krieges. Langleist ist zunächst weniger abstrakt bei den Gründen seiner Arbeit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Er gibt vor, sich zur kämpfenden Truppe an die Front gemeldet zu haben, dass ihm dies aber durch Vorgesetzte versagt wurde. Für die Erklärung seines Verhaltens im Lagergeschehen verfällt er nicht nur in die Begrifflichkeiten der nationalsozialistischen Ideologie und überträgt so das Setting des Krieges auf die Konzentrationsund Vernichtungslager, vielmehr bemüht er den soldatischen Ehrenkodex für sein Verhalten. Mit dieser soldatischen Moral versucht er nicht nur, seine angebliche Fürsorge glaubhaft zu machen, sondern natürlich auch das verhandelte Fehlverhalten zu rechtfertigen. Beide Männer konstruieren eine ›Ausnahmesituation‹ – der eine, S. gibt an, diese nicht erkannt zu haben, weswegen er nicht moralisch und juristisch richtig handeln konnte, der andere, Langleist benennt sie explizit und fordert deshalb eine Entlastung. Absolut divergent sind die Gnadengesuche hinsichtlich der geschilderten persönlichen Situation. S. stellt die Lebensumstände seiner Familie in den Vordergrund und versucht so, nicht mehr seine verurteilte Schuld, sondern die Folgen seiner Verurteilung als Beurteilungsgrundlage für eine mögliche Begnadigung zu etablieren. Langleist spricht nicht in einem Satz seine persönliche Lebenssituation an und verwendet auch keinen kommissiven Sprechakt.
4.11
Gnadengesuch eines weiblichen Funktionshäftlings, verurteilt durch das Landgericht Hamburg – Anneliese Margarethe Obry
Anneliese Margarethe Obry war von 1939 bis 1945 Häftling im Konzentrationslager Ravensbrück. Zum Ende des Krieges musste sie dann in einem der Außenlager von Neuengamme Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie verrichten. Dort wurde sie von der Lager-SS zum Funktionshäftling ernannt. Obry wurde am 11. Februar 1919 als Anneliese Margarethe Gyco in Stettin geboren. Als uneheliches Kind wuchs sie bis zu ihrem 15. Lebensalter bei einer Pflegefamilie in Starnberg auf. Ihre Pflegeeltern waren zum Zeitpunkt ihres Hamburger Verfahrens bereits verstorben. Während ihrer Ausbildung als Kellnerin heiratete sie mit 18 Jahren einen Berufssolda-
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
ten. Die Gestapo nahm Obry wegen ›Abhörens feindlicher Sender und Verbreitung dieser Nachrichten‹ fest. Nur kurze Zeit später, im Dezember 1939 wurde ihre Ehe geschieden. Anfang Januar 1940 wurde Obry dann ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Dort gebar sie ein Kind, das aber im Lager verstarb. Die Akten geben nichts Genaueres über den Tod des Säuglings bekannt. Gute vier Jahre später, im August 1944, kam Obry nach Beendorf.
4.11.1
Außenlager Helmstedt-Beendorf
Das Außenlager Helmstedt-Beendorf war ab März 1944 Teil des Neuengammener Lagerkomplexes. Offiziell wurde das Lager als »SS-Lager A 3« bezeichnet. Kommandant war Gerhard Poppenhagen.194 Die zunächst ausschließlich männlichen Häftlinge mussten bereits vorhandene unterirdische Hallen eines Salzbergwerks für die Rüstungsfertigung ausbauen. Die männlichen Häftlinge mussten in erster Linie Bauarbeiten erledigen, die Frauen hingegen waren bei der Fertigung der V1Rakete eingesetzt. Ab dem Frühsommer 1944 gehörten dann auch weibliche Häftlinge zum Außenlager. Wegen des zunehmenden Mangels an Arbeitskräften wurden aus dem Konzentrationslager Ravensbrück inhaftierte Frauen aus unterschiedlichen Nationen nach Beendorf gebracht. Anfang April 1945 wurde das Außenlager wegen der nahenden alliierten Truppen in Richtung Hamburg evakuiert. Die weibliche Häftlingsgesellschaft in Beendorf bestand zum großen Teil aus polnischen und ungarischen KZ-Häftlingen. Die Ungarinnen waren im Zuge der »UngarnAktion« des Jahres 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Diejenigen, die dieses Morden überlebt hatten, wurden nur wenige Zeit später in westliche Lager gebracht. Noch im Mai konnten zahlreiche ehemalige Häftlinge des Lagers dann mit Hilfe des schwedischen Roten Kreuzes über Dänemark nach Schweden gebracht werden.195 194 Gerhard Poppenhagen, geboren am 26. September 1909 und gestorben am 6. Januar 1984 in Hamburg. Der gelernte Kaufmann war zunächst bei der Kriminalpolizei, trat 1933 in SS und SD ein und war ab dem Jahr 1940 im Konzentrationslager Neuengamme tätig. 1946 wurde er durch ein Militärgericht der Briten zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das im Jahr 1975 angestoßene Ermittlungsverfahren in der BRD wurde zwei Jahre später wieder eingestellt. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Gerhard Poppenhagen, in: Offenes Archiv, http://media.offenes-archiv.de/ss2_1_7_bio_1963.pdf, abgerufen am 5.12.2019. 195 Björn Kooger zeichnet in seiner Dissertation über die Außenlager Beendorf und Morsleben ein detailliertes Bild über die unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort. Auch Anneliese Obrys Verfahren findet am Ende der Studie eine kurze Erwähnung im Kapitel über die juristische Ahndung von Verbrechen in den beiden Außenlagern. Björn Kooger, Rüstung unter Tage. Die Untertageverlagerung von Rüstungsbetrieben und der Einsatz von KZ-Häftlingen in Beendorf und Morsleben (Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 4), Berlin 2004. Hans Ellgers Studie konkretisiert die Häftlingssituation von Frauen mittels Interviews mitüberlebenden Frauen der Außenlager Neuengamme. Unter den in-
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
4.11.2
Hamburger Verfahren gegen Anneliese Obry
Anneliese Obry wurde mit ihrer Ankunft von der SS als Stubenälteste bestimmt. So war es ihre Aufgabe, als Funktionshäftling für die Reinigung der Unterkünfte und die Sanitäranlagen zu sorgen und die Verpflegung ihre Mithäftlinge zu überwachen sowie zu organisieren.196 Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe erhebt die Staatsanwaltschaft Hamburg folgende Anklage gegen sie und drei andere Frauen: »Sie werden angeklagt in den Jahren 1944/1945 durch jeweils mehrere selbstständige Handlungen als Aufseherin in dem Konzentrationslager Beendorf bei Helmstedt vorsätzlich weibliche Häftlinge mittels gefährlicher Werkzeuge körperlich mißhandelt und in der Tateinheit damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Gewalttaten aus politischen Gründen – begangen zu haben.«197 Konkret wurde Obry vorgeworfen, Mithäftlinge bei der Essensausgabe mit einem Stock oder einer Essenskelle geschlagen zu haben. Auch soll sie ihre Mithäftlinge mit einem Gummischlauch misshandelt haben. Die Verletzungen hierdurch waren so groß, dass Häftlinge ins Krankenrevier gebracht werden mussten. Zum Zeitpunkt der Verhaftung durch die deutschen Behörden lebte Obry mit ihrem Verlobten in Hamburg-Altona und hatte ein weiteres Kind geboren. Das Urteil von Anfang Februar 1948 sah die Vorwürfe als erwiesen an und verurteilte Obry zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe. Kritik am Hamburger Verfahren Auffallend ist die gleichzeitige Verhandlung von Verbrechen ehemaliger Funktionshäftlinge und SS-Aufseherinnen in ein und demselben Verfahren. Im Urteil greift das Gericht diesen Umstand auf, sieht aber keinen Grund, dies zu rechtfertigen. Das Gericht beurteilt die Situation der Funktionshäftlinge folgendermaßen:
terviewten Frauen waren 14 Überlebende des Außenlagers Helmstedt-Beendorf. Hans Ellger, Zwangsarbeit und weibliche Überlebensstrategie. Die Geschichte der Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Neuengamme 1944/45 (Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 8), Berlin 2007. Artikel der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zum Außenlager Helmstedt-Beendorf, https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/kzaussenlager/aussenlagerliste/helmstedt-beendorf-frauen/, abgerufen am 5.12.2019. Einen kurzen und informativen Überblick zur Geschichte des Außenlagers Helmstedt-Beendorf bietet auch Björn Kooger, Helmstedt-Beendorf, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 449-453. 196 B. Kooger, Rüstung unter Tage, S. 246f. 197 Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, 18.6.1947, StAA H, 213-11, Staatsanwaltschaft Landgericht, Nr. 09172/48.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
»Soweit die Angeklagten selbst Häftlinge waren, haben sie sich von keinerlei Mitgefühl für ihre Mithäftlinge leiten lassen, sondern sich bedenkenlos gegen diese gestellt, wie sie es von dem SS-Personal und deren hauptamtlichen Hilfskräften sahen. […] Im Laufe der Zeit sind ihnen jedoch die im KZ üblichen Prügelmethoden derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit hemmungs- und bedenkenlos zur Anwendung brachten.«198 Allerdings hindert diese Argumentation des Gerichts dasselbe nicht, im Falle der ehemaligen SS-Aufseherin Linke, die im gleichen Verfahren verurteilt wurde, genau diesen Grund der Habituation und des Referenzrahmens mildernd bei der Strafbemessung einfließen zu lassen. Im Urteil steht deshalb, dass Linke die »Behandlungen von Häftlingen, die sie täglich vor Augen hatte, einfach übernahm.«199 Die Situation von Funktionshäftlingen war dem Gericht offensichtlich bekannt. Trotzdem wird in befremdlicher Weise das Handeln der verurteilten SS-Aufseherin und das Handeln der ehemaligen weiblichen Funktionshäftlinge mit zweierlei Maß beurteilt. Was bei den Angehörigen des weiblichen SS-Gefolges als Entschuldigung gilt – gewalttätiges und unmenschliches Verhalten aufgrund von Habituation – wird im Falle der weiblichen Funktionshäftlinge vom Landgericht Hamburg wiederum als belastend ausgelegt. Das Gericht setzt die Situation damit zwar nicht gleich, doch beurteilt es die beiden völlig verschiedenen Täterschaften inadäquat. Ähnliches legt auch die Lektüre der Anklageschrift vom Juni 1947 nahe, die von den »Aufseherinnen« spricht, die sich durch Misshandlungen von Häftlingen strafbar gemacht hatten. Hier findet zunächst keine Unterscheidung zwischen Funktionshäftling und Aufseherin statt. Die charakterliche Beschreibung einer der Angeklagten als »Gewohnheitsverbrecherin«200 in der gleichen Schrift zeigt die fortwirkende moralische Kontinuität der nationalsozialistischen Weltanschauung als Beurteilungsrahmen für die Anklage auf.
198 Urteil des Landgerichts Hamburg, 2.2.1948, StAA H, 213-11, Staatsanwaltschaft Landgericht, Nr. 09172/48. 199 Anneliese Margarethe Obry, Gnadengesuch von 23.1.1949, StAA H, 213-11, Staatsanwaltschaft Landgericht, Nr. 09172/48. 200 Obry, Gnadengesuch, 23.1.1949. Allein der Blick auf die juristische Germanistik im Nationalsozialismus, die nicht nur kriegsbedingt, sondern vor allem durch die rassistische und diktatorische Politik der NS-Herrschaft ca. 50 Prozent ihrer VertreterInnen zwischen 1933 und 1945 verloren hatte, lässt erahnen, von welcher personellen Kontinuität die gesamte Nachkriegsjustiz geprägt war. Frank L. Schäfer, Von der Genossenschaft zur Volksgemeinschaft. Juristische Germanistik als Rechtsgeschichte während des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 132 (2015), S. 323-419, S. 413.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
4.11.3
Obrys Gnadengesuch
Ein Jahr nach diesem Urteil, am 23. Januar 1949, richtete Anneliese Obry ihr Gnadengesuch an die Staatsanwaltschaft Hamburg. Die Verurteilte verknüpft im ersten Satz ihres kurzen Gnadengesuchs zwei Formen von Sprechakten, einen direktiven Sprechakt mit einem auf das zukünftige Handeln bzw. Denken der AdressatIn ausgerichteten kommissiven Sprechakt: »Sie werden sicher erstaunt sein, über meine Bitte und meinen Entschluss, – es handelt sich hier um mein Gnadengesuch.«201 Ist der direktive Sprechakt hier noch sehr verhalten, so liegt das an der Schwerpunktsetzung der Schreibenden Obry auf den kommissiven Sprechakt, der die mögliche Reaktion der AdressatInnen benennt. Dieses Erstaunen, das sie bei diesen erwartet, eröffnet aber den Blick auf ihre Selbstwahrnehmung in Relation zu den Angesprochenen. Durch diese Sprachhandlung erkennt sie den Machtdiskurs sowie die asymmetrische Gesprächssituation an und signalisiert somit auch, das Urteil prinzipiell in seiner Rechtmäßigkeit nicht in Zweifel zu ziehen. Kurz gesagt, die AdressatInnen des Schreibens sollen milde gestimmt werden. Im folgenden Satz formuliert sie ihr Ansinnen dann aber explizit: »möchte ich Sie höflich bitten für mich ein Verstehen zu haben!«202 Vorgeschichte und Tatvorwurf Allerdings verbindet sie diesen Sprechakt mit einer Schuldzuweisung bzw. mit einer Einschränkung ihrer Schuldfähigkeit an den begangen Misshandlungen: »Da ich mich durch hinterlästige [hinterlistige] Personen habe hinreißen lassen und somit von 1939 bis 1945 ins KZ-Lager gehen mußte«.203 Sie thematisiert an dieser Stelle nicht die Zwangslage der Haft im Konzentrationslager und der dortigen Aufgaben als Funktionshäftling, die ihr durch die Lager-SS zugewiesen wurde. Ihre Sichtweise legt nahe, das Obry nicht über das Reflexionsvermögen verfügt, die Bestrafung zum Zeitpunkt der NS-Herrschaft zu bezweifeln, deswegen macht sie ihre Verführung durch andere zur begangenen ›Straftat‹ deutlich. Sie verknüpft dies aber nicht mit dem strafrechtlich relevanten Tatbestand der Denunziation, weil sie über diese Möglichkeit entweder nicht informiert ist oder weil die Verführung durch andere gar nicht stattgefunden hat. Den folgenden Abschnitt beginnt sie mit einem Sprechakt der Kategorie der Deklarativa: »Ich wurde für meine lange Lagerzeit und strafbaren Handlungen nun zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt!«204 Obry proklamiert somit implizit die Richtigkeit des Urteils. Andererseits
201 202 203 204
Obry, Gnadengesuch, 23.1.1949. Ebd. Ebd. Ebd.
4. Performatives Erzählen im Gnadengesuch
zieht sie durch die Verknüpfung der zweijährigen Haftstrafe und der Konzentrationslagerhaft wiederum die Rechtmäßigkeit in Zweifel. Offensichtlich sieht sie im Urteil des deutschen Gerichts eine weitere Bestrafung. Die Indifferenz ihrer Äußerung scheint somit typisch für ihre Vorgehensweise zu sein. Im Idealfall lesen die AdressatInnen die Aussage, die gelesen werden soll bzw. kann, und schlussfolgern im Sinne Obrys: Ohne eine Inhaftierung im Konzentrationslager wäre es auch nicht zu den ihr vorgeworfenen Handlungen gekommen und für die Haft im Konzentrationslager sind »hinterlästige Personen« verantwortlich. Obry versucht, sich somit als primär passive Person zu zeichnen, die durch zeitbedingte Umstände und andere Menschen in ihre missliche Situation gekommen ist, nicht aber durch ein eigenes Fehlverhalten. Allerdings will sie diesen Eindruck der Passivität nicht für das gesamte Schreiben aufrechthalten. So stellt sie richtig, »Ich bitte hier nicht, mich aus der Lage in der ich mich verstrickt habe heraus zu ziehen, sondern bitte um das Vertrauen zu mir. Auch gab es noch nie so viel Anlass zu meinen strafbaren Handlungen, wie gerade in der Zeit wie ich mich in dem großen KZ Lager befand.«205
4.11.4
Unterschiede zwischen dem Gnadengesuch von Obry und denen von SS-Angehörigen
Die äußeren Umstände, die überhaupt zu ihren Verbrechen geführten haben, bleiben im Zentrum, gleichzeitig personalisiert sie deutlich die verhandelten Straftaten und spricht in eindeutiger Weise von »meinen strafbaren Handlungen«. Dies formuliert sie dann auch unmittelbar aus: »Möchte damit nun nicht sagen, daß ich unschuldig bin, denn ich fühle mich in keinem Punkte schuldfrei.«206 Sie steht mit diesem klar formulierten Schuldeingeständnis im klaren Gegensatz zur Positionierung der SS-Angehörigen hinsichtlich ihrer Verbrechen. Auch zu ihrer Selbstdarstellung während der Lagerhaft, wo sie vor allem ihre Zwangssituation zentral stellt, kann sie sich nur als aktiv in ihrem Gnadengesuch darstellen. Sie zeigt sich verantwortlich, gleichwohl Handlungsalternativen für sie als Funktionshäftling kaum vorhanden waren. Die untersuchten Gnadengesuche der SS-Angehörigen führen ebenfalls die Umstände an, die zu ihrem Handeln führten. Allerdings schildern sie ihre Zwangslage in einer Weise, die eine Alternativlosigkeit vorgibt. Obry hingegen betitelt sich sehr direkt als schuldig. Wenn auch der »Anlass zu [ihren] strafbaren Handlungen« nicht weiter präzisiert wird, das Bewusstsein für ein falsches Handeln blieb dagegen bei allen drei zuvor analysierten Gnadengesuchen aus. Damit einhergehend stellt sie weder die Rechtmäßigkeit der Gerichtsverhandlung an sich noch die Richtigkeit des Urteils 205 Ebd. 206 Ebd.
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selbst explizit in Frage. Ihr Anliegen im Gnadengesuch ist es, Verständnis zu evozieren und durch ihr Schuldbewusstsein auch das angesprochene Vertrauen bei den AdressatInnen zu erzielen. Dementsprechend ist ihr Ziel nicht, einen Straferlass oder Freispruch mit ihrem Gesuch zu erzielen, vielmehr liegt dem eine ganz pragmatische Kausalität zugrunde: »Auch möchte ich hinzufügen, daß ich mein kleines Kind von zwei Jahren in einem Kinderheim untergebracht habe und bitte Sie nun so sehr ich kann, meines lieben Kindes wegen mir die Strafe auf Bewährung zu erlassen.«207 Hinter diesem kommissiven Sprechakt steht nicht nur die einfache Handlungsabsicht, sich in Zukunft (weiterhin) um ihr Kind zu sorgen, sondern Obry markiert so ihre soziale Rolle als fürsorgende und liebende Mutter. Dieses Bild soll in den Vordergrund rücken und ihre verhandelte Position eines schlagenden Funktionshäftlings ablösen. So thematisiert sie am Ende ihres Gnadengesuchs die Veränderungen ihrer gegenwärtigen Situation, die einen neuen Ausgangspunkt für das Entscheiden der AdressatIn liefern soll. Hier ist somit das Ziel nicht, ein performatives Bild der Unschuld zu erwirken, sondern eine andere Assoziation und Kausalität in Bezug auf den Charakter der Person der Verurteilten zu erzielen, da gegen den Wunsch, der mütterlichen Fürsorgepflicht nachzukommen, weder moralisch noch rechtlich etwas einzuwenden ist. Dabei wirft sie aber in keinem Fall das Stereotyp auf, eine fürsorgende Mutter wäre zu den von ihr begangenen Verbrechen gar nicht in der Lage. Durch die Kürze des Gnadengesuchs, dem umstandslosen Eingeständnis der eigenen Schuld und dem klaren Schwerpunkt auf die Sorge um das Kind, vermittelt durch die performativen Sprachhandlungen, erscheint Obry hier durchaus als vertrauenswürdig bzw. glaubwürdig.
207 Ebd.
5. Resümee und Ausblick
Die vorliegende Arbeit, deren Ausgangpunkt die Beschäftigung mit der Narration nationalsozialistischer Verbrechen durch ihre Verursacher1 vor Gericht war, verfolgte zwei Ziele: Erstens wollte sie der Geschichtswissenschaft eine neue Methodik der Quellenkritik demonstrieren, zweitens sollten erzähltheoretische Überlegungen, die bisher nur auf literarisch-fiktionale Texte angewandt wurden, auf ihre Tauglichkeit zur Beantwortung drängender Fragen des faktualen Erzählens (vor Gericht) angewandt werden. Der zweite Ansatz und gleichzeitig der erste Anlass für diese Arbeit befasste sich mit den beiden Komplexen Quellenkritik und Erzähltheorie: Die vorliegende Arbeit wandte also erzähltheoretisches Analyseinstrumentarium auf vorprozessuale Schreiben, Aussagen während der Hauptverhandlungen und Gnadengesuche von Beschuldigten, Angeklagten bzw. Verurteilten in Verfahren, die sich mit Verbrechen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern befassten, an. Die Diskussion über narratologische Belange war in der Geschichtswissenschaft bisher primär durch den Streit um die Frage der Historiografie als literarische Gattung geprägt. Der Lingustic Turn, Cultural Turn und letztlich der Narrative Turn ermöglichen aber jenseits der Frage nach dem ›Grad‹ der Fiktionalität von Geschichtsschreibung eine »Entdeckung und Freilegung neuer Gegenstandsbereiche«2 . Dieser Gegenstandsbereich ist der narrative Charakter von (zeit-)historischen Quellen, deren besonderer Aussagewert und eine dementsprechende systematische Methodik für eine Auswertung. Diese Methodik liefert die Erzähltheorie. In der Folge hat die historische Forschung sich »nach und nach wieder stärker den Perspektiven der erzählenden Genres angenähert«3 . Eine Analyse von vorprozessualen Stellungnahmen, Aussagen in Hauptverhandlungen und Gnadengesuchen
1 2
3
Die Terminologie der Täterschaft wird hier bewusst gemieden, da sich unter den analysierten Quellen auch die Aussagen von Funktionshäftlingen befinden. Diese beiden Punkte, Entdeckung und Identifizierung, macht Bachmann-Medick jenseits des interdisziplinären Arbeitens als Voraussetzung jeglichen turns fest. D. Bachmann-Medick, Cultural Turn, S. 26. Dirk van Laak, Jenseits der Erzählung. Die Frage nachder Form in Literatur und Geschichte, in: Neue Rundschau 129 (2018), S. 8-18, S. 12.
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von Angeklagten mit erzähltheoretischen Mitteln ermöglicht einen subjektorientierten Umgang mit Quellen und kann so »Bewusstseinstrukturen«4 offenlegen. Das hier vorgenommene close-reading ermöglicht einen differenzierten und objektiven Blick auf die jeweils Erzählenden. Das ist vor allem möglich, weil die hier mittels literaturwissenschaftlicher Methodik analysierten Quellen nicht die Frage nach Fiktionalität und Faktualität berühren. Zentral ist vielmehr der Anspruch der Aussagenden, die Wirklichkeit zu erzählen bzw. das Erzählte als Wirklichkeit darzustellen. Das ohnehin signifikant hohe Maß an Konstruktionscharakter von Erzählungen bzw. Aussagen in juristischen Verfahren verstärkt sich im Falle der hier untersuchten NSG-Verfahren, weil sie Teil der Übergangsjustiz (Transitional Justice) sind: Handlungs- und Erzählgegenwart fanden nicht einfach nur zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt statt, sondern waren darüber hinaus Teil eines anderen rechtlichen und moralischen Systems. In der Folge mussten die Erzählenden eine moralische Lücke in ihren Narrativen überwinden, die oftmals konflikthaft von einer moralischen Parallelität geprägt war. In der Folge dieses Brückenschlags tritt in den umfassenden vorprozessualen Stellungnahmen der Beschuldigten das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens auf. Die Diagnose auf eine unzuverlässige Erzählerin bzw. einen unzuverlässigen Erzähler findet sich im vorliegenden Korpus auf drei Ebenen. Erstens auf der inhaltlichen, was durch ein Überprüfen von Fakten verifizierbar ist und somit weitgehend der bisher praktizierten Quellenkritik in der Geschichtswissenschaft entspricht. Zweitens sind die Erzählenden Teil der Erzähl- und Handlungsgegenwart. Erinnernd rekonstruieren sie die Vergangenheit aus ihrer Perspektive. Das Erzählte ist auch deshalb unzuverlässig. Drittens erzählen die Beschuldigten nicht immer glaubhaft, weil sie durch bestimmte Werte und Normen geprägt sind. Unterschiede in der erzählerischen Gestaltung ihrer Unzuverlässigkeit finden sich im Vergleich von hohen und niedrigen Diensträngen von ehemaligen SS-Angehörigen. Wider Erwarten sind es gerade die rangniedrigeren Beschuldigten, die mit deutlich höherer erzählerischer Motivation eine Zwangslage und einen Befehlsnotstand glaubhaft vermitteln wollen. Die ehemalige Angehörige des weiblichen SS-Gefolges Wally K. verfasste eine vorprozessuale Aussage, die in ihrer Form und den erzählerischen Merkmalen einer Erlebniserzählung aus der Schule gleicht. Immer wieder stellt sie sich in der Handlungsgegenwart als beobachtende Teilnehmerin und als Opfer der Umstände dar. Szenische Raumwechsel, evaluative und generalisierende Äußerungen und Erzähldramatisierungen prägen ihr Schreiben in einem hohen Maß. Der Beschuldigte Ludwig W. wiederholt den Wahrheitsanspruch für seine Schilderung und gestaltet diese sprachlich vor allem, wenn er unter erhöhtem 4
Peter Schöttler, Nach der Angst. Geschichtswissenschaft vor und nach dem ›linguistic turn‹, Münster 2018, S. 211.
5. Resümee und Ausblick
Rechtfertigungsdruck steht. Eine moralische Konfliktsituation gab es für Wally K. und Ludwig W. nicht, da sie – aus ihrer Sicht – auf der ›richtigen‹ Seite standen. Der im Vergleich ranghöhere SS-Angehörige Dr. Fritz Hintermayer bemüht die Konstruktion des Referenzrahmens und legt dies mit einem vermeintlich faktisch korrekten Bericht dar, in dem er mögliche Tatvorwürfe zu entkräften versucht. Entsprechend ist sein Erzählen von Passiv- und von ›wenn-dann‹-Konstruktionen geprägt. Letztere geben ein Bewusstsein für ein anderes mögliches Handeln vor, gleichzeitig setzen sie aber sein tatsächliches Handeln und seine Kausalitäten absolut. Er betont so vor allem die Alternativlosigkeit seines Handelns. Die Existenz von Konzentrationslagern oder den Nationalsozialismus an sich stellt er dagegen zu keinem Zeitpunkt in Frage. Im Falle des ehemaligen Funktionshäftlings Franz Diep. ist die geringe sprachliche Ausgestaltung auffallend, die im Gegensatz zum pathetisch tragenden und emotionalen Erzählen der TäterInnen steht. Er legt vor allem seine Zwangssituation als Kapo ausführlich dar, betont durch die klare Befehlshierarchie – er wurde zu einem Funktionshäftling gemacht –, dass sein Handeln nicht auf freiwilligen Entscheidungen basierte. Die fragmentarische Selbsterzählung, entworfen in den ›Gesprächen‹ zwischen den Prozessbeteiligten in den Hauptverhandlungen, ist keine geschlossene Erzählung wie das vorprozessuale Schreiben oder das Gnadengesuch. Sie ist durch die Prozessdynamik geprägt, weswegen die Angeklagten Erzählskripten folgen, die von gedanklichen Landkarten, aber vor allem von mentalen Erzählskripten getragen werden. Ihre Aussagen vor Gericht sind also von einem strategischen Erzählen geprägt, indem sie argumentativ ihre Positionierung darlegen, emotional erzählen und so das Ausmaß ihrer Handlungsmächtigkeit in der Handlungs- und Erzählgegenwart präsentieren. Im Falle des amerikanischen Verfahrens kommt die Form des Kreuzverhörs hinzu, die die Angeklagten zu einem Wiedererzählen der Ereignisse zwingt. Im Gegensatz zum Dachauer Hauptverfahren können die Angeklagten des österreichischen Volksgerichts im Laufe der Hauptverhandlungihren biografischen Werdegang erzählen. Franz Dop. macht so das Schicksalhafte seines Lebensweges deutlich: Nach seinen Aussagen war er nie in der Position, seinen Lebensweg frei bestimmen zu können. Der ehemalige Funktionshäftling Franz Diep. dagegen stellt seine politische Orientierung und seine Vorgeschichte als Soldat in der Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg und der Fremdenlegion zentral. Beide präsentieren diese biografische Prägung als alleinige Ursache für ihre Zeit im Konzentrationslager, was im Falle des Funktionshäftlings auch richtig ist. Bei Franz Dop. steht aber sein freiwilliger Beitritt zur Waffen-SS dazu im Widerspruch. Der angeklagte Tropenmediziner Klaus Schilling erzählt im Dachauer Hauptprozess von sich als einem Wissenschaftler bzw. Mediziner, dem alle Mittel recht sind, wenn diese dem Zweck seiner Forschung dienlich sind. Die erzählte Gewissenhaftigkeit bei seiner Forschung steht dabei in einem klaren Widerspruch zur Gewissenlosigkeit gegenüber den Menschenleben, die seine medizinischen Versu-
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che forderten. Die Summe seiner Aussagen erinnern an einen verrückten Monologisten, auch weil Schilling seine Sicht absolut setzt. Im Falle des angeklagten Funktionshäftlings Franz Diep. fällt jenseits seiner berichteten politischen Orientierung auf, dass auf seiner dargestellten gedanklichen Landkarte das politische System und die Unmenschlichkeit des Konzentrationslagers, in dem er sich in der Rolle als Funktionshäftling nur schuldig machen konnte, keine große Rolle spielt. Das Gnadengesuch der Verurteilten zielt auf eine performative Handlung der AdressatInnen ab und weist dementsprechende Sprechakte auf. Sie legen so Zeugnis ab, formulieren Ausreden für ihr damaliges Verhalten und versuchen ihr ›Gegenüber‹ zu manipulieren. Nur mit dem Ziel, performativ zu erzählen, können die um Gnade ersuchenden verurteilten Männer und Frauen sprachlich Wirklichkeit konstituieren. Die Gnadengesuche und ihre mögliche Performativität muss auch im Zusammenhang zu Machtdiskursen gedacht werden, auf die die Verurteilten verändernd einwirken wollen. Alle Gesuche wollen die Gründe ihrer Verurteilung in den Hintergrund rücken und ihre eigene gegenwärtige Situation – wie auch die ihrer Familien – in den Vordergrund rücken. Eine Ausnahme bildet allerdings das Gnadengesuch des im Dachauer Hauptprozess zum Tode verurteilten Walter Adolf Langleist. Angesichts der unmittelbaren Festnahme und der wenige Monate später folgenden Verurteilung kann er nur schwer eine veränderte persönliche oder familiäre Situationglaubhaft machen. Stattdessen formuliert er wiederholt, sich für unschuldig zu halten. Im Gegensatz dazu stehen die vier an unterschiedliche AdressatInnen gerichteten Gnadengesuche des verurteilten Österreichers Michael S. In seinen Schreiben betitelt er sich zwar als schuldig, allerdings externalisiert er verstärkt die Gründe für seine Taten von Gesuch zu Gesuch. Die Verurteilte Wally K. orientiert ihr kurzes Ersuchen um Gnade an die Staatsanwaltschaft primär an ihrer gegenwärtigen Situation und an der ihrer kranken Eltern. Die geringe erzählerische Motivation lässt sich auf die nur noch kurze Reststrafe zurückführen. Hinsichtlich eines Schuldempfindens fällt in Anneliese Obrys Gnadengesuch das explizite Schuldeingeständnis auf, das sie auch nicht zunehmend relativiert, wie Michael S. dies vollzogen hatte. Auch die Rechtmäßigkeit von Verfahren und Urteil zieht sie nicht in Zweifel, stattdessen wählt sie den Weg, mittels Expressiva die AdressatInnen zur positiven Entscheidung über ihr Gnadengesuch zu bewegen. Grundsätzlich lassen sich keine Unterschiede zwischen den Erzählenden aufgrund ihres Geschlechts feststellen. Anders verhält sich dies im Falle der Zugehörigkeit zu einem höheren – bei den hier untersuchten Fällen sind dies die Angeklagten des Dachauer Hauptverfahrens – bzw. zu einem niedrigen Dienstrang. Es sind die rangniedrig Stehenden, die eine höhere erzählerische Motivation aufweisen. Den Angeklagten des Dachauer Hauptverfahrens war zumeist klar, dass eine Verurteilung zum Tode bevorsteht, weswegen ihre Darstellungen informativ, sachlich und berichtend sind, aber kaum emotionales Erzählen aufweisen. Die Möglich-
5. Resümee und Ausblick
keit, durch emotionales und ein rhetorisch stark ausgestaltetes Erzählen Einfluss auf die AdressatInnen zu nehmen, nutzten vor allem die rangniedrigen Frauen und Männer. Das sachliche, distanzierte Erzählen ist auf den ersten Blick vor allem dem Erzählen der Funktionshäftlinge ähnlich. Der zweite Blick offenbart aber, dass die Funktionshäftlinge nicht die Chuzpe der ehemaligen SS-Angehörigen besitzen, für ihre Aussagen einen Status als Experten zu reklamieren, sondern eine erzählerische Distanz aufweisen, weil sie im Gegensatz zu den SS-Angehörigen nicht ursächlich verantwortlich für die Verbrechen waren. Die erzähltheoretische Methodik habe ich auf die Aussagen von TäterInnen und Funktionshäftlingen angewandt, nicht auf die ZeugInnen. Abgesehen von den Funktionshäftlingen besteht im Falle der TäterInnen die Gefahr der Wiederholung und deshalb eine besondere Dringlichkeit, deren Bewusstseinsstrukturen zu eruieren. Aber gerade die Akten des amerikanischen Militärgerichts von Dachau, das vor der Vernehmung der Angeklagten die ZeugInnen der Anklage vernahm, demonstriert das Erkenntnispotential einer narratologisch motivierten Analyse der ZeugInnen vor Gericht. Aber auch ein diachroner Vergleich von NSG-Verfahren wäre denkbar. Der Eichmann-Prozess von Jerusalem, die Frankfurter AuschwitzProzesse und auch die beiden jüngsten Beispiele wie die Verfahren gegen John Demjanjuk in München und gegen Oskar Gröning vor dem Lübecker Landgericht wären denkbare Beispiele. Die Methodik selbst und vor allem ihr Erkenntnispotential sind also noch nicht ausgeschöpft.
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Von NS-Konzentrationslagern erzählen
rinnen des Frauen-KZ Ravensbrück (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 17), Berlin 2007, S. 171-184. Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1934-1938 (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 39), Boppard/Rhein 1991. Johannes Tuchel, Planung und Realität des Systems der Konzentrationslager, in: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Göttingen 1998, S. 43-59. John Tulloch, Performing Culture. Stories of Expertise and the Everyday, London, Thousand Oaks, New Delhi 1999. Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969. Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016. James Waller, Becoming Evil. How Ordinary People Commit Genocide and Mass Killing, New York 20072 . Sigrid Weigel, Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von ›identity politics‹, juristischem und historiographischem Diskurs, in: Rüdiger Zill (Hg.), Zeugnis und Zeugenschaft. Jahrbuch des Einsteinforums 1999, Berlin 2000, S. 111-135. Annette Weinke, »Alliierte Angriffe auf die nationale Souveränität«? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich, in: Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 4), Göttingen 2006, S. 37-93. Niels Weise, Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, München 2013. Thomas Weitin, Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, Paderborn 2009. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt a.M. 20115 . James M. Wilce, Language and Emotion (Studies in the Social and Cultural Foundations of Language, Bd. 25), Cambridge 2009. Willem J. Witteveen, Cicero tells a story. On narration and rhetorical reflection, in: Bruce L. Rockwood (Hg.), Land and Literature Perspectives (Critic of Institutions, Vol. 9), New York 1996, S. 427-444. Stephan Wolff, Hermann Müller, Kompetente Skepsis. Eine konversationsanalytische Untersuchung zur Glaubwürdigkeit in Strafverfahren, Opladen 1997. Tamar Yacobi, Narrative and Normative Pattern. On Interpreting Fiction, in: Journal of Literary Studies 3 (1987), S. 18-41.
6. Literaturverzeichnis
Stanislav Zámeĉník, Dachau-Stammlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 2. Frühe Lager: Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 233-274. Stanislav Zámeĉník, Das war Dachau, Frankfurt a.M. 20072 . Elisabeth Zschache, Narrative Identität. Zur intersubjektiven Dimension narrativer Identitätskonstitution, Berlin 2015. Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft (Rowohlts Enzyklopädie), Hamburg 2005. Ruben Zimmermann, Verschlungenheit und Verschiedenheit von Text und Geschichte. Eine hinführende Skizze, in: Christof Landmesser, Ruben Zimmermann (Hg.), Text und Geschichte. Geschichtswissenschaftliche Beiträge zum Faktizität-Fiktionalitäts-Geflecht in antiken Texten (Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 46), Leipzig 2017, S. 9-51.
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Dank
Der vorliegende Text wurde im November 2018 als Dissertation an der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereicht und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Meinen beiden Betreuern, Prof. Dr. Achim Aurnhammer und Prof. Dr. Frank L. Schäfer möchte ich für ihre inhaltliche und organisatorische Unterstützung, Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft, Offenheit und Vertrauen ganz herzlich danken. Ein ganz besonderer Dank geht an Prof. Dr. Bettina Bannasch und PD Dr. Edith Raim, die meine Projektidee entschieden unterstützt haben. So konnte die Arbeit letztlich unter idealen Bedingungen am Graduiertenkolleg »Faktuales und fiktionales Erzählen« entstehen. Der regelmäßige Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen sowie die Unterstützung durch die Sprecherin des Graduiertenkollegs Prof. Dr. Monika Fludernik waren ein wichtiger Beitrag zum Gelingen meines Vorhabens. Zudem hat das Graduiertenkolleg die Drucklegung der Arbeit durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert. Ein EHRI-Fellowship im Frühjahr 2017 ermöglichte mir einen Forschungsaufenthalt am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien. Dr. Theresia Dingelmaier sowie Dr. Anna-Raphaela Schmitz danke ich für ihr sorgfältiges Korrekturlesen und den regelmäßigen Austausch während des Schreibens. Meinen Freundinnen und Freunden Miriam Hannig, Dr. Johanna Hartmann, Silvia Kaufhold, Kiem Chinh Lai, Dr. Susanna Layh, Katharina Pfeiffer, Katharina Piper, Susanne und Jürgen Unger danke ich für die Zerstreuung, ihr offenes Ohr und ihre Hilfe bei kleinen und größeren Unwägbarkeiten. Zuvorderst möchte ich aber meinen Eltern danken, ohne deren vorbehaltlosen Rückhalt und ständige Ermunterung dieses Buch nicht gelungen wäre.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
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Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
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Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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