Von der Gotthardstraße bis zum Montblanc


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Table of contents :
Front Cover
Melchior von Wiesenflur
Amsteg Maderanerthal - Pfaffensprung
Gotthardstraße - Unerfüllte Wünsche - Apo-
Rückblick auf Uri
Der Furkapaß - Die Wasserscheide nach
Die Maienwang - Der todte See
Besteigung des Sidelhorns - Bergbeherr-
Wanderung durch's Oberhaslithal — Handeck
Das Berner Oberland, das non plus ultra
Fahrt nach Brienz Char à - banc mit
Das Schwingenfest in Brienz - Volksidylle
scher - Englischer Garten im erhabensten
Riesen sezen ihre Nebelkappen auf und alle
Wanderung nach Grindelwald - Der untere
Haller hat ewig Recht
Vereitelte Wanderung über die Wengernalpe
Interlacken, das Paradies Helvetiens
Das Thuner Bödelein Niesen und Stock-
hinaus - Monterosa und Montcervin
Das Rhonethal oder Wallis mit seiner
Der Gemmiſteig - Sonst und jekt -
Martigny im allgemeinen Überblicke
Das Chamounithal in der Vogelperspektive
Geognostischer und plastischer Überblick
Südlicher Abhang des Col de Balme
Le Prieuré im Überblicke - Sonst
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Von der Gotthardstraße bis zum Montblanc

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Spaziergang durch die Alpen vom

Traunstein zum Montblanc.

Von

Eduard Silestus. 0001

Zweiter Theil. (Von der Gotthardsstraße bis zum Montblanc.)

1614

Wien.

Druck und Verlag von Carl Gerold. 1844.

W /64/2012

Walter chultze Dr. phil. >>>Reisen ist Leben und Leben ist Reisen. « Jean Paul.

Inhalt.

Seite

XLIV. Melchior von Wiesenflur.

Altdorf.

Erinnerung an Tell. - Schächenthal und Bürglen.- Attinghausen.- Erstfelden.

Silinen.

Twing - Uri

1

XLV. Amsteg. Maderanerthal. - Pfaffensprung. Göschinen. Wasen. Maienthal. Teufelsbrücke. - Urnerloch.Schöllinen. Urserenthal. - Andermatt

12

XLVI. Gotthardstraße. - Unerfüllte Wünsche. - Apologie Goethe's, des Topographen und ReisebeHospital. schreibers. Zum Dorf. -

Realp

26

XLVII. Alpenpanorama.

Rückblick auf Uri und

dessen Bewohner. - Alpenmährchenpoesie XLVIII. Der Furkapaß. - Die Wasserscheide nach We

36

sten. - Der Rhonegletscher und seine Wunder. -

Die blaue Eisgrotte und der Rhoneur-

sprung. Wallis

-

Das oberste Haus im Canton 49

IV

Seite

XLIX. Die Maienwang. - Der todte See.

Das 62

Grimselhospiz und seine Umgebung

L. Besteigung des Sidelhorns. - BergbeherrVerewigung in einer Flasche. - Die phantastische Rutschpartie. – schende Aussicht.

-

Auf Bergen ist Elysium LI . Wanderung durch's Oberhaslithal.— Handeck. Der Aar- und Ärlenbachfall und seine ro-

72

mantischen Reminiszenzen. - Die hochciviliGuttanen.

firte Alpenhütte. Grund und Hof.

Boden. -

Hospitalität.

nung aus dem irdischen Paradiese.

BegegMeiBier-

ringen , das schweizerische Zillerthal. Der schöne Schluß des schönen symposion. 80

Reisetages.

LII. Das Berner Oberland, das non plus ultra Gedankenflug durch dies der Schweiz. -

=

Paradies

98

LIII. Fahrt nach Brienz Char à- banc mit der Wiesenflurschen Familie.- Der Gießbach, eine Goethe'sche Naturpoesie. - Die Natursänger. Vorbei , vorbei des Lebens Mai

104

LIV . Das Schwingenfest in Brienz. - Volksidylle im niederländischen Style. - Dorf Iseltwald. Der Tanzboden und Vereinigung im Tode

120

Seite

LV. Die Reichenbachfälle. - Der Rosenlauigletscher. - Englischer Garten im erhabensten Style.

-

Die Riesen des Oberlandes .

Die große Scheideck. - Das Wetterhorn. Non plus ultra eines schönen Alpensteiges. Die Grindelwaldgletscher in der Vogelperspektive.

Alpenkolonie.

-

Stillleben

der Rindviehwelt. - Regionen des ewigen

Schnees. - Höchste Menschenbehausung in Europa.- Geschichte der Faulhornwirthschaft. - Antichambriren vor dem Allerheiligsten der Table d'hôte über der SchneeNatur. ‫م‬

linie.

Die liebe Irländerfamilie. - Freier

: Blick in die Gottesherrlichkeiten der Welt LVI. Panorama auf dem Faulhorngipfel. - Die Riesen sezen ihre Nebelkappen auf und alle

131

Lebensfarben erblassen. - Englische Spiele-

Der Abend und die Nacht.

-

reien.

Vergleichung mit dem Gamskarkogel und der Rigi

147

LVII. Wanderung nach Grindelwald.- Der untere

Gletscher und seine Umgebung.

Überblick

in das Grindelwaldländchen und auf seine Bewohner. - Der obere Gletscher und seine Eisgrotte. - Besteigung des Mettenberges durch den Pfarrer zu Grindelwald. -- Natur-

VI Seite

wunder des Gletscherwachsens . Haller hat ewig Recht

Der alte J

165

LVIII. Vereitelte Wanderung über die Wengernalpe.

Das Lauterbrunnenthal, das zauberischeste

-

Die Hunnensluh. - Der in der Schweiz. Staubbach und die unzähligen anderen »lau-

Phantasiesflug in das teren Brunnen.« Allerheiligste des Thales zum Schmadrifalle.183

Träume bis Interlacken



LIX. Interlacken, das Paradies Helvetiens.

-

Das

Hochbühl und seine nächste Umgebung. Unterseen. - NeuSeefahrt nach Thun. haus. - Kurze Schilderung der malerischen Ufer mit ihren historischen und fabelhaften Beatenberg - Beerau.

Erinnerungen.

Thun und sein Gottesacker LX. Das Thuner Bödelein. Niesen und StockDas Kienhorn. - Das Frutigenthal. Die Tellenburg. Frutigen. thal. -

Das Kanderthal. Die Felsenburg.

Abendphantasmagorie. Kandersteg. - Das

-

Öschinenthal. Wanderung Gemmi. Das Üschinenthal. -

-

Clus.

nach dem Der Paß

Das Gasternthal. - Schwarenbach,

der Schauplak von Werners 24. Februar. Der Gemmipaß. Der Daubensee.

-

-

198

VII

Seite

Prachtpanorama in die penninische Alpenwelt hinaus. - Monterosa und Montcervin. Rückblick auf die Berner Hochwelt LXI. Das Rhonethal oder Wallis mit seiner Na-

221

tur- und Menschenwelt im allgemeinen Überblicke

244

LXII. Der Gemmiſteig. - Sonst und jekt. - Die Leuker - Bäder und ihre Umgebung. - Der Dalaschlund. - Inden vor 60 Jahren und jekt. - Aussicht bei der Kapelle. - Markt Leuk. Fahrt bis Martigny. Sierre und =

Sion. - Nächtliche Abenteuer . LXIII. Martigny im allgemeinen Überblicke.

255

Um-

La= gebung und Ausflüge von dort aus. Altrömische Markt Martigny. Die Forclas. - GötterWasserleitung.

badia.

-

-

aussicht. Fort de Trient. - Trostlose Lage von Trient. Balme .

-

Tête noire und Col de

Chalet des herbagères . Der Auberge du Col de Balme. -

-

Montblanc

LXIV. Das Chamounithal in der Vogelperspektive. -

Polemik gegen Sauſſure. - Des Thales Vor= zeit, späte Entdeckung und noch spätere Be-

rühmtheit. - Saussure und seine unsterbSchweiz und Savoyen.

lichen Verdienste.

275

VIII

Seite

Geognostischer und plastischer Überblick über Chamouni (das Gemsenthal) LXV. Südlicher Abhang des Col de Balme.

291

-

Unglücksfall daselbst im Jahre 1791. - Le

Tour. - Aiguille und glacier d'Argentière und gleichnamiges Dorf. - Les Isles . Les Tines . Les Prés .

Prieuré.

Glacier des Bois .

Polemik gegen Goethe. - Le

>>Wenn ich ein Vöglein wär' !« 306

LXVI. Le Prieuré im Überblicke.

-

Sonst und

jekt. - Eigennuß, der Haupthebel der Gegenwart. - Nähere Charakteristik des Thals Kristallgräber und und seiner Bewohner. Gemsenjäger. Excursionen von Chamouni Reise um den Montblanc. -Seine aus. Besteigung zu widerrathen

315

XLIV.

Melchior von Wiesenflur. - Altdorf. - Erinnerung au Tell. - Schächenthal und Bürglen. AtErstfelden. Silinen. Twingtinghausen. -

-

Uri.

Das Dampfschiff , Stadt Luzern , das mich von der gleichnamigen Stadt herüberspedirt , hatte mit meinen Reisegefährten wieder den Hafen verlassen ; die Eilpost war mit knallender Peitsche , von Reisenden über-

füllt , an mir vorbeigerasselt ; ein ganzer Zug von leichteren und schwereren Fuhrwerken war an mir vorüber= geflogen und gefahren; viele leichte Fußgänger , welche ihr Felleisen nicht so schwer drückte, wie mich mein zwan-

zigpfündiges , waren an mir vorübergeſchlendert - und noch immer stand ich - dem Standbilde auf dem Alt= dorfer - Brunnen nicht unähnlich , mit verschränkten Beinen und Armen vor dem Wirthshause am Hafen. Aber =

wann die Noth am größten , ist auch die Hülfe am nächſten. Da trat ein junger Mann mit einnehmenden Zügen vor mich hin und bot sich mir um billigen Preis (sechs französische Franken für den Tag) als Führer und Träger über die Furka , die Grimsel und das ganze Ber-

ner Oberland an. Sein Büchlein (wie es hier alle seines II.

1

2

Metiers in Form unserer Wanderbücher mit sich führen) enthielt treffliche Zeugnisse ; mehr traute ich noch dem Paßsignalement , das ihm Gott Vater selbst in die Phy= ſlognomie eingeschrieben, und wahrlich, ich hatte mich nicht an ihm betrogen: er war ein guter , treuer , verläßlicher Führer , und was noch mehr , er war ein lieber Mensch,

der mich einsam in die Welt Hinausgestellten wieder mit meines gleichen in Verbindung brachte. Ach ! dabei habe ich mehr für's Leben gelernt, als hätte ich einen Lehr-

kurs nicht nur über Moral in genere, sondern über Philantropie in specie bei dem besten Dozenten gehört und die besten Excerpten nachgeschrieben. Darum lebe hoch Melchior von Wiesenflur - so nannte sich mein wackerer Führer - obgleich er mir seinen Adelsbrief nicht vorgewiesen. Nirgends auf Erden wäre derselbe aber auch weniger an seinem Plaze gewesen , als hier in dem

ersten und ehrwürdigsten der Ur-Cantone , dem wahren Herzen und Mittelpunkte der Schweiz , sowohl in geogra= phischem , als auch in höherem Sinne des Wortes. Der Hauptort Uris nämlich, der stattliche Markt Alt-

dorf , dem wir uns nun in starken Schritten näherten, liegt in der That (so wie etwa Meran und das Stammschloß Tirol in dem gleichnamigen wackeren Alpenlande) am meisten inmitten der Schweiz - und die Urner gründeten , der alten Tradition nach , schon um das I. 398 n. Chr. unter Kaiser Theodosius den ersten helvetischen

Freistaat, mit dem wegen geleisteter wichtiger Dienste von Seite dieses Kaisers und in der Folge angeblich auch von

3

Karl dem Großen bestätigten schönen Privilegium :

"

keine

Steuern hiefür an das Reich zu entrichten und nach eigenen Gesezen zu leben" . Im Jahre 1143 traten hierauf die freien Männer vou Uri , Schwyz und Unterwalden zu dem ersten schwei-

zerischen Bündnisse zu Schuß und Truk zusammen , welches Bündniß, in den folgenden Jahrhunderten durch bekannte Ereignisse niedergedrückt , aber nicht gesprengt , im Jahre 1308 schöner wieder auflebte und , in einer weiteren Folge von Jahrhunderten die Nachbar-Cantone all-

mälich in sich ausnehmend, selbst den weltverheerenden und thronenumstürzenden Sturm aus Frankreich herüber urkräftig und gottbeschirmt bestand, und nunmehr so segenvoll fortblüht. Hier wurzelt also die heilige Ciche , deren Gezweige sich so frisch und lebenskräftig über das ganze schöne Schweizerland hin verbreiten. Eine kleine halbe Stunde hinter Flüelen auf einer freien luftigen Wiesenfläche dahinwandelnd, die sich , von ernsten Riesenbergen umbaut , zuletzt zum Thale verengt, betraten wir Altdorf, den Hauptort dieses Hirten-Cantons, am Eingange in's Reupthal herrlich gelegen. Schade,

daß der Übersichtspunkte dieser herrlichen Lage nicht viele sind und dieselben durch die Mauern längs der Straße noch mehr beschränkt werden ! Ein bequem erreichbarer befriedigender Standpunkt dafür ist jedoch zunächst bei dem auf ziemlicher Höhe über der Ortschaft gelegenen Kapuzinerkloster und von dem daneben stehenden Pavillon Waldeck , wo früher ein alter Thurm stand , welchen 1 *

4

Tschudi für einen Überreſt jenes altberühmten Zwinguri hielt , womit Geßler die Schweiz bändigen wollte , wofür andere aber die Ruine bei Amsteg halten. - Besonders erfreulich ist von hier aus der Anblick des stattlichen Mark-

tes-wie man in allen übrigen Ur-Cantonen keinen ähn= mit seinen geräumigen reinlichen Straßen, lichen sieht -

meist ansehnlichenHäusern, mitunter in italienischem Style, mit seinen artigen Anlagen , Gärten , Kirchen , Kapellen, Klöstern und heiteren Umgebungen , in bunter Mannig= faltigkeit am Ausgange der Thalebene gegen die sich all= mälich verengende Schlucht und am Fuße des schroffen Bannberges hingedehnt , dessen in Verbot gelegte Waldung , den Ort vor niederdonnernden Lawinen schirmend, keine Art berühren darf. Gruppen von Obst = und vor= züglich Wallnußbäumen geben der Ebene um Altdorf, welche durch den von den Wildbächen allmälich angehäuften Schutt offenbar dem Vierwaldstädter-See abgewon= nen worden ist , ein besonders trauliches und wohnliches Ansehen. Gleiche Empfindungen fühlt man im Inneren des Ortes , besonders auf dem Hauptplake , über dessen freundliche Häuser die Riesenberge im Hintergrunde jedoch finster herniederschauen. Die Gebäude sind meistens neue= ren Ursprungs , da der Ort im Jahre 1799 von einer schrecklichen Feuersbrunst verheert wurde , welche fast den ganzen Markt in Asche legte. Auf dem großen Plaze ist ein in der Nähe des neuen Rathhauses freistehender , mit Bildern aus der Geschichte Tells bemalter Thurm merk-

würdig. Viele halten ihn für ein auf der Stelle jener

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berühmten Linde, unter welcher Tells Knabe stand, errichtetes Monument , was jedoch irrig , indem dieser Thurm urkundlich älter erscheint , als Tells Geschichte. Jene Linde , welche im Jahre 1567 , aus Alter verdorrt, hin-

weggeräumt wurde, stand aber nahe dabei , wo dermalen ein von dem Dorfvogte Beßler errichteter, mit seiner Bildsäule gezierter steinerner Brunnen besteht. Hundert Schritte davon besindet sich ein anderer Brunnen von gleicher Form

und Größe , mit Tells sehr charakteristisch aufgefaßter Statue. Hier stand nun , alter Tradition gemäß , Tell in der That und vollbrachte auf hundert Schritte Distanz seinen Meisterschuß. Die gleiche Distanz hatten auch die

Bogenschüßen von Altdorf auf der Schiesstätte zum Ziele gewählt , und manche unter ihnen meinten , ein solches

Wagestück hätte auch bei ihnen nicht fehlgetroffen , und lachten wohlgefällig , wenn der Fremde beim Tellbrunnen ungläubig den Kopf schüttelte. Haben sie aber dabei auch das Sohneshaupt , auf welchem der Apfel lag und welches , wenn die Vaterhand eine Linie tiefer zuckte, der Unterwelt verfallen war , mit in Anschlag gebracht ? Wie unendlich leichter zielt sich's auf eine hölzerne Scheibe, als auf eine so lebenswarme und geliebte ! Welche über-

legene Kunst und Übung gehört dazu , um auf dieser das Gleiche zu leisten , wie auf jener ! Mit andachtsvollem Sinne gingen wir Beide, Melchior

von Wiesenflur und ich , an diesen heiligen Denkmälern vorüber , deren Sinn und Bedeutung er mir zu erläutern nicht unterließ.

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Altdorf lag hinter uns, und lustig flogen wir , da ich

zurBeschleunigung unserer Reise von dort aus eine leichte Retour = Gelegenheit bis Amsteg gemiethet , durch das Hauptthal der Neuf hin , das sich links von Altdorf eröffnende Schächenthal zur Seite lassend. Ungern und nur aus Rücksicht für den mir erwachsenden bedeutenden Zeitgewinn ließ ich das lektere unbesucht. An seinem Ein-

gange liegt Bürglen , der Geburtsort Tells - des edelsten, anspruchslosesten Mannes der edlen und anspruchs= losen Schweiz , der , fast mythisch unbestimmt in seiner Persönlichkeit , nur durch zwei Thaten auf die Nachwelt gekommen - aber durch Thaten, welche, auf eherne Tafeln eingegraben , dem ewigen Gedächtnisse anvertraut zu werden verdienen : er vollbrachte im kräftigen Man= nesalter den berühmten Meisterschuß , die Befreiung seines Vaterlandes hiedurch beginnend und begründend und er starb 47 Jahre später , als er , ein hochbetagter

Greis , sich in die Wellen des Schächenbachs stürzte, um ein Kind aus denselben zu retten.

Wenige sogenannte

Heroen der Menschheit , über deren irdische Triumphzüge von der Wiege bis an's Grab Fama ihr genauestes Protokoll aufgenommen , können mit ihrem vollständigen Lebenslaufe etwas diesen beiden einfachen Thaten Ebenbürtiges an die Seite stellen.

Auch Tells Wohnung , durch deren Anblick schon die mythisch idealische Gestalt ihres ehemaligen großen Bewohners uns individualisirt und unsermHerzen näher ge= rückt würde, besteht nicht mehr, sondern auf ihrer Stätte

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erhebt sich eine mit geschichtlichen Darstellungen aus jener Heldenzeit bemalte Kapelle. Lestere lockte mich nicht an ; um Tell's Schwelle zu überschreiten , hätte ich aber viel geopfert : so entschieden ist bei mir , und gewiß auch bei manchem Anderen , der Sieg des Lebens über dessen blofes Symbol. Ungeheure Hochgebirgsansichten , herrliche Alpenweiden, deren Saftgrün häufig von riesigen Ahorn-

bäumen überschattet , und endlich eine Reihe schöner Was-

serfälle , worunter der Stäubi auf Alpeli Aesch im innersten Grunde der prachtvollste , belohnen den Wanderer, der dieses sehenswerthe Seitenthal zu durchpilgern unternimmt , aus welchem ein interessanter Weg durch den Paß Clus nach dem Linththale in Glarus hinüberführt. Zur Rechten von Altdorf liegt , am Fuße der ewig beeiseten Riesenberge des Rothstockes , der Surenen und des Spanörters , das kleine Dorf Attinghausen oder Ettig=

hausen, ehedem eine Ansiedelung blühender Edelsize, über-

ragt von den Überresten der Stammburg des gleichnamigen berühmten freiherrlichen Geschlechts , dessen edelster Sproß , Werner , in Schiller's unsterblichem Schwanengesange verewigt , thatkräftig mitwirkte in den welthistorischen Kämpfen zu Tell's Zeit. Zu bald nach ihm aber, imJahre 1357, wurde sein ehrwürdiges Geschlecht in dem

Landammanne , Johann von Attingshausen , mit Helm und Schild in die Gruft gesenkt. In der unfern davon befindlichen , nun von einem ländlichen Baumanne bewohnten Trümmerburg Schweinsberg , welche derselben Familie angehört , sieht man einen der ältesten und merk

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würdigsten Weinstöcke , welcher nahe an der Wurzel über einen Fuß im Durchmesser mißt und in das alte Bauwerk

ſich unabtrennbar eingeklemmt hat. Zwischen beiden Nuinen aber liegt , sie beide überdauernd , das nunmehrige Engstlerische Haus , welches die Tradition als die einst= malige Wohnstätte des biederen Walter Fürst , unvergeßlichen Andenkens, ausgibt. Jeder Schritt, den der Wan-

derer hier macht, streift an ein Monument gefeierter Vorzeit , und ist die Gegend in landschaftlicher Hinsicht unvergleichlich , so ist sie es doch noch mehr in geschichtlicher. Unter solchen ernsten Betrachtungen betraten wir die Ort-

schaft Schadorf , die älteste im Urnerlande nach Altdorf und bereits im Jahre 1020 durch den Ausbruch eines

hinter Oberfelden gelegenen Alpensees verwüstet und hoch unter Gerölle begraben. Nur ein einzelner schön gemau-

erter Thurm , Halbenstein genannt, und angeblich zu dem Wohnsize des bereits im eilften Jahrhunderte ausgestor= benen Geschlechts derer von Schadorf gehörig , bezeugt die ehemalige Lage des Dorfes , das , nun mehr gesicherter

und wohnlicher , dermalen zu Füßen seiner hochgelegenen Kirche umhergebaut ist. Eine kurze Strecke weiter führt, bei Nibhausen und dem St. Ofrio-Kirchlein vorüber, ein sehr begangener Pfad zur Rechten des Thals über die Surenenalpen in das Engelberger Thal in Unterwalden.

Bald darauf eröffnet sich auf derselben Seite ge= gen die riesigen Engelberger Gränzberge hinter dem Dorfe Erstfelden, dessen Bewohner sich bei der Insurektion

gegen die Franzosen im Jahre 1799 durch Patriotismus

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besonders hervorthaten , das gleichnamige , von Fremden wenig besuchte , aber nach bewährten Angaben sehr merkwürdige Erstfelderthal, dessen innerster Grund, 4 Stunden

von der Gotthardstraße entlegen und ringsumher von unübersteiglichen Naturwällen verrammelt, durch den Anblick kolossaler Firnen und Gletscher, denen der Faulbach mit prächtigem Wassersturze entströmt , für die Beschwerden einer einsamen Bergwanderung reichlich belohnt. Unterdessen ist zur Linken die über 9000 Fuß hohe ein schroffer , kahler, Windgelle kühn hervorgetreten mit schneebedeckter Stirne wüst herabdräuender Gigante, der von Weitem die ganze Thalschlucht zu verrammeln

ſcheint. Hier nähert sich die nur allmälich ansteigende Gotthardstraße dem Reußfluße und gewinnt dadurch ein erhöhtes landschaftliches Interesse. Das bisher noch ziem-

lich geräumige und freundliche Thal wird hier enger und düsterer ; die frischgrünen Obst- und Wallnußpflanzungen aber , durch welche die Straße zwischen den gewaltigen

Felsenmassen auf beiden Seiten hinführt, bieten einen augund herzerfreuenden Gegensaz. Die finsteren Häuser des langhingedehnten Dorses Silinen, welches mit den ein-

bezogenen Ortschaften Amsteg, Bristen und Gurtnellen die weitläufigste Pfarre des ganzen Cantons bildet , liegen an der Straße zerstreut, darunter die Pfarrkirche in trauriger Lage zwischen dem Selder- und Kilcherbachtobel. Von hier aus durch das ganze Neusthal verfolgte uns der widrigste Straßenbettel einer zerlumpten , blaß und elend daherschauenden Jugend ; auch die erwachsene Gene

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ration sieht kümmerlich , ungesund und armuthgequält aus ; Kröpfe und fieberhafter Habitus ist hier eben so allgemein in den Physiognomien, wie Verfallenheit, Dürf-

tigkeit und Schmuß in den Häusern - und gern greift der Reisende nach einer kleinen Gabe in die Tasche, denn

man bettelt hier nicht aus Faulheit und Unverschämtheit, sondern aus drückender Noth.

Wie war doch dieß im

Herrlichen Lande Tirol und in den früher bereisten Cantonen so ganz anders ! Aber freilich waren das gottgesegnete Regionen im Vergleiche zu der undankbaren Urner-

Schlucht , welcher die Gotthardsstraße , die jedoch auch weniger nährt , als der früher bestandene Saumschlag, einigen kümmerlichen Erwerb bringt. Die reichen Alpenweiden liegen aber zu hoch über den dürren Steinſelſen der nächsten Umgebung, und selbst ihre Benügung gegen eine Tare für jedes aufzutreibende Stück Vieh ist für

den Ärmeren zu kostspielig und zu sehr den Unfällen unterworfen , als daß sie so reichen Segen, wie die Felder und Wiesen der Liese und Mittelhöhe, unter der Bevölke= rung verbreiten könnten. Zwischen den Häusern des alten finsteren Silinen erblicken wir auch, zunächst an der bejahrten Kapelle zu den 14 Nothhelfern, die noch ziemlich erhaltenen Gemäuer des Edelsizes deren von Silinen, früher Meier des Frauenmünsters in Zürich. Unweit da=

von , zur Linken , starrt von einem finster bewachsenen Nadelholzhügel ein anderes, vom Zahn der Zeit gieriger benagtes Mauergetrümmer herab , das von Einigen für

den Überrest des von Gefler theilweise erbauten, von

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den freiheitstrunknen Urnern aber jubelnd wieder zerstörten Twing - Uri gehalten wird. Mit welchem Intereſſe verweilte mein Blick auf diesen bemoosten Trümmerresten! Waren sie mir doch durch Schillers Tell so werth geworden ! Wunderlich war es mir, so viele mir

bisher nur aus Büchern bekannte Dinge in nackter Objektivität nun vor mir zu sehen , und lebhafter, als je früher , fühlte ich mich von dem Einflusse und der Bedeutsamkeit des wahrhaft begabten , nicht nur berufenen

sondern auch auserwählten Dichters durchdrungen, der ja den äußeren todten Pygmalions - Bildsäulen um uns

her erst recht eigentlich Leben und Seele einhaucht und uns alles, was sein Himmelsstrahl bescheint , das Größte wie das Kleinste, im wahrhaft echten Lichte der Liebe und

der irdischen Verklärung unvergeßlich schön erscheinen läßt.

XLV . -

Amsteg. Maderanerthal. Pfaffensprung. Maienthal. - Wasen. Göschinen. - Schöllinen. - Teufelsbrücke. - Urnerloch. - Urserenthal. Andermatt.

Am Fuße des Burghügels von Twing - Uri mußte die Straße durch Felsensprengung der tobenden Neuß ab=

gezwungen werden. Amsteg , eine kleine Ortschaft , drei Stunden hinter Altdorf, ist düster gelegen und durch die finster darüber wegschauenden Riesenmassen der Windgelle, des Bristenstocks und des Arni beängstigend eingeklemmt.

Zwischen den beiden erstgenannten Bergen öffnet sich , beim Zusammenflusse des Kerstelenbaches mit der Neuß, zur Linken das Maderanerthal , eines der merkwürdigsten, aber auch der wenigst gekannten Seitenthäler mit grotesk kolossalen , mineralogisch-merkwürdigen Bergformationen, prachtvollen Wasserfällen und Gletschern, worunter der

Husifirn mit dem berühmten Nhonegletscher rivalisirt, und

mit schwindelerregenden Übergängen nach dem vorderen Rheinthal Graubündens.

Die Gotthardstraße überspringt bei Amsteg mittelst einer Brücke zuerst den aus dem Maderanerthale hervorbrechenden Kerstelenbach, hierauf mittelst einer prachtvollen

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zweibogigen Brücke die Reus.

Zwischen Amsteg und

Wasen wird das Thal immer wilder ,

enger und

rauher und steigt , von der tosenden Neuß durchrauscht, immer mächtiger begann. Die Straße führt eine halbe Stunde weit am Fuße des steilen Arniberges fort, theils in den Felsen gesprengt, theils durch hohe Stüzmauern an denselben wie angeklebt. Gegenüber , am rechten Neufuser, an der Kapelle St. Loy vorbei ,

bemerkt

man den Zug der alten Gotthardstraße. Hoch über seinem Haupte erblickt der Wanderer , zum Glück auf der jenseitigen Userseite , zwei riesige Ninnsale in

dem Urfelsen des Bristenstocks ; hier nehmen von Zeit zu Zeit große Lawinen ihren zerschmetternden Lauf thalabwärts. Eine kleine Brücke überseht den schäumenden Leutschechbach , und bald darauf eine schöne Brücke von 20 Meter in der Lichte und 25 in der Höhe das finstere Braggentobel , durch welches der Inschialpbach, oberhalb der Brücke einen schönen Fall bildend, der Reuß zueilt. Eine Bergschlucht auf dem jenseitigen Ufer am Bristenstocke , Teuflauithal genannt , bezeichnet ebenfalls eine gewohnte Bahn der Lawinen , so wie ein Paar ehe-

malige , nunmehr verlassene Stollen. Weiter aufwärts hat nur die künstlichste Bemühung dem gäh in die Neuß überhängenden Gneusfelsen, ihn sprengend, untermauernd und überwölbend, den Straßenzug abgewonnen , welcher bei Meitschlingen auf einer 20 Meter in der Lichte mes=

senden Brücke wieder das rechte Neufuser überseht und sich bei einer Kapelle mit dem alten Gotthardswege

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vereinend, in den Wasnerwald einlenkt. Gewaltige Tan-

nen starren um uns her finstergrün empor ; zur Linken ragt der südwestliche Theil des Bristenstockes, zur Rechten aber, am anderen Ufer, die Felsenterrasse von Gurtnellen und der steile, aber bis auf den Gipfel begrünte Geisberg empor ; in der Tiefe, dicht unter uns, brauset und schäumt

die Neuß über nackte Felstrümmer. Aus einer finsteren Schlucht drängt sich der Fellibach von der gleichnamigen Alpe zwischen Steingerölle und einer Masse wild durch einander gestürzter Tannen hervor; eine schöne Brücke überseht dieses Tobel bei einer malerischen Wendung der

Straße. Hier führt , durch Geröll und ewigen Schnee ein schauerlicher, aber gefahrloser Pfad nach der Oberalpe in Urseren. In diesen rauhen Gegenden sind Bären zu allen Jahreszeiten keine Seltenheit. Unweit der Fellibrücke , wo die Straße neben der wild daher schäumenden Reus kaum Raum findet , am sogenannten Degenwisch,

bemerkt der Mineraloge den Übergang des Gncusgesteins in den granitartigen Urfels , der von hier aus zum vorherrschenden Bestandtheile der beiderseitigen Gebirge wird. Bei der Kapelle im Wyler endet der stundenlange Wasnerwald und das Kirchlein des Gebirgsdorfes Gurtnellen glänzt von der jenseitigen Bergwand herab. Aus dem Tannenwalde, der sich von Gurtnellen nach Wasen herab-

zieht, schäumt schneeweiß der Gornerenbach hernieder und bildet einen artigen Wasserfall.

Die Gotthardstraße

führt nun durch das immer wildere und steinigere Thal zu einem , scheinbar alle weitere Bahn absperrenden

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Felsendamme ; hier, bei der durch Volkssage und schauer-

liche Naturschönheit berühmten Stelle des sogenannten " Pfaffensprunges " tritt die Straße mittelst einer neuen schönen Brücke wieder auf das linke Neusufer hinüber. Tief im Schatten einer engen, theilweise umbuschten Felsschlucht arbeitet sich da, wo nach alter Sage ein verfolgter

Mönch durch einen kühnen Sprung sich glücklich gerettet haben soll , die Neuf zwischen grauen Felsen unter der Brücke durch . Rührend ist der Anblick des alle Hindernisse der wilden Natur besiegenden Menschenfleißes ; auf diesem in die Untiese niederstarrenden grauen Felsen haben die fleißigen Einwohner mit großer Mühe kleine Erdäpfelgärtchen angelegt , um ihre schon zu sehr mit Felstrümmern überdeckten Wiesen zu schonen. Eine andere

große schöne Bogenbrücke führt bald darauf am Fuße der Felsenterrasse Leggistein über die Maienreuß , welche kurz vor Wasen links aus der düsteren tiefenKluft des Maienthals hervorrauscht. Der schöne Name dieses Thales er= scheint als eine arge Täuschung , wenn man die Elementar-Erschütterungen , denen jede Spanne Grund daselbst, die Gefahren betrachtet , denen jeder seiner Bewohner in jedem Augenblicke unterworfen ist. Lektere wohnen in

zerstreuten Häusergruppen , fast überall mehr oder minder durch Lawinen gefährdet. Man sagt , daß die Nachbarn bei stürmischem Winterwetter Abends zusammentreten , und abwechselnd bei gemeinschaftlichem Gebete , traulichem Gespräche und Tanze zu der Musik einer Geige , Pfeife oder auch nur

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einer Maultrommel , ihr Schicksal erwartend , die Nacht

durchwachen. Sind diese Menschen nun glücklich oder unglücklich zu nennen ? Ich glaube das Erstere , denn bei allen diesen Drangsalen ist lebhafter und leichtsinniger Charakter ihr Grundzug, und man versuche es einmal, sie in bessere, ebene Gegenden zu versehen , und sehe zu , ob sie sich nicht nach ihren Riesenbergen mit ihren riesigen Be-

schwerden und Gefahren zurücksehnen werden. Glücklich ist , wer sich heimisch und behaglich fühlt auf dem ihm beschiedenen Standpunkte , und das kann der Mensch immer, wenn auch die ihn zu zerschmettern bestimmte Lawine schon über seinem Haupte hängt. Fast über jedem Hause in diesem Thale bemerkt der Reisende gegen die Bergseite

Steindämme oder angestükte Balken, um die Lawinen über

das Dach wegzuleiten und zu brechen. Über furchtbare Granittrümmer führt die Seitenstraße aus dem Reußthale in das Maienthal zu den kaum mehr kenntlichen

Trümmern einer Schanze , deren Entstehung und Bestimmung sich geheimnisvoll hinter grauem Alterthume birgt, welche aber in späteren stürmischen Jahren wieder restaurirt und erst bei der französischen Invasion des vorigen

Jahrhunderts gänzlich zerstört wurde. Die durch das Maienthal führende und den Sustenpaß in einer Höhe von nahe an 7,000 Fuß Meereshöhe übersteigende unvollendete Straße bildet die nächste Verbindung zwischen der östlichen Schweiz und dem Berner Oberlande. Sie ward im Jahr 1811 begonnen , als der Canton Wallis dem Napoleonischen Reiche einverleibt wurde und der Canton

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Bern einen großen Werth darauf legte , seine Produkte auf schweizerischem Gebiete nach Italien zu bringen. Bei

den veränderten politischen Verhältnissen wird sie nun wohl lange unvollendet bleiben , für Reisende zu Fuß oder

Saumrosse ist sie aber ein kurzer schöner Übergang aus dem Reupthale nach Meiringen im Oberhaslithale. Bei Wasen , einem ansehnlichen Pfarrdorfe am Eingange in das Maienthal , bei der Vereinigung der Gotthard- und Sustenstraße, zwei Stunden hinter Amsteg , beginnen jene kolossalen Naturherrlichkeiten , eigentlich Schrecknisse der erst genannten Straße , gegen welche kein anderer Alpenübergang mit ihr in die Schranken treten kann. In ängstlicher Krümmung läuft dieselbe von dort aus um die

Felsenwände nach dem nahen Orte Wattingen , wo sie mit einer herrlichen Brücke , bei welcher der Rohrbach mit einem schönen Falle, gleichsam über eine Stiege von feinem weißen Granit, in die Reuß hinabstäubt , wieder auf das rechte User überseht. Von nun an läuft die Straße in zunehmender Steigerung , welche in der Wegstrecke von einer halben Stunde von hier bis Göschinen fast eben so viel beträgt, wie auf der über fünfstündigen Wegstrecke vom See bis Wasen , rasch bergan. Noch

gäher und wilder ist das Gefälle der ihr zur Seite daher= rauschenden immer jugendlicheren Neuf , die von hier bis zu ihrer Wiege fast eine fortwährende , durch Seitenkaskaden geschwellte Verkettung von Wasserstürzen bildet. Bei einer malerischen Wendung blickt uns Wasen mit seinen braunen Hütten und der Kirche auf dem Hügel aus

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seinen Büschen und wilden Kirschbäumen noch einmal freundlich an , wie ein lekter Abschiedsgruß der bebauten Welt von den unwirthbaren Fels = und Schneewüsten vor uns , zwischen welchen freilich noch das Ursenerthal als froh überraschende Dase in den Bergwüsten unser harrt.

Der düstere Felsschlund , den wir nun neben der tief unter uns daherpolternden Neuf uns keuchend hinanarbeiten , heißt die Schöllinen, und gleicht einer seit Jahr= tausenden von den rastlosen Gewässern in den Urgranit des Gotthard ausgewütheten Stromrinne. Eine halbe Stunde hinter Wasen betreten wir Göschinen , ein schon an den Gränzen der Vegetation gelegenes ärmliches Gebirgsdörf=

chen, welches nur durch den Straßenzugseine kümmerliche, aber uralte Eristenz zu fristen vermag. Nun zieht sich das Hauptthal der Neuß , erweitert , zur Rechten in scheinbar freie und freundliche Gegenden. Bethörter Wanderer, der hier einen Ausweg suchen wollte. Jener weite Halbkreis dicht überschneiter Riesenberge im Hintergrunde umgürtet das wilde Göschinenthal und die Quellen der unteren Neuß mit einem unübersteiglichen Walle. Hier erhebt der Galenstock , der Großmeister unter den Bergen Uris,

seine nie erstiegene Schneekoppe bis zu 11,300 Fuß Meereshöhe. Das Göschenenthal ist eine riesige Sackgasse der Natur , voll der ungeheuersten Alpenherrlichkeiten und als solche von den Reisenden viel zu wenig gekannt. Bis in das Innere dieses Thals hinein wohnen

Menschen , glückliche , zufriedene Menschen , obgleich sie

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oft lange Monate hindurch von allem Verkehre mit der übrigen Welt abgeschieden sind, und in napkalten Jahren sogar ihre Kartoffeln nicht reifen sehen. Zur Linken , wo die Welt fest verrammelt zu seyn scheint , führt die Straße, in künstlichen Wendungen labyrinthisch durch einander

geschlungen , über grauenhafte Felstrümmer zwischen steilen nackten Wänden steil bergan und an dem gewaltigen Teufelsstein vorüber. Von lekterem geht die Sage, daß, nachdem der Teufel in eigener Person die von ihm be= nannte Brücke in den Schöllinen erbaut und als Lohn dafür den ersten Darübergehenden gefordert, diesem argen Gottseibeiuns ein Hund , den der listige Erbauer darüber gelockt , zu Theil geworden sey ; aus Wuth darüber habe er jenen Riesenfels ergriffen , um die neuerbaute Brücke mit demselben wieder zu zerschmettern , da aber ein frommes altes Weib darauf noch zur rechten Zeit das heilige Kreuzzeichen gemacht, so habe er denselben zum Triumphe der guten Sache bis zum heutigen Tage liegen lassen müs sen. Die Schellinen , dieser Felsenris , von den Wogen der Neuß aus dem Urferen = Thale bis zum Teufelssteine in den Vorwall des Gotthard gebrochen , spotten aller Beschreibung. Kahle Wände von unabsehbarer Höhe bilden diese Felsenrinnen, an deren Nändern die Straße sich

ängstlich fortwindet , bald rechts , bald links die tosende obere Reuß auf kühn gespannten Brücken übersehend. Die erste derselben , 60 Fuß in der Lichte und 23 Fuß in der Höhe haltend , wölbt sich mit einem prachtvollen Bogen

97 Fuß hoch über der Göschener = Neus ; zwei kleinere

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führen uns bald nach einander auf das rechte , dann wie-

der auf das linke Reusufer. Eine Viertelstunde steil bergan , stellenweise unter hohen Gewölben auf den gefährlichsten Lawinenstrecken - und wir stehen auf der berühmten Teufelsbrücke , wohl jedem Naturfreunde wenigstens aus einer ihrer unzähligen Abbildungen bekannt, deren aber keine weder den akustischen und dynamischen Zauber der unter dem kühngespannten 95 Fuß über dem Abgrunde starrenden Brückenbogen 300 Fuß ties herab-

donnernden und zerstäubenden Reus, noch die erdrückende Kolossalität der von ihr unterwaschenen beiderseitigen Niesenpfeiler nachzuzaubern vermochte. Die wüthendste Be-

wegung und die starrste Nuhe kämpfen hier den entseßlichsten Riesenkampf ; wir ahnen aber schauernd , daß hier, wie überall , die Erstere der Lesteren Meisterin werden

müsse. Stolz wölbt sich die neue Brücke über der alten verlassenen , welche sich 75 Fuß über dem Abgrunde er= hebt zum sprechenden Beweise , daß in den heutigen Tagen die vereinten Kräfte dürftiger Menschen (wie die Urner gewiß sind) mehr vermögen , als jene vermeintlich dämonischen Mächte obscurer Zeiten. Dennoch blieb aber hier bei mir die - obwohl gewaltige und tief erschüt= terude Wirkung beinahe noch unter der Erwartung und unter dem Eindrucke , den ich bei anderen , weit weniger gepriesenen und weltberühmten Naturscenen erprobt hatte.

Ist hier der Ruf größer , als die Sache ? Hat die allzu riesenhafte Vorstellung der Wirklichkeit geschadet ? oder läßt endlich die begränzte Umgebung , welche den Blick

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auf die nächsten Felswände und Felsschlünde beschränkt, den Genius der Erhabenheit seine phantastischen Schwingen nicht so frei und gewaltig entfalten , wie von einer Vogelperspektive auf einem beherrschenden Berggipfel, vor einem sturmempörten Meere , vor einem himmelange-

thürmten Montblanc , vor einem Eismeere in Chamouni,

im Özthale oder am Dachsteine, oder vor einem Rheinfalle, der allerdings auch einem plötzlich schmelzenden Gletscher gleicht ? - Kurz , die Teufelsbrücke und die Neußfälle

können weder rücksichtlich ihrer Großartigkeit , noch ihrer Gewaltigkeit wegen , den erhabensten Naturscenen beige-

zählt werden; sie gehören jedoch zu den wildesten und entseklichsten: sie sind ein Bild eines verdammten Geistes, der , von der wieder entschwundenen Ferse des Allmächti=

gen niedergedrückt, heulend in den ewigen Abgrund stürzt. Ein wahrhaft erhabener Gegenstand zeigt uns aber den Allerhabenen selbst , wenn auch unter dem siebenfachen Isisschleier verhüllt , und wirst uns in Anbetung zu seinen Füßen. Hinter der Teufelsbrücke führt die Straße in terrassenförmigen Wendungen , meist in das Gestein gehauen,

dicht über dem Neusfalle , dessen Getőse betäubend und schwindelerregend an unser Ohr schlägt, eine überhängend steile Felsenhöhe hinan zu einem Felsenrisse , welcher zwischen den einander gegenüber liegenden grotesken Massen des Teufels = und Kilzerberges nur dem tobenden Wildstrome

Naum läßt.

Am Fuße des lekteren gähnt eine finstere

Höhle tief in den Berg hinein , und bildet den einzigen

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Ausweg.

Es scheint der gespenstische Eingang in die Unterwelt , vor dessen Thorschwelle der Höllenfluß vor-

überschäumt.

Wir treten schauernd näher und erkennen

ein Werk der Menschenhand.

Früher führte eine in Ket-

ten über der Neuß schwankende Holzbrücke , fortwährend von ihr durchnäßt , und daher auch schneller Zerstörung unterworfen , auf der senkrechten Wand des Kilzerberges

nach Ursern hinüber ; als aber allmälich das Holz zur Unterhaltung dieser Brücke auszugehen begann , ward im Jahre 1707 unter Leitung des Peter Moretini aus Val Maggia eine von mehreren Fensteröffnungen erhellte

unterirdische Gallerie von 200 Fuß Länge, 8-9 Klafter Höhe und 7 - 8 Klaster Breite in den Granitsels gesprengt ein gewaltiges Werk , dessen Anlage über 13,000 Urner Gulden gekostet haben soll. Dieses Kunstwerk verschwindet jedoch bei Betrachtung der Kosten , Schwierigkeiten und Gefahren, welche die Ausführung der gegen-

wärtigen neuen Fahrstraße verursachte, die dem kleinen armenCanton Uri ſicher ein schöneres, bleibenderes Monument

ist, als die Simplonstraße (deren zweckmäßigere und wahrhaft großartige Anlage auch erst dem Canton Wallis vor-

behalten blieb) dem großen allmächtigen Napoleon. Wem die Schäße eines halben Erdballes bereits zu Gebote standen und die Erreichung der anderen Hälfte auch nicht mehr gar zu fern lag , der konnte wohl derlei außeror= dentliche materielle Werke , die nur viel Geld und klugeVerwendung erheischen, ohne Anstrengung vollbrin= gen ; die Bewunderung der Nachwelt bleibe aber solchen

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Werken vorbehalten , bei welchen der Geist und die Kraft

das Schöpfungswunder im Kleinen nachspielt , ohne daß man die hiebei in Bewegung gesekten Hebel kaltblütig nachzurechnen vermag. Obgleich der Gotthardsübergang, und namentlich die Schellinen, welche ehedem voll Kreuze zum Gedächtnisse an Menschen war , welche hier durch Frost , Schneegestöber und Lawinen umgekommen , seit der neuen Straßenanlage viel von ihrer früheren Grauenhaftigkeit verloren , so hat der Eintritt in das Urnerloch doch noch immer etwas unendlich Ernstgrandioses, an die Pforte der Unterwelt mahnend und alle Schauer aus Dantes göttlicher Dichtung , aus Schillers hinreißenden Schilderungen dieser Gegenden im Tell in uns weckend. Die Höllenpforte führt aber hier geradenwegs - zum Paradiese - und mag der Wanderer früher alle Wunder der übrigen Welt geschaut haben, einen überraschenderen Anblick schaute er nimmer. Ja , wie ein liebliches Traumland hinter dem rabenschwarzen Gewölbe des Mitternachtschlummers - wie ein Himmelreich hinter der Grabeshöhle , eröffnet sich das zwischen 4-5000 Fuß über dem Meere erhabene wunderfreundliche Urseren unmittelbar hinter der Gallerie, welche nebst der Gotthardsstraße und dem Furka = Saumwege den einzigen Zugang in seine auf allen anderen Seiten von unübersteiglichen Bergzinnen und Firnen verschanzten Alpeneinsamkeit bildet. Welcher Gegensah zu der finsteren Schlucht , durch welche wir uns stundenlang bis hieher hinanarbeiteten. Ein geräumiges

ebenes Wiesenthal , hoch hinauf , so weit das Auge reicht,

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in die herrlichsten Weiden sanft hinanschwellend , liegt augerfreuend und herzerweiternd vor uns , nur im fernsten Hintergrunde , wo die Straße terrassenförmig zum

Gotthard hinanführt , von einigen Felsenhäuptern übergipfelt. Zwischen spärlichen Erlen und Weiden rinnt die jugendliche Neuß

das Bild eines blühend = lächelnden

Jünglings, dessen schwere Stürme und Kämpfe des nahen Mannesalters harren - klar , ruhig und leise = melodisch

in seinem ebenen Bette dahin. Es ist hier wahrhaft über= irdisch schön und freundlich ; die reine Bergluft erweitert, und erfrischt unsere von den Dünsten der Tiefe und den

Mühen des langwierigen Aufsteigens gepreßte Brust ; doch die Dürftigkeit an Bäumen , deren nur wenige und im Wachsthume unterdrückte hier fortkommen , läßt dem Landschaftsbilde eine fühlbare Kahlheit. Zur Linken schmiegt sich das Dörfchen Andermatt an die Bergwände,

von einem seit Uralters in Bann gelegten Wäldchen über seinen Häusergipfeln vor Lawinen geschirmt. Eine kleine Stunde weiter glänzt Hospital mit seiner Kirche und der Schloßruine auf einem benachbarten Hügel hell herüber. Zur Rechten ziehen sich sanft anwachsende Alpenhöhen gegen Dorf , Realp und die Furka hinan ; zur Linken,

über Hospital hinaus , läuft die Kunststraße in malerischem Terrassenzuge zu den Felsklippen des Gotthard.

Als ich bei vorgerücktem Abende hier ankam , warf die hinter den westlichen Alpenhöhen niedersinkende Sonne eben ihren lekten Verklärungsblick über diese idyllische Landschaft, und überraschend schön folgte dunkelklare Abend=

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dämmerung. Die Abendglocken läuteten aus dem nahen Andermatt und dem fernen Hospital

wie Gegenwart

und Erinnerung - rührend = melodisch zusammen , und noch fernerher aus unbekannten Höhen - fast wie Geisterstimmen aus einem früheren vergessenen Leben mengten sich von Zeit zu Zeit einzelne Herdenglocken und Alpentőne der wachsamen Hüter auf den Alpen darein. Kein rauhes Lüstchen regte sich , denn wie von der Wiege das schlummernde Kind , so ist dies trauliche Thal zu den meisten Zeiten von den es auf allen Seiten umfangenden -

Wänden vor allen bösen Einflüssen , die sich nur durch ein paar Winkel hereinschleichen können , gesichert und geschirmt. Melodisch und ruhig , wie mein Lebensbächlein in diesem Augenblicke , schlängelte sich die Neuß mir

zur Seite hin ; himmlischer Friede , stille Begeisterung hatte sich ganz meiner bemeistert, als ich bei aufsteigendem Monde in Andermatt einzog.

10fe

II.

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XLVI.

Gotthardstraße. - Unerfüllte Wünsche. - Apologie Goethe's , des Topographen und Reisebeschreibers. Bum Dorf. - Realp. Hospital. -

Am 10. August wanderten wir mit dem frühesten Morgen von Andermatt nach Hospital.

In drei Viertel-

stunden war dieser Scheidepunkt der Gotthardstraße und des Furkapfades erreicht. Eine Brücke führte uns noch zum letzten Male über die Neuß , welche wir nebst dem Gotthard zur Linken ließen und die Bahn zur Rechten einschlugen. Wie überhaupt im Leben , so hat man besonders auf Vergnügungsreisen die beste Gelegenheit,

sich in der schweren Kunst des Entsagens zu üben. Es wäre doch so schön gewesen , das Bergplateau des Gotthard mit seinen Seen und den daraus gegen Norden

und Süden entspringenden Flüssen ganz zu ersteigen diesen interessantesten Wasserscheidepunkt in Europa, zwischen dessen Granitmassen das Schneewasser unstätig, gleichsam zweifelhaft umherirrt , ob es der Nordsee oder

dem adriatischen Meere zueilen soll - diese Trümmerstätte der gräßlichsten Bergrevolutionen , über welcher nach der Meinung so manches kompetenten Geologen in

der Urzeit wohl die erhabensten Berghäupter unseres Erd

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theiles emporgeragt haben mochten , - diesen Hauptkno= ten der Alpenverzweigungen , aus welchem sie alle auslaufen, und vor welchem sie sich noch immer zu neigen scheinen in alter heiliger Scheu vor ehemaliger Superiorität, wie etwa spätere Enacksöhne vor der Grabstätte ihres

Längst zerstäubten Urahns. Fast unwiderstehlich lockte mich der Fieudo , der höchste unter den noch stehenden Pfeilern dieses ehemaligen Berges Gottes , der , über 9,000 Fuß über dem Meere und vom Hospiz aus in dritt-

halb Stunden erreichbar , den vollständigsten Überblick über die Verzweigungen des Alpengebirges und besonders über die Verknotung der Berner = und der penninischen Alpen gewähren soll ; wo möglich noch gewaltiger lockte

mich aber der östlich von ihm gegen das Oberrheinthal gelegene Luckmanier mit seinem Felsenhorne Skopi , von welchem man , wenn anders der sonst sehr verläßliche Gewährsmann Ebel auch hier nicht von der Wahrheit ab= weicht , wohl das ungeheuerste Alpenpanorama der Welt,

nämlich einen Überblick vom Montblanc in Westen bis zur Dreiherrnspike an Tirols und Salzburgs Gränze in Osten

genießen soll. Allen diesen Genüßen mußte , da die Zeit nur für das Berner Oberland zureichte und mein Führer sich auch nur in diesem auskannte , die Auffindung anderer Zwischenwege und Führer aber mit Schwierigkei= ten und Zeitverluste verbunden gewesen wäre , für dießmal freilich entsagt werden. Auch gelang es meinem Geleitsmanne Melchior von Wiesenflur , welcher - wie die

meisten Oberländer seines Berufes - mit vieler Ehrlich2*

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keit und Verläßlichkeit auch viel Pfiffigkeit vereinte , mich mit leichter Mühe zu überreden , daß Alles , was ich hier

zurückließe , mit den mich im Berner Oberlande , seiner Heimat , erwartenden Herrlichkeiten und besonders mit dem übermorgen zu Brienz stattfindenden sogenannten Schwingenfeste nicht zu vergleichen sey.

Dem Gotthardszuge , welcher seine Gewässer nach drei Weltrichtungen durch die Reuß , den Tessin und die Nhone nach Norden , Süden und Westen in drei Meere

hinaussendet , kann in dieser Hinsicht in der Schweiz und in Europa überhaupt nur eine , eigentlich noch merkwür= diger ſituirte Gegend auf dem Septimer in Graubünden an die Seite gestellt werden , wo man in einem Umfange von 20 Klastern drei Quellen antrifft , die ebenfalls ihre Gewässer nach drei Weltrichtungen , und zwar durch den Rhein in die Nordsee, durch den Inn in das schwarze Meer und durch die Moira in das adriatische Meer , ausgießen. Das Hospiz auf dem Gotthard , 6650 Fuß über dem Meere gelegen und eine der höchsten Menschenwohnun= gen in unserm Welttheile , ward im Jahre 1775 von einer Lawine weggerissen, und nach seiner im Jahre 1777 erfolgten Wiederherstellung im Winter 1799-1800 von

den Franzosen höchst frevlerischer Weise gänzlich zerstört. Seither bestehen nur noch seine immer mehr zerfallenden

Trümmer ; die von Karl dem Borromäer errichtete schöne und menschenfreundliche Stiftung machte aber wieder einer elenden Bauernherberge Naum , wie dieselbe auf diesem

Hauptübergange nach Italien früher schon seit dem

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13. Jahrhunderte bestand. Mit dem lebhaftesten Interesse lesen wir noch immer in Goethe's unsterblichen Briefen über die Schweiz (zweite Abtheilung gegen den Schluß) die Schilderung des Lebens und Wirkens der dort gewöhn= lich exponirt gewesenen zwei Kapuziner , zu welchen man wenigstens damals nicht nur körperlich , sondern auch in-

tellektuel tüchtig begabte Männer gewählt haben mußte, indem Einer derselben Goethe'n eine so überaus treffliche Apologie des Katholizismus hielt, die der gelehrteste Dogmatiker seines Glaubens vielleicht wissenschaftlicher aus-

führen , aber ihrer Wesenheit nach unmöglich besser begründen könnte. Wie ich in den vorstehenden Zeilen den Namen " Goethe " hingeschrieben, entfiel mir beinahe die Feder aus Scheu , über Gegenden , welche dieser unsterbliche

Mann mit dem seinem Universalgenie eigenen Überblicke geschildert hat , auch meine eigenen bescheidenen Anschauungen auszusprechen. Wie rein induktiv , wie sonnenklar das Objektive der unendlich erhabenen Alpennatur abspiegelnd wie wahrhaft Gemälde in Worten sind die Schilderungen dieses großen Mannes ! Wie wahrhaft universell -

und doch naturgemäß und ungezwungen abgeleitet sind andererseits die allgemeinen Ansichten und Reflexionen, womit er seine Beobachtungen zu durchslechten und ihrem

reinen Spiegelglase im eigentlichen Sinne den Hintergrund , die Folie zu verleihen weiß , mittelst welcher er erst zur Weltabspieglung und Nachkonstruirung gelangt. Zu einer Zeit , da die deutsche Philosophie , und daher

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wohl die Philosophie überhaupt in der dürrsten, trübselig-

sten Übergangsepoche des steifleinernen Dogmatismus in die reine Regativa des Kritizismus begriffen war , lebte und webte in ihm — der Welt und wohl am Ende gar ihm selber unbewußt - der frischeste Lebensgeist einer

wahrhaftigen Naturphilosophie , die erst Jahrzehnte spä= ter zur Verkörperung und zum Verständnisse gelangen sollte. Von mancher Seite schon wurde die Ansicht auszusprechen oder wenigstens anzudeuten gewagt : Goethe der Naturphiloph sey bewunderungswürdiger und gröfer , als Goethe der Dichter; ich erlaube mir den Zusak, daß Goethe der Topograph mir wenigstens eben so unerreichbar groß dasteht , als in jeder anderen Beziehung. Während beinahe alle anderen Topographen uns entweder trockne Katastralbeschreibungen oder schöne Wörter lie-

fern, hinter deren blauem Dunst sich die Phantasie er= träumen kann , was sie immer mag , malt Goethe mit Worten

und solche Malerei ist das höchste Zauberwerk

des wahren Poeten, des Magiers, der durch hingesprochene Zauberformeln die Natur zwingt, ihre kolossalen Schöpfungen in derAußenwelt im Innern noch einmal nachzuschaffen, und in einem visionären Panorama unserm Geiste auf-

gehen zu lassen. Wenn man die gewöhnlichen Leistun= gen selbst unserer besten Ortsschilderer und Reisebeschrei= ber höchstens nur mit, wenn auch genauen , doch undeutlichen Landkarten vergleichen kann, so vereinigen Goethe's

Schilderungen auf unbegreiflichem , nur dem Genie aus seiner nachtwandelnden Bahn zugänglichem Wege die Vor

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züge geistreicher Zeichnungen mit fenen der sogenannten plastischen Nachbildungen , welche die große ungeheure

Natur draußen im verkleinerten Maßstabe nachschaffen, und faßlicher als sie selbst (da hier selbst dem unvoll=

kommneren Auffassungsvermögen ein voller Überblick möglich) nicht nur dem Auge , sondern sogar dem Tast-

scheine bloßstellen. Wir haben ungemein zu bedauern, daß Goethe kein Reisender von Metier - wenigstens à la Byron , um lebende Verstorbene , die mit Goethe Manches gemein zu haben - scheinen , ganz außer dem Spiele zu lassen - geworden (womit sich freilich die

deutsche behagliche Festsäßigkeit , als deren Prototyper anzusehen , nicht gut vertragen hätte), - wir hätten von

ihm die reinsten Gegensäge , das vollendetste Gegengift zu den subjektiven Spleengespenstern , welche uns der gewiß über das gerechte Maß hinaus bewunderte edle Lord als Lebensanschauungen verkauft , wir hätten bis in den inneren Kern hinein reelle und gesunde Nachschöpfun-

gen der Welt wie sie ist , der Menschen , wie sie sind , zu erwarten gehabt nicht trockene Reisebeschreibungen, nicht luftige Reisebilder , sondern Nachschöpfungen der bestehenden Welt, nebst Andeutungen ihres künftigen Weiterschreitens , Kunstwerk und Philosophie zugleich - die

höchste Ausgabe des Dichters und Denkers , harmonisch gelöset und dem idealistischesten Phantasiemenschen , wie dem praktischesten Weltmanne in gleicher befreundeter Nähe stehend. — Und wäre am Ende Wilhelm Meister und Faust unvollendet , und so manches Andere sogar

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unbegonnen geblieben , hätte die Literatur , hätte Goethe selbst nicht am Allermeisten dabei gewonnen. Wenn man mich übrigens fragt , ob es denn nur diese , Goethe unter allen Modernen ganz ausschließend eigene bis ins Innerste hinein lebendige und beseelte Darstellung des Wirklichen und der Welt überhaupt sey , was ich an den uns nur leider zu spärlich zugemessenen Mittheilungen aus seinen Reisen und äußeren Erlebnissen so ungemein und schran= kenlos bewundere , so möchte ich freilich wohl noch vie= lerlei andere nicht minder seltene Vorzüge an ihm herausheben , z. B. den ihm eigenen ewig heiteren und dabei ewig ernsten und erhabenen Sinn , der gleichsam zugleich mit Allem spielt , und in Allem die tiessten Saiten anrührt und aufregt - ferner sein Gingehen in jede fremde

Individualität , ohne in ihr aufzugehen - sein himmelklarer , als ein ungetrübter Spiegel alles Bestehenden dahinfließender Styl , und sofort in infinitum. Doch Eines darf ich vornehmlich nicht übergehen, wenn ich von ihm als Reisebeschreiber spreche : er reiset zwar durchgän= gig nicht nur als Genie , sondern auch als ein Mann von

den vielseitigsten Kenntnissen, aber er reiset auch nirgends als bloßer Gelehrter , als Geograph , Historiker , Politi-

ker, Archäolog, Physiker, Botaniker, Mineralog, Geolog u. s. w., sondern ohne Ausnahme nur als reiner Mensch, ohne seiner Menschheit so unbedingt den Zügel schießen zu lassen , als mancher andere Lebende und Verstorbene

in seinem Zustande halber Reiseermüdung zu thun gewohnt ist.

Was lernen wir wohl aus Goethe's

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Reisen, als eben Alles und das Beste überhaupt, wie man überhaupt reisen und leben , wie man die Welt um -

sich mit hellen Sinnen und gesundem Sinne auffassen foll?

1 -

Verzeihung , werthester Freund !

und wer sonst

noch diese Reisebriefe lesen mag - diese Abschweifung war lang, das Herz aber von seinem Gegenstande zu voll,

als daß der Mund davon nicht hätte übergehen sollen. Ich werde mich bemühen, durch möglichst gedrängte Schilderung der nächstsolgenden Gegenstände (hat sie ja zum Theile schon Goethe vor mir geschildert) die Sache wieder ins Gleiche zu bringen. Wir sind während meiner legten Betrachtungen vom Hospital aus , und an seiner das ganze Ursernthal beherrschenden, muthmaßlich in der Longobardenzeit entstan= denen Schloßruine vorüber, dem späteren Size der Herrn einem dritten Arme der Neuß ent= von Hospenthal lang (den ersten verließen wir vorm Göschenen = , den zweiten vorm Gotthardsthale) gegen die dritte und unbedeutendste Ortschaft des Ursernthals , dem Dörschen Dorf, und von dort aus gegen Realp hinangestiegen. Besagtes

Dörschen ist unstreitig das kleinste Örtchen in Uri , indem es nur aus 4-5 Häusern und einer Kapelle besteht. Selbst in diesem so unbedeutenden und wegen Lawinenge-

fahr sogar unsicheren Winkelchen der Welt hat der wahrhaft rührende Eiser der verehrungswerthen katholischen Geistlichkeit dieser Gegend für Volkserbauung und Unter-

richt durch einen erponirten Kaplan gesorgt , der den im

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Winter oft so einsamen Bewohnern Gottesdienst und den

Kindern Schule hält. Unsere Bahn geht gemächlich, aber ununterbrochen bergan; in Realp sind wir gegen 4750 Fuß über dem Meere ; im Rücken das Urserenthal mit seinen vorderen und ansehnlicheren Ortschaften und darüber die immer höher hinanwachsenden Zacken des Gott-

hard , zur Linken die Furka , von ihrer gabelförmigen Doppelzinke so benannt , zur Rechten den weit höheren Galenstock, den Riesen der ganzen Umgegend , mit seinem schneebedeckten breiten Scheitel immer mächtiger vortretend , und zwischen beiden lekteren den über diesen rieſt-

gen Gebirgszug durchführenden Furkapaß

einHochge=

birgsbild ohne Gleichen , über dessen Kahlheit sich keiner

beklagen wird , der da erwägt , auf welcher Höhe über dem Meere wir uns befinden. Realp ist ein kleines, aus etwa 15 Häusern bestehen= des Filialdörfchen von Andermatt , auf einer Höhe gele= gen , welche den erhabensten Spiken des sogenannten schlesischen Riesengebirges wenig nachgibt. Es liegt in

einer durch Lawinen unsichern Gegend , am Eingange in das lange einsame Sittlithal , welches sich bei dem Biler-

Horn und dessen Gletschern vorbei bis zur Furka hinauf erstreckt. Ein Kapuzinersuperior hält in diesem stillen Gebirgsdörschen Gottesdienst , und betreibt in dem im

Jahre 1735 errichteten Hospiz Wirthschaft - eine für die Reisenden sehr wohlthätige Einrichtung , da von hier aus auf der weiteren zweistündigen Wanderung zur Höhe des Furkapasses , und eben so weit hinab bis zum Fuße des Nhonegletschers außer einigen Alpenhütten durchaus

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keine Zufluchtstätte zur Erholung und Erquickung zu fin den ist. In der Nähe des Hospizes hat die unermüdliche Sorgfalt emsiger Menschen dem Alpenboden noch etwas Gemüse abgedrungen; kein Baum gedeiht aber mehr auf

dieser unwirthbaren Höhe , die jedoch desto reicher an Alpenpflanzen , deren Fülle und Herrlichkeit immer zunimmt, je höher man auf der Furka hinanklimmt, welche dem Botaniker ein wahrhaftiges gelobtes Land ist. Mein

Führer war mit dem nöthigsten Mundvorrathe für mich und sich selbst versehen ; wir hatten sonach keinen Anlaß, dem gastfreien Pater Superior beschwerlich zu fallen, sondern zogen es vor, auf einem Felsblocke, eine gute Strecke

über dem Orte , Nast zu machen und uns , etwa anderthalb Stunden hinter Hospital , für die uns noch bevorstehende weitere beschwerliche Wanderung Kräfte zu sammeln. Das nunmehr unter uns liegende Urserenthal mißt in seinem tiefen Grunde gegen drei Stunden , auf der Höhe aber von Mutsch in der Oberalp bis zur Furka gegen sechs Stunden in der Länge , durchgängig aber eine Viertelstunde in der Breite, und steigt mit seinen obersten Wurzeln durch das Unteralp , Gotthards , Wiesenwasser - und Sidlialpthal bis an die Centralalpenkette hinan.

Hier, wo man die durchwandelte Strecke von der Furka herab bis zur Gallerie und dem Felsrisse am Teufelsberge

hinab am Vollständigsten mit dem Auge beherrschen und die weitere Wanderung zum See abwärts an der Hand der Erinnerung und Phantasie leicht wiederholen kann, ist auch der gelegenste Nuhepunkt für einige Rückblicke. OFERT

XLVII .

Alpenpanorama. — Rückblick auf Uri und dessen Be-

wohner. - Alpenmährchenpoesie.

Wie der Greis das zurückgelegte Leben an dessen Ausgange , so beherrscht auch der Reisende den zurückge= legten Weg am vollständigsten auf der Berghöhe vor dem

Übergange nach der jenseitigen Wasserscheide. Der Blick von den Thalausläufern gegen die Thalwurzel hinauf ist immer verwirrend und unklar, wie die Ansicht des Jüng-

lings in seine bevorstehenden Männerjahre hinaus ; nur die umgekehrte Ansicht gibt klare Einsicht. Kann die Phantasie dabei auch nicht so schön ins Blaue hinein malen und entschwindet dem Auge in der Vogelperspektive so manches Einzelne , so ist dennoch nur auf diesem Wege

ein klarer Überblick möglich. Dieser , vielleicht einseitige Blick von den Höhen herab ist mir so sehr zur zweiten Natur geworden , daß ich mir mit aller Gewalt von einem aus der Tiefe emporsteigenden Thalzuge durchaus kein anschauliches Bild entwerfen kann , sondern nur von einem von oben nach unten herabstreichenden , dem Geseze seiner Entstehung gemäß , das die der Schwerkraft folgen-

den Gewässer der Höhen nach unten hinabzurinnen und sonach jene Runzeln , die wir Hochthäler nennen , in die

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hohen breiten Felsrücken einzusurchen und die Nezgestalt, die wir in allen Hochgebirgsgegenden finden , zu bilden zwingt. Ja, ein solches zusammenhängendes Nez bilden die Alpen , und nicht fern von der Mitte dieses ungeheuren Bergnezes , seine Hauptknoten in sich bergend , liegt unser gutes Land Uri , aus dessen Gotthardstocke alle Fäden dieses kunstreich verstrickten Naturgewebes in alle Richtungen hinauslaufen , am weitesten gen Osten, etwas be=

schränkter, obgleich mit erhabeneren Formen , gen Westen undSüden, am kürzesten gen Norden abgebrochen. VomGotthard aus , am vollkommensten von dessen riesigster Spike Fieudo, kann man diese Alpenverknotungen von ihrer innersten Wurzel an eine gute Strecke in der Natur er= schauen und sie sonach auch in ihrer weiteren Verzwei-

gung mit hinreichender Sinnlichkeit auf der Landkarte verfolgen.

Von hier aus sendet der Hauptgebirgstock , über das Mutthorn und die Furka in den Galenstock auslaufend,

seine zwei gewaltigsten Arme , die die nördliche und südliche Scheidewand des Nhonethales bilden , die Berner= und die penninischen Alpen, in südwestlicher Richtung ge= gen den Gensersee und Piemont hinaus. Ein kleinerer

Arm zieht sich nordwärts , gegen den Titlis am Engelberger Thale, daselbst in mehrere Nebenzweige gegen Altdorf, Sarnen und den Brienzer = und Thunersee abfal= lend; es sind die Urner- und Unterwaldner-Alpen. Von

den östlichen Verzweigungen , welche sich , obgleich den westlichen an Höhe der einzelnen Häupter nachstehend,

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bei weitem am ausgedehntesten und verschlungensten ausbreiten , vermögen unsere beschränkten Blicke nur einen kleinen Theil zu überschauen. Ihre nächsten Hauptrichtun= gen sind : nordöstlich die Glarner = Alpen gegen den Krispalt und Dödi ; rein östlich aber, den Gotthard und Luck= manier entlang, und mit dem lesteren und dem Glarner-Alpenzuge das oberste Rheinthal bildend , die rhäti-

schen oder Graubündner-Alpen, im Herzen Hohenrhätiens labyrinthartig in einander verschlungen und nördlich in

die Appenzeller und St. Gallner , südlich in die oberitalienischen Alpen , in weiterer östlicher Richtung aber in die Tiroler-Alpen auslaufend. Die lekteren durchziehen in drei Parallelketten dieses durch und durch gebirgige Land , wovon die nördliche (deutsche) Kette in die Chenen

Baierns und Oberösterreichs, die mittlere (die Fortsekung des vom Montblanc bis zum Großglockner hingestreckten Central = Alpenzuges) durch die norischen Alpen Steier-

marks und Österreichs in die Ebenen Ungarns abfällt, die südliche aber im weiteren Zuge der trienterischen, karnischen und julischen Alpen längs der venezianischen und kärnthnerischen Gränze, durch Krain, Istrien, Kroatien , Dalmatien und die Türkei

-

nur im schwarzen

Meere östlich ihre Gränze findet , so wie westlich im mittelländischen.

Wer sich dieses Alpenpanorama , das sich

nur gegen Osten ins Unbegränzte verzweigt , in den an= deren Weltrichtungen aber dem bewaffneten , und selbst dem scharfen gewöhnlichen Auge mit seinen Hauptumriſſen

übersichtlich entgegen tritt , lebhaft versinnlichen will, fin-

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det dazu auf dem Gotthard und Luckmanier, und nament= lich deren höchsten Spizen , Fieudo und Skovi , die beste Gelegenheit , und lasse sich nicht abhalten , dieselben bei

günstiger Witterung zu besteigen. Der früher heraus= gehobene Hauptgebirgsknoten , vom Gotthard über die Furka und das Mutthorn bis an den Galenstock , dann der weitere nördliche Gebirgszug über den Susten, Titlis,

Spanörter bis an die Surenenalpen , bilden in Westen, der vom Gotthard über den Krispalten bis zum Dödi in

die Glarner-Alpen auslausende mächtige Bergwall aber in Osten die natürliche Gränze Uris gegen Unterwalden, Bern , Graubünden und Glarus , während es in Süden durch den Gotthard von Tessin , in Norden durch den Vierwaldstädtersee von den drei übrigen Ur-Cantonen abgetrennt ist. Wenige Ländchen der Welt werden sich einer

so genauen Abgränzung , wenige einer so scharf abgezeich= neten Physiognomie zu rühmen haben. Uri ist ein von Südwesten nach Nordosten aufklassender Bergriß, den die unversiegbaren Gewässer der Gotthardskette im Vereine

mit erderschütternden Revolutionen der Urzeit durch die Gebirgsabdachung gegen die Fläche gebrochen. Nach gleichem Geseze entstanden offenbar die Seitenschluchten, durch

deren jede sich die Gebirgswässer in den See entladen. Solchergestalt können wir uns das Land Uri auch in dem Bilde eines riesigen Baumes versinnlichen , dessen

Wurzeln der Vierwaldstädtersee, dessen Stamın das Neußund Urserenthal, dessen Zweige die Seitenthäler bis Hospital aufwärts , und dessen von den Zeitstürmen seit

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wärts gekrümmter Wipfel endlich Furka und Gotthard .

Es besteht aus drei Haupttheilen: dem Urseren- , dem Schöllenen- und dem Reupthale , die wir früher in ihren

Hauptpartien durchwandert. Das Urserenthal war in der Vorzeit offenbar ein aus den Schneefirnen der höchsten Höhen entstandener und auf allen Seiten , nördlich vom Teufels - und Kilzerberge , die damals wohl zusammenhingen , rings abgesperrter Gebirgssee , mehrere Stunden

lang von Südwesten nach Nordosten hinwogend ; das Schöllenenthal war der durch irgend eine gewaltsame Erd-

erschütterung beförderte Durchbruch des Seegewässers gegen die nördliche Tiese , das Neusthal endlich der Abzugskanal gegen das untere Seebecken. Die beiden unte=

ren Partien haben ihre Physiognomie seit den darüber hingerauschten Jahrtausenden wenig verändert ; das Urserenthal in der Höhe ist aber seither aus einem ausge= trockneten Seebette eine der gesegnetsten Alpen der Schweiz geworden. Wem wäre wohl der hier blühende Viehstand und dessen Produkt , der hochberühmte Ursener - Käse, unbekannt ? Der Seeboden der Tiefe und der Berggrund auf beiden Seiten Gneus- und Glimmerschieferforma=

-

tion , welche die Verwitterung und die dadurch bedingte Vegetation so sehr begünstigen - machen im Vereine mit den schüßenden Felswällen rings umher diese Gegend zu einer der geeignetesten für die Alpenkultur , wodurch in diesem beschränkten Raume bei 1350 frohe und glückliche

Menschen ihren guten Erwerb finden , welcher durch den starken Durchzug über den Gotthard nach Italien und

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über die Furka nach Wallis und dem Berner Oberlande

noch beträchtlichen Zuwachs findet.

Es gibt hier mehrere

sehr wohlhabende Familien mit ausgebreitetem Handelsverkehre ; die Armen wandern gegen die Winterszeit häufig nach dem benachbarten Wallis aus , wo es ihnen selten an Arbeit fehlt - und so findet man hier oben sel= ten einen Nothleidenden und Bettler , deren Anblick in dem , freilich von der Natur weit weniger begünstigten

unteren Reupthale , dem Auge und Herzen so wehe thut. Die Ursener sind ein liebenswürdiger , lebensheiterer, gesanglustiger Menschenschlag , welcher sich schon in seinem

Äußern von den benachbarten Urnern in der Tiefe auf das Vortheilhafteste unterscheidet. Offenbar war diese hohe Seegegend , nach erfolgter Austrocknung, früher bewohnt , als die untere Thalschlucht, welche durch das reifende Berggewässer gewiß lange unzugänglich war. Von dieser Seite war das Urserenthal durch Abgründe und Wasserstürze im Norden abgeschnitten ; im Nordosten wohnten aber und wohnen noch rhätisch romanische , so wie in Südosten italienische Völkerschasten , welche mit den Ur-

nern durchaus keine Ähnlichkeit haben : die begründetste Vermuthung geht demnach dahin , daß diese Gegend von der bis hinauf betret- und beweidbaren Furka aus , in deren Umgebung einst die Wiberer wohnten und von wo

aus die nomadisirenden Hirten mit ihren Herden leicht

den Übergang gefunden haben konnten , ihre erste Bevöl= kerung erhalten habe, wofür auch die noch immer erkennbare Verwandtschaft der Accente und endlich der Umstand

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spricht , daß der Weg über den Gotthard früher bestanden zu haben scheint , als der gräßliche Felsschlund der Neuß betreten war. Zur Zeit der auswärtigen Oberherrschaft unter der Willkürsgewalt der Reichsvögte von Hosspen-

thal , finden wir Urseren seit dem Jahre 1323 unter dem Schuße des Cantons Uri , welchem es jedoch erst seit dem Jahre 1803 förmlich einverleibt ist. Mit Rücksicht auf die herrlich reine Bergluft dieses so hochgelegenen Alpenthales , die treffliche Unterkunft in Andermatt und Hospital , den lebhaften Fremdenverkehr am Scheidepunkte zweier der besuchtesten Fahr- und Saumwege und endlich

auf die hoch interessante Lage am Fuße des Hauptstockes sämmtlicher Alpengebirge , dürfte sich das Urserenthal,

vorzugsweise zu einem Sommeraufenthalte und einem Standquartier zu den interessantesten Excursionen für Solche eignen , welche sich stark genug dazu in Brust und Lunge fühlen. Ich habe bei den vorstehenden Schilderungen im Ur-

serenthale so lange verweilt , daß ich gegründetes Bedenken trage , Ihre ja vielleicht noch anderer , minder nachsichtiger Leser Geduld durch weitere Rückblicke in die

unteren Thalregionen der Reuß allzusehr zu ermüden. Auch war ich nicht in der Lage , sie in gleichem Maße kennen zu lernen , als das Erstere, das in traulicher Offenheit , wie sie manchen Gegenden und manchen Gemüthern eigen , unumwunden vor mir lag , während die tie-

fern Regionen mir, wie etwa ein menschenfeindlicher Greis, nur die finster drohenden Runzeln auf ihren Felsenwan-

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gen zeigten , keineswegs aber die schönen grünen und blumigen Kränze auf ihrer Stirne , die die ewige Hand der Natur dicht unter dem ewigen weißen ehrwürdigen Sil-

berscheitel umhergeflochten hat. Durch beschränkte Zeit in der wogenumbrüllten Tiefe der Felsschlucht fortgetrieben, war mir nicht Muße beschieden, nach rechts und links auf die heiteren Höhen hinanzuklimmen und mich auf ihnen in die ernst grünen Nadelwälder voll balsamischen Harzduftes und noch höher hinauf in die beblümten Weiden zu verlieren , die ich ja eben mit dem grünenden und blühenden Stirnbande jenes ernsten Bergesalten meinte, in dessen Bilde ich mir den Canton Uri verkörpert dachte.

Und droben wären mir wohl auch keine Bettelkinder und arme preshafte nothverkümmerte Menschen entgegen gekommen , wie auf der tiefen eingeengten Straße , sondern

blühende fröhliche Hirten, denn in der Tiefe bleibt ja nur in der schönen Sommerzeit , was , sorgen- und krankheitgedrückt , nicht mehr auf die Berge hinaufklettern kann. Ja , so ist's auch : Uri ist keine Felsschlucht , es ist

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nach der Charakteristik seines neuesten , ausführlichsten und kompetentesten Topographen Dr. Lusser - ganz

Wiesen - und Alpenland , von einem großen Hauptthale und mehreren Seitenschluchten durchfurcht. Auch seine Bewohner sind keineswegs aus der Art ihrer Altvordern der ersten Freiheitshelden der edlen Schweiz - geschla= gen; sie sind in ihrer Mehrzahl ein gesundes , fröhliches,

hochherziges , glückliches Alpenvolk , treu an ihren alten Bergen hangend, wie Kinder an den Mutterbrüsten, und

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es um kein anderes Land der Welt , wäre es auch an Schäßen und Früchten das gesegneteste, zu vertauschen ge= neigt. Ist diese Mutter auch oft hart und finster , wenn

sie mit den Kindlein zürnt und im Föhn- und Schneewinde , im Gestöber und Hagelwetter und im Lawinenge=

donner über ihren zagenden Häuptern herabpoltert , so ist ſte desto schöner und mütterlicher , wenn sie bei heiterer Sommer = und Herbstzeit mild auf sie hernieder lächelt, wenn die hellgrünen Matten und die dunkelgrünen Nadelwälder goldig erglänzen bei ihrem sonnigen Lächeln und im Morgen = und Abendschimmer unverwelkliche Rosen-

kränze auf den jungfräulich weißen Schnee ihrer Firnen herabsinken. Und sie versorgt und ernährt ja am Ende alle ihre Kinder , die gute Mutter , - Menschen und Vieh , und ein alter wohlbegründeter Volksglaube ist's, daß , wenn man auch gegen den Sommer mehr Vieh auf die Alpen treibt , als nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge eigentlich überwintert werden kann , die gute Mut-

ter und ihr und aller Dinge ewiger Vater dennoch dafür sorge , daß keines Hungers sterbe , sondern durch seine Engel erhalten werde bis zum neuen fröhlichen Viehauftriebe im nächſtfolgenden Jahre. Und wenn nach vollbrachtem Tagwerke die Abendglocken melodisch zur Ruhe läuten und die Hirten beim Abendfeuer gesellschaftlich hingestreckt sind , das Gemüth aber nicht rasten und feiern will , wie der behaglich hingedehnte Leib , sondern noch spielen und träumen , ehe es sich auslöset in süßer Nachtermattung , da erzählt die gute

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Mutter ihren Kindlein, so sie fromm und emsig waren, manches ergözliche und lehrreiche Mährchen vor — mei= stens von entschwundenem reicherem Alpensegen einer durch menschliche Schuld verscherzten besseren goldenen

Zeit, denn die alte weise Mutter weiß ja, daß sie Alplern nichts erzählen könnte, was ihnen mehr am Herzen läge, mehr zu Herzen ginge.

Wie ein von mehreren Seiten wiederhallendes Echo läßt sich in den verschiedensten Hochgebirgsgegenden der Schweiz die Sage von den Blümlisalpen vernehmen, welche

wie die gleichnamige Hochalpe im Innersten des Kanderthales , die größte und berühmteste dieses Na-

nunmehr tief herab verödet und überschneit in düsterer unbetretbarer Majestät als kahle Felskolossen vor

mens

uns stehen und doch in längst entschwundenen Jahrhun= derten blühende , von Segen strokende Viehweiden ge-

wesen seyn sollen , über welche der Hirten Übermuth den Fluch und die Strafe des Himmels herabgerufen. Da füllte

man, der üppigen Sage nach, die in unendlichen Maßen ausströmende Milch in tiefe weite Behälter , in denen die Hirten mit Kähnen umhersegelten , um den Nahm abzuschöpfen. In solch einen Riesenbehälter fiel einst der

schönste Jüngling im Thale und ertrank. Weinend fischte seine Geliebte mit ihren Gespielinnen den Leichnam aus

der fetten weißen Fluth und begrub ihn auf der Alpe höchster Höhe : über seinem Nasenhügel thürmten sie aber ein riesenhaftes Mausoleum von Fettkäsen empor, den Eingang dazu bildete eine Honigwabe von der Größe

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eines Kirchenthores , wie sie die fleißigen Bienen in damaliger Zeit aus unsäglicher Blumenbeute zusammengebacken haben. Zu Ehren seiner Geliebten übergoß einst ein üppiger Hirte eine ganze Alpe mit Nahm und pflasterte ihr aus dem tiefen Thale bis zu seiner Hütte empor eine Ehrentreppe aus lauter Fettkäse ; zur Strafe für solchen

Übermuth wandte der Himmel seinen Segen von dieser Alpe ab und als nacktes , schneebelastetes, unbetretbares

Felsungethüm ragt nun seither die ehemalige Blümlisalp zum Himmel empor , und der frevelhafte Hirte und seine Nachkommen versielen in die tiefste Armuth. Auf den Surenenalpen - an der Gränzscheide von Uri und Unter-

walden, wo ein Saumpfad bei 7200 Fuß über dem Meere von Altdorf nach Engelberg hinüberführt , herrschte in grauer Vorzeit ein reicherer Alpenſegen, als nur irgend

anderswo und weckte der Hirten Übermuth zur frevelhaf= testen Verhöhnung des Allerheiligsten. Bei einem tollen Gelage bekränzten sie den größten stärksten Widder mit Blumenkränzen, und tauften ihn, wie dem Ewigen zum Spotte , hohnwiehernd mit Nahm , ihm den Namen

„Greif" beilegend. Doch wehe ! urplöglich erwuchs das gemißbrauchte Thier zum gräulichen Riesenungeheuer mit Teufelshörnern, Eberzähnen, Geierkrallen und feuersprühendem Nachen, und zerriß, was da zugegen war, Vieh und Menschen, bis auf einen Einzigen, der sich dem Frevel vergeblich widersest hatte. Seither wüthete das fabelhafte Ungeheuer, Alles zerreißend, was ihm in die Nähe kam und die einst so besuchte Alpe zur Einöde umſtaltend.

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Ein frommer Eremit der Umgegend ertheilte den be-

kümmerten Hirten den Rath , einen schneeweißen Stier aufziehen , ihn durch sieben Jahre an der Mutter säugen und sodann durch eine reine Jungfrau in das unheimliche Surenengebirge hinüberführen zu lassen; der und kein anderer könne den schrecklichen „Greiß, besiegen. Dieß geschah ;

der säugende Stier wuchs die sieben Jahre hindurch zusehens und allmälich zu so entseglicher Riesengröße und Stärke heran , daß Jedermann vor seinem Anblicke er= zitterte und angelegte zehnfache Ketten ihn kaum bändigen zu können schienen. Zur festgesetzten Zeit ward eine unterdessen ausgemittelte reine Magd (deren Auffindung,

wenigstens in damaliger Zeit, in der Schweiz keine Schwierigkeit machte) herbeigebracht ; ohne Anstand ließ sich auch das schreckliche Ungeheuer von ihr an einer leichtenSchnur auf die Surenenalpe führen. Albald kam der fürchterliche „Greif " angerannt, und ein Riesenkampf, unter welchem die Erde erbebte und die Alpenweide weit umher ver=

wüstet wurde, entspann sich unverzüglich zwischen Beiden. Aber es geschah also, wie es der fromme Siedler ver-

kündet hat ; der wundervoll aufgesäugte weiße Stier wurde des Ungethüms Meister , welches unter seinen Hörnern verendete. Damit war aber seinerSendung Zweck erreicht, der siegende Stier trank alsbald aus einem dem Felsgrunde

entsprudelnden eiskalten Brünnlein, erhob ein lautes Ge brülle , davor Himmel und Erde zu erbeben schien, und sank, wie vom Blize gerührt, leblos zusammen.

Seitdem war zwar der eigentliche Fluch von der Alpe

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entnommen und Menschen und Vieh vermochten darauf zu

bestehen ; aber drückend lastete hinfür und lastet noch immer dessen böse Nachwirkung darüber. Die Alpe ist kaum mehr ein Schatten von ihrer vormaligen Frucht-

barkeit und Segensfülle, und es läßt sich sogar - seltsam genug ! - gleichsam der Geist des getödteten GreißUngeheuers vonZeit zu Zeit verspüren, denn es ergibt sich

nicht selten, daß ein junges Nindvieh um das andere auf der Alpenweide plößlich todt hinfällt , was freilich von

Solchen , die sich aufgeklärter dünken, aus dem auf den Grathen wehenden schneidend kalten Luftzuge und den daselbst entsprudelnden eiskalten Quellen, wodurch schnelle Erkühlung erfolge , erklärt werden will. Noch immer

zeigen die Hirten an einem Felsen am Stierenbache einen Fußtritt , der als Spur zum Gedächtnisse jenes wundervollen Kampfes zurück geblieben seyn soll. Unsere heiligen Religionsbücher melden von einem

ursprünglichen paradiesischen Zustande , aus dem wir durch eigene Schuld in unsere gegenwärtige UnvoUkommenheit herabgesunken. In gleichem Sinne lauten die Mythen der Griechen von einem entschwundenen goldenen

Zeitalter und die Sagen anderer Völker. Auch in dem vorstehenden Mährchen, und in vielen anderen seines Gleichen, klingt der gleichartige elegische Ton durch . Ach ! fühlt und versteht ihn am Ende nicht jeder Mensch auf Erden,

wenn er seiner Kindheit gedenkt, die ja auch ein Paradies, eine goldene Zeit war im Vergleiche mit der trüben dürftigen Gegenwart ? 0100EEE

XLVIII .

Der Furkapak. - Die Wasserscheide nach Westen. Die blaue Der Rhonegletscher und seine Wunder. Eisgrotte und der Rhoneursprung - Das oberste Haus -

im Canton Wallis .

Hinter Realp begann erst unsere eigentliche mühsame Bergwanderung durch anderthalb Stunden steil aufwärts, das Sidlialpthal hinan, dessen einsame Schlucht, zwischen der Doppelzinke der Furka und der silberweißen Kuppe des

Galmstockes gäh emporsteigend , wenig Aussicht und Abwechselung gewährt , aber dafür durch die zwischen den Felsenriken aufkeimende üppige Alpenflora reichlich entschädigt. Diese Blumen sind nebst Moose und spärlichem Graswuchse auch die letzten Vegetationsspuren hier oben,

wo die gespenstigen Schneehäupter schon ganz nahe über uns herabschauen und selbst unser schmaler , oft kaum

sichtbarer Saumpfad zuerst über kleinere Flecken , dann durch breitere Streifen , endlich durch weite Lager ewigen Schnees weiterführt. Die Luft ward nach und nach feuchtkalt, wie in der Tiefe etwa im November; unstäte Nebel-

wolken zogen an den Bergspiken hin und her , aber die Sonne strahlte doch immer siegreich durch , zu unserm II.

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großen Troste , denn auf den Höhen der Furka von bösem Wetter überfallen zu werden, hat seine großen Beschwerden und selbst Gefahren. Nicht unangenehm war es mir

daher, mit mehreren Gesellschaften zusammen zu treffen, und zwar zuerst mit einem jungen Franzosen und dessen Führer, die ich jedoch, da Ersterer einſilbig und ich weit besser zu Fuße war, bald hinter mir ließ , eben so wie eine spätere Karavane zu Pferde, wobei sich sogar Damen befanden.

Hier, wie in hundert anderen Gelegenheiten, war ich

über die Ausdauer und Übung meiner zwei gesunden Beine erfreut , die mich immer schneller und sicherer über die Berge brachten, als Andere ihre vierbeinigen Träger.

Nach etwa anderthalb- bis zweistündigem Klettern hinter Realp hatte ich endlich den berühmten Furkapaß erreicht, unter allen frequenten Alpenübergängen der höchste in der Schweiz , beinahe an 7800 Fuß Meerhöhe. Den

heftigen Luftzug auf dem Grathe nach der starken Erhizung scheuend, lagerte ich mich nahe vor demselben auf einem aus dem ewigen Schnee hervorragenden Felsblock und

warf dem in traulicher Übersicht unter mir liegenden Urserenthale und den hinter demselben hervorragenden

zackigen Gotthartsspiken den lekten Abschiedsblick zu. So saß ich denn ganz nahe an einer der merkwürdigsten

Wasserscheiden Europa's : von den lehterwähnten Bergen floß der Tessin nach Süden ; der zu meinen Füßen schmelzende Schnee rieselte nach Norden ; noch einige Schritte hinauf und dann jenseits hinab , und dieselbe Schneelage,

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die sich von meinen Füßen weg über den Grath zog, sendete ihre schmelzenden Tropfen nach Westen, in das mittelländische Meer hinüber. Der lektere Scheidepunkt war mir der merkwürdigste ; nach allen anderen Weltrich-

tungen hatte ich die Wässer bereits ziehen sehen , nur nicht nach Westen , nur nicht nach jener Weltrichtung die seit Kolumbus Zeit her uns beharrlich alle neuen Lebensimpulse gebracht hatte, und nach welcher es mein

noch immer jugendlich pochendes Herz stets so allmächtig zog und noch immer zieht, wie den Magnet nach Norden.

Die Karavane kam rüstig nachgetrabt; auch der einsilbige einzelne Franzose kam etwas langsamer nachgehinkt, und ich beschloß , mir den Ruhm, der Erste aus dem Riesensattel der Furka Play genommen zu haben, nicht rauben

zu lassen. Bald saßen wir nun Alle, eine bunte lebensfrohe Gesellschaft, wie sie der Zufall zusammengewürfelt , auf einem schönen Nasen- und Moosflecke , von welchem die

Augustsonne allen Schnee weggesogen hatte, und schauten mit weit größerem Staunen nach Südwesten hinüber, als früher nach Nordosten , denn was wir sahen , war noch

weit großartiger. Ein wüstes, ungeheueres, tief herab überschneites Felsengebirge , unsern erhabenen Standpunkt noch weit überragend, zog, am entgegengesekten Thalende denHintergrund schließend, vor Allem meinen Blick auf sich : es war das Sidelhorn , der höchste Gipfel des zur Rechten

im nackten Urgranitgesteine weit hingedehnten Grimselgebirges von mehr als 9000 Fuß Meereshöhe, von zwei

kolossalen Fels- und Eispyramiden noch hochgewaltig 3 *

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überthürmt , worunter die eine der höchste Riese im Berner Oberlande und in dem ganzen Schweizer= Al= pengebirge , der 13,224 Fuß über dem Meere erhabene Finsteraarhorn , die andere das 12,600 Fuß hohe Schreck= horn war. Zwischen beiden aber , und tief unter ihnen,

zogen sich , breit hingedehnt , gewaltige Felswände , mit Gtetschern untermengt , gegen das Sidelhorn herab , das wie ein Zwerg unter ihnen stand und doch wieder von stolzer Höhe auf uns fern herabschaute ; und wenn ich dabei bedachte, wie hoch wir über dem größten Theile der

Schweiz , wie viel höher noch über dem fernen Flachlande standen , so wollte mir fast schwindeln unter so vielen Vergleichungsstaffeln irdischer Erhabenheit. Vom Sidelhorn links herab lag der oberste Theil des Walliserlandes,

ein Chaos ungeheurer Berge , die sich jedoch sämmtlich beugten vor den früher genannten höchsten Kolossen der schweizerischen Alpenwelt , in graue Ferne hingedehnt,

aber es nebelte über ihnen und gestattete keinen Überblick. Die mehr als zehnthalbtausend Fuß über dem Meere er=

habene Furka zur Linken und der noch weit höhere Galenstock zur Rechten , bilden gleichsam die Rahmen zu die=

sem - zwar nicht wegen seiner weiten Übersicht und Man= nigfaltigkeit- um so mehr aber durch seine wüste Großar= tigkeit ausgezeichneten Alpengemälde. Der riesige Galenstock , aus dessen unermeßlichen Fir=

nenmassen der berühmte Rhonegletscher an der Gränzscheide der Cantone Uri , Wallis und Bern sich herabsenkt , zeigt sich schon dem prüfenden Auge als ein ewig

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Unersteiglicher; auch die höchste Zinke der Furka , ihm gegenüber , ist nicht zu erklimmen , wohl aber die zweite, welche einen unbeschreiblich herrlichen Fernblick über zahl= lose Alpen in Südwesten , bis tief in das untere Wallis hinab , gewähren soll. Erst als die Augen lange gesättigt waren , wurde an die hungrigen Magen gedacht und in traulicher Gemeinschaft verschmauset und verzecht , was die Schnappsäcke der Führer nur immer darboten ; in solchem Marsche wurde aber bald Alles zu wenig und die Herberge am Fuße des Nhonegletschers eine recht erquickliche Aussicht. Einige derHerren machten sich auf den Weg, um die scheinbar recht nahe stehenden Piks zur Rechten zu erklimmen ; meine Wenigkeit , mit den Täuschungen der Nähe und Ferne auf den Hochalpen besser vertraut, blieb dabei ruhig im Grase liegen , und nach einer Viertelstunde kehrten die Herren Alpenbezwinger wirklich mit der Versicherung zurück , die tückischen Spiken , welche sie in 10 Minuten

zu erreichen gedachten , hätten ihnen von oben noch eben so fern geschienen , als unten auf unserm Lager , eine Erfahrung , die wohl Jeder ein paarmal machen muß , ehe er die Sache glauben kann.

Nun ging's im raschen Fluge thalabwärts , immer die Eiskolosse aus dem Berner Oberlande unverwandt im

Auge. Sie waren aber auch die erhabensten Punkte, die mir noch je vor's Gesicht gekommen , denn Großglockner und Ortler , die gewaltigsten Bergriesen , die ich bis

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her kennen gelernt , stehen mindestens 1200 Fuß unter dem Finsteraarhorn.

Aber

wie hoch und stolz sie auch dastanden - in

einem kleinen halben Ständchen waren sie hinter dem niedrigeren , aber näheren Sidelhorn , und in einem weiteren Viertelstündchen war auch das Lektere hinter der tief unter der Furka stehenden Maienwang eingesunken, und steil abwärts schlängelte sich der Saumpfad am Fuße der kahlen Furka gegen das Rhonethal hinab. Eine Wendung- und der Nhonegletscher lag vor uns wie ein rieſiger weißbläulicher Faltenmantel von den höchsten Höhen des Galenstockes gegen die Maienwang zur Rechten und die Furka zur Linken hinabgebreitet und den ganzen halbmondförmigen Winkel des obersten Wallis ausfüllend.

Ich hatte bereits viele Gletscher , namentlich jene im

tirolischen Özthale gesehen , welche wohl zu den ausgedehntesten in Europa gehören; keiner von den früher Geschauten hat mich jedoch durch seine Großartigkeit in gleichem Maße erschüttert , keiner mir von diesen wundervollen Erscheinungen der Alpenwelt überhaupt ein an-

schaulicheres Bild zurückgelassen. Beide Vorzüge scheint er weniger seiner Ausdehnung , hinsichtlich welcher er in

der Alpenwelt von vielen seines Gleichen übertroffen wird , als vielmehr seiner Lage und Umgebung zu verdanken.

Der Rhonegletscher dringt aus einer Schlucht des

rings umher von einer unermeßlichen Schnee = und Eiswüste umgebenen Galenstockes hervor , zu oberst in sanf

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tem Abhange herabgesenkt , tiefer herab zwischen steilen Bergwänden sich seitwärts krümmend , in Tausende von

unregelmäßigen Kegeln , Brocken , Schlünden zerrissen und endlich in eine große plattgedrückte, etwa eine halbe Stunde breite Masse auslaufend , welche in der Länge

und Quere von zahlreichen Spalten durchfurcht ist. Dieser lektere Theil ist in sehr sanster Senkung , beinahe horizontal , ausgegossen und daher besonders von der unteren Thalschlucht gegen Wallis aus , die Gletsch genannt , wo der Gletscher sich beinahe bis dicht an den Saumpfad hindehnt , leicht zu beschreiten , wofern man nur unter der Hut eines erfahrenen Führers die Eisspalten zu vermeiden weiß. Da eine sehr heiße Sommerzeit vorhergegangen war , so hatte ich das , mir noch bei keinem anderen

Gletscher zu Theil gewordene große Glück , den Rhonegletscher beinahe ganz schneefrei zu finden und mich an seinen unverhüllten herrlichen Formationen und schauder= haften Zerklüftungen , so wie auch an seinem wundervol-

len , vom Felsengrau und Meergrün bis in das zarteste Himmel - und dunkelste Lasurblau abwechselnden Farben-

spiele nach Herzenslust erfreuen zu können. In diesen beiden Eigenschaften steht der Rhonegletscher keinem seiner

Nebenbuhler nach , so wie in der Großartigkeit der Umgebung nur dem Eismeere am Montblanc. Da überdieß der Saumpfad unterhalb der Furka durch eine Stunde

längs des Gletschers hinführt und ihn von seinem Ursprunge am Galenstocke an durch alle seine Abstufungen

bis an seinen Fuß hinab überschauen läßt, so ist wohl

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kein Gletscher in der ganzen Alpenwelt für die volle Übersicht günstiger ſituirt. Es möchte manchem Liebhaber der schauerlichen Natur nicht ganz zusagen , daß der Rhonegletscher (gleich dem Rosenlauigletscher oberhalb Meiringen) nicht den wilden entseßlichen Eindruck macht , den man von einer Naturerscheinung dieser Art erwarten zu müssen glaubt und bei den meisten Gletschern , nament=

lich bei den Özthaler-Fernern , der gefrorenen Wand in Tirol und dem Hallstädter = Gletscher in Oberösterreich wirklich findet; bei genauerer Beobachtung seiner selbst und des großartigen Naturbildes wird man aber finden, daß das Lektere in so reiner Erhabenheit vor uns steht, daß wir bei seinem Anblicke , wie etwa vor dem Mont= blanc , in stiller Bewunderung gar nicht zu jenen gewalt=

samen , haarsträubenden Gefühlen kommen , welche auch der wahren Naturschönheit fremd sind, und nur von einem verkehrten Geschmacke für eine Wirkung der Lesteren ge= nommen werden können.

Dieser harmonische Eindruck wird durch die nächste Umgebung noch verstärkt ; der Berghang längs des sich in

sanfter Majestät herabsenkenden Eismeeres ist schön grün bewachsen - ein wunderlieblicher Kontrast zr den graublauen Gletschermassen , die nur an dem untersten Rande, wo der wie organisch belebte Eiskörper den unter sich aufgewühlten Erd- und Felsgrund wallartig vor sich aufthürmt , gänzlich die Farbe des lekteren annehmen. An Größe und Schönheit unter allen Gletschern zwischen dem Montblanc in Südwesten und dem Dachstein in Nordosten,

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einen vorzüglichen Nang behauptend, gewinnt der Rhone-

gletscher überdieß durch den berühmten Strom , dem er Ursprung und Namen gibt , eine noch ausgezeichnetere Bedeutung.

Ohne mir in dem kleinen Wirthshause , wo

wir nun am Fuße des Gletschers anlangten , Erholung und Erquickung zu gönnen , begab ich mich sogleich auf

die Wallfahrt zur Urne des alten Rhodan. Über Trümmergestein ging der Pfad, oder vielmehr die pfadlose Richtung , immer längs der Maienwang und dicht über dem Gletscher an dessen linkem Rande fort , nicht gefahrlos

wegen häufigen Steinabrollens von dieser übel berüchtigten Wand und möglichen Abgleitens in die zerklüfteten

Abgründe des Gletschers zur Linken. Überdies stach die Mittagssonne senkrecht und glühend heiß vom dunkelklaren Himmel auf die nackten Steinmassen herab , und so ward diese kurze Wanderung eine der beschwerlichsten auf

meiner ganzen Reise. Aber der meiner harrende Anblick war dafür auch im höchsten Maße lohnend und entzückend. Nachdem ich einige Riesenbollwerke von Felsblöcken, welche - gleich Wursgeschossen streitender Giganten -der Berg in den Gletscher geschleudert und der Lestere wie-

der von sich zurückgeschoben und aufgethürmt überklettert hatte, stand ich vor jener berühmten blauen Grotte, welche an Naturherrlichkeit wohl keiner anderen , als jener noch berühmteren auf der Insel Capri , weichen mag. Das feste reine Gletschereis starrt hier senkrecht und überhängend , eine gewaltige Wand , bergtief in den Abgrund hinab ; ein weites Thor , wie durch Kunst eingesprengt

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und gewölbt, gähnt - gleich dem Eingange in eine be= zauberte Welt in eine blaudunkle Höhle nicht hinab, sondern hinan, aus welcher der jugendliche Rhodan, schon in seiner Wiege voll Jünglingskraft , mit trübgrünem reichen Wogenschwalle hervorrauscht und in seinem ju-

gendlichen Übermuthe schon gleich bei seinem Urspunge einen schönen Fall bildet.

Unbeschreiblich herrlich ist der

Anblick dieser wohl in unergründliche Gletscherspalten hinabklaffenden wahrhaft magisch blauen Cisurne, imKontraste zu ihrer Umgebung , eines Chaos von grauen und

gelben Felstrümmern, in den grauenhaftesten Massen wild über einander gethürmt. Ich leerte , nach gehöriger Abkühlung , einige Gläser des stärkenden herrlichen Eiswas= sers zu Ehren des altberühmten Stromes und seiner hoch= poetischen Wiege , und tiefe heilige Begeisterung durchströmte mich mit diesem eiskalten Ichor ; ich streckte mich auf ein von dem horvorragenden Felsen überschattetes Plätzchen, horchte auf das Brausen des Stromfalls, schaute halbträumend in die wunderblaue Eisgrotte und fühlte mich fast als einen Bestandtheil jenes einsam großartigen Naturlebens ein Gefühl , das wohl keinem schwärmerischen Naturfreunde ganz fremd ist. Eine so durch und durch poetische Stelle mußte durchaus von einer Sage verherrlicht seyn , war der erste vernünftige Gedanke, der endlich wieder in mir aufkam , und wirklich erfuhr ich in -

der Folge zu meiner Freude , daß eine blaue todtkalte

Eisspalte (welche nach meiner Überzeugung keine andere seyn konnte , als die blaue Nhonegrotte) der Siz eines

59 wenn verwünschten unglücklichen weiblichen Geistes nämlich auch im Geisterreiche der Geschlechtsunterschied

noch fortbesteht - und zwar etwas unpoetischer Weise einer Marquisin seyn soll , die schon über 1000 Jahre darin festgebannt sikt. Als solche soll sie sich nämlich ei-

nem frommen Pfarrherrn geoffenbart haben , der einst

nächtlicher Weile , nachdem er einem einsamen Alpler an derFurka die lehte Wegzehrung ertheilt, längs des Rhone-

gletschers einsam nach seiner Heimat (wahrscheinlich Obergestelen im Oberwallis) zurücktritt. Die Sage vermeldet

jedoch nicht , ob die gepukte schöne Dame , welche während ihres tausendjährigen Aufenthalts in der Eishöhle Jugend und Liebreiz conservirt haben soll , von dem ehrwürdigenHerrn erlöset worden sey, oder ob sie noch immer

an der Urne des kalten Rhodans ihre Jugendsünden , die sie wahrscheinlich nahe an dessen Ausflusse ins Meer begangen , zu bereuen gehalten sey.

Noch andere poetische Sagen knüpfen sich an den Nhonegletscher. So ist derselbe nach der Meinung des Volkes der Wohnsiz verwünschter Geister , deren Gegenwart und Unruhe sich namentlich in seinem unterirdischen Krachen und Donnern (das er freilich mit den meisten Gletschern gemein hat) kund gegeben. So wird ferner der rothe Schnee, welcher auf dem Furkasaumwege längs des Nhonegletschers , wie auch in anderen Alpengegenden, vorkommt und welchem, lautHugi aus Solothurn, die unter dem Schnee purpurn aufblühende Palmella nivalis zu Grunde liegt , im Glauben des Volkes durch die Spuck

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geister pflichtvergessener und fahrläßiger Fuhrleute bewirkt , welche den über den Furkapaß aus Wallis nach der nördlichen Schweiz oder aus Wälschland nach dem Berner Oberlande herübergeschafften Nothwein austranken oder ausrinnen ließen. In dem ziemlich armseligen Wirthswo sich nur vom Frühlinge bis zum Spät= hause

Herbste, da im Winter der Paß über die Furka und Grimsel unzugänglich , ein dicker Walliser = Wirth aufhält und gute Geschäfte zu machen scheint - hatte die vor mir ein= gekehrte zahlreiche Gesellschaft , durch neue Ankömmlinge von der Grimsel her verstärkt , während meines poetischen Abstechers zum Nhoneursprunge sich praktischeren Zwecken

zugewendet und alles Verzehrbare im Hause in Beschlag genommen , bis auf etwas Brot und Wein , womit ich, nebst der Aussicht auf ein Abendmal in dem über zwei Stunden entfernten Grimselhospize mich vor der Hand begnügen mußte. Man reichte mir sehr guten La Côte, einen am Genfer Seeufer wachsenden burgunderähnlichen rothen Wein , für mäßig hohen Preis , und hier , so wie fast in der ganzen Schweiz , hatte ich Gelegenheit , mich eines großen Vorzuges vor meiner sonst so werthen Hei-

mat zu erfreuen , wo uns in entlegneren Wirthshäusern so manches magenbrechende und gedärmzerreissende Höl-

lengebräue statt eines guten Österreichers , vielleicht sogar statt eines Eilfers aufgetischt wird. Schlechte Weinsorten findet man in der Schweiz und in Italien , so weit ich

das lektere Land kennen gelernt , durchaus nicht , dafür aber auch keinen duftigen und öligen Nektar , nach Art

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eines uralten Österreichers oder Rheinweins. Uns ist in der Regel nur das Schlechte und das Tressliche beschieden ; dort ist gute Mittelwaare an der Tagesordnung und dabei fährt der Reisende in der Regel besser.

OCE

XLIX.

Die Maienwang. - Der todte See.

Das Grim-

selhospiz und seine Umgebung.

Ein beschwerlicher Bergpfad , der bei eintretendem Thauwetter wegen der herabrollenden Felsstücke sogar als

gefährlich gilt, führte mich nach anderthalbständigem Klettern, streckenweise wieder durch breite Streifen tiefen ewi-

gen Schnees , über die Maienwang auf den Rücken der Grimsel , welcher (6610 Fuß über dem Meere) zwar bedeutend unter der Furka steht , jedoch , wahrscheinlich wegen seiner Lage und der Nähe der höchsten Kolosse des Berner Oberlandes und ihrer vielen Gletscher , eine weit ödere und winterlichere Physiognomie trägt. Die Ma i en=

wang (blumenreicher Abhang) steht übrigens in einem gewiß unverdienten Ruse besonderer Gefährlichkeit , und

wird auch jährlich von tausend Wanderern zu Fuße und zu Pferde zurückgelegt , ohne daß ein sich dabei ereigneter bedeutender Unglücksfall bekannt geworden wäre. Sie ist

(ihren Namen rechtfertigend) an den herrlichsten Alpenblumen so überaus reich , daß der Botaniker auf ihr eine noch größere Ausbeute , als auf der Furka , finden soll.

Ihre Klüfte sind von zahlreichen Murmelthieren belebt. Ihre gerühmte herrliche Aussicht (die ich übrigens am

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nächsten Tage auf weit erhöhterem Standpunkte vom Sidelhorne aus bewunderte) war mir für heute in Nebel verhüllt , die im Allgemeinen auf der Grimsel , deren Seitenschluchten gegen so viele Gletscher - Werkstätten

des trüben Wetters - hinanreichen , mehr zu Hause sind, als beinahe in jeder anderen Gegend der Schweiz.

Auf

dem höchsten Rücken der Grimsel , auch Bauseck genannt, wo man fast kein Gras und Moosfleckchen mehr , sondern nur - theilweise weiß überstäubtes, ödes , nacktes Trüm-

mergestein findet, liegt ein in den Rahmen ewigen Schnees eingefaßtes und vom ewigen Frosthauche starrendes, trüb-

selig schwärzliches Gewässer , der „todte See" genannt, einer der höchsten Gebirgsseen in der ganzen Schweiz. Ich erinnere mich kaum irgendwo einen melancholischeren Winkel der Welt angetroffen zu haben, und beeilte mich, diese unheimliche, in Süden vom Sidelhorn und weiter hinaus

von den Aargletschern begränzte Jochhöhe , über welche man auf mit Steinblöcken gepflasterten schmalen Saumpfaden zur Linken nach Obergestelen in Wallis, zur_Rechten nach dem Grimselhospize gelangt , sobald als möglich hinter mir zu lassen. Später bedauerte ich sehr , daß ich nicht vom Nhonegletscher nach Obergestelen und von dort

aus über den Griesgletscher nach Formazza , zu dem berühmten Wasserfalle der Tosa oder Toccia , gewallfahrtet war , welcher dem Rheinfalle bei Schaffhausen an Fülle

beinahe gleich kommen , ihn aber an Höhe des Wassersturzes und Herrlichkeit der Umgebung bei weitem übertreffen soll, und sonach vielleicht der erste Wasserfall in

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Europa ist. Der Hin- und Rückweg hätte jedoch bei 20 Stunden , also zwei angeſtrengte Tagreisen , in Anspruch genommen. Neisende , welche den Gotthard übersteigen, gelangen dahin von Airolo aus auf sehr interessanten Bergsteigen durch das Thal Vedretto und über den zwischen dem Griesberge und dem Monte Piavino hinstrei= chenden Hauptgebirgsstocke , von welchem sich viele Thäler nach Süden gegen denLago Maggiore hinziehen. Am

zugänglichsten ist dieser König aller Wasserfälle , welcher bereits dem piemontesischen Gebiete angehört , von Domo

dossola aus , stromaufwärts gegen die Tosa ; ein herrlicher Ausflug , welcher , so wie jener zum Monte rosa, von dort aus nie unterbleiben sollte.

Vom todten See

ging es nun auf erweitertem und gegen den Abhang zu

sogar gepflastertem Pfade steil abwärts gegen das Hospiz. Nie werde ich den Eindruck vergessen , den das Lektere und seine Umgebung voll der nacktesten , kolossalsten Großartigkeit in mir hervorbrachte. Vom Bergrücken der

Bauseck seitwärts , wo sich derselbe durch ewige Schneefelder an die weitere Höhe des Sidelhorns anschließt, führt

der Saumpfad in vielen Krümmungen über eine steile Felswand herab , welche den Thalgrund mit Tausenden der kolossalsten Felsblöcke überdeckt hat. In der Tiefe

des Lekteren, neben zwei trübseligen, schwarzdunklen kleinen Seen steht das Hospiz , ein erdfahles , ernstes , einstöckiges Gebäude , bei dem ersten Blicke kaum von den

Felsmassen ringsum zu unterscheiden , deren starre Massenhaftigkeit es zu theilen scheint. Auf allen Seiten sen-

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ken sich aber ungeheure, von Gelb und Grau in ein todtes

Dunkelgrün hinüberspielende Steinwände, alle noch schroffer und unzugänglicher , als aus unserer Seite und von den darüber lastenden Gewölken bis an den Fuß gleich-

sam aus einer einzigen, leb- und vegetationslosen Schichte bestehend, in das Thal hinab, das- an sich geräumig durch seine riesenhaste Umgebung die Gestalt eines verengten Kessels erhält. Nur gegen Wallis und gegen das Haslithal sind Zu- und Ausgänge ; gegen Südwesten eröffnet sich zwar eine von der tobenden Aar , die am Spital vorüber ihren weiteren Lauf nach dem lekteren Thale verfolgt , durchgebrochene Schlucht gegen die CentralAlpenkette , sie ist aber nur ein Sackgäßchen der Natur ohne weiteren Ausweg , der uns am Ende dieses Thales von den Aargletschern versperrt ist , deren Eiswüsten sich im innersten Thalgrunde , zur Linken und Rechten des

Zinkenstockes , nebst den gleichnamigen Gletscherbächen vom Finsteraarhorn und Schreckhorn herabziehen, und nur von jenen verwegenen Männern , welche im Jahre 1811 und 1812 die Jungfrau und das Finsteraarhorn bestiegen und über die jenseitigen Gletscher nach Grindelwald herabkamen , besiegt und überschritten worden sind. Nicht zu

beschreiben ist die Entsezlichkeit der Gegend rings um das Grimselhospiz , welches , obgleich nur 5880 Fuß über dem Meere , durchaus über das Bereich der bewohnbaren

Welt hinausgerückt scheint. Alle Berge ringsumher sind wie riesige nackte Todtengerippe der alten Mutter Natur ;

der Thalboden ist ein dürrer Gottesackergrund von den

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Trümmern ihrer Gebeine überſäet , und der darüber hinwüthende Bach heult gleichsam eine ewige Todtenklage. Das Granitgestein in seinen größeren Blöcken aber , die, hie und da häusergroß und thurmhoch über einander ge=

schichtet , die wunderlichsten Spalten und Klüfte bilden, von dürrem Moos arabeskenartig überzogen und durchflochten , und von dem hohlen Gewimmer des schmelzen= den Schneewassers eintönig durchsickert , es gleicht dem Trümmergerölle eines ungeheuren Obeliskes , der vor

Jahrtausenden vielleicht zusammenſank und uns späten Nachkömmlingen noch immer das Räthsel seiner Entste=

hung und Zerstörung zu lösen aufgibt. Ich kletterte, nachdem ich im Hospize vorläufig für ein Nachtquartier gesorgt hatte , auf einen dieser grauen bemoosten Trümmerhaufen , der den Saumweg und die vorbeirauschende Aar

beherrschte , und gab mich ganz dem Eindrucke der wüsten Natur in ihrer einfachen Großartigkeit hin ; sie hatte aber selbst für mich, den in ihre Schauer Eingeweihten, etwas

Erdrückendes. Ich flüchtete mich aus einer Umgebung, die unter Allem , das ich je gesehen , an kolossaler Ent-

seklichkeit nur vom Gemmipasse übertroffen wird, zu traulicher Menschennähe im Hospiz , und da es mir zuleht auch in dem von Menschen überfüllten Conversationssaale nicht gefallen wollte, in meine einsame, mit einem Bette, einem Stuhle und einem Tischchen meublirte Zelle. Das Hospiz , Grau in Grau , Stein in Stein , fast

wie ein größerer Felsblock zwischen kleineren anzusehen, liegt unmittelbar vor den mit einander verbundenen zwei

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kleinen traurigen , fischlosen Seen , am Ausflusse eines Bächleins , worüber es gleichsam als Brücke hingebaut ist. Ein noch unscheinbareres Nebengebäude für die Saumrosse , mit einem oberen Behälter für Waaren und Lebensmittel , schließt sich daran. Es ist ein Eigenthum der Landschaft Oberhasli ; der Pächter erhebt den Zoll und genießt die gewiß ziemlich kümmerliche Weide. Dafür hat er die Verpflichtung auf sich , wohlhabende

Reisende gegen Bezahlung, Dürftige aber umsonst zu ver= kösten und zu beherbergen , wogegen er jedoch während des Winters in der ganzen Schweiz Sammlungen anzustellen berechtigt ist. Er bleibt vom März bis 20. November und sorgt sowohl für die Unterkunft der Wanderer, als auch besonders in den gefahrvollen Zeiten des Vorfrühlings und Spätherbstes für die Offenhaltung der Pfade

und die Rettung der auf denselben etwa Verunglückten, zu welchem Ende er gewöhnlich einen tüchtigen, bergerprobten Spittelknecht zur Seite hat , wovon Einer im Jahre 1812 seine Meisterschaft über die Berge als erster Ersteiger des Finsteraarhorns an den Tag legte. Für spätere Reisende , die etwa noch nach dem 20. November eintreffen sollten , läßt der Spittelmeister ein Gemach und die Küche , nebst einem kleinen Vorrathe der nöthigsten Lebensbedürfnisse und etwas Brennholz offen , das An-

dere vorm Abmarsche verschließend und die ganze Behausung für den Winter , wo es hier durchaus unwohnlich und ungangbar ist , dem Schuße des Allmächtigen empfehlend.

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Das Grimselhospiz ist im Sommer und Frühherbste ein Mittelpunkt und Standquartier für die interessantesten Hochgebirgsausflüge , für welche dem Bergfreunde vor-

nehmlich schöne Witterung zu wünschen ist , welche hier jedoch seltener , als nur immer anderswo. Zu diesen Ausflügen kann wohl der interessanteste aus allen kaum mitgerechnet werden , da sich schwerlich Je-

mand finden wird , welcher Kraft , Muth , Übung und Ausdauer dazu in sich vereinigte.

Vom Grimselhospiz

aus erstieg nämlich eine Gesellschaft verwegener Männer, worunter namentlich Rudolf und Hieronymus Mayer aus Aarau und Arnold von Melchthal , Knecht des Grimselwirths , in den Sommern 1811 und 1812 die bisher unbesiegten beiden höchsten Bergspihen derSchweiz, Jungfrau und Finsteraarhorn. Unter den übrigen Ausflügen seht Wyß in seinen trefflichen „Reisen durch das Berner Oberland " den Besuch des bereits besprochenen Rhone-

gletschers oben an , offen beifügend , daß er das Sidelhorn selbst nicht besucht habe und daher über das rivalisirendeInteresse dieser beiden großartigen Punkte nicht ent= scheiden könne. Ich , der sie beide besucht , möchte ra= then , das Eine zu thun und das Andere nicht zu lassen, was um so leichter erscheint , als der Hin - oder Rückweg des Grimselspitals ohnehin die meisten Reisenden am Nhonegletscher vorüberführen dürfte. Müßte aber die

schwere Wahl durchaus getroffen werden, so würde ich für den rüstigen Bergsteiger doch am Ende dem Sidelhorne den Vorzug geben , weil wohl im ganzen Berner Ober-

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lande kein anderer ohne außerordentliche Mühen und Ge-

fahren zugänglicher Punkt einen so umfassenden Überblick in die höchsten Verkettungen des Alpengebirges , nament-

lich in der Nichtung des Simplon und Monterosa , ge= währt.

Zu höchst interessanten Excursionen eignet sich weiters der Oberaar , dann der Lauter = oder Unteraargletscher, Ersterer drei und eine Viertelstunde entfernt , beschwerli= cher und weniger lohnend , Lekterer zwei Stunden ent= fernt , mit geringerer Beschwerde erreichbar , und wegen der leichten gefahrlosen Besteiglichkeit des Eisfeldes , we-

gen der Aussicht auf das majestätische Schreckhorn , und endlich wegen der Kristallhöhlen des Zinkenstockes (vier Stunden vom Spitale) bei Weitem vorzuziehen. Hinter dem Erstgenannten dieser Eisfelder zieht sich derFinsteraar= und hinter dem Lektgenannten der Hinteraargletscher -

in Beide gewöhnlichen Alpenbesteigern unerreichbar die unnahbaren Regionen des Finsteraarhorns und Schreckhorns hinan. Das Sidelhorn gewährt nebst den früher erwähnten Vorzügen auch noch jenen , daß es von

seinem Gipfel den vollsten Überblick über alle diese, die Urne der Aar überziehenden unermeßlichen Eisgewölbe, so wie des majestätischen Finsteraarhorns, darbietet. Def= halb und aus entschiedener Vorliebe für alle , nur immer ohne eigentliche Gefahr erreichbaren Höhepunkte und Ausſichten bestimmte ich mich , bei meiner beschränkten Zeit und der dadurch gebotenen Auswahl für die Bergerkursion. Um 8 Uhr Abends - um welche Zeit selbst in der ersten

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Hälfte des Augusts in dieser , fast beständig von Eisne= beln getrübten Hochgebirgsschlucht beinahe schon tiefe Nacht

ausgebreitet liegt - berief mich das erwünschte Glocken= zeichen aus meiner einsamen Zelle , wo ich meine Zeit mit Schreiben zugebracht, zur Abendtafel. Im Conversationssaale fand ich eine zahlreiche Gesellschaft aus allen Ständen und Nationen, Herren und Damen , so bunt durch= einander gewürfelt, wie man sie nur auf der großen Tour durch die Schweiz , wovon das Grimselhospiz eine Haupt=

station , anzutreffen pflegt. Die aufheiterndsten Gespräche glitten, wie muntere Geister der anregendsten Geselligkeit, die lange Tafel auf und nieder ; ich hatte beinahe nur für dasjenige Ohr, was mir mein Vis-à-vis, ein erprobter Berg= wanderer , vom Sidelhorn , dem Ziele meiner morgigen Bergwanderung , erzählte , welches er auf einer früheren Bergwanderung besucht , und dessen Ersteigung er mir denn doch nicht so leicht und spielend schilderte , wie die Verfasser mehrerer Reisebücher , die selbst wahrscheinlich

nie oben gewesen. Dabei war die Tafel tresslich bestellt ; eine lange Weinliste enthielt die besten Sorten zu leidlichen Preisen, und als Ende der Dinge gewährte ein gutes Bett in einem reinlichen Zimmerchen eine ebenfalls nicht verwerfliche Perspektive. Ich überlasse es dem excentrischen Enthusiasmus der ersten Jugend , auf Bergreisen in einem sogenannten pri-

mitiven Naturleben, d. h. in der Beschränkung auf Alpenmilch und , wenn's hoch kommt , etwas ungenießbares Kleienbrot und einem Lager auf einer Herdbank in einer

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raucherfüllten Alpenhütte , bei schneidendem Zuge und zwischen den Extremen des Verbrennens und Erfrierens, oder höchstens in dem flohbelebten , dem städtischen Gaste

geräumten Bette einer Alpenprinzessin - gleichsam unmittelbar aus den Brüsten der Natur höchstes Entzücken zu schlürfen. Meine Wenigkeit ist durch manche Er-

fahrung in diesen Regionen zu der festen Überzeugung gekommen, daß wir durch ordentliche Unterkunft, gute Speisen und

Getränke, bequeme Betten und comfortables Leben überhaupt in dem Genusse der großen Natur die sich ja aus einem Hotel in Chamouny eben so großartig ausnimmt , als -

aus einer Alpenhütte am Glockner oder Ortler

keines-

wegs beirrt , sondern dazu erst recht befähigt werden , und

zwar aus dem einfachen Grunde, weil ein gesunder Mensch mehr , als ein kranker , ein gestärkter mehr , als ein er= matteter , für die Aufregungen des Lebens , und daher auch für die Genüsse der Alpenwelt empfänglich ist und es bleiben wird , so lange noch Berge bestehen und Menſchen , welche sie besteigen.

OLDEEE

L.

Bergbeherrschende AusBesteigung des Sidelhorns. ficht. - Verewigung in einer Flasche. - Die phan-

tastische Rutschpartie. - Auf Bergen ist Elysium.

Der Morgen dämmerte kaum, als mein wackerer Führer schon vor mir stand , und wir bald darauf unsere Bergwanderung antraten. Eswar ein herrlicher Tag, von kei-

ner Wolke, kaum von einem Bergnebel getrübt; keine Berg-

besteigung ist mir je in solchem Maße geglückt , dafür schien mir auch keine beschwerlicher , und ich überzeugte mich, daß solche Überblickspunkte in die höchste Alpenwelt nur um hohen Preis zu haben sind .

Unsere erste Wanderung ging den gestrigen Weg bis zum todten See zurück ; dort ließen wir den Pfad gegen die Maienwang zur Linken , jener gegen Obergestelen gerade aus , und wandten uns zur Rechten , nach der weiteren Höhe der Grimsel. Eine halbe Stunde lang ging

es hierauf ganz erträglich fort , obgleich mitunter über immer breitere und festere Schneelagen ; weiter hinauf

bildeten sie aber hartgefrorene beträchtlich steile Wände, auf deren einer ich mich , da die Klippen zur Seite unzugänglich waren , eine gute halbe Stunde mit vieler Noth und Beschwerde hinanarbeiten mußte, was mir wohl auch

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ohne die Hülfe meines guten Melchior von Wiesenflur, welcher mich fortwährend an der Hand hielt und nach sich zog , nimmermehr gelungen wäre. Anderthalb Stunden vergingen bei diesem beschwerlichsten und wohl auch be denklichsten Marsche meines Lebens , der mich , ohne daß ich während dieser Zeit fast nur ein einziges Mal festen Fuß zu fassen vermochte , an schwindelnden beeisten AbHängen , und über thurmhohen Felsspiken vorbeiführte ; eben so viele Zeit hatte ich ungefähr vom Hospiz bis zum

See zugebracht - nun aber war das Ärgste vorüber, und es galt nun nur noch ein wackeres Klettern von einer

guten Viertelstunde über eine Pyramide von wüst über einander gehäuftem Felsgestein von so entseklicher , wahrhaft haarsträubender Zusammenwürslung, daß ich nie früher oder später etwas ähnliches gesehen , oder mir auch nur als möglich gedacht hatte.

Es war kein zusammen-

hängender Berg mehr , was ich bestieg; es war ein wirr durch einander geschobenes Gehäufe kleinerer und größerer, mitunter ungeheurer abgelöster Gneußmassen , zu steil aufgethürmt , als daß Schnee und Eis auf ihnen zu laſten vermochten, tiefe Schlünde und Untiefen, ja Spalten bildend, zwischen welchen der Himmel mitten durch den Berg

durchblickte ; es war ein unordentlich durch einander ge= worfener Haufe von Felsgeschossen aus der alten Titanenoder Gigantenzeit. Hier , wo der Fuß nicht mehr glitt, sondern zwischen den Felsenrihen festen Posten fassen konnte,

war für mich sicherer Boden , um meine Kletterkünfte an den Tag zu legen , und athemlos jubelnd erstieg ich fast II.

4

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zu gleicher Zeit mit meinem Führer die nach den Messungen des Ingenieur - Lieutenants Frei 9435 Fuß über das Meer erhabene Spike des Sidelhorns , den höchsten Höcker der lieben Muttererde , auf welchen ich armes

Infusionsthierchen mich je hinangeschwungen.

Wahrlich , ein merkwürdiger Übersichtspunkt einer der ungeheuersten Partien des Alpengebirges - zwar nicht so umfassend, wie vom Faulhorn, nicht so reich und weltbeherrschend , wie von der Nigi , aber beinahe großarti=

ger , als beide , und ich möchte sagen „ antik vollendet, " da sie in ihrer Beschränktheit lauter durchaus erhabene Gegenstände umfaßt, und jeden derselben, ganz ohne alles Verschwimmen in romantisch duftiger Unbestimmtheit, selbst einem kurzsichtigen Auge bis in seine kleinsten Einzelnheiten leicht erkennbar ins hellste Licht seht. Gegen Osten lag der Schauplah meiner gestrigen Nachmittags= wanderung vor und großentheils unter mir : die Maienwang , der ungeheure Galenstock nebst dem von ihm auslaufenden Rhonegletscher bis in seine oberste Wurzel hin= auf , Mutthorn , Furka und der zackige , vielfach durchfurchte Rücken des St. Gotthard . Wahrhaft prachtvoll schloß sich hier in Südwesten die von ihm auslaufende Kette der lepontinischen Mpen an; der flache Griesgletscher , über welchen man zu dem prachtvollen Tocciafall im Piemontesischen wandert , lag tief unter mir , wie -

ein über die Berge gebreitetes schneeweißes, riesiges Tischtuch ,

-

weiter hinaus die Albinen und der Simplon

mit seinen vielfachen Verzweigungen , und den südwest-

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lichen Horizont schloß endlich , aus ewigen Schneemaſſen mit seiner Krone von Felsenhörnern prachtvoll emporstei= gend , der Gränzpfeiler zwischen den lepontinischen und penninischen Alpen , der majestätische Monterosa. In ſcheinbare Nähe herangerückt - obgleich in gerader Linie wenigstens 10 Meilen entlegen - vergönnte mir der lestgenannte Gigante jeden Schneestreif auf seinem braungelben Felsengerippe und besonders seine sieben höchsten Spiken , wovon die mittlere und höchste unersteiglich, und nur die zweite im Jahre 1822 von Zumstein erklom-

men worden , mittelst meines guten Fernrohres genau

zu unterscheiden , und die treffende Ähnlichkeit der Zeichnung in Welden's Monographie dieses Riesenberges zu würdigen , welcher bei einer Meereshöhe von 14,200600 Fuß in Europa nur den Montblanc als Rivalen anerkennt. Schon dieser Anblick wofür das Sidelhorn -

freilich einen der allergünstigsten Standpunkte darbietet entschädigt reichlich für alle Mühen der Ascension desselben. Die Angabe einiger Reisebeschreiber, daß man vom Sidelhorn den Montblanc erblicke, ist unrichtig, da leiderdie ganze ungeheure penninische Kette von näheren Vorbergen verdeckt ist , und zeigt , daß diese Beschreiber nicht aus eige-

ner Anschauung, sondern nur nach Hörensagen relationirten. Die süd = und nordwestliche Aussicht ist durch die ungeheuren Koloſſe des Finsteraarhorns und des Schreck-

horns begränzt , die beide in geringer Entfernung , aber in entseglicher Höhe aus schauervollen Eiswüsten herüberdräuen. Dieser beinahe erdrückend erhabene Anblick gehört, 4*

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nebst jenem des Monterosa , zu dem Ungeheuersten der ganzen Alpenwelt , denn nirgends kann man ohne Gefahr diese Riesenhäupter näher und übersichtlicher ins Auge fassen. Alle vier Aargletscher liegen , je zwei und zwei über einander gethürmt , von ihrer obersten Wurzel bis zu ihrem Abflusse, schauerlich nahe vor unseren Blicken; wir sehen die Aar aus ihren einzelnen Urnen den Eisgewölben entsprudeln und sich in der Tiefe schnell zu einem mächtigen Flusse ansammeln ; wir vernehmen von Zeit zu Zeit das Krachen der Eismassen und das Donnern der aus den

höchsten Firnen herabrollenden Lawinen. Dieß und etwa das Krächzen eines Jochgeiers, der sich von einem Granitblocke zum dunkelblauen , gegen die blendenden Schnee-

massen wunderlich kontrastirenden Äther hinanschwingt, sind die einzigen Laute, die aus der belebten Welt in unsere glänzende Wüstenei herausreichen; wir sehen uns hoch über ihr , aber ein Blick auf Monterosa , Finsteraarhorn und Schreckhorn drückt uns wieder tief thalab und wir

fühlen lebhaft , wie viele Abstufungen das Erhabene hat. Die Reisehandbücher sprechen auch viel von der unbe= schränkten Aussicht , die man von hier aus bis tief in das untere Wallis hinaus beherrsche. Ich bedauere wahrlich, auch in dieser Beziehung widersprechen zu müssen ; das oberste Wallisthal ist aber zu enge , und die dasselbe einschließenden Berge sind zu hoch und zu steil abfallend, als daß man nur bis Obergestelen in den Thalgrund

hinabblicken könnte , und die Ansicht der sich nach Südwesten ausbreitenden tieferen Thalgegenden ist von

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höheren Bergreihen , namentlich von dem ungeheuren Aletschgletscher und den Walliser Vischerhörnern verdeckt. Man suche daher hier oben keine Fernsicht ins

Thal, sondern nur einen grandiosen Überblick in die Verkettung der rhätischen , lepontinischen und penninischen Alpen und eine Vogelperspektive über zahllose Berggipfel. Eine auf dem obersten Scheitel des Berges aus Steingetrümmer aufgethürmte Pyramide enthält in einer Flasche die Namen der Ersteiger. Unglücklicher Weise fand es sich , daß weder ich noch mein Führer mit dem nöthigen Materiale zur Verewigung meines Namens versehen war,

indessen versicherte mich der Lektere , daß er bei seiner nächsten Ascension, die gewiß noch im Laufe des Sommers erfolgen würde , das Versäumte nachtragen , und mein ihm nachträglich übergebenes Stammblatt für den Bergriesen der Flasche einverleiben werde. Möchte doch ein mir wohlwollender Nachkömmling sich überzeugen , ob Melchior von Wiesenflur auch Wort gehalten ! Von hohen Bergen trenne ich mich immer mit tiefem Schmerze; es läßt sich einmal nicht bestreiten , daß man auf ihnen, wenn auch nicht im physischen , doch gewiß im moralischen

Sinne dem Himmel bedeutend näher stehe , als in der einförmigen leeren Tiefe , und jeder zwischen 4-10,000 Fuß über dem Meere zugebrachte Moment gehört bei mir zu den unvergeßlichen. Noch einmal prägte ich mir den überaus erhabenen Anblick recht ties in Aug und Herz und - kehrte den Stachel des Reisestocks nach unten.

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Der Rückweg ward bedeutend schneller , aber auch auf eine etwas bedenklichere Weise zurückgelegt. Wie beim Hinanklimmen mehr den eigenen Kräften , so fand ich

mich hier mehr unserm guten Glücke und der denn doch etwas waghaften Fertigkeit meines guten Melchior im Herabgleiten über das Eis anvertraut. Nachdem wir

nämlich vergeblich versucht , auf den steilen , ja überhängenden Seitenkanten des hier in einem bedeutenden Winkel abfallenden hartgefrorenen großen Schneefeldes fortzuklettern , hieß mich mein guter Melchior , seine kern-

haften Hüsten von rückwärts fest zu erfassen , er selbst aber fing zu gleiten an , anfangs langsam , dann mit immer wachsender Geschwindigkeit , geübt balancirend im sausenden Abschwunge , und mit seinem Mpenstocke sich geschickt und überlegt fortsteuernd. Hinter dieser stattlichen Fregatte schwankte ich - gleichsam ans Schlepptau

genommene schwache Schaluppe - anfangs ziemlich zagend und schlotternd , allmälich jedoch immer beherzter und selbstvertrauender daher ; war mir doch dieses Crer-

citium , das ich früher im Kleinen auf mancher heimischen Alpenhöhe versucht hatte, nicht ganz fremd.

Wie

herrlich glitt sich's im beflügelten Schwunge über das

glänzende Schneefeld ! Wie dunkelklar , fast nächtlich, lag der von keinem Wölkchen getrübte Himmel in beinahe schauerlicher Pracht über den blendenden Eisfeldern und schwefelgelben Klippen ausgespannt ! Wie erhöhte selbst

anfangs der Anschein von Gefahr, später aber noch mehr

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die einleuchtende goldene Sicherheit den Reiz dieser poe-

tischen Abfahrt ! Traumähnlich schnell waren wir auch wieder am todten See, und bald darauf im traulichen Hospiz angelangt.

LL. -

Wanderung durch's Oberhaslithal.

Handeck.

-

Der Aar- und Aerlenbachfall und seine romantischen Reminiszenzen. Die hochcivilisirte Alpenhütte. — Guttanen. Boden. Grund und Hof. Hospitalität. Begegnung aus dem irdischen Paradiese. Meiringen, das schweizerische Billerthal. - Bier-

-

symposion.

Der schöne Schluß des schönen

Reisetages.

Ein abkürzender Fußpfad von empfindlicher Steilheit, mit Stangen für den Winter bezeichnet, führte uns, während tief neben uns der grauenvolle, von der jugendlichen Aar durchrauschte Thalschlund mit dem Hauptsaum-

pfade lag, zuerst zu dem Spitalbrücklein , das mit einem steinernen Schwibbogen von beiläufig 15 Schritt Länge, nach dem linken Flußufer überseht. Das Hospital und seine erschütternd erhabene Umgebung werden bei der ra-

schen Thalwendung plötzlich unserem Blicke entrückt ; so freudenlos, ja entseßlich dieselbe aber auch ist- in Wahrfo heit ein Wüsteneigemälde , Grau in Grau colorirt riß ich mich doch nicht leicht davon los, denn der Eindruck war ein unvergänglicher. Die Landschaft behauptet fortwährend den Charakter

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schauerlichster Wildheit , die durch ihre Enge noch entseklicher wird, als am Hospitale. Zur Linken bezeichnet eine ungeheure Menge von Granit- und Gneuftrümmern, mitunter in haushohen Würfeln und Quadraten über einander geschichtet , einen alten Bergsturz mitten in der

Felsenwüste. Bald darauf erweitert sich das Thal; einige ungeheure vereinzelte Spigen unterbrechen die Einförmigkeit der auf beiden Seiten hingestreckten Felsenmauer ; einer dieser Kolosse , das Gerstenhorn , entsendet aus der Rinne seiner obersten Felsschlucht den Gerstenbach mit einem artigen Wasserfalle , wie deren auch aus dem Bächligletscher und anderen Wasserbehältern der höchsten Höhen noch mehrere nach einander in die Aar herabplätschern und der einsamen Gegend Leben und Abwechse= lung verleihen. Eine Brücke von 50 Schritt Länge , das große Böge= lein, überseßt, eine Strecke hinter einer einsamen Alpenhütte am Sturze des Bächlibaches , die in der Tiefe daherbrau-

sende , schon ansehnlichere Aar und gewährt in ihrer

Mitte einen günstigen Standpunkt zum Überblicke in die Einsamkeit hinaus.

Etwas weiter unten folgt das

noch merkwürdigere kleine Bögelein, ein über schaurigen Abgründen schwebendes Brückenwerk , mit einem einzigen kühn gespannten Bogen von 15 bis 16 Schritt Länge die Aar übersehend.

Ningsumher liegt der Granit fortwährend in den großartigsten Massen ausgeschichtet ; der Gedanke , auf den ältesten Bestandtheilen unseres Erdballs hinzuwandeln,

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verseht uns in eine wahrhaft feierliche Stimmung. Die Riesenmassen des Urgesteins spielen in den verschiedensten Kolorirungen - grau , schwärzlich , grünlich und mit Flechten überzogen - durch einander ; ein Maler , der diese seltsam aufgewürfelten Naturfarben recht naturge= treu nachschaffen wollte, setzte sich die undankbarste Aufer würde der Unnatur beschuldigt. Auf einer gabe, Seitenhöhe tritt aber mitten unter diesen grauenhaften

Massen eines der lieblichsten Naturspiele hervor ; man möchte es ein Riesenmosaik von der Hand eines mächti=

gen Berggeistes oder ein von einem Zauberer mitten im Gesteine festgebanntes Kaleidoskopgebilde nennen , oder auch einen in die Felswand eingemauerten Talisman von

Riesengröße, in violetten, röthlichen, gelblichen und grünlichen Farbenstreisen und Regenbogenringen fast augenblen= dend in einander spielend. Ein röthlicher Streif, über die dunkleren Massen der Felswand hinziehend, bezeichnet den

Saumpfad über die helle Platte (Höllenplatte) eine ungeheuer ausgedehnte abschüssige Felsenlage von schauerlicher Glätte, wahrscheinlich von einer Lawine so ausge=

plattet. Hier scheint es beinahe bedenklich zu wandeln , denn die Sicherheitslehnen sind abgemorscht und wenige Schritte von uns am glatten Abhange gähnen thurmtiefe Abgründe in die rauschende Aar hinab. Doch ist für den geübten Alvenwanderer keine eigentliche Gefahr vorhanden, denn über die ganze Platte hin sind Rinnen ausge-

meißelt, und auf den plattesten Stellen auch Löcher eingehauen und Steine aufgeschüttet , wo man festen Fuß

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faßt und vorm Abgleiten gesichert ist. Doch heißt es hier, hinter der eigentlichen Höllenplatte , nicht mit Unrecht zur lesten (unheimlichen) oder bösen Seite. Nach diesen Schauerscenen wirkt das idyllische Land-

schaftsbild der Handeck , die wir bald hierauf (gegen 3 Stunden vom Spitale abwärts) erreichen, um so überraschender. Die enge Schlucht hat sich zur geräumigen Thalebene ausgebreitet ; die starren Felsenwände- dieses Todtengebeine der Natur - haben sich , wie durch einen Zauberschlag, in das lieblichste Mattgrün umgewandelt ; wir finden uns plößlich aus der entseklichen, trostlosen Erhabenheit der obersten Haslithalregion in die mittlere versekt , wo Großartigkeit und Anmuth um die Palme ringen, bis in der unteren Region, namentlich gegen den

Brienzersee hinab, das Landschaftsbild den Charakter vollendeter Schönheit annimmt. Wo Anmuth und Würde um den Preis streiten - wie zumBeispiele in der wahrhaft zauberischen Umgebung Salzburgs - da finden wir gewöhnlich die hinreißendsten Gegenden ; so hier bei Handeck,

wo grünende Alpen und läutende Herden uns in ein seliges Tempe versehen , während Bergriesen des ersten Ranges, wie z. B. das Niklihorn mit 11,175 und das Steinhaus-

horn mit 10,755 Fuß Meereshöhe , uns nicht vergessen lassen, daß wir den höchsten Regionen des Berner Oberlandes nahe.

Die größte Merkwürdigkeit Handecks ist der weltbe= kannte Wasserfall der Aar, wenige hundert Schritte von der Alpenhütte am Wege. Obgleich von der beschwerli

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chen Bergwanderung etwas ermüdet , beschloß ich doch Rast und Erquickung bis nach der Besichtigung dieses Wogensturzes zu verschieben, welchem die an solchen Natur-

herrlichkeiten so reiche Schweiz wenig an die Seite zu stellen hat.

Der Nuf hat hier nichts übertrieben ; dieser

Wasserfall ist so außerordentlich , daß ihm an Kraft und Lebendigkeit nur der berühmte Tosafall im Formazzathale und allenfalls der unterste Sturz des Reichenbaches, an Wasserfülle aber nur der Rheinfall bei Schaffhausen vorangeht. Er hat vor den meisten anderen Wasserfällen den Vorzug, daß er von zwei wasserreichen Bächen, der Aar und dem

Arlenbach , die im Absturze sich vereinigen, gebildet wird. Ein über die tosende Wassermasse gespannter schwankender

hölzerner Steg gewährt den günstigsten Standpunkt, doch gehören starke Nerven dazu , um hier von der Naturallgewalt nicht verjagt zu werden.

Nechts die Aar , im krausverworrenen Schaumbogen bei 200 Fuß hoch von einer unterwaschenen Felsklippe

niederdonnernd, links der wasserreiche Ärlenbach wie in ungeduldiger Hast vom Aerlenhorne herniederbrausend -

und

von der Gewalt seines Absturzes noch in der

Luft in Schaumrauch zerstäubt ,

zu dem stärkeren

Strome sich gesellend ; beide Gewässer , tief unten im schaurigen Abgrunde durch einander gährend und eine wahre Wasserhölle bildend : dieß Alles zusammen ist ein ewig unvergeßliches Wundergebilde hochlandschaftlicher Pracht. In der Vormittagszeit zwischen 9 - 11 Uhr (die ich leider versäumte) ist dies großartige Naturschau-

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spiel durch buntfarbige, darüber gaukelnde Regenbogen gekrönt und verklärt. Eine aus der Wasserhölle in der Tiefe hervorragende

Klippenspike mag allerdings ein noch günstigerer Standpunkt zur Betrachtung des Wogenkampfes seyn. Hier ließ sich der Maler Wolf an Stricken nieder und malte in dieser Stellung den Wasserfall ; wohl nur für solchen Zweck war solch Wagestück zu rechtfertigen, - doch soll es ihm ein exaltirter Engländer nachgethan und in dieser Ein anschwindelnden Positur Flöte geblasen haben. -

derer günstiger Schauplaß ist der rechts herniederschauende höchste Felsenvorsprung , auf guten Treppenwegen leicht erreichbar. Freunden poetischer Reminiszenzen ist es vielleicht nicht ohne Interesse, daß auch Baggesen - als er in seiner schönsten Lebensepoche die Schweiz durchreiste und sein Gedicht Parthenais als schönste Frucht dieser Blütenzeit hervorging - hier oben saß und seiner Flöte

die Gefühle einhauchte, für welche er wohl keine Worte finden mochte. Sonderbar ! wie kann man hier etwas anderes thun, als - im Schooße der großen Natur untergehen?

In der Alpenhütte zunächst am Wege - die übrigens einer recht anständigen Schenke glich, welche Bestimmung

sie auch , bei dem großen Zudrange von Reisenden mit ihrer ursprünglichen vereinigt - fand ich eine zahl= reiche Versammlung von Engländern, welche sich gütlich thaten. Die Speisekarte war ganz einfach, die Weinkarte aber desto complizirter und exquisiter; ich las mit Ver-

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wunderung mehrere Sorten Champagner, begnügte mich aber ganz bescheiden mit einer Bouteille La Côte. Der Alpenhirt spricht mitten in deutschen Gauen , mit seinen

Gästen französisch und englisch. Champagner in einer Alpenhütte ! Man muß die Schweiz bereiset haben, um etwas so Unglaubliches zu erleben ; man muß es erlebt

haben, um es zu glauben. Unweit der Hütte sind einige allerliebste kleine Felspartien, von ehrwürdigen Bäumen

überschattet ; hier versaß und verträumte ich noch ein behagliches halbes Stündchen.

Der beinahe zweistündige Weg nach Guttanen führt uns, nach dem kurzen idyllischen Traumgebilde bei Handeck, wieder in die tiessten Schauer der wildesten Gebirgswelt

zurück. Cine steile gepflasterte Straßenstrecke leitet von der Handeckerkehren tief in den Abgrund nieder. Gräß-

liche Steintrümmer , mit purpurfarbenem Lichen übersponnen, gleichen einer vom Blute der Erschlagenen ge-

rötheten Wahlstatt eines ausgetobten Riesenkampfes. Darüber wälzt die Aar ihre noch vom nahen Sturze unruhigen Wogen und bringt ungestümes Leben in diese starre Leichenstätte der Natur. Der ihr stellenweise müh-

sam abgewonnene Pfad überseht sie auf zwei Brücken. Auf beiden Seiten dunkelgraue, dürftig bewachsene Felsen eine wahrhaft scheußliche Gegend, die der Erhabenheit hinter dem Spitale , so wie der Schönheit bei Handeck entbehrend, durch nichts zu fesseln vermag. Hinter dem ansehnlichen Dorse Guttanen , wo uns abermals eine Brücke über die Aar führt , wird die Um -

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gebung wieder freundlicher und heimlicher, Nach einer kleinen halben Stunde erreichen wir das kleine Dörschen

im Boden mit idyllisch zerstreuten Häuschen zwischen den üppigsten Wiesenmatten. In den plötzlichen Kontrasten zwischen Schauer und Anmuth liegt wohl einer der mächtigsten Zauber auf Gebirgsreisen. Hatte kürzlich noch

uns die scheußlichste Felswüste umstarrt , so athmete hier Alles Friede und Freude. Die sanft abgedachten Berge, so wie der himmlische Boden , von welchem auch das Dörf-

chen seinen Namen , sind hoch hinauf von den hellgrünsten duftigsten Alpenweiden überpolstert ; einzelne schneebedeckte Hörner schauen aber noch hoch darüber und verleihen dem poetischen Gemälde einen hocherhabenen Hintergrund. Hier ist ein Zollhaus , in welchem (wie dieß auch im Grimselhospital und an anderen Punkten der Schweiz der Fall ist) nicht nur von den durchpassirenden Saumthieren , sondern auch von den Fußgängern eine allerdings sehr mäßige Gebühr abgenommen wird ein -

Brauch , der mich anfänglich befremdete , den ich aber bei näherer Erwägung der Kostspieligkeit der Anlegung und Erhaltung von Saumschlägen und Fußpfaden in dieser wilden Gebirgsgegend wohlbegründet fand . Unsere weitere Wanderung führt uns über die obere und untere Urweide an einsamen Häuschen vorüber. Der Name dieser Wegstrecke spricht ihren Charakter aus. Mit den einsamen Schauern des Grimselpfades ist es vor-

bei

-

und auch mit seiner Ähnlichkeit mit der Gott-

hardstraße hinter Amsteg.

Lestere ist unverkennbar , be-

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sonders bei der Aarbrücke zum kleinen Bögelein , die ein offenbares Gegenstück zur Teufelsbrücke. Jeder dieser Wege hat indessen seine Vorzüge : die Gotthardstraße ist abwechselnder , der Grimselsteig majestätischer ; Erstere hat einen größeren Reichthum an seltenen Gesteinen, Lezterer nähere und imposantere Gletscher. Ein wunderschöner Weg führt uns in etwa andert= halb Stunden von Guttanen nach Grund und Hof, zwei kleine Vororte von Meiringen , in höchst bedeutsamer Lage bei der Vereinigung mehrerer Seitenthäler mit dem Hauptthale. Zur Linken zieht sich nämlich das Urbachthal, ein rauhes aber weidenreiches Alpenthal , gegen das Gauli - und Wetterhorn in unbeschreitbare Eiswüsten auslaufend ; gegen Osten münden sich aber das Mühli- , das Gadmen = und das Gentelthal , wovon das Erstere in milderer Lage schönes Obst liefert , die beiden Letzteren , rauher gelegen , aber reicher an Naturschönheiten sind und auf interessanten Bergstraßen über den Susten nach Uri und über das Joch nach Unterwalden führen. Fast un= widerstehlich lockt es den Wanderer insbesondere nach der letzteren Richtung , wo die ernstesten ungeheuersten Bergmassen sich beinahe wolkenähnlich über einander thürmen und zu dem lieblichen Landschaftsgemälde der klei=

nen Dörschen unserer nächsten Umgebung einen äußerst er= habenen Hintergrund bilden.

Meinen wackeren Melchior

von Wiesenflur überkam hier - gleichsam in dem ersten Vorhause vor seiner Heimat Meiringen - ein Anflug von ritterlichem und hospitalem Sinne ; er wollte mich

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auf seine Kosten mit einem Glase guten alten Weines regaliren und ich war gutmüthig genug , ihm seine Freude nicht zu verderben , obgleich ich wohl wußte , daß ein sol= ches Kapital , einmal angenommen , zu 500 Perzent ver= zinset oder im Superlativ zurück erstattet werden muß. Es hatte immer ein sehr anständiges und dabei cor= diales Verhältnis zwischen uns bestanden - nicht im Geringsten wie zwischen Herrn und gemiethetem Diener, sondern beinahe wie zwischen zwei angehenden Freunden, wovon der Eine , weil er sich in der Welt etwas verdie=

nen muß , dem Anderen , der etwas entbehren kann , gegen ein tägliches Honorar seine Lokalkenntnisse nukbar macht. Dabei hatte mein Begleiter bisher keinen Kreuzer antizipirt; er hatte sich nie in der Zeche frei halten

lassen , sondern dieselbe immer selbst bestritten (ein Übereinkommen , das zur Vermeidung aller Differenzenimmer fest im Auge behalten werden sollte) - und nun

nun sollte ich mir von meinem Lohnmanne noch im öffent lichen Schankhause ein Glas Wein zahlen lassen. Ich that , - was ich nirgends anders als in der Schweiz ge= than , und was man mir schwerlich anderswo angetra=

gen hätte ; auch hatte , aufrichtig gesagt , das kluge , freie umsichtige Benehmen meines Begleiters mir so sehr sowohl imponirt , als im vollsten Sinne das Herz abge= wonnen und uns in Gedanken und Gefühlen dergestalt

auf ein gleiches Niveau gebracht , daß ich es nicht über mich gebracht hätte , ihm seine Bitte abzuschlagen. Aufrichtig gesagt , wirkte hier auch die Neugier ein , wie er

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sich in dieser Lage benehmen würde ; er benahm sich aber so anständig , wie etwa ein feiner Diplomat , der seines Gleichen im eigenen Hotel eine Chre erweiset - und so hatte der Schlaukopf uns noch mehr , als es früher der Fall , auf gleichen Fuß gebracht , und mir überdieß die Verbindlichkeit auferlegt, ihn gelegenheitlich zehnfach zu regaliren und mit einem reichlicheren Trinkgelde zu be= denken.

Die weitere Wanderung von etwa einem kleinen

Stündchen bis Meiringen brachte mir eine Begegnung, die ich nie vergessen werde und die wohl selbst der phlegmatischeste Mensch in gleicher Lage nie vergaß - die Begegnung des schönsten weiblichen Wesens , das mir je im Leben vorgekommen. Auf einem schmalen Bergsteige

über eine überhängende Felsenwand , hoch über der im Abgrunde daherbrausenden Aar , begegneten wir mehreren von Meiringen aufwärts wandelnden Weibsper-

sonen , mit deren einer mein Führer sich sogleich in ein Gespäch einließ. Ich sah empor und schauerte beinahe zusammen vor dem Anblicke einer vollendeten

Schönheit , wie sie Griechenlands ideale Vorwelt wohl häufiger darbieten mochte, als unsere formenarme deutsche Gegenwart. Sie war hoch und schlank gewachsen , dem Anscheine nach kaum 20 Jahre alt und im Antliße so wie in den Körperformen so tadel = und makellos , daß

ich mit Zuversicht (wie Professor Winkler auf die Anzeige eines Rechnungsfehlers in seinen Logarithmentafeln) auf

die Enthüllung irgend einer Unvollkommenheit an dieser

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vollendet schönen Mädchengestalt einen Preis von einem

vollwichtigen k. k. Dukaten gesest hätte - und zwar um so lieber , wenn ich bei der diesfälligen Nachspürung hätte interveniren dürfen. Sie war übrigens blond , zart= weiß und mit dem blauäugigen Herrscherblicke einer Pallas oder Juno - Lektere natürlich noch in ihren jugendlichen Flitterwochen welterobernd in die Welt hinausSie vollendete in mir den übrigens seit schauend. langer - langer Zeit kaum mehr zweifelhaften Sieg der Blondinen über die Brünetten auf die glänzendste Weise. -

Verlangt nicht , daß ich sie euch schildere , liebe Leser ! der Neiseskizzist ist ja kein Porträtmaler (so wenig als N ***, der Hundsmaler, sich dies anmaßen sollte) - verlangt ihr aber nähere Auskunft , so wendet euch nur an meinen Führer, Melchior von Wiesenflur in Meiringen, der ganz

vertraut mit ihr that , mir nach der Hand erzählte , sie sei zu Thun in Diensten gestanden und kehre nun zu ihren

Angehörigen ins obere Haslithal zurück , und mir endlich zu verstehen gab , sie möge ihn gut leiden und würde ihm wohl ihre Hand geben , wenn sie Beide nur genug Geld Wäre hätten , um ihre kleine Wirthschaft anzufangen. ich ein reicher Fürst , Lord oder sonst ein zum Weltbe= glücken berufener Mann, ich stattete das Pärchen aus und wirkte dadurch mein Schärfchen für die praktischeste Seite der Kalobiotik , für die Verschönerung der Menschenrace, die man gewöhnlich weniger , als jene der Pferderacen,

ins Auge faßt - weil's nicht bezahlt wird , " fügt wohl -

mancher Jude und Christ bei.

Doch indem ich so un=

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fruchtbar phantasiere , hat wohl Melchior von Wiesenflur bereits (um mit Wieland im neuen Amadis zu sprechen) für den Topf den Deckel gefunden ; das Pärchen ist vielleicht nicht etwa nur verlobt , sondern schon lange vermählt , und wenn man ihn nach dem schönen Mädchen im Haslithale fragt , die früher zu Thun in Dienst ge= standen , so erwiedert er ganz sardonisch : Ein solches Mädchen gibt's nicht mehr ; die ist seit so vielen Monden mein Weib und wird nach so vielen Monden ein Kind-

lein auf ihren runden Knieen wiegen. - Vorstellen darf er sie aber dem neugierigen Fremden ohne alle Besorgniß ; „mit der ist Gott und seine Schaaren , " und dem Engel der Unschuld hat sich noch ein kleiner Dämon des der wahren jungfräulichen Schönheit eigenen Stolzes bei gesellt und Beide bewachen und behüten das holde Engelswesen , daß auch nicht der leiseste Hauch eines bösen Das verdroß mich wohl Gedankens sie anwehen mag. -

Anfangs, als sie mir meine an sie gerichteten Fragen nur ganz obenhin und schnippisch , ohne mich auch nur viel anzusehen , beantwortete , während sie doch mit meinem

Führer, ihrem alten Bekannten, ganz vertraulich that. Als aber das holde Engelsbild - ein nur zu flüchtiger, mir wohl ins Bodenlose versunkener Traum - ach ! ver-

muthlich für immer entschwunden war , dachte ich mir tief im Herzen : >>Der liebe Gott hat's gut gefügt, Das Röschen mitten in Dornen liegt.> Vorbei , vorbei Des Lebens Mai !