Vom Wesen deutscher Denker: Oder zwischen Kritik und Imperativ [Reprint 2019 ed.] 9783486769302, 9783486769296

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German Pages 204 [208] Year 1938

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSANGABE
MARTIN LUTHER ODER VOM GEIST DER SPRACHE UND DES PROTESTES
JOHANNES KEPLER ODER DIE ORDNUNG DES SICHTBARLICHEN
GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ ODER ZWISCHEN MATHEMATIK UND MUSIK
IMMANUEL KANT ODER VOM WESEN DES DENKERS
SÖREN KIERKEGAARD UND DER DEUTSCHE GEIST
FRIEDRICH NIETZSCHE ODER PHILOSOPHIE UND VERFÜHRUNG
OSWALD SPENGLER ODER DIE KRITIK DER GESCHICHTE
DAVID HILBERT ODER DIE RECHTFERTIGUNG DER MATHEMATIK
NACHWORT
SCHRIFTTUM
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Vom Wesen deutscher Denker: Oder zwischen Kritik und Imperativ [Reprint 2019 ed.]
 9783486769302, 9783486769296

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MAX VOM

WESEN

BENSE

DEUTSCHER

DENKER

VOM WESEN DEUTSCHER DENKER ODER

ZWISCHEN KRITIK UND IMPERATIV

VON

MAX BENSE

MÜNCHEN UND BERLIN 1938 V E R L A G V O N R. O L D E N B O U R G

Copyright 1938 by R.Oldenbourg, München und Berlin Printed in Germany Druck von R. Oldenbourg, München

Wer

das Tiefste

liebt

das

gedacht

Lebendigste HÖLDERLIN

Den

Freunden

des

heiteren

Herbstes

1937

VORWORT Vom Wesen deutscher Denker handelt dieses Buch, nicht vom Wesen deutschen Geistes. Im Denken wird das Wesen des Geistes sichtbar, aber mit dem Denker wird das Denken eben dieses Geistes menschlicher als der Geist selbst. Vom Geist zu sprechen wäre zu weit, zu rein und zu absolut, aber beim Denker zu verweilen, bedeutet, jene Ferne, jene kaum eingestandene Unmenschlichkeit des Geistes in eine schöne Unmittelbarkeit zu verwandeln und offenbar zu machen, wie alles Leibhaftige Größe gewinnen kann, wenn es sich der Gefahr und dem Glück des Geistes aussetzt. Vom Wesen deutscher Denker handelt also dieses Buch; die Bildnisse ihres Lebens und die Bildnisse ihres Denkens, wie sie sich suchen und wie sie sich fliehen, wie sie dunkle oder klare Tiefen, warme oder kalte Buchten schenken — dies alles soll eingefangen werden. Aber freilich ist nicht alles breit und gründlich ausgezeichnet, denn auch wir haben von den Malern gelernt, daß die Kontur selbst bisweilen das Ganze und das Eigentliche einfangen kann. Es wurden jene Denker gewählt, die weniger zu ihrer Fülle und zu ihrem Glücke gedacht haben, denn zu ihrer Vollendung, damit die Vollendung des Menschlichen ein Beispiel gewänne. Wir gedachten also jener geplagten Geister der Entscheidung, in denen der schweifende Geist auf das wachsende Leben stieß wie eine fremde Gewalt

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Vorwort

aus der Ferne, wie ein unabänderlicher Blick in die Zukunft des Menschlichen: Luther, Kepler, Leibniz, Kant, Nietzsche, Spengler und Hilbert. Hinzugenommen wurde Sören Kierkegaard, der Däne, der wie ein unvernichtbarer Wirkgeist diesen hier versammelten Denkschicksalen sich zugesellt und ein Gespräch mit ihnen begann, das über die Zeiten hinwegklingt. Nicht allein den Inhalten und Absichten, also nicht allein den Gedanken dieses Denkens der Denker gehen wir nach, sondern vor allem jener Tiefe, mit der hier gedacht wurde. Denn es ist jetzt an der Zeit, danach auszuschauen, wo noch tief genug gedacht wurde, es ist an der Zeit, daran zu erinnern, daß es gilt, tief genug zu denken, und nicht allein Inhalt und Absicht, also der Gedanke ist die Tiefe, sondern der Weg dieses Denkens in einem leibhaftigen Leben. Und gerade die Tiefe ist es, die das Denken kaum merklich aus einer zusätzlichen zu einer wesentlichen Aufgabe des Menschlichen macht. Denn während der Inhalt des Denkens noch den äußeren Bedürfnissen dienen kann, so liegt es an der Tiefe des Denkens, an seiner Kraft und der Ursprünglichkeit, mit der es geschieht, den inneren Menschen zu vollenden. Zwischen Kritik und Imperativ vollendet sich bei denen, die wir hier versammeln, das Denken. Als Kritik blickt es zurück, wägt es Erkenntnis und Wissen oder erwägt es den Geist selbst, aber als Imperativ lehrt dieses Denken den Geist, das Denken als Gesetz, gemahnt es an die Vollendung des Menschen, besitzt es die große Hoffnung, daß es solche Vollendung gebe. Jedes Denken geschieht in einem Leben. Hin und her geht die Zwiesprache zwischen Denken und Leben in den Genien. Ein inneres, einsames Zwiegespräch, das

Vorwort

g

bedeutet zuletzt das Bildnis des Denkers und so wollen wir aufzeichnen jenes zarte Verhältnis, das in den entscheidenden Denkern wie die geheimste Metaphysik des Daseins sich zwischen ihrer Leibhaftigkeit und ihrem Geist vollzieht und sehen, wie die Gedanken das Leben und das Leben die Gedanken bewegen, wie der Geist als Gnade und der Geist als Fluch, wie der Geist als Macht und der Geist als Demut sich vollendet.

INHALTSANGABE Seite

1. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes.

13

2. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen . . . .

35

3. Gottfried Wilhelm Leibniz oder zwischen Mathematik und Musik

55

4. Immanuel Kant oder vom Wesen des Denkers

73

5. Sören Kierkegaard und der deutsche Geist

99

6. Friedrich Nietzsche oder Philosophie und Verführung 7. Oswald Spengler oder die Kritik der Geschichte 8. David Hilbert oder die Rechtfertigung der Mathematik

. . . .

131 157

. . . 175

Nachwort

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Schrifttum

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MARTIN LUTHER ODER VOM GEIST DER SPRACHE UND DES PROTESTES

Wenn auch die Sprache nicht der Geist ist, so kommt doch aller Geist erst mit der Sprache und wird durch sie eine Macht, und sofern es heute eine deutsche Bildung und einen deutschen Geist gibt, die wahrhaft abendländisches Ereignis sind, haben sie sich in jenes zerbrechliche Gefäß einer Sprache ergossen, die Luther verkündigte. Verkündigte, denn er erdachte sie ja nicht; sie war ja da und bedurfte nur einmal einer mächtigen Äußerung, die alle anging. „Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigne Sprache im deutschen, sondern brauche der gemeinen deutschen spräche, das mich beide Ober und Niderlender verstehen mögen. Ich rede nach der sechsischen cantzelei, welcher nachfolgen alle fursten und könige in Deutschland. Alle reichstädte, furstenhöfe, schreiben nach der sechsischen und unseres Fürsten cantzeley. Darumb ists auch die gemeinste deutsche Sprache."

Und bedurfte Luther einer gemeinen deutschen Sprache, zunächst auch nur, um das Evangelium zu verkünden, so gedachte er doch auch mit ihrer Hilfe dem geistigen Raum der Deutschen, aus dem er kam, auf dessen Boden er widersprach, kämpfte und litt, das Sammelbecken zu geben, in dem alle zukünftigen Gedanken erdacht, ausgelegt und verdichtet werden könnten. Denn ihm war gewiß, daß die Sprache dem Geiste voraneilt, daß der Geist des Wortes bedarf um eine Kraft zu sein. „Die Sprachen sind die Scheiden, darin dies Messer des Geists stickt. Sie sind der Schrein, darinnen man dies Kleinod trägt. Sie sind das Gefäß, darinnen man diesen Trank fasset. Sie sind die Kemnot, darinnen diese Speise liegt."

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I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

In allen Predigten und in allen Schriften, die zum Protest aufrufen gegen das Unwahre, die überzeugen oder verführen wollen zu dem, was er als das Reine, das Ursprüngliche und nicht als das Ausgelegte, das Kommentierte bezeichnet, glaubt er an den Geist der Sprache. Unzählige Bemerkungen über das Verhältnis von Gedanke und Wort finden sich in den Abhandlungen, keine Mühe wurde gescheut, für jedes Ding und jedes Gefühl, jede Stimmung und jede Ahnung das rechte Wort zu finden, so wie es längst vorgeprägt war in oder hinter den Ausdrücken, die der Mann seiner Zeit auf der Gasse verwendete. So gedieh im fortwährenden Vergleichen langsam eine Sprache, die alle verstanden, eine Sprache, in der selbst den reinen Begriff noch eine Stimmung umweht, in der selbst der Ausdruck des Zarten noch ein wenig Erde mitbringt und in der die Vergleiche reifen wie Korn, schlank und beweglich, aber klar und kräftig. Sie erreicht das Höchste an irdener Fülle, Saft und Ton, wo der Zorn den Sprachfluß nach vorne treibt und ungestüm an die Behaglichkeit der Zeiten pocht. Nicht umsonst haben die großen Widersacher unter den deutschen Geistern, die Schopenhauer und Nietzsche, die Schiller und Grabbe die Sprache Luthers, diesen ewigen Wurf des Tintenfasses nach dem Teufel, am vortrefflichsten geübt. So scheint es fast als wachse diese Sprache, in der sich nun schon seit Jahrhunderten die Zwiesprache der deutschen Geister vollzieht, aus einem welthistorischen Zorn über die Unwahrheit der äußeren Welt, ja, die Logik des Zorns, die so gerne neue Begriffe erfindet, erreicht hier das Höchste. Sie hat nicht das Einschmeichelnde, Süße und Geschmeidige eingefangen, sie kreist vielmehr unaufhörlich um das Erdhafte, Kräftige, Bäuer-

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

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liehe und Tiefe. Daß der Erzprotestant Luther den Deutschen ihre Sprache verkündigt, ist selbst das ewige Gleichnis dafür, daß in dieser Sprache das Pathos des Widerstandes zu Hause ist. Denn mit Luther erscheint nicht bloß ein Protestierender gegen gewisse religiöse und kirchliche Mißstände seiner Zeit, mit Luther wurde offenbar, was der Mensch als Protestierender überhaupt sein könne. Denn der Protestierende ist jener, in dem der Geist allein nicht mehr genügt und in dem auch die Kraft allein nichts vermag, wenn das eine nicht auf das andere blickt und das eine dem anderen nicht die nährende Flamme bedeutet, die im Geiste die Begeisterung und in der Kraft die Überzeugung wachhält. Der „davongelaufene Mönch" hat den Mut zu jener Art höherer Undankbarkeit, die alle schöpferischen Protestanten auszeichnet und die sich gegen die Behaglichkeit des Zeitalters richtet, in das sie geboren werden und dem sie widerstehen und entfliehen mit der Atemlosigkeit nur zukünftig gestimmter Naturen. Ohne Zögern enttäuscht er alle, die im Sinne des Zeitalters etwas erwarten; der Vater will ihn zum Studium der Rechte bestimmen, aber humanistische und scholastische Magister locken viel mehr und schon im Jahre 1505 wird der 22jährige selbst Magister; seine Kollegen erhoffen von ihm Großtaten der Wissenschaft, der Auslegung, der Kommentierung, da beeindrucken ihn persönliche Erlebnisse derart, daß er die Universität Erfurts vertauscht mit dem Erfurter Kloster der Augustinereremiten, nun ganz mit dem nicht sonderlich einsichtsvollen Vater verfeindet; Staupitz, seinem Ordensprovinzial, gelingt es, diese Krisenzeit Luthers aufzuheben, Bense, Wesen

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I. Mattin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

schon 1507 erhält Luther die Priesterweihe und 1508 wird er Professor der Philosophie in Wittenberg und zwischen Vorlesungen, Predigten und Klosterdienst scheint sich von nun sein Leben zu vollziehen; aber alle die, welche solche Geruhsamkeit erwarten, werden wieder enttäuscht. Die Romreise des Jahres 1511, die Luther das zeitgenössische Übel an der Quelle, im Machtbereich des Klerus erkennen ließ, bedeutet die Erweckung des Protestierenden. Aber die Verzichte und Überwindungen sind zunächst innerer Natur. Im wahren Protestanten beginnt die Kraft des Protestes von oben, und immer liegt jener humanistische Zug in seinen Vorbereitungen, der über alle Kommentare weit zurück zu den Quellen segelt in der Einsicht, daß in aller Überlieferung die Wahrheit mit dem Älteren zusammenhänge. Der Liebhaber der scholastischen Disputationen erkennt auf einmal, daß in diesem Geschwätz über Auslegung und Gegenauslegung, darin die theologische Wissenschaft jeden seelsorgerischen Ernst überwuchert hatte, das, worum es ging, das Christliche, umgekommen war. Er liebte den Kampf, der in sich den Keim eines möglichen Sieges oder eines möglichen Unterganges trug, aber nicht fortzeugend ein und dasselbe, nämlich die unendliche Disputation erregte. Denn aus dem Philosophen kann erst dann ein Gesetzgeber werden, wenn er die Disputation in einen Protest verwandelt, weil nur ein Protest, aber niemals eine Disputation fruchtbar ist und weil eine Disputation zwar zu unendlichen Gesprächen, aber ein einziger wahrhaftiger und kräftiger Protest zu einer Handlung führen kann. Und eine Disputation kann man nur dadurch aufheben, daß man nicht gegen ihren Gegenstand, nicht gegen die eine oder die andere Partei

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

Stellung nimmt, sondern indem man die Disputation selbst in Frage stellt. Dies aber war der Anfang des lutherischen Zorns, der Anfang des Lebens, das Luther zum Urbild des deutschen Protestes überhaupt gemacht hat, der erste Wurf Luthers nach dem Teufel, der in jeder Zeit seine eigene tödliche Melodie der Bequemlichkeit und Albernheit vorspielt. Äußerlich jedoch dokumentierte sich der Angriff auf seine Zeit, halb zögernd noch, aber halb auch schon angriffslustig, in den fünfundneunzig Thesen, die der vierunddreißigj ährige Professor und Mönch am 31. Oktober 1517 an die Türe der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug, am Vorabend eines festlichen Tages, wie es seit Jahren geschehen war, um zum Kirchweihfest auf den Türen der Kirchen den zusammengeströmten Gelehrten und Laien auch etwas zu denken zu geben. Noch verrieten diese Thesen das alte disputbewährte scholastische Schema, noch waren sie in lateinischer Sprache abgefaßt, denn Luther gedachte seinen Zorn über den Ablaßverkäufer Tezels nicht vor das Volk, sondern vor das Forum der Theologie zu bringen. Aber es war kein neuer Disput, der hier begonnen werden sollte, sondern es war in Wahrheit ein Protest, der hier erhoben wurde, und Dispute und Proteste pflegen sich dadurch zu unterscheiden, daß jene meist dem Kurzweil des Zeitgeistes dienen, diese aber höchst unzeitgemäß sind und somit entweder totgeschwiegen oder aber zu gut verstanden werden. Luther wurde zu gut verstanden. Was aber ist es, das ihn zum Protestierenden macht ? — Welches ist die Methode, das Geheimnis, das Ziel seines Protestes ? — a*

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Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

Die Religiosität der Zeit bestand darin, daß man sich in der Kirche, in den Klöstern und auf Pilgerstraßen herumtrieb und vor Mönchen, Priestern und Kardinälen seine Frömmigkeit erfüllte, aber die wahre Religiosität, die Luther erkannte, stellt nicht vor Mönche, Priester und Kardinäle, sondern stellt vor Gott. Der Einzelne vor Gott, das ist zuletzt das Thema des lutherischen Protestes; daß er nicht vor Gott stehe, das ist seine Kritik, und daß er vor Gott stehen müsse, das ist seine Forderung. Gewiß wird man ihm mit Nietzsche den Vorwurf machen können, daß er das alte aristokratische Verhältnis zur religiösen Kultur, das Stufenreich der Laien, Priester, Bischöfe, Kardinäle und Päpste zerstörte, daß er da und dort vielleicht zuviel an Schönheit für eine Wahrheit eingetauscht habe; aber, so wird die lutherische Antwort lauten, was bedeutet eine Hierarchie unter Menschen vor Gott, der sie einsetzt, der über sie richtet, wenn der Einzelne vor Gott nichts mehr ist ? — Es gibt Zeiten, da ist jene gewisse Anarchie notwendig, die morsche Formen stürzt und die Urform wieder hervorkehrt. Aus einer solchen Zeit kommt Luthers Protest und die Urform des Religiösen, die er wieder hervorkehrt, ist, daß er den Einzelnen nicht vor dem Priester, nicht vor den Kardinal, nicht vor das Konzilium und nicht vor das Forum der Kirche bringt, sondern einzig und allein vor Gott stellt, auf das er sich entscheide, für oder gegen ihn, und wenn für ihn, dann wahrhaftig und „allein" aus „Glaube'^', und wenn gegen ihn, dann ebenso wahrhaftig und allein aus Verdammnis. Denn vor Gott gibt es keinen Schwindel, hier kann man nicht mehr betrügen wie vor dem Priester, vor dem Kardinal, vor dem Konzilium und vor der Kirche. Jenes berühmte Wort, um

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

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das man damals soviel disputierte, jenes Wort Luthers, daß der Mensch selig werde „allein aus Glaube", dieses „allein" also hat eine sehr doppelsinnige Bedeutung. Es bedeutet theologisch schmal und genau das, was es sagt, nicht die Werke und die öffentlichen Taten und Beteuerungen sind vor Gott wesentlich, sondern der Glaube, aber es bedeutet menschlich, daß vor Gott nur der Einzelne ist, nicht eine Masse, die den Einzelnen unsichtbar macht. Wer hier als der Protestierende der Einzelne ist — und immer wird der Protestierende der Einzelne sein — ruft auch zur Einzigkeit auf, indem er alle, Mann für Mann, jeden Einzelnen vor Gott stellt, wo er in der tiefsten Sekunde seines Daseins so sein muß, wie er ist. Eine Weltstimmung der Einsamkeit wird hier dem alten religiösen Wesen entlockt, das später, als Kopernikus und Kepler die Erde aus der Mitte des Weltalls verbannten, noch fürchterlicher, noch unerträglicher erscheint. Denn zu jener absoluten Einsamkeit vor Gott gehört Kraft, und wenn man Jahrhunderte hindurch unter dem Wissen gedacht, gelebt und geendet hat, daß die Erde mächtig und schön wie die ewige Ruhe in der Mitte des Raumes steht, dann kann man sich nur schwer dieses Vorrangs entwöhnen und scheint einer Würde verlustig, die am Anfang gegeben wurde. Luther fordert also die Kraft in uns heraus, ruft jeden Einzelnen zu seiner eigenen Mächtigkeit, und die Einsamkeit, in die er der Stimmung des Religiösen hinzufügt, ist die gleiche, in die Kopernikus und Kepler vor den neuen Ordnungen die Erde und ihre Bewohner im Weltall stoßen. Solche als metaphysisch empfundene Einsamkeit aber kann nur ertragen werden, wenn sie eine neue Macht setzt, wenn sie dem Einsamen die Macht,

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Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

die ihm genommen scheint, wieder zurückgibt. Daß vor Gott die Kirche wenig, aber der Einzelne alles bedeute, das ist die Gewißheit, die zuletzt Luther als Macht jenem Einzelnen zurückgibt, den er der alten Behaglichkeit zwischen Mönchen, Priestern, Kardinälen und Päpsten entriß. Daß der Einzelne vor Gott etwas bedeute, daß es etwas Entscheidendes bedeute, diese Gewißheit aus dem Religiösen, diese eigentliche Tiefe aller Frömmigkeit war der Anfang einer Freiheit des Denkens, dieser vor Gott möglichen Freiheit, der er lächelnd zusieht und ohne Kummer, die ein wenig später durch Kepler und Kopernikus völlig eingesetzt wird, von deren Leistung Goethe sagte, daß sie zu „einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte". Mit dem Thesenanschlag, der nicht nur an der Pforte einer Kirche, sondern an Toren einer neuen, aufsteigenden Zeit erfolgt war, hatte Luther seinen Protest gegen die religiöse Welt, die in der Unwahrheit bestand, begonnen. Nicht was die in der scholastischen Disputation so geübten Magister der Kirche zu sagen hatten schien ihm wesentlich, sondern was die Väter dieses Christseins, die Augustin und Paulus vermerkt hatten. Denn Luther war insofern der reine Repräsentant des Protestierenden, als in ihm die Liebe zum Ursprung und der Gedanke an die Zukunft zu einer innigsten Mischung gelangte, eine Feinheit, die den Protestierenden vom Propheten unterscheidet, den Luther nie zu sein vor hatte und auch nie sein konnte. Der Protestierende will einen neuen Anfang und unablässig weist er nach vorn, aber dennoch setzt er, wenn dieser Anfang groß und gewagt genug ist, die

I. Maitin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

Vergangenheit voraus, kommt aus einem Abschied, einer Wendung nach rückwärts, die dem Abschied von einer Dunkelheit gleich kommt. Denn die Position des Protestes, die Luther in einer welthistorischen Weise bezogen hat, ist eine Position zwischen Kritik und Imperativ, und die Macht seiner Predigt vor der scheuen Öffnung alles Zukünftigen ist gleich dem Maß an echter Vergangenheit, die in ihm ist. Das Maß der Forderungen an die Zukunft hat ein Maß von Vergangenheit, von süßer Erinnerung zur Voraussetzung, in der Gewißheit, daß immer nur das wirklich Ursprüngliche für die Zukunft entscheidend ist. Wer zu den Ursprüngen verführt, das ist sein Glaube, erzeugt die moderne Welt, und alle neuen Zeiten werden zuletzt damit beginnen, daß man das Ursprüngliche wiederholt. Dieser Anfang am Ursprünglichen währt zwar nur einen Augenblick lang, aber man kennt ja die berühmte Paradoxie, daß zuletzt auch die Ewigkeit von der Länge eines Augenblicks sein kann, wenn er nur genügend Tiefe habe, und in dieser Analogie von Augenblick und Ewigkeit treffen sich Kritik und Imperativ, Spott und Gesetz und besteht die Macht des Protestierenden und zukünftigen Geistes, genährt aus dem historischen Vertrauen, daß der Mensch tatsächlich noch eine Zukunft habe. Denn gerade durch diese Voraussetzung, durch diese geheime Mitte erweitert sich der Protest Luthers zu einem überkirchlichen, zu einem welthistorischen, der die Stimmung der Weltangst, die damals die Gemüter so gerne heimsuchte und die auch der Kraftausbruch der Renaissance nicht hatte aufheben können, ad absurdum führte. Denn Luther ist ein Sokrates unter den Deutschen. Wie Sokrates das Ende des eigentlichen Griechentums offen-

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bar macht und wie seine Hebammenkunst der Herauslockung des Wissens aus jedem Einzelnen wollte, in Wahrheit aber ganz und gar auf den zukünftigen Menschen bedacht war, so kommt zwar auch Luther aus einer schönen und mächtigen Zeit, aus der Renaissance, aber er entwächst ihr, er wendet sich auf einmal, durchaus mit dem Pathos der Kraft, die jene Zeit so auszeichnete, gegen die Leichtfertigkeit, gegen das Genießerische, gegen das Äußerliche, gegen das Unwahrhaftige einer Epoche, die ihrer selbst schon müde geworden war und fügt ihr mit seinem Protest die Reformation an, die sich auf das Kalte, Klare, Einfache, Prachtlose besinnen wollte. Denn jeder neue Anfang, jeder Einsatz des Ursprünglichen ist rücksichtslos, kalt und bäuerlich, vielleicht sogar häßlich. Beide, Sokrates unter den Griechen und Luther unter den Deutschen, beenden eine Zeit, beenden das Pathos eines Schöngeistes, indem sie eine absolut zukünftig gestimmte Haltung einnehmen, die sich weltgeschichtlich erweitert. Sokrates zerstörte eine Deutung der Welt, die zum Schönsten und Wohlbehütetsten alles Uberlieferten gehört; die lachenden Götter Griechenlands, die es vertrugen, daß man über sie lachte, endeten in seiner Kühle, die selbst noch anhält, wenn er, wie es in Piatons „Gastmahl" aufgezeichnet ist, eine berühmte Rede über den Eros hält. Auch Luther zerbrach das Wohltuende einer mythischen Schale, als er die gesamte Katholizität in Frage stellte, die zu seiner Zeit, wie Nietzsche es einmal bezeichnet hat, sich bereits mit der Lust zu leben ausgesöhnt hatte. Kierkegaard, der dänische Philosoph, der über 300 Jahre nach Luther nicht mehr nur eine zeitgenössische Katholizität, sondern eine zeitgenössische Christenheit angriff und verwarf, sagte ein-

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

mal, mit Luther sei die Zeit der weiblich gestimmten Religiosität vorüber, seine Lehre vom Glauben sei die reine Religiosität der Männlichkeit und sie sei eine Potenz höher als die andere. Damit bezeichnet er vortrefflich das Hintergründige jenes Umbruchs, der im Geiste Luthers, in der Folge seines Protestes vollzogen wird. Diese lutherische Religiosität der Männlichkeit lebt gleichsam gefährlicher als die beinah süße und behagliche Welt der weiblichen Katholizität, alles in ihr ist rauher, kälter, entschiedener, auswegloser; denn der Mensch steht nun nicht mehr wohlbehütet in einem Schoß der Kirche, die eine bezaubernde Macht ist und deren religiöse Beteuerung mit einem Raffinement ohnegleichen sich vollzieht, sondern er steht als der Einzelne absolut und allein vor Gott, klein und ohnmächtig, wie Luther gesagt hat, und ist nur angewiesen darauf, daß Gott Gnade übe. Jede Einzigkeit aber ist gefährlich, ist zerbrechlich, denn sie ist kaum übersteigbar. Gerade indem er also den Menschen in die Einzigkeit stellt, stellt er ihn in die gefährliche Frömmigkeit, zeigt er, wie der Fromme mutterseelenalleine vor Gott in dieser Welt sich befindet. Luther vertieft also die Weltlichkeit des Einzelnen, ja, indem er ihn so radikal, so schroff gegen Gott stellt, macht er die Ungeheuerlichkeit der Weltlichkeit, des Irdischen am Menschen erst einmal in der Vollkommenheit ihrer Erscheinung offenbar. Die Katholizität hatte mit ihrem wundervollen Stufenbau von Laien, Priestern, Kardinälen, Päpsten und Engeln den Menschen gleichsam in seinem irdischen Wesen verhüllt, hatte sein Dasein sanft verwischt, so daß es schwer wurde von einem Priester zu sagen, er sei ein wirklicher, irdischer, leibhaftiger Mensch; in jenen leisen Übergang von „unten" nach

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I- Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

„oben", vom Diesseits zur Ewigkeit war der Mensch eingewoben wie ein zartes Gespinst, das der Behütung bedürfe. Luther zerriß dieses Gespinst, in dem man katholisch träumte und glaubte, er macht den Menschen nackt, er verirdischte ihn restlos und führte ihn so jenem „gefährlichen Leben" entgegen, das damals, im Aufgang der technischen, politischen und wirtschaftlichen Neuzeit tatsächlich begann und dem Nietzsche die Vollendung zu geben trachtete, als er selbst Luther noch in seinem Protest gegen alle Werte, in seinem Kampf gegen die Kirche, ja, gegen mehr als die Kirche, nämlich in seinem Kampf gegen Christus und gegen Gott zu übertönen sich unterfing. Aber es gehört zum Wesen des lutherischen Glaubens, daß er keine Mystik setzt, daß er, obwohl er den Einzelnen nackt und einsam vor Gott hinstellt, nicht eine mystische Vereinigung fordert, denn in diesen Glauben kommt es geradezu darauf an, vor Gott als der Einzelne nackt und einsam in unbedingter Irdischkeit auszuhalten. Es ist eine Theologie der Härte, eine kalte, grausame Theologie, und das gefährliche Leben, das Nietzsche einmal verkündigen wird, stellt sich hier schon vor als eine gefährliche Religiosität. Diese Größe des Glaubens soll auch keineswegs den Geist, den Verstand aufheben. Luthers Glaube widerstreitet nicht dem Verstand, Glaube ist hier gleichsam der Verstand, der nur Gott zum Gegenstand hat, während aller anderer Verstand nur endliche, irdische Dinge in das Netz seiner Begriffe einspannt. Wenn also ein moderner Theologe, der gleichzeitig, ja in seinem Hauptfach ein bedeutender Logiker ist, wenn Heinrich Scholz sagt: „Wenn wir von Gott geschaffen sind, so werden wir daraus schließen müssen, daß er gewollt hat, daß wir auch unseren Verstand, den er uns

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

zugewendet hat, so in Funktion setzen, daß wir nicht als schlechte Haushalter desselben erfunden werden" — dann also ist das ganz und gar ein lutherischer Standpunkt, auf dem Glaube und Verstand sich eigentlich nicht mehr widerstreiten wollen. Scholz fährt fort: „Deshalb möchte ich mich dafür einsetzen dürfen, daß die Beweisbarkeit eines Satzes als solche nicht als ein Kennzeichen dafür eingeführt wird, daß dieser Satz nicht ein theologischer ist. Im Gegenteil 1 — „Verstand und Glaube haben hier keine scharfen Grenzen mehr, es sei denn, daß das eine vor dem Irdischen und Endlichen ist, was das andere vor Gott. Der Geist, der das Irdische, das Menschliche hat, die Zahlen, die Lehrsätze der Geometrie, die Regeln der Logik oder die Methoden der Erkenntnis besteht im Verstand, besteht im Beweis; aber der Geist, der Gott hat, besteht im Glauben und in diesem Glauben ist der Verstand nicht mehr der Beweisende, der ableiten kann, sondern der Verstehende, der hinnehmen muß. Vielleicht kann man die Folgen des lutherischen Protestes gegen seine zeitgenössische Religiosität und gegen die seiner Meinung nach aller Wahrhaftigkeit und Ursprünglichkeit müde gewordenen Katholizität, die sich nach jenem Abend des Thesenanschlags mehr und mehr in einem geschichtsbildenden Sinne auswirkten und in dieser Mächtigkeit erst langsam von Luther selbst begriffen wurden, auch folgendermaßen beschreiben: Die Religiosität des Katholizismus ist zuletzt doch weitabgewandt, und vielleicht hängt es gerade damit zusammen, daß in seinen Formen und Lehren eigentlich wenig vom Menschen und viel von Gott und den Engeln die Rede ist, während der religiöse Akt der als Reforma-

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I- Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

tion sich nach dem lutherischen Protest einstellte, eine Zuwendung zum Menschen bedeutete und weniger von Gott, aber mehr vom Menschen zu sprechen lehrte. Ein vergleichender Blick auf das Schrifttum des Mittelalters, seiner Theologie und seiner Philosophie einerseits und auf das Schrifttum des Protestantismus, seiner Theologie und seiner Philosophie andererseits zeigt ganz deutlich, daß man dort ganz und gar gottbezogen ist, während man hier überall, wo von Gott die Rede ist, im Grunde an den Menschen denkt. Damit hängt es zusammen, daß in der Katholizität der Einzelne wenig und die Kirche alles, im Protestantismus aber der Einzelne alles und die Kirche wenig ist. Das Ketzerische, das Radikale, das Anarchische des lutherischen Protestes lag also, denkt man an das Wesentliche und Geistige seiner Absichten, vor allem darin, daß dieser Protest als ein Protest gegen Gott selbst verstanden werden konnte. Die Kirche, dieses wundervolle Gefüge eines stetigen Übergangs aus dem Diesseits zum Jenseits, aus dem Irdischen der Tiere und Menschen zum Überirdischen der Engel und Götter, hatte den Menschen gleichsam zu einem höchst vagen Wesen gemacht, das eigentlich recht wenig zwischen Oben und Unten unterschied. Aber Luthers innerer Auftrag war eben die Unterscheidung, war eine Klarmachung dessen, was der Mensch sei im äußersten Gegensatz zu Gott und so wird bei ihm Gott vereinsamt und auch der Mensch vereinsamt im Sein, und der Glaube, den der Mensch hat und die Gnade, die Gott gibt, sind die unsichtbaren Brücken über diese abgründigen Einsamkeiten. So erhält hier der Einzelne seine Freiheit vor Gott zurück, aber er erhält auch die Freiheit, vor Gott zu

1. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

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sprechen, allein, unmittelbar zu ihm, ohne daß eine Kirche, eine Inquisition dazwischen tritt, und dies alles unter dem dunkel verspürten Werden, daß mit der Aufrichtung der Zeit auch der Einzelne klar und bestimmt heranwächst und es mehr und mehr sich verkündigt, daß auch er etwas Bedeutungsvolles sei — auf dieser Erde. Dieser Rückzug des religiösen Menschen in das Weltliche oder Irdische, der mit jenem Protest anhebt, und zwar in Form eines Theologisierens oder Philosophierens kommt zunächst darin zum Ausdruck, daß selbst der Priester verweltlicht wird, indem ihm tatsächlich die recht irdische Ehe gestattet wird. Nirgendwo kommt darüber hinaus aber diese Absicht deutlicher zum Ausdruck als in jener Tatsache, die einer der einfallsreichsten Gelehrten unserer Tage, Max Weber, herausgearbeitet hat. In seiner kleinen, aber folgenreichen Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des modernen Kapitalismus" hat Max Weber jene scheinbar geringfügige Wandlung aufgezeigt, die sich mit Luther in der Bedeutung des Wörtchens „Beruf" vollzieht. Mit Luther würde diesem Wort eine Bedeutung verliehen, die dem modernen Berufsgedanken entspricht. Mit Luther wurde überhaupt der moderne Berufsgedanke geboren, jener Gedanke, der aller Alltagsarbeit eine gewisse Weihe von oben erteilt, eine Art sakraler Rechtfertigung, und zwar im höchsten Gegensatz zu dem katholischen Ideal weltflüchtiger Askese. Aus dieser geistigen Lage aber stamme jener strenge Kalvinismus, der später bemerkenswert offensichtlich — vor allem in Amerika — zu einem Kapitalismus führte. In dieser höchst materiell gerichteten Entwicklung einer religiösen Grundstimmung mag eine Entartung liegen, Tatsache ist, daß gerade mit dieser

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

Entwicklung das Ursprüngliche jenes Protestes, nämlich die Geburt einer neuen, betonten Weltlichkeit des Menschen aus dem Geiste einer neuen Religiosität deutlich wird, einer Weltlichkeit, die zuerst jeden Einzelnen in seiner Freiheit vor Gott und in seiner Freiheit auf dieser Erde wesentlich machen mußte. Daher darf es uns auch nicht verwundern, daß jene lutherische Schrift in der alle diese Hintergründe schroff oder zart aufflammen, den Titel trägt: „Von der Freiheit eines Christenmenschen". Das Wörtchen Freiheit in dieser 1520 erschienenen, gleichzeitig in lateinisch und deutsch abgefaßten, mehr der Grundlegung seiner Absichten als dem kämpferischen Protest dienenden theologischen Schrift zu finden zeigt blitzartig an, wie sehr es in diesem Protest eben tatsächlich um eine neue Freiheit ging. Es sei darin „die ganze Summe eines christlichen Lebens" gegeben, hat Luther selbst von ihr gesagt. Wenn man die innere Geschichte des Abendlandes als einen Prozeß der Verwirklichung des irdischen Menschen auffaßt, dann ist es nicht mehr bedeutungslos, daß diese Geschichte groß wurde unter dem Zeichen der Menschwerdung Gottes. Darin liegt ein tiefer Hinweis — symbolisch oder unmittelbar, das ist hier gleichgültig —, was von Anfang an im Kern des abendländischen Wachstums beschlossen war: Das Abendland bedeutet in seiner inneren Geschichte, in der Geschichte seiner Seele und seines Geistes eine unaufhörliche Näherung an die vollkommene Verwirklichung der Weltlichkeit des Menschen. Daß der Mensch etwas sei, das auf der Erde lebt, daß er etwas sei, das zunächst einmal auf eine vollkommene Weise das Wesen des Irdischen auszudrücken hat, das liegt im Zuge seiner Geschichte. Mit Sokrates beginnt

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

sich das Menschliche Vinter die Macht des Logos zu stellen, wird es sich bewußt, daß der Logos jene Waffe sei, die unablässig der Erfüllung der menschlichen Forderungen an die Natur, an den Geist, ja sogar an Gott zu dienen hat. Luther fragt in seiner seltsamen „Lehre vom Dransein des Menschen" die schlichte Frage, „wie man doch vor Gott möge fromm werden" und er erkennt, daß dies nur jeder Einzelne für sich fragen kann und daß dies nur jeder Einzelne für sich durch seine Innerlichkeit, durch seinen höchst ureigenen Glauben werden könne. Damit ist der Einzelne gewonnen, der denkt und leidet, der Einzelne, der die Macht gewinnen und verlieren kann, der Einzelne, der überhaupt die Möglichkeit besitzt, in möglicher Vollkommenheit zu sein, was die Idee des Menschen verlangt. Über 300 Jahre nach ihm wird Nietzsche dann die Macht, den Leib dieses Einzelnen als das Große verkünden und den Einzelnen, den Luther vor Gott erkannte, sich abwenden lassen von Gott und seine Einzigkeit nicht mehr durch Gott, sondern durch seinen Leib und die Möglichkeit seiner Macht offenbaren. Denken, Glauben und Leben oder Geist, Demut und Macht, das sind die drei welthistorischen Rückzüge auf die reine Weltlichkeit, die sich an die Namen Sokrates, Luther und Nietzsche knüpfen. In drei gewaltigen Stufen, mit drei gewaltigen Ideen zieht sich hier der Mensch auf alles Irdische, auf alles Weltliche zurück mit einem Pathos, als wolle er ewig darin verweilen. Was der Mensch auf der Erde sein könne, das liegt in der Absicht dieses philosophierend sich ereignenden Rückzugs, der jedem Materialismus entrückt ist und wie ein tiefstes Gesetz unseres Daseins sich ausnimmt, in dessen genanntem und ungenanntem Namen von jeher die Pro-

I. Martín Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

teste erhoben wurden. Mit dem Geiste der Sprache, die verkündigt wurde aus einem zeitgenössischen Protest gegen die Kirche, erhob sich überhaupt der Geist des Protestes, der in gleicher Weise mit Leibniz gegen Spinoza, mit Goethe gegen Newton, mit Schopenhauer gegen Hegel und die Professoren oder mit Nietzsche gegen Wagner und die Moralisten auftritt wie Luther gegen die „Unfreiheit eines Christenmenschen". Als Luther 1546 starb, war er gerade als Schiedsrichter zur Beilegung einer Streitsache der Mansfelder Grafen beschäftigt. Wohl war er zu einiger Wohlhabenheit gelangt und konnte Klöster und Güter zu seinem Besitztum rechnen, aber er war schließlich noch immer die Natur, die Erscheinung, an deren Namen sich mächtigstes Widersachertum knüpfen sollte. Er hinterließ ein Riesenwerk, das jenes der Goethe und Leibniz an Umfang noch übertrifft, und blättert man aufmerksamer in den fast 60 großen Foliobänden der Weimarer Originalausgabe oder in den vielen Briefen und Sendeschreiben, in den „Schmalkaldischen Artikeln" (1537), in „Das Papsttum in Rom, vom Teufel gestiftet" (1545) und wie die Schriften alle heißen mögen, so wird man überall das Pathos des mächtigsten Widersachers unter den deutschen Geistern gewahr, das ihn in eine so eigentümliche literarische Verwandtschaft zu Nietzsche bringt. Denn nur noch bei Nietzsche sind Zorn und Protest in einem lutherischen Ausmaße in den Rang der Schöpfungsfähigkeit gelangt und wahrhaft Literatur geworden. Aus dem Geiste des Zorns und des Protestes wird den Deutschen die Sprache verkündet, aus dem Geiste des Zorns und des Protestes entspringt ihr „inneres Reich" und ihr bestes Philosophieren; und der Ernst, der im

I. Martin Luther oder vom Geist der Sprache und des Protestes

deutschen Geist jeden Gedanken und jedes Wort geradezu mit einer religiösen Stimmung erfüllt und so gerne mit Schwere belädt, ist eben der Geist jenes Zorns und jenes Protestes, die aufflammen, wenn irgendwo und irgendwann einmal die Behaglichkeit des Zeitalters als tödlich empfunden wird. Denn der Geist, der bei uns zu Hause ist, liebt es, in die Zukunft zu schauen, liebt das Zukünftige mehr als das Gegenwärtige oder Vergangene, das muß man zu seinem Verständnis wissen. Kaum irgendwo wird mehr an alles Zukünftige gedacht als bei uns, kaum irgendwo wird der Prophet heftiger herbeigewunken; aber der Geist, der hier wohnt, hat auch das feine Ohr für den zarten Wind, der noch keinen Baum gefunden hat.

B e n s e , Wesen

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JOHANNES KEPLER ODER DIE ORDNUNG DES SICHTBARLICHEN

Es gibt zweierlei Ordnungen, die äußere der Dinge und die innere der Gedanken, aber in Wahrheit kann keine ohne die andere sein Die Erkenntnis der Natur setzt die äußere Ordnung, aber die Philosophie setzt die innere Ordnung. Sofern die Geburt der Neuzeit auch ein geistiger Akt war, stehen an ihrem Aufgang Geister, die äußere und innere Ordnung stiften. Das Weltbild, das Kepler im Anschluß an Vorstellungen des Kopernikus und an Beobachtungen Tycho Brahes, des berühmten Astronomen, entwirft, bedeutet die Satzung der äußeren Ordnung, und ein halbes Jahrhundert später fügt Leibniz der so gewonnenen Harmonie der Planeten philosophierend eine Ordnung der Gedanken, eine universale prästabilierte Harmonie sowohl des Sichtbaren als auch des Nichtsichtbaren hinzu. Das Weltbild, das Kepler erkennt, verwandelt sich bei Leibniz in ein Weltwesen, das gedacht wird. Daher denkt Kepler auch stets in geometrischen Figuren, während Leibniz alles was ist der Arithmetik, den Zahlen unterwirft. Denn Geometrie geht auf äußere Anschauung und Ordnung der Dinge aus, aber Arithmetik, Zahlenlehre entwirft innere Anschauung, innere Ordnung. Wo Kepler auf die Wirklichkeit der Planeten und ihrer Anordnung nach Maßgabe geometrischer Gesichtspunkte eingeht, spricht Leibniz die Harmonie der Welt aus, indem er eigentlich von der Zufälligkeit der dinglichen Erscheinungen in Raum und Zeit absieht und das aufspürt, was hinter allem Wirklichen als

II. Johannes Kepler oder die O r d n u n g des Sichtbarlichen

das echte, unzerstörbare Sein der Dinge auftritt, das er Monade nennt. Wenn sich also auf dem langen Weg von Kepler bis Leibniz der mathematische Geist mehr oder weniger aus einem geometrischen in einen arithmetischen verwandelt, so vollzieht sich damit nur der Übergang aus der äußeren Ordnung, die Kepler entdeckt, in die innere Ordnung, die später Leibniz hinzufügt. Ein Zeitalter, das solcher Ordnungen bedarf, stammt aus der Unruhe, aus dem Zusammenbruch von Werten und Anschauungen, aus der Umbildung und Auflösung von Gefühlen und Gedanken, die einst der Inbegriff dessen waren, was man als Ordnung bestimmt hatte. Tatsächlich mutet das ganze Leben Keplers mit seinen fortwährenden Überschneidungen von Zukünftigem und Vergangenem selbst wie ein Tummelplatz der unentschiedenen Zeit an. Vergangen ist das Mittelalter der Scholastik und Dantes, wo allein Spekulation und Glauben ein Weltbild und ein Weltwesen aufgebaut haben, aber noch nicht vergangen ist die Zeit der Hexenprozesse, der Abenteuerer unter dem Vorwand der Astrologie, des lutherischen Zorns und der Kraft der Renaissance. Im Leben Keplers kommt dies alles zu einer recht wunderlichen Mischung. Er selbst hat eine Menge ausschließlich astrologisch gestimmter Beschreibungen seiner Eltern hinterlassen, in denen es etwa folgendermaßen heißt: „ M e i n Vater Heinrich, geboren 1547. Saturn im T r i g o n mit Mars, im 7. Haus, hat alles verdorben und einen Menschen hervorgebracht, der auf Untaten bedacht war, sich schroff und händelsüchtig zeigte und schließlich eines elenden Todes starb."

Nüchterne Feststellungen — er betrachtet die Eltern als handele es sich um Gegenstände der Naturerkenntnis — stellen sich hier im rätselvollen Gewände einer nach

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

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rückwärts weisenden Zeit dar. Seltsam mischen sich alte und neue Epoche. Der Vater, der „die Mutter übel behandelte", ging schließlich auf immer in die Fremde". Sie lebte später bei einem heruntergekommenen Sohne und hatte sich in Leonberg die Mißbilligung ihrer Nachbarn zugezogen, Umstände, die dann später auch einen Hexenverdacht zu Folge hatten und dessen schlimmste Folgen nur noch durch das Eingreifen ihres berühmten Sohnes abgewendet werden konnten. Auch über sich selbst hat Kepler ein ausführliches Horoskop verfaßt, und in ihm oder auch in brieflichen Erläuterungen dazu spricht er so eigentümlich sachlich über sein Innerstes, daß man glauben möchte, die Nüchternheit und unbedingte Sachlichkeit, mit der alle Naturerkenntnis beginnt und mit der damals auch das naturwissenschaftliche Zeitalter anbrach, sei nur eine Folge der Horoskoptechnik. Folgendermaßen schreibt Kepler also über sich selbst: „Bei mir wirkt Saturn und Sonne zusammen. Daher ist mein Körper trocken und knotig, nicht groß. Die Seele ist kleinmütig, sie versteckt sich ganz im literarischen Winkel. Sie ist argwöhnisch, furchtsam, sucht ihren Weg durch beschwerliches Gestrüpp und läßt sich dadurch aufhalten; . . . Dieser Mann ist dazu geboren, daß er seine Zeit mit schwierigen Dingen verbringt, vor denen die anderen zurückschrecken. Er fängt vieles an, bevor er das Alte vollendet hat. Obschon er äußerst fleißig ist, haßt er die Arbeit aufs heftigste. Er arbeitet nur aus Wißbegier und aus Liebe zum Entdecken.. ."

Man spürt in der Deduktion des Horoskops deutlich die Erkenntnisschärfe, die später einmal an alle Dinge rücksichtslos herantreten wird, um zu entdecken, und über allem liegt schon der Geist der Objektivität, der in Zukunft einmal der eigentliche Ernst der Forschung sein wird. Nur dann und wann zapft dunkel und ein wenig

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I L Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

schwerfällig, wie trächtig von Altem, der astrologische Terminus in die klare Schilderung. Es ist ein Geist der Mischung, der unablässig zur Klärung, zur Absetzung drängt wie das ganze Jahrhundert, dem er entstammt. Es darf uns daher nicht verwundern, wenn Keplers Ruhm mit seinen astrologischen Prophezeiungen beginnt. Am 27. Dezember des Jahres 1571 wird er in Weilderstadt, westlich von Stuttgart, im Bereich jener Schwarzwaldhöhen geboren, von wo aus man bei klarem Wetter einen Blick über die fruchtbare Rheinebene bis hinüber nach Straßburg werfen kann, eine Stadt, wo der mathematische Geist zweier Völker gleichsam zu Hause ist und die Kepler sehr geliebt hat. Die unglücklichen Familienverhältnisse schenkten ihm kein Zuhause. In Internaten formte sich dieses Leben zu seinen ersten Taten. Im Tübinger Stift studierte Kepler Theologie. Schon 15 94 wird er Lehrer der Mathematik an der evangelischen Stiftsschule in Graz. Der Anfang eines modernen Menschen, so wird man sagen. Aber hier in Graz galt es auch Jahresprognosen aufzustellen, und Keplers Ruhm begann nun damit, daß er tatsächlich einen Bauernaufstand und einen Türkenkrieg im Jahre 1595 voraussagen konnte. Es ist hier einzufügen, daß Kepler, als er nach Graz kam, zwar ein Äußerstes an Fähigkeiten besaß, dramatisch bewegte oder gleichförmig dahin gehende Horoskope zu stellen, daß aber seine Fähigkeiten an reiner Mathematik äußerst gering waren. Er gedachte vielmehr die Lehrerstelle nur aus dem Grunde anzunehmen, um sich selbst in jener Wissenschaft, für die er insgeheim schwärmte, zu vervollkommnen. Neben der Mathematik waren es vor allem auch astronomische Spekulation und Beobachtung, mit denen er hier vertraut wurde. Indessen

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

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wurde er schließlich durch eine erneut einsetzende Verfolgung der Protestanten aus Graz vertrieben. Er ging zu Tycho Brahe, der soeben nach Prag gekommen war, um hier als Gehilfe zu arbeiten. In Graz hatte er sich zwar mit der reich begüterten Barbara von Mühleck verheiratet und in Prag war er bald nach Brahes Tod zum kaiserlichen Mathematiker Rudolf des Zweiten bestimmt worden, dennoch aber begannen bereits 1610 seine Geldsorgen, die ihn beinah bis zum Lebensende quälen sollten. Denn mit der Thronbesteigung Mathias' war seine vorher einflußreiche Stellung wieder höchst unsicher geworden. Dazu kam, daß seine erste Frau in Prag gestorben war, und er 1613 zum zweiten Male geheiratet hatte und zwar eine Schreinerstochter aus Efferdingen. Heute noch liegt gegenüber dem Starembergischen Schlosse zu Efferdingen an der Donau jener alte Pfarrhof neben der gothischen Pfarrkirche, wo Kepler seine Hochzeit mit Susanne Reutlingen am 30. Oktober 1613 feierte. Auch Paracelsus, dieser Kepler so verwandte Geist des Überganges, hat hier seinen mystisch gerichteten Jugendfreund Johannes von Brant besucht, hat hier gewohnt und seine Tartarusschrift ausgearbeitet. Immer bewegter, immer schneller wechselt dieses Leben, und leicht gewinnt man den Eindruck, als müsse es sich der Sorgen sowohl der alten wie auch der neuen Zeit erwehren. Eben war er zum „Landschaftsmathematiker" in Linz bestimmt worden; mit den Grundsätzen dieser jungen Wissenschaft, die einmal eine große Zukunft haben sollte, machte er sich nach und nach umfassend vertraut, als um das Jahr 1620 der berühmte Hexenprozeß gegen seine Mutter einsetzte, dem er beinah ein ganzes Jahr, eine sorgfältige juristischtheologische Verteidigungsschrift, zahlreiche Reisen und

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

viele Geldmittel widmen mußte, um eine hochbetagte Frau vor Scheußlichkeiten zu bewahren. Um den Wirrwar dieses Lebens zu vollenden, bricht 1625 in Linz die Gegenreformation aus, die Kepler wiederum heimatlos werden läßt. E r bringt seine Familie nach Regensburg. Nach Sagan beruft ihn Wallenstein, dem er ein schmeichelndes, aber wahrhaftiges Horoskop gestellt hatte. Wallenstein aber brauchte Geld für Soldaten, nicht für Horoskope, die ihm den Glauben gaben. Kepler erreichte von dem abenteuerlichen Feldherrn jedoch das Versprechen einer Professur in Rostock, die er anzunehmen gedachte. Eine Professur in Straßburg, um die sich Kepler als berühmter Mann bemüht hatte, war nicht zustande gekommen. Einen Ruf nach Italien — auch in diesem damals geistig so beweglichen Land war Kepler, der mit Galilei Briefe wechselte, kein Unbekannter — hatte er abgelehnt. Rostock schien ihm nun das begehrenswerteste Ziel. Aber was Wallenstein gab, mußte irgendwie schicksalsschwer sein. Kepler wollte zuvor auf dem Reichstag in Regensburg noch ihm zustehende Geldmittel einfordern. Im Herbst des Jahres 1630 kam er in dieser Stadt an. Aber Anstrengung und Kummer hatten die Gesundheit dieses gehetzten Mannes vernichtet. Ehe er sein Gesuch vorbringen konnte, starb er am 15. November 1630. In seinem Nachlaß fand sich eine Schrift, die er dem Reichstag überreichen wollte und darin ein Riesengeist, ein Stifter der äußeren Ordnung, der Entdecker und Former eines neuen Weltbildes um Erbarmen für seine Familie und sich erflehte. Das letzte Glück, das er schmerzlich empfand, war die Hochzeit seiner Tochter mit dem Mathematiker Bartsch zu Straßburg, jener Stadt nach der er sich so oft gesehnt hatte. Jene, zu denen er gekommen

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

war, um ein bißchen bürgerliche Ruhe zu erbitten, wurden nun Zeuge seiner Beerdigung. „Himmel durchmaß mein Geist / Nun meß ich die Tiefen der Erde." „Ward mir vom Himmel der Geist / ruht hier der irdische Leib."

Dies war seine Grabschrift. Ein anderer Weltgeist, Nikolaus Cusanus, wie ein anderer Kepler an der Schwelle der Renaissance stehend, die nun mit Kepler endgültig dahin ging, hatte die lateinische Fassung dieses Gedankens wegen seines tiefsinnigen Wortspiels mit „Mens" und „Mensus" einst seinem Hauptwerk vorangestellt. Aber nicht einmal das Grab, das den Leib solcher irdischen Unruhe barg, ist uns bekannt. Die bald nach Keplers Tod einsetzende Belagerung von Regensburg brachte Verwirrung und Verwüstung genug, um das Grab nicht mehr auffinden zu lassen. Wer seine Wirkung am Beginn eines neuen Zeitalters beginnt, kann selbst nicht mehr jene Ordnung erfahren, der sein Denken und Erkennen beständig galt. Wie so der äußere Mensch dauernd zwischen Abenteuer und bürgerlicher Behaglichkeit hin und hergeworfen wurde, was natürlich der tiefen politischen und kulturellen Unentschiedenheit des Zeitalters entsprach, und wie der forschende Geist selbst zwischen der weit nach rückwärts weisenden astrologischen Bestimmung des menschlichen Schicksals und den Forderungen eines neuen Weltbildes und einer neuen Idee der Naturerkenntnis zu einer zukünftigen Wissenschaft hin- und hergeworfen wurde, so stand auch der religiöse, besser vielleicht der kirchliche Mensch unklar zwischen einer morsch gewordenen Katholizität und einem mächtig sich erheben-

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

den Protestantismus. Allerdings ist die religiöse Problematik, die einen Kepler bewegt, eine ganz andere als die, welche später Pascal in seinem Dasein zwischen Mathematik und Religion beinah zerreißt. Kepler erlebt eigentlich nur eine kirchliche Problematik, der Antagonismus zwischen Katholizismus und Protestantismus, kurz die Störung in der äußeren Ordnung des religiösen Bewußtseins ist es, mit der er sich auseinandersetzen muß. Aber in Pascal trifft das Religiöse selbst auf den mathematischen Geist und stellt das Leben in eine vertiefte religiöse Problematik, in der die innere Ordnung der Religion, kurz, die religiöse Innerlichkeit auf dem Spiele steht. Man darf nicht vergessen, daß Kepler in seinen Gedanken über das neue planetarische Weltbild ein Nachfolger des Copernikus ist, einer der wenigen Deutschen, die damals der Fülle italienischer Naturforscher — die, wie Burckhardt sich äußert, fraglos einzigartig waren in dem Gleichgewicht ihrer Zahl und ihrem Wissen — nicht nachstanden an Erkenntnis und Können. Die tiefe politische Berührung zwischen dem deutschen und italienischen Geist, die einst, etwa zur Zeit der Staufer wirksam war, scheint hier plötzlich übersetzt in eine gegenseitige naturwissenschaftliche Anregung. Briefe und Besuche zwischen deutschen und italienischen Geistern gehen hin und her. Was im Süden gedacht und erkannt wird, wirkt am mächtigsten zunächst auf deutsche Geister. Und was im Norden erkannt, gedacht und weiter entwickelt wird, wirkt sich am eindrucksvollsten zunächst wieder im Süden aus. Kepler übernimmt schon in der Jugend das noch unübersichtliche Weltbild des Copernikus, aber] am Geist der Naturwissenschaftler und Mathematiker seiner unruhigen Erkenntnisepoche bildet

Et. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

er sich zur einmaligen und eigentümlichen Größe. Indes darf man nicht übersehen, daß er das Weltbild des Copernikus aus religiösen Gründen übernahm, was deutlich offenbar werden läßt, wie tief Keplers Geist einerseits der Naturerkenntnis aber andererseits dem Religiösen verpflichtet ist. „. . . als Gott vor 6000 Jahren die Welt schuf, wählte er für ihre Form die vornehmste geometrische Figur, nämlich die Kugel. Sie bildet ein Symbol der Dreieinigkeit. Dabei entspricht der Mittelpunkt Gott, die Radien oder Strahlen dem Heiligen Geist und die äußerste Kugelfläche Christus. Wir haben hier das platonische Wirkungsschema von Mone, Prohodos und Epistrophe. Nun kann doch unmöglich die Erde als Gott entsprechend gedacht werden, wohl aber die kraft- und lebenspendende Sonne." Derart umschreibt der berühmte Züricher Mathematiker Speiser in seiner Gedenkrede für Kepler die jugendliche Überlegung des jungen, tief religiös gestimmten Erkenntnisgeistes, die ihn veranlaßte, die kopernikanische Wendung, daß die Sonne, nicht die Erde im Mittelpunkt der Welt stünde, mitzumachen. Die Lehrjahre im Tübinger Stift hatten natürlich Anteil an der eigenartigen, aber durchaus zeitverständlichen Mischung von religiösen und mathematischen Problemen in Keplers Geist. Wir wissen sehr genau, daß er bereits mit 13 Jahren sehr eingehend theologische Schriften las. Vor allem ist hervorzuheben, daß sich Kepler schon verhältnismäßig früh über Luthers Wirken klar wurde und gerade hier Spreu und Weizen, Dogmatisches und Notwendiges genau trennte. Er war weniger Lutheraner als vielmehr Anhänger der Augsburgischen Konfession, die Melanchthon verfaßt hatte und darin der Gedanke verfochten wurde, daß es nur eine christliche Kirche gäbe,

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II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

die die katholische genannt würde, die aber reformiert werden müßte und darin Lutheraner und Römische zusammengefaßt werden sollen. Jedem Dogmatismus der Lutheraner gegenüber den anders Reformierten war er feindlich gesonnen. Verfolgungen der Anhänger Melanchthons oder Calvins, wie sie in Sachsen vorgekommen waren, verabscheute er. Diese Ereignisse und inneren theologischen — weniger religiösen — Auseinandersetzungen haben sicherlich auch dazu beigetragen, daß aus Kepler kein Pfarrer, sondern ein Mathematiker wurde, und so eröffnet er die lange Reihe jener deutschen Naturwissenschaftler und Philosophen, die — wie Nietzsche einmal spöttisch bemerkte — im Grund „entlaufene Theologen" waren. Daß er die Tübinger Mathematikprofessur nicht erhielt, daß er in Linz nicht zum Abendmahl zugelassen wurde, und er seiner Familie selbst Abendmahlsunterricht erteilte, an diesen ereignisreichen Augenblicken seines Lebens trug einzig und allein sein gemäßigter Protestantismus die Schuld. Aber Protestant in dem Sinne, daß die katholische Kirche und die katholischer Religiosität seinerzeit reformiert werden müsse, wenn sie nicht an Veraltung zugrunde gehen wolle, war und blieb er zeit seines Lebens. Einen Übertritt, der ihm von befreundeten Katholiken und Jesuiten nahe gelegt worden war, lehnte er stets ab. Er sah in der damaligen katholischen Macht die Gefahr der Knebelung des menschlichen Verstandes. In einer deutschen Schrift, die 1623 ohne seinen Namen erschien und den Titel trug: „Glaubensbekenntnis und Ableinung allerhand desthalben entstandener ungütlicher Nachreden" legte er seine Meinung nieder. Von den deutlichen Sätzen, die sich darin finden, seien nur folgende hier angeführt: „Es ist ein alt Teutsches Sprich-

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wort: Fromm soll man sein, aber nit gar zu fromm. Wer dies kann, der kann vielleicht mehr dann ich. Ich bin je deren keiner, der zu jeder Zeit Ziel und Maß wußte zu treffen. Ich hab vermeint, ich woll mich der Heuchelei abtun und in Gottes Sachen eine gewissenhafte, ja Teutsche Redlichkeit brauchen... Viel mehr befleiße ich mich, die Parteien zu conciliieren, was ich es mit der Wahrheit kann, damit ich es doch ja mit ihrer vielen halten könnte." Das sind persönliche Bemerkungen, die er in einem Buch über einen neuen Stern zeitkritisch auswertet, wenn er ein öffentliches Konzilium fordert, das eine „vernünftige Reformation" durchführe. Er schien ausgeschlossen für Kepler, daß der Aufgang einer neuen Naturerkenntnis, eines neuen Weltbildes, eines neuen forschenden Geistes nicht aus dem Boden einer ruhigen, unproblematischen Kirche und religiösen Vernunft hervorbräche. Und so fordert der Geist, der die neue äußere Ordnung der Planeten im Raum verkündet, zugleich eine vernünftige kirchliche Ordnung. Denn der Geist der Zeit hatte zwei Quellen: Kirche und Naturerkenntnis, und indem Kepler einerseits sein ganzes Leben mit dem Studium der Kirchenväter, der Bibel und der lutherischen Schriften und andererseits mit der Entwicklung mathematischer und physikalischer Sätze oder der Konstruktion seines Fernrohrs, das heute seinen Namen trägt, verbringt, erlangt mit ihm der Zeitgeist, der wie unentschieden zwischen Vergangenheit und Zukunft schwebt, seine beinah vollkommene Darstellung. Ordnung ist eine Kategorie unseres Daseins. Wir bedürfen der Ordnung, der inneren und der äußeren, zu unserer seelisch-geistigen und körperlichen Existenz. Die

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

Verschiedenheit der Zeitalter offenbart sich zumeist als eine Verschiedenheit ihrer Ordnungen, der inneren und der äußeren, der sittlichen, rechtlichen, religiösen und auch physikalischen Weltordnung. Die neue äußere Ordnung, die neue physikalische Weltordnung jener langen Epoche, die man die Neuzeit genannt hat, beginnt mit der kopernikanischen Wendung, die bei ihrem Erreger Kopernikus mehr Einfall, Gefühl, Stimmung, aber bei Kepler Erkenntnis, Gewißheit und Wissenschaft ist. Die Erkenntnis der neuen Ordnung der Planeten beginnt zunächst mit einer mathematischen Spekulation, die scheinbar nichts anderes als eine mathematische Spielerei, in Wahrheit aber Ausdruck eines konstruktiven Geistes ersten Ranges ist. In einer Vorlesung in Graz, am 19. Juli des Jahres 1595, entsprang diese Spekulation dem Reichtum seines astrologisch, astronomisch, mathematisch und theologisch erfüllten Geiste, wie sie dann seinem ersten Hauptwerk, dem „Prodromus" (Mysteriam Cosmographicum) 1596, zugrunde liegt. „Die Erdbahn ist das Maß für die anderen Bahnen. Ihr umschreibe ein Dodekaeder; die diese umspannende Sphäre ist Mars. Der Marsbahn umschreibe ein Tetraeder; die diese umspannende Sphäre ist Jupiter. Seiner Bahn umschreibe einen Würfel, die umspannende Sphäre ist Saturn. Nun lege in die Erdbahn ein Ikoaseder; die einbeschriebene Sphäre ist Venus. In die Venusbahn lege ein Oktaeder; die einbeschriebene Sphäre ist Merkur. Damit hast du den Grund für die Anzahl der Planeten." Die geometrische Ordnung hat also die Kraft, Seiendes, Planeten zu setzen. Kepler glaubt nicht an die Macht der Zahlen wie Leibniz — hier sehen wir es deutlich —, sondern an die ordnende Macht der Geometrie, denn

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in ihr scheint sich bei ihm das zu erschöpfen, was wir den mathematischen Geist nennen, nicht in der Arithmetik, in der Zahlenlehre, die später Leibniz auf eine so glanzvolle Höhe bringt. Im Keplerschen Weltbild wird die Ordnung der Weltkörper, der Bau des Weltalls bestimmt durch die sechs schönsten Figuren, durch die Kugel und die fünf regulären Körper, die bereits einen Piaton begeistert hatten. In diesen Konstruktionen war zwar höchste Erkenntnis verborgen, aber diese Erkenntnis, die stets auf Harmonie ausging, erfüllt sich schließlich in einem mathematisch-ästhetischen Anblick der Dinge. Erst später trat das Ringen um Gewißheit vordergründig hinzu. Denn was schön gedacht ist, braucht ja noch lange nicht wirklich zu sein. Und indem das Vertrauen auf die offenbarende Macht der Mathematik bleibt, aber der ewige Zweifel der Erkenntnis hinzutritt und indem von einer Sehnsucht nach Harmonie geleitete Spekulation sich mit dem Gewissen des unermüdlichen Zweiflers verbindet, entsteht hier bereits das, was wir heute „Theoretische Physik" nennen, jene Wissenschaft, die Spekulation und Messung in einzigartiger Weise verbindet und ihre Erkenntnisse im Geiste der Mathematik ausspricht. Kepler studierte in Prag eifrig die astronomischen Beobachtungen, die Tycho Brahe gemacht und zusammengestellt hatte. Um seine Lehre zu beweisen, verglich er sie vor allem mit jenen Beobachtungswerten, die Brahe vom Mars angegeben hatte. Hier bemerkte Kepler erstmalig, daß seine so wundervoll aus dem Geiste der Geometrie gedeutete Welt vor dem Menschen, also vor dem Messenden — wie die Urbedeutung des Wortes für uns ist — nicht ganz bestehen kann. Nach vielen mathematischen Mühen endlich erkennt Kepler, daß die Beate, Weien

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II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

Planeten nicht auf Kreisbahnen, sondern auf Ellipsen angeordnet sind. Speiser sagt über jene Augenblicke der Erkenntnis in Keplers Leben: „ A b e r es ist der Glaube, daß, was in der Natur geschieht, auch mathematisch bedeutsam sein muß, der ihn immer weiter getrieben hat." Dies aber ist der geheime Glaube aller theoretischen Physiker. Der Geist, der über alles die Geometrie liebte, der aus harmonischen Erwägungen über die vollkommensten Figuren eine neue Weltordnung der Körper ersinnt, muß nun in der „astronomia n o v a " (1609) genau alle Zahlenverhältnisse überprüfen, interpolieren und rechnen, um mehr und mehr einzusehen, daß der mathematische Geist, wie er das Seiende beherrscht, vor allem ein arithmetischer, ein Geist der Zahlen ist. Damit aber hatte sich in Kepler die theoretische Physik aus einer spekulativen in eine mathematische umgewandelt. In den berühmten drei astronomischen Gesetzen, darin er ganz im Geiste der modernen mathematischen Naturerkenntnis das neue und zukunftsreiche Weltbild zusammenfaßt, erreicht Keplers Lehre von der Weltharmonie ihren vollkommenen mathematischen Ausdruck. Heute faßt man diese drei berühmtesten Gesetze der Naturerkenntnis, darauf das große Gebäude der neuzeitlichen Astronomie gestützt ist, etwa folgendermaßen zusammen: Der Radiusvektor von der Sonne nach dem Planeten beschreibt in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Die Planetenbahnen sind Ellipsen, in deren einem Brennpunkt sich die Sonne befindet. Die Quadrate der Umlaufszeiten zweier Planeten verhalten sich wie die Würfel der halben großen Achsen ihrer Bahnen.

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen E s ist nicht allein das Verhaftetsein einem noch mittelalterlich gefärbten Denken, wenn sich Kepler mit dieser Entdeckung der Harmonie der Weltkörper, der äußeren Ordnung nicht begnügt. Denn mit den Zweifeln der damaligen Beobachter wie Galilei und Brahe war ja nicht nur die äußere Ordnung der Weltkörper dunkel geworden, auch die Ruhe des Geistes und der Seele stand in Frage und warf unaufhörlich ihr „ W a r u m ? " in die Reihe der Entdeckungen. So wird also das, was später Thema der Leibnizschen Philosophie ist, die innere Ordnung, die eigentliche, kaum sichtbare „prästabilierte Harmonie" aller Dinge und Gedanken hier bei Kepler schon angeschlagen, wenn natürlich auch die Darstellung der körperlichen Weltordnung ganz und gar im Vordergrund des Erkenntnisgeistes steht. E s entsteht um 1618 die „Harmonice mundi", ein Werk, darin es nicht nur um die äußere, sondern auch die innere Ordnung, nicht nur um die Ordnung der Weltkörper, sondern auch um die Ordnung der Gedanken geht. Der Geist der Mischung, der so gern an der Wende der Zeiten auftritt, flammt hier gleichsam lodernd empor und kann nicht reich genug sein an Erkenntnissen und Spekulationen. Mathematik, Musik, Metaphysik und Astronomie haben sich hier versammelt und befinden sich in erregter Auseinandersetzung über die Dinge des Seins. In Italien blüht damals eine neuplatonische Schule; sie hatte an vielen Orten, z. B. in Florenz, w o Marsilio Ficino ihr Haupt war, eine außerordentliche Tätigkeit entfaltet; die Erinnerung an jene mächtigen Geister aus dem zweiten und dritten Jahrhundert, die das griechische Philosophieren noch einmal glanzvoll zusammenfaßten, lag im Zuge der Renaissance und des Humanismus. E s ist daher nicht verwunderlich, 4'

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n . Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

wenn sich Kepler eingehend mit dem mathematischen Geist jener Reihe von Philosophen befaßt, wie Proklus Diadochus, der einen Prolog zu den Elementen des Euklid geschrieben hatte und der so mächtig die aristotelische Ansicht bekämpft hatte, daß das Mathematische eine Abstraktion aus der Natur, aber nichts Selbständiges, Wirkliches sei. Daß die Seele in ihrer Tiefe die mathematischen Bilder bewahre, diese Ansicht Keplers ist wohl von Proklus übernommen worden. Diese mathematischen Bilder sind aber ganz und gar im Sinne der Geometrie verstanden. Kepler spricht von einem Gehalt an geometrischen Symmetrien, der in der Seele vorhanden sei und die in den verschiedensten Gestalten empfunden werden könnten; in den Harmonien der Musik, in den Aspekten der Gestirne und in den Schönheiten der Kunst. Daher behandelt Kepler in dieser Harmonice mundi denn auch die Lehre von den astronomischen Verhältnissen und die Lehre von der Harmonie, wie sie ihm am eindrucksvollsten im Werk Orlando di Lassos, des großen Tonsetzers aus dem Hennegau, vorlag. In allen Dingen erkennt Kepler die große weltwirkliche Harmonie, und eben diese Erkenntnis scheint ihm das Wesentlichste gewesen zu sein. Wie könnte er sonst dieses Werk mit einem Lobgesang geschlossen haben ? — Wie sonst könnte er mächtig auf seine zukünftigen Leser gewartet haben ? „ I c h habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, damit ich G o t t ein Heiligtum errichte fern v o n den Grenzen Ägyptens. O b die heutigen oder späteren Menschen das Buch lesen, das verschlägt nichts. M a g es hundert Jahre auf den Leser warten, wenn G o t t selber 6000 Jahre dessen geharrt hat, der sein W e r k erblickt."

Denn mit Kepler wird am Beginn der Neuzeit der Gedanke der Harmonie in einer Weise vorgedacht, die den

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbarlichen

großen Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft überspannt. Leibniz wird der äußeren Harmonie, die Kepler mit seinen astronomischen Gesetzen stiftet, jene unsichtbare, innere prästabilierte Harmonie hinzufügen, die in der Tiefe alles Seienden wirkt und mit großen philosophischen Pathos verkündigen; Goethe wird einmal die Harmonie, die für die Musik längst erkannt war, im Spiel der Farben finden und damit — wie Speiser einfallsreich bemerkt hat — ein sechstes Buch der Harmonice mundi schreiben; aber die moderne Mathematik wird den uralten Gedanken der Symmetrie, den Kepler geometrisch dachte, in das Arithmetische übersetzen und in ihrer Disziplin der „Gruppentheorie" dem Zahlengeheimnis aller Symmetrien auf die Spur kommen in einer Weise, daß hierin bedeutende Mathematiker die Vollkommenheit des Mathematischen in der Erscheinung zu erkennen vermeinten. Erfüllt einst Luther das, was man deutschen Geist nennen darf, mit Sprache, ja schuf er ihm die Sprache, in der er sich als abendländisches Ereignis mit Begeisterung und Klarheit offenbaren konnte, so fügte Kepler diesem werdenden Geist einen Gedanken hinzu, der in unendlicher Wiederholung und Verwandlung neugedacht werden wird, den Gedanken einer universalen Harmonie, die sich mathematisch, musikalisch, physikalisch und seelisch darstelle. Innerhalb der geistigen Welt der Deutschen wird mit Kepler am frühsten und vielleicht auch am tiefsten erkannt, daß der denkende Mensch außerhalb der Ordnung nicht existieren kann. Denn indem Kopernikus den Menschen und sein Denken, wie Jakob Burckhardt sich einmal ausgedrückt hat, wahrhaft erst frei machte, weil er die Erde aus dem Zentrum des Welt-

II. Johannes Kepler oder die Ordnung des Sichtbatlichen

alls verwiesen hatte, bedurfte es einer beruhigenden, machtgebenden, tröstenden Kategorie dieser merkwürdigen Freiheit, und diese gab in der Geste welthistorischer Ergänzung zur kopernikanischen Wendung Johannes Kepler mit seiner Lehre von der Weltharmonie. Denn was mit Kopernikus verloren ging, das war tatsächlich „ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetischen Glaubens", wie Goethe es beschrieben hat in seiner Farbenlehre, die nicht zuletzt den Geist Keplers beschwört. Und man kann im Grunde nur dann ohne Trauer von einem Paradies scheiden, wenn eine neue Größe, eine neue Schönheit, ein neuer Zauber verheißen wird, der mit Kepler mächtig und seine nachfolgenden Jahrhunderte überleuchtend als mathematischer Geist entflammte.

GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ ODER ZWISCHEN MATHEMATIK UND MUSIK

Die Deutschen, sagt man, wüßten, wie es der Materie zu Mute sei, aber dieses Gefühl für das Dasein anderer, außermenschlicher Dinge ist nur eine Folge ihrer Befähigung zu einer besonderen Art der Geselligkeit. Denn es gibt zwei Formen der Geselligkeit: äußere und innere. Dort wird der Geist weltmännisch, hier aber blickt er unausgesetzt in seine eigene Tiefe und wird gesellig mit sich selbst. Den Deutschen ist die Kraft zu dieser inneren Geselligkeit, derer das Schöpferische so gerne bedarf, in einem Maße eigen, daß man sie wo anders leicht spöttisch, als Eigenbrötelei bezeichnet. Ohne Zweifel bedarf das, was der Franzose „esprit" nennt, einer stets zart erregten äußeren Geselligkeit; aber die schöpferische Eigenbrötelei, die bei uns zu Hause ist, bedarf des langen Blicks nach innen, bedarf jener Geselligkeit mit sich selbst, aus der die Spekulation lebt. So kann man selbst Pascal, der doch wirklich eine mächtige Individualität war und unablässig zwischen Religion und Mathematik, zwischen Spekulation und Logik einherschwang, nur dann ganz verstehen, wenn man seine Liebe zum Weltmännischen, die selbst in seinen letzten Tagen nicht schwieg, kennt. Aber ein Mann wie Leibniz, dessen Geist eine Universalität ohnegleichen zu eigen war und dessen Dasein nicht selten im Brennpunkt der Fürstenhöfe stand, wird kaum in den Briefen und kaum auf seinen Reisen jene merkwürdige innere Geselligkeit los, die, halb machtvoll und bäuerisch, halb höfisch und wissend, mehr und

III. Gottfried Wilhelm Leibniz 58 mehr zu einer wirklichen Einsamkeit auswächst. Descartes, der oft die Einsamkeit förmlich gesucht hat, der es liebte, wochenlang mit niemandem zu sprechen, endet schließlich an einem Hof, und seine Trauerfeier gleicht eher einem rauschenden Fest, denn einer philosophischen Einkehr. Aber Leibniz, dieser erste Weltgeist seiner Zeit, der es verschmäht, an irgendeiner kleinen deutschen Universität das Leben der reinen Gelehrsamkeit zu führen, und der als Jurist, als Diplomat wirken wollte, endet in der Abgeschiedenheit eines Hauses in Hannover, und die Traurigkeit seines Begräbnisses, an dem niemand seiner fürstlichen Bewunderer teilnahm, reißt auf einmal die große Abgeschiedenheit eines Daseins auf, dessen Philosophieren in beinah eleganter Weise und schon ein wenig vertraulich sich in der unermüdlichen, strengen Konversation der Briefe vollzog. Im Grunde beweisen nämlich gerade diese unzähligen und unerschöpflichen Briefe, daß sein Kosmos, von dem er so herrliche Worte gesagt hat, vor allem ein geistiger Kosmos war, eine geistige Geselligkeit mächtiger Individualitäten, die schon ein wenig über der Zeit standen und an alles Zukünftige dachten.

Der homo universalis liebt es, an der Wende der Zeiten aufzutauchen. Dann gehört es zur Universalität, daß sie weder zu rückwärts blickend, noch zu zukünftig denkend sich gebärdet, sondern der Inbegriff eines Ausgleichs in den Zeiten darstellt. Leibniz war in dem Sinne eine Universalität ersten Ranges, weil mit ihm sowohl diese ausgleichende Universalität in den Zeiten als auch die Universalität des Raumes, nämlich des Wissens und des Glaubens, der Wissenschaften und des Wirkens er-

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scheint. Daß er in sein Philosophieren die Theologie einbezieht, sich ihrer tiefsten Ursprünge erinnert und doch die heute erst voll und ganz ergriffene mathematische Logik anregt, spiegelt den Geist, wie er über den Zeiten steht und die Epochen ausgleicht; aber daß er die Gedanken an den Kosmos, der „prästabilierten Harmonie" und der allgemeinen Wissenschaft, der mathesis universalis denkt, zeigt den Geist, wie er über den Dingen, über dem Räume steht und die Fülle des Sichtbarüchen und Gedachten in eine Ordnung verwandelt. Ein wirklicher Philosoph zeichnet sich dadurch aus, daß er etwas von den Problemen und Lösungen, die er denkt, auch repräsentiert. Und so wiederholt sich die Frage seines Philosophierens, wie die Fülle des Ganzen, was ist, als eine Harmonie gedacht werden kann in seiner Universalität des Anteils und des Schöpferischen, die Mathematik und Physik, Philosophie und Theologie, Jura und Geschichte, Mundartenforschung und Akademiengründung, Politik und Organisation umspannt. Die Aufzählung läßt erkennen, daß so sein Geist dauernd zwischen reiner Theorie und reiner Praxis, reiner Tat und reiner Spekulation einhergeht. Denn die Zeit, aus der Leibniz kam — er wird 1646 als Sohn eines Notais und Professors der Moral in Leipzig geboren — , ist selbst eine höchst unentschiedene, eine reiche, aber auch zersplitterte Epoche. Ein Krieg, in dem zwei religiöse Mächte aufeinander prallen, ein Krieg vollendeter Grausamkeit und Unseligkeit geht zu Ende. Luthers Sprache wird gesprochen und wird wirksam und schöpferisch. Die Erkenntnisse der Kepler, Galilei, Descartes und Huygens werden wirksam. Man spricht beinah zuviel v o m Blutkreislauf, v o m Mikroskop, v o m menschlichen

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m . Gottfried Wilhelm Leibniz

Körper. Cysarz, der Prager Gelehrte, bestimmte kürzlich einmal das Wesen des Barocks, das Zeitalter, von dem wir hier sprechen, durch die Einsicht, daß es im Schicksal dieses Zeitalters läge, den Gottesglauben mit den furchtbarsten Erfahrungen, den ungeheuersten Entdekkungen auseinandersetzen zu müssen. Aber man wird hinzufügen müssen, daß diese Epoche die vitale und die geistige Kraft zu dieser Auseinandersetzung — die sich bei Pascal zu einem Dasein zwischen Mathematik und Religion schicksalsmäßig zuspitzt — gezwungen habe. Denn der Barock ist ein Zeitalter der Phantasie, und zur Phantasie gehört eine starke Vitalität. Geist allein genügt hier nicht mehr, die Spekulation muß aus einer machtvollen Vitalität entflammen. Die Phantasie regiert den Zeitgeist, gleichgültig nun, ob es dabei zu Übersteigerungen im Schauerlichen oder Angenehmen kommt. Wie ein Strom von Vitalität fließt die Sprache Luthers, das Deutsche, in den Geist und verführt die Dichter „zu den tollsten Kunststückchen", zu lyrischen Wortspielen und metrischen Reifensprüngen und verführt vielleicht auch das Denken zu seinen tiefen Spekulationen über Gott und die Welt. Was in den Gedichten mit den Worten angestellt wird, das geschieht im Denken mit den Begriffen, alles wird biegsam und ungestüm, alles wird geradezu lebendig, Bilder und Begriffe erscheinen wie Fische in einem sinnlichen und übersinnlichen Medium, deren Zug man nur zu folgen hat, um Schönheit und Wahrheit zu finden. Denn der Ursprung des Zeitalters geschieht aus der Phantasie, und die Phantasie ist der einzige Ort, wo Geist und Vitalität selbst in jene Geselligkeit kommen die man an den Höfen liebt, die man nun wieder bewundert. Nur aus dieser Geselligkeit des Sinnlichen und Gei-

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stigen ist es zu verstehen, wenn Descartes, der Offizier, der Mathematiker, der Liebhaber des Klaren, in seiner kleinen, nachgelassenen Schrift über den Menschen den Bluthaushalt mit den Wasserkünsten der königlichen Gärten vergleicht und am Ende seines Lebens ein Ballet komponiert oder wenn Leibniz, der Liebhaber der Diplomatie, in die leichte Form der Briefe gießt, Polemik und Deduktion, Satire und Berechnung, was später einmal in dickleibigen Büchern ausgetragen wird. Die Mühe eines Zeitalters, Geist und Vitalität in eine Geselligkeit zu bringen, erfaßt mit einer gewissen Notwendigkeit den Gedanken der Ordnung, und die Harmonie und die Hierarchie, die unter der Vielfalt des Seienden gesetzt werden, rufen laut nach einer Universalität im Geiste und im Wirken, darin der gesamte Ausdruck der Zeit in einem mächtigen Individuum offenbar wird. So wird Leibniz ein Brennpunkt der Zeit, und es bestätigt die Tiefe seines Philosophierens, daß er selbst jene Idee des Seins, die er dachte — jene Idee der Monade, die zugleich das Einzelne ist, aber das Ganze repräsentieren kann —, durch sein eigenes Dasein, das beständig zwischen innerer und äußerer Geselligkeit einherschwankt, wirklich werden läßt. Spinoza, dessen Gedanken in Holland und Deutschland damals besprochen wurden, hatte gelehrt, daß im Grunde alles Seiende nur die Existenz Gottes, also einerlei sei. Aber Leibniz hatte geantwortet: Spinoza hätte recht, wenn es keine Monaden, nichts Einzelnes gäbe. Denn was ist eine Monade ? — „Die Monade, von der wir hier sprechen wollen, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten Dinge eingeht; einfach heißt soviel wie: ohne Teile. Einfache Substanzen muß es geben,

III. Gottfried Wilhelm Leibniz

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da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als eine Anhäufung oder ein Aggregat von Einfachen. Nun gibt es dort, wo es keine Teile gibt, weder Ausdehnung, noch Gestalt, noch mögliche Teilbarkeit. Und die Monaden sind so die wahren Atome der Natur und, mit einem Wort, die Elemente der Dinge." So scheint die große Monadologie v o n 1714 die Einheit des Seins, des Universums aus Geist und Leben, Organischem und Anorganischem also in lauter Einheiten, in Elemente zu zerlegen ? —

Jede Monade, so

heißt es ja, müsse v o n jeder anderen absolut verschieden sein. Gibt es da überhaupt noch eine Möglichkeit aus dem einzelnen, den wirklichen Individualitäten des Seienden zu einem echten Kosmos, einem echten Universum zu kommen ?



„da es zur Natur der Monade gehört, zu repräsentieren, gibt es nichts, was sie darauf beschränken könnte, nur einen Teil der Dinge zu repräsentieren ; obwohl allerdings diese Repräsentation im einzelnen des Universums verworren bleibt und deutlich nur bei einem kleinen Teil der Dinge sein kann . . . sonst wäre jede Monade eine Gottheit. Obwohl demnach jede erschaffene Monade das ganze Universum repräsentiert, repräsentiert sie mit besonderer Deutlichkeit den Körper, der ihr besonders zugehört und dessen Entelechie sie ausmacht. Und da dieser Körper vermöge der Verknüpfung der gesamten Materie im erfüllten Räume das ganze Universum ausdrückt, repräsentiert die Seele, indem sie diesen ihr insbesonders gehörenden Körper repräsentiert, auch das ganze Universum." Da die in Wahrheit seienden Monaden, die echten Individualitäten in diesem Universum zugleich die Eigenschaft haben, das ganze Universum mit mehr oder weniger großer Deutlichkeit selbst vorzustellen und auch sich selbst vorzustellen, kommt also durch den Begriff der „Repräsentation" die Aussöhnung zwischen Individualität und Universum zustande. „Folglich verspürt also jeder Körper alles, was im Universum

geschieht,

derart, daß

der Allsehende

in

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jedem lesen könnte, was überall sonst geschieht, sogar was geschehen ist und geschehen wird." Fensterlos, wie es heißt, hat jede Monade ihr ureigenes Sein, und doch befindet sie sich im Einklang mit dem Ganzen, mit allen Monaden, deren jede eine nämlich das Universum repräsentiert. Aber freilich könnte dieses Universum unübersehbarer Monaden jeder Art von Vollkommenheit noch einem anarchischen Zustand verglichen werden, wenn in dieser Fülle von Individuen nicht der Zug der Ordnung waltete. Diese Ordnung unter den Monaden wird gewährleistet durch das Wirken einer „universellen Sympathie". Jede Monade mag noch so deutlich von jeder anderen unterschieden sein — denn die strenge Eigentümlichkeit und Unterschiedenheit von anderen gehört zu ihrem Wesen —, im Grunde sind sie alle irgendwie aufeinander abgestimmt. Wie sieht diese universelle Sympathie aller Monaden nun aus ? — Da jede Monade verschieden von der anderen das Universum repräsentiert, und zwar ausschließlich mehr oder weniger deutlich repräsentiert, gehorcht die Fülle dieser Individuen, die man nie mit körperlichen Atomen verwechseln darf, dem Gesetz der Hierarchie. Alles Seiende, nämlich die verschiedenen Monaden, stuft sich in einer wunderbaren Kontinuität zwischen deutlicher und verworrener Repräsentation ab, angefangen von der klaren und reinen Welt der göttlichen Monade, über die Welt der vernünftigen Geister und über die verworrene Darstellung in der Seele der Tiere und Pflanzen bis hinab zur großen Dunkelheit der „unterbewußten Monaden", die das Sein der niederen tierischen und pflanzlichen Organismen und der toten Körper ausmachen. Mit dieser Hierarchie der Wesen entäußert sich

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DI. Gottfried Wilhelm Leibniz

das Universum der Monaden jedes nivellierenden, demokratischen Zugs, und es wird deutlich das aristokratische Verhältnis des Leibniz zum Kosmos der Wesen offenbar. Den Rangunterschied unter den Dingen des Seins zu setzen, das war ein Hauptmotiv seines Entwurfs der wahren Welt, und wenn Nietzsche zwei Jahrhunderte später diesen Rangunterschied in anderen Bezirken des Seins, nämlich in der Sphäre des Menschlichen, wiederholt, dann schwingt in seinen Gedanken, der vor allem an den Menschen denkt, jener geistige Aristokratismus wieder mit, der Leibniz die Natur als eine deutliche Hierarchie ansehen ließ. Ja, das aristokratische Verhältnis, das Leibniz zur Natur, zum kosmologischen Sein hatte, wandelt sich bei Nietzsche, in dessen Mitte deutlich und groß das Problem Kultur gerückt ist, um in ein aristokratisches Verhältnis zur Kultur, wohl der einzige Punkt, in welchem Burckhardt ihn wirklich begriff. So klar und einfach, so bestimmt und anschaulich dieses Philosophieren, das in seine Mitte mehr und mehr den Begriff der Ordnung rückt, auch anheben mag, nirgendwo ist es kalt, herzlos, ja bisweilen hat man sogar den Eindruck, als ob es nicht nur der Einfluß mittelalterlicher Gedanken ist, der hier, den gewaltigen Kosmos gleichsam erwärmend, nichts Totes im Universum gelten lassen will, sondern daß hier ein wenig vom deutschen Gemüt, ein wenig Innigkeit, ein wenig Seelentiefe in den Logos einströmt. In schönen Worten wird die Lebendigkeit der Materie und der Körper geschildert und wenn irgendwo, dann hier lernt man es begreifen, daß es ein göttliches Moment in aller Materie gibt. „Man sieht daraus, daß es auch im geringsten Teile der Materie noch eine Welt von Geschöpfen, von Lebewesen, Tieren, Entelechien und

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Seelen gibt. Jedes Stück Materie kann gleichsam als ein Garten vollster Pflanzen oder als ein Teich voller Fische aufgefaßt werden. Aber jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen seiner Säfte ist wieder ein solcher Garten und ein solcher Teich. Und obwohl die Erde und die Luft zwischen den Pflanzen des Gartens oder das Wasser zwischen den Fischen des Teiches, weder Pflanze noch Fisch ist, enthalten sie doch auch noch Pflanzen und Fische, nur meistens von einer uns unerfaßbaren Feinheit. So gibt es nichts ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes im Universum, kein Chaos, keine Verwirrung außer dem Anschein nach."

Klingt in dieser klaren und bestimmten, beinah kategorischen Schilderung der Welt nicht etwas von der philosophischen Innigkeit des Meister Eckhardt wieder auf? — Und liegt hier nicht doch auch wieder die Gelassenheit eines mathematischen Geistes in diesen Sätzen, hinter deren scheinbarer Naivität die tiefe Metaphysik der gesamten Monadologie angeschlagen ist ? — Es wird immer so bleiben: wo das französische Philosophieren, man denke an Descartes oder an Pascal, einmal aus der wissenschaftlichen Umsichtigkeit heraustritt, feilt sich das Denken und die Sprache zur Eleganz, aber wo das deutsche Philosophieren die bloße Sachlichkeit verläßt, beginnt die Innigkeit. Selbst ein Weltgeist von der Weite eines Leibniz unterliegt diesem kleinen, würzenden Gesetz unseres Nachdenkens über die Tiefen und Hintergründe der Dinge. Ist der Gedanke der Ordnung jemals tiefer in die Mitte eines Philosophierens gestellt worden ? — Ist die Gewißheit, daß der Mensch außerhalb einer Ordnung nicht bestehen kann, daß die Ordnung eine Kategorie unseres Daseins ist, jemals deutlicher gewesen als im Denken des Leibniz ? — Wie leicht löst sich die uralte Frage, wie das Individuum in Einklang zu bringen sei mit dem Ganzen, Bense, Wesen

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m . Gottfried Wilhelm Leibniz

wenn man die universelle Sympathie erkannt hat! — Und wie wenig läßt das Problem des Zusammenhanges zwischen Seele und Körper noch zu denken übrig, wenn man beide mit zwei Uhren vergleicht, die so kunstvoll gebaut sind, daß „man ihrer weiteren Übereinstimmung sicher sein kann" ! — Man benötigt nicht mehr den ewigen Beistand des Schöpfers, der fortgesetzt den Einklang zwischen Seele und Körper regelt, wie es sich Geulincx, ein Zeitgenosse von Leibniz, gedacht hatte, und man benötigt auch nicht mehr die Annahme eines natürlichen Einflusses der Seele auf den Körper, von dem man vor Descartes sprach. Die „prästabilierte Harmonie" ist gleichsam einer unerschöpflichen problemlösenden Kraft vergleichbar", denn zwischen der UniversalHarmonie und der Ehre Gottes ist kein Unterschied, als zwischen Körper und Schatten, Person und Bild." Überall also wird der geheime, anthropologische Hintergrund dieser Philosophie spürbar: weder die innere noch die äußere Existenz des Menschen ist außerhalb der Ordnung möglich. Ordnung ist das Grundbedürfnis unserer leiblichen, seelischen und geistigen Daseinsweise. Damit aber hat die Erkenntnis, haben Wissenschaft und Philosophie noch eine andere Aufgabe als bloß Maschinen zu bauen und Medikamente zu erfinden. Denken und Erkennen sichern unablässig die Ordnung, die eine Kategorie unseres Daseins ist, spielen uns die mögliche Übersehbarkeit des Universums vor und gewähren tröstend die Ruhe des Seins, die das Werden, in dem wir uns wandeln, nicht hat. Und so wird mit dem Stufenreich der Monaden die mächtige prästabilierte Harmonie aufgeschlagen, die jeder Anarchie entrückt ist und das philosophische Gleichnis

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für die breite Ruhe und Geduld Bachscher Musik darstellt; denn wie dort die Monaden in immer vollkommener werdenden Repräsentation vom Dasein des einfachen Körpers sich hinaufheben zur unendlichen Repräsentation Gottes, so entwächst hier, vielleicht in der großen „Kunst der Fuge", die der „Monadologie" am meisten entspricht, das Motiv, das das Sein des Musikalischen repräsentieren soll, langsam der einen Geige, in der es aufklang, erreicht eine volltönende Instrumentation und stellt mit dem großen Choral am Ende den Hörenden vor Gott, und das Ganze selbst eine einzige prästabiüerte Harmonie aller gehörten und noch nicht gehörten Töne. Schopenhauer hat später einmal versucht, jenes Stufenreich der Töne, das mit tiefen Grundtönen beginnt und bei den leicht beweglichen und schneller. verklingenden höchsten Tönen endigt, als ein Abbild der Ordnung im Reich der natürlichen Dinge aufzufassen. Aber vorweggenommen ist dieser Gedanke ohne Zweifel im Philosophieren Leibniz' und in jener „Kunst der Fuge" seines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs. Beide glauben an die „prästabiüerte Harmonie", der eine offenbart sie in Monaden, der anderen in Tönen; beide setzen die Hierarchie der Dinge, der eine aus dem Gedanken der Monade, der andere aus dem Klang der Töne; jede Art des Ausdrucks des Seins wird 2um Gleichnis für die andere; was bei Bach erklingt, wird bei Leibniz gedacht. Wen kann es daher verwundern, wenn Leibniz die Musik ein „exercitium arithmeticae occultum nescientis re numerare animi" nennt — denn im Grunde bestimmte er damit den tiefen mathematischen Geist der Bachschen Musik; wem die Deutung, Zusammenfassung und Instrumentierung der „Kunst der Fuge" bekannt ist, die 5*

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Wolfgang Graeser aus seiner erkennenden Begeisterung sowohl für das Mathematische als auch das Musikalische gegeben hat, dem wird der große Einklang des Mathematischen und Musikalischen im Entwurf der Monadologie offenbar werden. Denn im Mathematischen und im Musikalischen erreicht jene prästabiüerte Harmonie, die zu verkünden Leibniz nicht müde wird, in zwei scheinbar völlig getrennten Bereichen des Ausdrucks die höchste Reinheit und die höchste Sichtbarkeit. Und als ob jenes Zeitalter, aus dem sie, Leibniz und Bach, kamen, ein für alle Male den Gedanken der Ordnung welthistorisch zu Ende denken möchte, so nimmt es sich aus, wenn Leibniz aus der Idee des Mathematischen jenes Seiende denkt, das Bach in seinen Tönen aufklingen läßt, die Ordnung, die eine absolute, unantastbare ist. Denn was Leibniz als Mathematiker ist, das ist Bach als Musiker: Arithmetiker in einem beinah metaphysischen Sinne; und der eine setzt in Zeichen, was der andere in Tönen offenbar macht. Und wenn Mystik das ist, was unmittelbar vor Gott dringt, dann treffen sich Bach und Leibniz auf diesem Weg. Denn die breite Harmonik des einen reicht genau so nahe an den Ursprung aller Dinge heran wie die Kraft menschlicher Symbolik bei dem anderen, und wenn man in Bach den größten musikalischen Mystiker verehrt, dann muß man Leibniz mit Oskar Becker als „den größten mathematischen Mystiker seit Piaton" bezeichnen. In unzähligen Fragmenten, Briefen, Abhandlungen und Entwürfen kreist Leibniz um das Thema, aus dem reinen Denken, Gott zu setzen und mit einer Gewißheit, die seinen mathematischen Gewißheiten nicht nachsteht; und vollendet wird diese Setzving endlich in dem einzigen wirklich vollendeten und zu seinen

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Lebzeiten (1710) erscheinenden Werk, das sich die „Theodizee" nennt und darin das Vor-Gott-Kommen aus dem Denken die gleiche Gewalt und Vollendung erreicht wie bei Bach in der unvollendet gebliebenen „Kunst der Fuge" am Schluß, wenn der Choral aufklingt. — Denn zuletzt ist bei Leibniz das gesamte Philosophieren genährt aus dem mathematischen Geist. Klarheit und Ordnung zu setzen, dieses entscheidende Vorhaben seines Philosophierens, ist ja selbst schon etwas Mathematisches, und daher ist die mathematische Strenge bei ihm immer die letzte Instanz, an der geprüft wird und die sicherste Waffe, mit der er vor die höchsten Dinge tritt. ,,so ist es auch mit der Logik bewandt, daß man nämlich in wichtigen, zumal theologischen Streitsachen, so Gottes Wesen und Willen, auch unsere Seele betreffend, wohl tut, wenn man alles mit großem Fleiß auflöset und auf die allereinfältigsten und handgreiflichsten Schlüsse bringt, da auch der geringste Schüler ohnfehlbar sehen kann, was folge oder nicht. Und wird sich finden, daß man oft bei wichtigen Gesprächen stecken bleiben und stillstehen müssen, weil man von der Form abgewichen, gleichwie man einen Zwirnsknaul zum gordischen Knoten machen kann, wenn man ihn unordentlich auftut."

Diese Sätze aus einem Brief an Gabriel Wagner verraten das ganze Vertrauen auf die Kraft des Logos, verraten den mathematischen Geist, dessen Liebe zur Klarheit und dessen Geduld der Ordnung und Folgerung die Rechnung mit dem Unendlichkleinen, den Infinitesimalkalkül, erfinden wird, der im Räume etwas „Ideales", nämlich die „Ordnung der Situationen" erkennt und der schließlich jenen beinah unheimlichen und erst heute in der modernen Logik und der modernen Mathematik völlig erfaßten und durchgeführten Gedanken der „Universalmathematik", der „Mathesis universalis" der „Characteristica universalis" erfaßt. In einem gewaltigen Sy-

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III. Gottfried Wilhelm Leibniz

stem von Zeichen wird alles Gedachte, gleichgültig nun, ob es nur gedacht oder auch wirklich ist, eingefangen; zu jedem Gedachten darf immer nur ein einziges, unabänderliches Zeichen gehören, so wie ein Ton immer nur durch eine einzige, ewig bestimmte Note gegeben ist; die Zeichen müssen so beschaffen sein, daß das Zerlegen eines Gedachten einem eindeutigen Zerlegen eines Zeichens in weitere Zeichen entspricht und alle Beziehungen, die zwischen Gedachtem stehen müssen, sich endlich spiegeln in den Beziehungen, die zwischen den gesetzten Zeichen bestehen. So wird alles Seiende gegeben in einem Spiel von Zeichen, das scheinbar nur amüsant, in Wahrheit aber von einer Universalität ersten Ranges ist. Der mathematische Geist schaut wie eine große Lampe von oben auf die Welt herab und übt leicht und behende die alte ars combinatoria, die Kunst der Zusammensetzung alles Seienden aus den Elementen; er ist wahrhaft ein Weltgeist, der das große Weltspiel treibt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn sich bei Leibniz klipp und klar der Satz fände, daß Gott in Wahrheit der vollkommene Mathematiker sei, daß die Welt das ist, was er in seiner Urgeduld sich selbst mit Unermüdlichkeit vorspielt zu einem unendlichen Epos von Zahlen und Zeichen. Denn im Gegensatz zu Descartes, der immer an die Figuren, an die räumlichen Gebilde dachte und Geometer war, ist Leibniz der große Arithmetiker. Descartes dachte stets an das Messen und war gleichsam stets auf der Suche nach den Teilen des Raumes, aber Leibniz dachte beständig an die Zahl und wie die Mathematik des Descartes eigentlich ein Messen war, so war die seine stets ein Zählen. Denn „manches weist keine Teile auf und entzieht sich somit der Messung. Dagegen gibt

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es nichts, was nicht der Zahl unterworfen wäre. Die Zahl ist daher gewissermaßen eine metaphysische Grundgestalt und die Arithmetik eine Art Statik des Universums, in der sich die Kräfte der Dinge enthüllen." So ist also hier der alte Gedanke des Pythagoras, der Geist von Samos wieder entflammt, jener Geist, der im Wesen und Spielen der Zahlen das Wesen und Weben des Seins erkannte. Aber in diese Flamme des Geistes schlagen andere hinein und erhöhen den Glanz. Denn „dieser Mann brachte Deutschland soviel Ruhm wie Plato, Aristoteles und Archimedes einst Griechenland" — so hatte Diderot ihm nachgerühmt und damit das Wesen seiner Universalität berührt. Das Vertrauen auf das Denken, aus dem hier alles kam, war die vollkommenste Repräsentation der Begeisterung und Tiefe im Logos, die bisher im Abendland erschien und so konnte der Geist, der ihm über die Zeiten antwortete und der die Kraft des reinen Denkens, die jener verkündet hatte, in ihre Grenzen zurückwies, nur selbst wieder ein Mächtiger wie Immanuel Kant sein.

IMMANUEL KANT ODER VOM WESEN DES DENKERS

Der eine entscheidet sich zu dichten, der andere entscheidet sich zu denken, aber beide setzen ihr Leben in ein unmittelbares Verhältnis zum Geist. Und der eine sucht vielleicht das Schöne und der andere sucht vielleicht die Weisheit, aber beide leben tiefer als jene, die sich nicht entschieden haben, weder zu dichten noch zu denken. Aber je tiefer die Tiefe, desto größer die Einsamkeit, und die Einsamkeit des Dichtens ist die Schwermut und die Einsamkeit des Denkens ist die Stille; dort kann der Schmerz nicht mitgeteilt werden, aber hier ist die Erkenntnis zu groß, um in Worten anderen gesagt zu werden. Wie nun den Deutschen mit Hölderlin gezeigt wurde, was in Wahrheit ein Dichter, so wurde ihnen mit Kant offenbar, was in Wahrheit ein Denker ist. Denn nicht der Mensch sollte in Kant vollendet werden, sondern der Denker, ähnlich wie in Hölderlin auch nicht der Mensch, sondern der Dichter eine Vollkommenheit erreichen sollte. So fällt von beiden, blickt man in ihr äußeres Dasein, nach und nach alles Menschliche ab und wird aufgesogen von etwas anderem, bei dem einen vom Denken, bei dem anderen vom Dichten, und es ist im Grunde nicht mehr wesentlich, ob der eine 30 Jahre im Wahnsinn verbringt und als Mensch der Unglückliche war oder der andere nie einige Meilen über Königsberg hinauskam, ein beinah starres, junggeselliges Leben nach der Uhr führte und immer mehr dachte als er lebte.

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Denn insofern war Kant ein abendländisches Ereignis, als er mit Vollkommenheit, zur Warnung oder zum Trost, darstellte, wie das Dasein des Denkers sich abhebe vom Dasein des Dichters und vom Dasein aller anderen. Und im Grunde kann man Kant von innen her, also nicht von seinen Ergebnissen, sondern von seinem Denken, von der Stille seines Denkens her nur dann richtig lesen, wenn man selbst schon ein wenig jene Position des Denkers bezogen und sich zum Denken entschieden hat. Denn Kant ist nicht nur der Entdecker gewisser logischer und erkenntnistheoretischer Prinzipien, Kant ist vor allem auch der Denkende, der Mensch, der sich zum Denken entschieden hat und dessen Dasein ganz und gar unter der Last dieser Entscheidung sich beugt. Nicht nur aus seinen Wahrheiten wird er in seinem abendländischen Ausmaß verständlich, sondern aus dem Denken dieser Wahrheiten. Und indes man sich anschickt, in sein Leben, in sein Erkennen, das sich wie ein großes Dickicht auftut, einzudringen, wird man gewahr, was der Mensch sein könne als Denker. Ortega y Gasset, der bekannte spanische Philosoph, dessen Bildung nicht zuletzt eine deutsche war, sagte einmal von Kant, man könne aus dem prachtvollen Gefängnis Kant nur dann entweichen, wenn man es in sich aufnimmt. Aus dieser Bestimmung kann man tatsächlich das ganze Dasein Kants, sein Leben und sein Denken, seine Kritik und seine Gesetze, verstehen und auslegen. Denn dieses Leben, das uns Betrachtende anmutet wie ein unendliches Gefangensein in einem Nachdenken, ist voll einer beinah tödlichen Stille und Ende, die keineswegs allein aus der damaligen Welt, sondern eben nur aus der Stille und Langmut seines Denkens verständlich

IV. Immanuel Kant oder vom Wesen des Denkers

wird. Sein Fleiß, den die Biographen nicht müde werden zu erwähnen und die unglaubliche Fülle seiner Werke, Bücher und Preisschriften, Vorlesungen und Abhandlungen, Zeitungsaufsätze und Besprechungen, ist weniger ein Fleiß im alltäglichen Sinne, sondern nur Ausdruck eines Daseins, das sich unwiderruflich zum Denken entschieden hat. Im Leben kam er nur wenige Meilen über Königsberg hinaus und das kleine Fachwerkhäuschen in Moditten, das er zärtlich liebte, mutet in seiner Abgeschiedenheit wie ein Gleichnis seines Lebens und seines Denkens an. Am 22. April 1724 wurde Kant in Königsberg geboren. Sein Vater war ein Riemenmacher, nicht sonderlich gebildet, aber, wie die Mutter, erfüllt von einem tiefen Gefühl für den Ernst und die Würde des menschlichen Daseins, Züge, die man immer wieder bei Kant antreffen wird und daraus ohne Zweifel die Strenge und Klarheit seines Daseins sich vollendeten. Schopenhauer hat einmal vom Stil Kants gesagt, daß er sich wie eine „glänzende Trockenheit" ausnehme. Nicht wenig trifft diese deutliche Bestimmung des Schriftstellers auch den Denker und den Lebenden. Langsam, selbst wie die Abstraktion eines wirklich menschlichen Daseins, schreitet dieses Werden voran; mühevoll erringt es äußere Stellungen; leicht kommen die Erkenntnisse; aber nur langsam stellen sich die Bewunderer ein und unbekümmert darum wächst das Werk, und am Ende dieses achtzigjährigen Lebens geschieht es, daß eine unübersehbare Menge an die Bahre tritt, um sagen zu können: Ich habe Kant gesehen. Denn der Ruhm, der so langsam kam, der weniger aus dem Verständnis vor dem Werk, als vielmehr aus der Ehrfurcht vor dem Denkenden entsprang, war wie der erste sanfte Wind vor dem großen Zwiegespräch

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IV. Immanuel Kant oder vom Wesen des Denkers

der Geister, dem sich Kant zugesellt hatte. Mit dem dreißigsten Jahr bewarb sich der junge Kant um die Magisterwürde. Schon vorher hatte er drei Schriften veröffentlicht, die aufhorchen ließen, und so darf es uns nicht verwundern, daß schon bei der Promotion Kants gelehrte Männer seiner Vaterstadt anwesend waren. Keineswegs hörten jedoch jetzt seine finanziellen Sorgen auf, und obgleich er sich vor seiner Ernennung zum Magister veranlaßt sah, den kargen Weg des Hauslehrers einzuschlagen, war Kant nun, da seine akademische Laufbahn begonnen hatte, keineswegs darauf bedacht, den äußeren Erfolg voranzustellen. Über fünfzehn Jahre blieb dieser erste Denker seiner Zeit einfacher Magister, lehnte die Berufung als Professor der Dichtkunst ab, weil sie nicht seinem Fach entsprach, war nur vorübergehend an der königlichen Bibliothek tätig, bis er endlich im Jahre 1770 die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik erhielt. Die Beharrlichkeit des Denkens gab diesem Geist die große Geduld, langsam dem Ruhme und noch langsamer der bürgerlichen Sicherheit entgegenzuwachsen. Aber keineswegs waren mit Logik und Metaphysik seine Themen erschöpft. Das Leben, das so wenig genoß, wurde imehr und mehr von einem Geist übermannt, der 1

sich eines Reichtums ohnegleichen erfreute. Mathematik und Physik, Theologie und Moral, Naturrecht, Anthropologie und Geographie wurden berührt, und die gleiche Buntheit des Wissens und Erkennens, die unablässig dem Gehäuse seiner Phantasie entsprang, liegt denn auch über seinen Schriften. Sie begannen mit naturphilosophischen Auseinandersetzungen, erreichten mit den drei großen Kritiken des Erkennens, des Wollens und des Urteilens ihren Höhepunkt der Wirksamkeit und finden mit Ab-

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handlungen aus der Logik, der Geographie, der Pädagogik und sogar der Buchmacherei ihren Abschluß. Als Kant im Jahre 1803 an völliger Altersschwäche starb, blieb der Plan, eine Ausgabe seiner früheren Schriften zu besorgen, unaufgegriffen liegen, und jenes große Fragment, das „den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" vollziehen sollte und womit das Denken Kants gleichsam an seinem Ausgangspunkt wieder angelangt war, bei der „Natur", erinnert in seinem Schicksal, als Opus postumum erst in unseren Tagen als bedeutungsvoll anerkannt und herausgegeben zu werden in so vielem an Bachs „Kunst der Fuge", über die auch Jahrhunderte ohne Anteil hinweggegangen waren. Und doch offenbart gerade dieses seltsame Opus postumum das Wesen dieses Daseins, das wie kaum ein anderes darauf bedacht war, gut zu denken; denn ohne Zögern verwischen sich hier die Unterschiede zwischen Alltäglichkeit und Denken; in die Darstellung über den Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich fließen die Anordnungen für seinen Diener ein, und wo eben noch die Deduktion über das wissenschaftliche Thema den Geist erfüllte, greift auf einmal und ganz sorglos ein Einfall über Sonntagspredigten, Marzipan oder Strümpfe in die Gedankenflut. So drängt bei Kant unablässig alles dazu, Gedanke zu werden, und der Gedanke wiederum gewinnt hier erst dadurch wirkliche Kraft, daß er Geschriebenes wird. Alles wird notiert, was dem Diener zu sagen sei oder welche Schrift geplant ist, was an der Küche bemängelt wird und was nicht vergessen werden darf. Die Einzigartigkeit eines entschlossenen Denkertums verwandelt sich im Gang der Jahre mehr und mehr in ein Schriftstellertum. Aber im

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Grunde offenbart sich damit nur eine andere, neue Seite dieses tiefen und unerschrockenen Denkens. Denn Kant schreibt wie er denkt. Breit und bedächtig, langsam und kräftig fließt die Deduktion dahin wie ein Konzert Bachs; aber es gibt Stellen in dieser Geduld des Denkens, wo der Geist leicht dahinhüpft wie ein Scherzo und wo sich die Einsicht mühelos zwischen Klarheit und Dunkelheit, gelinder Leidenschaft und logischer Ruhe zur Überzeugung vollendet. Denn Kant will überzeugen, nicht verführen, darum will er die Stille, nicht die Begeisterung, will er die Logik, nicht die Poetik, will er die Wahrheit, nicht die Stimmung. Immer hat er betont, nicht Philosophie zu lehren, sondern das Philosophieren, und so kommt es bei ihm immer darauf an, daß der Geist in Bewegung gebracht wird, daß das Denken eingesetzt wird und wirklich voranschreitet, sich aber niemals mitziehen läßt; denn darin besteht das wirkliche Denken, aus dem bei Kant alles kam. Kant entwächst einer reichen Zeit. Das kleine Preußen, der Staat seiner Herkunft wächst heran, wird stark und bereitet sich vor zu seinen Siegen; in Leipzig hat Christian Thomasius seine ersten Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten und damit für den Geist der deutschen Universitäten eine lutherische Tat vollbracht; in Halle schreibt Christian Wolff seine philosophischen Bücher in deutscher Sprache und setzt so die Arbeit Thomasius' fort; vor allem aber bewirkt Wolff auch in Deutschland jenen Geist der Aufklärung, der von Frankreich und England herüberkam und deren Sinn Kant in den einfachen, aber deutlichen Satz zusammenfaßte: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten

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Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen I — ist also der Wahlspruch der Aufklärung." Aufklärung bedeutet also, sich zum Denken entschieden zu haben. Wo aber diese Entschiedenheit zum Denken aus einem Ernst des Denkens und einem Vertrauen auf das Denken fließt, dort entsteht die Kritik. Denn es gibt keine Kritik, die nicht zugleich den Ernst im Denken und das Vertrauen auf das Denken will. Das Vertrauen auf das Denken, mit dem alle Erfahrung anhebt, sucht den Zweifel und findet also die Kritik, denn in jeder Kritik kommen Vertrauen und Zweifel in eine schöpferische Mischung. Die Aufklärung beginnt also ein Konzert des Geistes, das unablässig zwischen Vertrauen und Zweifel im Denken hin- und herschwankt. Leibniz hatte sein Universum in jener prästabilierten Harmonie aufgebaut, die den höchsten Begriff gab von einer Ordnung des Sichtbarlichen und Gedachten, derer die innere Existenz des Menschen ewig bedarf. Das Sein wurde verstanden als eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Monaden, deren jede das Universum repräsentierte, aber in einer Stufenordnung von Klarheit, so daß die Welt tatsächlich als eine Reihe höherer und niederer Wesen erschien. Es sollte eine allgemeine Begriffsschrift des Denkens, eine Characteristica universalis geben, in der diese so wunderbar gedeutete Welt eingefangen und begriffen werden konnte. Damit aber war dem Denken eine Macht geBento, Wesen

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geben, die es alles erreichen, alles erkennen ließ, und Wolff, der mit großem Geschick die Gedanken Leibniz' in Leipzig und Halle lehrte, zögerte denn auch nicht, die Welt nach Maßgabe des Logos zu entwerfen und das, was gedacht wurde, als das wirkliche zu verkünden. Der Logos wurde der Dogmatiker des Seins und des Wirklichen und der Begriff schien seine unverletzbare Waffe. Aber Locke in England, der aus der Idee der Aufklärung an die Stelle des Vertrauens den Zweifel setzte, glaubte nicht an die Allmacht der Begriffe, die von sich aus noch nicht den Rang des Seins setzen könnten. Nichts, so war das Ereignis seines Zweifels, könne im Verstand sein, was nicht vorher in den Sinnen war, alles komme über die Erfahrung in den Geist, keine Idee sei uns angeboren. Im Gegensatz zu Wolff wird das Denken hier in seiner Macht gebrochen und nicht der Geist, die Sinne feiern ihre Triumphe. Und neben Locke, dem Zeitgenossen Leibniz', stand Hume, der Zeitgenosse Kants und leugnet ebenfalls die schöpferische Fähigkeit des Denkens; alles gebe uns die Erfahrung der Tatsachen, und die Ideen, die wir scheinbar aus uns selbst erzeugen, und selbst die Ideen der Kausalität oder der Substanz stammen zuletzt auch nur aus Empfindung und Gewöhnung. So stellt also der Geist der Aufklärung den Denkenden in eine gründliche Krisis, in der er, der Denkende oder Erkennende, nicht ein und aus weiß in der unabwendbaren Frage, ob die Kraft des inhaltlichen Denkens wirklich imstande sei, das Wirkliche zu setzen oder aber, ob sie nur allzuleicht in einem Raum von Hirngespinsten sich tummele. Wo hört das Wirkliche, das man erkennen will, auf und wo fängt das Hirngespinst, über das man sich täuscht, an ? — Ist das, was man er-

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kennt und denkt, auch wirklich jenes Sein, das rätselhaft sich auftut und das man erkennen möchte ? — Das Vertrauen auf das Denken sagt ja, aber nicht umsonst hat der Denker der Aufklärung auch den Zweifel des Descartes übernommen, und dieser Zweifel, der aus dem Ernst im Denken kommt, sagt nein. Und so tritt Kant, genährt vom Zweifel und genährt vom Vertrauen, in dieses mächtige Konzert des Geistes, das aus seiner Zeit herüberschwank bis in die Gegenwart und das mit jenem Zwiegespräch begann, das er mit WolflF und Hume führte. Wo Zweifel und Vertrauen die Voraussetzung bilden, entsteht die Kritik, die Grenzsetzung, die Neuordnung. Das Philosophieren Kants ist Denken als Kritik. Was aber ist Gegenstand dieser Kritik ? — Die Erkenntnis. Und was ist Gegenstand dieser Erkenntnis, die ihre Bestimmung nicht einhielt ? — Die Natur. Nicht die Natur, in der man lebt, in der man atmet und schreitet, in der man aufwächst und stirbt, sondern die Natur, über die man nachdenkt, die Natur, die im Denken, in der Wissenschaft, in der Physik erscheint. Aber ist die Natur, die im Denken, im Erkennen erscheint, wirklich jene Natur, die unabhängig vom Denkenden und vom Erkennenden besteht ? — Das Vertrauen auf das Denken sagt ja, aber der Zweifel im Denken sagt nein. Denn sicher ist nur, daß „es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand". Unser „Gemüt" besitzt die Kraft, Vorstellung aufzunehmen und diese „Rezeptivität" ist die „Sinnlichkeit", aber es besitzt auch das Vermögen, „Vorstellungen selbst hervorzubringen" und diese „Spono»

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taneität" ist der „Verstand". „Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann... Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung 2u denken, der Verstand." So reißt Kant einen ersten Dualismus im Erkennenden auf: den Antagonismus zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Rezeptivität und Spontaneität. „Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. h. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne vermögen nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen." Die Erkenntnis ist also eine Synthesis, ein Akt der Vereinigung, ein Akt der Vereinbarung zwischen dem Empfangen der Vorstellung und dem Hervorbringen der Begriffe. „Deswegen darf man doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem anderen sorgfältig abzusondern und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. h. die Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. der Logik." So also hebt diese Kritik an. Sie gibt der Empfindung zurück, was der Empfindung ist, und sie gibt dem Denken zurück, was des Denkens ist. Ihre Synthesis, ihre

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Vereinbarkeit aber wird darin bestehen, daß sie einander in den Grenzen halten, daß die Sinnlichkeit darüber wacht, ob das Denken sein Medium nicht überschreite wie bei WolfF und daß das Denken darüber wacht, ob die Sinnlichkeit ihr Medium nicht überschreite wie bei Hume. Die Harmonie des Universums, von der Leibniz so schöne Dinge gesagt hatte, kehrt wieder im Vermögen, dieses Universum zu erkennen, kehrt wieder in der Erkenntnis, darin Verstand und Sinnlichkeit zu einer Geselligkeit gelangen. Wenn aber der Gegenstand der Erkenntnis, die Natur, das Universum eine Synthese ist aus dem, was die Sinnlichkeit von außen und der Verstand von innen zu seinem Erzeugen dazu tut, dann kann dieser Gegenstand nicht mehr jener sein, der in Wahrheit unabhängig vom Erkennenden absolut und für sich besteht. Und so reißt Kant einen zweiten Dualismus auf, der den Erkennenden ewig von der an und für sich bestehenden Welt trennt: den Antagonismus zwischen Ding an sich und der Erscheinung dieses Dinges. Da nun alle Erkenntnis, wenn sie echte, wirkliche Erkenntnis sein soll, zugleich jener Sinnlichkeit und jenem Verstand entstammt, so kann in jeder Erkenntnis nur jener Gegenstand auftreten, der aus dem sinnlichen und begrifflichen Anteil besteht, also die Erscheinung; das Ding an sich, das dieser Erscheinung zugrunde liegen mag, das hinter der Erscheinung liegt, kann nie erkannt werden und bildet das „Transzendente", das, was jenseits aller Erkenntnis liegt. Locke hatte einst gezeigt, daß die sekundären Eigenschaften der Dinge wie Geruch, Farbe, Klang oder Härte nicht dem Körper an sich angehörten, sondern daß nur Raum, Gestalt, Zahl, Beweglichkeit und Undurchdringlichkeit wirk-

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liehe Eigenschaften des Körpers seien. Aber Kant zertrümmert auch diese letzten Eigenschaften, die Locke die primären nennt und zeigt, daß auch sie nur unserem Erkenntnisvermögen, nicht aber dem Seienden an sich zukommen. Die echte Erfahrung von der Welt ist also jene Erkenntnis, die entsteht, „indem der Verstand den rohen Stoff sinnlicher Empfindung bearbeitet". Wenn es jedoch etwas geben soll, womit der Verstand die rohe Empfindung bearbeitet, so kann das, womit die Bearbeitung der bloßen Empfindung einsetzt, nicht selbst aus der Erfahrung stammen. Kant wird also damit zu einem dritten Dualismus gedrängt: solche Erkenntnise, die zugleich den Charakter der inneren Notwendigkeit haben und vor aller Erfahrung bestehen und von aller Erfahrung unabhängig sind, heißen Erkenntnisse a priori; aber im Gegenteil hierzu heißen Erkenntnisse, die ganz von der Erfahrung erborgt sind, empirische Erkenntnisse oder Erkenntnisse aposteriori. Was die bloße Empfindung liefert, die Materie dessen, was Erscheinung sein wird, kann nur a posteriori gegeben sein, aber, was der Verstand liefert, die Form dessen, was aus der Materie der Empfindung die Erscheinung der Erkenntnis macht, „muß im Gemüthe a priori bereit liegen und dahero abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden". Wenn nun in der „Ästhetik" der „Regeln der Sinnlichkeit" die Anschauungsformen betrachtet werden, dann sind es die „reinen Formen der Anschauung", die hier in Frage stehen, nicht aber jene, die Empirisches enthalten. Und wenn in der „Logik" der „Regeln des Verstandes" die Begriffe betrachtet werden, so sind ebenfalls die „reinen Begriffe" und nicht solche, die Empirisches enthalten. Denn nur

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das „Reine" ist a priori möglich; was a posterio ist, enthält mit Notwendigkeit Empirisches. Reine Anschauung und reine Begriffe liegen also im Erkennenden bereit, damit sich die bloße, ungeformte Materie der Empfindungen in anschaulich und begrifflich mögliche „Erscheinung" verwandele. Auf der Grundlage dieser drei Dualismen, dem zwischen Sinnlichkeit und Verstand, dem zwischen Ding an sich und Erscheinung und dem zwischen a priori und a posteriori, wird nun das große, eigentliche Thema dieses Philosophierens bestimmbar: die Kritik der reinen Vernunft. Diese Kritik richtet sich ja zunächst gegen jenes spekulative Denken, das ohne alle Erfahrung auskommen möchte und allein aus dem, was das Denken aus sich selbst hervorbringen kann, also aus der reinen Anschauung und den reinen Begriffen in scholastischer Art die Welt sich vorspielt, aber überzeugt davon ist, daß in diesem Spiel auf einer Flöte des spekulativen Geistes der Kanon der Begriffe als das wirkliche Sein erscheint. Die Spekulation ist eine reine, weil sie sich nicht um Erfahrung, nicht um Empfindungen kümmert; Leibniz hatte diesem reinen Denken der Welt und des Seienden die höchste Kraft zugestanden, ja, er hatte sogar erkannt, daß seine Welt — wie er in der Schrift „De rerum originatione radicali" schreibt — der Erfahrung widerspräche, aber doch der Erfahrung bedeutet, daß sie nichts verstehe und das Maul halten solle, wenn Philosophie a priori geredet habe. Die eigentliche Frage der kritischen Philosophie, sofern sie sich gegen die Metaphysik, diesen Inbegriff der Spekulation außerhalb des Erfahrbaren, richtet, muß also diese sein: wie ist reine Erkenntnis a priori möglich ? — Und da diese Erkenntnis eine

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synthetische sein soll, eine Erkenntnis also, die unser Wissen wirklich erweitert, so verschärft sich das Thema der Vernunftkritik in der Weise, das gefragt wird: wie ist reine, synthetische Erkenntnis a priori möglich? — Die Aufklärung hatte nicht den Erkennenden als leibhaftiges Wesen in eine Krisis gebracht, wohl aber die Erkenntnis selbst. Einer Krisis, einer epochalen Infragestellung kann man jedoch nur durch eine radikale Kritik entgehen. Kants weltgeschichtliche philosophische Aufgabe bestand also zunächst darin, der Aufklärung die Grenzen zu weisen und der Krisis, in die sie die Erkenntnis und das Denken geführt hatte, eine Kritik entgegenzustellen. Aufklärung aber bedeutet auch weiterhin immer eine gewisse Rezeption dessen, was man das „Natürliche" nennt. Es war „natürlich", wenn Leibniz und Wolff dem Denken alles Vertrauen schenkten und keinen sonderlichen Unterschied zwischen der Welt an sich und der Welt, wie sie sich im Denken spiegele, vorfanden, aber es war auch natürlich, daß Hume und Locke, die Welt so anzusehen lehrten, wie die Empfindung sie empfing. Hatte das eine Mal auch das Denken und das andere Mal auch das Empfinden alle Macht, so blieb doch beide Male die Welt, die Natur das wirkliche, mächtige Faktum außerhalb des Erkennenden, wie es die natürliche Welteinstellung lehrt. Dieser Rezeption des „Natürlichen" stellt nun Kant eine Umwertung entgegen. Es ist eine Umwertung der „Natur" insofern sie „Gegenstand der Erkenntnis" ist, und es ist eine radikale, kopernikanische Umwertung, insofern sie dieser „Natur" unserer „Erkenntnis" alles „Natürliche" entzieht und insofern sie also die „natürliche Welteinstellung", in der die Auf-

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klärung beharrte, restlos in eine problematische verwandelte. Es war „natürlich", zu denken, die Anschauung richte sich nach den Gegenständen, aber es bedeutete eine Revolution, als Kant aussprach, die Gegenstände richteten sich nach der Anschauung. In der Logik, in der die Regeln des Verstandes behandelt werden, entwickelt Kant die Kategorien, welche die Bedingungen zu einer möglichen Erfahrung sein sollten und in der Ästhetik, in der die Regeln des Sinnlichen erforscht werden, bestimmt er Raum und Zeit als die Anschauungsformen, welche Bedingungen zu einer möglichen Erfahrung sein sollten; denn zweifach war ja die Wurzel der Erfahrung, Sinnlichkeit und Verstand oder Anschauung und Begriffe. Beide, die Formen der reinen Anschauung, Raum und Zeit, und die Kategorien des reinen Denkens sind a priori, aber die Revolution besteht darin, daß „die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung . . . zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" sind. Nicht den Gegenstand wie er unabhängig vom Erkennenden an sich besteht, nicht das Ding an sich haben wir in dieser Erfahrung, deren Bedingungen zugleich die Bedingung ihrer Gegenstände ist, sondern nur das, was „erscheint", das was in bezug auf den Erkennenden, nicht unabhängig vom Erkennenden ist, also die „Erscheinung". Hier muß man langsam lesen. Denn der Augenblick der kopernikanischen Wendung ist der Augenblick, in der die Revolution beginnt, die dem Erkennenden alle Macht zurückgibt, in der Einsicht, daß er nur in seiner Welt, in der Welt der „Erscheinungen", nicht aber in der „transzendenten" der „Dinge an sich" der wahrhaft „Erkennende" und nicht der Getäuschte ist. Nun mag

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er der Natur die „Gesetze vorschreiben", nun mag er „Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen", selbst hinein legen, nun mag er Mathematik und Physik treiben, denn in ihnen ist jene synthetische Erkenntnis a priori möglich, weil sie nie jene Welt der „Erscheinungen" verlassen, die die rohe Empfindung, die unbehauene Materie nach der Bearbeitung durch die Formen der Anschauung und die Kategorien des Verstandes erzeugt und nun mag er die alten Aufgaben der Metaphysik, über die „Welt" und die „Freiheit", über die „Seele" und über „Gott" nachzudenken, verlassen und die neuen bestimmen, die Grenz setzung der menschlichen Vernunft. Nicht die Weite des Denkens, nicht die Unendlichkeit der Vernunft und der Begriffe ist es, die den Menschen über die Natur erhebt, nein, diese Weite und diese Unendlichkeit werden ja ohne Zögern eingeschränkt auf eine Enge von zwei Anschauungsformen und zwölf Kategorien, aber das Denken gewinnt gerade in dieser Endlichkeit seine Kiaft, Existenz zu setzen, nämlich die Existenz dessen, war wir „Gegenstand" oder „Erscheinung" nennen. Einst hatte der junge Kant ausgerufen, gebt mir Materie und ich will euch eine Welt daraus bauen. Die Vernunftkritik gibt ihm diese Materie und in einer wunderbaren logischen Anmut, die nur gelegentlich in das. vorschöpferische Dunkel zurückfällt, erfüllt der Philosoph sein Versprechen und setzt die Welt der „Erscheinungen" wie ein kleiner Gott der Gedanken und Begriffe, der von einem Punkt jenseits der Dinge mit gelassener Geste die „Erscheinungen" hervorzaubert. Scheinbar wird bei Kant nicht mehr gegeben, als die Fülle der „Erscheinungen", die „Gegenstand" der Erkenntnis sind, aber

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in Wahrheit schlägt Kant drei Reiche des Seins auf und scheidet, was bisher immer grenzenlos ineinander verfloß: das Reich der „Erscheinungen", die wirklich gegeben sind, ihm vorangehend und bedingend das „transzendentale" Reich der reinen Begriffe und der reinen Anschauungsformen a priori, das Reich der transzendentalen Logik und das Reich der transzendentalen Ästhetik, kurz das Reich der Apriorität, aber ihm, dem Reich der Erscheinungen nachfolgend, das jenseitige, unerreichbare Reich der „transzendenten" Dinge an sich; das „Transzendentale" bedingt die „Erscheinungen" und die „Erscheinungen" deuten auf das „Transzendente"; groß und mächtig steht die Subjektivität, der Mensch in der Mitte, bewahrt in sich das „Transzendentale", alles was apriori ist, setzt die „Erscheinungen" und ahnt das „transzendente" Ding an sich. Dieses Reich der Erscheinungen aber enthält allgemeine Erfahrungen, nicht etwa willkürliche Wahrnehmungen eines Einzelnen, und in dieser Trennung der allgemeinen Erfahrung von der einzelnen Wahrnehmung liegt es begründet, daß jenes Ich, das diese allgemeine Erfahrung trägt, nicht das einzelne empirische Ich ist, sondern das reine Ich, das transzendentale Ich. Und so ist es auch nicht die einzelne Persönlichkeit, die einzelne Subjektivität, die hier Macht gewinnt über die Natur, sondern jene Persönlichkeit, jene Subjektivität, die sich zur einzelnen, empirischen transzendental, bedingend verhält. Der einzelne Mensch ist ganz und gar den Gesetzen der Natur unterworfen, aber die transzendentale Subjektivität, gleichsam das Wesen, das unzerstörbare Wesen des Menschen, hat die Macht über die Natur gewonnen; denn sie besteht nicht wie das einzelne Ich im passiven Wahr-

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nehmen, sondern im aktiven Erschaffen, sie schreibt der Natur die Gesetze vor, sie setzt Ordnung und Gestalt aus der in ihm seienden reinen Begriffe und reinen Anschauungsformen. Allen „empirischen Ichs" liegt also erst jenes „reine Ich zugrunde; es allein hat diese Kraft der Erschaffung, denn es allein hat das, was Kant die „reine Apperzeption", das reine urteilende Zusammenfügen, und es ist eine Macht, weil es ganz in der Gewißheit besteht, daß es ist. Denn Macht ist zuletzt ja immer nur die Form der Evidenz der eigenen Existenz. F r e i l i c h , es ist n i c h t der b l u t v o l l e , l e b e n d i g e M e n s c h , d e r h i e r u n t e r dem t r a n s z e n d e n t a l e n I c h v e r s t a n d e n i s t ; es wird bei Kant überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie die Erkenntnis und das Denken in einem wirklich lebendigen Menschen sich vollenden, sondern es g e h t h i e r n u r um das Sein d e r E r k e n n t n i s , i n s o f e r n sie g e d a c h t w i r d ; und so geht es auch nicht in jener anthropologischen Besinnung, in jener Wissenschaft vom Menschen, die Martin Heidegger aus der Kantischen Vernunftkritik abgeleitet hat, um den Menschen als den Erkennenden — den Wissenschafttreibenden, wie es bei Heidegger in der berühmten Rede: „Was ist Metaphysik ?" heißt —, insofern dieser Erkennende ein wirkliches, leibhaftiges Wesen ist, sondern nur um diesen Menschen, diesen Erkennenden, diesen Wissenschafttreibenden, i n s o f e r n er g e d a c h t wird. Kant hatte klar gemacht, wie die E r k e n n t n i s g e d a c h t w e r d e n k ö n n e und fand jenes transzendentale Ich, das alles bedinge, die Natur und alle einzelnen Ichs. Heidegger fragt nun, wie dieses e r k e n n e n d e I c h , dieses D a s e i n M e n s c h , welches unablässig Wissenschaft treibt, g e d a c h t w e r d e n k ö n n e . Nur so weit

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darf man die anthropologische Bewegung verstehen, die im Grunde mit Kant beginnt und bei Heidegger endet, nur so weit, als man begreift, daß es hier nur darum geht, wie die E r k e n n t n i s und wie der E r k e n nende gedacht werden können, wie sie also Geist sind; aber über die wirkliche Erkenntnis, die sich in einem leibhaftigen Erkennenden vollzieht, ist nichts gesagt, weder bei Kant, noch bei Heidegger. Denn Kant hatte sich ganz und gar dazu entschieden, zu denken, weder zu leben, noch zu dichten, sondern nur zu denken. In diesem Sinne aber offenbart er jenes Ereignis unter den Deutschen, das selbst uns, den Deutschen, eine Art fortgesetzter Entrückung bedeutet. Man hat viel darüber gespottet, daß den Deutschen die Theorie mehr sei als die Praxis, dies aber nur in dem Sinne, daß im Grunde das Handeln immer gemäß der Wahrhaftigkeit eines Denkens sei. Das alles aber sammelt sich in Kant wie in einem überzeitlichen, geistigen Brennspiegel. Und selbst wenn hier die praktische Vernunft des Handelns und des Wollens auch den Primat vor der theoretischen Vernunft der Erkenntnis zugesprochen erhält, so ist doch unabweisbar, daß dies alles im Rahmen eines Philosophierens geschieht, also im Rahmen der Aufgabe, wie über das E r k e n n e n und das Wollen nachgedacht werden könne. Denn die Deutschen haben von allen Griechen am besten Sokrates verstanden, der stets darauf bedacht war, zu einem Ausgleich zwischen Denken und Leben zu kommen. Das Erscheinen Kants — dessen Entschiedenheit zum Denken mehr Deutsches an sich hat als seine gesamte Staatsphilosophie — war für die Deutschen ein sokratischer Augenblick: denn

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seine Bestimmung der Erkenntnis überzeugte, daß Erkennen etwas Großes sei, und sie verführte zum Erkennen wie Sokrates einst zum Wissen verführt hatte. Daher gab es auch kaum jemals einen deutschen Philosophen, dessen Wirkung so unmittelbar, so unabsehbar war wie die Kants. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es kaum noch eine deutsche Universität, auf deren Katheder nicht im Geiste Kants philosophiert wurde. Es gab kaum eine deutsche Stadt, wo nicht ein schriftstellernder Kantianer lebte. Liebte es Goethe ihn aus der Ferne zu bewundern, auch wenn er an ihm vorüberging, weil er eine entgegengesetzte Macht war, so entflammte Schiller in seinen philosophischen Schriften und Briefen geradezu einen ersten Kantianismus. Was jene nur die tiefe Stille eines unbekümmerten Denkens offenbarende Sprache Kants an mitreißender Kraft nicht besaß, das fügte Schiller hinzu; er verwandelte einen Kant, der überzeugte, in einen Kant, der verführte, und daß es einmal einen wirklichen deutschen Idealismus gab, ein Denken, das die Dinge des Denkens und die Dinge der Natur allein aus dem Geiste setzte, das Staat und Religion, Kunst und Physik, wie es bei den Fichte, Schelling und Hegel geschah, allein durch die Idee begriff, daran hatte Schiller nicht zuletzt einen Anteil. Es war also eine schöpferische Kritik, die Kant an den leichtfüßigen Spekulationen Leibniz' gewagt hatte. Denn das, wogegen Kant in jenem Philosophieren protestiert hatte, das Übergehen der Erfahrung, das allzu große Vertrauen auf die Kraft des reinen Denkens, das hatte er in seinen großen Nachfolgern, in der Triade der Fichte, Schelling und Hegel wieder eingesetzt. Denn einmal mußte das vollkommene Vertrauen

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auf die Macht des Geistes, mußte das endgültige Unterwerfen aller Dinge und Geschehnisse der inneren und äußeren Welt unter die Herrschaft des Logos deutsches, ja abendländisches Ereigniswerden. K a n t h a t t e o f f e n b a r g e m a c h t , was der Mensch als E r k e n n e n d e r sein k ö n n e , wie er als E r k e n n e n d e r g r o ß g e n u g g e d a c h t w e r d e n k ö n n e , aber nun bedurfte es noch jener Anstrengung, die Welt, das Sein selbst aus jenen Kräften, die Kant bescheiden Vernunft und Verstand genannt hatte, zu stiften. Das Denken, um dessen Grenzen der Königsberger noch rang, mußte die Entfaltung der Welt und des Seins selbst geben, und der Geist, von dem Kant nur selten und zögernd sprach, dieses mächtige, unwägbare Allgemeine, mußte der geheime Stoff, die Allsubstanz des Seienden überhaupt werden. So wird, was bei Kant noch Kritik war, nun reine Schöpfung. Ein Rückzug von aller Materie setzt ein und die Macht, die das Sein stiftet, ist allein der Geist: Fichte verkündet das einzige, mächtige Ich, das die Welt stiftet, indem es sie denkt, und dieses Denken ist, fortschreitend aus dem Widerspruch von Thesis und Antithesis zur Synthesis, die wesentliche H a n d l u n g dieses Ichs; die Schöpfung der Welt wird ein Denken der Welt in dem mächtigen Ich, und nie verweilte ein Denker tiefer beim denkerischen, geistigen Beginn des Seins als Fichte, und dieser Beginn ist kein Mythos mehr, sondern einfach der Ursprung des Denkens, wie er immer geschieht. Schelling, der unruhige Schelling, der fortgesetzt um neue Motive seines Philosophierens kreist und fünfmal neue Ansätze zu einer denkerischen Erfassung des Seins erfindet, fügt jenem Ich Fichtes, das die Welt schafft, indem es sie



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denkt, die Natur hinzu, die nun von jenem Ich gedacht wird; nicht die Natürlichkeit der Natur wird bestimmt, sondern es wird gesagt, wie das weltschöpferische oder weltdenkende Ich diese „Natürlichkeit" erdenkt, im Denken erzeugt, und so entsteht eine Philosophie in der „Natur" zu „Geist" und „Geist" zu „Natur" wird, ein „Identitätssystem", in dem alle Gegensätze von „Realem" und „Idealem", „Subjekt" und „Objekt", „Natur" und „Geist" im „Absoluten" zu einer Einheit verschmolzen werden. Am mächtigsten, am lautesten aber wird die Welt als Geist schließlich durch Hegel verkündet Während noch bei Kant immer wieder bescheiden von „Erkenntnis" die Rede ist, während bei Fichte laut und vernehmlich vom „Ich" und seinem Denken gesprochen wird, während Schelling um die „Natur" kreist, die „Geist" ist und den „Geist" verkündigt, der „Natur" ist, bestimmt Hegel, dieser kühle, beinah tödliche Schatten über dem deutschen Philosophieren, das Ungeheuer „Geist" zum Thema einer Fuge in Begriffen. Nie ist der „Geist" — nicht das Denken, Erkennen oder Vernunfthaben, die gleichsam nur Äußerungen dieses unfaßbaren, unwägbaren Geistes sind — deutlicher das schwerste, entscheidendste Wort des Philosophierens gewesen als hier. Er wird gleichsam aus dem Theologischen — wo er Gott ist — in das Philosophische herübergenommen, wird „Weltgeist", „absoluter Geist" und als solcher Träger der „Gesamtwirklichkeit", und die Geschichte ist nichts anderes als eben die „Schädelstätte dieses Geistes". Man wird Hegel an beinah allen Punkten seines Nachdenkens widersprechen können, alle einzelnen Züge, alle einzelnen Sätze seines Werks neigen dazu,

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Halbwahrheiten zu sein, die Ausführungen über die Mathematik oder die Physik werden immer das Lächeln des Kenners erregen, aber daß hier einzig und allein das Thema „Geist" zum deutschen, zum abendländischen Ereignis geworden ist, das läßt sich heute nicht mehr leugnen. Freilich manifestiert sich dieser Geist ganz und gar in den Begriffen, die abstrakt, kühl, ja starr und tödlich anmuten, und so mußte diese Bewegung für eine Proklamation des Geistes, diese Bewegung einer Entscheidung für den Geist, die mit Kants gewaltiger Besinnung auf die Reinheit des Denkens und Erkennens anhob, schließlich mehr und mehr erstarren; das Lebendige fühlte sich hier vernichtet, alles Einzelne untergehend in einer unsichtbaren Macht, die nicht das „Natürliche", das „Leibhaftige", das „Konkrete" war. Daß sich die widersprechenden Stimmen erhoben, war selbstverständlich; daß Schopenhauer auf einmal wieder vom „Willen" sprach; daß Kierkegaard lehrte, wieder weniger vom Denken, aber mehr vom „Denker" zu sprechen und daß Nietzsche endlich dieser Verkündigung des „Geistes" die neue Verkündigung des „Leibhaftigen" entgegensetzte, das alles war eine wunderbare Konsequenz, die wahrhaft das große philosophische Welttheater genannt werden muß.

Bense, Wesen

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SÖREN KIERKEGAARD UND DER DEUTSCHE GEIST

Man wird vom Schriftsteller ausgehen müssen, will man das eigentümliche philosophische Pathos Sören Kierkegaards begreifen. Denn der wilde Reichtum seiner Gedanken, die Ermahnungen und Bewunderungen, die Angriffe und Verherrlichungen, erscheint mit Notwendigkeit zum geschriebenen Wort gekommen. Man sagt von Laotse und Sokrates, daß ihr Philosophieren in einer eigentümlichen Unmittelbarkeit ihres philosophischen Daseins bestand und entsprechend könnte man von Kierkegaard behaupten, daß bei ihm der Vorgang des Philosophierens sich unmittelbar im Schreiben vollendet. Denn so abgeschieden von allen, so fremd in seiner Zeit und seiner Welt hatte er zu leben, daß er des erweiterten Mundes, des Buches, bedurfte, um jene zu finden, denen er etwas zu sagen hatte. Jens Peter Jacobsen, der früh verstorbene dänische Dichter und Botaniker, bemerkte einmal, er könne sich Sören Kierkegaard nur als einen Mann vorstellen, der beständig seine ureigensten Gedanken dejeuniert mit der Feder als Gabel. Darin ist die konkrete Einheit von Philosoph und Schriftsteller, wie sie der dänische Denker vorstellt, in launiger Weise zum Ausdruck gebracht. Man wird also Kierkegaard nur schwer zuhören können, und nur wenn man sich dem rein Dichterischen seiner tiefen Predigten überläßt, aber den windungsreichen Gedanken weniger nachfolgt, wird man mit Geduld Ohr sein können. Reich und beladen wie mit neuer, ungewohnter Fracht wird man jedoch nur dann

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V. Sören Kierkegaard und der deutsche Geist

aus seiner Welt zurückkehren, wenn man ihn liest, wenn man seinen schwerfalligen oder leichtfüßigen, seinen geraden oder krummen Pfaden der Deduktionen Satz um Satz wie mit einem geistigen Finger nachgeht. Das Lesen, nicht das Hören wird hier zu einer unerhörten Anstrengung des Geistes, zu einer Übung in der Geduld aber auch der Stimmungen des Denkens. Denn nie kann es deutlicher werden, daß auch Gedanken und Ideen ihre Stimmungen, ihr eigentümliches, unwägbares Medium haben, das nicht nur die Klarheit der Begriffe, sondern auch die Leidenschaft der Gefühle begleitet, als bei der Einkehr in die Welt dieses abscheidenden und fördernden Geistes. Sich selbst empfand Kierkegaard als ein höchst seltsam gearbeitetes Polizeitalent, aber es muß hinzugefügt werden, daß selbst von seinen schwersten Anklagen noch eine gewisse Sympathie, ein gewisser Glanz der Berechtigung ausgeht, die ihn zuweilen geradezu in einen verführerischen Ankläger verwandeln. Denn Kierkegaard will verführen, nicht in einem bösen, sondern in einem guten Sinne. Sein Philosophieren erscheint mit welthistorischer Notwendigkeit, ist Ausdruck einer ganz bestimmten anthropologischen Situation, von der noch die Rede sein wird, und so bedarf er, der nicht überreden konnte, weil nicht von seiner Person, wohl aber von der Flut der geschriebenen Sätze eine Macht, die Voraussetzung aller Verführung ausging, wie ein Sokrates sowohl der Überlistung der Vernunft als auch des Herzens. Das Verworten der Gedanken ist, von ihm aus gesehen, nicht nur eine Äußerung seines intellektuellen Daseinswillens, sondern darüber hinaus auch, in bezug auf uns, das

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Mittel seiner Macht, die geistige Entfaltung in eine bestimmte Richtung zu drängen, deren Wesentlichkeit und Größe zu schauen ihm bestimmt war. Die Wahrhaftigkeit aber, mit der er vor das Forum tritt, ist immer das Element der Gewißheit um der Dringlichkeit seiner Aufgabe. Und so wird man sich beim Lesen dieses Denkers des Ernstes und der Verantwortung sehr bald daran gewöhnen müssen, daß hier einer spricht, bei dem die Bescheidenheit der Äußerung, hierin gleicht Kierkegaard durchaus Nietzsche, nur ein Mangel an Kraft, ein falsches Pathos wäre. Sofern man noch Gefühl für solche feinen Unterschiede aufbringt, sei gesagt, daß hier keine Philosophie gegeben, sondern philosophiert wird und das bedeutet, daß ohne Leidenschaft Kierkegaard überhaupt nicht gelesen werden kann. Von allen Philosophen bedarf er am meisten des inneren Anteils; indem man liest, muß man aus der Anstrengung des Denkens schon beinah zu einer Anstrengung der Verwandlung gelangen. Es genügt nicht, daß man hier studiert, man muß sich verändern, jasagend oder abweisend, jedenfalls wäre ein Fluch mehr als eine literarische Interessiertheit. Denn Kierkegaard teilt mit Pascal, dem er in manchem Zug verwandt ist, das Schicksal, daß man zwar leicht geneigt ist, ihn zu bewundern, aber ebenso leicht auch an ihm vorübergeht. Ist man sich darüber klar geworden, daß hier der Philosoph mit einer gewissen inneren Notwendigkeit Schriftsteller ist und dieses Dasein als Schriftsteller nur Ausdruck der welthistorischen Notwendigkeit einerseits, aber auch der intellektuellen Einsamkeit andererseits bedeutet, dann fragt man schon um der Gründe dieses

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Philosophierens willen nach dem äußeren Gang dieses Lebens, das sich ohne Ehe, ohne Amt und ohne tiefere Freundschaft vollzog und dennoch ein Leben gesteigerter Allgemeinheit war. Das Denken erscheint als Stil eines unverständlich tiefen inneren Lebens, und Gedanke und Wort nähern sich im Werk wie Denken und Leben in seinem Dasein. Immer wieder wird man gewahr, wie das, was wie eine schöne Erinnerung anhebt, plötzlich Gesetz für eine Allgemeinheit wird und wie hinter einem kleinen persönlichen Verhängnis zuweilen das Schicksal des Abendlandes auf dem Spiele steht. Das Pathos einer Subjektivität bringt unmittelbar das Sein der Zeit zum Ausdruck. Denn kein Pathos entspringt allein in der Persönlichkeit, sondern in jenen ihrer Gründe, die auch die der Zeit sind. Sören Kierkegaard lebte von 1815 bis 1855. Beinah die ganze Zeit seines knapp bemessenen Lebens verbrachte er in Kopenhagen, das sich damals als ein kleines, wenn auch enges, nördliches Paris fühlte, wo man also leichtlebig war und intellektuell, wo man von geistigen Glücken träumte und doch in der Nähe allzu vieler Begriffe in seinen Gefühlen erfror, und wo das Erscheinen Napoleons, Goethes und Hegels etwas bedeutet hatte, und zwar bei manchen mehr als ein schöner Gedanke. Der Vater, ein düsterer Mann, Michael Pedersen Kierkegaard, hatte es, gefördert durch einen geschäftstüchtigen Onkel, bereits in jungen Jahren zu einer gewissen Wohlhabenheit gebracht, die ihm Achtung verschaffte, die aber keineswegs darüber hinwegtäuschen durfte, daß er seelisch ein schwer leidender Mann war. Denn Michael Pedersen Kierkegaard, dessen äußere Lebensumstände von einem Glück ohnegleichen begleitet schienen, konnte

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Zeit seines Lebens die Erinnerung nicht überwinden, daß er in seiner Jugend, als er noch auf den Heiden Jütlands die Schafe hütete, in einer seltsamen Anwandlung von Einsamkeit und Zorn Gott verflucht hatte. Wie ungeheuer tief, wie intensiv muß dieses Kind gelebt haben, um unter dem Himmel die ganze Angst um dieses Leben erfahren zu können und die metaphysische Nacktheit eines Daseins zu erkennen, dessen Schwere unüberwindlich bleibt selbst noch für den Mann. So hat Sören Kierkegaard mit Pascal und Schopenhauer gemein, daß der Vater das große Erlebnis seiner Jugend, seines Lebens wurde. Nicht umsonst nannte er ihn noch später den einzigen wahren Freund seines Lebens. Der Vater erzog ihn in der Strenge des Glaubens, der beinah schon Furcht war, und, ohne es freilich zu wollen, erregte er auf diese Weise die spätere tiefe Auseinandersetzung Kierkegaards mit dem Christentum, aber belud auch das junge Dasein mit einem Schicksal der Resignation, das schon das seine nicht hätte sein dürfen. Die Kinder — Sören hatte sieben Geschwister — wurden also groß in einer geradezu drückenden Atmosphäre, und da Sören, das letzte Kind der zweiten Frau Ane Lund, zwar das schwächlichste, aber doch auch weitaus begabteste war, wandte der Vater sich ihm in einem Maße zu, das nicht immer erträglich war und eher einer Beschattung seines Daseins glich, denn eines fördernden Lichts. Freilich ist damit keineswegs die Möglichkeit gegeben, Kierkegaards Persönlichkeit und Arbeit aus dem väterlichen Schicksal zu erklären, wie das eine allzu psychologische Betrachtung gerne unternimmt. Wenn auch feststeht, daß der Sohn tief in jener Daseinsform des unaufhörlichen Ernstes und der Verantwortung, die den Vater

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auszeichnete, bestand, so wird doch die psychologische Enge in dem Augenblick aufgehoben, wo die intellektuelle Umsetzung des Erfahrenen und Erlittenen beginnt, und entwächst die philosophische Aufgabe den Abgründen eines Charakters, der die Keime entstammen, wird geklärtes Bekenntnis und Auseinandersetzung, die sich an die Allgemeinheit wenden. Denn ist der Charakter auch das Feld des Ursprungs, so doch nicht das, was entspringt. Und es bestimmt ja gerade die schriftstellerische Gewalt und Leidenschaftlichkeit der Gedanken, daß Erkenntnis und Wahrheit zunächst Erkenntnis und Wahrheit für eine große Subjektivität waren, die die Kraft der Äußerung und also die Kraft der Verallgemeinerung besitzt. Im Jahre 1830 bestand Sören Kierkegaard das Abiturium und bezog die Universität zu Kopenhagen um dem Wunsche des Vaters entsprechend Theologie zu studieren. Das Studium war abschweifend und genießerisch, wie es einem solch ursprünglichen Geiste gemäß ist. Humanistische, philosophische und rein schöngeistige Studien lenkten stark von der theologischen Fakultät ab; indes verzeichnete Kierkegaard in seinem Tagebuch schon damals den Satz, daß Christentum und Philosophie nie zu vereinbaren seien. Ein Beweis, wie früh ein Thema seines Werks, es deutlich werden zu lassen, was Christentum sei, zu keimen begann. Im Alter von 28 Jahren, im 22. Semester seines Studiums, promovierte Kierkegaard mit einer Arbeit über den „Begriff der Ironie", darin sich zwar bereits die machtvolle Elastizität seines Geistes, um die er selbst wußte, und die Größe seines Ausdrucks offenbart, die aber doch auch zeigt, wie wenig dieses letzte religiöse Genie befähigt war, selbst in der

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Nähe Sokrates, Piatons und Alkibiades aus der Stimmung der Resignation herauszutreten. Vorausgegangen war nur eine kleine Streitschrift wider den Märchendichter Andersen, die einzige literarische Äußerung, die der greise Vater erlebt hatte und in der Kierkegaard seinen Gegner beschuldigt, einen Jammerlappen zu einem Genie gestempelt zu haben. Dies ist wohl die einzige Schrift des Dänen, die durchgängig einen optimistischen Schwung zeigt. Ihre Sphäre enthält nichts von Demut, eher einen jugendlichen Überschuß von literarischer Verwegenheit. Nietzsche könnte sie geschrieben haben. Hernach aber wird die Kraft des Ausdrucks zwar nicht der Klarheit und nicht der Leidenschaft, aber doch der Resignation nicht mehr über und immer liegt über dem Glanz der Sätze ein leichter Schimmer von Trauer, der ein wenig selbst die Ironie umspült. Denn inzwischen waren wieder einige äußere Ereignisse eingetreten, die zu einer neuen Revision des inneren Daseins zwangen und mit Schmerzlichkeit bemerken ließen, daß so da zu sein wie er, Sören Kierkegaard, nicht ganz ohne Tränen hinzunehmen war. Die Auseinandersetzungen zwangen zu einer neuen Betrachtung des eigenen und des väterlichen Lebens; sie wurden literarisch und philosophisch von Bedeutung, weil Kierkegaard mit ihnen auf das unheimliche Rätsel der metaphysischen Grundlage des Menschen stieß. Der Gehorsam, in dem er aufgewachsen war, erregte das Gegenteil, den Widerspruch. Hatte das Studium ein wenig der Sphäre des väterlichen Hauses entführt, so ließ die mehr und mehr sich durchsetzende geistige Selbständigkeit eine tiefe innere Auseinandersetzung mit dem väterlichen, kummervollen Glauben hervorbrechen,

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die das gesamte Christentum der Zeit nicht unkritisch zu betrachten lehrten. Obwohl sich diesen inneren Errungenschaften zufolge Kierkegaard eine Zeitlang um die äußeren Freuden des Daseins bemühte, Kaffee und Theater besuchte, spürte er doch schon dunkel, daß ihm irgendeine geistige Aufgabe gestellt sein müsse, mit deren Lösung sein Name geistig gerechtfertigt wäre. Das Dasein schien ihm irgendwie unvollendet, und insgeheim suchte er nach der Wahrheit, für die er sterben könne, wie er sich einmal selbst ausgedrückt hatte. Dazu kam, daß sich das väterliche Schicksal, die väterliche Seele in ihrer Hoffnungslosigkeit, durch äußere Umstände und Entdeckungen bedingt, plötzlich deutlicher wie je zuvor enthüllte. Er entdeckte, woran der Vater selbst seit Jahren litt, die beiden „Sündenfalle" seines Lebens (so hatte der Vater diese seine innersten Ereignisse bezeichnet), den Fluch in seiner Jugend und die Verführung der Haushälterin Ane Lund, die später die zweite Frau wurde. Schließlich waren damals nur noch zwei Kinder der Familie am Leben: Sören und sein Bruder Peder Christian, der, wieder eine kleine Ironie in Sören Kierkegaards Leben, später Bischof von Aaborg wurde. Aus all diesen Geschehnissen glaubte der junge, überaus empfindsame Mensch entnehmen zu müssen, daß über dem väterlichen Haus tatsächlich nicht das Glück, sondern der Fluch stand. Hatte er bis dahin zu seinem Vater wie zu einem Auserwählten vor Gott aufgeschaut, so erschien dieser ihm jetzt als ein Gestrauchelter und Verfluchter. Die Folge war eine regelrechte Flucht vor dem Vater. Er mied das Haus. Er zog um. Er unternahm die einzigen größeren Reisen seines Lebens nach Berlin, wo er die Stätte seines Leidens zu vergessen gedachte

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und gleich2eitig seine Studien vollenden wollte. Und wenn es ihm hier auch schwer fiel, wie Bröchner in seinen Erinnerungen an Sören Kierkegaard erzählt, sich bezüglich der kleinen Dinge des Lebens in Deutsch verständlich zu machen, so fühlte er sich doch tief gebannt durch die Sphäre des deutschen Geistes und nie wieder konnte die Bewunderung unseres Philosophen für diese intellektuellen Erfahrungen versiegen. Gleichzeitig versuchte Sören Kierkegaard einen neuen Angriff auf die sinnlich-vitale Sphäre der städtischen Welt. Aber auch dieses Mal gelang ihm kein Untertauchen. Die Möglichkeit solcher Einkehr war ihm tief verwehrt. Der Geist des Ernstes und der Verantwortung, der ihn, das fühlte er wohl, zu Aufgaben abendländischen Ausmaßes bestimmt hatte, konnte hier nicht vergessen. So floh er auch den Rausch, und nur die Stille des Denkens, die Übung in der Reflexion, die er so sehr liebte — nicht umsonst stößt man bei Kierkegaard immer wieder auf diesen Begriff — besänftigten die Unruhen des „Erdbebens", das er, wie ein Pascal seine Bekehrung, erlebt hatte. Der religiöse Zweifel endete in einer neuen religiösen Einkehr, die stark genug war, sich vom Dogma der äußeren Kirche zu befreien und die Kritik selbst als eine Äußerung des Glaubens einzusetzen. Um 1836 ist diese erste große Krisis seiner Seele und seines Geistes vorüber. Ja, Michael Pedersen konnte vor seinem Tode (1838) scheinbar die volle Rückkehr seines Sohnes zum alten väterlichen Glauben vermerken. Auch äußerlich kam es wieder zur Annäherung mit dem Vater. Und die Fahrt Sörens nach Jütland zum Schauplatz des väterlichen Fluches ist wie das Symbol der inneren Aussöhnung.

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Aber es war nicht das Schicksal Kierkegaards aus der Ruhe zu schaffen. Schöpfungsnähe bedeutete für ihn Unruhe, und es ist ja überhaupt ein Zeichen des unternehmenden Geistes, der der Aufgaben voll ist, von Zeit zu Zeit im unberechenbaren Atem der Unruhe zu verweilen. So bedurfte Kierkegaard der Schreckenszeiten der Seele und des Geistes, um die wahren Gegner für seine Polemik zu finden. Eben war dieses innere „Erdbeben" vorüber und die wundervolle religiöse Einkehr vollzogen, da trat Regine Olsen, ein Mädchen von 15 Jahren, in sein Leben und trieb nach einer kurzen Zeit der echten Liebe zu einer neuen Abwendung von der äußeren Welt in die Einsamkeit seines nur ihm möglichen Daseins, Fremdling in seiner Zeit und ihres Bürgertums zu sein. Kierkegaard brachte es nicht fertig, sein Leben der Resignation und Reflexion, der Verantwortung und der Schwermut eingespannt in ein bürgerliches Schicksal sich vorzustellen. Dazu kam, daß seine gebrochene Vitalität für die sinnlich-vitale Vollendung der Liebe ihm im Wege stand. Er hielt sich nach einer kurzen Zeit der Verlobung nicht mehr dafür bestimmt, ein Mädchen glücklich zu machen, und die Schatten des Bewußtseins, daß er schicksalhaft zu einer „extraordinären Aufgabe" der Buße für die väterlichen „Sündenfälle" bestimmt sei, schienen die Möglichkeit vollends zu nichte zu machen. Aber ein Experimentieren ließ sein ungeheuerer Ernst nicht zu. So löste er die Verlobung auf und schickte der untröstlichen Braut am 11. August 1841 den Ring zurück mit jenen feinen Worten der Bitte um Verständnis, die auch im Werk ihren Platz gefunden haben: „Verzeih vor allem dem, der dies schreibt; verzeih einem Menschen, der, ob er auch etwas vermag, doch nicht vermöchte,

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ein Mädchen glücklich zu machen. Eine seidene Schnur zu schicken bedeutet im Osten Todesstrafe für den Empfänger; einen Ring zu schicken wird wohl hier Todesstrafe für den Absender werden." Diese Worte stehen in „Stadien auf dem Wege des Lebens", aber wenn man einen Begriff von dem Ernst haben will, mit dem Kierkegaard an die Ehe als Aufgabe herantrat, dann schlage man in „Entweder — Oder" nach, wo in beiden Teilen (Stadien des Unmittelbar-Erotischen und Tagebuch des Verführers) von diesen unwägbaren inneren Erfahrungen die Rede ist. Erst später, als die Braut sich in das Unabänderliche schickte und die Frau eines anderen wurde, fühlte sich Kierkegaard wirklich „frei" für seine „extraordinäre Aufgabe" und ein Leben, das das eines „Pönitierenden", eines „Büßenden" war, wie er es selbst bestimmt hatte. Bald danach hatte ihn jedoch ein neues Ereignis auf den polemischen Plan gerufen. In dem literarisch überall nippenden Kopenhagen gab es ein berüchtigtes Witzblatt, der „Korsar", darin allzu häufig auch bedeutende zeitgenössische Gestalten angegriffen wurden. Offensichtlich ließ dieses Blatt dem eben bekannt gewordenen und schon bewunderten Geist — die Hauptwerke „Entweder — Oder", „Die Wiederholung", „Furcht und Zittern" und „Der Begriff der Angst" waren bereits erschienen — wohl wegen seiner scharfen und launigen Feder, darin man wahrscheinlich eine Art Verwandtschaft zu entdecken glaubte, Schonung angedeihen. Kierkegaard jedoch empfand dies gerade als eine Schmähung seiner Arbeit und seiner Würde. Es kam ihm ja über alle Maßen darauf an, um keinen Preis verwechselt zu werden. Tag und Nacht saß er an seinem Tisch und

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schuf die Grundlagen einer neuen anthropologischen Situation, empfing kaum Besuch, ging wenig ins Theater und nur dann und wann sah ihn das Kopenhagener Publikum halb wütend und halb vornehm in einer Kutsche in die Wälder des Kattegat fahren und erfreute sich an seiner spitzen Nase, seinem Regenschirm, seinem roten Haar oder seinem großen Hut. Und nun sah sich dieser Mann geschont, geachtet womöglich von einem Stand, den er verabscheute. So forderte er also in einem anderen Blatt der Stadt den „Korsar" heraus mit den Worten, „es sei immerhin für einen armen Schriftsteller hart, in der dänischen Literatur so gebrandmarkt dazustehen, daß er der einzige sei, der dort nicht gescholten würde". Auf eine solche Ablehnung konnte die Antwort des „Korsaren" nicht ausbleiben. Und diese Antwort war nichts Geringeres als eine völlige Lächerlichmachung seiner Person und seines Geistes. Überall wo er nun erschien, wurde gelacht und geflüstert, ja mit dem Finger auf einen Mann gezeigt, der sich als erster Geist seiner Zeit fühlte und um eine neue Wahrhaftigkeit rang. Jenes schmerzliche Wort, daß selbst über dem Feuer zu braten nichts gegen die Grausamkeit sei, zu Tode gegrinst zu werden, verdankt diesem Erlebnis, das alle Kräfte seines inneren Widerstandes herausfordert, den Ursprung. Vielleicht darf man gerade in dieser für eine Leserschaft, die keine war, nur eine mimte, wie so häufig, peinlich unrühmlichen Episode die Anregung zu einer neuen Durchdenkung des Begriffs des „Martyriums" sehen, wie sie so häufig in den letzten Werken „Erbauliche Reden", „Die Krankheit zum Tode" oder auch „Einübung im Christentum" (1847—jo) sich bemerkbar macht. Sie legte auch die Fundamente für den theologischen Kampf

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mit Bischof Mynster und seinem Lobredner, den Theologieprofessor Martensen. Dieser Schönredner hatte nämlich in seiner Predigt für den verstorbenen Bischof diesen als einen „echten Wahrheitszeugen" gefeiert. Kierkegaard, dem der Begriff der Wahrheit und das Sein in der Wahrheit zu den höchsten Dingen und vor allem auch zu den wesentlichsten Problemen seiner Zeit gehörten, sah hier etwas rhetorisch gelöst, worüber er Jahrzehnte nachgedacht hatte und mußte wieder einmal empfinden, wie sehr doch die Welt „in der Unwahrheit" bestehe. Schwätze und du wirst Erfolg haben — wieder einmal fand er dieses seiner Worte bestätigt, fand er das Schwätzen erfolgreich angewendet und so konnte es nicht ausbleiben, daß ein Zorn lutherischer Ausmaße aufs neue die literarische Polemik erweckte. Die flammenden Erwiderungen auf Martensens „Geschwätz" erschienen als Flugschriften unter dem Titel „Der Augenblick" und sind als einer der letzten persönlich geführten Geisteskämpfe des Abendlandes anzusprechen, in denen es sich um die metaphysische Grundhaltung der Einzelnen dreht. Damit aber war Kierkegaards Lebenskraft aufgezehrt. Gleich Nietzsche brach er — an einem Septembertage — auf der Straße zusammen. Am 1 1 . November 1855 verstarb er in einem Kopenhagener Krankenhaus. Das kleine Vermögen, das ihm der Vater hinterlassen hatte, war bis auf wenige Taler verbraucht. Kierkegaard hat es abgelehnt, von einem Geistlichen das Abendmahl zu empfangen. Aber er bat seinen Freund Boesen, alle Menschen zu grüßen, die er sehr geliebt habe und die sein Leben und Leiden nie hätten begreifen können. So hat ihn seine „extraordinäre Aufgabe", seine Schwermut, die Bense, Wmn

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ihm wie der „Pfahl im Fleisch" erschien, doch nicht verbittern können und der erlebte fragwürdige Ruhm bei einem fragwürdigen Publikum, das er verächtlich nur immer die „Menge" nannte und in seiner Schrift wider die Nivellierung vortrefflich analysiert hat, konnten den humanen Geist nicht töten. Groß war die Resignation aus der alles kam, aber größer war die Wahrhaftigkeit, mit der es vertreten wurde und die Schwermut konnte am Ende doch nicht den Glanz der Sprache, die Reinheit des Denkens und die Leidenschaft für das Geistige, die eigentliche Heiterkeit seines Lebens, überschatten. Nicht ganz trat der Einsame für die nächsten Jahre in die Vergessenheit. Brandes und Jacobsen nannten nie ohne Bewunderung seinen Namen. Brandes wies sogar Nietzsche auf Kierkegaard hin, aber dieser ist nicht mehr zu einer Auseinandersetzung mit dem Dänen, seinem einzigen wirklichen Zeitgenossen, gekommen. Ibsen war erfüllt von ihm, und Björnsen verweilte lange in seinen geistigen Bezirken. Auch Strindberg kam nie ganz los von dieser eigenartig erweckenden Wildnis des Geistes, an der man entweder vorübergehen oder die man aufsuchen muß. Im autobiographischen Werk „Sohn einer Magd" hat er viel Tiefes, wenn auch Strindbergisches über ihn gesagt. Aber wie er keinen Schüler besaß, nur Gegner und Personen seiner Betrachtung, so konnte Kierkegaard auch nur ganz langsam seine wirklichen Partner im europäischen Konzert des Geistes finden. Dazu bedurfte es aber eines neuen Jahrhunderts und jenes Volk, dem er vieles seiner Bildung verdankte, das deutsche mußte erst für ihn gewonnen werden. Aber gerade die Deutschen waren beimJErscheinen Kierkegaards so sehr durch Systeme verwöhnt, daß es

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ihnen schwer fiel, den Widersacher aller Systeme zu lesen; gerade sie waren durch das „reine Denken", in dem das Philosophieren der Kant, Hegel und Schelling, ja selbst das berühmte „Handeln" Fichtes sich vollzog, beinah außerstande, einen Denker zu studieren, der das konkrete Denken in einem Denker, der das Existieren, das Dasein des Denkers, nicht den Gedanken zum Gegenstand seiner Predigten und Schriften gemacht hatte; gerade sie waren in festes Gefüge, feste Normen und Grundsätze verliebt, die ihnen Kierkegaard nicht gab. Denn Kierkegaard war in seinem Denken kein Baumeister wie Leibniz oder Kant oder Hegel, er schenkte dem Leser keinen Gedankenbau, in den er eintreten konnte, in dem seine Richtlinien für alle Zukunft bereit lagen. Nein, Kierkegaard baut nicht, er fordert auf, zu bauen. Er ist durch und durch eine sokratische Natur, ein Geist, der es liebt, vor die Wahl, vor die Entscheidung zu stellen, dieses oder jenes zu tun, und er wird wundervoll verführerisch dieses oder jenes, das Schöne oder das Wahre etwa beschreiben und den Leser dann in eine Entscheidung zwingen. Aber mehr nicht, denn Kierkegaard entschlüpft, wenn man ihn genauer nach der • Entscheidung fragt. E r g i b t das, w o v o r man sich e n t s c h e i d e n m u ß , er g i b t n i c h t die E n t s c h e i d u n g . Hier schon kann man einfügen, daß Kierkegaard für den deutschen Geist und darüber hinaus für das Verständnis der abendländischen Probleme und Forderungen überhaupt eine Epoche der geistigen Ruhe, Ordnung und Sicherheit abschließt, ja geradezu aufhebt, indem er unausgesetzt seinen Leser vor diese oder jene Entscheidung stellt, er wird zu einem unmittelbaren Vorgänger Nietzsches, der Kierkegaard antwortet, indem er 8»

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durch und durch ein entschiedener Geist ist und beladen mit neuen, zukunftsreichen Maßstäben und Forderungen ein neues Jahrhundert einleitet. Kierkegaard stellt also den wirklichen Geist der Unruhe dar, während Nietzsche zwar ganz und gar aus einem unruhvollen Zeitgeist steigt, aber doch Gesetze, Formen, also Ruhe, wenn auch eine gefährliche Ruhe gibt. Liest man Kant, dann tritt man in eine klare, beinah winterliche Ebene des Geistes. Liest man Kierkegaard, dann tritt man in eine geistige Landschaft, in der es sanfte Gehänge und steile Grate gibt, in der es wuchert und wogt von Meeren und Bächen, Höhen und Tiefen. Denn Kant ist linear, aber Kierkegaard ist malerisch in seinem Philosophieren und Kant hat ein klassisches Verhältnis zu den Begriffen und Schlüssen, aber Kierkegaard ist in seiner Logik durch und durch Romantiker der Begriffe und Gedanken. Bei Kant wird also die reine Vernunft auf das äußerste angestrengt, und Gefühle, Stimmungen, Bekenntnisse haben hier keinen Platz mehr; aber bei Kierkegaard bricht immerfort, manchmal zaghaft, manchmal aufbrausend, die intime Erfahrung, die Logik des Herzens, von der Pascal so schön gesprochen hat, in die Wildnis der Deduktionen und wird eins mit der Klarheit des logischen Ganges. Es gibt Stellen bei Kierkegaard, wo die Zartheit eines Liebenden heiter und einfach die Sätze bestimmt: „Die Sonne scheint so schön und hell zu mir herein; im Nebenzimmer steht das Fenster offen; auf der Straße ist es stille, es ist Sonntag nachmittag; ich höre deutlich eine Lerche, die draußen vor dem Fenster in einem der Nachbargärten ihre Triller schmettert, draußen vor dem Fenster, wo das hübsche

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Mädchen wohnt; in weitet Ferne höre ich einen Mann auf der Straße frische Krabben ausrufen. Die Luft ist so warm, und doch ist die ganze Stadt wie ausgestorben..." Und es gibt andere in dem Reichtum dieses Werks, wo die Sätze des Leidens still und unvermerkt aus der Tiefe brechen wie manchmal die Gesichter Rembrandts aus seinem Braun: „Ich habe nur einen Freund: das Echo; und warum ist es mein Freund ? Weil ich meinen Kummer liebe, und weil es ihn mir wiedergibt. Ich habe nur eine Vertraute: die Stille der Nacht; und warum ist sie meine Vertraute ? Weil sie schweigt." Aber das Pathos beginnt, wo die Bitterkeit des Wahren von der Schönheit der Worte nicht mehr zu unterscheiden ist, dann erhebt sich jene begriffliche Ekstase, die Sätze findet wie diese: „Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder heiratest du oder du heiratest nicht, bereuen wirst du beides. Lache über die Torheit der Welt, du wirst es bereuen, weine darüber, du wirst es auch bereuen; lache oder weine über die Torheit der Welt, du wirst beides bereuen..." So bedeutet als philosophischer Schriftsteller Kierkegaard den äußersten Gegensatz zu Kant. Bei Kierkegaard wird der Leser Anteil haben müssen an der unmittelbaren Existenz des Philosophen, er wird ihn, den Mann, bewundern oder verabscheuen; er wird nicht nur gefesselt von den wunderlichen Fährten dieser Logik, er wird auch gezwungen in ein existentielles Verhältnis zu treten zu dem, der hier philosophiert, ja er wird unmittelbar hineingebracht in dieses Philosophieren oder aber ihm entschlüpfen. Zu Kierkegaard gehört also ein existentielles L e s e n , bei dem man im höchsten Grade Anteil

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haben muß an der Existenz des Schriftstellers, bei dem man sich entscheiden muß, ob man bewundern oder entfliehen will. Aber zu Kant gehört ein rein i n t e l l e k t u e l l e s Lesen, ein Studieren des Textes, bei dem man die Sätze mit dem Blick des Jägers verfolgen muß und sich ihrer von Satz zu Satz unaufhörlich zu versichern hat. Kierkegaard selbst hat einen Unterschied im Denken geschaffen, der für den Leser hochwichtig ist. Er trennt den „abstrakten Denker", bei dem es im Gang der Begriffe keinen Denkenden gibt, vom „konkreten Denker", der seine Gedanken immer mit sich selbst setzt, mit seinen Leiden und seinen Freunden füllt. In diesem Sinne gehört zu Kant der intellektuelle, abstrakte Leser, zu Kierkegaard jedoch der konkrete Leser. Damit aber haben wir schon jenes eigentümliche und einfache Thema gewonnen, das Kierkegaards Philosophieren unablässig bestimmt: die Unvernichtbarkeit des Menschen angesichts der Dinge der Welt. Aber ist das nicht Kant? — Bestimmt Kant nicht das, was wir so schön „Natur" nennen aus einem Zwiespiel zwischen dem Chaos der sinnlich empfangenen Empfindungen und den gesetzgeberischen Formen und Kategorien unseres Verstandes? — Lag es nicht im Zuge des gesamten Idealismus von Kant über Fichte, Schelling bis Hegel und Schopenhauer, die Welt in ein Faktum unseres Bewußtseins zu verwandeln und so im Menschen beginnen zu lassen ? — Ja, auch Kant hatte den Menschen wiedergewonnen, aber ihn dabei unvermutet zu einem abstrakten, theoretischen Wesen gemacht. Er zeigte ja nur, wie die Gegenstände der Natur, wie die so wundervoll ausdeutbare Welt, nur deshalb so geordnet und übersehbar war, weil es den Verstand in uns gäbe, der

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das sinnliche Chaos durch Kategorien und Begriffe meisterte und erst erzeugte, was wir erkennen. Aber wie der Mensch als Mensch, als Dasein in der Welt selbst möglich sei, darüber hat er nichts gesagt. Kant erwies also zwar die theoretische Notwendigkeit des Verstandes und damit des Denkens für das Sein der Natur wie sie von uns erkannt würde, aber er erwies nicht die Fundamente, daraus dem Menschen praktisch, konkret sein Dasein gelänge. Mag also Kant den abstrakten Menschen theoretisch gewonnen haben, so blieb es doch noch zu tun übrig, den konkreten Menschen, das Wesen, das leiden und lachen, lieben und fluchen, bewundern und hassen konnte, praktisch zu gewinnen. Darin unterscheidet sich der Idealismus Sören Kierkegaards, der ein konkreter, praktischer ist von jenem Kants, der ein abstrakter, theoretischer ist, und darin unterscheidet sich auch Kierkegaards Kritik des menschlichen Daseins, die wiederum eine durchaus konkrete und praktische ist, von Kants Kritik der Vernunft, die entsprechend eine abstrakte und theoretische ist. Denn das Thema Kants ist immer das Erkennen und die Möglichkeit ihrer Gegenstände, aber das Thema Kierkegaards ist immer das Existieren und die Möglichkeit seiner Wahrhaftigkeit. Daher spricht Kant immer nur vom Denken, von der Ästhetik, von der Ethik und der Religon, aber Kierkegaard immer nur vom denkenden Menschen, vom Ästhetiker, vom Ethiker, von Abraham, welcher glaubte. Die Kritik des Erkennens wird abgelöst von einer Kritik des Existierens. Deutlich sichtbar wird Kierkegaards Zurückgewinnung des konkreten Menschen als philosophisches Thema in seiner Auseinandersetzung mit Hegel. Denn^der Däne spielt das unmittelbare „Dasein" gegen die Idee des

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„Systems" aus, wie sie der Deutsche vertritt. Und so stehen sich schließlich der „konkrete Denker", den Kierkegaard einsetzt und der „abstrakte Weltgeist" Hegels feindlich gegenüber und jene Subjektivität, von der Kierkegaard sagte, daß sie allein der Maßstab für das Wahre, die Wahrheit selbst sei, kämpft kraftvoll und siegend, wenn auch nicht immer gerecht, gegen jene Objektivität, von der Hegel sagte, daß sie der Weltgeist sei. Es gibt Stellen in der „Nachschrift" (1846), wo die Leidenschaft für das konkrete Dasein aus dem Denkerischen heraustritt und der jähen, dichterischen oder polemischen Worte bedarf, um sich auszudrücken und Hegels „System" geradezu einem dämonischen Gespött anheimfällt. „Das Dasein muß im Ewigen aufgehoben sein, ehe das System sich abschließt, ein existierender Rest darf nicht zurückbleiben, nicht einmal so eine wirkliche Baga teile wie der existierende Herr Professor, der das System schreibt." Vielleicht darf man diesen Gegensatz zwischen Dasein und System, Konkretheit und Abstraktion im Philosophieren durch folgendes Zwielicht erhellen: Kierkegaards Geist wird von Humor und Ironie so tief durchsetzt, daß man sie als Elemente seines Denkens, nicht etwa nur seiner Polemik auffassen muß, aber Hegel hat zwar über Humor und Ironie geschrieben, war ihrer aber, wie seine Freunde oft versicherten, nicht im geringsten befähigt. Hegel, der Typus des abstrakten Denkers, der über ein System philosophiert, blieb also während seines ganzen Philosophierens er selbst, ja, er selbst als konkrete Persönlichkeit mit Amt und Würden spielte in bezug auf das System keine Rolle, und so wurde die Person selbst zum Begriff, zum großen Namen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Aber Kierkegaard philoso-

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phierte ja nicht über das System, sondern über das Dasein, das in der Zeit war, nie fertig, immer werdend und so wurde er selbst im Gange des Philosophierens von Werk zu Werk eigentlich der andere. Und so bedurfte er der vielen Namen, der Pseudonyme, darin er sich nicht versteckte, sondern darin er tatsächlich aus einer anderen Epoche des Daseins sprach. Als Glaubender schreibt er „Furcht und Zittern", und es ist eigentlich nicht mehr der Kierkegaard der Dissertation (die unter dem rechtmäßigen Namen erschien), sondern Johannes de silentio, der hier philosophiert. Diese Pseudonymik ist eines seiner wesentlichsten schriftstellerischen Mittel und offenbart wieder wie durchaus nahe sich hier Existierender und Philosophierender waren. Das bekannteste Werk Kierkegaards „Entweder — Oder" erschien bereits 1843. Die hier aufklingende Kritik des Daseins ist eigentlich eine indirekte. Der Leser bekommt die verschiedensten Möglichkeiten, zu leben, vorgetragen, ja wird geradezu überredet, diese oder jene zu wählen und mit der Wahl wird er schon kritisiert; denn die Aufforderung zur Wahl ist die indirekte Kritik. Zunächst wird an der Idee des Don Juan und an der Mozartschen Musik dargestellt, was das Sinnlich-Ästhetische sei. Der Ästhetiker ist der unbedingte Individualist, der sich dem Weltgenuß ergeben hat. Alsdann erfolgt die Darstellung der Weltanschauung des Ethikers, der nicht mehr aus dem Individuellen zu begreifen ist und auch nicht mehr bloß individuell bestimmt ist, sondern ein Verhältnis zum Allgemeinen ¡besitzt. So wird er z. B. gerechtfertigt durch eine hervorragende ethische Auseinandersetzung dessen, was eine Ehe zu bedeuten habe. Aber weder das ästhetische noch das ethische Stadium

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ist für Kierkegaard das Wesentliche. Denn trotz der scheinbaren Glückseligkeit lebt der Ästhetiker aus einer tiefen Verzweiflung heraus und gewinnt der Ethiker, der seine Pflicht darin sieht, das Allgemein-Menschliche zu verwirklichen, noch nicht das Höchste. Denn dies vermag nur der religiöse Mensch, der also mehr ist als der Ästhetiker und der Ethiker. „Der ästhetische Mensch hat den Augenblick, der ethische siegt in der Geschichte, der religiöse aber hat die Ewigkeit." „Während" jedoch „ästhetische Existenz wesentlich in Genuß, ethische Existenz wesentlich in Kampf und Sieg besteht, bedeutet religiöse Existenz Leiden und nicht als Durchgangsmoment, sondern als beständige Begleitung." Mit der Bestimmung des religiösen, des glaubenden Menschen, wie ihn (in „Furcht und Zittern") Abraham darstellt, der als Glaubender sogar gegen das Ethos lebt, indem er einen Mord durchführen will, mit dieser tiefen und entschiedenen Bestimmung des Religiösen oder des Christlichen gewinnt Kierkegaard schon in „Entweder — Oder" sein gesamtes späteres Motiv. Er hat selbst oft geschwankt, entweder ästhetisch oder ethisch zu leben und stellt nun den Leser Jvor diese Wahl. Aber schon wenn dieser gewählt hat, beginnt er mit der Rechtfertigung des letzten, höchsten und tiefsten [Stadiums des menschlichen Lebens, des religiösen und nun gewinnt ein neues, sein religiöses Entweder — Oder abendländische Ausmaße. Denn nicht mehr der konkrete Leser, sondern das zeitgenössische Abendland erfährt den welthistorischen Augenblick zwischen Christ und Antichrist. Dieser Ruf Kierkegaards, Christ zu sein oder Antichrist, aber nichts dazwischen, ist ein Ruf in das Abendland, das er kritisch und gesetzgeberisch betrachtet. „Man

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muß es (das Christentum) entweder resolut leugnen, bekämpfen und verfolgen oder man muß es wirklich leben. Was dazwischen liegt, ist Geniekult und Schwindel." K i e r k e g a a r d stellt also letztlich das Abendland vor das r e l i g i ö s e Entweder — Oder, Christ zu sein oder A n t i c h r i s t , und dieses Entweder — Oder ist nur dann stellbar, wenn er genau b e s t i m m t , was es heißt, Christ zu sein, so genau und k a t e g o r i a l bestimmt, wie K a n t zeigte, was es heißt, G e g e n s t a n d der E r k e n n t n i s zu sein. Wie also die Bestimmung des „Gegenstandes der Natur" Endziel der kantischen Kritik der Erkenntnis war, so zeigt sich die B e s t i m m u n g „ C h r i s t " bei K i e r k e g a a r d als das E r g e b n i s seiner K r i t i k des Existierens. Die Aufhellung dessen, was das Religiöse sei, gipfelt in der Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Die Art und Weise wie Kierkegaard dieses Verhältnis sieht, ist lange vorbereitet und rückt ihn in die Nachbarschaft Luthers. Denn bereits Luther bestimmt den Glaubenden als den Ohnmächtigen vor Gott. Die Hoffnungslosigkeit, die Angst um den Menschen, die bereits in der Renaissance literarisch gelegentlich erwähnt wird und die dann bei Luther theologisches Thema wird, verwandelt sich schließlich bei Kierkegaard in das Paradox des Glaubens, daß zwischen Gott und Mensch ein unendlich gähnender, qualitativer Abgrund bestehe und Glauben nichts anderes denn Leiden, ja „Menschenhaß" sei. Der Mensch vermag nichts. Die lutherische Frage, was ein Mensch vermag, wird durch eine ungeheuere Negation beantwortet: nichts vermag er, und die Tiefe seiner Seele sei die Angst und die Angst sei „der Schwindel der Freiheit". Es ist eine Stimmung des

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menschlichen Daseins, die Rembrandt gemalt hat. Der Einzelne hängt im Nichts wie ein bleiches Gesicht, eine Hand, ein Helm bei Rembrandt über dem braunen Dunkel. Indem er zeigt, was für ein Mensch der Christ in seiner „Innerlichkeit" sei, welche Trostlosigkeit, welche Nacktheit sein Leben bestimme, macht er es schwer, unendlich schwer, ein Christ zu sein. Wer vor das Entweder — Oder stellt, Christ zu sein oder Antichrist und gleichsam eine welthistorische Wahl vor Augen stellt, der muß die ganze Schwierigkeit seiner Alternative vor Augen führen, denn sonst ist das Entweder — Oder kein erbarmungslos klares, sondern ein weichliches, und die Wahl und der zukünftige Mensch verlieren den Charakter. D a s t i e f e w e l t h i s t o r i s c h e E n t w e d e r — O d e r , das schließlich m i t der F r a g e e n d e t , C h r i s t zu sein o d e r A n t i c h r i s t , s c h e i n t uns die e i g e n t l i c h e a b e n d l ä n d i s c h e A u f g a b e des D ä n e n g e w e s e n zu sein — eine F r a g e , auf die N i e t z s c h e die A n t w o r t zu g e b e n h a t t e . Damit vermittelt also der Geist, der in existentieller Analogie zu Kant, wie wir sahen, begann, zu Nietzsche, der sein Entweder — Oder auflöste. Denn die Thesen „Jenseits von Gut und Böse" oder „Der Antichrist" haben nicht das Leiden und die Angst des Christen erwählt, sondern das Lachen und die Macht eines antichristlichen Menschen. In solcher Nachbarschaft, daß Nietzsche der Antwortgeist zu Kierkegaard ist, werden sie beide zu den geistigen Vätern unseres Jahrhunderts, und es wird sich noch endgültig herauszustellen haben, wem das Abendland folgt, dem Christen oder dem Antichristen, dem Demütigen oder dem Mächtigen und was

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bisher in der Philosophie unseres Jahrhunderts wirksam wurde, folgt entweder dem einen oder dem anderen oder ist Zwischengeist und für das zukünftige Abendland ohne entscheidende Bedeutung. Die lebensphilosophischen Halbgeister, zumeist in der Gefolgschaft Klages, haben zwar den Primat des Lebens hergestellt, stehen aber doch ratlos vor dem „Willen zur Macht" weil der Wille nicht ihrer Idee vom Leben, und die Macht nicht ihrer Idee von der Seele entspricht. Katholische Philosophen, z. B. Theodor Haecker, die ihr Denken an Kierkegaards religiöser Innerlichkeit auszurichten vermeinen, haben das Entweder — Oder abgeschwächt, indem sie im Grunde noch an eine Vereinbarkeit von Philosophie und Christentum glauben und zuletzt in dem leben, was der Däne verächtlich „Christenheit" nennt, aber das echte, wahrhaftige Christentum, das er meint, längst aus „der Welt herausspekuliert" haben. Protestantische Theologen wie Barth, Thurneysen, Gogarten und Brunner haben, theologisch wenigstens, Kierkegaards Bestimmung des Religiösen erwählt. Sie erkennen den ungeheueren, qualitativen Abgrund zwischen Mensch und Gott, setzen mit Barth den Offenbarungscharakter des Wunders wieder ein, wo man noch kaum ein Jahrzehnt vorher mit Harnack zu einer naturalistischen Lösung des religiösen Problems vorgedrungen war und Kierkegaards Entweder — Oder einfach überhört hatte. Die Kritik der Existenz konnte mit Kierkegaard noch nicht beendet sein. Im Gegenteil, hier hatte sie nur begonnen, und bestimmt worden war ja zuletzt nur der religiöse Mensch, denn dies war dunkel, als die dring-

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lichste Aufgabe empfunden worden. Daß „vor allem Seinsverständnis ein Selbstverständnis" gegeben werden müsse, diese bei Kierkegaard nur einmal leicht hingestreute Forderung, die aber den Ursprung seines eigentlichen philosophischen Unternehmens deutlich offenbart, wird nicht beantwortet, nur angeregt. Aber sie ist das Thema jener philosophischen Strömung geworden, die man gern als Existenzphilosophie bezeichnet und die in Heidegger ihren klarsten und bedeutendsten Vertreter gefunden hat. Gleich zu Beginn von Heideggers bisher wichtigstem Werk „Sein und Zeit" (1927) stehen jene Sätze, die unmittelbar mit der Forderung Kierkegaards in Zusammenhang stehen: „Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir ja selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines..Nicht in den Einzelheiten seiner systematischen Interpretation des menschlichen Daseins wie in den Analysen der Sorge, der Angst, des Gewissens usw. kommt Heidegger von Kierkegaard her, sondern eben im Gesamtsinn seines Unternehmens. Daß vor allem Sein das Dasein steht, wiederholt Kierkegaards Ausspielen der Subjektivität gegen die Objektivität, und daß die menschliche Seinsweise sich im Horizont der Zeit vollzieht, hat Kierkegaards Thema festgehalten, daß das konkrete Dasein deshalb kein System sei, weil es nie fertig sein könne und in der Zeit dahingehe. So kann Heidegger als ein ungeheuerer Sammelgeist, ein geistiger Brennspiegel verstanden werden, in dem sich die geistigen Elemente, Kritik und Imperative sammeln, die dem philosophischen Dreiklang Kant, Kierkegaard und Nietzsche entspringen. Darin, daß sein Mensch zuletzt ein Abstraktum ist und daß er mit äußerster Sorgsamkeit, aber ohne Leidenschaft, in der Kühle des Denkens hin- und

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hergewendet, ¡zerlegt wird, ist Heidegger objektiv wie Kant objektiv war; aber darin, daß er überhaupt ausschließlich den Menschen, seine Kategorien, seine Zustände der Angst und der Sorge, des Gewissens und des Todes festhält, ist er subjektiv wie Kierkegaard subjektiv war, aber darin, daß er radikal ist in dieser Besinnung auf den Menschen, daß er überhaupt radikal ist in seinem Philosophieren und daß er den Menschen grundsätzlich nur für sich, nicht vor Gott, höchstens vor das Nichts stellt, ist er in die Nachbarschaft eines Antichristentums, ja Atheistentums gerückt, das bei Nietzsche wie ein Aufruhr aufklang. Damit ist aber offenbar geworden, daß Kierkegaard wie kaum ein anderer nordischer Denker in die Auseinandersetzungen gesprungen ist, die den deutschen Geist so tief bewegt und seit Goethe und Kant wie das eigentliche Feuer in dieser abendländischen Leidenschaft des Denkens anmutet. Kierkegaard verwandelt die kantische Frage nach dem Denken, in welchen Grenzen es seine Möglichkeit habe, in die andere nach dem Denkenden; er bestimmt nicht die Ästhetik, sondern den Ästheten, er bestimmt nicht das Ethos, sondern den Ethiker. Er antwortet Kant, wenn er die Religion in die Grenzen des Vernünftigen, in die bloße Moral, also in das Irdische hinabziehen will mit Pathos und verkündigt den außermenschlichen, den unweltlichen, den „ganz anderen Gott", und er antwortet Hegel, wenn dieser den konkreten Denker aufhebt und das Dasein dieses konkreten Denkers in ein Abstraktum, in ein System, in ein pures Schemen verwandelt. Denn Kierkegaard will zuletzt vor allem eins, das Leibhaftige, das Konkrete, nicht das, was in einem System, in einem literarischen Werk existiert.

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Und eben aus diesem Willen zu einer konkreten, nicht abstrakten Leibhaftigkeit heraus, stellt er denn auch das ganze christliche Abendland vor sein großes Entweder — Oder Christ oder Nichtchrist, das Nietzsches Wahl des Antichristlichen entschied. Es ist also durchaus mehr als ein bloßer Zufall, wenn Sören Kierkegaards Bildung zuletzt eine deutsche war, wenn er in Berlin seine geistige Reife erwartete, wenn er Kant und Schopenhauer mit Eifer las, wenn er unsere Romantiker studierte und selbst „seinen" Shakespeares in deutscher Sprache, in der Übersetzung Schlegels, las. Sogar Hamann, den Magus des Nordens, dem er tief verwandt war in seinem religiösen Ringen, in seinem sokratischen Dasein, seiner Einsamkeit des Schriftstellers und seiner Schwermut, hat er studiert und folgende schönen Worte des Anteils und der Kenntnis über ihn, der in Deutschland kaum beachtet wurde, gesagt: „Ich will nicht verfehlen, daß ich Hamann bewundere, während ich gerne einräume, daß der Klassizität seiner Gedanken Gleichmaß und seiner übernatürlichen Spannung Selbstbeherrschung fehlt, wenn er nämlich zusammenhängend hätte arbeiten sollen. Aber geniale Ursprünglichkeit ist in seinem kurzen Worte, und die Prägnanz der Form entspricht ganz dem desultorischen (d. h. flüchtigen, d. V.) Herausschleudern eines Gedankens. Er ist mit Leib und Seele bis zu dem letzten Blutstropfen in einem einzigen Worte konzentriert, in dem leidenschaftlichen Protest eines hochbegabten Genies gegen ein System des Daseins." Kierkegaards Philosophieren stammt aus eben diesem gleichen Protest, den er bei Hamann bemerkt, es stammt ganz aus Problemen und Forderungen, die seit Jahrhunderten deutsches Denken antreibt. Wenn daher die

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jüngste deutsche Philosophie, vor allem mit Heidegger und Jaspers, jenen Begriff aufgreift, den Kierkegaard prägte, den Begriff der „Existenz", dann wird man gewahr, daß dieser dänische Denker mit diesem dunklen und doch verstandenen Wort von außen an unseren Geist anpocht und wie ein erregendes Samenkorn neues geistiges Wachstum bedingt, dessen Frucht noch nicht Gestalt gewonnen hat.

Bense, Wesen

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FRIEDRICH NIETZSCHE ODER PHILOSOPHIE UND VERFÜHRUNG

Es gibt zwei Formen des Philosophierens: zu überzeugen und zu verführen. Kant verführt nicht, Kant überzeugt. Sein Denken rührt wenige an und das Leben begeistert niemanden. Erst ein jahrelanger Umgang mit Kant läßt hinter einer scheinbar alles bedeckenden Einöde den Reichtum ahnen. Und vielleicht muß man. Kant schon überwunden haben, um sein hohes schriftstellerisches Vermögen gewahr zu werden. Aber am Anfang wird sich niemand gerne an die Mauern dieses Gefängnisses der Begriffe und Methoden lehnen, geschweige denn eintreten. Hier gibt es nur eine Versöhnlichkeit der Begriffe, keine des Herzens, wenn man ihn zum ersten mal liest. Wen kann es verwundern, daß die Deutschen, die mit Kant den Philosophen des reinen Überzeugens hervorgebracht haben, einsiedlerische Kräfte genug besaßen, den Philosophen der reinen Verführung zu erzeugen ? — Es ist Nietzsche, dem zuletzt die Verführung zu einer neuen Wahrheit mehr bedeutet, als der begriffliche Beweis dieser Wahrheit. Zuweilen wohnen bei ihm Widerspruch oder Widerruf so dicht -neben einer Verkündigung, oder ist der Gedanke so glücklich von einer Sprachmusik überwältigt, daß selbst die geringste Aufmerksamkeit des Lesens erkennt, wie hier der Geist der Verführung dem Geist der Überzeugung erobernd voraneilen will. Ist das nur ein Mittel dessen, der zu kurz, zu flach im Denken ist, um die Wahrheit allein aus sich selbst zu

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setzen ? — Das wäre so, wenn Nietzsche nur Wahrheiten im Sinne dieser oder jener Wissenschaft auszusprechen hätte. Aber Nietzsches philosophische Arbeit sieht gar nicht die einzelne Wissenschaft, sieht gar nicht die einzelne Erkenntnis und die einzelne Wahrheit, sondern er blickt gleichsam hinter die Wissenschaft, hinter die Wahrheit, hinter die Erkenntnis und hinter die Kunst und erwägt, ob sich hier nicht etwas Fragwürdiges eingestellt hat. Denn Nietzsche fragt gar nicht, was ist wahr, was ist falsch, was ist gut und was ist schlecht, sondern er fragt danach, was wahr, was falsch, was gut, was schlecht sein muß, damit eine „hohe Kultur" und nicht zuletzt eine kommende „Kultur der Deutschen" möglich sein kann. Denn der Blick hinter die Wahrheit, hinter die Wissenschaft und hinter die Kunst ist ein Blick in die K u l t u r , und Nietzsches Denken ist immer mehr darauf gerichtet, zu bedeutenden Menschen, zu großen Wahrheiten oder zu großen Fehlern die zugehörige Kultur zu entwerfen. Denn der wahrhaftige Mensch ist mehr als eine Wahrheit und dieser wahrhaftige Mensch ist entweder nur als absoluter Einzelner möglich oder aber innerhalb eines großen Volks, einer großen Kultur. Da aber Nietzsche den wahrhaftigen Menschen und die große Kultur aus der Idee eines gefährlichen Daseins bestimmt, darin gleichsam die leibliche Härte Spartas an die tiefe Geistigkeit Athens herangeführt wird, kann er nicht allein auf die Kraft der Beweise, auf die Kraft der gedanklichen Überzeugung bauen, sondern er bedarf der verführerischen Mittel, der geistvollen Überiedung, die er von Piaton gelernt hat, um zu einem hohen, aber gefährlichen Leben zu begeistern. Nicht als Denker allein ist also der Philosoph hier zu bestimmen, sondern als

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Schriftsteller, als Künstler. Und tatsächlich hat Nietzsche mehr als einmal von sich als dem Künstler, dem Dichter gesprochen. Seit Kant, der die Überzeugung als den eigentlichen Erfolg des Philosophierens pries, schätzt man, eingedenk der Mathematik, die Klarheit des Denkens als die eigentliche Reife des Denkens. Aber Nietzsche, dessen Philosophieren nicht allein aus dem Willen zur Überzeugung, sondern auch aus dem Willen zu einer Verführung, einer welthistorischen Verführung lebt, setzt neben die Kraft der Klarheit die Kraft der Begeisterung. Es ist eine Gelehrsamkeit, Kant zu lesen, aber es ist eine Kunst, Nietzsche zu lesen, und nur wo seine literarischen Mittel begriffen werden aus seiner Kraft der Verführung zu einer neuen Kultur, zu einem neuen Bild des Menschen und wo man hinter jeder Wahrheit oder Halbwahrheit, hinter jedem Einfall und jedem Bekenntnis die tiefe Hinterabsicht, die auf eine große Kultur, auf einen hohen Stil im Dasein drängt, gewahr wird, dort ist diese Kunst, Nietzsche zu lesen, wirklich geübt. Die Verschiedenheit in der Form des Philosophierens, wie sie sich zeigt, wenn man Kant und Nietzsche gegenüberstellt, diese Verschiedenheit von Überzeugung und Verführung, von Beweis und Überredung gründet in einer Verschiedenheit der philosophischen Absichten dieser beiden scheinbar so wenig nachbarlichen Geister: Kant stellt zuletzt die „Natur" in Frage und zeigt, wie sie in der Mannigfaltigkeit ihrer Gegenstände entsteht, wenn der Mensch, der Erkennende, ihr die Formen und Gesetze „vorschreibt", indem er sie mit den Kategorien seines Verstandes „anschaut"; aber Nietzsche stellt die „Kultur" in Frage, vor allem die zeitgenössische, die

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aus einem langen Prozeß hervorgegangen ist, der langsamen Entartung anheimfiel, weil sie auf falsche, schwächende Gründe gebaut war und weist auf die neuen „Tafeln" der „Werte" hin, auf die das Abendland, auf die vor allem die Deutschen ihre „hohe Kultur" gründen müßten. So treffen sich also beide, Nietzsche und Kant, in der philosophischen Arbeit der Kritik. Der eine zeigt, wie weit in bezug auf den erkennenden Menschen „Natur" im Sinne eines „Weltbildes", im Sinne einer „Wissenschaft" möglich ist und zeigt die Grenzen einer echten Erkenntnis gegen die „Hirngespinste" eitler „Spekulation" auf, zeigt, was wirklich „Natur" sein kann und nicht bloß ein „Gedachtes"; aber der andere zeigt, was in bezug auf den in der Fülle seines Wesens sich entfaltenden Menschen „Kultur" genannt werden kann und darf, zeigt die wahren Normen, auf die der wesentliche Mensch und die wesentliche Kultur gegründet werden müssen, wenn sie nicht der „Entartung" anheimfallen, wenn sie Größe und Reinheit spiegeln. Bringt man das Fragen Kants auf die These: Wie ist „Natur" im Sinne der Erkenntnis, der Wissenschaft möglich, dann heißt die entsprechende Frage Nietzsches: Wie ist „Kultur" im Sinne eines großen und starken Menschentums möglich ? — Was für Kant die Erkenntnis, nämlich Thema der Kritik, das ist für Nietzsche das Leben; was für Kant die Natur, nämlich Feld der Erkenntnis, das ist für Nietzsche die Kultur, nämlich Feld des menschlichen Lebens; was für Kant die Spekulation, nämlich Verfall der echten Erkenntnis, das ist für Nietzsche die Entartung, nämlich Verfall des echten, starken Lebens, und was für Kant schließlich immer die geheime Endabsicht

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war, ein umfassendes metaphysisches System aufzustellen, eine universale Wissenschaft, zu der er sich scheinbar immer polemisch verhielt, für deren Rechtfertigung und große Einsetzung er aber alle begrifflichen Waffen schliff, das ist für Nietzsche der Geist, zu dem er sich immer polemisch verhielt, dem er aber auch noch einmal den gewaltigsten Ausdruck verlieh, den er oft als den Widersacher des Lebens ausspielte, der ihm aber „an guten Tagen" ein „Fest", ein „Rausch" war. Denn Kant zerstörte nicht die Metaphysik, er grenzte sie nur ab gegen die reine Erkenntnis und bestimmte die Polemik zwischen Wissenschaft und Metaphysik als ein philosophisches, ein kritisches Motiv, und Nietzsche verachtete nicht den Geist, sondern grenzte ihn nur ab gegen das unmittelbare Leben und bestimmte die Polemik zwischen Leben und Geist als sein philosophisches, sein kritisches Thema. Kant entschied sich nicht für die Wissenschaft, aber auch nicht für die Metaphysik, das Verhältnis beider zu bestimmen war der Sinn seiner Kritik, die mit einer Bewunderung der Newtonschen Wissenschaft, der Physik und der Himmelskunde, begonnen hatte. Und Nietzsche entschied sich nicht für das Leben, aber auch nicht für den Geist, das Verhältnis beider, ihre Polemik zu bestimmen, war der Sinn seiner Kritik, die mit einer Bewunderung der Kunst, der Tragödie und der Musik, begonnen hatte. Und wie Kant nie das metaphysische System vollendete, an das er beständig dachte, sondern immer in der Kritik zwischen echter Erkenntnis und metaphysischer Spekulation, zwischen Wissenschaft und Metaphysik bestand, so trat auch Nietzsche eigentlich nie aus der Polemik zwischen Geist und Leben heraus, um in einem vollendeten Werk die vollzähligen Gesetze

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der wahren Kultur und des wahren Daseins des Menschen zu verkünden. Daß daher sowohl Kants letztes Werk, das berühmte Opus postumum, das die Naturwissenschaften in ihrem metaphysischen Zusammenhange aufzeigen sollte als auch Nietzsches letztes Buch „Der Wille zur Macht", darin die „Umwertung aller Werte" nun endgültig und programmatisch vollzogen werden sollte, fragmentarisch blieben, erhellt blitzartig, wie sehr die Arbeit dieser beiden Geister zutiefst vor allem eine welthistorische Kritik darstellt. Wer aus seiner geschichtlichen Aufgabe der Kritik heraus wie Nietzsche die Kultur seiner ganzen Zeit, seines Volkes und des Abendlandes in Frage stellt, dessen Leben wird, wenn der schwere Atem der Kritik anhält, selbst mehr und mehr der Zeit entrinnen müssen. Und so stellt sich Nietzsches Leben beinah mit einer philosophischen und historischen Notwendigkeit als ein langer Weg des Verzichtes und der Überwindungen dar. Wer sich wie er um die Verkündigung eines neuen Menschen und seiner Kultur bemüht und ganz und gar aus einer unaufhörlichen Infragestellung heraus philosophiert, die das höchste Objekt, nämlich den Menschen, selbst zum Thema hat, der entdeckt nicht nur ein Problem, der repräsentiert auch zugleich dieses Problem. Dies ist jedenfalls der Sinn von Nietzsches Selbstverständnis seiner selbst und seines Philosophierens, daß es ein fortgesetztes Bekennen sei: er selbst ist Repräsentant seines Problems des Menschen, er selbst überwindet die Kultur und die Zeit, die ihm fragwürdig geworden ist, und in ihm selbst polemisiert es eifrig zwischen seinem Geist und seiner Vitalität, und er selbst wagte jenes gefährliche Leben,

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groß zu werden durch eine Feindschaft, jenes Leben, das immer wieder auf dem Horizont seiner Manifeste auftaucht. Im Jahre 1844, im Oktober, jenem Monat, den er am meisten liebte und dessen Übergangsstimmung er immer wieder zu Vergleichen verwendet, wird er als Sohn eines Pfarrers in Röcken, einem Dorf auf dem Schlachtfeld von Lützen, in der Nähe Leipzigs, geboren. Der späte Nietzsche liebte es, in Gedanken seinen Ursprüngen nachzugehen. Der „Ecce Homo" wird zur Hälfte fast getragen von solchen Reflexionen über die leibliche und geistige Herkunft, und Nietzsche betont ausdrücklich die reichsdeutsche Abkunft und verweilt dabei, daß eine Großmutter im Kreise Goethes in Weimar und ihr Bruder als Theologe in Königsberg beheimatet war. Schon im Jahre 1849 stirbt der Vater, der erste Verzicht des jungen Nietzsche. Die Mutter siedelt mit den Kindern nach Naumburg über, eine Stadt am Rande Thüringens, dessen Landschaft später in Briefen immer wieder bewundert wird. Der Erde Luthers und Bachs, Goethes und Cranachs hat Nietzsche immer eine unabweisbare Anhänglichkeit bewahrt. „Gesegnet sei der Thüringer Wald" — so schreibt der Dreißigjährige an seinen Freund Gustav Krug aus Basel. Im Jahre 1858 verläßt der junge Nietzsche eine gewisse vielleicht wohltuende Enge der Familie und kommt auf die berühmte Landesschule Pforta, der so viele erste Geister der Deutschen entstammen. Strenge und Ausgerichtetheit der Arbeit unterdrücken hier keineswegs eine umsehende, Regsamkeit des Geistes und mit Carl von Gersdorff und Paul Deussen, dem späteren Indiologen, bilden sich Freundschaften, die im Grunde nicht auf-

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hörten, auch als Nietzsche in seiner Haltung der Kritik und der Forderung an seine und die zukünftige Zeit längst der geistigen Welt dieser Männer entwachsen war. Damals wird mit den Naumburger Freunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug eine literarische Vereinigung „Germania" gegründet; Musik erfüllte das Gemüt des jungen Geistes, vor allem Schumann und Beethoven und die Improvisationen füllen manche freie Stunde; wie sehr aber die antike Welt ihn schon anzieht und wie sehr er ein selbständiger Geist ist, beweisen die Bemühungen, eine Abhandlung über die „Naturanschauung im griechischen und deutschen Volksepos" abzufassen und die Bitte an seine Freunde Krug und Pinder, ihm die Doktorarbeit eines bei Düppel gefallenen Philologen über Theognis zu besorgen. 1864 verläßt Nietzsche diese stille und regsame Welt der Schule und der Kindheit. Das Zeugnis vermerkt schlechte Leistungen in der Mathematik, aber vorzügliche in Deutsch und Latein. Zunächst kommt Nietzsche auf die Universität in Bonn. Kunstgeschichte, Philologie und Archäologie füllen den Plan. Der Zeit entsprechend trat er in die Burschenschaft Frankonia ein. Aber bereits ein Jahr später erklärte Nietzsche seinen Austritt. In seiner Erklärung vom 20. Oktober 1865 heißt es: „...Ich höre damit nicht auf, die Idee der Burschenschaft überhaupt hochzuhalten. Nur das will ich offen eingestehen, daß mir ihre gegenwärtige Erscheinungsform wenig behagt." Der Kritiker der Zeit kündigt sich an, und ein erster Verzicht auf das Bürgerliche in der Kultur verlangt vom Wahrhaftigen seinen Verzicht. Der Lehrer in einem allgemeineren, geistigeren Sinne bereitet sich in ihm vor. Er sucht Kreise, denen er die geistige Ausrich-

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tung geben darf. Ein tiefes Selbstvertrauen, ein starkes Selbstbewußtsein, ein Vorgefühl, geistige Aufgaben ersten Ranges übernommen zu haben, drängt sich vor und formt die Entwicklung zwischen Wirkung und Verzicht. In Leipzig, seiner zweiten Universität, gründet er einen philologischen Verein. Erwin Rohde, der spätere Philologe, gehört ihm als Freund Nietzsches an. Aber das Bewußtsein, daß von seinem Geist, seiner Persönlichkeit eine mächtige, wenn auch stille Wirkung ausging, verlangt nach einer Selbstbetrachtving, und so verfaßt der 23 jährige eine kleine Selbstbiographie, in der er über die Aufgabe und Gestalt des Lehrers nachdenkt, ein Thema, das sich wie ein feiner Faden durch sein gesamtes Philosophieren hindurchzieht und nach und nach immer deutlicher zu Bewußtsein kommen läßt, daß er eigentlich ein Lehrer der Menschheit sei, ein Philosoph mit den Ausmaßen Zarathustras. Was bewegte damals den jungen Studenten geistig ? — Schopenhauer wird entdeckt. Vielleicht weniger seine Thesen, als vielmehr der freie philosophische Geist in ihm ziehen Nietzsche an. Schumannsche Musik, langes Nachdenken über sich selbst und die Freundschaft mit dem Studiengenossen Rohde, tiefe Beschäftigung mit der Antike, vor allem mit Theognis, erfüllen die Tage. Festzuhalten ist auch, daß Schopenhauer ihn zu einer ersten inneren Auseinandersetzung mit dem Christentum bringt. Der Ernst des inneren Lebens ist über ihn gekommen. Es verlange ihn, nach der Strenge des ursprünglichen Christentums zu leben, so schreibt er nach Hause, und die Trennung zwischen dem echten, strengen, herben Christentum des Ursprungs und der Christentum en passant und der Mode erinnert an das pathetische christliche

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Entweder — Oder, Christ oder Nichtchrist, aber nichts dazwischen zu sein, das Sören Kierkegaard, zwei Jahrzehnte vorher verkündigte. Mit dem Kriegsjahr 1866 fühlt sich Nietzsche „kriegsbereit" und dient zwei Jahre bei der Feldartillerie. Eine Verletzung zwingt zum vorzeitigen Abbruch der Dienstzeit. Eine neue Epoche seines Lebens bereitet sich vor, und zwar sind es die Berufung zum Professor in Basel und die Bekanntschaft mit Richard Wagner, die eine ereignisreiche Zeit heraufführen. Im Februar 1869, Nietzsche war noch nicht zum Doktor promoviert, wurde er nach Basel berufen, und der „Kanonier" verwandelte sich wie durch einen Sprung in einen außerordentlichen Professor der klassischen Philologie. 1870 rückt er zum ordentlichen Professor auf. Neben seinen Vorlesungen und Übungen hatte er noch Unterricht am Gymnasium zu erteilen. Den deutsch-französischen Krieg machte er nur einige Monate lang mit und zwar als Krankenpfleger. Wieder nach Basel zurückgekehrt, verkehrt er vor allem mit Burckhardt und Overbeck, dem protestantischen Theologen. Aber das eigentliche anregende und folgenreiche Ereignis jener Zeit ist die nähere Bekanntschaft mit Wagner, den er bereits im November 1868 in Leipzig kennengelernt hatte. Mit der Bekanntschaft Wagners, den Nietzsche im Mai 1869 zum ersten Male in Triebschen bei Luzern aufsuchte, verband sich die Freundschaft mit Frau Cosima, und was Wagner ihm, der beständig zwischen Kunst und Wissenschaft einhertrieb, als Geist war, das bedeutete Frau Cosima ihm in ihrer anregenden Persönlichkeit in dieser und der folgenden Zeit rein menschlich. Der Geist wuchs an Wagner, fand seine Bestimmung und seine kritischen

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Motive, aber seine Persönlichkeit wuchs an Cosima und fand seine Geselligkeit und Ungeselligkeit. Inzwischen aber war sein erstes Buch, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" erschienen, das ihn zwang, seine philologische Fachwelt überwinden zu lernen; denn sie erkannte nicht, wie hier ein Begeisterter vor neuen Landschaften ein Feuer entzündete, das Betretbares belichtete. So begann die Epoche, die unter Wagners Stern anhob, wiederum mit einem Verzicht. Bezogen auf seine philosophische Arbeit war Richard Wagner ohne Zweifel Nietzsches wesentlichste Freundschaft. Der junge Geist fand hier seine mächtigste Anregung und der beginnende Kritiker empfand hier seinen großen Gegenspieler. Nach Jahren der Bewunderung und des Einsatzes für die Gründung „Bayreuth" erlebte Nietzsche im Sommer 1876 die ersten Festspiele. Die Enttäuschung war groß. Sie galt weniger der Musik als der Person Wagners und dem „Theater" seiner „Gründung". Nietzsche hatte Kunst erwartet und sah die Pose, er hatte an einen kulturellen Aufbruch geglaubt und sah die Maskerade. Ein ironischer Feldzug Wagners gegen Nietzsche vollendete die Entzweiung. Der Verzicht auf Wagner, ohne Zweifel der schmerzlichste, erregte wie kein anderes Ereignis die philosophische, kulturelle Kritik Nietzsches. Es gibt Stellen bei Nietzsche über Wagner, wo der Philosoph in dem Schöpfer Bayreuths den gesamten Verfall der deutschen und der abendländischen Welt zusammenströmen sieht. Seit 1878 zieht sich wie die Geste eines fortwährenden Abschieds der Angriff auf Wagner wie ein sammelnder Strom der Kulturkritik durch das Werk. Die Kultur Wagners erwies sich immer weniger als die Kultur Nietzsches.

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Inzwischen ließ die Gesundheit Nietzsches nach. Die Kurzsichtigkeit wurde ein Leiden. Magen- und Kopfbeschwerden kamen hinzu. Das einzig positive dieses Leidens war, daß es ihm Kraft zur völligen Lösung von einer Welt gab, der er nur polemisch gegenübertreten konnte. Die Flucht aus Bayreuth in den Böhmerwald nach den ersten Aufführungen wurde das Symbol für den Wandergeist der nächsten Jahre. Zunächst ließ er sich beurlauben und verlebte einige Monate in Italien im Kreise der geistreich-jungferlichen Malwida von Meysenburg. 1879 bewilligte die Universität Basel ihm den Abschied mit einer Pension von 300 Franken. Damals erschienen „Menschliches, Allzumenschliches" und „Vermischte Meinungen und Sprüche", und mit ihnen trat zugleich der kritische Philosoph und der Schriftsteller vor ein neues Forum. Heiratspläne, die jene von Meysenbug einzuleiten gedachte, zerschlugen sich, der Sorrenter Freund Dr. Rée und Lou Salomé wurden aufgegeben und so schwand die letzte Möglichkeit, Nietzsche an eine behäbige Welt zu binden, in die er schon längst auch den Studienfreund Rohde hinabgleiten sah. Was blieb, das war ein Leben der Wanderung. Das Engadin, Naumburg, Venedig, Genua, Recoaro, Sils Maria, wieder Genua, Messina, Rom und wieder Thüringen und Leipzig, das war die erste Folge jener Stationen zwischen Deutschland und Italien, wo Nietzsche verweilte, um Genesung zu finden oder zu arbeiten. „Der Wanderer und sein Schatten", „Morgenröte", „Die fröhliche Wissenschaft" und der erste Teil des „Zarathustra" sind bis zum Jahre 1883 vollendet. Am Tage des Abschlusses des ersten Teils des Zarathustra, am 13. Februar, starb Richard Wagner in Venedig. Ob es dieses Ereignis, das er halb mit Trauer

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und halb mit Erleichterung empfand, war, das ihn im Herbst des gleichen Jahres nach Deutschland trieb ? — Mit der Rückkehr aus Deutschland, wo man ihm seine Bitte, in Leipzig freie Vorlesungen zu halten, abschlug, begann die Zeit der „letzten Einsamkeiten". Geblieben war ihm nur das Echo in wenigen Einzelnen, die, über ganz Europa zerstreut, seine Schriften lasen. Peter Gast, Nietzsche bekannt aus seiner Baseler Professorenzeit, wurde sein Freund und Begleiter, schrieb ihm die Manuskripte ab, schenkte ihm mehr oder weniger bedeutsame Geselligkeit und trieb mit ihm Musik; Heinrich von Stein, ein junger Philosoph, der leider zu früh verstarb, wurde einer seiner Bewunderer; Taine war auf ihn aufmerksam geworden; Brandes in Kopenhagen las 1888 die ersten Vorlesungen über Nietzsches Philosophie und Strindberg schrieb ihm seine Antworten, die wie ein Echo aus gleicher Einsamkeit klangen. Die letzten Teile des Zarathustra wurden vollendet, „Jenseits von Gut und Böse", „Die Genealogie der Moral", „Der Fall Wagner", „Der Antichrist", „Ecce Homo" und das fragmentarische Hauptwerk „Wille zur Macht" erhielten in den letzten fünf Jahren seines Wanderlebens zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz ihre Gestalt. Dann unterlag der Mensch der tiefen Polemik zwischen Geist und Vitalität, der er sich ausgesetzt hatte. Auf einer Straße Turins begann im Januar 1889 der letzte Abschied dessen, der zu überwinden gelernt hatte, um neue Tafeln aufzurichten, begann der Abschied von sich selbst. Jena, Naumburg und endlich Weimar, das Haus am Sonnenblick, von wo aus man auf den von Goethe so geliebten Ettersberg und hinunter auf die Stadt blicken kann, waren die letzten Stationen vor der Ruhe auf dem kleinen

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Friedhof von Röcken, von wo aus dieses ungeheuere Leben ausgegangen war und wohin es im Jahre der Jahrhundertwende, am 25. August 1900, zurückkehrte. Die Nacht des Geistes war der letzte Abschied eines nur zukünftig gerichteten Geistes, der in seiner Welt, wie Jaspers sagte, nichts anderes als ein „Scheiternder" sein konnte. Denn gerade in diesem Scheitern erfuhr er die Zukunft des Abendlandes, das er — denn dies war seine Aufgabe — vor allgemein menschliche Entscheidungen gestellt hatte und dessen zukünftige Tafeln er mit Klarheit und Begeisterung erwählen lehrte. Man hat an Nietzsche bemängelt, sein Werk sei kein System, es entwickle sich nicht deutlich genug gegliedert und flösse nicht deduktiv aus einem einzigen, breiten und kräftigen Fundament. Wer wie Kant das Thema der „Erkenntnis" und die „Natur" zum Thema der Kritik macht, der bedarf der Logik und des Systems. Aber wer wie Nietzsche das unmittelbare „Leben" und die „Kultur" zum Vorwurf der Kritik genommen hat, der bedarf weniger der Logik und des Systems, als des Bekenntnisses und des Stils. Denn ein System hat L o g i k , aber ein Dasein hat Stil. Doch die Regeln der Logik sind nicht die Regeln des Stils. Die Gesetze des Schlusses, die Sicherheit der Deduktion, das Vorangehen vom Allgemeinen zum Besonderen, das alles formt das System, aber die zerbrechliche Weisheit der Aphorismen, die Kühnheit der Manifeste und Proklamationen, die aufblendende Kraft des Essays, das sind die Mittel des Philosophierens, dem es um einen Stil im Dasein geht. Zu einem Grundthema, dem der Kulturkritik, gehört das Gegenthema der Bense, Wesen

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„neuen Tafeln" und zu den vielen Nebenthemen, die das Hauptthema entläßt, Kritik der Musik, der Philosophie, der Religion, der Politik, der Deutschen, der Schriftsteller oder der Wissenschaften, gehören wieder die Gegenthemen der neuen Werte, die abgründigen Spiegelungen aller menschlichen Äußerungen am Willen zur Macht, am freien Geist, am Leib und in den Bezirken „jenseits von Gut und Böse" und alles kommt zu einem vielstimmigen, reich instrumentierten Ausdruck, einer Musik des Geistes, die das Vitale liebt, einer Musik der Begriffe, die in Gefühle übersetzt werden können. Zwischen der „Geburt der Tragödie" (1872) und dem „Ecce homo" (1888) schwingt diese Musik des Geistes. So steht am Anfang die Entdeckung der Zweiheit des Appolinischen und des Dionysischen; sie wird verstanden als Duplizität der „Kunst des Bildners" und der „unbildlichen Kunst der Musik", als Duplizität der „Welt des Traumes" und des „Rausches", als Duplizität „dorischer Architektonik" und „dionysischer Dithyrambik", als Duplizität der „Wahrsagung" und des „Tanzes" oder des „Maßes" und der „Begeisterung". Es wird nicht schwer, diesen Dualismus durch das ganze Werk Nietzsches zu verfolgen und zu bemerken, wie er sich ausweitet zu einem Gegensatz von „Geist" und „Vitalität", ein Gegensatz, der Klages als Epigone Nietzsches aufgreift, um die These vom „Geist als Widersacher der Seele" daraus zu machen, eine These, die Nietzsches Urgedanken aufhebt, indem sie sich völlig für die „Seele" entscheidet, wo Nietzsche das „gefährliche Leben" in der Polemik zwischen Macht und Seele beschwor. Daher wird in der nächsten Schrift „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" (1873) auch nicht weit in

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die Antike hinausgesteuert, um Heraklit, den Philosophen des ewigen, lebendigen Werdens gegen Parmenides, den Philosophen des reinen begrifflichen Seins, also um den Philosophen des Lebens gegen den Philosophen des Denkens auszuspielen wie das bei Klages geschieht, sondern um mit dem Gegensatz von Heraklit und Parmenides jene ungeheuere Polemik zwischen „Werden" und „Sein" oder „Leben" und „Geist" zu entdecken, die er im späten, christlichen Abendland, vor allem in seinen Idealismen, aufgehoben, nämlich zugunsten des Seins und des Geistes entschieden findet. Denn dies ist der Ansatzpunkt der Kulturkritik Nietzsches: er konstatiert, daß das Dasein sich entschieden hat für das Sein, für den Geist und daß es mit dem Christlichen und dem Idealismus das Leben entwertete. Und dieser Ansatzpunkt hat das gleiche Gewicht wie der entsprechende Kants in der Naturkritik; wo gefunden wird, daß die Erkenntnis sich entschieden habe für die Begriffe und die reine Spekulation und daß sie vor allem mit dem Rationalismus und der Aufklärung die Wirklichkeit und die Erfahrung zugunsten des reinen Denkens entschieden habe. Gerade an diesem Punkt wird deutlich, wie Nietzsche die kantische Kritik, die der spekulativen Erkenntnis galt und auf die Bestimmung der „Natur" gerichtet war, auf neuer Ebene, auf der Ebene des konkreten Daseins wiederholt, der Betonung des Geistigen und Geistlichen gilt und auf die Bestimmung der „Kultur" gerichtet ist. Die Kritik der einseitig geistig entschiedenen zeitgenössischen Kultur setzt Nietzsche an allen möglichen Eckpunkten an. In „David Friedrich Strauß, der Bekenner und Schriftsteller" (1873) greift er eine zeitgenössische philosophische Oberfläche an, die im Grunde 10»

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den Ernst der Kritik mit der Arroganz eines Literatentums verwechselte. In „Schopenhauer als Erzieher" (1874) weist er darauf hin, wieviel die philosophierende Persönlichkeit bedeutet gegenüber einem bloßen Konstrukteur eines Systems und macht offenbar, daß er wirklich ein konkreter Philosoph gegenüber zahlreichen abstrakten Systematikern sei; es ist im ganzen also eine Streitschrift für den Philosophierenden gegen das philosophische System, und so ist es das positive Gegenstück zu Kierkegaards Angriff auf Hegel. Der Titel „Unzeitgemäße Betrachtungen", der die Schriften über Strauß, Schopenhauer mit zwei weiteren über „Richard Wagner in Bayreuth" und „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" zusammenfaßt, deutet schon an, daß dem Kritiker der Kultur nicht lange vergönnt sein wird, in seiner Zeit wirklich zu wohnen. Was hier von Schopenhauer gesagt wird, daß er der Einzelne sei, der „das Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich nimmt" — diese Bürde, die Kierkegaard bei seinem „Abstrakten Denker" nicht vorfand — , dies wird einst noch schwerer und tiefer gelten, von dem, der hier im Vorgefühl, unzeitgemäß zu sein, auf Schopenhauer hinweist. Die Wirkung des neuen Buches „Menschliches, Allzumenschliches" (1878) begann mit einer tiefen Antithese: Wagner hatte Nietzsche den „Parsifal" übersandt und nannte sich in der Widmung „Oberkirchenrat"; Nietzsche aber hatte seine Schrift dem Andenken Voltaires gewidmet, und so war das gegenseitige Übersenden der Schriften tatsächlich wie ein Kreuzen von Klingen, wie Nietzsche bemerkt hatte; denn der, der sich wieder zum Christlichen entschlossen hatte, traf auf den, der bereits den Antichristen erwählt hatte; der Protestierende stellt sich

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gegen den Resignierenden; in einem wundervollen Spiel und Zwischenspiel von Aphorismen wird die Kultur in jeder Hinsicht kritisch durchleuchtet; es ist gleichsam die große Vorübung vor einem Angriff in das Herz seines eigentlichen Gegners, der Moral heißt. Dieser Gegner wird nun in der „Morgenröte" (1881) gestellt. „Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral", so bestimmt hier Nietzsche selbst seine Aufgabe. Denn die Moral, zu der seit Piaton Denker und Priester immer wieder zu verführen trachteten, scheint ihm das eigentliche Sammelbecken jener Entschiedenheit für den Geist zu sein, die genau so gefährlich ist für das Wesen des menschlichen Daseins wie jenes einseitige Philosophieren, das nur noch den „Leib", die „Seele", die „Vitalität" sieht. Was also ist die „Morgenröte", die hier Nietzsche heraufführt ? — Es ist ein Zeitalter, das den Antichristen erwählen wird. Das Antichristliche selbst ist hier noch nicht bestimmt, aber es wird gezeigt, wie die Kultur eine verfallende ist, weil sie sich zu tief vor der Herrschaft des Priesters gebeugt hat, weil sie keine Wahrhaftigkeit des Lebens, ja, auch keine Wahrhaftigkeit des Geistes, sondern nur eine Herrschaft des Geistlichen eingesetzt hat. In der gleichen Tonart, vielleicht nur ein wenig heiterer, verläuft die Kritik in der nun folgenden „Fröhlichen Wissenschaft" (1882), die großenteils als Fortsetzung der „Morgenröte" geplant war. Gerade dieses Werk, das das berühmte Losungswort „Gefährlich leben I" hinauswirft, ein Wort, das wie ein neuer, aber kein moralischer, sondern ein fröhlicher Imperativ des Kampfes und des Lebens uns anspricht, ist es, das weder eine Entscheidung für den Geist, noch eine Entscheidung für den Leib einseitig zuläßt. Denn im Zuge des „gefährlichen Lebens"

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liegt es, „Heroismus in die Erkenntnis" zu tragen, also „Geist" und „Vitalität" oder „Fröhlichkeit" und „Wissenschaft" in eine Geselligkeit zu bringen. Wie anders wäre jenes „Hoch die Physik", zu der uns „unsere Redlichkeit" zwingt, das Nietzsche hier ausruft, denn auch zu verstehen ? — In den drei folgenden Jahren arbeitet Nietzsche am Zarathustra. Was Kritik war, wird nun Gesetzgebung. Die neuen Werte und ihr Repräsentant, der starke, lebensmächtige, übermenschliche Mensch wird verkündet; denn „der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch". Bis zum „Zarathustra" bleibt das Philosophieren Polemik, nun wird es Verkündigung, und so muß sich, da der Stil des Philosophierens, die Verführung zu den neuen Gesetzen bestimmt, auch der Ton des Philosophierens ändern; was im Übermut des Angriffs stand und die Aphorismen wie kleine gedankliche Pfeile abschoß, das wird nun Pathos, klare Tiefe und schwerer Ernst; was im Angriff immer deutlich, immer bestimmt, immer konkret sein mußte, das wird nun bildlich, Gleichnis, mythisch und nur der lutherische Sprachleib erinnert zuweilen noch an den alten lutherischen Zorn. So wird man den Zarathustra zuletzt lesen müssen, denn nur nach der Polemik ist das Pathos einer Verständigung verführerisch, nur nach der Polemik wider die Kultur seiner Gegenwart wird die Größe verständlich, die die Kultur Zarathustras ausstrahlt. Und diese Kultur wird kein Ideal sein, wie Zarathustra kein Ideal, kein Schemen, sondern eine Wirklichkeit ist. Das Übermenschliche Zarathustras ist der echte, der wirkliche, der menschliche Mensch, das. freie Herz und der freie Geist und er ist nicht feuchtes Herz und nicht kalter Geist, sondern

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es ist die Klarheit eines Geistes in det Leidenschaft eines Lebens. Denn sein oberstes Gesetz ist, der Erde treu zu bleiben — aber auf der Erde gilt es, sich beiden Mächten, Geist und Leben, mit dem Willen, keiner zu unterliegen, auszusetzen. Der nichtchristliche Mensch ist als der eigentliche Mensch erkannt und erwählt, und so ist mit Zarathustras Verkündigung die große Antwort gegeben auf Nietzsches eigentlichen Vorgänger, auf Sören Kierkegaard, dessen Aufgabe es war, vor das christliche Entweder — Oder zu stellen. Was sagte Kierkegaard vom Christentum ? — „Man muß es entweder resolut leugnen, bekämpfen und verfolgen, oder man muß es wirklich leben. Was dazwischen liegt, ist Geniekult und Schwindel." Was antwortet Nietzsche und verwandelt das berührungslose Nebeneinander in ein welthistorisches Zwiegespräch ? — „Gott ist tot I" — Und was heißt das ? — Eines der letzten Werke, „Der Antichrist" (1888) gibt die Erklärung: „Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloß. . . Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen... Und man rechnet die Zeit nach nefastus, mit der dies Verhängnis anhob — nach dem ersten Tag des Christentums ! — Warum nicht lieber nach seinem letzten ? — Nach heute ? — Umwertung aller Werte ! — „Die christliche Kultur wird aufgegeben, „die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat — gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst..." Die Kritik erreicht ihren Höhepunkt: eine Kultur wird in der Tiefe aufgehoben und eine neue wird gesehen, verkündigt. Der Zarathustra sollte diese neue, zukünftige Kultur wie einen Mythos ansagen, aber nun keimt der

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Gedanke eines Werks auf, wo dieser Mythos in eine Wirklichkeit, eine zeitgenössische Wirklichkeit verwandelt werden soll: „Der Wille zur Macht", der „Versuch einer Umwertung aller Werte", d. h. der Versuch, die Werte, die Kultur, nicht mehr auf dem Grund des Christlichen, sondern auf dem Grund des Nichtchristlichen zu begründen. Im Jahre 1886 hat Nietzsche die ersten Pläne zu diesem Werk, dieser totalen Antwort auf das christliche Entweder — Oder Kierkegaards, wie wir es begreifen können, entworfen. Aus dem Jahre 1887 stammt dann jene Disposition des Werkes, die es nach dem Tode Nietzsches, 1906, möglich machte, die gesammelten Fragmente systematisch geordnet herauszugeben. Wie gesagt ist es das konkrete, aktuelle Gegenstück zu dem mythisch gestimmten Zarathustra. Der Zarathustra sollte verfuhren, der „Wille zur Macht" aber sollte überzeugen. Es versucht die Übergänge aus der verfallenen Kultur, die kritisch bestimmt wurde zu einer zukünftigen, ähnlich wie hundert Jahre vorher Kant mit seinem Fragment „Opus postumum" die Übergänge aus der kritisch bestimmten „Natur" zu einer „Metaphysik" der „Natur" vorbereitet hat. Nicht auf die „Gnade" — wie das Christliche — wird nun der Mensch und seine Kultur gegründet, sondern auf die „Macht". Die Ohnmacht vor Gott, die Luther und Kierkegaard predigten und zu einer Ohnmacht des Menschlichen überhaupt hatten werden lassen, wird nun zu einer „Macht", die ihrer möglichen Größe gewiß ist. Nicht auf die „Erlösung" — wie das Christliche — wird nun das Dasein abgestimmt, sondern auf die „Wiederholung", die „Wiederkunft". Nicht Demut und allgemeine Liebe, nicht „Sklavenmoral" wird nun verkündet, sondern der Aristokratismus unter

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den Einzelnen und unter den Völkern, die Härte des menschlichen Daseins, die „Herrenmoral". Nicht Christus, der leidende Gott am Kreuz, sondern Dionysos, der lebensmächtige, kraftvolle und lachende Gott wird angesagt. Und nicht die tiefe „Schuld" des sündigen Menschen wird nun als das Große ausgerufen, sondern jene „Unschuld des Werdens", die keine Sünde mehr kennt und nicht von „Erlösung", sondern von der „ewigen Wiederkunft" träumt. Denn Nietzsche hat zwar auf das christliche Entweder — Oder Kierkegaards die welthistorische Antwort, die Wahl des Antichristlichen als seelische, geistige, vitale und politische Zukunft gegeben, aber zugleich das Abendland vor ein neues Entweder — Oder, nämlich das kulturelle Entweder — Oder gestellt: „Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille den Untergang will." Die neuen großen Werte, die er als die wesentlichen verkündigt hatte, die Macht — die nicht brutale Gewalt ist —, das Leben — das nicht die Überwindung des Geistes zu seiner Existenz bedarf, wie das Klages anzunehmen scheint —, die höhere Tapferkeit, die sich einstellt, wenn man seiner Möglichkeit gemäß leben will, die Vornehmheit, die im großen Stil seines Daseins, nicht in bürgerlichen Gefälligkeiten besteht und den „freien Geist", der „Verborgene unter den Mänteln des Lichtes, der Erobernde, ob wir gleich Erben und Verschwendern gleichsehn, Ordner und Sammler von früh bis abends, Geizhälse unseres Reichtums und unserer vollgestopften Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in Schematen, mitunter stolz auf Kategorientafeln, mitunter Pedanten, mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage", alle diese Werte also sind

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die Gesetze der Zukunft, vor der die Völker Europas stehen und die zu erreichen eine Art tieferen Entschlusses voraussetzt. Niemand aber wird mehr mißverstanden als ein Geist, der nicht mit Systemen, sondern mit Forderungen kommt, ein Geist, der nicht in Erinnerungen spiegelt, sondern in Gleichnissen die Zukunft offenbar macht. Die Epigonen Nietzsches bewahren daher vor allem den Geist der Mißverständnisse, der aus seinem Werk der vielen Brennpunkte leicht möglich wird. In kleinen Zirkeln, wo der Hochmut blüht, glaubt man die Einsamkeit von Sils Marie eingefangen zu haben und abgeschiedene Dachstubendenker glauben sich vereint mit ihm 6000 Fuß von Raum und Zeit, wenn sie im Gedanken glücklich sind. Allzueifrige Deuter, die das Wort, aber den Geist nicht eingefangen haben, glauben ernstlich an eine Begegnung zwischen Bayreuth und Weimar. Halbgeister schreien nach Leben, weil es tödliche Maschinen gibt und berufen sich mit Pathos und Berauschung auf Nietzsche. Zwischengeister glauben sich ihm verwandt, weil sie nie ein Verhältnis zum Religiösen hatten und Atheisten aus Unbegabung, nicht aus Gefahr, aus Wille, aus schöner Mächtigkeit sind. Antichristen haben hier ihren Raum der Freiheit gefunden, indes sie in Wahrheit nur einer Trägheit des Herzens oder einer Trägheit des Geistes verfallen sind. Denn sie alle haben vergessen, daß die Nachfolge Nietzsches einen Durchgang durch die Leiden des Abendlandes zur Voraussetzung hat. Es scheint manchen Klages und Spengler stünden mit der Wiederaufnahme der „Kulturkritik" vollkommen in der Nachfolge Nietzsches. Klages versucht in seinem

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Hauptwerk „Der Geist als Widersacher der Seele" die geistigen Mächte wie den reinen Logos, die Physik, die Mathematik usw. als feindliche Mächte gegen das Leben auszuspielen. Der Geist bedrohe das Leben, er sei durch und durch eine lebensfeindliche Macht, sei „essentiell zerstörerisch", so lauten wesentliche seiner Sätze. Man vernimmt deutlich eine einseitige Überbetonung des Lebens, der Vitalität, die Nietzsche mit seiner Preisung des Dionysischen begonnen habe. Aber freilich, nur die bei Nietzsche gelegentlich sich findende Verherrlichung des bloß Vitalen zwingt Klages in seine Nachfolge. Jeden Willen zur Macht, der eben das Zentrum jenes lebensfeindlichen, ichbetonten Geistes sei, leugnet er. Wille und Macht sind ihm essentiell zerstörerisch wie der Geist und daher kommt zuletzt Klages nicht über eine Rousseausche Naturschwärmerei hinaus. Das gefährliche Leben, das Nietzsche verkündete, als er vom Willen zur Macht sprach, als er alles Tun jenseits von Gut und Böse zu betrachten lehrte, diese Mitte des zukunftsweisenden Denken Nietzsches muß er verwerfen. Er möchte am liebsten Nietzsche in einen Romantiker verwandeln; nur das, was romantisch an ihm stimmt, wird er bei Nietzsche gewahr. Tiefer als Klages ist Spengler Nietzsche verwandt. Er läßt nur den Realisten in Nietzsche gelten, den Verkünder der Macht, den Forderer des Willens, den großen Protestierenden gegen alle Schwachen. Während Klages Nietzsche romantisch begreift, sieht Spengler in ihm den Politiker großen Stils. Auch er fordert das aristokratische Verhältnis zur Kultur, den starken Willen, den großen Menschen, die starke Natur, aus deren Leben und Geist Dichtung, Wissenschaft, Herrschaft, Technik und Politik

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hervorbrechen. Aber er predigt das „Ausharren" angesichts eines „Unterganges", wo Nietzsche zur überwindenden Tat auffordert. Während Klages die abendländische Kultur nivelliert, um eine romantische Lebensverteidigung einzusetzen, glaubt Spengler dieser Kultur ein Ende setzen zu müssen, weil dieses Ende ein Gesetz der Geschichte, ein Gesetz der Politik sei. So sind Klages und Spengler tatsächlich in einem gewissen Sinne Antwortgeister Nietzsches, aber ihre Antwort ist zuletzt doch nur ein Protest gegen Nietzsche, ist negativ. Denn Klages widerspricht der Verkündigung der Macht und des Willens, und Spengler widerruft jenen Glauben an das Zukünftige, dessen Nietzsche so voll war. Aber Nietzsche wurde gerade deshalb zu einem abendländischen Ereignis, weil er unausgesetzt zu einer neuen Zukunft, zu einem neuen Menschen aufruft. Seit Luther hat es nicht mehr einen derart prospektiven Geist gegeben. Und wie Luther die Kirche umwälzte, so unternahm Nietzsche seinen Angriff auf die bestehende Ordnung der Kultur. Und wie Luther im Religiösen auf das Ursprüngliche zurückging, nämlich auf den bloßen Glauben, so ging Nietzsche im Politischen auf das Ursprüngliche zurück, nämlich auf die Macht, aber gewiß ist, daß dieser Glaube keine Dummheit und diese Macht keine Gewalt sein sollte. Denn der Glaube Luthers sollte aus der Überzeugung des Einzelnen stammen und die Macht Nietzsches sollte sich in einem freien Geiste einfinden.

OSWALD SPENGLER ODER DIE KRITIK DER GESCHICHTE

Als im Mai 1936 Oswald Spengler plötzlich verstarb, da erregte sein Name noch einmal den deutschen und den abendländischen geistigen Raum, der immer mit jener Untergangsstimmung verbunden sein wird, die nach dem Weltkriege die einigen und feindlichen Nationen heimsuchte. Die Untergangsstimmung war gewachsen, aber die philosophische und wissenschaftliche These vom „Untergang des Abendlandes" trat dennoch wie eine große, überraschende, allzu hoflhungslose Hypothese in unser Bewußtsein. Niemand hatte zuvor etwas von diesem Manne gehört, der nun auf einmal aus einem unerhörten Selbstbewußtsein heraus, „zum ersten Male" den Versuch machte, „Weltgeschichte im voraus zu bestimmen". Der Name war von früheren Werken her nicht bekannt, keiner wußte wie dieser Gelehrte und Prophet lebte, welchen Berufs, welcher Herkunft, welcher Bildung er war, und je dunkler es um die Leibhaftigkeit ihres Schöpfers wurde, desto eindringlicher, prophetischer wurde die große These wiederholt. Man sprach von einem kleinen, gedrungenen Körper, einem großen nackten Schädel, einem klaren Gesicht, einem schmerzlichen Mund, einem halb sehenden, halb zärtlichen Auge, von schönen Händen und von einer tiefen, schweren Stimme. Wer ihn später einmal gesehen hatte, erzählte von einer napoleonischen Gebücktheit, von der Haltung des Korsen, von dem mutigen Blick eines hoffnungslosen Geistes. Erst mit dem Tode Spenglers ver-

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öffentlichten wenige Bekannte kleine Bilder und Lebenszüge des Mannes, dessen Bedeutung vor allem darin besteht, philosophisch der anregendste Geist der beiden vergangenen Jahrzehnte gewesen zu sein. Es wurde bekannt, daß Spengler im Jahre 1880 in Blankenburg a. Harz geboren wurde. Nach einem Studium der Mathematik und Naturwissenschaften, der deutschen Sprache, der deutschen Literatur und der Geschichte promovierte Oswald Spengler mit einer Arbeit über Heraklit. Als 1907 ein neues Realgymnasium in Hamburg eröffnet wurde, erhielt Oswald Spengler den Auftrag, eine zweite Untertertia als Ordinarius und Lehrer für Deutsch, Geschichte und Naturwissenschaften zu eröffnen, eine Universalität des Lehrens, die die Weiträumigkeit seines Blicks in die Zusammenhänge aller geistigen Äußerungen, die sein Werk auszeichnet, bereits hier, im Beruf, erkennen läßt. Einer seiner Schüler, Dr. Strüver, berichtet, es habe selten ein vertrauensvolleres Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern bestanden wie zwischen Spengler und seinen Tertianern. „In seiner Gegenwart schwieg jede Lautheit, jeder Versuch zu übermütig-jungenhaften Streichen pflegte bereits im Entstehen in Nichts zu zerrinnen. Es gab niemand, der die Autorität dieses Mannes mit dem ausdrucksvollen Kopf, dem stillen Lächeln im Antlitz und dem Bratenrock des Gelehrten anzuzweifeln gewagt hätte." Ostern 1910 legte Oswald Spengler sein Lehreramt nieder aus gesundheitlichen Gründen und um sich ganz seinen immer mehr Zeit wegnehmenden Studien, die das grundlegende Werk reifen ließen, widmen zu können. Als Privatgelehrter siedelte er sich bald darauf in München an, und wie schon dieser Abschied aus dem beruf-

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liehen Leben aus mehr als einem Grunde an den Abschied Nietzsches von Basel erinnert, so bedeutet auch für Spengler die nun in München beginnende Zeit eine steigende Vereinsamung. Daran ändert weder die Tatsache seines großen Bucherfolges etwas, noch die Tatsache, daß er mit einigen wenigen Freunden und Bekannten dann und wann zusammenkommt oder gelegentlich auch vor wirtschaftlichen Führern Vorträge hält. Sein Junggesellendasein, in seinen Zügen der Menschenverachtung und tiefen historischen Erinnerung, deutet auf den eigensinnigen Daseinsstil der Schopenhauer oder Burckhardt, nur scheint hier der Zorn des einen und der Spott des anderen wesentlich gemildert zu einer Art weltgeschichtlichen Ernstes. Im entscheidenden Jahr 19x8 erschien der erste Teil des Hauptwerkes „Der Untergang des Abendlandes". Im Jähre 1922 folgte auch der zweite Teil und von nun an wechselten die Auflagen bis zu einem der größten philosophischen Bucherfolge der Moderne. Inzwischen, 1920, war auch das schmale Bändchen „Preußentum und Sozialismus" herausgekommen, dessen programmatische Sätze etwas von der Klarheit der „neuen Tafeln" an sich haben, die Nietzsche verkündete. Von der gleichen Art und merkwürdig zukünftig bestimmt ist auch der kleine Vortrag, den Spengler 1924 vor dem „Hochschulring deutscher Art" in Würzburg gehalten hat und der unter dem Titel „Politische Pflichten der deutschen Jugend" erschien. Im Jahre 1931 veröffentlichte er seinen Münchener Vortrag „Der Mensch und die Technik", ein Abschnitt aus einem unvollendet gebliebenen Werk und ein „Beitrag zu einer Philosophie des Lebens", wie der Untertitel lautete. Wiederum in einem entscheidenden Jahr, 1933, brachte er jene Schrift B e n s e , Wesen

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VII. Oswald Spengler oder die Kritik der Geschichte

heraus, die man vielleicht sein zweites Hauptwerk nennen könnte, „Jahre der Entscheidungen, Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung", ein Buch, das deutlich zeigt, wie sehr es diesen philosophisch-politischen Denker mehr und mehr zwingt, aus der abstrakten Geschichtsbetrachtung in die konkrete Wirklichkeit des politischen Augenblicks zu treten. Zuletzt hat Spengler an historisch-morphologischen Untersuchungen „Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends" gearbeitet, die zuerst in einer historischen Zeitschrift erschienen und nun zusammen mit unbekannten und bekannten Reden und Aufsätzen in einem Nachlaßband veröffentlicht worden sind. Aber die innere Geselligkeit dieses Mannes war keineswegs eine wunderbare historische Erinnerung, sie war ganz allgemein, so einsam das äußere Leben auch sich vollziehen mochte, eine geistige Erinnerung weitester Ausmaße. Die geschichtlichen und kulturphilosophischen Auffassungen zwangen ihn, an den gegensätzlichsten Äußerungen der Zeit teilzunehmen. Der Mann, der als einer der ersten politischen Beobachter seiner Epoche gelten muß, schrieb eine Einleitung zu einem Gedichtband; der Mann, der mit Aufmerksamkeit technische Neukonstruktionen und mathematisch-physikalische Arbeiten verfolgte, war zugleich Mitglied der Ostasiatischen Gesellschaft, und als der jugendliche Wolfgang Graeser vor zehn Jahren sich um die Aufführung seiner großartigen Bearbeitung der Bachschen „Kunst der Fuge" bemühte, da war es Oswald Spengler, der als einer der ersten dem jugendlichen Entdecker und Nachformer seine ganze Bewunderung und nicht zuletzt auch Freundschaft angedeihen ließ. Denn Spengler besaß die eigenartige, vielleicht ein wenig gei-

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stige Vorliebe für Musik, die gerne den Philosophen und den Mathematiker auszeichnet; wie für Nietzsche, so bedeutete auch ihm Bizets Carmen die glücklichste Oper, und so schwang also dieses geistige Dasein unaufhörlich zwischen Mathematik und Musik, zwischen Antike und höchster Gegenwart, zwischen reiner Praxis und reiner Theorie hin und, her und war es auch nicht die Universalität der Tätigkeit, etwa im Sinne des Leibniz, die das Leben erfüllten, so doch eine Universalität des Anteils und eine Universalität des Verstehens und des Wissens, die diesen Geist des Ernstes zu einem deutschen und einem abendländischen Ereignis werden ließen. Auf der Weiträumigkeit seiner Bildung beruht seine Erkenntnis, seine Thesis und seine Spekulation. Und tatsächlich kann es im Grunde keine Geschichtschreibung geben, die nicht einem universalen Geiste des Anteils und des Verstehens entstammt. Denn Geschichte, die der Völker so gut wie die der Welt, ist ja nichts anderes als die konkrete Darstellung einer solchen Universalität. Aber solche Universalität ist nur zu meistern, wenn der Geist, der sie bemächtigt, ein konstruktiver Geist ist, konstruktiv in jenem Sinne, in dem die Schöpfung einer Fuge, die Dichtung eines Epos, die Deduktion einer Idee oder der Beweis eines mathematischen Satzes Konstruktivität voraussetzt. Freilich ist es aber dann auch in dieser Universalität begründet, daß es schwer wird, diesen Geist zu fassen, denn ist man auch seiner Konstruktivität inne geworden, so steht man doch noch nicht in seiner Universalität, und nichts ist leichter, als einer Universalität des Geistes auch die Universalität seiner Fehler entgegenzusetzen. Und damit nähert man sich dem schwer zu überblickenden Inhalt eines Werks, zu dessen Geschichte ii*

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auch der Hin- und Hergang zwischen Bewunderung und Verachtung gehört. Denn wer nicht sogleich das Bewußtsein hat, einer Universalität gegenüberzutreten, der wird nur mit Zögern weiterlesen. Er wird die Frage aufwerfen: soll ich Spengler als Philosoph oder als Historiker, als Propheten oder als Wissenschaftler, als Schriftsteller des Tages oder als epochalen Politiker verstehen ? — Als Philosoph wird er zu tatsächlich erscheinen und als Dichter zu sehr methodisch; als Historiker werden ihm Fehler nachgewiesen werden können und als Politiker wird man die konkrete Tätigkeit vermissen; dem Wissenschaftler wird der Mathematiker manche Formulierung als zu locker vorwerfen oder der Arabist manche Unkenntnis aufzeigen und dem Propheten wird der allzu wortgetreue Leser manches nennen, was nicht eintraf und ohne Untergang vorüberging. Und doch wird der Politiker manche Wahrheit der politischen Voraussage eingestehen müssen, wird der Mathematiker die tiefe Bewunderung für die großartigen Verwendungen der Gruppentheorie anerkennen, die erst im letzten Jahrzehnt von anderen Wissenschaften, von Kristallographie und Quantenmechanik bestätigt wurde und muß der Historiker die Wahrheiten unzähliger seiner Analogien unwiderlegbar aufnehmen. Damit aber wird offenbar, daß man dieser Universalität nur universal verstehend und erkennend gegenübertreten kann. Kein anderer neuerer abendländischer Philosoph, Schriftsteller oder Historiker fordert mehr den universalen Standpunkt des Betrachtenden heraus als Spengler, und diese Herausforderung, die gleichsam spontan geschieht, scheint mir doch ein Zeichen zu sein, daß man hier in Wahrheit

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einer Universalität des Geistes begegnet ist. Die konkrete Universalität der abendländischen Geschichte, des Menschen und des Geistes, muß gewissermaßen der Idee nach vorgegeben sein, wenn man Spengler wirklich gegenübertreten will. Denn gerade seinem Werk gegenüber wird jene Homogenität zwischen Betrachter und Schöpfer notwendig, die Absicht und Herkunft eines Werks nicht durch die Absicht und Herkunft des Betrachters aufhebt. Welches aber ist Absicht und Herkunft dieses Werks, welcher Geist ist seinen Thesen adäquat, wie ist die Universalität in ihrem Hintergrund beschaffen, was bedeutet diese Universalität, die doch offenbar mehr ist als bloß Ausdruck eines Wissens ? — Denn ohne Zweifel ist diese Universalität eine ausgerichtete, eine absichtsvolle, eine reflexive Universalität, die Folgen hat für den, der sie trägt und den, der sich ihr stellt. Es ist nicht nur eine Universalität, die den Kosmos des Raumes beschwört in der Fülle und Ordnung des Sichtbarlichen, wie es sich in Begriffen spiegelt, es ist vielmehr eine zeitliche Universalität, die erstmalig jenen schon von den großen Ioniern empfundene Kosmos der menschlichen Zeitlichkeit in seinen Wundern und Schrecken enthüllt. Denn sprach Anaximandros nicht von jener Buße der Dinge, die zu tun sei gemäß der Ordnung der Zeit ? — Und verkündete Herakleitos nicht jenes Feuer, darin zeitlich alles unterginge ? — Der Gedanke aber, daß es eine „Ordnung der Zeit" gebe, dieser eigentliche Gedanke, der die Geschichtschreibung von aller Naturerkenntnis, die die Ordnung des Raumes manifestiert, abhebt, ist es, der die Universalität des weltgeschichtlichen Entwurfs Oswald Spenglers bestimmt, der ihn einfügt in das

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deutsche Werden und ihn gesellig sein läßt vorangegangenen und zukünftigen Geistern. Das Thema Spenglers nimmt das Thema Nietzsches, die „Kultur", wieder auf. Aber während Nietzsches Kulturkritik auf Kultur als Zustand ausging, stellt Spengler die Kultur in der Zeit, also die Geschichte in die Mitte seines kritischen Vorgehens. Damit aber wird Spengler zu einem Antwortgeist Nietzsches: einerseits gibt er mit seiner Untergangsthese die Antwort auf Nietzsches kulturelles Entweder — Oder, ob Europa eine Zukunft oder einen Untergang wolle und andererseits repräsentiert seine philosophierende Existenz vollkommen jenen Geist der Krisis, jenen Geist der Umwertung, die notwendig auf das christliche Entweder — Oder Kierkegaards und das kulturelle Entweder — Oder Nietzsches folgen mußte. Oswald Spengler war also in dem Sinne ein epochaler Geist, daß er nicht eine Epoche des Denkens ermöglicht, sondern eine Epoche darstellt. In seiner Art, die Dinge zu sehen, das Faktum der „Kultur" zwischen Aufgang und Untergang zu bestimmen, erreicht das Wesen einer labilen, zitternden Zeit, seinen tiefsten, gleichsam seinsmäßigen Ausdruck. Niemand kann leugnen, daß mit den ersten Wirkungen Nietzsches, daß mit dem neuen Jahrhundert zugleich allenthalben eine universale Infragestellung kultureller Positionen und Äußerungen einsetzt. Seit 1900 spricht man von der Krisis der Mathematik genau so scharf wie von der Krisis der Physik; man bemerkt einen Zweikampf zwischen psychologischer und philosophischer Mensch- und Weltauffassung; man sieht das Abendland von politischen Wirrnissen erschüttert, die jedes einzelne Volk zu den tiefsten Entscheidungen

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drängt; Religion, Kunst, Theologie — sie alle bestehen zwar in einer schöpferischen Spannung, zugleich aber auch in einer schmerzlichen Reflexion über diese ihre Schöpfungen. Das alles gehört zum Geist der Krisis wie die tausend kleinen Züge zu einem großen Zeitalter. Und wenn in den letzten Jahren für einzelne europäische Völker Entscheidungen gefallen sind, die, Zumindestens politisch, dieser Epoche der Krisis entführen, so bleibt doch für alle Zukunft Spengler und sein Werk der sichtbare Ausdruck für diese Position der Krisis. Denn jede Krisis zeigt die Unentschiedenheit zwischen Ja und Nein, zwischen Kritik und Imperativ, zwischen tiefer Erinnerung an alles Vergangene und zögerndem Glauben an alles Zukünftige oder zwischen vermeintlicher Erkenntnis des Unterganges und kaum eingestandener Geste der Prophetie. Diese innere Zwiespältigkeit liegt aber deutlich wie kaum ein anderer Zug in Spenglers Werk. Der gleiche Geist, der die These des abendländischen Endes und Unterganges aufwirft, liebt es, sich an die deutsche Jugend zu wenden, sie an Pflichten zu gemahnen, die die Idee eines neuen Reiches vorwegnehmen. Die berühmten Eingangssätze „In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen" wollen zwar den „Untergang" beschwören, aber die Methode, die sie ankündigen, das Nebeneinandersehen der Kulturen weist auf etwas hin, das den Untergang eigentlich wieder aufhebt, nämlich auf die „ewige Wiederholung" großer Kulturen. Was Nietzsche als Gang der Welt und als höchstes Glücksgefühl des Einzelnen ansprach, die „Ewige Wiederkunft des Gleichen", das verwandelt sich bei Spengler in die Wiederkehr der Kulturen und

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macht aus der blitzartig empfangenen Idee Nietzsches eine historische Methode. Denn was ist diese „morphologische Identität", von der Spengler immer wieder spiicht, anderes als eine Methode der von Nietzsche verkündeten „Ewigen Wiederkunft" ? — Kulturen werden betrachtet wie große Lebewesen, die ihre eigenen Seelen haben, und wie unübersehbare Monaden ihrem eigenen- Wesen dienen. Kulturen wachsen auf, erleben ihre Höhe, ihre Reife, ihren Mittag und ihren Abend, ihren Untergang. Aber dieser Wandel innerhalb ihres Schicksals, dieses Werden zwischen Morgen, Mittag und Abend verläuft für jede Kultur nach Maßgabe des identisch einen Gesetzes, und so finden sich, betrachtet man sie nebeneinander, in jeder Kultur entsprechende Äußerungen der Tat oder des Geistes, der Politik oder des Stils im Leben und in der Kunst an jeweils der entsprechenden Stelle. „Jede Kultur hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum." Gleichzeitig erscheint in allen Kulturen der Moment, wo die Umwandlung der eigentlichen Kultur in die Sterbephase der Zivilisation sich vollzieht. „In der Antike trägt diese Epoche die Namen Philipps und Alexanders, im Abendland tritt das homologe Ereignis in Gestalt der Revolution und Napoleons ein." So sind zwar in der Zeit die Kulturen wie große zeitliche Nachbarn getrennt, nur der Historiker kann sie nebeneinander im Räume betrachten und wird dann die „morphologische Identität", die großen Analogien innerhalb ihrer Ereignisse bemerken können. Zwischen Untergang und Verheißung, zwischen Verkündigung des Endes und Prophezeiung der Wiederholung schwingt also zuletzt dieser Geist der epochalen Krisis. Denn für die Zeit der Krisis ist nicht der Dichter,

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nicht der Wissenschaftler und nicht der Philosoph die große Gestalt, das willkommene Genie, sondern zuletzt wird in dieser Zeit niemand so heftig herbei gewunken als der Prophet, der im Geiste der Wiederholung denkt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß jene beiden schicksalhaften Gestalten, die das Zeitalter der Krisis durch ihre Infragestellungen und Entweder — Oder heraufführten, daß Nietzsche und Kierkegaard diesen Geist der Wiederholung vorwegnahmen. „Aber was wäre denn auch das Leben, wenn es keine Wiederholung gäbe", ruft der Däne, noch einmal tief religiös gestimmt, aus. Und Nietzsche, auf einer anderen Ebene stehend, setzt gleichsam ergänzend hinzu: „Dies Leben, dein ewiges Leben . . . wohlan, noch einmal!" — Kierkegaard versteht diese Wiederholung religiös, Nietzsche denkt an den Kosmos und glaubt an das große Rad de' Welt, das alles einmal wieder nach oben bringt, er denkt also hier an die Natur, aber Spengler denkt aus dem Gedanken dieser Wiederholung an die menschliche Geschichte, an den Gang der Kulturen. So verwandelt sich denn auch der ursprüngliche Pessimismus nach und nach in einen Optimismus der Warnung vor dem Aufruf der schwarzen und gelben Rassen, und nichts ist im Grunde sonderbarer und eben nur aus dem unentschiedenen Geist der Krisis begreiflich, daß dieser Mann, der den Untergang des Abendlandes methodisch verkündigt, doch eingesteht, daß er die „schmutzige Revolution" von „1918" immer „gehaßt" habe und eine „nationale Umwälzung" herbeisehnte und somit also zuletzt doch nicht ganz außerhalb einer weltgeschichtlichen Hoffnung stand. Universale Geister, man sieht es an Leibniz, und man sieht es an Goethe, geraten gerne in die Jahre des Überganges, in

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die Epochen der Krisis, und so wird auch Spenglers Universalität des Anteils und des Verstehens, von der wir schon sprachen und die nicht verwechselt werden darf mit einer Universalität der Schöpfung, wie sie Leibniz oder Goethe auszeichnete, verständlich aus der gleichsam metaphysischen, schicksalhaften Aufgabe, in seinem Philosophieren der Repräsentant einer Epoche, der Epoche der Krisis zu sein. Der Weg von Kant über Kierkegaard und Nietzsche zu Spengler, der wie kein anderer ein geistiger Weg der Deutschen war, ist nur als Weg einer ungeheueren geschichtlichen Selbstbesinnung begreiflich. Jene Kraft des Denkens, die Erscheinung dessen, was Natur heißt, zu bestimmen und zu schaffen, verwandelt sich bei Kierkegaard in ein Thema, das diesen Menschen vor die Frage C h r i s t oder N i c h t c h r i s t stellt; Nietzsche glaubte einen weltgeschichtlichen Auftrag zu erfüllen, als er den Antichristen wählte, aber mußte doch zugleich sein Volk und das gesamte Abendland vor das k u l t u r e l l e E n t w e d e r — O d e r stellen: christliche oder nichtchristliche Kultur; aber Spengler, ein Antwortgeist, ganz und gar ausgehend vom politischen Nietzsche, nämlich von seinem „Willen zur Macht" stellt mit seiner Untergangsthese einerseits und seiner uneingestandenen Wiederholungsthese andererseits vor das p o l i t i s c h e E n t w e d e r — O d e r , und der Untergang, an den er glaubte, war im Grunde nur die übergroße Vorsicht eines tiefen Methodikers und selbst nur Ausdruck seiner prophetischen Geste, zu der er im Zeitalter der Krisis berufen war. So führt ein Weg von Kant über Kierkegaard und Nietzsche zu Spengler, ein Weg von der Kritik des Denkens, Glaubens und Lebens zum Gericht über den

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Inbegriff aller dieser geistigen und seelischen Äußerungen, zum Gericht über das Abendland. Denken, Glauben und Leben sind die großen wirksamen Mächte in der Geschichte, die geheimen Erregungen aller Geschichte, und so erhebt sich Spengler also geradezu zu einer Kritik der Geschichte. Geschichte ist rückwärtsgewandte Politik, daher rein theoretisch. Bei Spengler wird es offenbar. Seine Konstruktion des Daseins der Völker und Kulturen als Geschichte, die er nicht — wie Hegel — von oben, sondern von unten her unternimmt, die nicht — wie Hegel — vom Weltgeist, sondern von der Erde, vom Leib, vom Blut, von der Rasse ausgeht, wendet sich also ab von Hegel, aber hin zu Nietzsche und denen, die sich ihm verpflichtet fühlen. Es ist eine Lehre, die unsere Geschichtlichkeit zuletzt als Leben, nicht als Geist begreift, daher ist in ihr das Werden teurer als das Sein, aber es ist gerade mit dieser deutlichen Abwendung vom Weltgeist und Hinwendung zur Kulturseele die gesamte menschliche Geschichte unter dem Aspekt des Widerstreites von Geist und Vitalität gesehen. Die Wiederkehr des Leibes und des Lebens, die mit Nietzsche wieder in die Geschichte menschlicher Bewunderungen und Hoffnungen einkehrte, wird hier nicht im Namen der Unmittelbarkeit des Daseins verkündet, sondern im Namen der Geschichtlichkeit dieses Daseins. Dies alles sind die Hintergründe dieser Kritik der Geschichte, dieser letzten Kritik unserer Kultur, die nicht mehr einzelne Züge, wie die Kritik Nietzsches, zum Thema hat, sondern gleich die Kultur in ihrer Ganzheit kritisch betrachtet. Und diese Hintergründe, dieser Umschlag vom Weltgeist zur Kulturseele, vom Geist zur Vitalität, von der Ordnung zur Macht, bedeuten

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eigentlich das Wesentliche, das Entscheidende, das Zeitgemäße im Denken Spenglers. Alle zeitgenössischen Irrtümer, alles Übersehen der eigenen geschichtlich-politischen Gegenwart, wird unter dem Eindruck dieses bei Spengler sichtbar werdenden Entschlusses zur Vitalität und Macht zuletzt bedeutungslos. Er bildet den Abschluß einer Epoche der Kritik, den Abschluß einer Epoche der tiefsten Krisis, die das Abendland bisher heimsuchte und daher mußte er wie kein anderer durch die prophetische Geste ausgezeichnet sein. Zur Macht, zur Vitalität, die Nietzsche verkündete, hat sich Spengler entschlossen; er trieb jene rückwärtsgewandte Politik, die wir Geschichte nennen, ganz Tinter dem Eindruck dieses Entschlusses; aber gerade diese große, letzte Rückwärtswendung in seinem Entschluß hinderte ihn, ein klares Verhältnis zu jener politischen Gegenwart zu finden, die mit dem faschistischen Staatsgedanken die ersehnte Macht, die ersehnte Vitalität politisch wirksam werden ließ. Die Mischung aus Bewunderung und Ironie, die Spengler den faschistischen und nationalsozialistischen Revolutionen in Italien und Deutschland entgegensetzte, macht offenbar, daß es etwas anderes ist, einen theoretischen Entschluß zu fassen oder einem Entschluß praktisch Wirkung zu verleihen. Spengler vermochte nur das erste. Daher konnte er nicht ja sagen zu der sich vor ihm auftuenden Zeit und mußte diese Zeit abrücken von seinem rückwärtsgewandten Denken der Härte und der tödlichen Pflicht. Denn der „Untergang des Abendlandes" war kein ä u ß e r e r , sondern ein i n n e r e r Vorgang, ein Vorgang im Theoretischen, im Denken, und mit Spenglers These hatte er sich vollzogen — und mit seinem Vergessenwerden, seiner Überwindung, seiner Abweisung ging

VII. Oswald Spengler oder die Kritik der Geschichte

dieser „Untergang" vorüber.—Aber auf das Nachdrücklichste hat Spengler nach dem Kriege zur Tat aufgefordert und so war der Pessimismus, mit dem er das Abendland betrachtete, ein schöpferischer, ein zum Widerspruch reizender Pessimismus, der hinter aller Kritik und Absage ein welthistorisches Vertrauen verbirgt, das alle nachfolgenden Denker und Forscher, Techniker und Politiker in ihren Taten ewig rechtfertigt.

DAVID HILBERT ODER DIE RECHTFERTIGUNG DER MATHEMATIK

Was das Erscheinen Hilberts für die mathematische Wissenschaft bedeutete, wird freilich nur der Fachmann ermessen können, aber was er an Notwendigem dem mathematischen Geist erwies, das reicht weit über seine Disziplin hinaus und ist ein geistiges Ereignis ersten Ranges. Seit den Tagen der alten Ionier, der Thaies und Anaximander, der Pythagoras und Eudoxos, die in den großen griechischen Jahrhunderten vor Christus die Grundlagen einer abendländischen Mathematik schufen, schien diese Wissenschaft „mit dem Geist der Ruh aus einem Schoß geboren". Hier gewann das Denken seine höchste Klarheit, seine tiefste Stille und der Logos ruhte gleichsam aus, wenn er jene schmalen mathematischen Pfade entlang ging und im Bereich völliger Gewißheiten verweilte. Am mathematischen Vermögen prüfte der Grieche die Schärfe eines Verstandes, und Kant, der dem Erkennen und Denken ohne Zögern seine Schranken gezeigt hatte, sprach das berühmte Wort, daß Gewißheit nur allein die Mathematik geben könne. Freilich gab es Naturen, die dem mathematischen Geist weniger Vertrauen schenkten; Hegel z. B. war außerstande, Mathematik und Rechnen voneinander zu trennen wie es jener verzwickte Abschnitt „Die Zahl" in seiner Logik beweist; aber vielleicht hat er die unablässige Dunkelheit seines Stils, der es niemals zuläßt, Tiefe und Unklarheit ohne Kummer zu scheiden, gerade durch seine gelinde Angst vor der Mathematik erkauft. Auch Winkelmann, B e n s e , Wesen

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der große Betrachter schöner Künste, war kein Freund der Algebra und der Geometrie. Man weiß, daß er mehr als einmal den großen Geometer Euler lächerlich machte, indes jene Meister der parabolischen Linien, die Venezianer ihre Pokale nicht ohne das Studium der entsprechenden geometrischen Formen entwarfen. Aber doch lag in aller Feindschaft wider den mathematischen Geist etwas von uneingestandener Bewunderung für diese Art eines unbestechlichen Logos, der zu einer Sorgfältigkeit im Gedachten erzieht, die ihresgleichen nicht findet. Wenn es vielleicht auch müßig ist, von einem Vorrang unter den Wissenschaften zu sprechen und mehr als einmal der Mathematik diese Stellung eingeräumt wurde, so ist doch gewiß, daß in der Mathematik am deutlichsten wird, was Klarheit, was Erkenntnisschärfe, was Gewißheit ist. Sofern man also überhaupt denkend, nicht fühlend und nicht ahnend, der Welt, der Vielfalt der Dinge und Geschehnisse gegenübertrat, mußte mit der Vertiefung des Denkens der Wille entstehen, alles Seiende in das große Netz der mathematischen Begriffe und Zahlen, Figuren und Sätze einzufangen; wie ein gewaltiger denkerischer Fischzug mußte jenes logische Unternehmen anmuten, das vielleicht schon mit Piaton begann, als er die Mathematik unerläßlich für den Philosophen ansah und bei Leibniz ein für allemal seine Endgültigkeit gewann, als er deutlicher wie nie zuvor von einer mathesis universalis sprach, einer oberen, umfassenden Wissenschaft, in der alles Seiende seinen Ort gewann in einer einheitlichen Schrift der Begriffe, in einer característica universalis, die alles nannte und beschrieb gemäß der Ordnung der Zahlen. Kann man nun ermessen, was es bedeuten mußte,

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wenn mitten aus dieser beinah vollkommenen Darstellung dessen, was Gewißheit ist, der Zweifel herauswuchs ? — Wurde man nicht wieder an jenen cartesischen Zweifel erinnert, der in seinem Vorhaben so anmaßend war, alles, die ganze Welt, sich selbst, ja Gott in Frage zu stellen ? — War es nicht geradezu teuflisch, daß aus der Mathematik selbst der Zweifel an der eigenen Rechtmäßigkeit heraufstieg ? — War es für den Menschen nicht erniedrigend, sich sagen zu lassen, daß es für ihn, den Erkennenden unter der Ordnung der Wesen, unlösbare mathematische Probleme gäbe, daß in seinen kühnsten mathematischen Unternehmen Wiedersprüche vorhanden seien, die schließlich die gesamte Mathematik bedrohten ? — Die Krisis, in der Kierkegaard das Religiöse, Nietzsche die Kultur und Spengler Politik und Macht erkannten, wiederholte sich nun im Bereich des Mathematischen. — Blickt man heute zurück in jene Zeit des aufsteigenden mathematischen Zweifels, in die der Ostpreuße David Hilbert hineingeboren wurde, so wird man leicht die tiefe Notwendigkeit gewahr, mit der dieser Zweifel kam. Denn der Zweifel ist unvernichtbar wie die Erkenntnis, und zwar ist er der ewige Schatten aller Erkenntnis. Und insofern die Neuzeit seit den Tagen der Luther und Kepler, der Galilei und Kolumbus eine großartige Entfaltung des Geistes der Erkenntnis bedeutet, ist seine Geschichte begleitet von einer beschattenden Geschichte des Zweifels. Begann es nicht damit, daß Descartes alles bezweifelte? — Hatte vorher nicht schon Luther die Kirche fragwürdig betrachtet ? — Hatten Kopernikus und Kepler nicht einem alten Weltbild zweifelnd gegenübergestanden ? — Stieg überhaupt das, was man Neuzeit nennt, nicht selbst aus dem Grund eines universalen 13*

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abendländischen Zweifels herauf? — War Kant nicht kräftig genug, den Zweifel Luthers oder den Zweifel Keplers im Bereich der reinen Erkenntnis zu wiederholen ? — Hatte Kierkegaard nicht das ganze Christentum in Frage gestellt ? — Hatte Nietzsche nicht den gelinden Zweifel am Geist und den machtvollen Zweifel an der Moral und an der Kultur ausgesprochen ? — Die Deutschen scheinen eben so große Zweifler wie Erkenner zu sein und niemanden wird es da verwundern, wenn diese Geschichte des Zweifels, der hier alle Bereiche menschlichen Ausdrucks überspannt, endlich sich zum Zweifel an der Mathematik, zum Zweifel an dem, was als Gewißheit in der Vollkommenheit ihrer Erscheinung bezeichnet wurde, anschickte. So vollkommen der Geist der Erkenntnis, der Geist des einfachen Hinblicks im vergangenen Jahrhundert auch gewesen sein mag, es hat doch den Anschein, als wandele sich das Gleichgewicht der Geister, je mehr sich das Jahrhundert neigt. So wird das 19. Jahrhundert geradezu zum ewigen Gleichnis einer Epoche der Erkenntnis. Zukunftsgestimmt hob es an mit Erkenntnissen und Entdeckungen, rühmte den großen Fortschritt, rühmte das unaufhörlich Neue, aber neigte am Ende doch mehr und mehr dem Geiste der tiefen Erinnerung sich zu. So mächtig auch die exakte Erkenntnis der Mathematik und Naturwissenschaften; die mit dem Philosophen auf die Dinge blickt, als bestünden sie ewig und außerhalb aller Zeit, die Stunde erfüllen mag, zuletzt erreicht doch nach und nach der Geist des rückwärtsgewandten Blicks eine unerwartete Tiefe. Es entsteht der historische Geist, dem es wesentlicher ist, sich mit Liebe zu erinnern, als mit Drang auf die Dinge, auf das Ungesehene hinzublicken.

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Hegel hatte diesen Geist der Erinnerung, diesen historischen Geist mit Macht eingesetzt. Daß es überhaupt ein Werden der Dinge, Begriffe und Ideen gibt, das schien ihm Abglanz der Tatsache zu sein, daß es ein kosmogonisches Gesamtbewußtsein gäbe, in dem eigentlich alle Entwicklung sich vollzöge und daß die Wissenschaft nichts anderes als begriffene Geschichte, die Erinnerung und Schädelstätte des absoluten Geistes sei, dem „nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches seine Unendlichkeit schäumt", wie man gesagt hat. Das Philosophieren wird Epigonentum, schaut in die Tiefen des Gewordenen und erkennt das schöne Wunder der Entfaltung. Damals kam der Ruf auf, daß auf Kant zurückgegriffen werden müsse, wenn man richtig denken wolle, und Dilthey war der Meinung, daß es eine neue Philosophie nicht mehr geben könne und daß nur noch das Studium ihrer Geschichte lohne, denn einzig und allein — dies war sein bedeutungsvollstes Wort — durch die Geschichte erfahre der Mensch Antwort auf seine heißeste Frage, nämlich was er eigentlich sei. Mußte da nicht auf der Höhe der mathematischen Erkenntnis, noch im Banne eines Gauß, aber schon in der Spekulation des stillen und scheuen Hallenser Mathematiker Georg Cantor, der das Unendliche mathematisch zu beherrschen lehrte, die Mathematik selbst auf einmal sich ihres Ursprungs erinnern und ihre scheinbare Vollkommenheit an ihrem Anfang, an dem ersten mathematischen Lehrbuch des abendländischen Geistes, am alten Euklid messen? — Inmitten eines wundervollen Gebäudes, das eben feitig, eben vollkommen schien, erkannte der Mathematiker plötzlich Risse, Widersprüche, durch die das ganze Werk hinfällig schien. Denn die Mathematik ist eine Wissenschaft, die als Ganzes

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ein geschlossenes System von Sätzen, Aussagen darstellt, derart, daß ein Satz den anderen bedingt und das Auftreten eines einzigen Widerspruchs die Hinfälligkeit des Ganzen nach sich zieht. Aus zwei Arten, Klassen von Aussagen oder Sätzen baut der Mathematiker seine Wissenschaft. Zur ersten Klasse gehören die A x i o m e , die Grundsätze, die eingesehen werden müssen, die aber nicht bewiesen werden können und die vollkommen einsichtig sind. Zur zweiten Klasse aber gehören alle jene Sätze, die als L e h r s ä t z e , als Theoreme aus den Axiomen oder Grundsätzen a b g e l e i t e t , g e f o l g e r t werden können. Diese Folgerung oder Ableitung der Lehrsätze aus den Grundsätzen erfolgt nach Anwendung gewisser Regeln, die man als „Regeln des Schließens" bezeichnet hat. So bildet die Mathematik tatsächlich ein geschlossenes Ganzes, und jeder neue Satz, der über Zahlen oder Figuren etwas Neues aussagt, muß sich in dieses Ganze einfügen, d. h. er muß aus den Grundsätzen ableitbar sein nach den Regeln des Schließens. Widersprüche, die auftreten, verhalten sich hier wie Risse in einem Haus, sie können das Ganze zu Fall bringen. Man kann sich also leicht vorstellen, was es bedeutete, als kurz nachdem Cantor seine Lehre von den unendlichen Mengen aufgestellt hatte, die Widersprüche aus dem 2000 Jahre alten Bauwerk der Mathematik nur so hervorquollen. Die Gewißheit selbst in der Vollkommenheit ihrer Erscheinung auf Erden schien brökkeüg, im Namen Euklids, dem Vater der mathematischen Ordnung, mußte eine neue Revision der gesamten Mathematik verlangt werden. Aber nicht nur Widersprüche waren es, die das stolze Gebäude der Mathematik Ende der neunziger Jahre des

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vorigen Jahrhunderts bedrohten. Dazu kam noch etwas ganz anderes. Euklid hatte dem Abendland ein Gefüge von Grundsätzen und Lehrsätzen geschenkt, aus dem die besten Mathematiker eine Unzahl wesentlichster und merkwürdigster Sätze gefolgert hatten. Die mathematische Schöpfungsfähigkeit der Jahrhunderte seit Euklid und vor allem aber seit Leibniz war so kräftig, daß man des Ursprungs kaum gedachte, obwohl es in den Grundlagen, die Euklid gegeben hatte, einen Punkt gab, der dunkel ist. Euklid, der um 300 v. Chr. lebte, hat in seinen berühmten 13 Büchern der „Elemente , die gesamte Mathematik seiner Zeit aus 3 5 Definitionen, 3 Postulaten und 12 Axiomen aufgebaut. Darunter findet sich nun folgender merkwürdiger Satz, der zugleich als Postulat und als Axiom erscheint: Und wenn eine Gerade zwei andere Gerade trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind, sollen jene beiden Geraden, ins Unendliche verlängert auf der Seite Zusammentreffen, auf der die Winkel liegen, die kleiner als zwei Rechte sind.

Für den Nichtfachmann wird dieser Satz sofort verständlich, wenn man seinen Inhalt in die Aussage faßt, daß zu einer G e r a d e n durch einen nicht auf ihr l i e g e n d e n P u n k t stets nur eine Parallele zu ziehen sei. Die Bedeutung dieses Satzes ist nun bei Euklid nicht ganz klar. Man erkennt nicht recht, ob er ein Axiom, also unbeweisbar, oder ein Lehrsatz, also aus den anderen Sätzen beweisbar, ableitbar ist. Euklid hat dem Satz rein äußerlich zwar die Stellung eines Axioms angewiesen, aber seine Ähnlichkeit mit anderen Sätzen legten doch den Gedanken nahe, daß es sich hier um einen ableitbaren Lehrsatz handelt. So wird es also durchaus begreif-

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lieh, daß die Versuche, dieses sog. Parallelenaxiom als Satz zu b e w e i s e n , beinah ebenso alt sind wie die „Elemente" Euklids selbst. Gauß war es vorbehalten, als erster die Lösung des Rätsels zu finden. Es wurde gleichsam sein verschwiegener mathematischer Gipfelgedanke, daß eine Geometrie, ein Gefüge von Lehrsätzen und Axiomen denkbar sei, die alle e u k l i d i s c h e n Annahmen voraussetzt, aber an Stelle des Parallelenaxioms ein haargenau e n t g e g e n g e s e t z e s fordert. Gauß hat über diese der euklidischen G e o m e t r i e entgegengesetzte nichteuklidische G e o m e t r i e nichts veröffentlicht. Den Ruhm als erste den Gedanken der nichteuklidischen Geometrie in Form von Abhandlungen veröffentlicht zu haben, teilen sich der Pole Lobatschefskij und der Ungar Bolyai. Was bedeutet nun der Entwurf der Möglichkeit nichteuklidischer Geometrien für den mathematischen Geist ? — Hatte man einst geglaubt, aus Euklids Axiomen und Lehrsätzen ließe sich das ganze Gebäude der Mathematik entwickeln, so lernte man jetzt erkennen, daß das nicht der Fall sei, sondern daß man verschiedene Axiomsysteme annehmen konnte, zu denen verschiedene Geometrie, verschiedene Gebäude mathematischer Lehrsätze entwickelt werden konnten. Erwies sich die Mathematik bisher als die sichtbar gewordene Gewißheit, so zeigte sich nun auf einmal, daß es mehrere verschiedene, ja entgegengesetzte Gewißheiten geben konnte. Aber war damit eigentlich nicht der Geist der Gewißheit, der unbedingten Gewißheit getötet ? — Die Weiterentwicklung der Lehre von den Zahlen zu den unendlichen Zahlen durch Cantor 1845—1918 hatte im Gebäude der Mathematik Widersprüche auftreten lassen, und die Weiter-

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entwicklung der Lehre von den geometrischen Figuren hatte zu der Einsicht geführt, daß mehrere verschiedene Arten von Geometrie möglich seien, ohne daß innerhalb der einen oder innerhalb der anderen Widersprüche auftreten. So wurde die Mathematik in eine Krisis gestürzt, die alles Vertrauen auf klares und rechtes Denken entwurzelte und wieder einmal vernahm man jenen tödlichen Wind des Geistes, der unaufhörlich ins Ohr flüstert, daß wir nichts wissen können. Es bedurfte also eines Geistes, der diese Verwirrung der Mathematik, die einer Verwirrung des Logos gleichkam, auflöste; es bedurfte eines Geistes, der die Widersprüche aufhob, neue Grenzen des Mathematischen setzte und die vielen verschiedenen Geometrien aus neuen Axiomen, die unbedingt, gewiß, unverrückbar, mächtig und ausnahmslos waren, herausentwickelte. Euklid fand eine Fülle mathematischer Sätze vor, die von den verschiedensten alten Mathematikern aufgefunden waren; er brachte diese Sätze in ein geordnetes System, das 2000 Jahre lang der Inbegriff des Mathematischen schien. Nun aber kam Hilbert und fand nicht einfach Sätze vor, sondern ein Wirrsal verschiedener Geometrien, und wie Euklid der erste O r d n e r mathematischer Sätze war, so wurde über 2000 Jahre nach ihm Hilbert zum ersten O r d n e r der e n t w i c k e l t e n mathematischen Systeme, zum ersten Ordner der verschiedenen Geometrien, die aus dem .Schoß eines Geistes der Klarheit und Gewißheit aufgeschossen waren. Was Euklid für die Mathematik des Altertums, für die Mathematik der Pythagoräer und Ionier, der Ägypter und Alexandriner war, das ist Hilbert für die Mathematik der Neuzeit, für die Mathematik der Gauß und Cantor, der Lagrange und Laplace,

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der Klein und Weyerstraß geworden, das große geistige Sammelbecken, in dem der alte Geistkristall des Mathematischen in neuer Gestalt aufglänzt. Noch einmal bewies sich hier das alte Kennzeichnende des deutschen Geistes, das bei Leibniz so entscheidend gedacht worden war, die Kraft Ordnung zu setzen unter den Dingen, gleichgültig ob sie in der Wirklichkeit oder im Gedachten bestanden. Wie setzt nun David Hilbert Ordnung unter der Vielzahl an Geometrien, die als möglich erkannt waren ? — Wie sehen jene Gründe des Logos aus, daraus er die neuen Axiome und Definitionen aller Geometrien heraushebt ? :— Wie sieht bei Hilbert jene „absolute Geometrie aus, deren Name seit Bolyai ein Gefüge von Sätzen bezeichnet, die ohne Verwendung des berühmten Parallelenaxioms beweisbar sind und also gleichzeitig in der euklidischen und nichteuklidischen Geometrie gelten ? — Das Werk, in dem Hilbert als ein moderner Euklid wieder Ordnung stiftet unter den Geometrien, trägt den bescheidenen Titel „Grundlagen der Geometrie". Die Arbeit erschien zuerst als Beitrag zur Festschrift anläßlich der Enthüllung des Göttinger Gauß-Weber-Denkmals. Seither aber folgte Neuauflage auf Neuauflage, und das bescheidene Werk, aus dem alle Bemühungen der sog. Hilbertschen Schule zu Göttingen entspringen, die gesamte Mathematik auf ihre innere Sicherheit zu durchmustern und sie neu aus den geringsten Fundamenten zu begründen, wurde eines der am meisten gelesenen mathematischen Werke der Neuzeit. Denn der mathematische Geist tritt in diesem Buch eigentlich aus seiner engeren Disziplin, der Mathematik, heraus; die Forderungen, die hier erhoben werden, gehen nicht nur den

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Mathematiker an, sondern wenden sich an den gesamten deutschen und abendländischen Geist. Jenes Volk tauge nicht viel im Dasein, das keine Mathematik betreibe, hatte einst Scharnhorst gesagt. Man kann hinzufügen, daß es um den Geist, um den Logos schlecht steht, wenn die Mathematik, diese reinste Verwirklichung des Logos, nicht mehr auf gesicherten Gründen steht und die Mathematiker nicht mehr ein noch aus wissen in der Fülle ihres Wissens. Der Mathematiker ist von jeher daran gewöhnt, bei seinen Beweisen das geringste an Gewißheit vorauszusetzen. Hilbert hat eingesehen, daß aber noch viel zuviel vorausgesetzt worden ist und so geht seine ganze Absicht dahin, die Mathematik auf die tiefste aller möglichen Grundlagen zu stellen. In diesem Sinne muß das Wort, das man immer wieder neben dem drohenden Begriff einer „Grundlagenkrisis der Mathematik" vernimmt, muß die „Tieferlegung" der Mathematik verstanden werden. Von Descartes und Leibniz übernimmt Hilbert den Glauben an eine allgemeine Weltmathematik. So ist er grundsätzlich davon überzeugt, daß alles Gedachte zuletzt sich mathematisch darbiete, sich dem Mathematischen unterordne. „Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der aromatischen Methode und damit unmittelbar der Mathematik." Darin liegt des Descartes Gedanken an eine allgemeine Einheitswissenschaft, aus der alle übrigen entwickelt werden können und darin liegt vor allem auch jene Idee der mathesis universalis, jene Idee der characteristica universalis, die Leibniz ersann und darin jedem Gedachten ein bestimmtes Zeichen zugeordnet werden könne,

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derart, daß die Verknüpfving von Zeichen auch Verknüpfungen von Gedachtem entsprächen. Aber indes wir uns der Herkunft der Hilbertschen Grundgedanken erinnern, tritt schon das Radikale in Hilberts mathematischer Methode vor unsere Augen. Leibniz sprach ausdrücklich davon, daß die Zeichen f ü r Gedachtes stünden, daß also ein System von Zeichen auch einem System von Gedachtem entspreche. Aber Hilbert ist ein Geist geradezu fanatischer Abstraktion, und so kümmert er sich nicht mehr um diese Leibnizsche Zuordnung zwischen Gedachtem und Zeichen, kümmert sich auch nicht mehr um die Warnung Kants, daß Begriffe ohne Anschauung blind und hinfällig seien. Nein, Hilbert fängt zwar geistig bei Leibniz und Kant an, aber er macht die Kritik Kants an Leibniz, daß dieser zu sehr auf das reine Spiel des Denkens baue, wieder zunichte, entäußert sich aller Anschauung, entäußert sich alles Konkreten und alles Bedeutungsvollen, sieht keine Zuordnung mehr zwischen Gedachtem und den dafür gesetzten Zeichen, sondern sieht nur noch das leere, bedeutungslose System von Zeichen. Er vollendet also die Abstraktion, die schon bei Leibniz so kühne Höhen bevorzugte, und überhört er auch einerseits die Forderung Kants, daß die Begriffe zugleich eine Anschaulichkeit haben müßten, also etwas, wofür sie in der Erfahrung gälten, so vollendet er doch auf der anderen Seite gerade Kants Rückzug des Erkennens auf das, was der Mensch, der Erkennende a priori selbst setzt, und läßt seine Mathematik ganz und gar an den reinen Zeichen, die ja zunächst nichts bedeuten — bedeutungsfrei sind, wie die Mathematiker sagen — anfangen. Für Hilbert ist also alle Mathematik an ihrem Anfang wie das gewaltige Weltspiel eines reinen Geistes;

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die Zeichen sind den Figuren eines Schachbretts vergleichbar, denn dort wie hier wird nur nach Maßgabe von Regeln hantiert, die ihnen, den Zeichen oder Figuren, zugeordnet sind. Sehr schön kommt dieses große Weltspiel in den berühmten und schon klassisch gewordenen Sätzen zum Ausdruck, mit denen Hilbert sein Werk beginnt: Wir denken drei verschiedene Systeme von Dingen: die Dinge des ersten Systems nennen wir P u n k t e . . d i e Dinge des zweiten Systems nennen wir Geraden . . . , die Dinge des dritten Systems nennen wir Ebenen . . .

Freilich sind die Ausdrücke Punkte, Gerade und Ebenen nur Namen für die Verschiedenheit dieser Zeichen die gedacht sind, aber wollen keineswegs wirklich eine anschauliche Gerade, einen anschaulichen Punkt oder eine anschauliche Ebene bedeuten. Wie nun der Sinn der Schachbrettfiguren nicht dadurch zustande kommt, daß die eine bildlich einen König, die andere bildlich eine Dame oder noch eine andere bildlich einen Turm darstellt, sondern dadurch, daß für die als König bezeichnete Figur diese, für die als Dame bezeichnete Figur jene und für die als Turm bezeichnete Figur wieder noch andere Spielregeln gelten, so bestimmt sich auch der Sinn dieser als Punkte, Geraden oder Ebenen benannten Systeme von Dingen nicht durch anschauliche Vorstellungen von diesen Dingen, sondern durch Axiome, die angeben, wie mit diesen Systemen von Dingen operiert werden könne. Dieses Hilbertsche „Wir denken" bedeutet also nicht, daß wir diese Systeme von Dingen anschaulich, bedeutungsvoll denken, sondern nur, daß sie unter Umständen „existieren", die durch Axiome, also durch Grundsätze, durch Bestimmungen festgelegt sind.

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Die Grundlagen der Geometrie, dies wäre also Hilberts Meinung, bilden ein System von höheren Spielregeln (Axiome), die für Zeichen, die zwecks Unterscheidung durch die verschiedenen Namen Punkt, Geraden und Ebenen sprachlich getrennt sind, gelten sollen. Wie nun beim Schachbrett die aufgestellten Figuren — sie entsprechen bei Hilbert den Zeichen, die „Wir denken" — zum Spiel nach Regeln herausfordern, so verlangen auch diese Zeichen ein Spiel, innerhalb dessen sie gemäß bestimmter Regeln zum Thema der Betrachtung gemacht werden. Wir denken die Punkte, Geraden, Ebenen in gewissen gegenseitigen Beziehungen,

so heißt es bei Hilbert nun weiter, und damit ist also eigentlich das Spiel eröffnet. Beim Schach dürfen keine falschen Züge gemacht werden. Im mathematischen Spiel muß darauf geachtet werden, daß innerhalb der Beziehungen aller Zeichen keine Widersprüche auftreten, denn diese Widersprüche würden, wie der Philosoph Oskar Becker sie deutet, das Formelspiel vorzeitig abbrechen. Das Operieren mit den mathematischen Zeichen vor einem vorzeitigen Abbrechen zu bewahren, dies allein ist also der Sinn jener Forderung, die nun Hilbert an sein System von Zeichen und Axiomen stellt, jene Forderung, die für das Formelspiel unbedingte Widerspruchsfreiheit verlangt. Was also haben Hilbert und seine Schüler und Mitarbeiter zu tun, wenn sie die Mathematik wieder als den großen Geist absoluter Gewißheit einsetzen wollen ? — Erstens müssen alle Zeichen, alle Symbole, die in der Mathematik und der Logik Verwendung finden (Zeichen

VIII. David Hilbert oder die Rechtfertigung der Mathematik

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für „Verneinung", für „Enthalten sein in" usw.) gesammelt werden; zweitens müssen alle Kombinationen — entsprechend den Schachzügen — die aus diesen Zeichen möglich sind und sinnvolle mathematische Aussagen ergeben, aus diesen Zeichen formelmäßig hergestellt werden; drittens aber muß ein Konstruktionsverfahren angegeben werden, das gestattet, alle Formeln herzustellen, die mathematischen, inhaltsvollen Aussagen entsprechen; viertens aber muß dieses Konstruktionsverfahren e n d l i c h , f i n i t sein. Ist die ganze Mathematik auf diese Weise aus den anfänglichen Zeichen aufgebaut, dann ist sie widerspruchsfrei und inhaltlich richtig, und kein zukünftiger Mathematiker braucht zu fürchten, daß seinen Beweisen, trügerische Schlüsse zugrunde liegen. Es ist möglich, aus der bedeutungsfreien Axiomatik sämtliche Typen von Geometrien in ihrem Aufbau und in ihrer Bedingtheit klarzustellen. Durch bloße Weglassung gewisser Axiome, aus jenen 5 Gruppen, mit deren Hilfe Hilbert seine Mathematik aufbaut, ergeben sich mühelos jene Formen von Geometrien, die man z. B. die nichteulkidische (darin die Winkelsumme in einem Dreieck n i c h t gleich 180 Grad ist, wie man es auf der Schule für die euklidisch-anschauliche Geometrie lernte) oder die nichtarchimedische Geometrie nennt (darin es durchaus — im Gegensatz zur archimedischen Geometrie — unendlich große oder unendlich kleine Strecken gibt, ohne daß in der Rechnung Widersprüche auftreten). Auch die berühmten Paradoxien der Mengenlehre, Widersprüche, die beinah das ganze System der unendlichen Zahlen Cantors zu Fall gebracht hätten und die wir hier einzeln nicht nennen wollen, heben sich auf, wenn man Hilberts axiomatische Grundlegung der Mathematik be-

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folgt. Denn daß der Begriff des Unendlichen in seiner Dunkelheit Platz genug hat für Widersprüche, das ist ohne weiteres einsichtig. Cantor hatte den Begriff der Menge folgendermaßen definiert: Eine Menge ist eine Zusammenfassung bestimmter wohlunterschiedener Objekte unserer Anschauung oder unseres Denkens — welche die Elemente der Menge genannt werden — zu einem Ganzen.

Logiker und Mathematiker haben nun aus dieser Definition eine ganze Reihe von Mengen entwickelt, die sich zwar scheinbar leicht aus dieser Definition ergeben, aber doch Widersprüche enthalten. Eine solche Menge ist z. B. die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten. Zunächst ist nicht einzusehen, warum diese doch rein begrifflich mögliche Menge nicht existieren sollte. Beim näheren Zusehen entpuppt sich diese Menge aber doch als ein Gebilde, das genau so unmöglich, so widerspruchsvoll ist, wie etwa ein viereckiger Kreis. Eine Theorie aber, die solche widerspruchsvollen Mengen zu bilden gestattete, konnte doch zuletzt keine Gewißheit mehr geben, sie konnte nur ein matter Abglanz jenes uralten Vertrauens zu den Zahlen übrig lassen, ja vielleicht war diese Lehre von den Mengen überhaupt unsinnig. Wieder kam hier Hilbert und rettete ein ganzes mathematisches Gebäude vor dem Verfall. Wieder galt es, die einfachsten Axiome zu finden. Es wurde nicht von vornherein eine Definition dessen gegeben, was eine Menge sei. Nein, es wurden Axiome eingeführt für Mannigfaltigkeiten von gewissen gleichen Elementen. Und indem sich die Elemente genau nach den Axiomen zu richten hatten, erhielten die Mengen erst durch die Axiome

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Seinsfähigkeit, Rechtmäßigkeit. Es gelang Hilbert, die Axiome so zu wählen, daß innerhalb der Lehre von den Mengen überhaupt keine Widersprüche auftreten konnten. Wieder war damit die Forderung der Widerspruchsfreiheit als des Kriteriums aller wirklichen Mathematik erfüllt. Damit erreicht in Hilbert der mathematische Geist eigentlich einen Gipfelpunkt überhaupt. Hatte Kant einst gesagt, Gewißheit gibt allein die Mathematik, und hatte die mathematische Grundlagenkrisis, die ausbrach, als sich plötzlich die Möglichkeit verschiedener Geometrien und widerspruchsvoller Mengen offenbarte, mächtig an diesem Kantschen Glauben gerüttelt, so rettete Hilbert diesen Glauben an die Macht des Mathematischen und fügt hinzu: nicht nur G e w i ß h e i t gibt allein die Mathematik, sondern auch Sein gibt diese Mathematik. Denn insofern etwas ist, ist es notwendig widerspruchslos und so verleiht die Aufdeckung des Widerspruchsfreien im Gedachten zuletzt diesem Gedachten den Rang des Seins. Pythagoras ist damit in diesem noch immer nicht ganz beendeten Unternehmen Hilberts, die gesamte Mathematik widerspruchsfrei aus neuen Axiomen zu entwickeln, wieder lebendig, Pythagoras, der um 500 v. Chr. in Samos gelehrt hatte, daß das Wesen aller seienden Dinge nichts anderes als die Zahl sei; Piaton spricht auf einmal wieder laut und vernehmlich in diesem Streit der Geister um die Aufrichtung der Glorie des Mathematischen mit, Piaton, der der Meinung war, daß es ein ewiges Reich der Ideen gäbe und daß diese Ideen sich wie das Gute in der Eins überhaupt auseinander entfalteten wie jede Zahl aus der vorangehenden. So ist also Hilbert jener Sammelgeist, indem sich das geistige Abendland in seiner langen Herkunft gegenwärtig ein Stelldichein gibt; alle, die für den B e n s e , Wesen

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deutschen Geist, für das deutsche Philosophieren etwas bedeuteten, haben sich hier getroffen und werfen in diesem Kampf um die Rechtfertigung der Mathematik ihre verwerfenden oder fördernden Gedanken in die Schale. Er ist nicht nur ein Euklid der Mathematik, ein Geist der Ordnung, der alle alten und neuen Ergebnisse in einem übersehbaren Axiomsystem für alle Zukunft sammelt und fügt, Hilbert ist auch ein Kant der Mathematik, indem er ihre Grenzen setzt. Denn geht auf der einen Seite sein mathematischer Wille, seine mathematische, also seine exakte Spekulation weit über Kant hinaus, indem sie sich in einem Medium bewegt, wo die Abstraktion jenen Grad erreicht, der kein Bild, keine Anschauung mehr übrig läßt und wie Leibniz jene schöne Freiheit des Gedanklichen liebt, so ist dieser mathematische Wille auf der anderen Seite doch mit Kant einig, daß die Kraft des inhaltlichen Denkens, die Kraft des bildhaften, anschaulichen Denkens endlich beschränkt sei. Überall wo der Mathematiker verführerisch auf das Unendliche hinweist und es in einem übersehbaren Gebäude von Zeichen einfangen möchte, erhebt Hilbert seine warnende Stimme und betont, daß das Unendliche z w a r in F o r m r e i n e r Z e i c h e n zugängig sei, aber n i e m a l s w e s e n h a f t , inh a l t l i c h erfaßt werden könnte. Ist das nicht der Gedanke Luthers, daß das Denken nicht Gott erreichen könne, sondern nur der Glaube, übersetzt ins Mathematische ? — Ist das nicht der Gedanke Kants, daß das Erkennen nicht über das Sinnliche hinausschreiten könnte, angewendet auf die mathematischen Gegenstände ? — Der deutsche Geist schwankt immer zwischen der Hoffnung, das Unendliche zu denken und der Einsicht, daß dies nicht gelingen könne. Dieses Widerspiel des Den-

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kens nährt Dichtung und Philosophie, Theologie und Mathematik. Aus dem Anfang des Nachdenkens über Ordnung und Wesen der Welt, aus dem Morgen der Entfaltung deutschen Geistes schwang dieser geheime Zweikampf des Denkens bis in diese Gegenwart herüber, Protest und Überschwang, Erinnerung und Prophetie, Kritik und Forderung hat er bestimmt, und wenn kürzlich ein großer Mathematiker sagte, Mathematik sei die Wissenschaft vom Unendlichen, so hat er im Grunde das stillste Bemühen deutschen Geistes zum Ausdruck gebracht, wie es unvernichtbar vor allem Zukünftigen steht.

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NACHWORT In der Sphäre des Geistes ist das Sein mehr als das Werden, und so wird uns hier gestattet, den Unterschied zwischen Lebenden und Toten unauffällig aufzuheben und das scheinbar interesselose Nebeneinander in einer geräumigen Historie nach und nach in die leichte Geselligkeit eines mittelbaren Zwiegesprächs zu verwandeln, das ein Jüngerer immer mit Verachtung oder Bewunderung zu beginnen vermeint, während in Wahrheit nur ein Gedanke oder ein Wort des Älteren in ihm wirkt. Wo das Geistige das ausgezeichnete Faktum der Bildung ist, will sich ein Geist im anderen aussprechen, will er seine Gedanken in einem anderen zu Ende denken, gleichsam so, als bedeute das Leiden der Welt nichts anderes als die Unvollendung eines Gesprächs oder eines Gedankens. So ist es zwar eine nachlassende Spannung im Schöpferischen, wenn das Ohr so tief in die Zeiten hineinlauscht, daß der eigene Mund schweigt und jenes Volk ist verloren, das nichts Unwägbares hinterläßt, aber es ist ein Vorbote des Verfalls aller Bildung und des Niveaus, wenn man nicht mehr hinhören kann und ein ferner Gedanke keine Möglichkeit der Vollendung findet. Denn dreifach ist das Verhältnis des Geistes zur Zeit. Weit rückwärts streicht sein Blick, mit einer Langmut und Sanftheit, die gleichnislos ist, ruht dort in einem ganzen Zeitalter aus, gewinnt die Größe einer welthisto-

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rischen Gestalt, berauscht sich an Mächten und Wundern, stillt sich am Urwort und findet den Gott. Oder er ist wie ein Kind der Zukunft verfallen, ahnt und bestimmt die neuen Gesetze, sieht den zukünftigen Menschen und das zukünftige Glück, glaubt nicht mehr, sondern erschafft, hat viel vergessen, um viel zu geben, löst sich von alten Tafeln und wächst, frei und allein, einem Mittag entgegen, den auch er vielleicht einmal teilt. Und schließlich gibt es den Geist, der keine Zeit mehr kennt, der die Zeit, den Vorübergang aus den Dingen auspreßt wie einen tödlichen Saft, und der zwar alles in die Kälte der Abstraktionen stellt und hier Erkenntnis auf Erkenntnis, Schöpfung auf Schöpfung türmt, aber nicht mehr dahinschwinden sieht und nie in der Trauer des Abschieds ist. Der Geist der Erinnerung, der die Historie mehr liebt als die Natur, und der Geist des Imperativs, dem die Vergangenheit wenig, aber die Zukunft alles bedeutet, sind aufgehoben in einem Geist des stillen Hinblickens, einem Geist der reinen Erkenntnis, der stets das Gegenwärtige genießt und mit Zeichen und Dingen hantiert, als hielte er das Ewige in den Händen. Erinnerung, Prophetie und Erkenntnis schwingen so in uns mit, wenn wir vom Historiker, Philosophen und Mathematiker sprechen, und der Geist, der sich in ihrem Sprechen vollendet hat, muß in jener tieferen, allgemeineren und fröhlicheren Philologie stets gegenwärtig sein, die eine unaufhörliche Zwiesprache mit einer großen Gestalt der Vergangenheit bedeutet. Bildung ist, an dieser Zwiesprache der Geister teilzuhaben, genau zu hören, Flut und Ebbe, Zorn und Milde des Gedachten sorgsam zu scheiden, nicht zu vergessen, was seiner Natur nach unvergeßlich ist und über den leiblichen Tod hinaus den

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Nachwort

großen Dialog über die Dinge nicht abbrechen zu lassen und mitzudenken, wo uns mitzuleben nicht mehr vergönnt war. Freilich ist kein solches Zwiegespräch einsam; über Ebenen und Abgründe der Historie hinweg mischen sich tausend Geister ein, summen, sagen, zürnen und erbeben mit; und tot wäre der Mund, der nicht ein Wort, einen Begriff hineinwürfe, an deren Leichtfertigkeit sich gerade die Aspekte entzünden, erst brutal, erschreckend, dann aber in Weiten und Tiefen leuchtend, die unübersehbar schienen. Mächtig wird ein Volk dadurch, daß sein Leib stark ist, aber groß wird ein Volk dadurch, daß es an der Zwiesprache der Geister über der Geschichte teilhat und einer zukünftigen Erinnerung jene Fröhlichkeit und Unermüdlichkeit überliefert, mit der sein Geist selbst in die Zeiten sprang.

Wir sprachen davon, daß der deutsche Geist es liebt, tief an die Zukunft zu denken; wir fanden den Blick aufs Zukünftige in allen Protesten wieder, die von Luther, über Kant bis zu Nietzsche erhoben wurden — im Namen des zukünftigen Seins, der zukünftigen Denker erhoben wurden. Das unablässige Kreisen um Bild und Begriff des Unendlichen gehört diesem zukünftigen Geist an, Und insofern die Krisis der Mathematik, die mit Gauß und Cantor, d. h. mit der Nichteuklidischen Geometrie und der Lehre vom Unendlichen heraufkam, die Zukunft des mathematischen Geistes bedrohte, mußte hier Klarheit gesetzt werden durch einen Geist der Ordnung und der Kritik. Die Ordnung Hilberts bestand darin, daß er die tieferen Axiome aller Mathematik auffand, die Axiome, indem sich nicht nur alle mathematischen Sätze, sondern

Nachwort

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auch alle mathematischen Systeme trafen. Und die Kritik Hilberts bestand darin, daß er aufwies, wie das Unendliche zu denken sei, nämlich bloß formal, nicht inhaltlich, anschaulich. So vereinigt er also das Unendlichkeitsdenken und das Endlichkeitssein des deutschen Geistes in den wenigen Gedanken, auf denen er die Mathematik aufbaut. Er zeigt, daß die Liebe zum Unendlichen, die hier zu Hause ist, nicht mit der Klarheit davonzulaufen braucht. Die Größe der Mathematik besteht darin, daß sie das Unendliche denken kann, aber die Grenze der Anschauung besteht darin, daß sie dieses Unendliche nicht anschauen kann. Gibt es eine schönere, gewissere Einsicht, daß alles Endliche tief im Unendlichen ruht, ewig an dessen Tore pocht, aber doch nicht hineinblicken kann in jene Landschaften, die sich mit diesen öffnen ? —

SCHRIFTTUM MARTIN LUTHER (1483—1546), Werke: Herausgegeben von O. Clemen, 8 Bde. (Die vollständige Weimarer Ausgabe aller Schriften umfaßt bis heute 60 Foliobände.) Vor allem: An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (1520). Bibelübersetzung von 1521—34, 1522 Neues Testament, 1534 Neues und Altes Testament, Neuherausgabe durch Luther selbst 1541. Schriften über Luther: H. Boehmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, 1918; H. Leisegang, Luther als deutscher Christ, 1934. K . Holl, Ges. Aufsätze I (Luther), 1932. JOHANNES K E P L E R (1571—1630), Werke: Mysterium cosmographicum (1596); Astronomia nova (1609) und Harmonice mundi (1619). Diese drei Werke übersetzt und eingeleitet von M. Caspar, erschienen im Verlag R. Oldenbourg. Schriften über Kepler: A. Speisers Gedenkrede in „Die mathematische Denkweise" (1933) bringt Keplers Verhältnis zur Mathematik, Theologie und Astrologie in einen übersehbaren Einklang und begreift K. nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch geisteswissenschaftlich. Roßnagel, Johann Keplers Weltbild und Erdenwandel, 1930. M. Caspar u. W. v. Dyck, Joh. Kepler in seinen Briefen. Oldenbourg, München 1930. M. Caspar, Keplers wissenschaftl. und philos. Stellung. Oldenbourg, München 1935. M. Caspar, Bibliographia Kepleriana, 1936. Diese Ubersicht nennt 86 Veröffentlichungen Keplers und 224 Schriften über Kepler. GOTTFRIED WILHELM L E I B N I Z (1646—1716). Auswahl aus den Werken bei F. Meiner und bei Kröner erschienen. Werke und Briefe erscheinen in einer Gesamtausgabe h. v. d. Preuß. Akademie d. W. seit 1923, in etwa 40 Bänden. Klassische Darstellung durch Kuno Fischer, den einstigen Heidelberger Philosophiehistoriker in seiner Gesch. d. neueren Philosophie, Bd. III. Der Mathematiker L . findet eine vorzügliche Darstellung in: Dietrich Mahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, 1925. Außerdem in Oskar Becker, Mathematische Existenz, 1934. Sehr schön und zugleich wissenschaftlich ist der Roman, den Egmont Colerus über „Leibniz" geschrieben hat, 1927. Wie hier so ist auch in Diltheys „Leibniz und

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sein Zeitalter" (Ges.Schr. Band III), 1927, vor allem der zeitliche und räumliche Umkreis des L. dargestellt. Eine L.-Gesellschaft besteht seit 1926, ein L.-Archiv seit 1928 in Marburg, wo es vor allem Prof. Mahnke zu verdanken ist, daß L. heute sowohl in der Philosophie, Logik, Mathematik und Deutung des neuen physik. Weltbildes eine Rolle spielt. Kennzeichnend für die Bedeutung. des L. für den modernen Geist ist z . B . die Tatsache, daß der große englische Philosoph und Mathematiker Rüssel seine Grundlegung der Logik („Principia mathematica"), 1932, an L. anschließt und daß er sogar eine wichtige Schrift über L. verfaßt hat. IMMANUEL K A N T (1724—1804). Hauptwerke: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) (enthält die Lehre von der Entstehung unseres Sonnensystems). Kritik der reinen Vernunft (1781), 2. Aufl., mit berühmten Änderungen und Klärungen 1787. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) (entwirft klar die Idee der neuen Metaphysik gegenüber der alten, abzuweisenden, die von Gott, Unsterblichkeit und Seele handelte). Kritik der praktischen Vernunft (1788) (Behandlung ethischer Fragen wie „Wollen" und,,Freiheit" von dem mit der „Vernunftkritik" gewonnenen Standort aus). Während in der reinen Vernunft bestimmt wird, wie „Gegenstände der Erkenntnis" gegeben werden, geht es in der praktischen Vernunft um die Frage, wie es zu „Gegenständen des Wollens" komme; das Sittengesetz wird zum „allgemeinen notwendigen Gegenstand" der praktischen Vernunft; dieses Sittengesetz ist ein Gebot schlechthin, ein „kategorischer Imperativ"; es gilt bedingungslos und absolut, und seine Forderungen beziehen sich nicht auf die „Inhalte", die „Materie des Wollens", sondern der „kategorische Imperativ" hat überhaupt nichts mit „empirischen Gegenständen" zu tun, er will daher auch nicht „Glückseligkeit" einsetzen, sondern die „Pflicht", die er fordert, ist „reine Pflicht", geschieht allein um der Pflicht willen. Kritik der Urteilskraft (1799); sie hat außerordentlich auf Schiller gewirkt; das „Urteilen" überbrückt „Erkennen" und „Wollen"; Schillers berühmte Definition, Schönheit sei Freiheit in der Erscheinung, zeigt deutlich, wie sehr hier das „Urteilen" den „Gegenstand der Erkenntnis", nämlich die „Erscheinung" mit der „Idee" des „Wollens" und der praktischen Vernunft, nämlich die „Freiheit" verbindet. Die Urteilskraft gibt also die Möglichkeit, die mit den beiden anderen Kritiken vollzogene Trennung der „Reiche der Natur und der Freiheit" wieder zu vereinen, also einen Ausgleich zwischen reiner und praktischer Vernunft zu schaffen. In dem Ergebnis, die „Natur als Ganzes unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit zu betrachten" und in ihr die Verwirklichung eines höchsten Vernunftwesens zu sehen, liegt die Synthese klar vor Augen

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und meldet sich schon wieder der alte Idealismus des Leibniz an, der mit Hegel seinen Gipfel und seinen Verfall erreichen wird. Die Religionen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Logik(i8oo). 1937 erschien das berühmte und schicksalsvolle Opus postumum, herausg. v. G. Lehmann. Einst wurde es als senil verworfen, blieb ungedruckt, neuerdings aber wird es als wertvolle Schrift betrachtet. Heideggers Kant-Deutung — die überdies gerade wieder den Erkenntnistheoretiker Kant und nicht, wie etwa B. Bauchs Kantauffassung, den Ethiker stärker betont — weist auf entscheidende Stellen dieses letzten Werkes von Kant hin. Uber Kant: Die Biographien von Borowski, Jachmann und Wasianski (Zeitg. Kants) herausgegeben, in einem Band, i. d. „Deutschen Bibliothek". B.Bauch, I.Kant 1923. G e g e n Kant: Herders Metakritik der Kritik der reinen Vernunft, 1799. SÖREN K I E R K E G A A R D (1813—1855). Wird zumeist einseitig als katholischer, protestantischer oder kurz als religiöser Denker begriffen, oft nur als interessanter Schriftsteller, aber nicht als wahrhaft philosophierender Geist. Ahnlich wie Nietzsche und Pascal hat man auch ihm seine kränkelnde Position zum Vorwurf gemacht. Hartmann und Jaensch verstehen ihn daher allzusehr psychologisch, werten seine Oberflächen zu hoch und übersehen seine Tiefen. O. Kraus hat ihn in seiner „Geschichte der Werttheorien" (Berlin 1937) einfach übergangen. Einzig Jaspers und Heidegger, neuerdings auch Baeumler (1937) haben deutlicher auf ihn aufmerksam gemacht. Man darf naturgemäß Kierkegaards Zusammenhänge mit der modernen Existenzphilosophie nicht überschätzen, sonderlich bei einer Beurteilung von Beziehlingen zwischen Heidegger und Kierkegaard muß man sehr vorsichtig sein und immer festhalten, daß bei H. das religiöse Problem nicht vorgegeben ist. Auswahl erschien bei Kröner unter dem Titel „Religion der Tat", übers, und herausgegeb. von Geismar und Marx, außerdem Inselbücherei Nr. 519, übers, und herausgegeb. von P. Schäfer und M. Bense. Gesamtwerk bei E. Diederichs, übers, u. herausgegeb. von Schrempf, wissenschaftlich nicht befriedigend. Neue umfassende Übertragung ist im Werden. FRIEDRICH NIETZSCHE (1844—1900). Neben der fertigen Musarion-Ausgabe gibt es vor allem die Reihe der Krönerschen Ausgabe der einzelnen Schriften, herausg. v. Baeumler. Das Zentrum der heutigen philologischen Nietzscheforschung ist das N.-Archiv in Weimar, das 1924 gegründet wurde. Die Nietzschegesellschaft von 1922 hat ihren Sitz in Berlin. Das Weimarer Archiv gibt soeben die historischkritische Gesamtausgabe von N.-Schriften heraus. Über Nietzsches Leben vgl. E.Förster-Nietzsche: Der junge Nietzsche, 1912, und: Der einsame Nietzsche, 1914. Sehr wesentlich ist vor allem der bei Kröner

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herausgebrachte Briefband. Das Hauptwerk Klages', der vermeintlich in Nietzsches Bahnen wandelt: Der Geist als Widersacher der Seele, 1933. Eine Schrift, die aber die Differenzen klar sehen läßt, ist: L. Klages, Nietzsches psychologische Errungenschaften, 1926. Eine gute Einführung in die philosophischen Probleme Nietzsches, die zugleich Probleme seines philosophischen Existierens waren, bildet: Jaspers, Nietzsche, 1936. Jaspers deutet Hier vielfach Nietzsche gewaltsam in seine Begriffe, aber das eigentümlich Philosophische Nietzsches wird doch deutlich sichtbar. Vor allem hat Jaspers hier — wie auch in seiner Schrift „Vernunft und Existenz" 1936, die Nietzsche und Kierkegaard als Entsprechungen zu erfassen sucht — auch das Leben Nietzsches entwickelt und das Schrifttum über ihn zusammengestellt. Ende jeden Jahres gibt das Weimarer Archiv überdies Überblicke über alle im Jahre erschienene Literatur Zu Nietzsche heraus. Neuerdings ist Nietzsches „Wille zur Macht" vollständig ins Französische übersetzt. Prof. Lichtenberger hat in einer Zeitschrift auf die Beziehungen Nietzsches zum Nationalsozialismus aufmerksam gemacht, was in Deutschland — in nicht immer ganz glücklichen Wortwendungen — von Prof. Oehler unternommen worden ist. OSWALD SPENGLER. Man merkt es an der Zahl der Dissertationen und an der Thematik historischer Untersuchungen, daß Oswald Spengler in seinen Inhalten heute überwunden ist. Man ist im wesentlichen von dem Problem „Untergang des Abendlandes" abgerückt. Spengler ist kein lebendiger Denker mehr, sondern ist bereits historisch geworden. Aber doch läßt der kürzlich erschienene Nachlaßband die gesamte Entwicklung dieses seltsamen Geistes echt deutscher Prägung noch einmal in ihrer Tiefe und Entschlossenheit erkennen: „Reden und Aufsätze" 1937. Vgl. M. Schröter, Der Streit um Spengler, 1922. A . Messer, Oswald Spengler, 1924. Brentano, Die vier Phasen d. Philosophie, 2. Aufl., 1926 (Gegen Kant und den Idealismus). Vgl. auch: H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, Handb. d. Phil. Bd. I, 1934, R. Oldenbourg, München. D A V I D HILBERT (geb. 1862, Prof. in Göttingen). Hilberts formalistische Begründung der Mathematik ist nicht der einzige versuchte Ausweg aus der Grundlagenkrisis der Mathematik. Der Holländer Brouwer führt die Schule der intuitionistischen Begründung der Mathematik. Sie ist antiformal, will gerade Sicherung der Mathematik aus dem Anschauungsgehalt. Sagt Hilbert, die Gewißheit des Mathematischen sei die Widerspruchsfreiheit, so sagt Brouwer, die Gewißheit des Mathematischen besteht — ganz wie einst in Griechenland — in der anschaulichen Konstruktivität. Endlich gibt es noch die logistische Begründung der Mathematik, die in England durch Rüssel und Whitehead eingesetzt

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ist, in Deutschland u. a. von Scholz betrieben wird, aber vor allem auf die deutschen Forscher Frege und Schröder zurückgeht. Sie vollzieht die Begründung der Mathematik aus der Logik. Nach ihr ist also die Mathematik aus der Logik abgeleitet. Frege lebte von 1848 bis 1925. Sein wichtigstes Werk ist die „Begriffsschrift", 1893. Das Hilbertsche Unternehmen ist noch nicht vollendet. Auf dem vorjährigen Philosophenkongreß legte Dr. Gentzen, ein Schüler Hilberts, den neuesten Abschnitt der Bemühungen vor. Er konnte den Beweis erbringen, daß die elementare Zahlentheorie, ein grundlegendes Gebiet der Mathematik, im Hilbertschen Sinne widerspruchsfrei begründet werden kann. Schriften über Hilbert: E. Colerus, Von Pythagoras bis Hilbert, 1937 (laienverständliche Geschichte der mathem. Probleme). O. Becker, Mathematische Existenz, 1927 (bisher die tiefste Auseinandersetzung mit den philos. Fragen der modernen mathematischen Grundlagenkrisis, steht aber, bei hoher Schätzung Hilberts, auf dem intuitionistischen Standpunkt und versucht vor allem, „das Unendliche Cantors" inhaltlich zu erfassen, was Hilbert ja verneint). Gauß lebte von 1777 bis 1855. Seine Gedanken über nichteuklidische Geometrie entwickelten sich vor allem zwischen 1792 und 1816. Sein Zeitgenosse F. K. Schweikart (1780—1857) hatte als Jurist eine „Astralgeometrie" entwickelt, aber auch nicht veröffentlicht, die ebenfalls nichteuklidische Elemente gab. Lobatschewskij lebte von 1793 bis 1856, Bolyai von 1802 bis 1860. Der erste entdeckte die N. G. zwischen 1823 und 1825, der zweite entdeckte sie um 1823. Eine Darstellung der „Nichteuklidischen Geometrie", ihrer Geschichte und Elemente, die leicht zu lesen, aber wissenschaftlich gründlich ist, stammt von Prof. R. Baldus (Sammlung Göschen). Eine vertiefte Darstellung der gesamten Krisis der Mathematik findet sich bei H. Weyl, Phil. d. Mathem. u. Naturw. Handb. d. Phil. Bd. II, 1927, R. Oldenbourg, München.

M A X

B E N S E

ÄntUKlagee oöcr oon öer Würöe öee Mcnfchcn 46 S e i t e n . 1 9 3 7 . R M . 1 . 2 5 „Die von einer hohen und ernsten Geistigkeit zeugende Streitschrift verzichtet bewußt auf eine systematisch-logische Widerlegung der Klagesschen Lebensphilosophie. Seine Aufgabe sah der Verfasser nicht darin, durch Analyse ein gedankliches System ad absurdum zu fuhren, sondern vielmehr in der Besinnung auf die menschliche Situation als Ausgangspunkt des Philosophierens überhaupt . . . " ,,Der Mittag"

F O R T U N A T

S T R O W S K I

Vom Weier» öee franzöfifchen Gelftee La Sageeee Fran^atec Übersetzt von H a n s H e n n e c k e . 210 Seiten. 1937. InLeinen RM. 4.80 I N H A L T : Vom Wesen des französischen Geistes — Der Humanismus bis Montaigne — Die Lehrjahre des Michel de Montaigne — Der Mensch in den „Essais" — Der heilige Franz von Sales und das religiöse Empfinden — Descartes und die Wissenschaft — La Rochefoucauld und die Weltlichkeit — Pascal und sein Leben — Pascals Philosophie. Französische Weisheit ist Lebensweisheit, französische Philosophie ist Philosophie vom Menschen. An Leben und Werk von fünf großen Franzosen des 16. und 17. Jahrhunderts zeigt Strowski, der bedeutende Vertreter französischer Literaturgeschichte an der Sorbonne, die Richtigkeit dieser Behauptung. Wie M o n t a i g n e für die Krise des Humanismus die französische Lösung findet, so F r a n z v o n Sales für die Krise der Religion, D e s c a r t e s für die Krise der damaligen Wissenschaft. In L a R o c h e f o u c a u l d sehen wir den vollendeten Weltmann. Ihre Zusammenfassung und Krönung findet diese Zeit in P a s c a l , dem Mathematiker und religiösen Genie.

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