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German Pages 161 Year 1987
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 11
Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages Von
Dr. Harald Franke
Duncker & Humblot · Berlin
HARALD FRANKE
Vom Seniorenkonvent des ReidIstages zum Ältestenrat des Bundestages
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Norbert Achterberg
Band 11
Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages
Von
Dr. Harald Franke
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Franke, Barald: Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages / von Harald Franke. - Berlin: Duncker und Humblot, 1987. (Beiträge zum Parlamentsrecht; Bd. 11) ISBN 3-428-06244-2 NE:GT
D6 Alle Rechte vorbehalten & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1987 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany
© 1987 Duncker
ISBN 3-428-06244-2
Meinen Eltern
Geleitwort Der Verfasser hat ein schwieriges Thema behandelt. Die Institution des Ältestenrats ist nahezu ein Arkanbereich des Parlamentswesens und demgemäß wissenschaftlich so gut wie unbearbeitet. Dafür ist nicht zuletzt ursächlich, daß die Beratungen im Ältestenrat im allgemeinen nicht protokolliert werden und Protokolle, soweit es sie gibt, der Öffentlichkeit nicht oder erst spät zugänglich gemacht werden. Was als Argument für die Nichtöffentlichkeit der Ausschußarbeit vorgetragen wird, gilt für den Ältestenrat verstärkt, daß nämlich in ihm Verhandlungen geführt werden, die dem Rampenlicht der Öffentlichkeit nicht ausgesetzt sein sollen - auch nicht nachträglich - und, sofern sie innerparlamentarische Angelegenheiten betreffen, auch kaum müssen. Dem Forschungsdrang der Wissenschaft ist damit allerdings nicht gedient. Ihn zu befriedigen, ist auch nicht die Aufgabe von Staatsorganen und -unterorganen, nur müssen diese Umstände erkannt werden, um die Leistung des Autors voll würdigen zu können. Das Buch zeichnet nicht nur die historische Entwicklung von den Vorläufern des Ältestenrats nach, der zunächst als, dem "interkurialen Ausschuß" des Reichstages sowie der späteren Vertrauensmännerversammlung der Bundesversammlung des Deutschen Bundes vergleichbares, aufparlamentarischem Brauch beruhendes Instrument der Fraktionen betrachtet wurde, sondern behandelt ausführlich die gegenwärtige Rechtslage. Bei der Wiedergabe der Aufgaben des Ältestenrats in seinen Eigenschaften als "Verständigungsgremium" und als "Beschlußorgan" beweist der Verfasser Augenmaß sowohl für das Recht als auch für die Praxis dieses Organs. Bemerkenswert sind vor allem die Darlegungen zu dessen Stellung im Innenverhältnis des Parlaments sowie im Außenverhältnis zur Regierung. Sie sind nicht nur parlamentsrechtlich, sondern auch rechtsverhältnistheoretisch von Interesse. Besonders gelungen erscheinen dabei die Ausführungen über die Beziehungen des Ältestenrats zum Plenum sowie die Auswirkungen seiner Tätigkeit auf die Abgeordneten.
Norbert Achterberg
Vorwort Die Untersuchung wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-U niversität zu Münster im Wintersemester 1986/87 als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Juli 1986 abgeschlossen: auf diesem Stand befindet sich die verwendete Literatur. Meinem sehr verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Norbert Achterberg, sage ich herzlichen Dank für das Thema, die Betreuung und Begutachtung der Arbeit sowie deren Aufnahme in die Reihe "Beiträge zum Parlamentsrecht" . Allen meinen Gesprächspartnern aus Politik und Verwaltung des Deutschen Bundestages, namentlich Herrn Bundestagspräsidenten Dr. Philipp Jenninger, danke ich sehr für die geopferte Zeit und mir gewidmete Geduld. Für logistische Unterstützung habe ich mich bei Herrn Staatssekretär Gustav Wabro, Bevollmächtigter des Landes Baden-Württemberg beim Bund, und seinen Mitarbeitern zu bedanken. Ohne Herrn Dr. Hans-Ernst Maute und schließlich: ohne meine Eltern, wäre es mir nicht möglich gewesen, die Arbeit überhaupt zu beginnen. Stuttgart, im März 1987
Harald Franke
Inhaltsveneichnis Einfiihrung
17
Erster Teil Die Entstehung des Ältestenrates
1. Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
18
1. Parlamentarische Entwicklung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
2. Anfange der Fraktionsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
H. Die Entstehung des Seniorenkonvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
1. Vorläufer............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2. Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 ...........................
34
3. Preußisches Abgeordnetenhaus 1847 ff. ..............................
39
4. Norddeutscher Reichstag 1867 -1870 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
5. Deutscher Reichstag 1871-1918. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
IH. Der Seniorenkonvent des monarchischen Reichstages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
1. Bildung und Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 53 55 56 56 58 60 62
a) Einberufung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitglieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einfluß auf die Kommissionen. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einfluß auf den Arbeitsplan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einfluß auf die Redeordnung . . . .. .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . d) Sonstige Funktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis zum Reichstagspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
4. Bedeutung des Seniorenkonvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
IV. Weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
1. Länder, insbesondere Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
2. Weimarer Reichstag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
12
Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil
Der Ältestenrat des Bundestages
74
I. Der Ältestenrat im Lichte der Geschäftsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
l. Der Ältestenrat unter Geltung der vorläufigen Geschäftsordnung 1949E '" 2. Der Ältestenrat nach Erlaß der neuen Geschäftsordnung 1951. . . . . . . . . . . 3. Der Ältestenrat nach der "kleinen" Geschäftsordnungsreform 1969. . . . . . . 4. Der Ältestenrat nach der Geschäftsordnungsreform 1980 . . . . . . . . . . . . . . .
75 75 76 77
11. Bildung, Zusammensetzung und Ende des Ältestenrats. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
l. Bildung und Einberufung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitglieder des Ältestenrats. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anteile der Fraktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78 79 79 80
3. Vertretung der Regierung im Ältestenrat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktion des Regierungsvertreters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Person des Regierungsvertreters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 81 82 82
4. Weitere Sitzungsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
5. Ende........................................................... a) Ende der Mitgliedschaft im Ältestenrat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ende des Ältestenrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 84
III. Die Aufgaben des Ältestenrats. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
l. Abschnitt: Der Ältestenrat als Verständigungsgremium. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
l. Arbeitsplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Aufstellung eines Zeitplanes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufstellung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Festlegung der Beratungsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abwicklung der Tagesordnung. . .. . . . . . .. . . .. . . . ... .. . . . . ... .
85 86 87 88 89
2. Einfluß auf die Bundestagsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gestaltung und Dauer der Aussprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reihenfolge der Redner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 92 94
3. Einfluß auf die Ausschüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kreation und Anzahl der Mitglieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besetzung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übrige Ausschußmitglieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 97
4. Beratungen über Geschäftsordnungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
98 99
Inhaltsverzeichnis
13
2. Abschnitt: Der Ältestenrat als Beschlußorgan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
5. Innere Verwaltungsangelegenheiten . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
a) Allgemein.................................................... b) Voranschlag des Haushaltsplanes des Bundestages. . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Einsetzung von (Unter-)Kommissionen .. . . . . . . . . .. . . .. . . . . .. . . . . . . ..
104 105
3. Abschnitt: Nebenaufgaben des Ältestenrats. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
7. Disziplinarangelegenheiten. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
8. Sonstige Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
4. Abschnitt: Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
IV. Der Ältestenrat im Gefüge des Bundestages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
1. Verhältnis zum Präsidium, insbesondere zum Präsidenten. . . . . . . . . . . . . . a) Grundlage des Verhältnisses Ältestenrat - Präsident. . . . . . . . . . . . . . . b) Stellung des Präsidenten innerhalb des Ältestenrats. . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bindung des Präsidenten.. . . . . . . .... . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . .. aa) Rechtliche Bindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Faktische Bindung. . .. . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . d) Besonderheiten bei den Vizepräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 114 115 117 118 118 120
2. Verhältnis zum Plenum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ältestenrat und Verhandlungsgrundsätze des Bundestages . . . . . . . . . . . aa) Öffentlichkeit.............................................. bb) Minderheitenschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindung des Plenums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bedeutung des Ältestenrats für das Plenum ..................... , ..
122 123 124 126 128 131
3. Verhältnis zu den Abgeordneten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stellung des Abgeordneten im Plenum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswirkungen der Arbeit des Ältestenrats auf Abgeordnete. . . . . . . . . . aa) Fraktionsloser Abgeordneter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fraktionsangehöriger Abgeordneter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133 133 136 136 138
V. Der Ältestenrat und sein Verhältnis zur Regierung. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . ..
141
103
1. Grundlage. .. . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . .. .. . . .. . . . . . . . ... . . . . . . . .. . .. . .
141
2. Berührungspunkte und Auswirkungen...............................
142
Zusammenfassung I. Historischer Teil
146 146
H. Aktueller Teil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Literaturveneichnis
150
Sachveneichnis
158
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. Abg. AbgG Abs. a.F. Alt. An!. Anm. ÄR Art. Aufl. Bd. Bde. Bekanntm. BGB!. BHO Bsp. BT BT-Drs. BVerfGE BWG bzw.
ders. Diss. iur. DÖV Drs. Dt. DVB!. ebd. EG etc. EURATOM EWG f.
FAZ fT. FG Fn. FrNV FS
am angegebenen Ort Abgeordneter Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz) vom 18. Februar 1977 Absatz alte Fassung Alternative Anlage(n) Anmerkung Ältestenrat Artikel Auflage Band Bände Bekanntmachung Bundesgesetzblatt (zit. nach Teil, Seite) Bundeshaushaltsordnung vom 19. August 1969 Beispiel Deutscher Bundestag Drucksache des Deutschen Bundestages (zit. nach Wahlperiode/Nr.) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundeswahlgesetz in der Neufassung vom 1. September 1975 beziehungsweise derselbe Dissertatio iuris Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Drucksache Deutsch Deutsches Verwaltungs blatt (Zeitschrift) ebenda Europäische Gemeinschaft et cetera Europäische Atomgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Festgabe Fußnote Frankfurter Nationalversammlung 1848 Festschrift
Abkürzungsverzeichnis gern. GG GO GOBT
15
gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 Geschäftsordnung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Jahreszahl = Stand; ohne Jahresangabe = jüngste Fassung 1980) Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung 1848 GoFrNV GORT Geschäftsordnung des Deutschen Reichstages (Jahreszahl = Stand) Hrsg. Herausgeber Halbsatz HS insbesondere insbes. in Verbindung mit i.V.m. Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) JA Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart JöR Kommentar Komm. konstituierender Reichstag konstRT Legislaturperiode Leg.per. litera lit. m.(w.)Nachw. mit (weiteren) Nachweisen n. nach NJW Neue Juristische Wochenschrift NorddBd. Norddeutscher Bund NorddBV Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 Reichstag des Norddeutschen Bundes NorddRT Nummer Nr. NV Nationalversammlung ohne Jahresangabe o.J. PariR Parlamentsrecht PrAbgH Preußisches Abgeordnetenhaus PrVerfUrk 1850 Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850 Rdnr. Randnummer RT Deutscher Reichstag RT-Drs. Drucksache des Deutschen Reichstages RV 1871 Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 RV 1919 Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 S. Seite . si licet sc. Session Sess. Sitzg. Sitzung Sp. Spalte Std. Stand Sten.Ber. Stenographische Berichte u. und u.a. und andere(s) Verh. Verhältnis vgl. vergleiche v.H. vom Hundert Vorbem. Vorbemerkung voriGO vorläufige Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 20. September 1949
16 W
WP WürttGO
z.B.
ZfgStW zit. ZPari
Abkürzungsverzeichnis Weimar Wahlperiode Württembergische Geschäftsordnung vom 12. August 1909 zum Beispiel Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft zitiert Zeitschrift für Parlamentsfragen
Einführung Die Assoziation des Namens "Ältestenrat" legt es nahe, von einem Gremium weiser alter Männer auszugehen, welches - dem politischen Tagesgeschehen entrückt - sich vornehmlich in Ratschlägen betreffend Fragen des parlamentarischen Anstandes oder ähnlichem ergeht. Dem ist jedoch nicht so. Der Ältestenrat ist das zentrale Lenkungs- und Leitungsorgan des Bundestages, ohne das eine effiziente parlamentarische Arbeit heute überhaupt nicht mehr möglich wäre. Um so mehr verwundert die wissenschaftliche Enthaltsamkeit: Während die übrigen parlamentarischen Gremien, wie Präsident, Ausschüsse und Fraktionen, mannigfachen Untersuchungen unterzogen wurden, gibt es über den Ältestenrat bis heute (1986) keinerlei monographische Veröffentlichung und nur wenige verstreute Aufsätze und Zeitschriftenbeiträge 1 . Allenfalls in Arbeiten über den Bundestag bekommt auch der Ältestenrat mitunter ein Kapitel zugestanden 2 , meist jedoch dasjenige mit dem geringsten Umfang. Versucht man die Ursache für diese vermeintliche Geringschätzung - bei gleichzeitig hoher faktischer Bedeutung - zu ergründen, so stößt man darauf, daß der Ältestenrat selber kein Freund der Öffentlichkeit ist: Seine Sitzungen finden hinter verschlossenen Türen statt, selten dringen Beschlüsse oder Vereinbarungen an die Öffentlichkeit, seine Protokolle sind erst ab der dritten Wahlperiode nach ihrer Entstehung und dann auch nur mit Einschränkungen für die Wissenschaft zugänglich 3 . Dennoch scheint es nach bald vierzig Jahren "Deutscher Bundestag" angebracht, daß sich die Parlamentswissenschaft auch dieses Gremiums annimmt. Vorliegende Untersuchung soll ein erster Versuch sein. Die Konzentration auf den Ältestenrat des Bundestages geschah bewußt. Die Ältestenräte der Landtage, der Vertretungskörperschaften der Gemeinden oder derjenige des Europäischen Parlamentes harren weiterhin der Untersuchung. Hier war Ziel, die Entwicklungslinie vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages aufzuzeigen und Aspekte der Organisation und Funktion in Vergangenheit und Gegenwart zu ergründen. Die Untersuchung folgt dabei der Chronologie. 1 Siehe im Literaturverzeichnis die Arbeiten von: von Below, Buß, Kabel, Mommer, Rasner, Schindler. 2 Siehe dafür nur: Borgs-Maciejewski, S. 53ff.; Lohmann,S. 70f.; Schäfer, S. 99ff.; Steiger, S. 117ff. 3 Beschluß des Ältestenrates vom 15.9.1983, nach Angabe des Parlamentsarchivs des Deutschen Bundestages in Bonn.
2 Franke
ERSTER TEIL
Die Entstehung des Ältestenrates I. Grundlagen Heute ist der Ältestenrat als "Organ des Parlaments"l anerkannt. Das war nicht immer so: Noch bis in das Zwanzigste Jahrhundert hinein muß der Ältestenrat - beziehungsweise sein direkter Vorgänger, der Seniorenkonvent als ein innerparlamentarisches Instrument der Fraktionen betrachtet werden, dessen Existenz im wesentlichen nur den Abgeordneten bekannt war 2 • Soviel kann hier aber schon gesagt werden 3 , daß die Existenz des Seniorenkonvents nicht auf Geschäftsordnungsrecht beruhte, sondern auf parlamentarischem Brauch der Fraktionen. Hieran knüpfen sich zwei Voraussetzungen, welche die Suche nach den Grundlagen der Entstehung des Ältestenrats determinieren: Erstens, der Vorläufer kann nur in einem Parlament zu finden sein; der Ältestenrat ist ein parlamentarisches Organ; zweitens, es müssen bereits Fraktionen oder fraktionsähnliche Gebilde vorhanden sein; der Ältestenrat ist 1 Vgl.nur: Achterberg, ParlR, S.132f.; Maunz in Maunz/Dürig, Art.40 Rdnr.9; Steiger, S. 118; Stern, Staatsrecht II, § 26 IV 2b, S. 91. 2 Teilweise war die Existenz des Seniorenkonvents auch der Wissenschaft bekannt, vgl. insbesondere: Hatschek, Parlamentsrecht, 1915, S. 175ff.; Pereis, Autonomes Reichstagsrecht, 1903, S. 31ff.; beileibe aber nicht allen Staatsrechtslehrern, was eine Durchsicht der damaligen Lehrbücher zum Staatsrecht, beispielsweise Bornhak, Preußisches Staatsrecht, 1888 - 1890 (3 Bde.); Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 3. Aufl. 1865/67; Zoepj1, Grundsätze des gemeinen Deutschen Staatsrechts, 5. Aufl. 1863, zeigt. Selbst in der Schrift von Jungheim, dem ehemaligen Direktor beim Reichstag, wird noch 1916 der Seniorenkonvent - ausdrücklich jedenfalls - nicht erwähnt. Auch sonst stellen sich Literaturrecherchen als schwierig dar, weil die Parlamenswissenschaft insgesamt erst in den Anfängen steckte; so gibt es keine Monographie zum Seniorenkonvent. Im übrigen sind die Akten des Seniorenkonvents - auf die Hatschek, a.a.O., gelegentlich hinweistverschwunden (gemäß einem Schreiben des Zentralen Staatsarchivs in Potsdam vom 18.4.1986 an den Verfasser). Deshalb muß im historischen Teil vermehrt Rückgriff auf Sekundärliteratur und teilweise auch auf Plenarprotokolle genommen werden, um von solchen Äußerungen auf die Existenz und Kompetenzen des Seniorenkonvents schließen zu können. Vgl. die ähnliche Methode bei Oestreich: Zur parlamentarischen Arbeitsweise der Deutschen Reichstage unter Karl V. (1519 - 1556), in: Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung (Hrsg. Rausch), 1974 (Bd. I), S. 244: Da eine gesetzlich fixierte Geschäftsordnung für den damaligen Reichstag nicht existiere, gelte es, aus dem in Reichstagsakten veröffentlichten Material und aus verschiedenen Quellenpublikationen zur Verfassungsgeschichte des Zeitalters, die Gewohnheiten und Grundsätze der parlamentarischen Tätigkeit des höchsten Reichsgremiums zu erschließen. 3 Zu den Einzelheiten der Entstehung siehe unten Ir.
I. Grundlagen
19
ein Organ der Fraktionen, welches augenscheinlich ein Bedürfnis der Fraktionen befriedigte. Deshalb soll nach einem Überblick über die parlamentarische Entwicklung in Deutschland (1.) auf die Anfänge der Fraktionsbildung eingegangen werden (2.), die letztlich die Basis für die Entstehung des damaligen Seniorenkonvents darstellen. 1. Parlamentarische Entwicklung in Deutschland
Auf die umwälzende Entwicklung, die in Deutschland zur Etablierung eines Parlamentes geführt hat, kann hier nur in geraffter Form eingegangen werden, soweit es nämlich für das Verständnis des folgenden erforderlich ist. Für weitere Einzelheiten muß auf die umfangreiche Literatur zur Verfassungsgeschichte 4 und zur Geschichte des Parlamentarismuss verwiesen werden. Ebenfalls ausgespart werden soll die zeitlich vorhergehende und außerhalb Deutschlands 6 stattfindende Entwicklung, welche überhaupt erst zum Parlamentarismus geführt hat 7 • Unstreitig ist, daß die Nationalversammlung, welche am 18. Mai 1848 in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. zu ihrer Eröffnungssitzung zusammentrat, das erste "gesamtdeutsche" Parlament darstellteS, und damit der Beginn des Parlamentarismus in Deutschland markiert ist 9 • Allerdings gab es auch schon vorher Vertretungskörperschaften in Deutschland, so nämlich den Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1o , die Landtage der älteren 4 Siehe dafür nur: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 6 Bde., insbes. Bde.: I - 2. Aufl. 1967, 11 - 2. Aufl. 1968, III - 2. Aufl. 1970; Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl. 1984; jeweils mit weiteren Nachweisen. 5 Siehe Achterberg, ParlR, S. 16 37, mit umfangreichen weiteren Nachweisen; Zeh, Parlamentarismus, 2.Aufl. 1983, insbes. S. 39 - 51; Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, 2 Bde. 1974/80, insbes. Bd. I: Reichsstände und Landstände; Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung - Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, 1974; Bergsträsser, Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, 1954; = ders. in Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, 5. Aufl. 1980, S. 138 - 160. 6 Nicht als damals ja fehlender - StaatsbegrifT, sondern im Sinne einer ungefähren räumlichen Eingrenzung aus heutiger Sicht gebraucht. 7 Dazu beispielsweise Zeh, Parlamentarismus, S. 18fT., wonach die Anfänge bereits im antiken Athen und in Rom zu finden sind; und ebenda, S. 24fT., wonach England als "Mutterland" des Parlamentarismus anzusehen ist. Dort finde sich die älteste parlamentarische Demokratie (Zeh, a.a.O., S. 25); vgl. auch Rausch (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 5), Bd. I: Allgemeine Fragen und Europäischer Überblick. S Vgl. nur Achterberg, ParlR, S. 24 bei Fn. 32; Zeh, Parlamentarismus, S. 44; zur Nationalversammlung 1848 allgemein: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 11, 2. Aufl. 1968, Kapitel IX, insbes. § 44, S. 604fT. (mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Zur Verfassung der Nationalversammlung jetzt eingehend Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985. 9 Vgl. nur Hauenschild, S. 21; Lösche in Röhring/Sontheimer, S. 380.
2"
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
landständischen Verfassungen 11, die Bundesversammlung des Deutschen Bundes 12 und die Landtage der neueren landständischen Verfassungen 13 • Auch hier ist zumindest denkbar, daß es sich dabei um Parlamente oder parlamentsähnliche Körperschaften handelte 14. Um ihre jeweilige Parlamentsqualität zu untersuchen, bedarf es eines Rückgriffs auf den Parlamentsbegriff. Hierbei kann eine Definition nur vorgenommen werden, wenn man auf die dem Begriff innewohnende Idee des Parlamentarismus heutiger Prägung rekurriert. Andernfalls bestünde die Gefahr, den Bedeutungswandel des Parlaments im Laufe der Geschichte zu verkennen, und man würde möglicherweise Schlußfolgerungen aus einem verkürzten Parlamentsbegriff verwenden 15. Es ist heute anerkannt, daß ein Parlament, welches seinem Namen gerecht werden will, zwei wesentliche Merkmale aufweisen muß16: Einmal, Anteil an der staatlichen Willensbildung zu haben, sodann, die Repräsentation des Volkes zu verkörpern. Das Parlament stellt infolgedessen eine aus einer begrenzten Anzahl von Mitgliedern bestehende Körperschaft dar, welche kraft ihrer Legitimation durch allgemeine Wahlen befugt ist, das Volk zu vertreten und an seiner Stelle zu handeln, wobei in einer Demokratie - in der die Staatsgewalt in die Hände des Volkes gelegt ist - , dem Parlament entscheidende Anteile an der staatlichen Willens bildung eingeräumt sein müssen, was beispielsweise durch die Befugnis zur Gesetzgebung, Etataufstellung, Regierungs- und Verwaltungskontrolle verwirklicht werden kann. Hier wird also von der Repräsentation auf die - in einer Demokratie implizierte Herrschaftsbefugnis hingewiesen 17. Es kann auch umgekehrt formu10 Siehe dazu allgemein: Bornhak, Deutsche Verfasssungsgeschichte vom westfälischen Frieden an, 1934, § 11, S. 90ff.; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis Gegenwart, 9. Aufl. 1969, § 12, S. 36ff., m.w.Nachw. 11 Dazu: Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 1. Teil, 3. Aufl. 1865, §§ 108ff., S. 579ff.; Hartung, a.a.O. (Fn. 10), § 22, S. 82ff. 12 Dazu: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1,2. Aufl. 1967, § 33 Il, S. 588ff.; Zoepjl, Grundsätze des gemeinen Deutschen Staatsrechts mit besonderer Rücksicht auf das allgemeine Staatsrecht und auf die neuesten Zeitverhältnisse, 5. Aufl. 1863, Bd. 1, §§ 121ff., S. 294ff.; vgl. auch Bornhak, a.a.O. (Fn. 10), § 42, S. 353ff., insbes. S. 357. 13 Dazu: Huber, a.a.O. (Fn. 12), § 20 II, S. 341ff.; Zoepjl, a.a.O. (Fn. 12), 5. Aufl. 1868, Bd. 2, § 325ff., S. 161ff. 14 Wenn dies der Fall wäre, müßte sich die Suche nach der Entstehung des Vorläufers des Ältestenrats - des Seniorenkonvents - auch auf diese Körperschaften erstrecken. 15 Ähnlich hat bereits Achterberg, ParlR, S. 16ff. (19) nachgewiesen, daß der unterschiedliche Sinngehalt des Wortes "Parlament" im Laufe der Historie eine Orientierung der Geschichte des Parlamentsrechts an der Verwendung des Namens ausschließt. 16 Vgl. hierzu und zum folgenden: Achterberg, ParlR, S. 19f., 76ff.; Henke in Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Spalte 1760; Leibholz, ebenda, Sp. 2196; Rausch in RöhringjSontheimer, S. 322; Loewenstein in Parlamentarismus (Hrsg. Kluxen), S. 65f.; Bergsträsser, ebenda, S. 138. 17 Vgl. dazu Leibholz, a.a.O. (Fn. 16), Sp. 2196 Nr. 5: "Da jede Repräsentation im Bereich der politischen Willens bildung die Ausübung von Macht voraussetzt, ... "
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liert werden, daß mit der Anerkennung einer Herrschaftsbefugnis des Volkes seine Repräsentation erforderlich wird, um so diese Herrschaft effizient ausüben zu können 18. Das soll hier aber nicht weiter untersucht werden, da es an dieser Stelle nur auf den Parlamentsbegriff als Maßstab für die oben 19 erwähnten Vertretungskörperschaften ankommt. Verwendet man die gefundene Definition als Folie, so leuchtet unmittelbar ein, daß es sich weder beim Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, noch bei den älteren Landtagen, noch bei der Bundesversammlung des Deutschen Bundes, um Parlamente in diesem Sinne handeln kann. Weder war das Volk in diesen Körperschaften vertreten - der alte Reichstag gliederte sich in die ständischen Kurien der Kurfürsten, Fürsten und Städte 20 -, noch konnte es durch Wahlen deren Zusammensetzung bestimmen. Vielmehr handelte es sich beim alten Reichstag 21 und bei den älteren Landtagen der Territorien um Vertretungskörperschaften der Stände, deren Vertretungsbefugnis nicht auf Wahl beruhte, sondern auf der "Innehabung persönlicher Rechte, insbesondere Grundbesitzes"22. Die Bundesversammlung des Deutschen Bundes - häufig auch Bundestag genannt 23 -, war dagegen ein Gesandten-Kongreß der zum Deutschen Bund vereinigten souveränen Staaten, dessen Mitglieder nach den Anweisungen ihrer Regierungen abzustimmen hatten 24 , mit einem Parlament also nicht zu vergleichen. Ebenso wird bei den Ständeversammlungen deutlich, daß von einer Repräsentation des Volkes nicht die Rede sein kann: Die Stände waren es gewohnt, ihre eigenen Interessen zu betonen 25 . Mangels Repräsentationsfunk18 So Achterberg, ParlR, S. 19.
Siehe oben bei Fn. 10ff. So Achterberg, ParlR, S. 21; Oestreich, Parlamentarische Arbeitsweise der Deutschen Reichstage unter Karl V., in Rausch (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 2), S. 249. Die Landstände der Territorien zerfielen in die drei Kurien der Ritterschaft, Prälate und Städte (siehe Bornhak, Verfassungsgeschichte, S. 168). 21 Bornhak, Verfassungsgeschichte, S. 91, zufolge galt der Reichstag als ein "Consilium regis, als ein Kaiserliches Ratskollegium"; der Reichstag sei eine vom Kaiser berufene und unter seiner Autorität veranstaltete Versammlung gewesen, welche ohne den Kaiser nicht denkbar gewesen sei. 22 Achterberg, ParlR, S. 21. 23 Vgl.: Bornhak, Verfassungsgeschichte, S. 357; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, § 33 II 1, S. 588, demzufolge "Bundesversammlung" der offizielle Name war; "Bundestag" sei sie in Anlehnung an den Namen des alten Reichstages genannt worden, als dessen Fortsetzung sie in gewissem Sinne gelten konnte. 24 Bornhak, a.a.O. (Fn. 23). 25 Achterberg, ParlR, S. 21 m.w. Nachw. bei Fn.14; siehe aber Hartung, Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. 1969, § 22, S. 85, der einen "rechtlichen Vertretungscharakter" der Landstände für das ganze Land konstatiert, wobei allerdings nicht an eine "moderne Volksvertretung" gedacht werden dürfe; Hartung gibt jedoch zu, daß die Landstände infolge ihrer "einseitigen sozialen Zusammensetzung" diese Vertretungsaufgabe häufig 19
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tion bedarf es keiner weiteren Erörterung, inwieweit der Parlaments begriff insofern erfüllt ist, als dem Kaiser, beziehungsweise dem jeweiligen Landesherrn, Herrschaftsrechte - zum Beispiel das der Steuerbewilligung26 eingeschränkt wurden 27. Demgegenüber werden die im Zuge des FTÜhkonstitutionalismus entstandenen Zweiten Kammern der Landtage der neueren landständischen Verfassungen 28 gemeinhin als "Organe mit Parlamentsnatur" angesehen 29 • Während sich die Mitglieder der Ersten Kammer weiterhin überwiegend aus dem hohen Adel - mitunter aber auch aus Vertretern der Kirchen und Universitäten 30 rekrutierten, vereinten sich in der Zweiten Kammer die Repräsentanten des gebildeten und besitzenden Bürgertums sowie des einfachen Adels, des Klerus und das Beamtentum 31 • Drei Merkmale sind es, welche hier den Parlamentscharakter vermitteln: -
erstens, daß die Mitglieder der Zweiten Kammer - im Gegensatz zur Ersten - aufgrund eines ständischen Wahlrechts gewählt wurden 32, mithin gewählte Abgeordnete waren,
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zweitens, daß sie nicht nur ihren Stand, sondern das gesamte Volk repräsentierten 33 ,
schlecht erfüllt und in der Regel mehr die eigenen Interessen als das Wohl der Gesamtheit berücksichtigt hätten. 26 Neben den Steuern ging es in den Landtagen um Recht, Krieg und Frieden, ganz allgemein um die Geschicke des Gemeinwesens; so Henke in Evangelisches Staatslexikon, Sp.1760. 27 Dementsprechend sieht nämlich Rausch in Röhring/Sontheimer, S. 322 (vgl. ders. in Rausch (Hrsg.), Geschichtliche Grundlagen, Bd. II, Vorwort S. IX), in den ständischen Vertretungskörperschaften die historischen Vorläufer moderner Parlamente, da sie als Steuerbewilligungs- und Beschwerdeinstanzen die "ständischen Freiheiten" gegenüber dem Machtanspruch der Fürsten verteidigten; noch heute würden daher Parlamente als die Verteidiger der "individuellen Freiheiten" gegenüber der Exekutive gelten. Die Schlußfolgerung, die Landtage als Vorläufer unserer Parlamente anzusehen, beruht auf der Gleichsetzung von ständischen Freiheiten mit individuellen Freiheiten. Dies ist meines Erachtens nicht gerechtfertigt, da die Stände Teil der Obrigkeit waren (vgl. Bornhak, a.a.O. (Fn. 23), S. 90: "örtliche Obrigkeit") und ihre "Freiheiten" eher als Privilegien zu bezeichnen sind, mit der Freiheit versus Staat ergo nichts zu tun haben. 28 Dabei taten sich insbesondere die süddeutschen Staaten Baden (1818), Bayern (1818), Württemberg (1819) und Hessen (1820) hervor, auf die sich im folgenden die Darstellung stützt; siehe aber zur gesamten Entwicklung: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, § 19 I 1, S. 317f., wonach zuvor eine Reihe von norddeutschen Kleinstaaten konstitutionelle Verfassungen schufen. 29 So Achterberg, ParlR, S. 22; vgl. auch: Huber, Bd. I, § 20 II 1, S. 341; Bergsträsser in Parlamentarismus (Hrsg. Kluxen), S. 139; Hartung, Verfassungsgeschichte, § 44, S. 199. 30 Achterberg, a.a.O. (Fn. 29); Huber, a.a.O. (Fn. 29); Hartung, a.a.O. (Fn. 29). 31 Huber, a.a.O. (Fn. 29). 32 Achterberg, a.a.O. (Fn. 29); Hartung, a.a.O. (Fn. 29); Huber, a.a.O. (Fn. 29), S. 344, insbesondere zum Wahlsystem.
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drittens, daß diese Volksvertretungen nicht nur konsultative Organe waren, sondern beiden Kammern ein fester Zuständigkeitsbereich eingeräumt wurde, der sich auf Gesetzgebung, Verfassungsänderung, Finanzgewalt und sonstige ständische Rechte erstreckte 34 •
Ferner ist bemerkenswert, daß sich erstmalig ein in Wahlgesetzen und Geschäftsordnungen enthaltenes Parlamentsrecht herausgebildet hatte, welches bereits zu einer Reihe von heute noch geläufigen Instituten führte, wie zum Beispiel der Legislaturperiode, der Immunität der Abgeordneten sowie der Öffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlungen 3s . Damit hatte das Repräsentativsystem seinen "Einzug in die deutsche Verfassungsgeschichte" gehalten 36 . Deshalb besteht auch kein Zweifel mehr an dem Parlamentscharakter der Körperschaften, welche der Frankfurter Nationalversammlung 37 in historischer Sicht folgten. 1850 fand das landständische Zweikammersystem seine letzte Ausprägung in der Preußischen Verfassung, nach der sich ein Herrenhaus (Erste Kammer) und ein Abgeordnetenhaus (Zweite Kammer) "in die gesetzgebende Funktion teilten"38. Auch hier setzte sich lediglich das Abgeordnetenhaus aus gewählten Abgeordneten zusammen, hatte mithin nur dieses die "Natur des Parlaments"39. Dagegen war der ständische Gedanke endgültig aufgegeben in der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, dessen Parlament der Reichstag war 40 • Daran knüpfte die Reichsverfassung von 1871 an, welche die Bestimmungen, die den Reichstag betrafen, wörtlich von der Verfassung des Norddeutschen Bundes übernahm, eingedenk der Tatsache, daß das neu geschaffene Kaiserreich auf einer Erweiterung des Norddeutschen Bundes um die süddeutschen Staaten beruhte 41 • Dieser Reichstag hatte Bestand bis zum Ende des Kaiserreichs 1918. Ihm folgte 1919 der Weimarer Reichstag 42 , der,
33 Achterberg, a.a.O. (Fn. 29); vgl. auch Huber, a.a.O. (Fn. 29), der die Repräsentation des Gesamtvolkes durch beide Kammern gemeinsam vermittelt sieht, es gelte der Grundsatz der "Doppel-Repräsentation"; hierzu Achterberg, a.a.O. (Fn. 29), S. 22 Fn. 19, der dies für die Annahme einer Parlamentsnatur "nicht ausreichend" hält, vielmehr müsse der einzelne Abgeordnete das gesamte Volk repräsentieren. 34 Dazu ausführlich Huber, Bd. I, § 20 II 4, S. 346ff.; knapp Achterberg, ParlR, S. 23. 3S SO Achterberg, ParlR, S. 22f. m.w.Nachw., wo dies jeweils der Fall war; ebenda auch weitere Beispiele. 36 Achterberg, ParlR, S. 23. 37 Dazu bereits oben bei Fn. 8. 38 So Achterberg, ParlR, S. 25; Art. 62 85 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 (PrVerfUrk 1850); vgl. dazu allgemein Huber, Bd. III, 2. Aufl. 1970, § 5, S. 79ff. 39 Achterberg, a.a.O. (Fn. 38). 40 Achterberg, ParlR, S. 26; Art. 20 32 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.4.1867 (NorddBV); siehe dazu allgemein Huber, Bd. III, § 47, S. 649ff. 41 Achterberg, ParlR, S. 27f.; Art. 20 32 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 (RV 1871); allgemein Huber, Bd. III, § 60, S. 860ff.
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obwohl formell fortbestehend, seine Parlamentsqualität nur bis 1933 halten konnte 43 • Danach - in der Zeit des Nationalsozialismus - kann von einem Parlament im Sinne obiger Definition44 keine Rede mehr sein. Erst mit der Schaffung der ersten deutschen Landesparlamente und dem Bundestag 1949 setzte das parlamentarische Leben in Deutschland wieder ein. Diese soeben aufgezeigte Entwicklung bildet den Hintergrund für die Entstehung und Ausbildung aller parlamentarischen Institutionen, so auch für den Ältestenrat. 2. Anfänge der Fraktionsbildung
Wie bereits erwähnt 4S , ist für einen Nachweis der Entstehung des damaligen Seniorenkonvents entscheidend, wann und wo Fraktionen entstanden sind 46 • Gemeinhin wird hinsichtlich der Anfänge der Fraktionsbildung in Deutschland auf die Nationalversammlung zu Frankfurt am Main im Jahre 1848 verwiesen 47 . Hier, im ersten gesamtdeutschen Parlament48 , bestand einerseits zum ersten Male die" vollwertige Chance"49, andererseits auch - in Anbetracht von rund 585 Abgeordneten SO - die Notwendigkeit 51 , sich parlamentarisch zu 42 Art. 20 40a, 54, 59, 68ff. der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919 (RV 1919); dazu allgemein Huber, Bd. VI, § 26, S. 349ff. 43 Achterberg, ParlR, S. 30: Dem Reichstag fehlte das Merkmal "gewählte Abgeordnete" sowie das der "gesetzgebenden Tätigkeit". 44 Siehe bei Fn. 16ff. 45 Siehe bei Fn. 3. 46 Diesen Zusammenhang erwähnen auch von Below in verg. Inst., S. 347; Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12. 47 Vgl.: Kretschmer, Fraktionen, 1984, S. 17; Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, 1968, S. 21; Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 25; Wollmann in Röhring/Sontheimer, S. 139; Lösche, ebenda, S. 380; Tormin, Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, 2. Aufl. 1967, S. 27; Bergsträsser, Entwicklung des Parlamentarismus, 1954, S. 9 = ders. in Parlamentarismus (Hrsg. Kluxen), 5. Aufl. 1980, S. 142; Loewenberg, Parlamentarismus, 1969, S. 26; Tschermak von Seysenegg, Fraktionen im Deutschen Bundestag, Diss. iur. Freiburg 1971, S. 3; Kramer, Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819 - 1849, 1968, S. 74ff. (ausführlich); Zeh, Parlamentarismus, 2. Aufl. 1983, S. 44; jüngst wieder: Fiedler, Das Parlamentsalbum von 1849/50 und die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus, in: ZParl 1985, 86. Vgl. auch Kühne, Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S.35f. (S. 57), der schon das Vorparlament (31.3. - 3.4.1848) als parteipolitischen und fraktionellen "Katalysator" für die künftige Nationalversammlung ansieht. 48 Dazu schon oben Fn. 8f. 49 So Kretschmer, S. 17. 50 Gemäß Huber, Bd. II, § 44 II 1, S. 610, wobei die Frankfurter NV allerdings in der vollen Stärke nie vereinigt war; durchschnittlich seien es 400 bis 500 Abgeordnete gewesen; näher dazu Huber, a.a.O. (insbes. auch zur gesellschaftlichen Gliederung). 51 Nach Kramer, S. 47, empfanden diese Notwendigkeit auch die Abgeordneten selber und zwar nicht nur wegen der großen Mitgliederzahl, sondern auch wegen der
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organisieren. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß dem zunächst zwei bedeutende Hindernisse im Wege standen: die Aufteilung des Paulskirchen-Parlaments in Abteilungen S2 und die Tatsache, daß es zum damaligen Zeitpunkt in Deutschland keine Parteien gab S3 , die meisten Abgeordneten vielmehr unabhängige Persönlichkeiten, mithin wahrhafte "Honoratioren" waren S4 • Die Abteilungen, auch Sectionen genannt SS, umfaßten jeweils eine möglichst gleiche Anzahl von Mitgliedern und wurden durch das Los gebildet. Ihr ursprünglicher Zweck war hauptsächlich, wichtigere Fragen, beispielsweise Gesetzentwürfe, in kleineren Kreisen zu besprechen und außerdem die Mitglieder der Ausschüsse zu wählen 56. Freilich meint von Mohl 5? schon 1860, daß die Erfahrung gezeigt habe - "und reiflicheres Nachdenken hätte gleich von Anfang darauf führen können" -, daß die vermeintlichen Vorteile dieser Einteilung "wenn überhaupt" nur in geringem Maße bestanden und daß man statt eines Zeitgewinns "eher einen Zeitverlust oder nur eine leere Form veranlaßt" hat. Dementsprechend scheinen die Abteilungen ihrer zugedachten Funktion kaum gerecht geworden zu sein, denn sie büßten bald ihre Bedeutung als Stätte der vorbereitenden Aussprache im kleinen Kreis ein 58. Vielmehr setzte sich ein aufkeimendes politisches Zusammengehörigkeitsgefühl zunehmend über die Abteilungen hinweg S9 • Da aber "politische Fühlungnahmen"60 gerade wegen der Abteilungen im Plenum nicht möglich waren, verlagerten sich solche Versammlungen in die zahlreichen Hotels und Gasthöfe Frankfurts 61 • Daneben 62 hat eine Rolle gespielt, daß zu Anfang ein geordnetes parlamentarisches "bevorstehenden schwerwiegenden Entscheidungen". Als Belege führt Kramer, a.a.O., Briefe und Tagebuchaufzeichnungen an; vgl. auch Ziebura in Festgabe für Ernst Fraenkel, s. 198. 52 § 19 GOFrNV; vgl. nur von Mahl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, 1860, S. 293; Kramer, S. 75; Kürschner, S. 24; Batzenhart, S. 485. 53 Tarmin, Geschichte der deutschen Parteien, S 26f.: Jeder Abgeordnete fühlte sich als eine eigene Partei; so auch Valentin, Die erste deutsche Nationalversammlung, 1919, S. 27; Huber, Bd. II, § 44 I 2, S. 608; Bergsträsser, Entwicklung, S. 9; Hauenschild,S. 23. 54 So Huber, a.a.O. (Fn. 53), S. 609: Politik war "eine Art Nebentätigkeit, aber kein Berur'; Hauenschild, a.a.O. (Fn. 53); Kramer, S. 74. 55 So van Mahl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, 1860, S. 292ff., passim. 56 Zu allem van Mahl, a.a.O. (Fn. 55), dort S. 293f. auch weitere Gründe. 5? Van Mahl, a.a.O. (Fn. 55), S. 294. 58 So Kramer, S. 195: " ... schon nach den ersten Verhandlungstagen ..... ; vgl. auch: Ziebura, Anfänge des deutschen Parlamentarismus - Geschäftsverfahren und Entscheidungsprozeß in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/1849, in: Faktoren der politischen Entscheidung - Festgabe für Ernst Fraenkel (Hrsg. Ritter, Ziebura), 1963, S. 197ff.; Hauenschild, S. 31. 59 Vgl. Tarmin, S. 27; Bergsträsser, Entwicklung, S. 9; wobei allerdings von heidenauch sonst kaum - das Hindernis der Abteilungen nicht erwähnt wird; Ausnahme: Kramer, S. 75. 60 Kramer, a.a.O. (Fn. 59). 61 Kramer, a.a.O. (Fn. 59).
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Verfahren nicht stattfand, eher ein "Chaos von Anschauungen und Interessen"63 herrschte. Man erkannte, daß dem nur durch Gruppenbildung beizukommen war, die (sc. Gruppen), um mehrheits- und damit durchsetzungsrahig zu sein, aus Gleichgesinnten bestehen mußten 64 • Die Geschwindigkeit solcher Gruppenbildung verlief unterschiedlich; auf einen Nenner gebracht kann man sagen: Je extremer die politische Richtung - sei es links oder rechts -, desto schneller kam es dazu, während sie bei den gemäßigten Abgeordneten am langsamsten vonstatten ging 65 . Am Beginn standen die Frankfurter Lokale "Mainlust", "Deutscher Hof', "Donnersberg", "Württemberger Hof' - wie dergleichen Namen lauteten 66 - , in denen man sich zu "geselligen Zusammenkünften ... , mehr nach zufälligem Begegnen oder persönlicher Bekanntschaft, als nach bewußter politischer Wahlverwandtschaft"67 traf. Vielfach waren Abgeordnete noch auf der Suche nach Gesinnungsgenossen 68 und des öfteren auch damit beschäftigt, erst einmal ihren eigenen politischen Standpunkt zu finden und zu formen 69 • Bald 70 kristallisierten sich aber Gesinnungsgemeinschaften heraus, die zu regelmäßigen Versammlungen und Besprechungen zusammentraten, wobei die entscheidenden Fragen als "Katalysatoren"71 wirkten: großdeutsche oder kleindeutsche Lösung, Republik oder Monarchie, Alleinentscheidungs- oder Vereinbarungsprinzip 72. Aus diesen - anfangs noch losen 62 Mir scheinen beide Aspekte - der politische wie der parlamentarisch-organisatorische - für die Herausbildung der Fraktionen verantwortlich zu sein. Dies wird nicht immer klar herausgestellt, vielfach wird ein Gesichtspunkt zugunsten des anderen vernachlässigt: So betont Kramer, S. 74ff., den politischen, Hauenschild, S. 23ff., vornehmlich den parlamentarischen Aspekt; anders jedoch insoweit: Tschermak von Seysenegg, S. 3f.; recht deutlich auch Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 - 1850, 1977, S. 416f. 63 So Hauenschild, S. 23; vgl. auch Tormin, S. 26; Ziebura in FG Fraenkel, S. 197ff.; Kühne, S. 57f. konstatiert, daß die parlamentarische Vorerfahrung nur "rudimentär" gewesen sei. M Vgl. Kramer, S. 74 (m.w.Nachw. aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen): " ... um das eigene Stimmengewicht durch geschlossenes Vorgehen möglichst zur Geltung zu bringen"; deutlich auch Kramer, S. 88f. 65 Kramer, S. 76. 66 Siehe dazu Huber, Bd. II, § 44 III, S. 613f.; sowie Kramer, S. 76ff. 67 So Biedermann, Erinnerungen aus der Paulskirche, 1849, S. 4, bezüglich der "Mainlust" . 68 Kramer, S. 75; Botzenhart, S. 416. 69 Vgl. dazu auch Huber,Bd. II, § 44 Ir 2, S. 613, der von der Offenheit der parlamentarischen Piskussion spricht. 70 Gemäß Kramer, S. 76, konstituierten sich die demokratischen Linken unter den Abgeordneten bereits am 18. Mai 1848, dem Tag der Eröffnungssitzung der Nationalversammlung, unter Vorsitz Robert Blums im "Deutschen Hof'. 71 So Hauenschild, S. 23. 72 Vgl. Naumann, Die politischen Parteien, 1910, S. 6; Appens, Die Nationalversammlung zu Frankfurt a.M. 1848/49,1920, S. 35ff.; Valentin, Die erste deutsche Nationalversammlung, 1919, S. 28ff.; Huber, Bd. Ir, § 44 Ir 2, S. 612f.
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Clubs 73, zuweilen auch um starke Führerpersönlichkeiten geschart 74, entwickelten sich nach und nach die Fraktionen, die sich - grob gesagt - in die Richtungen der Konservativen, der Liberalen und der Radikalen gliederten 75. Mitunter verlief dies allerdings nicht reibungslos: Mancherlei angebahnte Zusammenschlüsse fielen wegen der Heterogenität der verschiedenen Ansichten wieder auseinander 76 oder vereinigten sich zu neuen Verbindungen, wobei es zahlreiche Übergänge und laufende Veränderungen gab 77 • Zur Fraktionsbildung mögen auch die entsprechenden Aufforderungen von Abgeordneten im Plenum beigetragen haben 78, die ergingen, als das Präsidium wieder einmal mit Amendements oder Redewünschen überhäuft wurde und somit die Nationalversammlung dem parlamentarischen Kollaps nahe war.Anfang Juni 1848 jedenfalls war der Prozeß der Partei- beziehungsweise Fraktionsbildung 79 soweit gediehen, "daß von fertigen, konstituierten und organisierten Parteien die Rede sein konnte" 80 • Zwar sind diese politischen Klubs noch keineswegs mit unseren heutigen Parteien und Fraktionen zu vergleichen 81, doch der Drang zu festeren Formen war nicht mehr aufzuhalten. Dieser Drang äußerte sich in der wachsenden Neigung, den Mitgliederkreis zu begrenzen und sich nach außen hin abzuschließen 82. Dies zeigt sich an den förmlichen Satzungen der Klubs 83 , die ab Sommer 1848 beschlossen wurden und in denen die Pflicht zur Fraktionsgeschlossenheit eine eingehende Regelung fand 84. Außerdem ähneln diese Satzungen in weiten Teilen den heutigen Fraktionssatzungen 85. Somit kann ab diesem Zeitpunkt von konstituierten Fraktionen gesprochen werden, wobei bemerkenswert ist, daß sich die Zusammenschlüsse selber zunächst noch als "Partei" (oder "Partey"86) bezeichneten und sich anhand der Sachfragen ausbildeten 87 . 73 Zuweilen auch "Clubbs" geschrieben; siehe nur das Zitat aus einem Brief eines damaligen Abgeordneten bei Tormin, S. 27. 74 Nach Valentin, S. 31. 75 Achterberg, ParIR, S. 24. 76 Botzenhart, S. 416; im einzelnen dazu Kramer, S. 76ff. 77 So Huber, Bd. II, § 44 III, S. 613. 78 Siehe die Nachweise bei Botzenhart, S. 417; Hauenschild, S. 23; Valentin, S. 27f. 79 Zwischen Partei und Fraktion wurde noch nicht unterschieden. Deshalb kann auch von "Fraktionsbildung" gesprochen werden, wie dies Botzenhart, S. 418 tut; vgl. dazu unten bei Fn. 113fT. 80 So Biedermann, Erinnerungen, S. 11. 81 So kam es immer wieder vor, daß Absprachen nicht gehalten wurden; Kramer, S. 79 m. Nachw. 82 Kramer, S. 76ff. 83 Sie sind dank Kramer, Anhang I, S. 271ff., nunmehr leichter zugänglich. 84 Kramer, S. 81. 85 Vgl. damalige Satzungen (Fn. 83) mit den heutigen, abgedruckt bei Achterberg, ParlR, Anhang I, S. 789ff. 86 Siehe bei Fn. 83. 87 Siehe oben bei Fn. 71; vgl. auch Tormin. S. 28.
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Über die Fraktionen hatten die Parteien Einzug in den deutschen Parlamentarismus gehalten 88 • Zwar gab es auch schon vorher politische Klubs 89 und lockere Gruppierungen von Abgeordneten in den deutschen Ständeparlamenten 90, aber zum ersten Mal trafen hier die unterschiedlichsten politischen Kräfte Deutschlands ungehemmt aufeinander 91 ; mit der Verpflichtung, für kommende Generationen grundlegende Arbeit leisten zu müssen. In der Folge kam es in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten zu einer ähnlichen Entwicklung92 , dennoch soll die Untersuchung hier auf die Entwicklungen in Preußen und im Deutschen Reichstag beschränkt bleiben, da sie beispielhaft für die Verhältnisse im übrigen Deutschland waren 93. In Preußen beginnt die Geschichte der Fraktionen nicht erst mit der Nationalversammlung 1848 94 , sondern schon mit dem Vereinigten Landtag 9 S, der vom 11. April bis zum 25. Juni 1847 in Berlin tagte. Schon hier kam es zu einer Spaltung in eine liberale und eine konservative Abgeordnetengruppe 96 . Huber 97 führt dies darauf zurück, daß sich die Abgeordneten, obwohl sie jeweils als Mitglieder ihrer Stände und ihrer Provinziallandtage berufen worden waren, in ihrer überwiegenden Mehrheit als Einheit gefühlt hätten, die ihre Aufgabe darin sahen, "den Staat als Ganzes" zu vertreten. Die Fraktionen, die sich zunächst ebenfalls in Gasthöfen trafen 98 , bildeten sich somit über die Schranken der Provinzen und Stände hinweg und wirkten auch hier in Preußen als Vorreiter einer parteipolitischen Entwicklung, obgleich die Schärfe der politischen Gegensätze noch nicht in dem Maße wie später vorhanden war 99 • Auch in der preußischen Nationalversammlung, die am 22. Mai 1848 - fast gleichzeitig mit der Frankfurter - in Berlin zusammentrat, kam es wie in der Paulskircheaber unabhängig von dieser loo - alsbald zur Bildung von Fraktionen 101. Kramer 102 berichtet, daß sich ab Mai 1848 in den folgenden Wochen Fraktionen Vgl. Hauenschild, S. 25; Tormin, S. 27f. Kretschmer, S. 17f., zur Entstehung der politischen Clubs im Ausland und schließlich deren Verbot in Deutschland; Tormin, S. 28; ausführlich Botzenhart, S. 315ff. 90 Kretschmer, S. 18; ausführlich dazu Kramer, S. 21fT. 91 Zeh, Parlamentarismus, S. 45, betont hierbei, daß sich die politischen Kräfte zum ersten Male ohne einen "Anflug des Illegalen" gegenüberstehen konnten. 92 Dazu ausführlich Botzenhart, S. 193fT.; zur Fraktionsbildung ebenda, S. 454fT. 93 Hauenschild, S. 25, der in gleicher Weise verfährt; bestätigend Botzenhart, S. 461. 94 Wovon Hauenschild, S. 25, und Kürschner, S. 27f., ausgehen. 95 Dazu allgemein Huber, Bd. 11, § 36 IV, S. 491fT. 96 Huber, Bd. 11, § 36 IV 2, S. 494; ihm folgend Kramer, S. 233. 97 Huber, a.a.O. (Fn. 96), S. 493. 98 Woran sich nach Kramer, S. 233, der echte "Fraktionscharakter" zeigt. 99 Huber, a.a.O. (Fn. 96), S. 493f.; vgl. auch Kramer, S. 233. 100 So insbesondere Botzenhart, S. 441. 101 Kramer, S. 233; Botzenhart, S. 441f.; Hauenschild" S. 25; Kretschmer, S. 19. 102 Kramer,S. 234 m.w.Nachw.; vgl. auch Botzenhart, S. 442fT. 88
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I. Grundlagen
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herausgebildet hätten, die von einer "radikalen Linken" und einem "linken Zentrum", über ein "Zentrum" bis zu einer "konservativen Rechten" sowie einer von der Rechten abgespaltenen "Fraktion Harkort" gereicht hätten. Dementsprechend hatte sich die Sitzordnung in der Nationalversammlung durchgesetzt 103 . Zwar hatte sich die Fraktionsdisziplin allgemein verschärft, offenbar reichte sie aber nicht immer dazu aus, Beschlüsse der Fraktionen durchzusetzenl~. Ungeachtet dieses noch lockeren organisatorischen Rahmens waren in Berlin die Fraktionen bald die eigentlichen "Träger der politischen Entscheidungen im Parlament" geworden 105, was sich vor allem in den nachgewiesenen Vorberatungen unter den Fraktionen zeigte lO6 . Insgesamt handelte es sich hier um informellere Gebilde als in der Frankfurter Nationalversammlung, die von Anfang an präzisere und konkretere Programme hatten, deren Verfestigung jedoch mit der Auflösung der Nationaiversammiung l07 abgebrochen wurdelOS. Seine Fortsetzung erfuhr das Entstehen der Fraktionen in der neugebildeten Zweiten Kammer des Preußischen Landtages von 1849 109 , der von nun an bis 1866 Schrittmacherfunktionen für die deutsche Parlaments- und Parteiengeschichte übernehmen sollte 110 . Schon vor der Eröffnung der Kammern waren Abgeordnete zusammengetreten, um diejenigen, welche die Verfassung als rechtsgültig anerkennen wollten, "zu einer großen Partei zu einigen"111. Fischer ll2 geht ausführlich auf die "Parteien der Zweiten Kammer" ein. Dabei ist auffällig, daß er die Begriffe "Partei" und "Fraktion" synonym verwendet 113 , Kramer, S. 234. Kramer, S. 235 (m.w.Nachw.) erwähnt, daß es noch im Oktober 1848 Abstimmungen gab, in denen sämtliche Fraktionen gespalten waren; vgl. auch Botzenhart, S. 453. 105 So Botzenhart, S. 453. 106 Dazu Botzenhart, a.a.O. (Fn. 105); sowie Kramer, S. 236; siehe auch später 11.3 (Text). 107 Durch Verfügung des Preußischen Königs vom 5.12.1848; siehe dazu Huber, Bd. 11, § 55 III 1, S.762f. 108 So Botzenhart, S. 453. 109 Durch Oktroyierung der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat durch König Friedrich Wilhe1m IV. geschaffen und auf den 26.2.1849 durch ihn einberufen; siehe dazu Huber, Bd. 11, § 55 III 2, S. 764. 110 Dazu insbesondere Friedrich Naumann in seiner Schrift (Vortragsveröffentlichung): Die politischen Parteien, 1910, S. 7: "Der preußische Landtag ist von nun an die Stätte, wo die deutsche Parteigeschichte anfängt und solange verläuft, bis dieser Landtag selbst überwunden wird, teils durch Bismarck und teils durch den norddeutschen Reichstag. Die Landtagsgeschichte haben wir deshalb zu berichten von Anfang der 50er Jahre bis zum Jahre 1866; später aber können wir den Landtag ruhig verlassen, denn später wird er stiller und stiller, bis er ungefähr das geworden ist, was heute preußische Volksvertretung heißt." Vgl. auch Kühne, S. 57, der die nach 1848 einsetzende parlamentarische Schulung auf die "Schaffung der preußischen Kammern" zurückführt. 111 So Fischer, Geschichte der Preußischen Kammern vom 26. Februar bis zum 27. April 1849, S. 340. 112 Fischer, S. 339ff. 103
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
mithin eine Unterscheidung gemäß der heutigen Verwendung zum damaligen Zeitpunkt nicht getroffen wurde 114 . Dem entspricht Naumann 1l5 , wenn er sagt: "Partei ist damals fast nur ein Instrument innerhalb der Volksvertretung, um für die parlamentarischen Beschlüsse die Vorarbeiten und Vorbesprechungen zu machen". Jedenfalls besteht kein Zweifel, daß im Preußischen Abgeordnetenhaus Fraktionen bestanden haben 116. Zwar waren diese zunächst noch personal strukturiert, das heißt, sie gruppierten sich um einen parlamentarischen Führer und nannten sich dann "Fraktion Graf Schlieffen", "Fraktion von Arnim" etc. l17 , doch wurden diese innerparlamentarischen Verbindungen immer fester und geschlossener und begannen allmählich aus dem Parlament in die Bevölkerung hineinzuwirken 118. Diese Entwicklung schildert anschaulich Hauenschild119 : Ihm zufolge war der Auslöser, daß die Liberalen von Anfang an aus Protest gegen die oktroyierte Verfassung und gegen das Verhalten der Regierung im sogenannten Heereskonflikt ihre Mitarbeit versagten und eigene Gegenvorstellungen entwickelten. Dies zwang die Opposition zur Rückversicherung bei der Bevölkerung. Daraus resultierte die Geburt der politischen Parteien. Man erkannte, daß "eine Volksvertretung genau soviel Kraft hat, als sie Volkswillen vertritt" 120. Das machte es notwendig sich Organisationen zu schaffen, welche die Aufgabe übernahmen, auf die Bevölkerung einzuwirken und sie von bestimmten Programmen zu überzeugen, um dann mittels Wahl stärkeren Einfluß im Parlament zu gewinnen l21 . Nach Naumann 122 entstand in diesem "Doppelkampf' die Fortschrittspartei auf der einen und die konservative Partei auf der anderen Seite und damit die Grundform des "später so verwickelten deutschen Parteiensystems" 123. Folge dieser Entwicklung war allerdings, daß der Einfll.lß der Fraktionen zurückging, die Partei nunmehr in erster Linie den politischen Kurs bestimmte. Das zeigt sich auch an der Namensgebung, die nun nicht mehr nach den Fraktionsführern oder dem Versammlungsort vorgenommen wurde, sondern auf dem entsprechenden Parteinamen beruhte l24 . Damit wurden auch die Begriffe Partei und Fraktion nicht mehr synonym gebraucht, vielmehr wurde die heute noch gebräuchliche Unterscheidung üblich, wonach
113
114 I1S 116 117 118 119 120 121 122 123 124
Siehe insbes. Fischer, S. 342f., 372. Vgl. auch Hauenschild, S. 26 m.w.Nachw. Naumann, S. 9. Siehe statt vieler Hauenschild, S. 25f. So'Naumann, S. 8 (dort auch weitere Beispiele). Hauenschild, S. 26. Hauenschild, S. 26f. So Naumann, S. 10. Hauenschild, S. 27. Naumann, S. 10. Naumann, S. 10, demzufolge mit dieser Zeit die Wahlkämpfe beginnen. Vgl. soeben bei Fn. 122; Hauenschild, S. 27.
H. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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"Fraktion" für den innerparlamentarischen Bereich vorbehalten ist und "Partei" für den Zusammenschluß von Gesinnungsgenossen außerhalb des Parlaments verwendet wird 125 • Keiner weiteren Erörterung bedarf es, daß es angesichts dieser Vorentwicklungen in den Reichstagen später sogleich zu Fraktionsbildungen gekommen ist, zumal die Parteien bei den Wahlen zum Reichstag bereits eine erhebliche Rolle spielten und die Fraktionen als Vertreter der Parteien galten l26 •
11. Die Entstehung des Seniorenkonvents Nachdem gefunden wurde, daß die Fraktionen von Anfang an die parlamentarische Entwicklung in Deutschland begleiten 1, soll vor diesem Hintergrund nach der Entstehung des Vorläufers des Ältestenrats - des Seniorenkonvents geforscht werden. Dabei gilt es von vornherein zu berücksichtigen, daß dem Seniorenkonvent lange Zeitl keinerlei rechtliche Erwähnung, geschweige denn eine geschäftsordnungsmäßige Normierung, zugekommen ist. Dies hat seinen Grund auch darin, daß den Fraktionen, deren Instrument der Seniorenkonvent war, Gleiches widerfuhr. Man sah in ihnen allgemein sogar "negative Erscheinungen" 3 •
Hauenschild, S. 27f. m.w.Nachw. Vgl. nur Hauenschild, S. 28; Kürschner, S. 32, m.w.Nachw.; vgl. auch Kretschmer, S. 19: Im Deutschen Reichstag von 1871 war die "Parteizugehörigkeit entscheidend für die Zuordnung der Abgeordneten zu einem im Parlament erheblichen politischen Lager". 1 Vgl. auch Hauenschild, S. 30 m.w.Nachw. 2 Im Reichstag wurde er erst in der GO von 1922 als "Ältestenrat" statuiert; in einigen Ländern etwas früher, so in Württemberg 1909, Elsaß-Lothringen 1911, Baden 1912, Hessen 1914, Anhalt 1914; siehe dazu unten IV. 3 So Hauenschild, S. 30 m.w.Nachw.; die ebenda unter anderem erwähnten Zitate von Fischer, Geschichte der Preußischen Kammern, 1849, S. 345f., 372, können für den Schluß Hauenschilds jedoch nicht herangezogen werden: In beiden Fällen spricht Fischer zwar von "Parteihaß", aus dem Zusammenhang (deutlich S. 372) ergibt sich jedoch, daß damit nicht "Haß" auf die Parteien, sondern "Haß" zwischen den Parteien, eine gesteigerte Form von "Parteileidenschaft" (Fischer, ebenda, S. 372) gemeint ist. Fischer kontrastiert damit die Versöhnungsliebe des damaligen Parteiführers von Auerswald, die Schuld an dessen mangelndem Einfluß sei (S. 345f.), bzw. konstatiert die Schwierigkeit, bei der Aufgeregtheit und den Kontroversen im Plenum Präsident zu sein (S. 372). Fischers Anliegen ist, jeweils die auftretenden Probleme herauszustellen, nicht aber eine grundsätzliche Parteikritik. Gestützt wird Hauenschildjedoch u.a. durch Tschermak von Seysenegg, S. 6; sowie Triepel, Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1928, S. 14ff., der S. 17 von Mohl zitiert, welcher 1872 geschrieben habe, daß die feste Verbindung der einer Parteiabschattung angehörigen Mitglieder einer repräsentativen Versammlung zu einer sog. Fraktion "ein nach allen Seiten schädlicher Auswuchs und Unfug, ein Beweis von 125
126
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
Mangels Quellen muß somit versucht werden, aus der - spärlich vorhandenen - Literatur und gelegentlichen Äußerungen in Plenarsitzungen auf Existenz und Kompetenz des Seniorenkonvents zu schließen 4 . Obwohl festgestellt wurde, daß die eigentliche parlamentarische Entwicklung in Deutschland mit der "Paulskirche" beginnt 5 , sollen in einem vorangestellten Kapitel (1.) der Vollständigkeit halber vergleichbare frühere Gremien untersucht werden, um damit aufzuzeigen, daß die Typizität eines Seniorenkonvents der Rechtsgeschichte nicht unbekannt ist. Für solche Gremien wird der heuristische Begriff "Vorläufer" verwendet, wobei nicht außer acht gelassen werden darf, daß es sich um echte Vorläufer nur dort handeln kann, wo Parlament und Fraktionen vorhanden sind 6 • 1. Vorläufer
Vorläufer des Seniorenkonvents müssen, so es sie gibt, in den Vertretungskörperschaften zu finden sein, welche bereits 7 im Zusammenhang mit der parlamentarischen Entwicklung erwähnt wurden: im alten Reichstag, in der Bundesversammlung und in den Landtagen der älteren und neueren landständischen Verfassungen. Dabei soll hier auch auf die Körperschaften eingegangen werden, denen der Parlamentscharakter abgesprochen wurde 8 . Für den Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hat Gerhard Oestreich eine - offenbar seltene - Arbeit über dessen Arbeitsweise verfaßt 9 • Hier findet sich denn auch die Erwähnung eines sogenannten "interkurialen Ausschusses" 10 • Diese Ausschüsse setzten sich aus Vertretern aller drei ständischer Kurien zusammen, welche von diesen gewählt wurden, während ansonsten die Trennung der Kurien gewahrt blieb. Das führte zu einer unmittelbaren Zusammenarbeit der Stände, die in diesem Gremium überdies nach dem Mehrheitsprinzip abstimmten. Nach Oestreich ll wurde hier die wesentliche Arbeit des Reichstaunfertiger staatlicher Erziehung" sei; von Mohl selbst schrieb in ZfgStW 1875, 53: " ... ; auch mag das Dasein der Fractionen ein Beweis von noch unvollendetem Parteileben sein": vgl. ähnlich auch von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 11, 1862, S. 32. 4 Siehe dazu schon oben I. bei Fn. 2. 5 Siehe 1.1. bei Fn. 8fT. 6 Siehe I. vor 1. 7 Siehe 1.1. 8 Das sind der alte Reichstag, die Landtage der alten landständischen Verfassungen und die Bundesversammlung; vgl. oben 1.1. 9 Oestreich, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der Deutschen Reichstage unter Karl V. (1519-1556), in: Grundlagen der modemen Volksvertretung, Hrsg. Rausch, Bd. 11, 1974, S. 242-278, dem die folgende Darstellung entnommen ist; ansonsten z.B. bei Bornhak, Verfassungsgeschichte, § 11,S. 90fT., oder Hartung, § 12 nur knappe Bemerkungen, welche die eigentliche Arbeitsweise nur am Rande behandeln. 10 Oestreich, a.a.O. (Fn. 9), S. 260; eine Bezeichnung, die Oestreich ebenda vorschlägt. 11 Zu allem Oestreich, a.a.O. (Fn. 9), S. 260.
11. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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ges geleistet und sein technisches Funktionieren ermöglicht. Interessant ist wie sich hier, trotz aller Standesunterschiede auf die gemeinhin streng geachtet wurde, aus der Notwendigkeit gemeinsamer Arbeit heraus ein interkuriales Organ gebildet hatte. Der interkuriale Aspekt ist es vor allem, welcher den Gedanken an eine Ähnlichkeit mit dem Seniorenkonvent aufkommen läßt. Ein gewichtiger Grund spricht allerdings gegen einen Vorläufer-Status dieses interkurialen Ausschusses: Dies ist - neben mangelnder Parlamentsqualität des Reichstages 12 und ebenso fehlender Fraktionsqualität der Stände - der Charakter als Ausschuß. Während ein Ausschuß gemeinhin - und so auch hier 13 - Sachfragen berät und für das entsendende Gremium Beschlüsse vorbereitet, waren solche Angelegenheiten gerade nicht Aufgabe des Seniorenkonvents, in dem es grundsätzlich nur um das parlamentarische Verfahren ging 14 • Außerdem herrschte im Seniorenkonvent das Verständigungsprinzip, während im interkurialen Ausschuß - wie auch sonst in Ausschüssen abgestimmt wurde. Hieraus ergibt sich, daß die interkurialen Ausschüssels der Reichstage des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation allenfalls als Vorläufer parlamentarischer Ausschüsse gelten könnten, nicht jedoch als Vorläufer des Seniorenkonvents und des Ältestenrats. Später ist im Zusammenhang mit der Bundesversammlung des Deutschen Bundes zuweilen von "Delegierten-" oder "Vertrauensmännerversammlung" die Rede 16 • Diese Begriffe tauchen auch - wie noch zu zeigen sein wird 17 - im Kontext des nachmaligen Seniorenkonvents auf. Nur zeigt sich hier, wie schon beim Parlamentsbegriff1 8 , daß eine bloße Orientierung am Wort zu kurz greift: Bei der Delegiertenversammlung ging es darum, daß im Deutschen Bund vorübergehend erwogen wurde 19 , zur Beratung von gemeinsamen Gesetzentwürfen zeitweise eine Versammlung von Delegierten aus den deutschen Ständekammern einzuberufen 20 • Die Vertrauensmännerversammlung hingegen 12 Was hier aber als Gegenargument nicht in den Vordergrund gestellt werden soll; vgl. oben bei Fn. 6, 8. 13 Oestreich, a.a.O. (Fn. 9), S. 259. 14 Siehe dazu unten 111.2. 15 "Keiner der Reichstage glich in der Ausschußbildung dem anderen", so Oestreich, a.a.O. (Fn. 9), S. 262, vielmehr gab es jedesmal eine wechselnde Anzahl und Form von Ausschüssen. Oestreich, S. 264, erwähnt ausdrücklich den Speyrer Reichstag von 1529, der ein interkuriales Gremium einsetzte. 16 Vgl. Zoepjl, Grundsätze des gemeinen Deutschen Staatsrechts mit besonderer Rücksicht auf das allgemeine Staatsrecht und auf die neuesten Zeitverhältnisse, 5. Aufl. 1863, Bd. I, S. 462ff., 779; Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 3. Aufl. 1865, Bd. I, S. 204, 210ff., 240ff. 17 Siehe unten 11. 3./4./5. 18 Vgl. oben 1. bei Fn. 15; sowie Achterberg, ParlR, S. 19. 19 Preußen trat dem Antrag entgegen, die Majorität der Bundesversammlung lehnte schließlich ab; Zachariä, a.a.O. (Fn. 16), S. 240ff. 20 Zachariä, a.a.O. (Fn. 16), S. 240ff.; Zoepjl, a.a.O. (Fn. 16), S. 779.
3 Franke
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
hatte die Aufgabe, eine Revision der Bundesverfassung vorzubereiten; es sollten dafür siebzehn Männer allgemeinen Vertrauens als gutachterlicher Beirat der Bundesversammlung abgeordnet werden 21 • Dies zeigt, daß es sich in beiden Fällen um Gremien mit Ausschußcharakter handelte, die hier keiner weiteren Untersuchung bedürfen. Für die Ständekammern im Vormärz, den Landtagen der neueren landständischen Verfassungen, hat Botzenhart 22 umfassend deren Geschäftsverfahren untersucht 23 • Aber von einem Seniorenkonvent, einem Ältestenrat oder einer vergleichbaren Einrichtung ist nirgendwo die Rede; so konstatiert Botzenhart denn auch ausdrücklich, daß es dergleichen nicht gab 24 • Daran ändert auch das Zitat Kramers 2S aus den Verhandlungen der badischen Zweiten Kammer vom 21. Mai 1833 nichts 26 • Hier hatte der Abgeordnete Grimm vorgeschlagen, die Abteilungen sollten gleich im Anschluß an die Kammersitzung die Kommissionen wählen. Dagegen wandte sich der Abgeordnete von Itzstein, der erklärte, daß man sich erst vorher untereinander beraten müsse. Nach Kramer 27 war dies die "erste in öffentlicher Parlamentsverhandlung gemachte Erwähnung von Vorberatungen". Ihm zufolge sind allerdings wesentliche Abreden aus solchen Vorberatungen nicht hervorgegangen. Die schwankenden Mehrheitsverhältnisse bei den Kammerabstimmungen dieser . Landtage würden jede Fraktionsdisziplin auch nur bei einem Teil der radikalen Abgeordneten vermissen lassen 28 • Damit muß die Suche nach der Entstehung des Seniorenkonvents bei der Frankfurter Nationalversammlung 1848 ansetzen, wo auch die Anfänge der Fraktionsbildung festgestellt wurden 29 • 2. Frankfurter Nationalversammlung 1848/49
Für den Sommer 1848 wurde bereits eine weitgehende Fraktionsbildung festgestellt 30 • Zwar gab es immer noch zahlreiche Übergänge und Veränderungen, doch lassen sich trotz dieser Labilität im wesentlichen zehn Gruppen unterscheiden 31 : So gab es eine konservative Fraktion, genannt "Milani", die Zachariä, a.a.O. (Fn. 16), S. 204, 210fT.; Zoepjl, a.a.O. (Fn. 16), S. 462, 472, 477. Botzenhart, S. 463fT. 23 Vgl. auch Kramer, S. 21fT. 24 Botzenhart, a.a.O. (Fn. 22), S. 467. 25 Kramer, S. 46, 196. 26 Verhandlungen badische 2. Kammer, 1833, Heft 1, S. 59. 27 Kramer, S. 46. 28 Mit "radikal" ist hier der um von Itzstein gescharte extreme Flügel der Liberalen gemeint, "auf dem der Sinn für geschlossene Kampfesweise von vornherein stärker ausgeprägt war", Kramer, a.a.O. (Fn. 27). 29 Siehe oben 1.2. 30 Siehe oben 1.2. bei Fn. 79. 31 So und zum folgenden Huber, Bd. II, § 44 III, S. 613f.; vgl. auch das Schaubild zur Fraktionsbewegung der Frankfurter NV bei Kramer, Anhang II, S. 283, sowie ebenda, Anhang III, S. 284, die Übersicht der Fraktionsstärken. 21
22
II. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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aus einem protestantischen und einem katholischen Flügel bestand, zwei liberale Fraktionen, "Kasino" und "Württemberger Hof', aus denen durch Abspaltungen weitere liberale Gruppen, nämlich "Landsberg", "Augsburger Hof' und "Pariser Hof' hinzutraten, ferner zwei demokratische Fraktionen "Deutscher Hof' und "Donnersberg", zu denen später "Westendhall" und "Nürnberger Hof' kamen. Mehr als 150 Abgeordnete lehnten es ab, sich förmlich einer Fraktion anzuschließen, behielten also ihren fraktionslosen Status 32 . Eine der Hauptursachen für die wachsende Bedeutung der Fraktionen sieht Kramer 33 in der "Notwendigkeit einer gleichförmigen parlamentarischen Mehrheitsbildung". Mit der Frankfurter Nationalversammlung hatte zum ersten Mal in Deutschland ein Parlament eine konstruktive politische Aufgabe, die darin bestand, die oberste Verfassungsgewalt darzustellen und eine vorläufige Reichsexekutive mit Regierungsfunktion zu schaffen 34 • Dabei war ein parlamentarischer Rückhalt erforderlich, der aufgrund der Vielzahl der Fraktionen nur durch eineKoalition mehrerer vermittelt werden konnte 3s . Dementsprechend stützte sich schon das erste Reichskabinett von Leiningen 36 , welches nach langen Verhandlungen unter den Fraktionen gebildet worden war, auf eine Koalition, die sich im wesentlichen aus dem "Württemberger Hof' und dem "Kasino" zusammensetzte 37 , somit eine Koalitionsregierung der rechten und der linken Mitte war 38 . Deren parlamentarische Abhängigkeit zeigte sich an ihrem Sturz im Gefolge des Waffenstillstandes von Malmö, was darauf zurückzuführen war, daß sich ein Teil der Mitte mit der Linken zu einer parlamentarischen Mehrheit gegen die Regierung zusammenfand 39 . Nachdem nach einigem Tauziehen 40 die Nationalversammlung dem Malmöer WatTenstillstandsabkommen doch noch zustimmte, wurde es dem Reichsverweser ermöglicht, das zurückgetretene Kabinett mit einigen personellen Umbesetzungen wieder in sein Amt zu berufen. Daraufhin kam es zu mannigfachen Veränderungen im Fraktionsgefüge; es war deutlich geworden, daß es auf eine kontinuierliche Mehrheitsbildung ankam, "um konstruktive Beschlüsse zu ermöglichen und eine arbeitsfähige Regierung zu stützen"41. S0 42 entstand Ende September 1848 43 die sogenannte "Neuner32 Neben Huber, a.a.O. (Fn. 31); vgl.jetzt auch Kürschner, S. 26; sowie allgemein zu der Entwicklung und Stellung der fraktionslosen Abgeordneten in deutschen .Parlamenten, ebenda, S. 23ff. 33 Kramer, S. 88f. J4 Kramer, S. 89. 35 Kramer, S. 89f. 36 Siehe dazu Huber, Bd. II, § 45 III 1, S. 629f. 37 Kramer, S. 90. 38 So Huber, a.a.O. (Fn. 36), S. 630. 39 Huber, a.a.O. (Fn. 38). 40 Siehe dazu Kramer, S. 94; vgl. Huber, Bd. II, § 48 III, S. 673ff. 41 So Kramer, S. 95. 42 Zu Einzelheiten und der Vorgeschichte, Kramer, S. 95f.
3"
Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
kommission", der erste interfraktionelle Ausschuß in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus44 • Gebildet wurde er von den Fraktionen "Augsburger Hof', "Landsberg" und "Kasino", welche je drei Vertreter in dieses "Zentraldirektorium"4s entsandten. In der Folgezeit entwickelte diese Kommission neben hohem politischem Einfluß«> eine beträchtliche parlamentarischtaktische Schlagkraft47 . Das bewirkte, daß auf diese Konzentration der konservativen und gemäßigt konstitutionellen Elemente hin, die Linksfraktionen "Donnersberg", "Deutscher Hof' und ein Teil der "Westendhall" reagierten 48 , indem sie sich Ende November 1848 zum "Zentralmärzverein"49 zusammenschlossen. "Diese Polarisierung der Fraktionen um die Mitte (plus Re~hte) einerseits und die Linke andererseits führte, wenigstens für kurze Zeit, zu einem durchaus funktionierenden Zweiparteiensystem, das allerdings der durch die österreichische Frage hervorgerufenen Belastungsprobe nicht widerstand und auch gar nicht widerstehen konnte, weil es auf Grund von Kriterien entstanden war, in die der preußisch-österreichische Konflikt nicht hineinpaßte"so. Die politischen Probleme sollen an dieser Stelle jedoch nicht weiter untersucht werden, da es hier auf die Änderungen in parlamentarisch-organisatorischer Hinsicht ankommt, die sich im Gefolge der Fraktionen-Konzentration ergeben haben. Denn zwischen den Wandlungen des parlamentarischen Geschäftsverfahrens und der Verfestigung der Fraktionen läßt sich eine "deutliche Wechselwirkung" beobachten SI. SO nahm denn die ModifIzierung der Geschäftsordnung durch "stillschweigenden Gebrauch oder Nichtanwendung, ausdrückliche Absprache oder förmliche Änderung oder Ergänzung in bestimmten Abschnitten" nach den Erfahrungen der ersten Monate in erheblichem Maße ZU S2 • Das zeigt sich insbesondere an dem Schicksal der Abteilungen s3 : Ursprünglich gedacht für die Vereinfachung von Ausschußwahlen, um nämlich die politische Haltung der verschiedenen Kandidaten zu ermitteln, unterblieb diese Funktion im Zuge der Verfestigung des Fraktionswesens allmählich, denn solche Vorberatungen fanden nunmehr zwischen den Klubs statt S4 • Bald lag die Vorbereitung Zeitpunkt gemäß Botzenhart, S. 428. Vgl. Kramer, S. 98, 215tT.; Ziebura in FG Fraenkel, S. 215; Botzenhart, S. 428; sowie als Zeitzeugen: Biedermann, S. 39f.; Ambrosch in Frankfurter Parlament in Briefen (Hrsg. Bergsträsser), 1929, S. 42. 45 So Ambrosch, a.a.O. (Fn. 44). 46 Dazu im einzelnen Kramer, S. 98f. 47 So Ziebura in FG Fraenkel,S. 215. 48 So Ziebura, a.a.O. (Fn. 47), S. 216. 49 So Botzenhart, S. 398tT. (ausführlich); oder auch "Märzverein", so Ziebura, a.a.O. (Fn. 48), aber auch Botzenhart, S. 400. 50 So Ziebura, a.a.O. (Fn. 48). 51 Kramer, S. 200. 52 Botzenhart, S. 489. 53 Zu ihnen bereits oben 1.2. bei Fn. 55tT. 43
44
11. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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der Plenardebatten ganz in der Hand der Fraktionen und der Ausschüsse 55 . Dementsprechend legten die "gesinnungsverwandten Fraktionen" vor wichtigen Debatten oder Abstimmungen eine gemeinsame Marschroute fest 56 . Die Zusammenarbeit gesinnungsverwandter Fraktionen wurde bereits im Kontext der Koalitionsbildung festgestellt 57 . Hier, im Zusammenhang mit der Entstehungdes Seniorenkonvents, ist jedoch bedeutsamer, ob es auch über Koalitionsgrenzen hinweg zur Zusammenarbeit in parlamentarisch-organisatorischer Hinsicht gekommen ist. Denn entsprechend dem heutigen Ältestenrat müßten im Seniorenkonvent alle Fraktionen vertreten sein, was schon aus seinem minderheitenschützenden Charakter 58 folgt. Von dem Zeitzeugen Karl Biedermann 59 stammt der interessante Hinweis darauf, daß entsprechende Unterhandlungen "in außerordentlichen Fällen" auch mit dem politischen Gegner stattfanden, "insbesondere wenn es galt, für einen zu erwartenden heißen Strauß die Kampfessitte und die Art der Waffen im Voraus zu verabreden, damit nicht durch unritterliches Wesen die gemeinsame Waffenehre der Versammlung vor den Augen der Welt beschimpft werde. Gewöhnlich übernahm in solchem Falle einer der Clubs, welche der Rechten eben so nahe stand als der Linken, dieses Vermittleramt; denn in die aristokratischen Räume des Cafe Milani hat wohl ebenso wenig einer der trotzigen Republikaner des Deutschen Hofes oder des Donnersberges jemals den Fuß gesetzt, als umgekehrt ein Mitglied der Partei Vincke-Radowitz in diese Hallen der Demokratie". Auch Hallbauer 6IJ erwähnt in seinem Tagebucheintrag vom 18. November 1848 beiläufig einen "Versuch der Einigung mit der rechten Seite"61 durch Bildung von Kommissionen, als sich die Linke, welche sich geschlossen im "Deutschen Hof' versammelt hatte, in Bedrängnis fühlte. Zunehmend beherrschten taktische Gesichtspunkte das "politische Kampffeld". Das Bemühen ging immer mehr dahin, die Unterstützung des Gegners durch das Angebot von Zugeständnissen zu erhalten 62. Solch parlamentarisch54 So Botzenhart, S. 489; Kramer, S. 195; vgl. auch von Mohl, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 65, der vom "entschiedenen Mißerfolg" der Abteilungen spricht. Ihm (a.a.O.) zufolge traten die Abteilungen in den letzten Monaten der Versammlung "kaum je mehr zusammen, so daß auch ihre monatliche Erneuerung durch das Los als völlig nutzlose Mühe unterblieb". 55 Botzenhart, S. 489. 56 Ziebura, in FG Fraenkel, S. 213, Fn. 113; vgl. auch von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 11, 1862, S. 31. 57 Vgl. oben bei Fn. 35fT. 58 Siehe nur Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 35fT.; auf den kritischen Einwand Kürschners, S. 30, hierzu wird unten bei Fn. 112 eingegangen. 59 Biedermann, Erinnerungen, S. 169. 60 Hallbauer in Frankfurter Parlament in Briefen (Rrsg. Bergsträsser), S. 159fT. 61 Hallbauer, a.a.O. (Fn. 60), S. 160. 62 Kramer, S. 156.
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
organisatorische Zusammenarbeit mit dem politischen Gegner zeigte sich an verschiedenen Stellen: beispielsweise bei der Besetzung der Ausschüsse. Denn nachdem sich die maßgebenden Entscheidungen vermehrt aus dem Plenum in die Klubs verlagerten, fiel den Ausschüssen die Rolle interfraktioneller Zusammenkünfte zu, in denen die in den Einzelklubs gefundenen Entscheidungen aufeinander abgestimmt wurden 63 • Dieser Funktionswandel des Ausschußsystems war eine Folge der veränderten Besetzungsweise, bei der die Paulskirchenklubs in steigendem Maße ihre entsprechenden Wünsche durchzusetzen versuchten 64 • Besonders deutlich wurde die Zusammenarbeit beim sogenannten "Dreißiger-Ausschuß", der am 12. April 1849 zur Durchführung der Reichsverfassung von den Abteilungen gewählt worden war. Die kleindeutsche kaiserliche Partei und die Linke hatten vor der Wahl ein förmliches Abkommen getroffen, demzufolge sie sich unter Ausschluß der Großdeutschen die Kommissionssitze zu gleichen Hälften teilten 65. Kramer«> konstatiert zurecht, daß es von da an, bis zu einer entsprechend dem Plenum paritätischen Besetzung der Ausschüsse, "wie sie später 67 .. durch den Seniorenkonvent erfolgte", nicht mehr weit war. In diesem Zusammenhang bemerkt er 68 , daß Berichte über das Bestehen eines Ältestenrats in der Nationalversammlung nicht vorliegen, jedoch die notwendigen Absprachen über die Tagesordnung eine Verständigung der Klubs untereinander und mit dem Präsidenten voraussetzen. Ähnliches gilt für die Redeordnung 69 • Frühzeitig bekundeten hier die Klubs ihr Interesse an einer Kontrolle der Redezeit und ihrer Zuteilung. Zwar war in § 35 GOFrNV die Einrichtung einer Rednerliste vorgesehen, wonach für die Worterteilung allein die Reihenfolge der Eintragung maßgeblich sein sollte, doch setzte sich die parlamentarische Praxis - trotz formeller Fortgeltung über diese Regelung hinweg. So war es bald ein "offenes Geheimnis"70, daß es eine zweite inoffizielle Rednerliste gab, die sich an die Wünsche der Klubs hielt. Nach ihr richtete sich der Präsident, der das Wort zu erteilen hatte. Wenn es hierbei zuweilen auch etwas ungeordnet zuging - so kam es vor, daß sich die Klubmitglieder allein zu dem Zweck in die ausgelegte Liste eintrugen, um hernach das Wort an einen Fraktionskollegen abzutreten oder es wurden konkurrierende Rednerlisten angelegt oder diese wurden gemischt -, so sind doch Ansätze eines abgestimmten Verhaltens unter den Klubs zu erkennen: so beispielsweise, als in den Verfassungsdebatten vom November und Dezember
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Kramer, S. 197. Kramer, S. 196f. Kramer, S. 198. Kramer, a.a.O. (Fn. 65). Im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag; siehe dazu unten 11. 3./4. Kramer, S. 198, Fn. 60. Dazu allgemein Kramer, S. 192ff., dem die Darstellung hier und weiter folgt. So Kramer, S. 193.
II. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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1848 die Klubs übereingekommen waren, auf Plenardiskussi~nen in diesem Verhandlungsabschnitt möglichst zu verzichten. An dieser Stelle wird gleichfalls erkennbar, wie der Parlamentspräsident schon damals 71 vom Verhalten der Fraktionen abhängig, seine eigene "Machtvollkommenheit" entsprechend beschränkt war 72 .Ein weiteres Beispiel für interfraktionelle Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg bietet die bereits hier aufkommende Praxis des Pairings 73 • Nachdem die Fraktionsgebundenheit stark genug geworden war, boten sich für gegnerische Gruppen Absprachen an, wonach sich das Stimmengewicht der jeweils verhinderten Mitglieder gegenseitig aufhob 74. Ein Exempel für ein solches Verfahren findet sich im Tagebucheintrag Hallbauers vom 4. Dezember 1848 75 , wo er davon berichtet, daß Mitglieder des Augsburger Hofes sich mit Mitgliedern der äußersten Linken für den bevorstehenden Weihnachtsurlaub "abgepaart" hätten. Mithin gab es also in der Paulskirchenversammlung noch keinen Seniorenkonvent oder ein ähnliches institutionelles Gremium, aber Ansätze einer interfraktionellen Zusammenarbeit über die Koalitionen gleichgesinnter Fraktionen hinaus, sind nicht zu verkennen. Nach allem liegen hier, in der ersten deutschen Nationalversammlung, die Wurzeln einer Entwicklung, die sich im Preußischen Abgeordnetenhaus fortsetzt. 3. Preußisches Abgeordnetenhaus 1847ff
Schon im Vereinigten Landtag 1847 und in der Preußischen Nationalversammlung 1848 kam es zur Bildung von Fraktionen 76 • Nach Kramer 77 beanspruchten insbesondere in der Preußischen Nationalversammlung die Klubberatungen einen großen Teil der Arbeitszeit der Parlamentarier. In allen wichtigen Angelegenheiten wurde durch Unterhändler miteinander verhandelt und wurden förmliche Übereinkommen getroffen. Dementsprechend sieht Kramer den hauptsächlichen Wirkungsbereich der Abgeordneten "in und zwischen den Fraktionen". Allerdings muß seinen Beispielen entnommen werden, daß sich solche Absprachen auf politische Probleme bezogen haben. Parlamentarisch-organisatorische Fortentwicklungen gab es erst bei der Preußischen Zweiten Kammer, welche ab 1855 "Haus der Abgeordneten" genannt wurde 78 • In solcher Hinsicht leistete das Preußische Abgeordnetenhaus SchrittZu heute siehe Zweiter Teil, IV.1. Kramer, S. 194. 73 Kramer, S. 183, verwendet dafür das deutsche Wort "Abpaaren" , was heute überholt sein dürfte, damals allerdings verwendet wurde, siehe Hallbauerin Frankfurter Parlament in Briefen (Hrsg. Bergsträsser), S. 188; vgl. auch Zweiter Teil, III.9. 74 Kramer, S. 183. 75 Hallbauer, a.a.O. (Fn. 73). 76 Dies wurde oben 1.2. bei Fn. 95ff. schon gezeigt. 77 Kramer, S. 236 m.w.Nachw. auch zum folgenden. 71
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macherdienste für die späteren Reichstage 79. In der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses 8o ist von einem Seniorenkonvent nirgendwo die Rede. Dennoch ist seine damalige Existenz allgemein anerkannt; sein Entstehen wird gemeinhin auf die Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts angesetzt 81 • Eine genauere Angabe findet sich an einer Stelle in den Stenographischen Berichten des Preußischen Abgeordnetenhauses, wo der Abgeordnete Berger das Jahr 1867 als Entstehungsjahr anführt 82 • Nach Plate 83 gab es amtliche Sonderakten des Seniorenkonvents, welche seit dem Jahre 1871 geführt wurden; offenbar sind sie jedoch mittlerweile verschollen 84. Immerhin sind aber in den Stenographischen Berichten - den Sitzungsprotokollen - des Abgeordnetenhauses immer wieder Äußerungen von Abgeordneten im Plenum zu verzeichnen, die einen Eindruck von der Existenz und Kompetenz des Seniorenkonvents des Preußischen Abgeordnetenhauses vermitteln. Als Grund für seine Entstehung wird in der Literatur weithin angeführt: das "Bedürfnis, der Minderheit des Hauses bei der Besetzung der Kommissionen gerecht zu werden" 85 • Um dies entsprechend würdigen zu können, sind folgende Zusammenhänge zu berücksichtigen: Nach dem Vorbild der Frankfurter und Berliner Nationalversammlung gliederte sich das Preußische Abgeordnetenhaus in sieben Abteilungen 86 • Diese wurden zu Beginn jeder Session aufs Neue durch das Los unter allen Mitgliedern des Hauses - unabhängig von deren politischer Couleur - gebildet. Sie umfaßten jeweils möglichst die gleiche Mitgliederzahl, hatten einen Vorsitzenden, einen Schriftführer sowie dafür je einen Stellvertreter
78 Durch Gesetz vom 30. Mai 1855 wurde die Erste Kammer "Herrenhaus", die Zweite "Haus der Abgeordneten" genannt; vgl. Plate, Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, 2. Aufl. 1904, S. 9, 22, 181 (hier: Abdruck des Gesetzes); Huber, Bd. III, § 5 III 1, S. 85. 79 Vgl. Hatschek, S. 175: "Für die Entwicklung im deutschen Reichstag waren zweifellos neben verschiedenen anderen Punkten die Einrichtungen im preußischen Abgeordnetenhaus vorbildlich"; vgl. auch Loewenberg, S. 29. 80 Zur Geschichte der GOPrAbgH von 1849 bis 1903 ausführlich Plate, S. 1 20. 8! Vgl. nur Plate, S. 2, 229; Hatschek, S. 175; Dechamps, Macht und Arbeit der Ausschüsse, 1954, S. 132; von Below in verg.Inst., S. 347; Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12. 82 Berger in Sten.Ber. PrAbgH, Session 1889, Sitzung Nr. 25 vom 2.3.1889, S. 721; ebenda S. 723, erinnert der Abgeordnete Dr. Windthorst, an den "alten Denzin", der den Seniorenkonvent "ins Leben gerufen" habe. 83 Plate, a.a.O. (Fn. 81). 84 Vgl. auch schon oben I. bei Fn. 2 (für den Reichstag). 85 So insbesondere Plate, S. 229; Hatschek, S. 175; vgl. auch Hauenschild, S. 33f.; Dechamps, S. 132; Arndt, S. 35. 86 § 2 GOPrAbgH; Hauenschild, S. 31; Grünthai, Parlamentarismus in Preußen 1848/49, S. 356f. (Abteilungswesen auch auf französisches und belgisches Vorbild zurückzuführen; dazu auch Plate, S. 11f., 25ff.); vgl. zu den Abteilungen in der Frankfurter Nationalversammlung auch schon oben 1.2.
II. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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und waren ursprünglich für folgende Aufgaben zuständig 87 : die Vorberatung aller Vorlagen, die Wahlprüfung und die Wahl der Kommissions- (= Ausschuß)mitglieder. Sinn dieser Gliederung in Abteilungen war, die Parteieinflüsse zu dämpfen, doch ließ sich das unaufhaltsam fortschreitende Partei- und Fraktionswesen davon nicht beeindf\lcken und führte diesen Zweck ad absurdum. Bald wurde die Vorberatung der Vorlagen in den Abteilungen wieder aufgegeben, da sie sich als zeitraubend und wenig gründlich erwiesen hatten. Vor allem die willkürliche Zusammensetzung der Abteilungen per Los vermochte nicht zu konstruktiver Zusammenarbeit unter den Abgeordneten beizutragen. Anders verhielt es sich bei den - nicht mit den Abteilungen zu verwechselnden - KOinmissionen (= Ausschüssen), an die alsbald die Vorlagen überwiesen wurden. Dementsprechend wurde ein in der Praxis schon seit längerem bestehender Zustand insofern nur noch "formell sanktioniert" 88 , als in der Geschäftsordnungsrevision 1862 die Vorberatung im ganzen Hause und in den Kommissionen eingeführt und diejenige in den Abteilungen abgeschafft wurde 89 • Praxisrelevant waren aber vor allem die Vorberatungen in den Fraktionen, die es seit deren Entstehen gab 90 . Die Wahlprüfung hingegen blieb lange Zeitzumindest formell- "Domäne der Abteilungen" 91 , wobei allerdings seit 1877 auch hier über eine Wahlprüfungskommission die Fraktionen Einfluß erlangten 92 • Noch stärker zeigte sich der Einfluß der Fraktionen bei der Wahl der Kommissionsmitglieder. Diese formelle Zuständigkeit der Abteilungen wurde nämlich schon seit Beginn der sechziger Jahre von den Fraktionen dadurch untergraben, daß sie sich untereinander vor den Kommissionswahlen einigten, wer anschließend gewählt werden sollte 93 • Dieser Sachverhalt wird durch Äußerungen verschiedener Abgeordneter - im Rückblick auf diese Zeit - im Plenum bestätigt 94 • Zunächst führte dies dazu - so schildert es der Abgeordnete Berger 95 - , daß die Mehrheit "rücksichtslos" sämtliche Plätze in den Ausschüssen mit ihren Mitgliedern besetzte, "gleichviel, ob sie, die Mehrheit, konservativ oder liberal war. Die Rechte wie die Linke verfuhr gleichmäßig tyrannisch". So und zum folgenden: Hauenschild, S. 31f.; Plate, S. 25ff. So Hauenschild, S. 32. 89 Plate, S. 11. 90 Hauenschild, a.a.O. (Fn. 88). 91 Hauenschild, a.a.O. (Fn. 88). 92 Siehe dazu Hauenschild, S. 33 m.w.Nachw. 93 Hauenschild, S. 33. 94 Vgl. nur: Abg. von Mitschke-Collande in Sten.Ber. PrAbgH, Sess. 1870/71, Sitzg. Nr. 11 vom 11.1.1871, S. 233; Abg. von Czar/inski, Sten.Ber. PrAbgH, Sess. 1875, Sitzg. Nr. 6 vom 4.2.1875, S. 68; Abg. Berger (Witten), Sten.Ber. PrAbgH, Sess. 1889, Sitzg. Nr. 25 vom 2.3.1889, S. 720; Anm.: Eine Zusammenstellung der Legislaturperioden, Sessionen und Präsidenten des Preußischen Abgeordnetenhauses - einschließlich Zweiter Kammer und Preußischer Nationalversammlung - von 1848 bis 1903 findet sich in der "Beilage E" bei Plate, S. 259 - 262. 95 Sten.Ber.PrAbgH, a.a.O. (Fn. 94). 87 88
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
Weiter führt Berger aus 96 , wie es zur Bildung des Seniorenkonvents kam: "Endlich war der Übelstand so schlimm geworden, die Minoritäten wurden so rücksichtslos aus den Kommissionen herausgedrängt, daß man im Jahre 1867, als das Haus nur aus 2 gleich großen Hälften, einer linken und einer rechten, sich zusammensetzte, dazu überging, den sogenannten Seniorenkonvent zu bilden, also eine Vertretung aller Fraktionen, und durch diese bestimmen zu lassen, daß, wie es allein recht und billig war, sämtliche Fach- und andere Kommissionen fortan zusammengesetzt werden sollten nach Maßgabe der Stärke der einzelnen Fraktionen". Gerade dieser Umstand, die Bildung des Seniorenkonvents, habe die Abteilungen "so ganz und gar überflüssig gemacht". Heutzutage (1889) seien in der Tat die Abteilungen "nur eine Trompete, in die der Seniorenkonvent hineinbläst" 97 • Aus einer Äußerung des Abgeordneten Dr. Windthorst an anderer Stelle geht hervor, daß der Seniorenkonvent zunächst ziemlich im Verborgenen gewirkt haben muß: "Zunächst geschah das (der Ablauf der Kommissionswahlen) ganz stille .. , und obwohl ich sehr gut höre, habe ich doch hier beinahe ein ganzes halbes Jahr gesessen, ehe ich das merkte ... Jetzt ist die Sache mehr schon offiziell geworden, ... "98. In der Folge schließt Windthorst die Überlegung an, ob nicht die Gesetzgebung dieser Entwicklung zu folgen hätte 99 .Tatsächlich hat man in mehreren Anläufen versucht, die parlamentarische Praxis durch eine Neufassung der Geschäftsordnung zu legalisieren 100, allerdings hätte man dann auch Bestimmungen über die Fraktionen einfügen müssen, "was man offenbar nicht wollte"101. Die Äußerung Bergers 102 erhellt, daß es Intention war, mit dem Seniorenkonvent ein Vertretungsgremium aller Fraktionen zu schaffen. Diese Absicht belegen zudem weitere Bemerkungen im Plenum des Preußischen Abgeordnetenhauses 103. Hieraus resultiert auch der minderheitenschützende Charakter des Seniorenkonvents, der bereits als Entstehungsgrund herausgestellt wurde 104 . Sten.Ber.PrAbgH, a.a.O. (Fn. 94), S. 721. So Abg. Berger, a.a.O. (Fn. 94). 98 So Abg. Dr. Windthorst, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1870/71, Sitzg. Nr. 11 vom 11.1.1871, S. 234f. 99 Windthorst, a.a.O. (Fn. 98), S. 235. 100 Zur Geschichte der GO allgemein Plate, S.lfT., dort insbesondere S. 11f., 13, 14, 19. 101 So mit Recht Hauenschild, S. 33; vgl. Plate, S. 19 m.w.Nachw. aus den Sten.Ber.PrAbgH; interessant ist in diesem Zusammenhang die Äußerung des Abg. Dr. Windthorst, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1876, 56. Sitzg. vom 16.5.1876, S. 1452, der sich gegen die geschäftsordnungsmäßige Verankerung aussprach, da er befürchtete, die "segensreiche Wirksamkeit des Seniorenkonvents" könne dann mangels Freiwilligkeit ein Ende haben. 102 Siehe oben Fn. 96. 103 Vgl. z.B. Abg. Reichensperger, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1870/71, Sitzg. Nr. 11 v. 11.1.1871, S. 236; insbes. Abg. Kosch, ebenda, S. 237; sowie Abg. Berger, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1876, Sitzg. Nr. 56 vom 16.5.1876, S. 1450. 104 Siehe oben bei Fn. 85. 96 97
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Ob allerdings der Minoritätenschutz hinreichend gewährt war, blieb umstritten, wie aus einer - bereits in anderem Zusammenhang erwähnten - Äußerung des Abgeordneten Dr. Windthorst lOS hervorgeht, wonach ihm von Minoritäten Klagen zu Ohren kamen, daß sie im Hause nicht die Berücksichtigung finden würden, die sie verdient hätten. Dem widersprach aber der Abgeordnete Reichensperger, der als Teilnehmer am Seniorenkonvent konstatierte, daß er "nach allen Richtungen hin billige Berücksichtigung wahrgenommen habe" 106. Ihn unterstützten in der gleichen Sitzung die Abgeordneten Dr. Kosch 107 und Dr. Becker 108 • Reichensperger gab allerdings zu 109, daß die "ganz kleinen Fraktionen und die sogenannten Wilden"l1O zu kurz kommen könnten. Nur insofern trifft demnach die Annahme Jörg Kürschners zu 111 , daß der Seniorenkonvent seine minderheitenschützende Funktion nicht erfüllte. Kürschners Prämisse hierbei ist, daß schon der einzelne Abgeordnete eine parlamentarische Minderheit darstellt. Das ist aber keineswegs so eindeutig, wie seine Darstellung ll2 suggeriert, vielmehr wird gemeinhin 113 unter den Minderheitenbegriff mindestens eine Gruppe von Abgeordneten gefaßt. Die damit notwendigerweise verbundene Schwächung der Stellung des einzelnen Abgeordneten wird gesehen 114, aber für unumgänglich gehalten: "Denn im parlamentarischen Geschäftsverfahren können in vielen Fällen Rechte sinnvollerweise nur Gruppen von Abgeordneten eingeräumt werden, während die Gewährung gleicher oder ähnlicher Positionen an die einzelnen Abgeordneten das Parlament arbeitsunfähig machen müßte"115. Daß dies auch im Preußischen Abgeordnetenhaus des 19. Jahrhunderts so gesehen wurde, legt der im Plenum erteilte Rat des Abgeordneten Reichensperger nahe, wonach sich die Wilden anderen Fraktionen anschließen, oder aber selbst eine" wilde Fraktion" gründen sollten 116. Dies soll hier aber nicht weiter vertieft werden, vielmehr sollte an dieser Stelle nur die
Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1870/71, Sitzg. Nr. 11 vom 11.1.1871, S. 235. Abg. Reichensperger, a.a.O. (Fn. 103). 107 A.a.O. (Fn. 103), S. 237. 108 A.a.O. (Fn. 103), S. 238. 109 A.a.O. (Fn. 103). 110 Als "Wilde" wurden damals die fraktionslosen Abgeordneten bezeichnet; vgl. nur Kürschner, S. 30; Plate, S. 230. m Kürschner, S. 30. 112 A.a.O. (Fn. 111); Kürschner, S. 120, gibt zwar zu, daß der Begriff der Minderheit keine klaren Konturen hat, bleibt jedoch bei seinem Ergebnis. 113 Vgl. nur Achterberg, ParlR, S. 300 m.w.Nachw. in Fn. 4; Arndt, S. 38, 80 (der hier jedenfalls Kürschner, S. 120, Fn. 193, nicht stützt); Hauenschild, S. 108. 114 So insbesondere Arndt, S. 38. 115 So Arndt, a.a.O. (Fn. 114); vgl. auch Hauenschild, S. 108, der vom notwendigen "KomprOlniß zwischen Konzentrations- und Vertretungsprinzip" spricht. 116 Abg. Reichensperger, Sten.Ber.PrAbgH, Sess.1870/71, Sitzg. Nr.11 vom 11.1.1871, S.236. 105
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Tatsache der Entstehung des Seniorenkonvents und als Entstehungsgrund das Bedürfnis des Minderheitenschutzes aufgezeigt werden. Die Aufgaben des Seniorenkonvents des Preußischen Abgeordnetenhauses erstreckten sich nicht nur auf die Kommissionsmitglieder und -vorsitzenden, sondern auch auf übrige Ämter des Hauses. So bereitete er die Besetzung der Posten der Präsidenten, Schriftführer, Quästoren und Abteilungsvorsitzenden vor 117 • Dabei wurde der Anteil der Fraktionen an den Ämtern aufgrund einerentsprechend ihrer Stärke - vom "Bureau-Direktor" (Verwaltungschef des Hauses) aufgestellten Berechnung durch den Seniorenkonvent festgesetzt 118. Daß die fraktionslosen Abgeordneten hierbei nicht berücksichtigt wurden, wurde bereits erwähnt 119 und ist auch an anderer Stelle in den Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses Gegenstand von Bemerkungen 120. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber die Äußerung des Abgeordneten von Eynern l21 , der von einer "Einrichtung" berichtete, wonach sich die Wilden den ihnen näherstehenden Fraktionen hätten zurechnen können und die Fraktionen berechtigt gewesen wären, die Anzahl ihrer Mitglieder durch kooptierte Wilde zu verstärken, um dadurch größere Anteile bei der Besetzung von Kommissionen zu erhalten. Von Eynern monierte l22 , daß diese Praxis bis zum Jahre 1888 bestanden hätte, nunmehr (1889) aber nicht mehr erneuert worden wäre, wofür ihm das Verständnis fehlen würde. Dem hielt in derselben Sitzung der Abgeordnete Dr. Freiherr von Schorlemer-Alst - als damaliger Vorsitzender des Seniorenkonvents - folgendes entgegen: "Es ist nicht richtig, daß der Seniorenkonvent es abgelehnt oder irgendeinen Beschluß darüber gefaßt hat, wie die sogenannten Wilden zu behandeln sind, ob anders wie früher. Tatsache ist, daß einfach in diesem Jahre Anmeldungen von Wilden, als einer Fraktion zugehörig, nicht erfolgt sind; also hatte sich der Seniorenkonvent auch nicht damit zu beschäftigen"123. Weiter führte von Schorlemer-Alst aus, daß seitens des Seniorenkonvents nichts entgegenstehen würde, "wenn eine Fraktion, die im Seniorenkonvent vertreten ist, sagt: wir wollen in die Kommission den und den Herrn, der zu den sogenannten Wilden gehört, für uns mit eintreten lassen" 124. 117 So Plate, S. 230; aus den ebenda aufgeführten Nachweisen der Sten.Ber.PrAbgH muß jedoch entnommen werden, daß der Einfluß auf die Kommissionssitze der bedeutendste Tätigkeitsbereich war. 118 Plate, S. 230. 119 Siehe oben bei Fn. 109f. 120 Vgl. nur Abg. von Meyer (Amswalde), Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1889, Sitzg. Nr. 23 vom 28.2.1889, S. 680; Abg. Berger, ebenda, Sitzg. Nr. 25 vom 2.3.1889, S. 726f.; Abg. Graf zu Limburg-Stirum, ebenda, Sitzg. Nr. 41 vom 23.3.1889, S. 1254. 121 Abg. von Eynern, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1889, Sitzg. Nr. 25 vom 2.3.1889, S. 723f. (724). 122 Ebenda, S. 724. 123 Abg. Dr. Freiherr von Schoriemer-Alst, Sten.Ber.PrAbgH, a.a.O. (Fn. 121), S. 727. 124 Ebenda.
II. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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Dies alles offenbart eine bemerkenswerte Flexibilität im Umgang mit den fraktionslosen Abgeordneten 125. Schon damals diente der Seniorenkonvent ganz allgemein den Fraktionen zur Verständigung in gemeinschaftlichen Angelegenheiten, wozu auch ein gewisser Einfluß auf die Redeordnung gehörte l26 . Plate erwähnt das zwar nicht explizit, konstatiert aber, daß die Rednerliste meist nicht mehr durch Verlosung gebildet wurde, "sondern durch Abmachungen unter den Parteivorständen, den Rednern und dem diensttuenden Schriftführer"127. Schon im Mai 1876 ist im Plenum von einem "Arrimgieren der Rednerliste" durch den Seniorenkonvent die Rede 128 . Die Reihenfolge der Redner richtete sich in der Regel nach der Stärke der Fraktionen, wobei nach Möglichkeit dafür gesorgt wurde, daß sämtliche Fraktionen zu Wort kamen. Bei der ursprünglichen Festlegung der Rednerreihenfolge durch das Los war es üblich, die "schlimmsten Willkürlichkeiten des Loses" durch Tausch und über Strohmänner auszugleichen 129. Im Dezember 1880 wurde angeregt, durch die Fraktionen und den Seniorenkonvent auf Beseitigung des Strohmännerwesens hinzuarbeiten 13°.lm übrigen führt Plate 131 folgende Gegenstände auf, mit denen sich der Seniorenkonvent im Laufe der Jahre förmlich beschäftigt habe: -
Feststellung einer Adresse an den König (März 1888),
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Selbstvertagung des Hauses mit Rücksicht auf die Reichstagswahlen (Februar 1890),
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Verteilung der Geschäfte des Plenums (Februar 1891),
-
Jubelfeier des Präsidenten (Mai 1891, Februar 1892),
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Dombaufrage (Februar und März 1892),
-
Tausendjahrfeier in Budapest (Mai 1896),
-
Form der Wahl der Präsidenten und Schriftführer (Zettelwahl oder Zuruf),
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Bewilligung einer einmaligen Zuwendung an die Erben eines Beamten des Hauses (1899).
Insgesamt handelt es sich um vielfältige Tätigkeiten, die den wachsenden Einfluß des Seniorenkonvents gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Preußischen 125 Siehe zu heute: Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, passim. 126 Siehe nur als Beispiel im Zusammenhang mit der Reihenfolge der Redner die Anregung des Abg. Berger, Sten.Ber.PrAbgH, Sess.1877j78, Sitzg. Nr.10vom 7.11.1877, S. 182; vgl. Plate, S. 230. 127 Plate, S. 148. 128 Abg. Berger, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1876, Sitzg. Nr. 56 vom 16.5.1876,S. 1450f. (1451). 129 Plate, S. 149; siehe z.B. die Anregung von Berger, a.a.O. (Fn. 126). 130 Plate, a.a.O. (Fn. 129). 131 Plate, S. 230f.
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
Abgeordnetenhaus dokumentieren. Als Grund hierfür kann die Tatsache gelten, daß er eine "auf dem freien Willen der Fraktionen beruhende Versammlung" 132 von" Vertrauensmännern" 133 war. Geleitet wurde er von einem selbst gewählten Vorsitzenden; nur gelegentlich übernahm auch der Präsident des Hauses den Vorsitz l34 • Zur Illustration der etwaigen Stärke möge das Beispiel Piates 13S aus der 19. Legislaturperiode dienen, wonach der Seniorenkonvent insgesamt siebzehn Mitglieder hatte, die sich wie folgt aufteilten: vier Konservative, drei Freikonservative, vier Mitglieder des Zentrums, zwei Nationalliberale, zwei Mitglieder der freisinnigen Volkspartei, ein Mitglied der freisinnigen Vereinigung, ein Pole. Auch die Mitglieder des Seniorenkonvents wurden also schon entsprechend den Mehrheitsverhältnissen im Plenum bestimmt, was noch heute beim Ältestenrat 136 der Fall ist. Im ganzen gesehen ergibt sich, daß der Seniorenkonvent des Preußischen Abgeordnetenhauses bereits eine weitgehende Entfaltung erfahren hatte und ein einflußreiches Gremium war. Zu berücksichtigen ist aber, daß seine Entwicklung ab 1867 von derjenigen des Reichstages überlagert wurde, worauf im folgenden eingegangen wird.
4. Norddeutscher Reichstag 1867-1870 Die Entwicklung im Preußischen Abgeordnetenhaus war vorbildhaft für den Reichstag des Norddeutschen Bundes 137 , welcher sich am 24. Februar 1867 138 konstituierte. Das zeigt sich daran, daß er sogleich die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses übernahm 139. Obwohl also auch hier Abteilungen gebildet wurden, kam es sogleich zur Fraktionsbildung l40 • Darum
So Pfate, S. 230 m.w.Nachw. aus den Sten.Ber.PrAbgH. Diesen Ausdruck verwendete der Abg. von Mitschke-Collande, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1870/71, Sitzg. Nr. 11 vom 11.1.1871, S. 233. 134 Pfate, S. 230. 135 Pfate, S. 230. 136 Vgl. § 12 GOBT. 137 Zum Norddeutschen Bund allgemein Huber, Bd. III, Kapitel XII, S. 643ff.; ebenda § 46, S. 646ff. zum Reichstag; zum Parlamentarismus jetzt eingehend Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund, 1985. 138 Huber, a.a.O. (Fn. 137), § 47 1.3., S. 653; vgl. allgemein das Verzeichnis der Legislaturperioden, Sessionen und Präsidenten des Reichstages von 1867-1903 bei Pfate, Beilage F, S. 263-265. 139 In seiner ersten Sitzung übernahm der konstituierende RT NorddBd. die GOPrAbgH provisorisch (Sten.Ber. konstRT NorddBd., Sitzg. Nr. 1 vom 25.2.1867, S. 5), später dann definitiv (Sten.Ber. konstRT NorddBd., Sitzg. Nr. 7 vom 7.3.1867, S. 66); diese übernahm dann auch der RT NorddBd. in seiner ersten Sitzung (Sten.Ber.RT NorddBd., Session 1867, Sitzg. Nr. 1 vom 10.9.1867, S. 3); Hatschek, S. 175; Hauenschild, S. 34 bei Fn. 92; Pfate, S. V (Vorwort). 132 133
H. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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verwundert es nicht, wenn hier vielfach auf erste Spuren eines sich entwickelnden Seniorenkonvents hingewiesen wird 141. Häufig zitiert 142 wird die Äußerung des Abgeordneten Dr. Aegidi aus dem Jahre 1867 143 . Es ging an dieser Stelle im Zusammenhang mit der Tagesordnung der folgenden Sitzung um die Wahl von Kommissionen für die Vorberatung bestimmter Gesetzentwürfe. Der Präsident Dr. Simson berichtete von einem Wunsch aus dem Plenum, die Zahl der Kommissionsmitglieder für den Gesetzentwurf betreffend der Verpflichtung zum Kriegsdienst von einundzwanzig auf achtundzwanzig zu erhöhen. Nachdem sich der Abgeordnete Stavenhagen l44 gegen diesen Vorschlag gewandt hatte, plädierte Aegidi dafür und sagte: "Ich glaube, daß entweder die Erhöhung der Zahl (sc. der Kommissionsmitglieder) auf 28 oder die Herabsetzung auf 14 sich aus dem Grunde empfehlen würde, weil, wie es dem Hause nicht unbekannt ist, über die Art und Weise der Wahlen in die Kommissionen sich eine Praxis zu bilden angefangen hat, die den Übelständen manches benehmen kann, welche sonst mit solchen Wahlen aus den Abteilungen in die Kommissionen verbunden sind, worüber ich natürlich des Näheren mich nicht verbreiten will. Ich möchte daher bitten, daß diese Kommissionen aus 28 oder aus 14 Mitgliedern, jedenfalls in gerader Zahl, zusammengesetzt werden" 145. Da jedoch dieser Vorschlag im Hause keinen Anklang fand, konstatierte der Präsident, "daß das Haus bei der Zahl von einundzwanzig Mitgliedern für die Kommission verbleiben will"I46. Diese Worte Aegidis sind für Hatschek Grund genug, von einem "von allem Anfang an"147 vorhandenen Seniorenkonvent zu sprechen. Demgegenüber hält Pereis sie für eine "geheimnisvolle Andeutung" 148, die Hauenschild hingegen als "gar nicht so geheimnisvoll"l49 entlarvt: Hiermit sei der vom (Preußischen) Abgeordnetenhaus übernommene Brauch gemeint, durch interfraktionelle Absprachen die Kommissionssitze zu verteilen 150. Bemerkenswert ist aber, daß sich Aegidi verklausuliert ausdrückt und auf die von ihm erwähnte "Praxis"151 140 Vgl. Baumbach, Der deutsche Reichstag, 1890, S. 70 (schon bei Eröffnung des konstituierenden RT NorddBd.); Hauenschild,S. 28, 34; zur Fraktionsbildung allgemein: Pol/mann, S. 369fT. 141 Vgl. Hatschek, S. 176; Hauenschild, S. 34f.; Troßmann in Deuerlein, S. 129; Kürschner, S. 33; Pol/mann, S. 365. 142 So von Hatschek, a.a.O. (Fn. 141); Pereis, Das autonome Reichstagsrecht,1903, S.22, Fn. 110; Hauenschild, S. 31, Fn.64; S. 35, Fn. 93; Kürschner, S. 35, Fn. 77. 143 Abg. Aegidi, Sten.Ber.NorddRT, Sess. 1867, Sitzg. Nr. 9 vom 27.9.1867, S. 128. 144 Abg. Stavenhagen, Sten.Ber.NorddRT, a.a.O. (Fn. 143). 145 Wörtliches Zitat bei Hatschek, S. 176, nicht ganz korrekt; hier wird aus den Sten.Ber., a.a.O. (Fn. 143), zitiert; Hervorhebung von mir. 146 Präsident Dr. Simson, Sten.Ber.NorddRT, a.a.O. (Fn. 143). 147 Hatschek, S. 176. 148 Pereis, S. 22, Fn. 110. 149 Hauenschild, S. 31, Fn. 64; ihm offenbar folgend Kürschner, S. 35, Fn. 77. 150 Hauenschild, a.a.O. (Fn. 149). 151 Siehe oben bei Fn. 145.
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
nicht näher eingehen will. Das läßt darauf schließen, daß der Seniorenkonvent zu diesem Zeitpunkt unter diesem Namen im Norddeutschen Reichstag noch nicht existiert hat. Tatsächlich fiel der Begriff "Seniorenkonvent" bis zum Ende des Norddeutschen Reichstages nicht ein einziges Mal l52 . Eindeutig ist aber, daß Aegidi auf einen Brauch betreffend der Wahlen in die Kommissionen anspielte, wobei nur der auch von Hauenschild 153 erwähnte gemeint sein kann, nämlich entsprechende interfraktionelle Absprachen zu treffen. Nachdem bereits im Preußischen Abgeordnetenhaus der Ursprung des Seniorenkonvents im Besetzungsmodus der Kommissionen gefunden wurde 1S4 , liegt in der Tat der Schluß nahe, daß es sich bei der von Aegidi erwähnten Übung um erste Spuren eines im Verborgenen handelnden 155 Vorläufers des Seniorenkonvents gehandelt haben muß156. Eine Äußerung des Abgeordneten von Bennigsen im Jahre 1871 157 ist für Hatschek 158 Anlaß, bereits von einem "handelnden Seniorenkonvent" auszugehen: Der Präsident Dr. Simson 159 schlug vor, die nächste Sitzung am folgenden Montag abzuhalten, wo es unter anderem um die Fortsetzung der zweiten Beratung des Strafgesetzbuches gehen sollte. Dem widersetzte sich indes der Abgeordnete von Bennigsen mit folgenden Worten: "Meine Herren, ich möchte mir den Wunsch auszusprechen erlauben, daß wir die Fortsetzung der Beratung des Strafgesetzbuches nicht am Montage vornehmen. Es ist in diesen Tagen in den Fraktionen der Gegenstand in reifliche Erwägung gezogen worden, es haben auch Verhandlungen zwischen den Fraktionen stattgefunden. Ich glaube, daß selbst in dem Falle, daß wir den Montag ganz ausfallen lassen, weil der andere Gegenstand vielleicht nicht ausreicht, um uns einen Tag zu beschäftigen, dieser ausfallende eine Tag für unsere Arbeit nicht verloren wäre. Wenn wir diesen Tag gewinnen für die Vorbereitung, so werden wir sowohl eine Erleichterung für die Diskussion als wie ein angemessenes Resultat der Abstimmung uns sichern und ich glaube, das ist so viel wert, daß wir den Versuch machen möchten, die Verhandlungen, die zwischen den Fraktionen über dieses Kapitel des Strafgesetzbuches geführt werden, einen Tag länger fortzusetzen. Ich möchte also wünschen, daß entweder die Sitzung am Montag ganz ausfällt oder wenigstens die Beratung des Strafgesetzbuches ausgesetzt wird" 160.
Pol/mann, S. 365. Hauenschild, a.a.O. (Fn. 149). 154 Siehe oben 11.3. bei Fn. 93fT. ISS Dazu, daß auch der Seniorenkonvent des PrAbgH zunächst im Verborgenen gehandelt hat, schon oben 11.3. bei Fn. 98 (Abg. Windthorst). 156 Wie dies Hatschek, S. 176, ohne weitere Begründung annimmt. 157 Abg. von Bennigsen, Sten.Ber.NorddRT, Sess. 1870, 19. Sitzg. vom 12.3.1870, S.291. 158 Hatschek, a.a.O. (Fn. 156). 159 Sten.Ber.NorddRT, a.a.O. (Fn. 157). 152
153
II. Die Entstehung des Seniorenkonvents
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Nachdem daraufhin der Präsident das Plenum zur Abstimmung bat, entschied sich die Majorität für Dienstag als dem nächsten Sitzungstag l61 . Anschließend - und das wird von Hatschek 162 nicht erwähnt - erhielt der Abgeordnete Graf von Kleist das Wort zur Geschäftsordnung und führte aus: "Ich bin durch die Mitteilung des Herrn Abgeordneten von Bennigsen, daß zwischen den Fraktionen Verhandlungen stattfinden, im höchsten Grade überrascht worden; ich habe mich eben vergewissert, daß auf unserer, der rechten Seite des Hauses, unter denen, welche Sie mit Recht die Altkonservativen nennen, niemandem etwas von solchen Verhanglungen bewußt ist. Ich möchte für die Zukunft nur protestiert haben gegen Konsequenzen aus dem heutigen Beschlusse. Ich würde mich sehr gern zu fügen bereit sein, wenn wirklich zwischen allen Parteien ein Verständnis angebahnt wäre, aber wenn nur ein teilweises Verständnis versucht wird zwischen solchen Parteien, die sich überhaupt nahe zu stehen meinen, dann, meine Herren, glaube ich, daß es gerade gegen das Interesse der übrigen Parteien ist, einem solchen Verfahren weiter nachzugehen" 163. Dies zeigt, daß die Annahme Hatscheks, an dieser Stelle von einem handelnden Seniorenkonvent zu reden 164, offensichtlich zu weit geht: Zum Wesen des Seniorenkonvents, seinem minderheitenschützenden Charakter, gehört, daß grundsätzlich alle Fraktionen darin vertreten sind 165. Zumindest müssen die Minderheitenfraktionen dergestalt eingebunden sein, daß sie Vereinbarungen des Seniorenkonvents akzeptieren. Dies war nach der - unwidersprochen gebliebenen - Aussage des Abgeordneten Graf von Kleist hier nicht der Fall. Des weiteren sprach von Bennigsen l66 von Verhandlungen "über dieses Kapitel des Strafgesetzbuches", also offenbar von Verhandlungen materiellen Inhalts. Auch dies ist eher ein Indiz gegen einen existierenden Seniorenkonvent im späteren Sinne, zu dessen Charakteristik es nämlich gehörte, in der Regel für Fragen der Geschäftsordnung, des Ablaufs und der Organisation des Parlaments zuständig zu sein, materielle Probleme dagegen nicht zu behandeln. Immerhin handelte es sich tatsächlich um interfraktionelle Verhandlungen von sich nahestehenden Fraktionen, die der Vorbereitung der Plenarsitzung - vermutlich dem Abstimmen des gemeinsamen Vorgehens - dienen sollten. Bald war jedoch ein gewisser Einfluß des Seniorenkonvents auf die Redeordnung zu spüren 167. Nachdem sich die Aufstellung der Rednerliste durch das Los 160 Abg. von Bennigsen, a.a.O. (Fn. 157). Anm.: Es wurden bei wörtlichen Zitaten des besseren Verständnisses wegen leichte orthographische Korrekturen vorgenommen. 161 A.a.O. (Fn. 157). 162 Vgl. Hatschek, S. 176. 163 Abg. Graf von Kleist, Sten.Ber.NorddRT, Sess. 1870, 19. Sitzg. vom 12.3.1870, S.291. 164 Siehe oben bei Fn. 158. 165 Vgl. dazu schon oben 11.3. bei Fn. 102ff. für das PrAbgH. 166 Von Bennigsen, a.a.O. (Fn. 157). 167 Siehe dazu Pol/mann, S. 365.
4 Franke
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
nicht bewährt hatte, vertraute das Plenum auf das Zusammenwirken des Präsidenten mit dem Seniorenkonvent, indem es in § 44 GORT 1868 dem Präsidenten die Verantwortung für die Reihenfolge der Redner aufbürdete. Allerdings war in dem damals schon bestehenden Mehrparteiensystem eine geregelte Worterteilung nur auf der Basis vorheriger interfraktioneller Verständigung möglich. In diese Aufgabe wuchs der Seniorenkonvent allmählich hinein. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß im Norddeutschen Reichstag der Seniorenkonvent erst im Entstehen begriffen war. Insofern zeigt sich, daß im Preußischen Abgeordnetenhaus die parlamentarische Entwicklung schon weiter war, da hier das Jahr 1867 sicher als Entstehungsjahr für den Seniorenkonvent angenommen werden kann 168. Dies mag damit zusammenhängen, daß der Norddeutsche Reichstag erst eine bestimmte Zeit brauchte, um sich zu organisieren. 5. Deutscher Reichstag 1871-1918
Da im Ergebnis anerkannt ist l69 , daß im Deutschen Reichstag des Kaiserreichs ein Seniorenkonvent existiert hat- und zwar sicher ab 1874 170 - , sollen an dieser Stelle nurmehr einige Beispiele für die Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt herausgegriffen werden. Weitere Einzelheiten zum Seniorenkonvent des monarchischen Reichstages werden im dritten Abschnitt dieses Teils erörtert 171 • Beiläufig erwähnte der Abgeordnete von Unruh schon im Jahre 1871 172 , als es um Zahl und Art der Mitglieder einer Kommission für das zu errichtende Parlamentsgebäude ging, Kompromisse der Parteien bei der Besetzung der Kommissionen. Erst in den Sitzungen des Reichstages vom 16. und 17. Juni 1873 spielte jedoch das Gremium, welches später Seniorenkonvent heißen sollte, zum ersten Male eine gewichtigere Rolle. Hier allerdings war nicht von "Seniorenkonvent" , sondern von "Delegiertenversammlung" , beziehungsweise "Delegiertenkonferenz" die Rede 173 • Unstreitig ist, daß es sich dabei um einen unmittelbaVgl. oben 11.3. bei Fn. 82 sowie bei Fn. 96. Vgl. nur Hatschek, § 27, S. 175fT.; Baumbach, Der deutsche Reichstag, 1890, S. 46; Pereis, Autonomes Reichstagsrecht, IX,S. 31fT.; Arndt, S. 35fT.; Dechamps, S. 132fT.; Troßmann in Deuerlein, S. 129f. 170 Ab 1874 wurden Hatschek, S. 176 zufolge - offizielle Akten des Seniorenkonvents geführt; sie sind jedoch verschollen, vgl. dazu schon oben I. bei Fn. 2. 171 Siehe unten IH. 172 Abg. von Unruh, Sten.Ber.RT, I.Leg.per./1. Sess., Sitzg. vom 15.5.1971, S. 703f. 173 Der Sprachgebrauch war insoweit nicht einheitlich: Vgl. Abg. Reichensperger, Sten.Ber.RT, I. Leg.per./4. Sess.,Sitzg. Nr. 53 vom 16.6.1873, S. 1184: "Delegiertenversammlung"; und Abg. Freiherr von Hoverbeck, Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 54 vom 17.6.1873, S. 1199: "Delegiertenkonferenz"; vgl. unten bei Fn. 192fT. 168
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Ir.
Die Entstehung des Seniorenkonvents
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ren Vorläufer des Seniorenkonvents gehandelt hatte 174 . Über den Inhalt der dort geführten Verhandlungen und die Kompetenzen dieses Gremiums gab es im Plenum des Reichstags eine hitzige Debatte. Anlaß war ein Streit zwischen Reichskanzler von Bismarck und dem Plenum über den Termin der Beratung des "Preßgesetzentwurfes" 175 . Sowohl von Bismarck als auch der gegen ihn opponierende Abgeordnete Dr. Windthorst (Meppen)176 beriefen sich bei ihren gegensätzlichen Ansichten auf die "Delegierten des Hauses" 177 . Das führte dazu, daß in dieser und vor allem in der folgenden Sitzung des Reichstages (am 17.6.1873) verschiedene Abgeordnete ihre Meinung bezüglich der "Mission der sogenannten Delegiertenversammlung"178 kund taten 179 • Selbst Reichstagspräsident Dr. Simson nahm an den "Beratungen der sogenannten Delegierten"IBO als Vorsitzender 181 teil 182 . Hinsichtlich der Resultate dieser Besprechungen war man sich weitgehend einig, daß von Beschlüssen im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein konnte l83 ; in jedem Fall wurde eine Bindungswirkung für das Haus in Abrede gestellt l84 . Allerdings wurde dem Abgeordneten von Hoverbeck, der die Delegiertenkonferenz als völlig freie, ungebundene Versammlung darstellen wollte l85 , erwidert, daß es nicht eine durch Zufall zusammengetretene Versamm-
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sollte.
Vgl. nur Hatschek, S. 176f.; Troßmann in Deuer/ein, S. 129. Ein Gesetzentwurf des Reichstages, der das Pressewesen im ganzen neu ordnen
176 Es gab auch Windthorst (Berlin); vgl. Abg. von Hoverbeck, Sten.Ber.RT, 1/4, 54. Sitzg. vom 17.6.1873, S. 1199. 177 Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 53 vom 16.6.1873, S. 1176; von Bismarck aufgrund "vertraulicher Mitteilung", Windthorst offenbar als Teilnehmer. 178 So der Abg. Reichensperger, Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 53 vom 16.6.1873, S. 1184; zitiert bei Hatschek, S. 176 (ebenda fehlerhaft aber: "Reichensberger"). 179 So die Abgeordneten von Hoverbeck, Dr. Bamherger, von Helldorff, Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 54 vom 17.6.1873, S. 1199ff. ISO SO Simson, Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 54 vom 17.6.1873, S. 1200. 181 Nach Aussage des Abg. Dr. Bamherger, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 179), S. 1200. 182 Allerdings ohne beratende Stimme, sondern aus informatorischen Gründen. Das ist seiner Aussage, a.a.O. (Fn. 180) zu entnehmen. 183 So insbes. Präsident Simson, a.a.O. (Fn. 180); vgl. auch von Hoverbeck, a.a.O. (Fn. 179), S. 1199. 184 So insbes. der Präsident des Reichskanzleramtes Staatsminister Dr. Delbrück, Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 54 vom 17.6.1873, S. 1202. 185 Von Hoverbeck, a.a.O. (Fn. 183): "Meine Herren! Ich möchte vor allen Dingen bitten, und namentlich diejenigen Mitglieder des Hauses, die zufällig an den freien Besprechungen Teil genommen haben und jetzt immer mit dem Titel Delegiertenkonferenz benannt werden, doch die anderen in dem Hause nicht in den Irrtum zu führen, als ob da irgendwelche Beschlüsse gefaßt wären. Ich meines Teils berufe mich darauf, daß ich und andere Mitglieder, die daran Teil genommen haben, ausdrücklich erklärt haben, daß wir von Seiten unserer Fraktionsmitglieder zu gar keinen Beschlüssen autorisiert wären, daß wir Teil nähmen, um einfach unsere Meinung zu sagen, wenn wir gefragt würden, aber ohne damit unsere Fraktion irgend wie binden zu wollen, und daß wir auch für uns selbst
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
lung sei, sondern daß die betreffenden Personen "von allen Fraktionen zu diesem Zwecke bestimmt" worden seien 186. Der Streit zeigt das zu diesem Zeitpunkt immer noch "schwache Gefüge" 187 dieser Delegiertenkonferenz. Vielleicht verhalf aber auch dieser Disput zur endgültigen Etablierung, denn bald darauf, im Jahre 1874, wurde der Seniorenkonvent vom Abgeordneten Braun 188 ausdrücklich erwähnt und als "ehrwürdiges und heilbringendes Institut" bezeichnet, "gegen dessen Autorität zu rebellieren" er sich nicht erlauben würde, denn er "wüßte im voraus", daß er dabei zu kurz kommen würde und dies, obwohl der Seniorenkonvent in der Geschäftsordnung nicht erwähnt sei 189. Diese Aussage, sowie der Beginn der Aktensammlung l90 , bilden ein gewichtiges Indiz dafür, daß sich der Seniorenkonvent als Einrichtung zu Anfang des Jahres 1874 endgültig durchgesetzt haben muß: denn die vierte Session der ersten Legislaturperiode, in welcher der soeben erwähnte Disput stattfand, endete am 25. Juni 1873; am 5. Februar 1874 begann jedoch erst die erste Session der zweiten Legislaturperiode 191 , aus der das Zitat Brauns stammt. Immer noch nicht endgültig etabliert hatte sich aber der Name 192 • Auch später noch ist vielfach von "Vertrauensmännern", "Vertrauensmännerversammlung" und "Vertrauenskommission" die Rede 193 • Ein Grund für diesen uneinheitlichen Sprachgebrauch mag darin liegen, daß man vermeiden wollte, den Seniorenkonvent in der Geschäftsordnung zu fIxieren, denn dann hätte man neben einer DefInition auch nähere Bestimmungen über dessen Wahl erlassen
die Resultate unserer Besprechungen durchaus nicht als bindend anerkennen wollen. Dies bitte ich vor allen Dingen ins Auge zu fassen, damit es nicht so aussieht, als ob eine zufällig zusammengetretene Vereinigung von Mitgliedern der verschiedenen Fraktionen das Haus in dieser Angelegenheit habe beherrschen wollen, was durchaus ungerecht gewesen wäre." 186 So der Abg. von Helldorff, a.a.O. (Fn. 179), S. 120H. (1202): "Vor allen Dingen muß ich in Bezug auf das, was der Abgeordnete von Hoverbeck gesagt hat, erwidern, daß er so gut wie ich weiß, daß die Delegierten nicht eine durch Zufall zusammengetretene Versammlung von Personen war, sondern daß sie von allen Fraktionen zu diesem Zwecke bestimmt wurden. Förmliche Verträge sind natürlich nicht abgeschlossen worden; es gibt aber doch Dinge, die man halten muß, auch ohne ausdrückliche Verträge geschlossen zu haben". 187 So Hatschek, S. 177. 188 Abg. Braun, Sten.Ber.RT, 11/1, Sitzg. vom 9.4.1874, S. 669. 189 Abg. Braun, a.a.O. (Fn. 188): "nicht eine Silbe". 190 Siehe oben bei Fn. 170. 191 Siehe PereIs, Beilage F (Verzeichnis der Legislaturperioden, Sessionen und Präsidenten des Reichstages), S. 263. 192 Baumbach, S. 46, zufolge wurde "Seniorenkonvent" der Bezeichnung der Organisation der studentischen Corps auf den deutschen Universitäten entlehnt; vgl. auch schon Abg. von Meyerin Sten.Ber.PrAbgH., Sess.1889, Sitzg. Nr. 23 vom 28.2.1889, S. 680: "Er (sc. der Seniorenkonvent) ist ein Institut, gebildet nach dem ungeschriebenen Studentenrecht." Eigentlich müßte es "Rat der Ältesten" heißen, so Baumbach, ebenda.. 193 Beispiele nach PereIs, S. 31 (m.w.Nachw. aus den Sten.Ber.RT).
111. Der Seniorenkonvent des monarchischen Reichstages
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müssen 194 und das starke Charakteristikum der Freiwilligkeit dieses Gremiums wäre nicht mehr vorhanden gewesen. Letztlich hat sich aber "Seniorenkonvent" durchgesetzt, diese Bezeichnung wird darum auch hier und im folgenden verwendet.
m. Der Seniorenkonvent des monarchischen Reichstages 1. Bildung und Zusammensetzung Hierher gehören die Fragen, aufweIche Weise und von wem die Einberufung des Seniorenkonvents erfolgte (a); sowie diejenige nach Quantität und Qualität seiner Mitglieder (b) 1 • a) Einberufung
Hatschek 2 berichtet, daß der Seniorenkonvent zunächst unabhängig vom Präsidenten des Reichstages zu Beginn einer Legislaturperiode unter dem Vorsitz eines Alterspräsidenten zusammentrat, er also "ganz ähnlich wie im Reichstag" einer vorläufigen Konstituierung bedurfte, um dann zur definitiven übergehen zu können. In den achtziger Jahren sei es Brauch gewesen, die Konstituierung nach SessionseröfTnung durch eine Neuwahl des Vorsitzenden des Seniorenkonvents zu vollziehen. Hieran wird bereits deutlich, daß der Reichtstagspräsident - im Gegensatz zu später 3 und heute4 - zunächst nicht Vorsitzender des Seniorenkonvents gewesen ist. Dementsprechend führt Hatschek weiter aus, daß der Seniorenkonvent bis zum Jahre 1884 "in keiner direkten Beziehung zum Präsidium" gestanden habe. Er sei eine "extralegale Versammlung, die auf freier Vereinbarung der Parteien unter einem eigenen Vorsitzenden" beruhe 5 • Nun berichtete aber in der erwähnten 6 Reichstagssitzung vom 17. Juni 1873 der Präsident Dr. Simson 7 dem Plenum von seiner Teilnahme an der "De1egiertenversammlung". Außerdem stellte hier der Abgeordnete Dr. Bamberger 194 So insbesondere der Abg. Gamp als Berichterstatter der Geschäftsordnungskommission im Jahre 1895, Sten.Ber.RT, IX/3 (Bd. 1), Sitzg. vom 5.2.1895, S. 670f. 1 Vgl. dazu beim heutigen Ältestenrat unten Zweiter Teil, 11. 2 Hatschek, S. 177, der ebenda beispielsweise aus den Reichstagsakten des Seniorenkonvents vom 5.5.1890 zitiert: "Unter dem Vorsitz des Alterspräsidenten des Seniorenkonvents Exz. Windthorst trat der Seniorenkonvent heute zusammen ... Zum Vorsitzenden des Seniorenkonvents wird Graf Ballestrem gewählt, zum Stellvertreter Graf Kleist. " 3 Dazu unten bei Fn. 15. 4 Siehe § 6 I 2 GOBT für den Ältestenrat. S Hatschek, S. 177f. (178). 6 Siehe oben 11.5. 7 Simson, Sten.Ber.RT, 1/4, Sitzg. Nr. 54 vom 17.6.1873, S. 1200.
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
beiläufig fest, daß der Präsident gerade in jenen Besprechungen Vorsitzender gewesen sei 8 • Dazu kommt, daß der Präsident des Reichskanzleramtes, Staatsminister Dr. Delbrück, aufgrund einer "Einladung Ihres (sc. des Plenums) Herrn Präsidenten" an denselben Delegiertenversammlungen - offenbar als Gast - teilgenommen hatte 9 • Dies alles läßt daran zweifeln, ob erst ab 23. November 1884, als der erste Vizepräsident zum Vorsitzenden des Seniorenkonvents gewählt wurde, von einer ständigen Beziehung zwischen Seniorenkonvent und Reichstagspräsidium gesprochen werden kann, wie dies Hatscheklo tut. Überdies trug schon am 16. Juni 1884 der Abgeordnete Richter vor dem Plenum dem Präsidenten die Bitte vor, " ... wie es früher gebräuchlich war, einmal die Herren Senioren zu einer Besprechung zu berufen ... " 11, worauf ihm der Präsident von Levetzow ganz selbstverständlich erwiderte: "Die Zusammenberufung der Senioren lag schon in meiner Absicht und wird seiner Zeit ausgeführt werden" 12. Dies offenbart, daß es auch schon vor November 1884 zu Fühlungnahmen zwischen Präsident und Seniorenkonvent kam und der Präsident verschiedentlich bereits die Einberufung des Seniorenkonvents vorgenommen hatte. Die seit 23. November 1884 bestehende Übung der Leitung des Seniorenkonvents - bei gleichzeitiger Mitgliedschaft 13 - durch den ersten Vizepräsidenten des Reichstages, konnte sich in der folgenden Zeit weiter verfestigen. Im Jahre 1896 gab es allerdings einen Streit zwischen dem Vizepräsidenten und dem Präsidenten, wer jetzt tatsächlich die "Berufung des Seniorenkonvents"14 durchzuführen habe. Nachdem sich damals noch der Vizepräsident durchgesetzt hatte, gilt es als gesichert, daß seit dem 10. Mai 1899 der Präsident die Einladung zur Seniorenkonventssitzung unterzeichnete, er also einlud (in seiner Abwesenheit allerdings der Vizepräsident). Spätestens seit dieser Zeit war der Reichstagspräsident Vorsitzender, obgleich nicht Mitglied des Seniorenkonvents 15 , denn es handelte sich weiter um ein freiwilliges Gremium der Fraktionen. Damit kann Perels 16 im Jahre 1903 zu Recht lapidar Bamberger, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 7). Das ist Delbrücks Aussage in Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 7), S. 1202, zu entnehmen. In diesem Zusammenhang konstatiert Hatschek, S. 177, daß es "mitunter" vorgekommen sei, daß der Präsident auch die Regierung eingeladen habe, "an Verhandlungen der sog. Delegiertenkonferenz und des Seniorenkonvents teilzunehmen". 10 Hatschek, S. 177f. (178). 11 Richter, Sten.Ber.Rt, V/4, Sitzg. vom 16.6.1884. 12 Von Levetzow, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 11). 13 Hatschek, S. 178. 14 Briefzitat bei Hatschek, a.a.O. (Fn. 13). Trotz offensichtlichem formellem Vorrecht des Vizepräsidenten finden sich auch schon im Jahre 1891 Hinweise auf eine entsprechende angenommene Kompetenz des Präsidenten: Vgl. Abg. Rickert, Sten.Ber.Rt, VIII/l (Bd. 4), Sitzg. vom 4.5.1891, S. 2172 A; Präsident von Levetzow, Sten.Ber.RT, VIII/l (Bd. 5), Sitzg. vom 9.12.1891, S. 3299. IS ZU allem Hatschek, S. 178; vgl. auch Troßmann in Deuerlein, S. 130. 16 PereIs, S. 31 bei Fn. 156 (m.w.Nachw. aus den Sten.Ber.RT). 8
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IH. Der Seniorenkonvent des monarchischen Reichstages
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feststellen: "Der Seniorenkonvent tritt zusammen auf Grund einer Einladung des Präsidenten". b) Mitglieder Der Seniorenkonvent entwickelte sich aus einer Versammlung der Führer der einzelnen Parteien im Plenum heraus 17 . Im Zuge der Entwicklung, insbesondere der stärkeren Inanspruchnahme der Fraktionsführer, kam es bald zur Delegation dieser Aufgabe auf besondere "Vertrauensmänner"18, welche die Abgesandten ihrer Fraktionen waren. Bis zum Jahre 1893 entsandte jede Partei einen Vertreter 19 ; die Gesamtstärke des Seniorenkonvents betrug "etwa ... fünf bis zehn Mitglieder ... "20. Später konnten die Parteien - entsprechend ihrer Stärke - auch mehrere Vertreter entsenden, so daß der Seniorenkonvent im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwa dreißig Mitglieder zählte 21 . Allerdings hatte dies insofern keine weitere Bedeutung, als im Seniorenkonvent keine Mehrheitsbeschlüsse zulässig waren, vielmehr das Verständigungsziel im Vordergrund stand. Später wurde auch die Einschränkung wichtig, daß nur eine "zugelassene" Partei Vertreter in den Seniorenkonvent entsenden konnte 22 • Darunter verstand man eine Partei, welche sich gehörig konstituiert hatte und - seit dem Beschluß des Reichstages von 1912 23 - nur eine solche Partei, welche eine Mitgliedervereinigung von mindestens fünfzehn Mitgliedern (Vollmitglieder und Hospitanten) zählte. Für das Erfordernis der "gehörigen Konstituierung" bringt Hatschek 24 das Beispiel der "Wirtschaftlichen Vereinigung" aus dem Jahre 1903, die - obgleich sie nur elf Mitglieder zählte - zum Seniorenkonvent zugelassen werden wollte, obwohl sich ein Teil der Mitglieder auch als anderen Parteiungen zugehörig betrachtete. Erst nachdem die "Wirtschaftliche Vereinigung" einer zuvor ablehnenden Verfügung des Präsidenten nachgekommen war, erfolgte die
17 Vgl. Achterberg, ParlR, S. 130; Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 28; Troßmann in Deuerlein, S. 129; Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12. 18 Zur Terminologie Pereis, S. 31. 19 Vgl. nur Troßmann, a.a.O. (Fn. 17); Schindler, a.a.O. (Fn. 17); Hatschek, S. 180. 20 Hatschek, a.a.O. (Fn. 19). 21 Neben Hatschek vgl. auch Troßmann, a.a.O. (Fn. 17); Schindler, a.a.O. (Fn. 17). Gemäß Hatschek, S. 180, verteilten sich die Mitglieder des Seniorenkonvents in der 2. Session der 12. Legislaturperiode 1909/1910 wie folgt: ,,2 Mitglieder der deutschkonservativen Partei, 2 Mitglieder der Reichspartei, 1 Mitglied der Reformpartei, 2 Mitglieder der wirtschaftlichen Vereinigung, 6 Zentrumsmitglieder, 2 Polen, 4 Nationalliberale, 3 von der Freisinnigen Vereinigung, 3 von der deutsch-freisinnigen Volkspartei, 2 von der deutschen Volkspartei, 3 Sozialdemokraten". 22 Hatschek, S. 181. 23 Sten.Ber.RT, XIII/1, Sitzg. Nr. 56 vom 8.5.1912, S. 1750f.; RT-Drs. Nr. XIII/341. 24 Hatschek, a.a.O. (Fn. 22).
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Konstituierung dieser Partei - bestehend aus elf Mitgliedern und vier Zugezählten 25 - und ihre Zulassung zum Seniorenkonvent. Anerkannter Brauch war es schon seit Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, eine Partei nur dann zum Seniorenkonvent zuzulassen, wenn sie mindestens fünfzehn Mitglieder aufwies 26 , so viele waren nämlich erforderlich, um einen Initiativantrag einbringen zu können 27 . Motiv für diese Regelung war die Tatsache, nur auf solche Parteien im Seniorenkonvent Rücksicht nehmen zu müssen, die andernfalls - bei ihrem Ausschluß - Abmachungen des Seniorenkonvents im Plenum durch selbständige Anträge unterlaufen konnten. Allerdings wurde diese Regelung zunächst nicht streng gehandhabt: So war es beispielsweise möglich, eine Partei, welche unter fünfzehn Mitglieder hatte, durch Zuzählung von fraktionslosen Abgeordneten ("Wilden") auf die erforderliche Zahl "fünfzehn" zu bringen 28 . Durch den erwähnten 29 Beschluß des Reichstages vom 8. Mai 1912 wurde aber diese Praxis verworfen. Hier wurde festgelegt, daß in der Regel fünfzehn Vollmitglieder erforderlich seien, die allenfalls durch die in einem engeren Verhältnis zur Partei stehenden "Hospitanten" ausgeglichen werden durften.
2. Aufgaben a) Einfluß auf die Kommissionen Wie beim Seniorenkonvent des Preußischen Abgeordnetenhauses 3o , so stellte auch im Reichstag die Einflußnahme auf die Kommissionen (= Ausschüsse) die "wichtigste und am frühesten geübte"31 Funktion des Seniorenkonvents dar 32 . Diese Einflußnahme äußerte sich in verschiedener Hinsicht: Einmal ging es darum, einen "Repartitionsmaßstab"33 für die Beteiligung der Parteien an den Zu dieser Praxis sogleich bei Fn. 28. Hierzu und zum folgenden ausführlich Hatschek, S. 181ff., dem die Darstellung hier folgt; vgl. auch den "mündlichen Bericht der verstärkten Geschäftsordnungskommission über die Frage, ob eine Gruppe, die nicht 15 Mitglieder stark ist, die erst durch Zuzählung auf diese Stärke gebracht wird, als Fraktion anzuerkennen ist" in RT-Drs. Nr. XIII/341 und die umfangreiche Debatte hierzu in Sten.Ber.RT, XIII/I, Sitzg. Nr. 55 vom 7.5.1912,S. 1700ff.; Baumbach, S. 37, zufolge war "parlamentarischer Brauch", eine Partei nur mit mindestens 15 Mitgliedern als Fraktion anzusehen. 27 Vgl. § 22 1 GORT 1868. 28 Entsprechend wurde auch bei der oben Fn. 24f. erwähnten "wirtschaftlichen Vereinigung" verfahren. 29 Siehe oben Fn. 23. 30 Siehe oben 11.3. 31 Hatschek, S. 185. 32 Vgl. Arndt, S. 36; Troßmann in Deuerlein, S. 129; Pereis, S. 22, Fn. 110; Hauenschild, S. 35; von Below in verg.Inst., S. 348; Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 28; Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12. 25
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Kommissionsmandaten festzustellen, das heißt, die Ausschußsitze entsprechend der Parteistärke zu verteilen 34 , sodann legte der Seniorenkonvent die Stärke der Kommissionen fest und traf Vereinbarungen über deren Vorsitzende 35 . Obwohl nach der Geschäftsordnung formell die Abteilungen für die Wahl der Kommissionsmitglieder zuständig waren 36 , war dies bald "nichts als eine bloße Form"37, da im Seniorenkonvent schon vor der Wahl entsprechende Besetzungsverhandlungen unter den Fraktionen stattfanden. Das ist belegt durch Äußerungen im Plenum 38 sowie in der Literatur von Kennern der damaligen Parlamentspraxis 39 • Während man anfangs die Abteilungen noch veranlaßte, die Wahl nach dem Wunsche des Seniorenkonvents vorzunehmen, wurde dieser "formale Weg zur Aufrechterhaltung der Geschäftsordnung"40 später verlassen. Seit Beginn der achtziger Jahre wurden vom Reichstags-"Bureau" (= Verwaltung) Berechnungen erstellt und vom Seniorenkonvent angenommen, welche die Kommissionsmandate nach der Parteistärke verteilten. Als immer mehr kleine Parteien in den Reichstag Einzug hielten, entstand die Schwierigkeit, bei 7er-, 14er-, 21er- oder 28er-Kommissionen (Stärke) die auftretenden Bruchteile bei der Verteilung der Ausschußsitze entsprechend zu berücksichtigen. Hierzu wurden jedoch die Institute des "Alternats" und des "Ausgleichs des Parteikontos" entwickelt 41 , auf denen später die Zuteilung basierte. Auch die Stärke der Komissionen, also ob 7, 14, 21 oder 28 Mitglieder, hing von der "Fraktionsbeteiligung und infolgedessen von dem Willen des Seniorenkonvents"42 ab. Die früheste Aufzeichnung hierüber findet sich in den Akten des Seniorenkonvents unter dem Datum vom 8.2.1879, wo es heißt: "Der Seniorenkonvent beschließt ferner den betreffenden Fraktionen zu empfehlen, die Budgetkommissionen aus 28 Mitgliedern zusammenzusetzen, da über eine Kommission von 21 Mitgliedern über das Budget eine Einigung nicht erzielt werden konnte"43.
So Hatschek, S. 185. Vgl. von Below, a.a.O. (Fn. 32). 35 Vgl. Hatschek, S. 188; Troßmann, a.a.O. (Fn. 32); Bachem, Staatslexikon, 2. Aufl. 1901, Sp. 810. 36 § 26 III GORT 1868. 37 Baumbach, S. 46. 38 Siehe nur die Nachweise bei PereIs, S. 22 Fn. 110, aus dem Jahre 1875. 39 Vgl. von Mohlin ZfgStW 1875, S. 57f.; Baumbach, a.a.O. (Fn. 37); PereIs, a.a.O. (Fn. 38); Bachem, a.a.O. (Fn. 35). 40 Hatschek, S. 185; Baumbach, S. 46, geht noch im Jahre 1890 von dieser Verfahrensweise aus. 41 Dazu näher Hatschek, S. 186f. (hier wird wegen des Zusammenhangs auf Einzelheiten verzichtet). 42 Hatschek, S. 188; vgl. Troßmann in Deuerlein, S. 129. 43 Hatschek, a.a.O. (Fn. 42). 33
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Bedeutsam war in diesem Kontext auch die Funktion des Seniorenkonvents, die einflußreichen Stellen der Kommissionsvorsitzenden zu besetzen. Diese Stellen, sowie deren Stellvertreter, wurden vom Seniorenkonvent den Fraktionen zugewiesen 44 • Ab Februar 1912 wurde ein Optionsrecht der Parteien dergestalt vereinbart, daß zunächst die stärkste Fraktion wählen konnte, für welche Kommission sie den Vorsitz in Anspruch nehmen wollte, sodann folgte die zweitstärkste und so fort. Gleichfalls seit diesem Zeitpunkt wurde auf die parteiliche Ausgewogenheit zwischen Kommissionsvorsitzendem und -stellvertreter geachtet 4s . Während es "früher"46 üblich gewesen war, auch die Abteilungsvorsitzenden und ihre Stellvertreter im Seniorenkonvent vorher zu bestimmen, schwand diese Funktion im Zuge der fortschreitenden Bedeutungslosigkeit der Abteilungen; "wenigstens finden sich in den Akten keine darauf bezugnehmenden Verteilungen" 47 • b) Einfluß auf den Arbeitsplan Während beim heutigen Ältestenrat die Arbeitsplanung den Hauptaufgabenbereich darstellt 48 , entwickelte sich diese Funktion beim Seniorenkonvent des Reichstages erst im Laufe der Zeit. Das zeigt sich besonders im Zusammenhang mit der Festlegung der Tagesordnung: Grundsätzlich verkündete der Präsident am Ende einer Plenarsitzung die Tagesordnung für die folgende Sitzung. Hierbei kam es jedoch immer wieder vor, daß einzelne Abgeordnete in einer Äußerung zur Geschäftsordnung von der vorgeschlagenen Tagesordnung - aus welchen Gründen auch immer - abweichen wollten 49 • In der Antwort des Präsidenten oder in Erwiderungen anderer Abgeordneter stellte sich zumeist heraus, daß die Tagesordnung vorher mit Vertretern der Fraktionen besprochen worden war. Beispielhaft ist hierfür das Wort zur Geschäftsordnung des Abgeordneten Dr. Windthorst So : "Meine Herren, ich will mich auf die Frage, was Zweckmäßig ist 44 Hatschek, S. 191, der hier aus Akten des Seniorenkonvents vom 10.12.1903, 28.2.1907 und 22.2.1912 zitiert. 45 So kam beispielsweise in der Seniorenkonventssitzung vom 22.2.1912 (zit. nach Hatschek, S. 191) folgende Aufteilung zustande: Geschäftskommission: VorsitzenderZentrumsmitglied, Stellvertreter - Sozialdemokrat; Petitionskommission: Vorsitzender - Nationalliberaler, Stellvertreter - Zentrumsmitglied; Wahlprüfungskommission: Vorsitzender - Deutschkonservativer, Stellvertreter - fortschrittliche Volkspartei; Geschäftsordnungskommission: Vorsitzender - Sozialdemokrat, Stellvertreter - Deutschkonservativer; Rechnungskommission: Vorsitzender - Volkspartei, Stellvertreter Nationalliberaler. 4(i Hatschek, S. 191, versteht darunter das Ende des 19. Jahrhunderts. 47 Hatschek, a.a.O. (Fn. 46). 48 Siehe dazu Zweiter Teil, III.1. 49 Vgl. nur Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 23.6.1884, 1/4 (Bd. 2), S. 983f.; Sitzg. vom 9.12.1881, VIII/l (Bd. 5), S. 3298; Sitzg. vom 13.12.1894, IX/3 (Bd. 1), S. 99; Sitzg. vom 20.2.1896, IX/4 (Bd. 2), S. lli4ff.; Sitzg. vom 2.5.1902, X/2 (Bd. 6), S. 5239; Sitzg. vom 6.5.1902, X/2 (Bd. 6), S. 5343, 5345.
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oder nicht zweckmäßig ist, gar nicht einlassen; wir wissen, daß unser Vorstand unter Zuziehung der Senioren eine Tagesordnung festgesetzt hat und die Reihenfolge, in welcher die Vorlagen zur Verhandlung gelangen sollen. Dieser Ordnung, die im Seniorenkonvent bestimmt ist, entsprechend, ist jetzt die Tagesordnung publiziert worden. Dagegen jetzt anzugehen, halte ich nicht für ratsam, weil ich glaube, es ist gut, daß wir jene Beschlüsse befolgen, weil wir dann am sichersten und raschesten nach Hause kommen".In der Folge werden zwar vom Abgeordneten Kayser 51 die Kompetenzen des Seniorenkonvents (Bindungswirkung seiner Beschlüsse) und sogar seine Existenz als "geschäftsordnungsmäßige Einrichtung" angezweifelt, die Tatsache aber, daß er "über die Geschäfte des Reichstages"52 beraten hat, bleibt unwidersprochen und wird zudem von anderen Abgeordneten 53 bestätigt. Somit wird deutlich, daß dieser Tätigkeitsbereich des Seniorenkonvents zwar noch umstritten, aber doch bald vorhanden war. Das Haus blieb allerdings "Herr seiner Tagesordnung" und konnte jederzeit "per maiora die Absetzung eines Gegenstandes" beschließen 54. Der Seniorenkonvent konnte keine für das Plenum verbindliche Beschlüsse fassen 55. Ungeachtet dessen nahm der Einfluß des Seniorenkonvents auf die Arbeitsplanung immer mehr zu. Dies führt Hellmuth von Gerlach in seiner Schrift aus dem Jahre 1907 instruktiv vor Augen 56 : "Es gibt der Fälle genug, wo die gedeihliche Fortführung der Geschäfte eine Verständigung aller Fraktionen voraussetzt. Häufig ist Z.B. der Fall, daß der Reichstag mit einer Flut von Regierungsvorlagen, Interpellationen und Initiativanträgen überschwemmt wird oder daß die rechtzeitige Erledigung des Etats in Frage gestellt scheint, oder daß sonst die ordnungsmäßige Abwicklung der Aufgaben des Parlamentes gefährdet ist. Dann kann nur der gute Wille aller Parteien Abhilfe bringen. In allen solchen Fällen beruft der Präsident die Senioren, d.h. angesehene Mitglieder sämtlicher Fraktionen. Mit ihnen wird ex aequo et bono die Geschäftsführung für die nächste Zeit festgelegt, z.B. eine 'Kontingentierung' der Verhandlungen derart beschlossen, daß für jeden Gegenstand eine Maximaldauer der Beratung bestimmt wird". Weiter gesteht von Gerlach zwar zu, daß dieses Verfahren sehr nützlich sei, kritisiert allerdings, daß es oft nicht zum Ziele führen würde, "weil Windthorst, Sten.Ber.RT, Sitzg. Nr. 39 vom 23.6.1884, 1/4, S. 983. Kayser, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 50). 52 So Vizepräsident Freiherr von und zu Franckenstein, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 50). 53 Vgl. neben den bereits in Fn. 51, 52 genannten: Abg. Freiherr von Minnigerode, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 50), S. 984. 54 So der Präsident Dr. Simson schon in Sten.Ber.RT, Sitzg. Nr. 53 vom 16.6.1873, 1/4, S. 1175; vgl. auch Abg. Freiherr von Minnigerode, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 27.6.1884, V/4 (Bd. 2), S. 1090: "die maiora beschlossene Tagesordnung geht vor". 55 Insoweit treffen die von Kayser, a.a.O. (Fn. 51), geäußerten Zweifel tatsächlich zu; bestätigend auch Abg. Freiherr von Minnigerode, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 53). 56 Von Ger/ach; Das Parlament, 1907,S. 45f. 50
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die Bestimmung der Geschäftsordnung fehlt, die solchen Beschlüssen bindende Kraft verleiht" 57. Dennoch zeigt das Zitat den gestiegenen Einfluß des Seniorenkonvents auf den Arbeitsplan zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Besonders wichtig war der Arbeitsplan bei der Budgetberatung 58 • Hier wurde vom Seniorenkonvent die jeweilige Beratungsdauer für jeden Punkt des Etats, wie zum Beispiel Reichstag, Reichskanzler, Auswärtiges Amt, Reichsamt des Innem, festgelegt, wobei jeweils der Durchschnitt der Beratungsdauer der vorhergehenden drei Jahre zugrundegelegt wurde 59 • Als die "Schwerinstage"60 galten, hatte der Seniorenkonvent auch über die Reihenfolge der zu Beginn einer Session eingebrachten Initiativanträge zu entscheiden. Mit dem Zurücktreten der Bedeutung der "Schwerinstage" rückte jedoch auch diese Funktion in den Hintergrund 61 • Mit dem wachsenden Einfluß des Seniorenkonvents auf die Geschäftsführung des Reichstages seit Ende der 70er Jahre wurde der eigentlich zuständige Gesamtvorstand 62 immer mehr verdrängt. Die Position des Gesamtvorstandes und des Präsidenten im Rahmen des Gesamtvorstandes änderte sich vollständig 63 • c) Einfluß auf die Redeordnung Ein solcher Einfluß des Seniorenkonvents manifestierte sich vor allem bei der Reihenfolge der Redner. Im Gegensatz zur Frankfurter Nationalversammlung 1848 64 und zum Preußischen Abgeordnetenhaus 65 , gab es im Reichstag nach der Geschäftsordnung keine Rednerliste. Eine solche wurde bei Beratung seiner Geschäftsordnung ausdrücklich fallen gelassen 66 • Schon bald gab es aber eine 57 Von Ger/ach, S. 46 (überdies auch eine Bestätigung der mangelnden Bindungswirkung, vgl. oben Fn. 55). 58 Hatschek, S. 188. 59 Siehe als Beispiel die Übersicht bei Hatschek, S. 189, Fn. 1. 60 "Schwerinstage" waren Sitzungstage (in der Regel in jeder Sitzungswoche an einem bestimmten Tag), bei denen in erster Linie die von den Mitgliedern des Hauses gestellten Anträge und die Petitionen, welche beim Reichstag eingegangen waren, erledigt wurden. Sie haben ihren Namen von dem Minister Graf Schwerin, der diese Einrichtung für das preußische Abgeordnetenhaus einführte; zu allem: Baumbach, S. 39; vgl. auch Pol/mann, S. 368f., demzufolge schon 1869 im Norddeutschen Reichstag ein "Schwerinstag" eingeführt wurde. 61 Hatschek, S. 189. 62 Bestehend aus Präsident, Vizepräsident, Schriftführern, Quästoren, vgl. II. Abschnitt GORTl868 (§ 9-16); allgemein zum Gesamtvorstand: Hatschek, S. 169ff. 63 So Hatschek, S. 172. 114 § 35 GOFrNV; vgl. zur Redeordnung der Nationalversammlung schon oben II.2. 65 § 47 GOPrAbgH; zum Einfluß des Seniorenkonvents auf die Redeordnung im PrAbgH schon oben 11.3. 66 Hatschek, S. 190 m.w.Nachw.
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"geheime Rednerliste", bei deren Zustandekommen der Seniorenkonvent im Laufe der Zeit maßgebenden Einfluß gewann 67. Die Existenz einer solchen Liste erhellt schon Robert von Mohl 68 in seinem Aufsatz über die Verhandlungen im Reichstag aus dem Jahre 1875, wo er auch ausführlich auf die Redeordnung eingeht. Nach Bemerkungen zu den einzelnen Vorschriften der Geschäftsordnung fährt von Mohl fort 69 : "Wichtiger jedoch, als diese Auslegung untergeordneter Puncte ist es, dass neben der gesetzlichen Vorschrift und ihrer Auslegung eine Uebung herläuft, welche zwar schwerlich dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers entspricht, allein itzt schon auf verschiedenen Reichstagen gerade bei den wichtigsten Verhandlungen zur Anwendung gekommen ist. Es werden nämlich von den einzelnen Fractionen für welche ein zu discutirender Gegenstand von besonderem Interesse ist, in vorbereitenden Versammlungen diejenigen Redner ausgewählt, welche im Namen und im Sinne der Partei reden sollen. Diese melden sich zwar wie andere Mitglieder, allein es wird von den Vorstehern der Fraction die Aufmerksamkeit des Präsidenten besonders auf sie gelenkt, und dieser ruft nun nachdem die Berichterstatter oder Antragsteller gesprochen haben, die ihm als die Ersten Bezeichneten zum Worte auf; ... " Während das Bestehen einer "geheimen Rednerliste"70 aus diesem Zitat offenkundig wird, bleibt der Einfluß des Seniorenkonvents unausgesprochen. Dabei war schon im Jahre 1872 im Preußischen Abgeordnetenhaus anläßlich der Beratung seiner Geschäftsordnung von dem Brauch des Reichstages die Rede, "Vertrauensmänner aller Parteien" hinzuzuziehen, wenn es um die Vereinbarung der Rednerliste gehe 71. Auch im Reichstag gab es eine Äußerung, welche die Praxis der geheimen Rednerliste verdeutlicht. So sagte der Abgeordnete Braun im Jahre 1874: "Es verständigen sich nämlich die Parteien, wer in ihrem Namen sprechen soll, und sie benachrichtigen davon vorher den Präsidenten, und je nachdem nun Rede und Gegenrede kommt, gibt der Präsident das Wort mit Berücksichtigung der darüber vorher stattgehabten Verständigung, und zwar an die Minorität so gut wie an die Majorität"72. Dieses Zitat gibt gleichfalls nur einen Eindruck von der Rednerliste,nicht aber vom entsprechenden Wirken des Seniorenkonvents. Zwar wird er etwas später - ebenfalls vom Abgeordneten Braun - auch im Zusammenhang mit der Redeordnung ausdrücklich erwähnt 73, doch handelte es sich hierbei um den - allerdings vergeblichen 74 - Versuch der Einführung einer offiziellen 67 Siehe nur Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 33f., Fn. 128 (mit umfangreichen weiteren Nachweisen). 68 Von Mohl in ZfgStW Bd. 31 (1875),S. 39ff. 69 Von Mohl, a.a.O. (Fn. 68), S.69f. 70 Den Begriff verwendet von Mohl, a.a.O. (Fn. 69), ausdrücklich S. 71. 71 Abg. Richter, Sten.Ber.PrAbgH, Sess. 1871/72, Sitzg. vom 25.10.1872, S. 1613. 72 Abg. Braun, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 12.2.1874, 11/1, S. 41. 73 Braun, Sten.Ber.RT, II/l, Sitzg. Nr. 27 vom 9.4.1874, S. 669. 74 Hatschek, S. 190.
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Rednerliste in die Geschäftsordnung und der Seniorenkonvent diente hier nur als Argument und als Beispiel eines Instituts, welches ebenfalls nicht in der Geschäftsordnung zu finden und dennoch allgemein anerkannt und geschätzt seFs. Nachdem festgestellt wurde 76 , daß sich der Seniorenkonvent 1874 endgültig durchgesetzt hatte, kann erst ab diesem Zeitpunkt ein permanenter Einfluß auf die Redeordnung angenommen werden. Die oben gebrachten Zitate verdeutlichen aber, daß eine inoffIzielle Rednerliste tatsächlich schon vorher existiert hat. Das legt den Schluß nahe, daß das Vereinbaren der Rednerliste die Vertreter der verschiedenen Fraktionen zusammengeführt hat und einen Entwicklungsbaustein auf dem Wege zur endgültigen Etablierung des Seniorenkonvents darstellt. Das Vereinbaren einer Rednerliste gehört also zum ureigensten Tätigkeitsbereich des Seniorenkonvents. Der Einfluß des Seniorenkonvents zeigt sich schließlich darin, daß bald nur noch von ihm präsentierte Redner das Wort erhielten 77 , der Präsident demgegenüber an Einfluß verlor 78 , was besonders die nicht im Seniorenkonvent vertretenen fraktionslosen Abgeordneten traf. Neben der Reihenfolge und den Personen der Redner wurde im Seniorenkonvent mitunter auch die Redezeit vereinbart 79. d) Sonstige Funktionen Die Tatsache, daß der Seniorenkonvent keiner rechtlichen Normierung durch die Geschäftsordnung unterlag, mag mit dazu beigetragen haben, daß sich das Spektrum seiner Funktionen noch auf eine ganze Reihe weiterer Aufgaben erstreckte 80 • So wurde der Seniorenkonvent immer wieder eingeschaltet, wenn es um Angelegenheiten interfraktioneller Art ging. Dazu gehörten beispielsweise Verwaltungsfragen 81, die zwar in der Regel im Gesamtvorstand erledigt wurden, gelegentlich jedoch auch im Seniorenkonvent. Insbesondere die Verteilung der Tribünenplätze im Reichstag - wo ein Teil den Mitgliedern des Hauses für ihre Bekannten reserviert war - wurde im Seniorenkonvent nach Maßgabe der Stärke der Parteien vorgenommen. 75 Braun, a;a.O. (Fn. 73), wörtlich: "Der Seniorenkonvent ist doch ein sehr ehrwürdiges und heilbringendes Institut, gegen dessen Autorität zu rebellieren ich mir nicht erlauben möchte, denn ich wüßte im Voraus, daß ich dabei zu kurz käme". Vgl. schon oben II.5 bei Fn.188. 76 Siehe oben 11.5. 77 V gl. Troßmann in Deuerlein, S. 130. 78 Von Mohl in ZfgStW 1875, S. 71f., geht demgegenüber im Zusammenhang mit der Rednerliste von einer starken Stellung des Präsidenten aus, was meines Erachtens nicht zutrifft, wenn man sich nur vorstellt, daß der Präsident gegen ein geschlossenes Vorgehen der Fraktionen machtlos war (zum Verhältnis Seniorenkonvent/Präsident siehe unten 3.). 79 Vgl. dazu Hatschek, S. 189f. (190 Fn. 1). 80 Vgl. aber auch die Nebenaufgaben beim "normierten" Ältestenrat heute; siehe dazu Zweiter Teil, III., 3. Abschnitt. 8! So Hatschek, S. 190f.
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Die "wichtige Funktion"82 des Seniorenkonvents, bei Besetzung der Ehrenämter des Hauses tätig zu werden, zeigte sich besonders bei den Schriftführerstellen 83 und den Stellen der Kommissionsvorsitzenden 84 .Es kam aber auch vor, daß bei der Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten auf eine "unter den verschiedenen Parteien stattgehabten Verständigung" hingewiesen wurde und deren Wahl, beziehungsweise Wiederwahl, per Akklamation beantragt wurde 85 .Daneben nahm der Seniorenkonvent eine ganze Reihe unregelmäßiger Tätigkeiten wahr: So trat er einmal auf Einladung des Präsidenten zusammen, als dieser die Beteiligung des Reichstages an Trauerfeierlichkeiten für einen verstorbenen ehemaligen Präsidenten geklärt wissen wollte 86 . Ein anderes Mal wurde der Seniorenkonvent gewissermaßen als Kommission eingesetzt 87 : Er sollte bestimmte Aktenstücke prüfen und dann das Ergebnis dem Haus durch einen Berichterstatter mitteilen. Bei komplexen Beratungsgegenständen und größeren Koordinationsaufgaben wurde aus dem Plenum heraus angeregt, diese dem Seniorenkonvent zwecks vorheriger Verständigung zu überweisen 88 . Ganz allgemein kamen im Seniorenkonvent die Fraktionen zu vertraulichen Besprechungen über geschäftliche Fragen zusammen, wozu auch Vertagung und Schluß der Session, Deputationen und Reihenfolge der Gegenstände oder der Beratung gehörten 89. 3. Verhältnis zum Reichstagspräsidenten 90
Das Verhältnis des Seniorenkonvents zum Präsidenten war eine Beziehung eigener Prägung: Einerseits entwickelte sich der Seniorenkonvent aus den Fraktionen oder deren Führungen heraus 91 , stand somit von seinem Ursprung Hatschek, S. 191. Siehe als Bsp.: Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 4.3.1887, VII/1 (Bd. 1), S. 13, wo der Abg. Dr. Windthorst "nach Rücksprache mit dem Seniorenkonvent" vorschlägt, eine Reihe von Herren als Schriftführer zu wählen. Baumbach, S. 34, zufolge ging der Vorschlag seit einiger Zeit regelmäßig von dem Abg. Dr. Windthorst aus, "welchem die Vorstände der verschiedenen Parteien die ... zum Schriftführeramt bestimmten Abgeordneten bezeichneten". 84 Dazu schon oben III.2.a. 8S SO der Abg. Dr. Windthorst, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 7.3.1884, V/4 (Bd. 1), S. 8. 86 Präsident von Ballestrem, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 3.5.1899, X/1 (Bd. 3), S. 2021. 87 Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 22.3.1893, VIII/2, S. 180tff.; vgl. Pereis, S. 32, und Hatschek, S. 193: während Pereis davon ausgeht, daß es sich nicht um eine Kommission handelte, zieht Hatschek den Schluß, daß der Seniorenkonvent in der "äußeren Rechtsform einer Kommission" in Erscheinung getreten sei; die Diskrepanz kann hier, im Kontext der Tätigkeitsbereiche, dahingestellt bleiben. 88 Vgl. Abg. Richter, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 12.5.1879, IV/2 (Bd. 2), S. 1175; Abg. Rickert, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 4.5.1891, VIII/1 (Bd. 4), S. 2712 (A). 89 Aufzählung nach Baumbach, S. 46. 90 Zum Reichstagspräsidenten allgemein Hatschek, § 28, S. 185ff. 91 Vgl. dazu schon oben III.1.b. 82
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her dem Präsidenten eher fern, andererseits griff er durch seine Tätigkeit in Kompetenzen des Präsidenten ein 92. Dabei war der Präsident zunächst nicht einmal am Seniorenkonvent beteiligt und mußte sich dennoch arrangieren, wenn er seinen Einfluß auf die Führung der Reichstagsgeschäfte behalten wollte. Daß dies durch erste Fühlungnahmen und dann durch Übernahme des Vorsitzes, erst durch den Vizepräsidenten, später durch den Präsidenten geschah, wurde bereits geschildert 93 . Dennoch konnten Probleme nicht ausbleiben. Solche gab es einmal bei der Frage, inwieweit der Präsident an die Vereinbarungen im Seniorenkonvent gebunden war, sodann bei der Redeordnung. Insbesondere hinsichtlich der Bindungswirkung der Vereinbarungen 94 des Seniorenkonvents kam es im Plenum wiederholt zum Streit.Freilich ist richtig, "daß nach dem formalen Recht zweifellos der Präsident an solche Beschlüsse in keiner Weise gebunden ist"9S . Das folgt schon aus der fehlenden rechtlichen Normierung der Kompetenzen des Seniorenkonvents. Dennoch geschah es, daß sich der Präsident dementsprechend im Plenum verteidigen mußte. So traf dies im Jahre 1874 für den damaligen Reichstagspräsidenten von Forckenbeck zu: Bei der Beratung des Entwurfs eines Reichsmilitärgesetzes, der sogenannten Militärvorlage, beschuldigte der Abgeordnete Dr. Windthorst den Präsidenten, an Konferenzen teilgenommen, dem Plenum aber den dort besprochenen Inhalt nicht mitgeteilt zu haben 96. Hiergegen wehrte sich Präsident von Forckenbeck folgendermaßen 97 : "Der Herr Abg. Windthorst hat Konferenzen erwähnt, denen er nicht beigewohnt habe oder nicht beigewohnt haben.soll. Ich erwidere dem Herrn Abg. Windthorst darauf, daß ich mir und meinem Nachfolger im Amt des Präsidenten das Recht wahren muß, daß sie nach ihrem eigenen Gewissen und mit ihrer eigenen Verantwortung zu bestimmen haben, welchen Konferenzen sie beiwohnen wollen, wie sie sich darin auslassen wollen und was sie in derselben mitteilen wollen. Ich erkenne in dieser Beziehung keinen Richter über mir an". Zwar ist hier mit "Konferenzen" ausdrücklich jedenfalls - nicht der Seniorenkonvent gemeint - dagegen spricht auch, daß die Partei des Dr. Windthorst nicht hinzugezogen worden ist -, aber das Zitat verdeutlicht das Selbstbewußtsein eines Präsidenten gegenüber jeder Art von Konferenzen.
92 Vor allem in die Ordnungs- und Leitungsgewalt des Präsidenten, dazu Hatschek, S.21Of. 93 Siehe oben III.1.a. 94 Hatschek, S. 178, redet demgegenüber von "Beschlüssen", was jedoch meines Erachtens falschlicherweise eine rechtlich verbindliche Kompetenz des Seniorenkonvents suggeriert, die dieser aufgrund seines Charakters als freiwilliges "extralegales" Gremium nicht hatte. 9S SO Hatschek, S. 178. 96 Windthorst, Sten.Ber.RT, 11/1, 32. Sitzg. vom 15.4.1874, S. 814. 97 Von Forckenbeck, Sten.Ber.RT, a.a.O. (Fn. 96), S. 815.
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Deutlicher hinsichtlich des Seniorenkonvents drückt sich einige Zeit später Präsident Graf von Ballestrem aus, der an das Wort von Forckenbecks anknüpfte. Hier war Anlaß ebenfalls der Vorwurf eines Abgeordneten, daß der Präsident an einer Besprechung über die Geschäftslage der nächsten Zeit teilgenommen habe, "zu welcher die Vertreter der gesamten Linken dieses Hauses nicht zugezogen worden"98 seien. "Diese Besprechung, wenn sie überhaupt Bedeutung haben soll, muß in der Tat als eine Umgehung des Seniorenkonvents angesehen werden"99. Demgegenüber zitierte Präsident Graf von Ballestrem in der folgenden Sitzung wörtlich den vormaligen Präsidenten von Forckenbeck und wies das Ansinnen Singers zurück, über etwaige Konferenzen zur Rechenschaft gezogen zu werden 100 .Den Seniorenkonvent hatte von Ballestrem absichtlich nicht einberufen, da die Sozialdemokraten zusammen mit der Partei Eugen Richters Obstruktion betrieben hätten und dies ihm die Wirksamkeit der vertraulichen Besprechungen dieses Gremiums zu beeinträchtigen schien 101. Dabei kam Präsident Graf von Ballestrem auch auf den Seniorenkonvent zu sprechen und äußerte sich in dieser Hinsicht wie folgt: "Der Seniorenkonvent ist keine geschäftsordnungsmäßige Institution des Reichstages; er ist eine durch Gewohnheit herbeigeführte Institution, die aber von den früheren Präsidenten und auch von mir nie als ein Kollegium anerkannt worden ist. Wenn die Herren, die diesen Versammlungen beigewohnt haben, die Einladungen ansehen, so sind diese immer bloß an den betreffenden Abgeordneten gerichtet zu einer geschäftlichen Besprechung, wie es heißt. Also einen Seniorenkonvent gibt es nicht .... Nun gebe ichja zu, daß der Seniorenkonvent oft sehr gut, sehr heilsam und sehr förderlich für die Geschäfte des Reichstags wirken kann. Ob das aber der Fall ist, das ist Sache des Präsidenten, in dem einen Falle glaubt er's, in dem anderen Falle glaubt er's nicht" 102 • Aus diesem Zitat spricht - und darauf weist Hatschek mit Recht hin 103 - das Selbstbewußtsein eines Präsidenten, der eine große Partei wie das "Zentrum" hinter sich hatte. Wenn dies nicht der Fall war, der Präsident also einer der kleineren Fraktionen angehörte, dann konnte es geschehen, daß er als bloßer "Geschäftsträger" des Seniorenkonvents im Reichstag auftrat, sich auf dessen Wünsche und Beschlüsse berief oder diesen als Organ des Hauses behandelte 104-.
So Abg. Singer, Sten.Ber.RT, X/I (Bd. 7), 191. Sitzg. vom 11.5.1900, S. 5445 D. Singer, a.a.O. (Fn. 98). 100 Graf von Ballestrem, Sten.Ber.RT, X/l (Bd. 7), 192. Sitzg. vom 12.5.1900, S. 5447f. 101 Vgl. Graf von Ballestrem, a.a.O. (Fn. 100), S. 5448; Hatschek, S. 179. 102 Graf von Ballestrem, a.a.O. (Fn. 101). 103 Hatschek, S. 180. 104 So Hatschek, S. 180; vgl. auch Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12; Troßmann in Deuer/ein, S. 130; vgl. als Beispiele nur: Präsident, Sten.Ber.RT, V/2 (Bd. 4), Sitzg. vom 22.5.1883, S. 2479; Präsident, Sten.Ber.RT, V/4 (Bd. 2), S. 1087; Präsident,Sten.Ber.RT, IX/3 (Bd. 1), Sitzg. vom 13.12.1894, S. 99. 98
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
Je weiter die faktische Institutionalisierung des Seniorenkonvents voranschritt, desto größer sank die Unabhängigkeit des Präsidenten gegenüber den Wünschen der Fraktionen und um so mehr nahm seine Aufgabe zu, zwischen den Fraktionen zu vermitteln lOS. Die Fraktionen erhielten andererseits zunehmend die Möglichkeit, über den Seniorenkonvent wichtige Funktionen des Präsidentenamtes zu kontrollieren 106. Letzten Endes aber war hier - wie beim Ältestenrat heute l07 - die Stellung des Präsidenten von dessen Person und Autorität abhängig. 4. Bedeutung des Seniorenkonvents
Während Hatschek l08 zwischen "rechtlicher" und "faktischer" Bedeutung differenziert - diese zugesteht, jene ablehnt -, soll hier auf solche U nterscheidung verzichtet werden, da mangels geschäftsordnungsmäßiger Normierung und somit ,juristischer Natur"l09 des Seniorenkonvents von einem wie auch immer gearteten rechtlichen Status und folglich von einer diesem entspringenden rechtlichen Bedeutung apriori nicht die Rede sein kann 110. Dagegen ist die faktische Existenz und die hieraus resultierende entsprechende Bedeutung des Seniorenkonvents im Reichstag unbestritten 111 • Die Bedeutung wird zum einen erhellt durch die bereits erwähnten vielfältigen Aufgaben des Seniorenkonvents 112, des weiteren durch die Frage, inwieweit das Plenum die Existenz und die Vereinbarungen des Seniorenkonvents respektiert hat. Dabei ist es kein Geheimnis, daß in der weitaus größeren Zahl der Fälle die Plenarversammlung die Ergebnisse der Beratungen im Seniorenkonvent akzeptiert hat 113 • Das darf jedoch im Grunde nicht verwundern, denn der Seniorenkonvent ist ein Produkt der Parlamentspraxis und dem aktuellen Bedürfnis der das Plenum tragenden Fraktionen entsprungen, jenem verschiedene Aufgaben zu vereinfachen und abzunehmen. Es wäre widersinnig, eine solchermaßen Vgl. von Below in verg.Inst., S. 349. Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 28. 107 Siehe dazu Zweiter Teil, IV.1. 108 Hatschek, S. 192fT. 109 Hatschek, S. 192. 110 Das wurde damals schon im Plenum erkannt, vgl. nur: Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 17.6.1873,1/4, S. 1199 (Abg. von Hoverbeck); Sitzg. vom 21.4.1883, V/4 (Bd. 3), S. 2050 (Abg. Richter), S. 2052 (Abg. Windthorst); so im Ergebnis auch Hatschek, a.a.O. (Fn. 109), der überdies zu Recht Pereis, S. 32, ablehnt, welcher von einer "rechtlichen Existenz" des Seniorenkonvents spricht, die er mit den gelegentlichen Hinweisen in den Plenarprotokollen und mit aktenmäßigen Vorgängen begründet. Dies scheinen mir vielmehr Indizien für die faktische Existenz zu sein. 111 Vgl. nur Hatschek, S. 195; Pereis, S. 31; Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12; von Below in verg.Inst., S. 349; Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 28. 112 Siehe oben 111.2. 113 Vgl. nur Hatschek, S. 195. lOS
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IH. Der Seniorenkonvent des monarchischen Reichstages
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gewünschte Arbeitserleichterung im Plenum zu Fall zu bringen. Bemerkenswert ist - das ist ein weiteres Argument für die hohe Akzeptanz -, daß die Vereinbarungen "niemals per maiora, sondern immer nur einstimmig"114 erfolgten. Dennoch konnte es nicht ausbleiben, daß solch ein Gremium, welches in "extralegaler"1l5 Weise handelte, zuweilen auch Anfechtungen ausgesetzt war; vor allem natürlich dann, wenn einzelne Abgeordnete oder Fraktionen mit dem vereinbarten Procedere nicht einverstanden waren. Dies kam besonders bei Abmachungen hinsichtlich der Tagesordnung vor l16 • So fällt in diesem Zusammenhang der bemerkenswerte Ausspruch des Abgeordneten Kayser 1l7 : "Wir haben kein so großes Interesse daran, an den Abmachungen des Seniorenkonvents festzuhalten, als daran, daß dem armen Arbeiter sein Recht voll und ganz wird". Aufgrund solcher und ähnlicher Anwürfe kam es dann im Plenum seitens des Präsidenten oder anderer Abgeordneter verschiedentlich zu Ermahnungen, sich doch an die Abmachungen im Seniorenkonvent zu halten und diese zu respektieren 118. Erfolg hatte das beispielsweise bei dem Abgeordneten von Savigny, der, als er hörte, daß ein bestimmter Geschäftsordnungsvorschlag vom Seniorenkonvent stammte, daraufhin seine vorgebrachten Bedenken fallen ließ119.Trotz allem geschah es auch, daß von Seniorenkonventsvereinbarungen im Plenum abgewichen wurde, woran vornehmlich mangelnde Vorbereitung oder Vorberatung der betreffenden Vorlage in den Fraktionssitzungen der Parteien Schuld war l20 . Insgesamt aber ist die Bedeutung des Seniorenkonvents im monarchischen Reichstag sehr hoch zu veranschlagen 121. Das verschiedentliche Aufbegehren 114 So Hatschek, S. 193 m.w.Nachw. aus den Sten.Ber.RT; daß Hatschek zu Unrecht von "Beschlüssen" des Seniorenkonvents spricht, wie er es a.a.O. tut, wurde bereits bei Fn. 94 dargelegt. 115 Vgl. Hatschek, S. 177f. (178). 116 Vgl. z.B. Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 13.12.1894, IXj3 (Bd. 1),S. 99; Sitzg. vom 20.2.1896, IXj4 (Bd. 2), S. 1114ff.; allgemein vgl. nur: Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 9.12.1891, VIIIj1 (Bd. 5), S. 3298; Sitzg. vom 2.5.1902, Xj2 (Bd. 6), S. 5239; Sitzg. vom 6.5.1902, Xj2 (Bd. 6),S. 5343, 5345. 117 Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 9.2.1883, Vj2 (Bd. 2), S. 1393f. 118 Vgl. z.B.: Abg. Windthorst, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 21.4.1883, V j2 (Bd. 3), S. 2052; Sitzg. vom 16.4.1894, IXj2 (Bd. 3), S. 2185; Präsident in Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 15.12.1894, IXj3 (Bd. 1), S. 170; Abg. von Kardorff, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 6.5.1902, Xj2 (Bd. 6), S. 5343. 119 Von Savigny, Sten.Ber.RT, Sitzg. vom 4.4.1911, XIIj2 (Bd. 266), S. 6266f. (6267): auch der bereits zitierte Abg. Kayser (Fn. 117) zog später seinen Abänderungsantrag zurück. 120 Hatschek, S. 195, m.w.Nachw. aus den Sten.Ber.RT, wann und in welchem Zusammenhang dies der Fall gewesen ist. 121 Das ist allgemeine Meinung der hier passim zitierten Literatur, die sich mit dem Seniorenkonvent des Reichstages befaßt; vgl. auch Huber, III, § 61 II 2,S. 886: "wichtigstes
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
einzelner Abgeordneter zeigt nur, wie weit der Seniorenkonvent schon den "Regelfall" bestimmte. Aufgrund der faktisch hohen Bedeutung ist die Kritik von Ger/achs unzutreffend, der monierte, daß die "Beschlüsse" des Seniorenkonvents oft nicht zum Ziele führen würden, weil die Bestimmung der Geschäftsordnung fehle, die "bindende Kraft" verleihen würde 122 • Große "Macht" des Seniorenkonvents unterstellt Hatschek 123 • Er sieht den Seniorenkonvent als Ausdruck einer "Parteiregierung in der parlamentarischen Geschäftsleitung" an, eine Entwicklung, die sich aber nicht mehr zurückdrehen ließe, es gebe nur ein Mittel, nämlich: "ihn (sc. den Seniorenkonvent) aus seiner unverantwortlichen Ecke herauszuziehen, ihn zu einem Rechtsinstitut zu machen, wodurch er dem Parlament verantwortlich wird, seine Machtbefugnisse aber durch die Geschäftsordnung genau zu begrenzen". Diese Worte waren ein wesentlicher Anstoß, den Seniorenkonvent unter der Bezeichnung "Ältestenrat" in die Geschäftsordnung des Weimarer Reichstages aufzunehmen und so diesem "Machtfaktor" Schranken zu setzen l24 •
IV. Weitere Entwicklung Bevor - diesen Teil abschließend - die weitere Entwicklung des Seniorenkonvents im Weimarer Reichstag aufgezeigt wird (2.), soll ein Blick auf diejenige der Länder geworfen werden (1.), welche derjenigen des Reichstages voranschritt. Für beide Bereiche gilt, daß es sich weniger um eine Entwicklung materieller Art, als vielmehr um eine solche der Kodifikation von vorher bereits Bestehendem gehandelt hat. 1. Länder, insbesondere Württemberg
Weithin verlief die Entwicklung des Seniorenkonvents in den Ländern im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ähnlich, wie sie bereits für das Preußische Abgeordnetenhaus und den Deutschen Reichstag geschildert wurde: In den Geschäftsordnungen waren weder Fraktionen, noch ein Seniorenkonvent verzeichnet, gleichwohl führte parlamentarischer Brauch zur Entstehung von beiden 1 • Vorreiter der nun, zu Anfang dieses Jahrhunderts, interfraktionelles Parlamentsorgan", "unentbehrliche Daseinsgrundlage für das staatsrechtliche Funktionieren des Nationalparlaments" . 122 So von Gerlach, S. 46. 123 Hatschek, S. 163. 124 So von Below in verg. Inst., S. 349. 1 Siehe nur den im übrigen äußerst umfangreichen und instruktiven - Bericht der Geschäftsordnungskommission über die Revision der Geschäftsordnung der Zweiten Kammer des Württembergischen Landtags (Berichterstatter Adolf Gröber) in Verhandlungen der Württembergischen Zweiten Kammer, Beilagen Bd. 105, Beilage Nr. 372 vom 26.6.1909, S. 441 unter "Parteien", S. 444 (§ 15 Anm. I).
IV. Weitere Entwicklung
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einsetzenden Kodifikationsbewegung war das Königreich Württemberg. Hier beschloß die Zweite Kammer am 16. Februar 1907, die Geschäftsordnungskommission mit einer umfassenden Revision der Geschäftsordnung der Kammer zu beauftragen 2 • Man war zu der Überzeugung gelangt, daß die Geschäftsordnung des Jahres 1849, auf der - abgesehen von kleineren Änderungen 1851 und 1875 - im wesentlichen immer noch das parlamentarische Verfahren beruhte, mittlerweile durch mancherlei Erfahrungen in parlamentarischer und organisatorischer Hinsicht in und außerhalb Württembergs überholt war. Der Berichterstatter der Geschäftsordnungskommission, Adolf Gröber, drückte sich folgendermaßen aus 3 : "Die Arbeit des Jahres 1849 muß als eine für ihre Zeit recht gute bezeichnet werden. In den langen Jahren bis jetzt ist aber doch natürlich vielfach eine Veraltung eingetreten und es ist, glaube ich, nicht zu früh, wenn wir nunmehr den Versuch machen, eine Neuordnung unserer Geschäftsordnung herbeizuführen, bei welcher nicht bloß die eigenen Erfahrungen seit 1820, sondern namentlich auch die Erfahrungen im Reichstag, im preußischen Abgeordnetenhaus und in der bayerischen Abgeordnetenkammer berücksichtigt sind". Ein ganz neuer Vorschlag, "mit welchem der Entwurf der neuen Geschäftsordnung sämtlichen übrigen deutschen Geschäftsordnungen vorangeht", war, "die Mitgliedervereinigungen oder, wie wir es zu bezeichnen gewohnt sind, die Fraktionen, in die Geschäftsordnung selbst aufzunehmen, sie formell in den Dienst des Hauses zu stellen"4. Gröber führte weiter aus: "Sodann wird in § 15 das Institut des Seniorenkonvents auch ausdrücklich in die Geschäftsordnung aufgenommen. Es sollen die 'Ältesten', die Vertrauensmänner der einzelnen Fraktionen, eine freie Verständigung suchen über die Geschäftsbehandlung, über die Kommissionswahlen und anderes. Auch das entspricht nur dem, was seit einer Reihe von Jahren bereits in der praktischen U ebung durchgeführt und bewährt worden ist" 5 • Ergänzend wurde in der Begründung zum Entwurf der neuen Geschäftsordnung ausgeführt, daß die Entwicklung des politischen Lebens in Württemberg, wie anderswo, zur Bildung von Fraktionen geführt habe und dies "einem Bedürfnisse des fortgeschritteneren parlamentarischen Lebens" entsprechen würde 6 • Dementsprechend sei es ein Unding, den Fraktionen die geschäftsord~ nungsmäßige Anerkennung zu versagen, anstatt das "Fraktionsinteresse in den Dienst des Gesamtinteresses" zu stellen 7 • Wenn irgendeine Einrichtung des Reichstages keine Nachahmung verdiene, so sei es die "Schattenexistenz" der 2 Verhandlungen Württembergische Zweite Kammer, Bericht Geschäftsordnungskommission, Beilage Bd. 105, S. 404; Protokolle Bd. 84, S. 75 - 78. 3 Verhandlungen Württembergische Zweite Kammer, Gröber in 230. Sitzg. vom 12.8.1909, Protokolle Bd. 89, S. 6250. 4 So Gröber, a.a.O. (Fn. 3). 5 Gröber, a.a.O. (Fn. 3). 6 Württembergische Zweite Kammer, Beilage Nr. 372 vom 26.6.1909, Bd. 105, S. 44i. 7 Ebenda.
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
Abteilungen 8 .Das zeigt, daß auch hier in Württemberg die Abteilungen schon seit langem ihre Bedeutung verloren hatten. Weiter geht die Begründung auf die Hauptaufgaben der "Aeltesten", wie sie hier und in § 15 WürttGO 1909 genannt wurden, ein 9 • Es finden sich weithin die Tätigkeiten, welche bereits für den Seniorenkonvent des Reichstages lO besprochen wurden: -
Verständigung über den Geschäftsplan der Kammer (§ 15 I 1 des Entwurfs),
-
Verständigung bei den Wahlen der Schriftführer und Ausschußmitglieder (§§ 15 I 2, 14 I des Entwurfs),
-
Reihenfolge gleichzeitig eingebrachter Initiativanträge (§ 33 11 des Entwurfs),
-
Verteilung der Sitzplätze in der Kammer (§ 37 des Entwurfs).
Nicht ausgeschlossen sei, daß den "Aeltesten" durch Beschluß der Kammer weitere Aufgaben übertragen werden könnten. Formelle Abstimmungen würden bei den Verhandlungen der "Aeltesten" nicht vorgenommen werden, da es sich hier nur um eine "freie, die volle Einmütigkeit voraussetzende Vereinbarung" handele. § 15 WürttGO, der zum ersten Mal in Deutschland Vorschriften über den vormaligen Seniorenkonvent und nachfolgenden Ältestenrat enthielt, wurde am 12. August 1909 - zusammen mit den übrigen Bestimmungen der neuen Geschäftsordnung - einstimmig "en bloc" von der Kammer der Abgeordneten des Württembergischen Landtags angenommen 11. Offenbar gab Württemberg als erstes Land einem verbreiteten Bedürfnis Ausdruck, denn mit geringem zeitlichem Abstand folgte eine Reihe von Ländern, die ihre Geschäftsordnungen novellierten und den Seniorenkonvent kodifizierten. Nicht immer wurde er dabei so genannt, der Name wechselte: Ebenda, S. 440. Ebenda, S. 444. 10 Siehe oben III.2. 11 Württembergische Zweite Kammer, 230. Sitzg. vom 12.8.1909, Protokolle Bd.89, S. 6257 (Präsident): § 15 WürttGO 1909 lautet: "Abs. I: Vertrauensmänner der einzelnen Mitgliedervereinigungen, die Aeltesten, treten zur Herbeiführung einer freien Verständigung über Zeit und Art der Behandlung der von der Kammer zu erledigenden Geschäfte zusammen. Außerdem liegt den Aeltesten insbesondere die Vereinbarung über die in § 14 Absatz 1 bezeichnete Verteilung (Anrn.: Schriftführer etc.), sowie über die Wahl der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter ob. Abs. ll: Die Beratung der Aeltesten erfolgt auf Einladung und unter dem Vorsitz des Präsidenten oder, falls der Präsident noch nicht gewählt ist, des ältesten VertrauensJIlannes. " Am 7. April 1914 wurde durch Kammerbeschluß folgender Abs.lllhinzugefügt: "Die Vereinbarungen der Aeltesten sollen den Mitgliedern der Kammer mitgeteilt werden." (zitiert nach Rauchhaupt, Handbuch der Deutschen Wahlgesetze und Geschäftsordnungen, 1916, S. 699). 8
9
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IV. Weitere Entwicklung
-
So beließ es zwar das zunächst folgende Elsaß-Lothringen bei "Seniorenkonvent"12, doch
-
Baden kodifizierte "Vertrauensmänner der einzelnen Fraktionen" 13 ,
-
Hessen sprach von vereinigungen"14,
-
Anhalt hingegen rekurrierte wieder auf "Seniorenkonvent" 15.
"Vertrauensmänner der einzelnen
Mitglieder-
Ungeachtet dessen waren die Funktionen dieses Gremiums überall im wesentlichen dieselben. Die Länder waren also der Entwicklung im Reichstag um einige Zeit voraus. 2. Weimarer Reichstag
Den noch heute gültigen Namen "Ältestenrat" erhielt der vormalige Seniorenkonvent im Reichstag der Weimarer Republik. In der neu geschaffenen Geschäftsordnung vom 12.12.1922 16 handelten die §§ 10, 11, 12 von ihm. Die Einfügung scheint nicht weiter umstritten gewesen zu sein, denn lapidar führt der Berichterstatter des Geschäftsordnungsausschusses, der Abgeordnete Schmidt (Sachsen) dazu aus: "Hinzugekommen sind Abschnitte über die Fraktionen seit Bestehen des Reichstags. Wir haben auch schon seit Beginn der ersten Reichstagsverhandlungen einen Ältestenrat oder, wie man bisher immer sagte, einen Seniorenkonvent. Diese Institutionen haben jedoch niemals in der Geschäftsordnung irgendwelchen Ausdruck gefunden. Das glaubte der Ausschuß nachholen zu müssen"I? Aus den Erläuterungen zum Bericht des Geschäftsordnungsausschusses geht hervor, daß im Zusammenhang mit der Einfügung des Ältestenrates im wesentlichen drei Fragen behandelt wurden l8 : Neben dem grundsätzlichen 12 § 16 der Geschäftsordnung für die Zweite Kammer des Landtags für ElsaßLothringen vom 22.12.1911 (Rauchhaupt, S. 750). 13 § 15 der Geschäftsordnung für die Zweite Kammer der Landstände des Großherzogturns Baden vom 16.7.1912 (Rauchhaupt, S. 92f.). 14 Art. 36 des Gesetzes, die landständische Geschäftsordnung betreffend, vom 23.3.1914 (Rauchhaupt, S. 289). IS §§ 27,28 der Geschäftsordnung für den Landtag, in Kraft getreten am 14.11.1914 (Rauchhaupt, S. 52f.). Hier finden sich interessanterweise in § 27 einige Besonderheiten hinsichtlich der Mitglieder des Seniorenkonvents: er bestand aus Landtagsvorstand (Präsident/Vizepräsidenten) und fünf weiteren Abgeordneten, die nach einem komplizierten Modus - in § 27 detailliert geregelt, - von allen Abgeordneten des Hauses gewählt wurden. 16 In Kraft ab 1. Januar 1923; Reichsgesetzblatt 1923, 11, S. 101ff.; vgl. dazu RT-Drs. 1/4411, Bd. 374, S. 4856ff.; sowie Sten.Ber.RT, Bd. 357, S. 8965 - 8982, 9045 - 9062, 9065 - 9069, 9073 - 9083, 9085 - 9098. 17 Schmidt, Sten.Ber.RT, 266. Sitzg. vom 14.11.1922, Bd. 357, S. 8965 (C). 18 RT-Drs. 1/4411, Bd. 374, S. 4866.
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Erster Teil: Die Entstehung des Ältestenrates
Punkte, ob der Ältestenrat Beschlußkompetenz erhalten soll, ging es darum, ob entgegen der bisherigen Übung die Zahl seiner Mitglieder beschränkt werden solle, des weiteren, ob die Stellvertreter des Präsidenten in den Ältestenrat aufzunehmen seien. Die erste Frage wurde von der Mehrheit des Geschäftsordnungsausschusses verneint, die freie Vereinbarung wurde für das Wertvollere gehalten, während die übrigen beiden Punkte einer Einfügung in die Geschäftsordnung für notwendig erachtet wurden. Die Festlegung einer bestimmten Mitgliederzahl sei im Interesse einer geregelten Geschäftsführung erforderlich; die Stellvertreter des Präsidenten sollten hinzugezogen werden, weil sie über die Beratungen des Ältestenrats vollständig unterrichtet sein mußten, um ihr Amt ordnungsgemäß verwalten zu können. Die Umbenennung scheint wie in der Württembergischen Zweiten Kammer auf Adolf Gröber zurückzugehen. Diesen Schluß läßt eine Aussage des Abgeordneten Dr. Pfeiffer in derselben Sitzung vom 14.11.1922 zu 19, der Gröber als Urvater aller neueren Geschäftsordnungen in Deutschland herausstellt. Überdies ist der Weg von "Aelteste" in § 15 WürttGO 1909 zu "Ältestenrat" in §§ 10 ff. GORT 1922 nicht weit. Nach der Neugestaltung der GORT 1922 war der Ältestenrat ein Organ des Reichstages 2o . Er bestand aus dem Präsidenten, seinen Stellvertretern und einundzwanzig von den Fraktionen dem Präsidenten schriftlich benannten Mitgliedern (§ 10 GORT), "unter denen sich die Fraktionsführer zu befinden pflegen"21. Die Einberufung und Leitung der Beratungen erfolgte durch den Präsidenten, beziehungsweise durch einen seiner Stellvertreter. Beratungsfähig war er, wenn die Mehrheit der Mitglieder anwesend war (§ 11 GORT).Hier hatte der Ältestenrat zum Teil auchAufgaben mit beschließendem Charakter, so bei der Verteilung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter auf die Fraktionen (§ 12 Satz 2 GORT), bei der Bezeichnung von Anträgen als "schleunig" (§ 7511 2 GORT) und beim "Schwerinstag" (§ 79 Satz 2 GORT). Im übrigen hatte er den Präsidenten bei Führung der Geschäfte zu unterstützen und insbesondere eine Verständigung der Fraktionen über den Arbeitsplan des Reichstages herbeizuführen (§ 12 Satz 1 GORT). Später wurde durch Beschluß des Reichstags 22 eingeführt, daß bei beabsichtigtem Abweichen von dem im Ältestenrat vereinbarten Geschäftsplan die betreffende Fraktion möglichst vorher den Präsidenten und die Fraktionen zu verständigen hatte. Das offenbart, daß die Vereinbarungen weder für den Reichstag, noch für die Fraktionen bindend waren 23 . Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß der
Pfeiffer, Sten.Ber.RT, Bd. 357, S. 8970 (C). Vgl. PereIs in Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, S. 450. 21 PereIs, a.a.O. (Fn. 20),S. 451. 22 Beschluß RT vom 22.2.1924, Sten.Ber., I. WP, S. 1243f. 23 PeTeIs, a.a.O. (Fn. 20), S. 452. 19
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IV. Weitere Entwicklung
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Ältestenrat trotz seiner geringen "beschließenden" Kompetenz 24 einen "sehr maßgebenden Einfluß auf die Führung und Gestaltung der Reichstagsgeschäfte" hatte 2S .Insgesamt wird die weitgehende Funktionsgleichheit des Ältestenrats der Weimarer Zeit mit demjenigen heutiger Zeit bereits deutlich. Vieles von dem, was für den Ältestenrat heute gilt 26 , beanspruchte schon im Weimarer Reichstag Geltung. Dementsprechend können die Ausführungen zum "Heute" 'Yeithin auch zum "Gestern" herangezogen werden. Die historische Entwicklung des Ältestenrats ist mit der Geschäftsordnung des Weimarer Reichstags von 1922 abgeschlossen 27 •
24 Diese war besonders umstritten in der 271. Sitzg. vom 20.11.1922, Sten.Ber.RT, Bd. 357, S. 9074. 25 So Pereis, a.a.O. (Fn. 20), S. 452. 26 Dazu Zweiter Teil. 27 Vgl. dazu auch Hauenschild, S. 22, der in seiner Untersuchung zu den Fraktionen darlegt, daß die Zeit nach 1918 vernachlässigt werden könne, da sich die Fraktionen der Weimarer Zeit in keiner Weise, "weder politisch-soziologisch, noch organisatorisch oder funktionell" von dem unterscheiden würden, was man heute Fraktion nennt.
ZWEITER TEIL
Der Ältestenrat des Bundestages I. Der Ältestenrat im Lichte der Geschäftsordnung Allgemein kann man seit Bestehen des Bundestages vier Perioden unterscheiden, die durch größere Veränderungen der Geschäftsordnung gekennzeichnet sind 1 : Die erste Periode dauerte vom 20. September 1949 bis zum 31. Dezember 1951. Solange galt die sogenannte "vorläufige Geschäftsordnung", welche im wesentlichen auf der Geschäftsordnung des Reichstages von 1922 beruhte 2 • Durch Beschluß des Bundestages vom 6. Dezember 1951 3 wurde anschließend die "neue Geschäftsordnung"4 geschaffen s. Weitere Änderungen ergaben sich nach der "kleinen Geschäftsordnungsreform"6 von 1969, die schließlich zur Neubekanntmachung vom 22. Mai 1970 7 führte, sowie anläßlich der Geschäftsordnungsreform von 1980 8 • Die Geschäftsordnung in dieser Version, welche am 1. Oktober 1980 in Kraft trat, gilt letztlich bis heute 9 . Eine Untersuchung, die dem Ältestenrat gewidmet ist, kann von allgemeinen Aussagen, die diese Änderungen mit sich brachten, absehen 10. Hier soll nur 1 Siehe dazu allgemein Achterberg, ParlR, S. 62ff.; sowie Szmula in Röhring/Sontheimer, S. 161ff. bezüglich der ersten beiden Perioden; zur Entwicklung der GO vor 1949: Troßmann in Deuerlein, S. 125. 2 Achterberg, ParlR, S. 63; Szmula, a.a.O. (Fn. 1), S. 161; Troßmann, a.a.O. (Fn. 1). 3 Bekanntmachung vom 28.1.1952,BGBl. Teil II, S. 389. 4 1961 auch "Endgültige GO" genannt, vgl. Synoptische Darstellung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und ihrer Vorläufer, Bonn 1961. 5 Szmula, a.a.O. (Fn. 1), S. 162. 6 Auch als "Kleine Parlamentsreform" bezeichnet; so z.B. von Thaysen, Parlamentsreform in Theorie und Praxis, 1972, S. 182, mit definitorischem Hinweis, welche Änderungen davonumfaßt sind; sowie Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 29; und Rausch, Bundestag und Bundesregierung, 1976, S. 79. 7 BGBl. Teil I, S. 628. B Beschluß BT vom 25.6.1980, Bekanntm. vom 2.7.1980, BGBl. I, S. 1237; zu beiden Reformen Achterberg, ParlR, S. 63. 9 Abgesehen von einer kleineren Änderung vom 17.3.1982 (BGBl. I, S. 400). 10 Siehe dazu die Nachweise bei Achterberg, ParlR, S. 63, Fn. 95, sowie ebenda S. 65, Fn. 96; vgl. auch die Chronik der Änderungen in Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, S. 883ff.
I. Der Ältestenrat im Lichte der Geschäftsordnung
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aufgezeigt werden, welche Veränderungen der Ältestenrat, als in der Geschäftsordnung verankerte Institution, im Laufe dieser Entwicklung erfahren hat. 1. Der Ä·ltestenrat unter Geltung der vorläufigen Geschäftsordnung 1949/
Wie bereits erwähnt, galt zunächst als provisorische Regelung fast unverändert die Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922 11 • An den §§ 10, 11, 12 GORT wurde vom Bundestag - selbst hinsichtlich der Paragraphenziffern - nichts verändert 12. Demzufolge sind, soweit dies aus der Geschäftsordnung ersichtlich ist, bezüglich der Stellung und der Funktionen des Ältestenrats keine Unterschiede zum Ältestenrat des Reichstages erkennbar. Im Bundestag nahm der Ältestenrat seine Arbeit auf mit einer Vorbesprechung der Eröffnungssitzung am 6. September 1949. Am 7. September fand zum gleichen Thema, unter dem Titel" vorläufiger Ältestenrat", eine weitere Sitzung statt. Die folgende Sitzung am 8. September 1949 wurde als zweite Sitzung "des Ältestenrats" protokolliert 13 • 2. Der Ä"itestenrat nach Erlaß der neuen Geschäftsordnung 1951
In der GOBT 1951 handelte der fünfte Abschnitt vom Ältestenrat, nämlich die §§ 13, 14, 15. § 15 GOBT 1951 entsprach genau dem § 11 voriGO/GORT 1922. § 13 GOBT 1951 entsprach bis auf die Zahl der Mitglieder dem § 10 voriGO/GORT. § 14 GOBT 1951 entsprach im wesentlichen § 12 voriGO/GORT; dazu kam in Absatz I, Satz 2: "Er (sc. der Ältestenrat) ist kein Beschlußorgan". Außerdem fixierte Absatz 11 das vorherige Verständigen des Präsidenten und der anderen Fraktionen bei Abweichungen von Vereinbarungen l4 .Der Wortlaut der §§ 13ff. GOBT 1951 stimmt teilweise noch mit dem heutigen in § 6 GOBT überein. Es fehlte allerdings in § 13 GOBT 1951 die Zahl der weiteren Mitglieder des Ältestenrats (außer Präsident und Stellvertreter)ls. Für deren Festlegung war der Bundestag - nach vorherigen interfraktionellen Vereinbarungen - zuständig, wobei berücksichtigt wurde, daß im Ältestenrat jede Fraktion vertreten sein mußte l6 . In § 14 GOBT 1951
11 Siehe Beschluß des BTvom 20.9.1949, Sten.Ber. I. WP, 5. Sitzg., Bd.l, S.19(C)-20 (C) sowie An!. Bd. 1, Drs. 1/18. 12 Vg!. Synoptische Darstellung, S. 13fT. 13 Zu allem ÄR-Protokolle I. WP (1949-1953). 14 § 1411 GOBT 1951 war als Anmerkung zu § 12 GORT 1922 (übernommen von § 12 vorlGO) ebenfalls schon Bestandteil der GO, siehe Sten.Ber.RT, 400. Sitzg. vom 22.2.1924, Bd. 361, S. 12443f.; An!. Bd. 380, Drs. 1/6309 Nr. 4. IS Im Gegensatz zu früher, wo bereits in § 10 GORT 1922 die Zahl 21 angegeben wurde, siehe Erster Teil, IV.2. 16 So Ritzel/Koch, Kommentar, 1952, Anm. zu § 13.
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
wurde - zum ersten Mal- ausdrücklich festgestellt 1?, daß der Ältestenrat kein Beschlußorgan ist, sondern "freie und unverbindliche" Vereinbarungen 18 zwischen den Fraktionen trifft, soweit Einigkeit erzielt wurde. Im Gegensatz zu heute genügten in§ 1511 1. HS GOBT 1951 drei Mitglieder, um den Präsidenten zu zwingen, den Ältestenrat einzuberufen 19. Von den Aufgaben des Ältestenrats waren die drei wichtigsten ebenfalls schon in der GOBT 1951 erwähnt: Arbeitsplanung (§ 14)2°, Redezeitvorschläge (§ 39 1)21 sowie eine Verständigung über die Besetzung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter herbeizuführen (§ 69 I, § 14 I 1)22. 3. Der A"ltestenrat nach der "kleinen" Geschäftsordnungsreform 1969
Die Geschäftsordnungsreform von 1969 brachte neben mannigfachen Veränderungen 23 auch dem Ältestenrat einige größere Neuerungen: Der Ältestenrat übernahm die Aufgaben des früheren Bundestagsvorstandes 24 - aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit 2S (§ 6 III, IV GOBT 1970) - und damit auch dessen Beschlußkompetenzen. Außerdem übernahm er die langfristige Terminplanung der Plenarwochen (§ 611 3, 4 GOBT 1970), wozu die Zusammenfassung verwandter Gesetze und Vorlagen zu "Fachbereichen" gehörte 26 • 2? Diese 17 Sten.Ber.BT, I. WP, 179. Sitzg. vom 6.12.1951, An!. 1,S. 7443 (C) Mitberichterstatter Abg. Sassnick; vg!. auch § 12 GORT 1922, wo dieser Zusatz fehlt. 18 Ritzel/Koch, § 14 Anm. 1. 19 Vg!. § 6 I 3 GOBT, wonach eine Fraktion erforderlich ist. 20 Worunter Ritzel/Koch in ihrer Anm. zu § 14 Aufstellung des Zeitplanes und der Tagesordnung fassen: vgl. auch Troßmann in Politische Bildung 1953, S. 169: "Hauptaufgabe". 21 Entsprach in etwa § 88 voriGO/GORT 1922. 22 Entsprach §§ 29 I 1, 12 I 1 voriGO/GORT 1922; vgl. auch die Zusammenstellung bei Ritzel/Koch, § 14 Anm. 2; dazu kommt noch § 18 - Urlaubserteilung, was heute der BTPräsident entscheidet (§ 14 GOBT), so wie dies früher schon einmal der Fall war, vgl. § 2 Satz 1 voriGO/GORT. 23 Z.B.: Neugestaltung der Redeordnung, Heraufsetzung der Fraktionsmindeststärke auf 5% der Parlamentsmitglieder und Verschiedenes mehr; siehe Achterberg, ParlR, S. 63 m.w.Nachw. in Fn. 95. 24 Sten.Ber.BT, V. WP, 240. Sitzg., 18.6.1969, S. 13294 (A) 13298 (A) LV.m. Drs. V/4373/B II Nr. 1 (S. 5r); dazu gehörten alle "Inneren Angelegenheiten"; siehe im einzelnen Voigtländer in Röhring/Sontheimer, S. 503; gern. Troßmann in Deuerlein, S. 131, begann schon der Seniorenkonvent gegen Ende der siebziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts den Vorstand aus seiner umfangreichen Position zu verdrängen. 25 So von Below in verg.Inst., S. 361. 26 Vgl. Bleek in Röhring/Sontheimer,S. 29. 27 Nach Troßmann, Komm. 1977, § 6 Rdnr. 4.2.8, arbeitete der Ältestenrat nicht mit dem Begriff "Fachbereich", sondern er bemühte sich darum, die Behandlung gleichartiger Gegenstände in einer oder mehreren Sitzungen hintereinander zu erreichen. Die Sätze 3 und 4 in § 6 II GO BT wurden jedoch anläßlich der Geschäftsordnungsreform 1980 wieder
I. Der Ältestenrat im Lichte der Geschäftsordnung
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zusätzlichen Kompetenzen veränderten die Stellung des Ältestenrats im Gesamtgefüge des Bundestages 28 und führten zu einer weiteren Verstärkung seiner Bedeutung als Koordinationsgremium 29 . Dies zeigt sich auch an der ursprünglich angestrebten Bezeichnung des Ältestenrats als "einheitliches Lenkungsorgan"30. 4. Der Ä·ltestenrat nach der Geschäftsordnungsreform 1980 31
Weitere größere Änderungen im allgemeinen ergaben sich, nachdem der Bundestag mit Beschluß vom 25. Juni 1980 eine neu gefaßte Geschäftsordnung in Kraft gesetzt hatte, welche ab 1. Oktober 1980 galt 32 . Der Ältestenrat hingegen wurde von dieser Reform nur am Rande betroffen 33 . Neben der Streichung der Sätze 3 und 4 in § 6 11 GOBT mangels praktischer Relevanz 34 , wurde dem Ältestenrat bezüglich der Vereinbarung einer Aktuellen Stunde ein Stück seiner Exklusivität genommen:Außer dieser Vereinbarung im Ältestenrat und im Anschluß an eine Fragestunde kann eine Aktuelle Stunde nunmehr auch von einer Fraktion oder von 5% der Mitglieder des Bundestages verlangt werden (vgl. § 106 Anlage 5 Nr. 1c GOBTps. Hierbei handelte es sich um die Erweiterung eines Minderheitenrechts 36 . Es liegt auf der Hand, daß diese beiden Änderungen keine größeren Auswirkungen auf die Stellung des Ältestenrats insgesamt hatten. Anders könnte dies bei der Ergänzung des § 6 III 3 GOBT um den Halbsatz: "von dem der Haushaltsausschuß nur im Benehmen mit dem Ältestenrat abweichen kann", sein. Das berührt nämlich in erhöhtem Maße das Verhältnis des Ältestenrats zum Haushaltsausschuß. Dazu kommt, daß der Einfluß des Ältestenrats auf die Debatte des Bundestages gestiegen sein könnte, indem gestrichen, da sie sich in der Praxis nicht durchsetzen konnten; so die Begründung des GOAusschusses, BT-Drs. VIII/3460, S. 83; vgl. Troßmann/Roll, Komm. 1981, § 6 Rnr. 1; Ritzel/Bücker, § 6 II.2.c. 28 So Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S. 79f. 29 Vgl. Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 29; von Below in verg.Inst., S. 350; sowie die positive Bewertung bei Mommer in Parlament Nr. 35/36 vom 30.8.1969, S. 6. 30 So Bundestagspräsident von Hassei, zit. nach Thaysen, S. 193; sowie Berichterstatter Abg. Dr. Mommer in BT-Drs. V/4373, S. 4. 31 Siehe zu den Änderungen allgemein die Übersicht bei Roll/Rüttger, ZPari 1980, S.484ff. 32 Neufassung der GO des Deutschen Bundestages in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.7.1980, BGBI. I, S. 1237. 33 Nach Roll/Rüttger, ZPari 1980, S. 493 "keine Parlamentsreform"; vgl. auch Abg. Schulte (Unna) in Sten.Ber.BT, VIII. WP., 225. Sitzg. vom 25.6.1980, S. 18268 (B): "lediglich eine Geschäftsordnungsreform". M Siehe Fn. 27. 3S Vgl. Roll/Rüttger, ZParl1980, 487; Achterberg, ParlR, S. 64. 36 Roll/Rüttger, a.a.O. (Fn. 35), S. 486.
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
nämlich das vormalige "Zeitdauer" in § 39 GOBT 1970 durch "Gestaltung und Dauer" im nunmehrigen § 35 I 1 GOBT ersetzt wurde. Auf die Lösung dieser Hypothesen und auf weitere Einzelheiten wird noch zurückzukommen sein 37. Seither wurden die Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bundestags, welche den Ältestenrat betreffen, nicht mehr geändert.
11. Bildung, Zusammensetzung und Ende des Ältestenrats Hier soll es um das Zustandekommen des Ältestenrates gehen, also einerseits darum, wer ihn auf welche Weise einberuft (1.), andererseits, aus welchen Mitgliedern er überhaupt besteht (2.) und wer außerdem noch an den Ältestenratssitzungen teilnimmt (3./4.). Desweiteren soll untersucht werden, wie die Mitgliedschaft im Ältestenrat endet und wann er selbst zu bestehen aufhört (5.). 1. Bildung und Einberufung
Seit § 11 I 1 GORT 1922 ist geklärt, daß der Parlamentspräsident die Einberufung des Ältestenrats vornimmt. Dies ist nunmehr in § 6 I 2 GOBT festgelegt. Unbefangen betrachtet, könnte der Text der Geschäftsordnung den Eindruck entstehen lassen, der Ältestenrat würde hin und wieder, womöglich nur bei besonderen Anlässen, zusammenkommen. Dem ist jedoch nicht so: Während der Sitzungswochen des Parlaments trifft er sich regelmäßig mindestens ein- oft sogar zweimall wöchentlich an einem bestimmten Tag 2 , wobei die Einladung vom Bundestagspräsidenten ausgeht. Unberührt bleibt aber das Zusammentreffen bei wichtigem Anlaß.Trotz der Regelmäßigkeit in der Praxis suggeriert § 6 I 2 GOBT dem Präsidenten einen Ermessensspielraum darüber, ob der Ältestenrat einzuberufen ist oder nicht. Diese Freiheit des Präsidenten wird durch § 6 I 3 GOBT eingeschränkt, demzufolge ihn eine Fraktion zur Einberufung zwingen kann. Die Regelung ist eindeutig 3 • Sie ist die einzige Bestimmung der Geschäftsordnung4 , die das Recht, die Einberufung eines Gremiums zu verlangen, den Fraktionen zuspricht 5 •
Siehe dazu unten III.2.a und III.5.b. Kabel, S. 8. 2 Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S. 80, zufolge war es 1976 jeweils der Montag; heute tritt der Ältestenrat jeweils am Donnerstag zusammen. 3 Vgl. Ritzel/Bücker, § 6 Anm. I.3. 4 So Troßmann, § 6 Rdnr. 2. 5 Sowohl in § 11 II 1 voriGO/GORT, als auch in § 15 II 1. HS GOBT 1951 stand dieses Recht drei Mitgliedern des Ältestenrats zu. 37
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H. Bildung, Zusammensetzung und Ende des Ältestenrats
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2. Mitglieder des A"ltestenrats
Ein Teil der Mitglieder wirft keinerlei Probleme auf. Es sind dies der Präsident und die vier Vizepräsidenten 6 , die nach § 6 11 GOBT schon von Amts wegen Mitglieder des Ältestenrats sind. Dazu kommen dreiundzwanzig? weitere Abgeordnete, deren politische Zusammensetzung sich nach dem Kräfteverhältnis der Fraktionen richtet, wohingegen über deren Qualität in der Geschäftsordnung nichts festgelegt ist. a) Anteile der Fraktionen Seit der Neufassung 1970 ist in § 12 GOBT festgelegt, daß die Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke bei Besetzung des Ältestenrats (neben Ausschüssen und deren Vorsitzenden) zu berücksichtigen sind. Zwar gab es eine entsprechende Regelung schon in § 9 Satz 1 GORT 1922. Bei der Neufassung der GOBT 1951 wurde beim damaligen § 12 der Ältestenrat jedoch herausgenommen, weil er kein Beschlußorgan sei und somit nicht im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen besetzt zu sein brauches. Hiergegen wandten sich sowohl Praxis 9 als auch Literatur 1o : schon der Status der Gleichheit der Fraktionen bedinge anteilige Besetzung dieses interfraktionellen Gremiums. Dementsprechend wurde bei der Neufassung 1970 in § 12 GOBT der Ältestenrat wieder eingefügt. Die Geschäftsordnung schreibt allerdings kein bestimmtes System vor, nach dem die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen zu erfolgen hat. Während sich der Bundestag früher für das Höchstzahlverfahren nach d'Hondt (1949 bis November 1970) oder das Mathematische Proportionsverfahren nach HarejNiemeyer (4. November 1970 bis 1980) entschieden hatte, erfolgt die Berechnung nunmehr (seit Beginn der 9. WP 1980) gemäß dem Rangmaßzahlenverfahren nach Schepers ll .
6 Kißler, JöR 1977, 112: "mittelbares Besetzungsrecht der Fraktionen"; so auch schon Steiger, S. 118. 7 Die GORT 1922 legte in § 10 einundzwanzig Mitglieder fest. Die GOBT 1951 verzichtete in § 13 auf eine Festlegung der Zahl: Die Stärke wurde vom BT aufgrund interfraktioneller Vereinbarungen (so Ritzel/Koch, Anm. zu § 13) jeweils zu Beginn einer Wahlperiode neu (Troßmann, ParlR u. Praxis, S. 7) festgelegt. Z.B. waren es in der 5. WP zwanzig Mitglieder (Troßmann, a.a.O.). Seit der GOBT 1970 ist die Zahl auf dreiundzwanzig festgelegt." 8 So Abg. Sassnick (Mitberichterstatter) in BT-Drs. 1/2550, S. 2. 9 Gemäß Tschermak von Seyssenegg, Diss.iur. Freiburg 1971, S. 198. 10 So z.B. Ritzel/Koch, Anm. zu § 13; Hauenschild, S. 85; Keil, Das Parlament, 1952, S. 92: Verteilung der Sitze auf die Fraktionen richtet sich nach der Mitgliederzahl. 11 Zu allem Datenhandbuch, S. 598ff., ebenda auch weitere Einzelheiten zu den Verfahren.
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
b) Art der Mitglieder Der Geschäftsordnungsausschuß ging bei Änderung der Geschäftsordnung in der fünften Wahlperiode offenbar davon aus, daß die Fraktionen ihre Vorsitzenden oder deren Stellvertreter und die Parlamentarischen Geschäftsführer als Vertreter in den Ältestenrat entsenden würden 12. Zumindest hinsichtlich der Parlamentarischen Geschäftsführer traf diese Annahme zu. Wohingegen die Fraktionsvorsitzenden nur in der ersten Zeit des Bundestages im Ältestenrat vertreten waren l3 • Nachdem das Expertentum in den Fraktionen immer mehr zunahm, konnte der Parlamentarische Geschäftsführer als "neuer Typ des parlamentarischen Funktionärs" 14 steigenden Einfluß gewinnen. Bei ihnen, der rechten Hand des Fraktionsvorsitzenden, laufen die Fäden der Fraktionsarbeit zusammen IS. Dadurch, daß sie für die Geschäftsordnung und Organisation verantwortlich sind 16, haben sie erheblichen Einfluß auf den Geschäftsgang innerhalb der Fraktion gewonnen l7 • Die Parlamentarischen Geschäftsführer zählen heute zu den einflußreichsten Abgeordneten überhaupt l8 . Der Ältestenrat kann geradezu als deren Instrument gelten, da sie ihn aufgrund ihres Wissensvorsprungs in organisatorischen Fragen beherrschen können. Demzufolge haben die Parlamentarischen Geschäftsführer die Rolle des Sprechers ihrer Fraktion im Ältestenrat inne l9 • Weniger eindeutig fallt die Beurteilung bei den übrigen Abgeordneten aus. Vielfach wird deren Qualität überhaupt nicht erwähntl°. Wo dies doch der Fall ist, herrscht Übereinstimmung hinsichtlich der Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses (Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung) und des Haushaltsausschusses 21 • Ansonsten können verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Während Mommer 22 die übrigen Abgeordneten allgemein Ritzel/Bücker, § 6 Anm. I 1b; vgl. Thaysen, S. 194; BT-Drs. V/4373, S. 6. Vgl. Loewenberg, S. 247: während des ersten Bundestages; Keil, S. 92: Mitglieder der Fraktionsvorstände; Kabel, S. 5. 14 So Troßmann schon 1963 in Deuerlein, S. 135. IS Vgl. Rasner in Hübner/Oberreuter/Rausch, S. 99f.; Schindler in Parlament, Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12. 16 Kabel, S. 5; vgl. auch § 17 GO SPD-Fraktion (ähnliches fehlt in den anderen Fraktionssatzungen). 17 Von Below in verg.Inst., S. 352. 18 Allgemeine Ansicht, vgl. nur: von Below, a.a.O. (Fn. 17), Bleek in Röhring/ Sontheimer, S. 28; Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S. 82. 19 Schindler in Parlament Nr. 44 vom 2.11.1966, S. 12; von Below, a.a.O. (Fn. 17): Verhandlungsführer; vgl. auch Troßmann JöR 1979, 161: Übrige Mitglieder haben Mitspracherecht, ohne aber sich den Parlamentarischen Geschäftsführern zu widersetzen. 20 So von Kabel, Rummel; Rasner; Loewenberg. 21 Vgl. BT-Drs. V/4373, S. 6; Mommer in Parlament Nr. 35/36 vom 30.8.1969, S. 6; Thaysen, S. 194. 22 Mommer, a.a.O. (Fn. 21). 12
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11. Bildung, Zusammensetzung und Ende des Ältestenrats
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als am Parlament "besonders interessiert" und im Parlament "angesehen" kennzeichnet, erwähnt von Below 23 konkret die Geschichtspunkte: Erfahrung in Geschäftsordnungsfragen und Ausgewogenheit der landsmannschaftlichen Repräsentanz.Die Auswahl liegt allein bei den Fraktionen 24 , weshalb sich die betreffenden Kriterien letztlich der Öffentlichkeit entziehen. Immerhin kann festgehalten werden, daß eine Mitgliedschaft im Ältestenrat begehrt ist und dieser ein "hohes Sozialprestige"25 besitzt. Diese Anziehungskraft läßt sich auch mit der Einschätzung von Grube, Richter und Thaysen 26 erklären, die Mitglieder des Ältestenrats gehörten zum "Management"27 des Bundestages. 3. Vertretung der Regierung im Xltestenrat
a) Rechtsgrundlage In den Geschäftsordnungen des Bundestages war - und ist - nirgendwo geregelt, daß ein Regierungsmitglied an den Sitzungen des Ältestenrats teilnimmt. Dies gilt jedoch schon seit langem als gesicherter Brauch 28 .Das war nicht immer so: Noch 1968 29 und 1970 30 wurden Regierungsmitglieder im Ältestenrat nicht erwähnt. Zum ersten Mal taucht diese Tatsache in der Literatur bei Rasner 31 und Loewenberg32 auf. Dies verwundert, denn in den Protokollen des Ältestenrats ist schon von Anfang an ein Kabinettsmitglied verzeichnet: Ein Bundesminister (Kaiser) wird zum ersten Mal in der 16. Sitzung des Ältestenrats, am 2. November 1949, erwähnt. Verschiedentlich nahm sogar Bundeskanzler Dr. Adenauer als Gast an frühen Ältestenratssitzungen teip3. Ab März 1950 wurde in der Regel für die ganze Wahlperiode ein ständiger Vertreter und ein Stellvertreter des Kabinetts benannt 34 •
Von Below in verg.Inst., S. 352. Buß in Staats- und Kommunalverwaltung 1968, Heft 4, S. 89. 25 So von Below, a.a.O. (Fn. 23). 26 Grube/Richter/Thaysen, ZPar11970, S. 152ff. 27 Sowohl nach dem weiten "Management" Begriffvon Loewenberg, S. 138. als auch nach dem engeren von Grube/Richter/Thaysen, a.a.O. (Fn. 26), S. 152 in Fn. 1,2: vgl. auch Rummel, S. 71f. (72): "Top-Management". 28 Vgl. nur von Below, a.a.O. (Fn. 23); Rummel, S. 73; Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S. 81; Kabel, S. 8; Schäfer, S. 99; für früher: Rasner in Hübner/ Oberreuter/Rausch, S. 99; Loewenberg, S. 247. 29 Buß, a.a.O. (Fn. 24), S. 89f. 30 Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 28ff. 31 Rasner, a.a.O. (Fn. 28). 32' Loewenberg, a.a.O. (Fn. 28). 33 Vgl. ÄR-Protokolle: I. WP/6. Sitzg. vom 22.9.1949; 1./21./10.11.1949; 1./25./ 25.11.1949. 34 Datenhandbuch, S. 228. 23
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6 Franke
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
b) Funktion des Regierungsvertreters Schon aus dem Charakter des Ältestenrats als interfraktionelles Gremium des Bundestages folgt, daß der Regierungsvertreter kein Mitglied sein 35 und sich somit an dessen Vereinbarungen nicht beteiligen kann. Damit stellt sich die Frage nach dem Grund der Einbeziehung eines Vertreters der Exekutive. Deren Beantwortung hängt eng mit der beabsichtigten Funktion zusammen: Der Regierungsvertreter wird - insbesondere bei Gesetzentwürfen - vor allem bei der Terminabstimmung zwischen Bundestag und Bundesregierung gebraucht. Seine Funktion wird "formal" als die einer Auskunftsperson umrissen, die andererseits bezüglich der Tagesordnung Wünsche äußern kann 36 • Teilweise wird die Stellung des Repräsentanten der Exekutive in der Literatur als die eines Bittstellers beschrieben, der sich mit der Antwort der Fraktionen abzufinden habe 37 • Daß sich diese Einschätzung in der Praxis nicht halten läßt, deutet von Below 38 an, indem er auf informelle Gespräche zwischen Regierungsvertreter und Fraktionsführung der Regierungsmehrheit im Bundestag, zwecks Abstimmung ihrer Haltung zu bestimmten Punkten, hinweist. Auf die inkorporierte Problematik wird noch zurückzukommen sein 39 • c) Person des Regierungsvertreters Während in der ersten und zweiten Wahlperiode Minister verschiedener Art die Vertretung des Kabinetts übernahmen, handelte es sich zwischen dritter und fünfter Wahlperiode um den Bundesratsminister. Von 1969 bis 1972 (6. WP) war der erste Vertreter ein Minister für besondere Aufgaben, der gleichzeitig Chef des Bundeskanzleramtes war. Seit Beginn der siebten Wahlperiode üben diese Funktion nahezu ausschließlich Parlamentarische Staatssekretäre oder Staatsminister - vornehmlich des Bundeskanzleramtes - aus 40 • Demnach hatte die Praxis in der Meinung Rasners41 kein Hindernis gesehen, der diese Möglichkeit 35 So ausdrücklich Rasner, a.a.O. (Fn. 28); Borgs-Maciejewski, S. 53f.; von Below in verg.Inst., S. 363; Rausch, S. 81: Minister ist "Gast"; mißverständlich aber Loewenberg, S.247. 36 Ra.mer in Hübner/Oberreuter/ Rausch, S. 109; allgemeiner von Below, a.a.O. (Fn. 35): Minister kann Terminvorstellungen der Regierung vortragen; noch weiter: Kabel, S. 8f.: Bitte auf Rücksichtnahme. 37 Besonders ausgeprägt bei Rasner" a.a.O. (Fn. 36), der von der 2. bis zur 6. WP selber einmal als Parlamentarischer Geschäftsführer Mitglied des Ältestenrats war (Datenhandbuch, S. 258ff.). 38 Von Below in verg.Inst., S. 352; Grube/Richter/Thaysen, ZParl1970, S. 153, zählen das Regierungsmitglied im ÄR zu denen, "die nicht nur Regierungs- sondern auch Parlamentsarbeit leitend organisieren". 39 Siehe unten V. 40 Zu allem Datenhandbuch, S. 228f., mit tabellarischer Übersicht und den einzelnen Namen; vgl. auch Kabel in Roll (Hrsg.), S. 32. 41 Rasner in Hübner/Oberreuter/Rausch, S. 99.
11. Bildung, Zusammensetzung und Ende des Ältestenrats
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ausdrücklich verneint hatte42 • Daß die Praxis hier flexibel agiert, zeigt sich darin, daß seit 1984 wieder ein Bundesminister und Chef des Bundeskanzleramtes der erste Regierungsvertreter im Ältestenrat ist.
4. Weitere Sitzungsteilnehmer Über weitere Teilnehmer an den Sitzungen des Ältestenrates ist in der Literatur kaum etwas vermerkt. Immerhin erwähnt Loewenberg43 den "Direktor der Bundestagsverwaltung" (heute: Direktor beim Deutschen Bundestag)44. Dieser ist auch bei Schäfer45 aufgeführt, wobei noch eine "erforderliche Zahl von Hilfskräften" hinzukomme. Dazu gehören der Leiter des Parlamentssekretariats und einige Mitarbeiter. Sie fertigen das Protokoll der Ältestenratssitzung46 • Letztlich dürfte dies aber eine Frage der Praxis sein. 5. Ende
a) Ende der Mitgliedschaft im Ältestenrat In der Literatur ist nichts darüber zu finden, wie die Mitgliedschaft im Ältestenrat endet. Allerdings kann man davon ausgehen, daß die Fraktionen ihre Vertreter jederzeit zurückziehen können, so wie sie diese wählen 47 • Die Vertretung der Fraktion im Ältestenrat ist eine wahrhafte Vertrauensstellung. Die gegenseitige Loyalität muß gewährleistet sein 4S , um effizient arbeiten zu können. Daneben gilt auch hier, wie in sonstigen Organwalterstellungen, die Beendigung der Mitgliedschaft durch Tod, Rücktritt oder Wegfall der Abgeordneteneigenschaft 49 •
42 Daß Loewenberg den Parlamentarischen Staatssekretär nicht anführt, mag damit zusammenhängen, daß es diesen zu dem Zeitpunkt, als Loewenberg sein Werk verfaßte üedenfalls vor 1967 - dem Erscheinungsjahr der englischen Originalausgabe), noch überhaupt nicht gab. Er wurde nämlich erst durch Gesetz vom 6.4.1967 eingeführt (BG BI. I, S. 396). 43 Loewenberg, S. 247. 44 Vgl. Achterberg, ParlR, S. 309f.; die Bezeichnung entstammt gemäß Voss, Parlamentarische Dienste, 1983, S. 15, aus der ersten Wahlperiode und knüpfte an die Stellung des Reichstagsdirektors an. 45 Schäfer, S. 99. 46 Vgl. Voss,S. 73. 47 Vgl. z.B. § 4 Nr. 2 d) der Arbeitsordnung der CDU/CSU BT-Fraktion (abgedruckt bei Ritzel/Bücker). 48 So schon Rasner in Hübner/Oberreuter/Rausch, S. 109. 49 Achterberg, ParlR, S. 213.
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
b) Ende des Ältestenrats Für den Ältestenrat selbst gilt das gleiche, wie für andere Organe des Parlaments: Er endet grundsätzlich mit Ende des Parlaments, also mit Ablauf der Wahlperiode 50 • Der Grund liegt darin, daß dieses Organ für die Dauer der Organisation des Parlaments gebildet wurde und dieser Zweck nach Ablauf der Wahlperiode hinfällig ist 51. Dasselbe Ergebnis läßt sich auch aus dem obiter dictum der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 1952 52 schließen, wonach formell die Bestimmungen der Geschäftsordnung nur für die Dauer der Wahlperiode des Bundestages gelten und jedesmal nach Ablauf vom neuen Bundestag übernommen werden müssen. Das muß entsprechend für die Bestimmungen der Geschäftsordnung gelten, welche den Ältestenrat zum Inhalt haben.
Irr. Die Aufgaben des Ältestenrats Die wichtigste - heute zu treffende - Unterscheidung bei den Aufgaben ist die, zwischen der traditionellen Funktion des Ältestenrats als interfraktionelles Verständigungsgremium (1. Abschnitt) und der, 1969 vom Bundestagsvorstand übernommenen Funktion l , auch als Beschlußorgan tätig werden zu können (2. Abschnitt). Klar ergibt sich diese Differenzierung schon aus der Trennung in § 6 GOBT: Während Absatz 11 festlegt, für welche Bereiche die Verständigungsfunktion gilt (argumentum e § 6 Abs.II 3), ist Absatz III hingegen der beschließenden Funktion vorbehalten 2 • Daneben gibt es eine ganze Reihe von so Dazu allgemein Achterberg, ParlR, S. 199ff.
51 Unter Geltung der GOBT 1951 wurde jeweils zu Beginn einer Wahlperiode die Stärke des Ältestenrats neu festgesetzt (dazu Troßmann, PariR u. Praxis, S. 7). Das ist ebenfalls ein Indiz für das Ende des Ältestenrats in der vorangegangenen Wahlperiode. Vgl. auch Troßmann, JöR 1979, 110, wonach der Ältestenrat jeweils nach Konstituierung des Bundestages als weitere Organisationsmaßnahme ebenfalls zu konstituieren ist. 52 BVerfGE 1, 144 (148). 1 Vgl. oben 1.3. 2 Kißler(inJöR 1977, 112; ähnlich offenbar Ritzel/Bücker,§ 6 Anm.II la)unterscheidet demgegenüber zwischen der "beschließenden" und der "beratenden" Funktion. Dem soll hier nicht gefolgt werden: Das Gesetz selbst geht von dem Gegensatz Verständigung/Beschluß aus, dies ergibt ein Vergleich der Sätze 2 und 3 in § 6 11 GOBT. Der Begriff Beratung wird vom Gesetz nicht verwendet. Vielmehr wird er - so z.B. von Ritzel/Bücker, § 6 Anm.II Ib - in § 6 11 1 GOBT hineininterpretiert. Dies soll aber nicht kritisiert werden, ist doch schon bei Troßmann in Deuerlein, S.130, die beratende Funktion des Ältestenrats beschrieben (allerdings eher um die Stellung des Präsidenten zum Ältestenrat zu beschreiben). Nur handelt es sich beim "Beraten" um eine konkrete Aufgabe selbst, während es hier darum gehen soll, nach den möglichen instrumentalen Vorgehensweisen des Ältestenrats zu differenzieren. Der eigentliche Gegensatz zum Fassen von Beschlüssen ist das Treffen von Vereinbarungen (dieses Gegensatzpaar verwenden Troßmann, JöR 1979, 160; Achterberg, ParlR, S.131; Schindler in Parlament
III. Die Aufgaben des Ältestenrats
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Funktionen, welche nicht durch die eben getroffene Unterscheidung in ihrem Wesen charakterisiert sind, sondern unabhängig davon als Nebenaufgaben 3 bezeichnet werden können. Sie sollen in einem anschließenden (3.) Abschnitt behandelt werden.
1. Abschnitt: Der Ältestenrat als VerständigungsgremiUJJf 1. Arbeitsplanung
Die Verständigung über den Arbeitsplan des Bundestags stellt nachallgemeiner EinschätzungS die wichtigste Aufgabe des Ältestenrats überhaupt dar. Diese Bewertung unterstützen folgende Gesichtspunkte: Zum einen handelt es sich bei der Einflußnahme auf den Arbeitsplan - vor allem hinsichtlich der Tagesordnung - um eine ständig wiederkehrende Aufgabe 6 , welche in jeder Ältestenratssitzung aufs neue zu lösen ist, zum anderen handelt es sich dabei um eine althergebrachte Funktion, deren Entstehen sich schon beim Seniorenkonvent des Reichstages zeigte 7 und die seit § 12 Satz 1 2.HS GORT 1922 in der Geschäftsordnung verankert ist 8 . Unter dem "Oberbegriff Arbeitsplan"9 versteht man die Aufstellung eines Zeitplanes für die nächsten 6 bis 12 Monate (langfristiger Arbeitsplan) sowie die Festlegung der Tagesordnung kommender Sitzungen (kurzfristiger Arbeitsplan)1°. Zu beiden Aspekten gehören jeweils weitere (Neben-)Punkte, auf die im folgenden näher eingegangen wird.
Nr.44 v. 2.11.1966, S.12). Der demnach naheliegende Begriff" Vereinbarungsorgan" sollte aber nicht verwendet werden, da er aufgrund seiner hermeneutischen Vorbelastung suggeriert, der Ältestenrat wäre gezwungen. Vereinbarungen zu treffen. Da dem nicht so ist, der Ältestenrat vielmehr frei ist, Vereinbarungen zu treffen oder nicht, wird hier für die Verwendung des Begriffs "Verständigungsgremium" plädiert. Mit der Tatsache, daß der Ältestenrat Organ des Bundestages ist (dazu unten IV). hat dies aber nichts zu tun. 3 Die Hauptaufgaben finden sich innerhalb der ersten heiden Abschnitte. 4 Die Reihenfolge der einzelnen Aufgaben wurde nach den Schwerpunkten bestimmt. 5 Vgl. nur von Below in verg. Inst., S.353; Kabel, S.6; Borgs-Maciejewski, S.56, siehe auch Zeh, Der Deutsche Bundestag, 3.Aufl 1979, S.98, der unter der Überschrift "Arheitsplanung im Bundestag" den Ältestenrat bespricht. 6 Vgl. Troßmann, JöR 1979, 161. 7 Siehe Erster Teil III.2. b. 8 Vgl. § 14 I 1 GOBT 1951. 9 So Ritzel/Bücker, § 6 Anm.II.2.b. 10 Vgl. dazu: Ritzel/Bücker, a.a.O. (Fn.9); Troßmann, § 6, Rdnr.4.2.1.ff.; Bleek in Röhring/Sontheimer, S.29; Achterberg, ParlR, S.130f.; Schäfer, S.100f.; Die Mindermeinung verkörpert Rausch in Röhring/Sontheimer, S.33, indem er die Aufstellung der Tagesordnung nicht unter den Arbeitsplan faßt.
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
a) Aufstellung eines Zeitplanes Zum eigentlichen Zeitplan, der darin besteht, längerfristig die Arbeitswochen zu fixieren 11, kommt, daß grundsätzlich Einigkeit über den Arbeitsrhythmus sowie die Einteilung der Arbeitswochen herrscht. Beides wird ebenfalls im Ältestenrat vereinbart 12. Während die beiden letzten Punkte heute "langjähriger Übung" 13 entsprechen, also ohne triftige Gründe nicht mehr angetastet werden, muß der Zeitplan immer wieder von neuem aufgestellt werden l4 . Als Zeitraum wurde früher einmal eine Zeit von "sechs bis zwölf Monaten"IS angegeben; sodann hieß es "möglichst ein Jahr"16; die jüngste Stimme lautet: "stets für ein Jahr"17. Für diese Zeit legt der Ältestenrat fest, in welchen Wochen voraussichtlich Sitzungen des Bundestages stattfinden werden und welche sitzungsfrei sind. Insgesamt werden dreiundzwanzig Sitzungswochen über ein Jahr verteilt. Sinn dieser Vorplanung ist es, eine mögliche zeitliche Kollision mit Parteitagen und Sitzungen anderer politischer Gremien zu vermeiden 18. Auch müssen feststehende Termine, wie die jährlichen Haushaltsberatungen berücksichtigt werden. Dabei läßt sich in der Praxis - aus arbeitsökonomischen oder aktuellen Gründen 19 - eine Abweichung vom zugrundegelegten Arbeitsrhythmus nicht immer vermeiden 20 . In der oben erwähnten Sitzung21 entschied sich der Bundestag für den Rhythmus, auf zwei Sitzungswochen eine tagungsfreie folgen zu lassen 22 . Später wird auch ein Arbeitsrhythmus erwähnt, bei dem auf drei Sitzungswochen eine sitzungsfreie folgt 23 • Seit der siebten Wahlperiode gilt Ritzel/Rücker, § 6 Anm.II.2.b. Die Zuständigkeit des Ältestensrats für Zeitplan und Arbeitsrhythmus wurde einmal im Jahre 1967 bestritten (vgl. Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 4.12.1967, BT-Drs. V/2346), was zu einer Debatte im Plenum über diese Fragen führte (Sten.Ber.BT, V.WP, 140.Sitzg. vom 6.12.1967), S.7095 D - 7107 C). Während hinsichtlich des Zeitplans die Mehrheit des Hauses dies dem Ältestenrat anheimstellte und die Antragsteller ihren Antrag insoweit fallen ließen, entschied der BT bei gleicher Ansicht selbst den Arbeitsrhythmus (Sten.Ber.BT, a.a.O., S.7107 C). 13 So Kabel in Roll (Hrsg.), S.32. 14 Siehe aber Rausch, a.a.O. (Fn. 10), der von einigen Problemen des BT berichtet (vor 1968), einen entsprechenden Arbeitsrhythmus zu finden. 15 Schäfer, S.100; vgl. auch von Below in verg.Inst., S.354. 16 So Kabel, S.6; Troßmann, § 6 Rdnr.4.2.1; ders. in JöR 1979, 163. 17 Nunmehr Kabel in Roll (Hrsg.), S.32; so aber auch schon Schindler in Parlament Nr.44 vom 2.11.1966, S.12; für die VILWP läßt sich dies aufgrund der ÄR-Protokolle bestätigen, siehe VII. Register, S.717-762. 18 Darunter fallen auch Gremien internationaler Art, wie z.B.: Interparlamentarische Union, Westeuropäische Union oder die NATO. 19 Rausch in Röhring/Sontheimer, S. 33. 20 So Troßmann, § 6 Rdnr.4.2.2; Schäfer, S.100. 21 Siehe Fn. 12. 22 Vgl. auch Troßmann, a.a.O. (Fn.20); sowie Rausch, a.a.O. (Fn.19), der von in dieser Hinsicht unbefriedigenden Experimenten des Bundestages in der Zeit vor 1968 berichtet. 11
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prinzipiell ein Vier-Wochen-Turnus: auf zwei Sitzungswochen folgen zwei sitzungsfreie 24 .Außerdem gehört es zu den Aufgaben des Ältestenrats, eine grundsätzliche Einteilung der Arbeitswochen selbst vorzunehmen, also zu vereinbaren, an welchen Wochentagen Ausschußsitzungen, Fraktionsvorstandssitzungen und Sitzungen des Plenums stattzufinden haben 25 . Gemäß Troßmann 26 wurde darüber bisher stets eine Vereinbarung erzielt, die dem Haus durch Rundschreiben des Präsidenten bekanntgegeben wird. Aufgrund "langjähriger Übung"27 hat sich folgende Wocheneinteilung herauskristallisiert 28 : Die Fraktionsvorstände treffen sich bereits am Montag. Den Dienstag haben die Fraktionen für ihre übrigen Gremien, wie Vollversammlung und Arbeitskreise, belegt. Mittwochs finden die Ausschußberatungen statt. Donnerstag und Freitag sind für die Plenarsitzungen reserviert. Der Ältestenrat selbst trifft sich donnerstags um 13.00 Uhr. Von dieser grundsätzlichen Einteilung kann der Ältestenrat, soweit erforderlich, im Einzelfall abweichen 29 . b) Aufstellung der Tagesordnung Innerhalb der Arbeitsplanung liegt - wiederum nach allgemeiner Ansicht 30 - das "eigentliche Schwergewicht31 " der Tätigkeit des Ältestenrats bei der Vereinbarung der Tagesordnung (vgl. § 20 I GOBT). Es wird sogar behauptet, der Ältestenrat habe hier mittlerweile "quasi eine Monopolstellung 32 ". Dies kann nur mit der Einschränkung bejaht werden, daß schon seit langem bekannt und anerkannt ist, daß interfraktionelle Vereinbarungen über die Tagesordnung auch außerhalb des Ältestenrates getroffen werden 33 . Beim Einfluß des Ältestenrats auf die Aufstellung der Tagesordnung sind zwei Gesichtspunkte zu
23 So Schäfer, S.100; von Below in verg.Inst., S.354; Kabel, S.6: "zwei oder drei Sitzungswochen ". 24 Datenhandbuch, S.532. 25 Schäfer, S.100f. 26 Troßmann, § 6 Rdnr. 4.2.3. 27 So Kabel in Roll (Hrsg.), S.32. 28 Vgl. dazu Schäfer, a.a.O. (Fn. 25); Kabel, a.a.O. (Fn.27), Roeskens im FS Schellknecht, S.101. 29 So Kabel, a.a.O. (Fn.27), der als Beispiel die Beratungen über den Bundeshaushalt bringt, welche die Sitzungswochen fast vollständig ausfüllen würden. Zudem kann im quantitativen Interesse von Ausschußsitzungen die Zahl und Dauer der Sitzungen des Plenums verringert werden. 30 Vgl. Bleek in RöhringjSontheimer, S.29; Rasner in HübnerjOberreuterjRausch, S.100f; Borgs-Maciejewski, S. 56. 31 So Borgs-Maciejewski, a.a.O. (Fn. 30). 32 So von Below in verg.Inst., S.362f. 33 Vgl. nur Szmula in RöhringjSontheimer, S.462f.; Loewenberg, S.255; Kabel, S.10; ders. in Roll (Hrsg.), S.35; Borgs-Maciejewski, S.56: meistens waren dann die Parlamentarischen Geschäftsführer "im Spiel".
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
unterscheiden: Zum einen die Festlegung der Beratungsgegenstände kommender Sitzungen, zum anderen die Abwicklung der Tagesordnung. aa) Festlegung der Beratungsgegenstände
Hier geht es um die zeitliche Fixierung der Tagesordnungspunkte, welche im Plenum behandelt werden sollen. Im Ältestenrat wird zunächst die laufende und die folgende Sitzungswoche angesprochen, außerdem werden schon die kommenden drei bis sechs Wochen berücksichtigt 34 • Während § 20 I GOBT noch immer den Eindruck erweckt, es würde die Tagesordnung jeder einzelnen Sitzung vereinbart, ist die Praxis im Ältestenrat schon seit langem 35 dazu übergegangen, eine sogenannte" verbundene", das heißt, für alle Sitzungstage einer Woche geltende Tagesordnung aufzustellen 36 • Das Verfahren geht folgendermaßen vonstatten 37 : Der Ältestenrat kann erst tätig werden, wenn er weiß, welche Vorlagen (§ 75 GOBT) in nächster Zeit als gewünschte Verhandlungsgegenstände anstehen. Zu diesem Zweck erstellt das Parlamentssekretariat der Bundestagsverwaltung38 eine Liste all der Vorlagen, die bereits gedruckt oder verteilt worden sind (nach § 77 GOBT), "oder deren Druck und Verteilung in den nächsten Tagen bevorsteht" 39. Die vorher eingegangenen Anträge 40 werden bereits nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt, um einen "möglichst koordinierten sachpolitischen Ablauf' in den Tagesordnungspunkten der Sitzungen zu erreichen 41 • Dabei wirken die Parlamentarischen Geschäftsführer mit, um ihre Wünsche auf Zusätze, Weglassungen oder Änderungen der Reihenfolge zu äußern 42 • Mithin ist auf dieser Vorlagenliste schon ein thematisches Konzept vorhanden. Die im einzelnen aufgeführten Gesetzentwürfe, Ausschußberichte, Große Anfragen, Anträge und Berichte (etc., siehe § 75 GOBT) bilden nun die Grundlage der Erörterungen im Ältestenrat. Hierbei ist es Aufgabe des 34 Vgl. Kabel in Roll (Hrsg.), S.33; Szmula in RöhringjSontheimer, S.462; Schäfer, S.101; Troßmann, JöR 1970, 161; ders. Komm., § 6 Rdnr.4.2.5. 35 Gemäß Troßmann, § 24 (a.F.) Rdnr.1 seit Mitte der fünfziger Jahre. 36 Troßmann, a.a.O. (Fn.35); Szmula in RöhringjSontheimer, S.462; Ritzel/Bücker, § 20 Anm.II.2.b und II.3.e; andere Begriffe: "durchlaufende Tagesordnung", so Troßmann, ParlR u. Praxis, S.238; und: "überlaufende Tgesordnung", so Troßmann in Komm. § 24 Rdnr.1; diesen Ausdruck findet Achterberg, ParlR., S.602 Fn.26 zu Recht mißglückt. 37 Siehe zur heutigen Praxis insbesondere Kabel in Roll (Hrsg.), S.33. 38 Bei dem alle Vorlagen eingehen (so Ritzel/Bücker, § 20 Anm.Ib); früher "Antragsannahmestelle", siehe Szmula, a.a.O. (Fn.36); Loewenberg, S.255; diese ist aber inzwischen im Parlamentssekretariat aufgegangen. 39 So Kabel in Roll (Hrsg.), a.a.O. (Fn.37). 40 Von Regierung, Fraktionen, Abgeordneten, Ausschüssen (Anträge, welche als Vorlagen zur Beratung kommen sollen). 41 Szmula in Röhring/Sontheimer, S.462. 42 Loewenberg, S.255.
UI. Die Aufgaben des Ältestenrats
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Präsidenten, als Vorsitzender des Ältestenrats 4J , jede Vorlage aufzurufen und darüber zu befinden, ob ein Einvernehmen der Fraktionen besteht, ob die Vorlage überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt werden soll und gegebenenfalls, an welchem Tag und zu welcher Stunde. Bei den Beratungen gehen zwar alle Fraktionen und der Regierungsvertreter zunächst von ihren eigenen Terminvorstellungen aus, aber aufgrund des üblichen gegenseitigen Entgegenkommens - das auch schon vor der Ältestenratssitzung durch informelle Gespräche der Parlamentarischen Geschäftsführer vorbereitet sein kann - wird in aller Regel ein entsprechendes Einvernehmen erzielt44 • Die solchermaßen getroffenen Vereinbarungen finden sich in der, unmittelbar im Anschluß an die Ältestenratssitzung vom Parlamentssekretariat gedruckten und an die Mitglieder des Bundestags, an den Bundesrat und an die Bundesregierung verteilten (vgl. § 20 11 1 GOBT), Tagesordnung wieder. Diese wiederum - ein Vorschlag an das Haus - gilt wegen der "Fiktion"45 des § 20 11 2 GOBT als vom Bundestag festgestellt, "wenn kein Widerspruch erfolgt" (§ 20 11 2 GOBT). Letztlich bleibt also der Bundestag Herr seiner Tagesordnung. Das aber ist ein Erfordernis, welches schon Art. 39 III 1 GG postuliert, indem es dort heißt, daß der Bundestag "den Schluß und Wiederbeginn seiner Sitzungen" bestimmt. In der Geschäftsordnung findet solche Vorschrift ihren Ausdruck in § 22 Satz 2 GOBT, wonach der Präsident - unter anderem - nach den Vereinbarungen im Ältestenrat den Termin der nächsten Sitzung bekanntgibt.
bb) Abwicklung der Tagesordnung Im Ältestenrat wird grundsätzlich auch über die Abwicklung der Tagesordnung gesprochen 46 . Das hat die Frage zum Inhalt, auf welche Weise der Beratungsgegenstand im Plenum behandelt werden soll und ist davon abhängig, welcher Art die entsprechende Vorlage ist: Hier wird der Ältestenrat vor allem bei Gesetzentwürfen, Großen Anfragen und Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages (früher: "Selbständige Anträge 47 ", vgl. § 76 I GOBT mit § 97 I GOBT 1970) tätig48 • § 6 I 2 GOBT. Siehe auch die plastische Schilderung sowie den Ausschnitt aus einem Ältestenratsprotokoll bei Rasner in Hübner/Oberreuter/Rausch, S.104ff. 45 So Kabel in Roll (Hrsg.), S.34. 4ö Vgl. dazu Schäfer, S.102f.; Troßmann, JöR 1979, 162; ders., § 6 Rdnr.4.2.6; Ritzel/Bücker, § 6, Anm. II.2b; Kabel, S.8f. 47 Zum Begriff: Troßmann, § 97 Rdnr.1. 48 Bei anderen Vorlagen fehlt entweder der Bezug zur Tagesordnung, so bei der Kleinen Anfrage, die nur schriftlich beantwortet wird (siehe § 104 II l.HS GOBT; dazu Troßmann/Roll, § 104 Rdnr.l), oder der Ältestenrat vereinbart nicht die Abwicklung, sondern die Tatsache des Stattfindens, so bei der Aktuellen Stunde (§ 196 Anl.5 I.1.a GOBT - die Abwicklung ist außerdem in Anl.5 detailliert geregelt); ähnlich verhält es sich bei der Fragestunde (§ 105 Anl.4 GOBT- vgl. schon § 111 GOBT 1951), die im übrigen 43
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Zweiter Teil: Der Ältestenrat des Bundestages
(1) Bei den Gesetzentwürfen ist danach zu differenzieren, in welchem Stadium der Beratung sich der Bundestag damit befindet. Nur bei der ersten Beratung kommt eine Überweisungsempfehlung des Ältestenrats an einen oder mehrere Ausschüsse in Betracht (vgl. § 80 I GOBT). Das ist zwar in der Geschäftsordnung explizit nicht vermerkt, aber schon seit langem unumstrittene Praxis49 • Diese Empfehlung findet ihren Niederschlag in der, im Anschluß an die Ältestenratssitzung verteilten, Tagesordnung und hat somit Anteil an der Fiktion des § 2011 2 GOBTso. Nicht erfaßt davon davon - da nicht Bestandteil der Tagesordnung - ist die Vereinbarung des Ältestenrats darüber, ob eine allgemeine Aussprache stattfinden soll oder nicht. Diese Frage, die zur Abwicklung der Tagesordnung gehört, stellt sich in allen drei Beratungsphasen eines Gesetzentwurfes. Während der entsprechende Einfluß des Ältestenrats früher nur hinsichtlich der ersten Beratung von Gesetzesvorlagen in der Geschäftsordnung verankert warSl , ist dies seit GO BT 1980 auch bei Entwürfen, die dem Bundestag in zweiter und dritter Beratung vorliegen, der Fall s2 • (2) In mancherlei Hinsicht werden Vereinbarungen des Ältestenrates wichtig, wenn es um Große Anfragen an die Bundesregierung geht (§§ 75 I lit.f, 100 ff. GOBT)S3. Zunächst kann der Charakter der Vorlage als "Große Anfrage" umstritten sein (siehe die Anforderungen des § 1001 2.HS GOBT). Wer darüber zu entscheiden hat, wird als "offene Frage" bezeichnet S4 • Allerdings kommt im Bericht des Geschäftsordnungsausschusses, der die Reform 1980 vorbereitete, zum Ausdruck, daß es eine Aufgabe des Ältestenrates sei, hier "nähere Einzelheiten" zu vereinbaren ss . Sodann ist klar, daß der Ältestenrat im Rahmen Ausdruck eines der wenigen, zur individuellen Verfügung des Abg. stehenden Rechte gegenüber seiner Fraktion ist (Troßmann/Roll, § 105 Rdnr.7); folglich weniger Raum für eine Betätigung des Ältestenrats läßt. 49 Vgl. Troßmann/Roll, § 80 Rdnr. 4; Troßmann, § 79 Rdnr. 4; ders., JöR 1979, 162; Ritzel/Beücker, § 80 Anm. I.1.d; Kabel, S. 8; Bleek in Röhring/Sontheimer, S. 29; Loewenberg, S. 248. so Siehe soeben bei Fn. 45. 51 Vgl. § 78 1 GOBT 1951; § 78 1 GOBT 1970; heute: § 79 1 GOBT. 52 Wobei aber auch schon vor § 81 I GOBT 1980 (bezüglich zweiter Beratung) und § 84 3 GOBT 1980 (bezüglich dritter Beratung) anerkannt war, daß der Ältestenrat Vorschläge macht, die in der Regel respektiert werden; vgl. dazu Troßmann, § 6 Rdnr. 4.2.6; Kabel, S. 9; Troßmann, JöR 1979, 162. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang § 85 2 GOBT 1951, der eine dritte "allgemeine Beratung" regelmäßig vorsah, während der Ältestenrat einen Ausnahmevorschlag machen konnte. Heute verhält es sich umgekehrt: Normalerweise findet bei dritter Beratung keine allgemeine Aussprache statt, es sei denn, der Ältestenrat hat eine solche empfohlen (weitere Voraussetzung ist, daß es in zweiter Beratung keine allgemeine Aussprache gegeben hat), vgl. § 843 GOBT. 53 Dies führt zum Teil über die Abwicklung der Tagesordnung hinaus, soll aber wegen des Zusammenhangs hier behandelt werden. 54 So Troßmann/Roll, § 100 Rdnr. 3, welche dem Präsidenten das Eingreifen nur im "Extremfall" zugestehen (vgl. auch Troßmann, § 105 Rdnr. 5f.). 55 BT-Drs. VIII.WP/4127, S. 41.
IH. Die Aufgaben des Ältestenrats
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seines Vorschlages für die Tagesordnung auch den Termin für die Beratung der Großen Anfrage bespricht 56 .Zur eigentlichen Abwicklung der Tagesordnung gehört die Frage, ob eine Beratung erfolgen soll und wenn ja, wie deren Verlauf aussehen soll. Bei ersterem muß berücksichtigt werden, daß die Verhandlungen im Ältestenrat dadurch beeinflußt sind, daß § 101 3 GOBT ein Minderheitenrecht statuiert 57 , welches einer Fraktion (oder 5 v.H. der Bundestagsrnitglieder) die Möglichkeit eröffnet, in jedem Fall eine Beratung zu verlangen. Das dürfte in der Praxis dazu führen, daß auf eine Große Anfrage hin grundsätzlich eine Debatte stattfindet 58 • Mehr Spielraum hat der Ältestenrat hingegen, wenn es um den Verlauf der Aussprache geht, über den er sich in großen Zügen verständigt 59 • (3) Ähnlich verhält es sich bei Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages. Hier wird im Ältestenrat sowohl vereinbart, ob es eine Aussprache geben soll oder nicht (vgl. § 78 11 1 GOBT), als auch, an welchen Ausschuß der Antrag gegebenenfalls zu überweisen ist 60 • (4) Zur Abwicklung der Tagesordnung gehört weiterhin, daß im Ältestenrat bei komplexen Tagesordnungspunkten die Aussprache nach Themen gegliedert wird und solche Punkte die thematisch zusammengehören, möglichst an einem Sitzungstag oder in einer Woche zur Beratung kommen 61 •
2. Einfluß auf die Bundestagsdebatte Der Einfluß des Ältestenrats auf die Gestaltung der Debatte des Bundestags zeigt sich einerseits darin, daß er für die Gestaltung und Dauer der Aussprache Vorschläge macht (§ 35 I 1 GOBT), und andererseits, daß er in der Praxis trotz geschäftsordnungsmäßiger Zuständigkeit des Präsidenten (§ 28 I 1 GOBT) - die Reihenfolge der Redner bestimmt62 , 63.
56 Vgl. nur Troßmann, § 106 Rdnr. 2; und ders. schon in PariR u. Praxis, S. 149; Ritzel/Bücker, § 101 Anm. 2b. 57 Troßmann, § 106 Rdnr. 10. 58 In diesem Sinne auch Kabel, S. 9. 59 So Kabel, a.a.O. (Fn. 58); vgl. auch Schäfer, S. 103.