Vilém Flusser (1920-1991): Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 9783839440643

This biography - the first of its kind - is dedicated to the life and works of Vilém Flusser. Born as the son of Jewish

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German Pages 424 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Prolog
Teil I: Prag 1920–1939
Teil II: Brasilien 1940–1972
Teil III: Europa 1972–1991
Teil IV: Nachleben 1991–2016
Literatur
Abbildungen
Personenregister
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Vilém Flusser (1920-1991): Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie
 9783839440643

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Rainer Guldin, Gustavo Bernardo Vilém Flusser (1920–1991)

Edition Kulturwissenschaft | Band 152

Rainer Guldin, geb. 1954, ist Professor für deutsche Sprache und Kultur an der Kommunikationswissenschaftlichen Fakultät der Università della Svizzera Italiana in Lugano (Schweiz). Er ist Editor-in-Chief des multilingualen Open-AccessJournals »Flusser Studies«. Gustavo Bernardo, geb. 1955, ist Professor für Literaturtheorie am Instituto de Letras der Universidade do Estado do Rio de Janeiro in Rio de Janeiro (Brasilien). Er ist Co-Editor des multilingualen Open-Access-Journals »Flusser Studies«.

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Vilém Flusser smoking, Bielefeld, 1984 © Ralph Hinterkeuser Korrektorat: Angelika Wulff, Witten Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4064-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4064-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

»Der wahre Tribut, den man den Toten schuldet, besteht darin, sie so zu behandeln, als ob sie noch am Leben wären.« Vilém Flusser

Inhalt Prolog | 9

T eil I: P rag 1920–1939 Auftakt: Meta-Švejk | 21 Praha Matka Mĕst | 29 Familie und Flucht | 45

T eil II: B rasilien 1940–1972 Im Namen des Vaters | 73 Paulicéia Desvairada | 81 Prager in São Paulo | 87 Die Anderen | 123 Der Professor | 135 Fluchtlinien | 143 Herstory: Edith Flusser über Brasilien und die Rückkehr nach Europa | 165

Teil III: Europa 1972–1991 Vernetzungen | 171 Rückwanderung | 179 Ein nomadisches Leben | 185 Brasilien aus der Ferne | 195 Israel und das Judentum | 207 Auseinandersetzungen | 217 Schreiben und Publizieren | 255 Jenseits des Limes | 271 Begegnungen | 297 Der Durchbruch | 319 Der Kreis schließt sich | 341

Teil IV: Nachleben 1991–2016 Edith | 353 Das Netz der Freunde | 365 Im Zeichen der Zerstreuung | 373 Der digitale Denker | 381 Flusser 2.0 | 395 Epilog | 401 Literatur | 405 Abbildungen | 411 Personenregister | 415

Prolog

»Das Wort ›absurd‹ bedeutet ursprünglich ›bodenlos‹, im Sinn von ›ohne Wurzel‹. Etwa wie eine Pflanze bodenlos ist, wenn man sie pflückt, um sie in eine Vase zu stellen. Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Blumen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten Blumen ist die Stimmung des absurden Lebens.« Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie

Der jüdisch-tschechische Philosoph Vilém Flusser verbringt fast sein ganzes Leben in der Bodenlosigkeit: Am 12. Mai 1920 in Prag geboren, verlässt er 1939 nach dem Einmarsch der deutschen Truppenverbände die Tschechoslowakei und wandert 1940 über England nach Brasilien aus, wo er 1950 eingebürgert wird. 1972 kehrt er nach Europa zurück und stirbt am 27. November 1991 in der Nähe der tschechischen Grenze zu Deutschland, nachdem er am Tag zuvor in Prag, in derselben Stadt, in der er 71 Jahre zuvor geboren ist, seinen letzten Vortrag gehalten hat. In der Einleitung seiner philosophischen Autobiographie Bodenlos, die auf Deutsch und Portugiesisch vorliegt, stellt er sich als einen Menschen ohne Grund und Boden dar, einen wurzellosen, absurden Menschen. Um das Unerklärliche zu erklären, das heißt, um die grundlegende Absurdität der menschlichen Existenz einzufangen, geht Flusser von Beispielen aus der Botanik, der Astrologie und der Logik aus. Ein in einen Topf verpflanztes Gewächs oder ein dekorativer Blumenstrauß in einer Vase verkörpern das Absurde, weil der eigentliche Sinn einer Pflanze darin besteht, Wurzeln sprießen zu lassen und sich in einem bestimmten Boden zu verankern. Dadurch dass Pflanzen und Blumen ihrem angestammten Boden entrissen werden, beraubt man sie ihrer eigentlichen Bestimmung. Bodenlos heißt aber nicht nur ›ohne Wurzeln‹, sondern auch ›sinnlos‹ und ›ohne vernünftige Basis‹. Unser Planetensystem ist bodenlos, weil es sich in sinnloser Kreisbewegung um die abgründige Leere des Universums dreht. »Merkur und Venus auf ihren Bahnen sind Beispiele absurden Funktionierens.« Sie erinnern an bürokratische Verwaltungsappa-

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

rate, kafkaeske Maschinerien, in denen sich auch ein großer Teil unseres Lebens abspielt. Paradoxe, sich widersprechende Sätze schließlich vermitteln ein Schwindelgefühl, als ob man über einem Abgrund schweben würde. Die Bodenlosigkeit ist eine Grundempfindung des menschlichen Daseins. »Jeder kennt die Bodenlosigkeit aus eigener Erfahrung. Wenn er vorgibt, sie nicht zu kennen, dann nur, weil es ihm gelungen ist, sie immer wieder zu verdrängen: ein Erfolg, der in vieler Hinsicht sehr zweifelhaft ist. Aber es gibt Menschen, für die Bodenlosigkeit die Stimmung ist, in der sie sich sozusagen objektiv befinden. Menschen, die jeden Boden unter den Füßen verloren haben, entweder weil sie durch äußere Faktoren aus dem Schoß der sie bergenden Wirklichkeit verstoßen wurden oder weil sie bewußt diese als Trug erkannte Wirklichkeit verließen.« Die Bodenlosigkeit ist ein ambivalenter Zustand, der zwischen Zwang und Befreiung schwankt. So wie eine Pflanze in einer Vase mit ihren Wurzeln sinnlos und dadurch bodenlos wird, so ist auch der Flüchtling ein bodenloses Wesen. Dieser Zustand verschlimmert sich, wenn es sich um eine erzwungene Flucht handelt: Flusser verlässt seine Heimatstadt Prag nicht freiwillig, sondern um der Nazi-Invasion zu entkommen. Dieser Zustand verschlimmert sich noch zusätzlich, wenn der Migrant überlebt und dabei seine ganze Familie verliert. Flussers gesamte Familie wird von denselben Nazis hingemordet, denen er selbst nur knapp entkommen ist. Er ist der einzige, der mit dem Leben davonkommt. Aus diesem Grund beschäftigt ihn die quälende Frage, die auch für Albert Camus entscheidend war: Soll ich mich töten oder nicht? Mit anderen Worten: Soll ich der Sinnlosigkeit, deren Opfer ich bin, einen Sinn verleihen oder nicht? Da ich mir nicht ausgewählt habe, wo, wann, wie, in welche Familie und welche Rasse ich hineingeboren werden soll, möchte ich wenigstens frei entscheiden, wann und wie ich sterben werde. Für Flusser sind diese Fragen nicht nur persönlicher, sondern vor allem religiöser Natur. Die Bodenlosigkeit ist die existenzielle Stimmung, in der alle Religionen entstanden sind. Wenn ich Selbstmord begehe, dann bestätige ich, dass es keinen Sinn und keine Grundlage für die Existenz gibt – das heißt, dass es keinen Gott gibt. Wenn ich mich aber nicht umbringe, so spreche ich mich für die Suche nach einem Sinn und einem Fundament der menschlichen Existenz aus – das heißt, ich suche weiterhin nach Gott. Auch Franz Kafka hat sein Leben damit verbracht, den Drang zu bekämpfen, diesem ein Ende zu setzen. Die Unentscheidbarkeit der Frage ›Soll ich mich töten oder nicht?‹ zwingt das Subjekt dazu, zu einem Spieler zu werden. Vielleicht beschreibt Flusser deshalb in seinem Essay »Mein Atlas«, der 1993 im Sammelband Dinge und Undinge erscheint, die menschliche Existenz als ein Spiel mit Schatten, das ihn dazu verdammt, selbst ein Schatten zu sein. Der Schatten steht in diesem Zusammenhang für ein Gefühl der Absurdität und der Sinnlosigkeit, das heißt für die grundsätzliche Erfahrung der Bodenlosigkeit. Vielleicht ist daher auch die Antwort, die Flusser auf die Frage nach dem Suizid

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gibt, besser als diejenige Kafkas: Flusser schreibt bis ins fortgeschrittene Alter und veröffentlicht zu Lebzeiten fast 20 Bücher in zahlreichen Sprachen sowie Hunderte von Essays, die weltweit in Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften publiziert werden. Neben der praktischen Antwort bietet Vilém Flusser uns auch eine philosophische. In einem weiteren unveröffentlichten Essay, »Der Sisyphos des Camus oder die Ablehnung des Selbstmordes«, räumt er ein, dass alles sinnlos und absurd ist, »alles geht dem absurden sinnlosen Tod entgegen. Die theoretischen und praktischen Bemühungen der Menschheit, diese Tatsache zu tarnen, oder zu leugnen, oder zu verschieben, sind ebenso viele absurde, sinnlose Unehrlichkeiten.« Warum also sich nicht töten, sich vom Trampolin des Absurden in die Transzendenz des Nichts stürzen, um sich darin aufzulösen? Der Selbstmord ist »eine Art Metaphysik, oder Theologie, oder theoretischer Trick […], ein unehrlicher Versuch, dem Gefühl des Absurden zu entkommen.« Allein »die Situation auf dem schwindelnden Grat knapp vor dem Sturz ist ehrlich. Infolgedessen ist der Selbstmord wie jede Metaphysik zu verwerfen.« Wenn man sich dazu entscheidet, nicht mehr Schatten zu sein, um nicht mehr zu existieren, entscheidet man sich auch dafür, auf jede weitere Möglichkeit der Wahl zu verzichten, das heißt, man entscheidet sich dafür, nicht mehr zu wählen. Aus diesem Grund müssen wir »die absurde Situation, den Ekel und die Rebellion gegen die Welt, von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick erleben, vivre le plus nicht, vivre le mieux. […] nur als Don Juan, als Schauspieler oder Eroberer ist der Mensch würdig.« In der kurzen Autobiographie »Auf der Suche nach Bedeutung«, die im Herbst 1969 entsteht, deutet Flusser diese Existenz im Angesicht des Absurden als umfassendes Lebensspiel. »Die Verhältnisse als Summe von Spielen und sich selbst als Spieler anzusehen, heißt, ästhetisch zu schauen. Doch ist es keine Kierkegaardsche [sic!] Ästhetik, weil sie sowohl Zwecklosigkeit und Absurdität wie auch Bedeutsamkeit enthüllt. Und es genügt nicht, es zu sehen, man muß es leben. Leben, daß Kunst besser als Wahrheit ist. Leben, daß die Theorie der Übersetzung Epistemologie ist. Leben – Camus wußte es – wie ein Schauspieler, der ein Übersetzer ist, und dies auch weiß. Leben, mit anderen Worten, daß alles Kunst ist, alles Sprache, das oberste Spiel inbegriffen: ars moriendi. Und Leben bis zum Äußersten, was heißt: zwischen Spielen zu übersetzen, das Spiel des Todes inbegriffen.« Um sich dieser zugleich existenziellen wie religiösen Bedeutung der Bodenlosigkeit zu stellen, dreht Flusser die Perspektive um und wendet sie ins Kreative. Er entdeckt die Freiheit des Migranten. Wer auswandert, muss seine Sprache ändern und damit zugleich von einer Realität in die andere übersiedeln. Die Veränderung ist so einschneidend, dass die Migration und die damit einhergehende Notwendigkeit der Übersetzung einer Erfahrung des Todes und der Wiedergeburt gleichkommen. Der Migrant kann dadurch aber auch

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

das Aquarium seiner Realität verlassen und diese von außen betrachten. Er setzt seine Überzeugungen in Klammern, um darüber nachzudenken und sich selbst neu zu überdenken. Dem Migranten gelingt es dabei nicht nur, die Absurdität seiner eigenen Situation zu erkennen, sondern auch den ganzen Unsinn der modernen Welt zu durchschauen: den Nationalismus und seinen verlängerten Arm, den Patriotismus. Der Patriotismus verstärkt und rechtfertigt die anderen unheilvollen Ismen: den Rassismus, den Chauvinismus, den Machismus, den Sexismus. Für Flusser ist der Mensch grundsätzlich ein Tier, das verneint und dadurch von der ihn umgebenden Realität zurücktritt. Das ist seine eigentliche Würde. Wir wollen immer das sein, was wir nicht sind, und aus diesem Grund haben wir Sprache, Wissenschaft, Fiktion und Zivilisation erfunden. Wenn wir stolz behaupten, dass wir dieses oder jenes sind, zum Beispiel Brasilianer oder Schweizer, Juden oder Tschechen, laufen wir immer die Gefahr, uns festzulegen. Dadurch aber verneinen wir das Prinzip der Verneinung, das uns gerade zu Menschen macht und uns von den anderen unterscheidet. Sich als jemanden zu definieren, zum Beispiel als Patrioten, bedeutet den reinen Zufall zu verherrlichen und so zu tun, als ob es diesen nicht gäbe. Sich als Patrioten zu verstehen, bedeutet so zu tun, als ob man gewählt hätte, in diesem einen Land, dieser einen Familie, dieser einen Religion und dieser spezifischen Zeit zu leben, obwohl es auf der Hand liegt, dass nichts davon zutrifft. Wir sind, was wir sind, aber ohne unser Zutun. Der Migrant hingegen hat die Chance, seine alte Heimat von außen zu betrachten. Folglich ist es für ihn einfacher, auch die neue Heimat von außen zu betrachten. In beiden Fällen stellt sich Schmerz ein, manchmal auch schwer ertragbarer Schmerz, zugleich stößt man dabei aber auch auf eine neue unerwartete Freiheit. Man stirbt in einer Sprache, um in der anderen wiedergeboren zu werden, mit dem entscheidenden Vorteil, dass man sich noch an das erste Leben erinnern kann. Die Bodenlosigkeit, die wurzellose Existenz des Migranten ist somit zugleich Tragödie und Befreiung, ohne dass diese jedoch die Tragödie abschwächen würde. Der kreative, aber schmerzhafte Konflikt zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Momenten, läuft durch das gesamte Leben Vilém Flussers. »Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert«, schreibt Flusser im Essay »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« aus Von der Freiheit des Migranten, »aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden, und die meisten dieser Fasern sind geheim […]. Wenn die Fasern zerreißen oder zerrissen werden, dann erlebt er das als schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder den Mut auf brachte zu fliehen), durchlebte ich dies als einen Zusammenbruch des Universums; denn ich verfiel dem Fehler, mein Intimstes mit dem Öffentlichen zu verwechseln. Erst als ich unter Schmerzen erkannte, daß mich

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die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich vom […] seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen.« Es ist das Umschlagen der Frage ›frei wovon?‹ in ›frei wozu?‹ Plötzlich wird deutlich, dass es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs sind, sondern diejenigen einer Entbindung, einer Neugeburt. Wer den Boden verliert, wer bodenlos ist und dadurch orientierungslos wird, ist auch den ihn bindenden Boden los. In dem Moment, in dem man seine Bodenlosigkeit annimmt, erkennt man die grundlegende Unsicherheit, auf der die eigene Existenz beruht. Gerade deswegen aber kann man auch immer wieder den Boden auswählen, den man beschreiten will, das Möglichkeitsfeld, auf dem man sich vorübergehend einrichten will. Vilém Flusser, der nomadische Philosoph der Bodenlosigkeit, hat für uns vielleicht den Boden der Freiheit zugänglich gemacht. Im Vortrag »Heimat und Heimatlosigkeit«, den Flusser im August 1985 am II. Internationalen Kornhaus Seminar in Weiler im Allgäu hält, beschreibt er die Migranten als die eigentliche kulturelle und existentielle Avantgarde der Menschheit. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Türken in Deutschland, die Palästinenser in den Arabischen Emiraten, die aus dem Nordosten Brasiliens nach São Paulo eingewanderten Bauern und die polnischen Wissenschaftler in Harvard führen ein vorbildhaftes Leben, dem wir nacheifern sollten, denn die Migration ist eine kreative Situation. Der Migrant durchschneidet die Fäden, die ihn mit seiner Heimat verbinden, und entdeckt dabei, dass alle Heimaten gleichwertig sind, weil sie begrenzt sind. Er entdeckt, dass man die Fäden, die einen an die eigene Herkunft binden, durchschneiden muss, um neue Fäden zu knüpfen, für die man selbst verantwortlich ist. Wie Flusser hervorhebt, ist man für die Blutbande, die Bande der Nachbarschaft und die Wurzeln, die einen mit der Heimat verbinden, nicht verantwortlich, man trägt jedoch die Verantwortung für die vielen anderen Fäden, die einen mit Freunden und Bekannten verbinden. Wir benutzen in unserer Biographie bewusst und dezidiert die Gegenwartsund nicht die Vergangenheitsform, wie es eigentlich in einer Biographie üblich wäre, und dies, obwohl Vilém 1991 im Alter von 71 Jahren und seine Frau Edith 2014 mit 94 Jahren gestorben sind. Wir haben versucht, die gesamte Biographie im Präsens zu schreiben, auch um das diesem Buch vorangestellte Motto einzulösen: Der wahre Tribut, den man den Toten schuldet, besteht darin, sie so zu behandeln, als ob sie noch am Leben wären. Eine zweite wichtige Vorentscheidung besteht darin, das Leben und Werk Vilém Flussers 25 Jahre über seinen Tod hinaus weiter zu verfolgen. Dadurch kann einerseits die Rolle Edith Flussers, die Vilém um 23 Jahre überlebt hat und deren unabdingbare Rolle im Laufe dieser Biographie immer wieder hervorgehoben werden soll, noch deutlicher gemacht werden. Andererseits bietet es die Möglichkeit, das Nachleben des Werkes über längere Zeit hinweg zu verfolgen. Auf die Bedeutung weiterer formaler Eigenschaften dieser Biographie, die Flussers unakademischen Stil

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

aufnehmen – Verzicht auf Fußnoten, Anmerkungen und abgesetzte Zitate – und die besonderen typographischen Eigenheiten seiner Texte – kein ß und keine Umlautformen – gehen wir im Folgenden noch genauer ein. Ausgenommen sind dabei die Zitate aus publizierten Werken. Obwohl das Buch weitgehend linear aufgebaut ist, operieren wir sowohl mit Rückblenden als auch mit Antizipationen. Diese sollen die Gradlinigkeit der Narration bewusst durchbrechen und ein kreis- und spiralförmiges Motiv einführen, das für das Verständnis von Flussers Gedankenwelt und Schreibtätigkeit entscheidend ist. Da Flussers Lebensweg zudem grundsätzlich durch die Suche nach Dialogpartnern geprägt ist, stehen, besonders im dritten Teil, der sich den letzten zwanzig Jahren seines Lebens widmet, Freundschaften und Begegnungen im Mittelpunkt. Freundschaften sind Knotenpunkte in einem sich stets ausdehnenden und verdichtenden Netz. Dadurch kommt es im Laufe der Erzählung zu Wiederholungen und Überschneidungen, die aber, gerade weil sie Teil eines anderen Kontextes sind, auch immer eine neue Perspektive eröffnen. Damit nimmt diese Biographie eine weitere grundlegende Denkstrategie Flussers auf: seinen radikalen an Nietzsche geschulten Perspektivismus, den er im Sinne eines Kumulierens von unterschiedlichen Standpunkten deutet, die nacheinander durchlaufen werden und sich dabei nicht nur ergänzen, sondern vor allem auch widersprechen. Um den beiden zentralen Sprachwelten Flussers – der deutschen und der portugiesischen – gerecht zu werden und um zugleich zwei unterschiedliche Perspektiven auf sein Leben und Werk zu eröffnen, haben wir beschlossen, die Biographie gemeinsam zu schreiben. Der in Rio de Janeiro geborene und lebende Gustavo Bernardo hat den ersten Teil (Prag 1920-1939) und den zweiten (São Paulo 1940-1972) auf Portugiesisch verfasst und der in Zug geborene und in Lugano lebende Schweizer Rainer Guldin den dritten (Europa 19721991) und vierten Teil (Nachleben 1991-2016) auf Deutsch. Die jeweiligen Teile wurden dann in die andere Sprache übersetzt, so dass zwei verschiedene Versionen zustanden gekommen sind. Der dritte und vierte Teil wurde von den zwei brasilianischen Übersetzern Raquel Abi-Sâmara und Murilo Jardelino ins Deutsche übertragen. Gustavo Bernardo hat diesen Text dann noch zusätzlich überarbeitet. Die hier vorliegende deutsche Fassung wurde von Rainer Guldin erstellt, der damit auch für alle Fehler und Auslassungen verantwortlich zeichnet. Beim übersetzenden Umschreiben, ganz in Flussers eigenem Sinne einer transformierenden umgestaltenden Form der Übertragung, sind in der portugiesischen und deutschen Fassung verschiedene neue Teile hinzugekommen und andere gestrichen worden. Dabei wurde bei einigen Abschnitten der deutschen Version auf frühere Arbeiten zurückgegriffen, die zum Teil gekürzt und umgeschrieben wurden. Sämtliche französische Zitate sind ins Deutsche übertragen worden. Durch dieses übersetzende Umschreiben wurde

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ein weiteres wesentliches Moment von Flussers Schreiben der Biographie zugrunde gelegt. Flusser hat seine Texte in vier verschiedenen Sprachen verfasst: Deutsch, Portugiesisch, Englisch und Französisch. Dabei hat er seine Essays nie in derselben Sprache umgeschrieben, sondern stets in eine andere Sprache übertragen. Wir beschäftigen uns schon seit längerer Zeit mit Flussers Werk und Leben, haben Vorträge an Konferenzen und Symposien gehalten und mehrere Essays und Bücher dazu veröffentlicht – darunter eine gemeinsame dreisprachige, portugiesische, deutsche und englische Einführung in sein Werk. Wir haben darüber hinaus Konferenzen und Seminare in Brasilien und in der Schweiz organisiert und Flusser immer wieder in unsere akademische Lehrtätigkeit eingebaut. Diese Biographie ist ein weiterer Versuch, sich dem vielschichtigen Werk, dem faszinierenden Leben zwischen zwei Kontinenten und der schillernden Persönlichkeit Flussers zu nähern. Die Biographie versteht sich nicht als Hagiographie oder Apologie eines Verstorbenen, sondern, in Flussers agonistischem Sinne, als eine kritische Auseinandersetzung mit dem widersprüchlichen Menschen und dessen Werk. Aus diesem Grund versucht diese Biographie, eine Vielfalt von sich widersprechenden und ergänzenden Stimmen einzuführen, allen voran die von Edith Flusser, ohne deren stete Präsenz Flussers Werk wohl nicht zustande gekommen wäre. Beide Autoren betreiben eine Flusser gewidmete Internet-Seite. Rainer Guldin ist Editor-in-Chief der 2005 gegründeten mehrsprachigen Online-Zeitschrift Flusser Studies (www.flusserstudies.net), die inzwischen schon mehr als zehn Jahre alt ist. Bisher sind über zwanzig Ausgaben erschienen. Gustavo Bernardo betreibt seit 2013 FlusserBrasil (www.flusserbrasil.com), ein digitaler Raum für die Konservierung und Verbreitung von Flussers Denken, der schon hunderte von Flussers Texten zugänglich gemacht hat und langfristig sämtliche Arbeiten enthalten soll. Wie ist es dazu gekommen, dass wir uns beide über Jahre hinweg immer wieder mit Flusser beschäftigt haben? Lassen wir zuerst den Schweizer zu Wort kommen: Mein erster Kontakt mit Vilém Flussers Universum geht auf den Spätsommer 1992 zurück. Ich hatte mich mit einem Freund vor einer Reise in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofes getroffen; wir gingen in der Stadt spazieren und stießen dabei auf eine inzwischen geschlossene Buchhandlung jenseits der Limmat in der Nähe des Bellevues. Im Schaufenster ein paar Schwarz-WeißFotos, Textausschnitte und Bücher, die Fischer Taschenbuch Ausgabe von Die Schrift. Auf dem Cover ein älterer Herr mit Glatze und Bart. Ein Geheimtipp, meinte mein Freund. In Brasilien habe er gelebt. Der Hinweis auf Brasilien, ein Land, in das ich selbst einmal auswandern wollte, war dabei entscheidend. Dass Flusser viel mehr als ein Geheimtipp und seine Denkweise mir zutiefst verwandt war, entdeckte ich erst später. Eine weitere, diesmal entscheidende

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

Kontaktnahme erfolgte im Juli 1998 im Flusser-Archiv in München, das damals noch an der Prinzregentenstraße war. Bei der Durchsicht der Typoskripte wurde mir klar, dass Flusser konsequent zwischen den Sprachen gelebt, sich systematisch und obsessiv hin und her übersetzt, und darüber hinaus auch versucht hatte, eine allumfassende Übersetzungstheorie zu schreiben, eine Art Metatheorie, die Kunst und Philosophie, Wissenschaft und Literatur zusammenführen sollte. Ich entdeckte darin meine eigene existentielle Grundlage, mein eigentliches intellektuelles Habitat. Eine kongeniale Denkweise, mehr noch: ein Lebensgefühl. Flussers späte deutsche Texte, die ich zu Beginn las, faszinierten mich vor allem wegen ihren stilistischen Qualitäten: Essays auf der Grenze von Philosophie und Literatur, eindringlich elegant, sprachlich erfinderisch, mitreißend und immer wieder zu heftigstem Widerspruch herausfordernd. Der deutsche Schriftsteller Hubert Fichte, der wie Flusser an einem vielzüngigen hybriden Schreibprojekt arbeitete, hat am akademischen Schreiben zu Recht das Aufgesetzte und Gestelzte moniert, den Pauker-Rokoko, wie er es nannte. Die Form und der Inhalt brechen dabei hoffnungslos auseinander, und auch Fußnoten und Quellenangaben können den heillosen Riss nicht mehr kitten. Ganz anders bei Flusser und bei Fichte, bei denen Form und Inhalt einander stets hervorzubringen versuchen. Der Leser wird zuerst einmal sprachlich verzaubert und dann durch die rasante, brillant assoziative Denkweise verführt, eine belebende packende Berg- und Talfahrt. Eine Einladung zum Denken und eine stete Provokation. Für den Brasilianer steht eine vergleichbare Begegnung mit dem Werk ganz am Anfang. Lassen wir ihn hier zu Wort kommen: In einer kleinen Buchhandlung, am Saens Peña Platz in Rio de Janeiro stoße ich auf Flussers 1978 zuerst veröffentlichtes Buch Natural:mente, das 2000 unter dem Titel Vogelflüge in einer Übersetzung von Edith Flusser beim Hanser Verlag erscheint. Das Buch beeindruckte mich wegen seiner Ehrlichkeit, geht es doch davon aus, dass jeder Diskurs, vor allem der akademische, letztlich fiktiv ist. Dies führt dazu, dass der Syllogismus mit der Metapher und das Axiom mit der Ironie vermischt werden. Diese Ehrlichkeit, der man in all dem, was Flusser geschrieben hat, begegnet, verwandelt seine Philosophie in Dichtung, wenn auch ohne Verse oder Reime. Eine solche Poesie verlangt vom Leser, dass er bei der Lektüre ebenfalls Stilformen kombiniert und die Syllogismen der akademischen Welt mit den Metaphern der Fiktion vermischt. Wer sich für Flusser interessiert, hat meist ein Interesse daran, festgelegte Grenzen zu überschreiten und deutlich Getrenntes zu vermischen. Flusser ist ein Philosoph, der nicht nur in Philosophie-Kursen gelesen wird, sondern auch in der Linguistik und Literaturtheorie, der Kommunikationswissenschaft, der Kunstgeschichte und der Theorie des Designs, in der Soziologie, der Theologie und der Architektur, um nur einige zu erwähnen. Flusser ist darüber hinaus

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ein Denker, der eine breite internationale Wirkung auf Künstler jeder Art ausgeübt hat: Videokünstler, Fotografen, Filmemacher und Maler. Für die Zusammenarbeit an diesem Buch bedanken wir uns bei Dinah Flusser, Miguel Gustavo Flusser, Victor Flusser, Eva Batličková, Felix Philipp Ingold, Andreas Ströhl, Andreas Müller-Pohle, Fred Forest, Irmgard Zepf, Volker Rapsch, Hans-Peter Dimke, Gottfried Jäger, Siegfried Zielinski, Vera Schwamborn, Daniel Irrgang, Rodrigo Maltez Novaes und José Roberto Barreto. Ein ganz besonderer Dank geht an Steffi Winkler, die uns bei der Suche nach dem Bildmaterial unterstützt und durch ihre Recherchen noch weitgehend unveröffentlichtes Videomaterial zugänglich gemacht hat. Die Briefe und Texte aus dem Nachlass, aus denen wir im Laufe unserer Biographie zitieren, sind, falls nicht anders vermerkt, unveröffentlicht. Wir danken Miguel Gustavo Flusser und dem Flusser Archiv in Berlin für die Erlaubnis, diese in unserer Biographie zu verwenden. Unser Dank geht schließlich noch an Anita Jóri und Alexander Schindler vom Flusser Archiv in Berlin für ihre Hilfe bei der Zusammenstellung und Aufarbeitung der Abbildungen, die das Archiv uns freundlicherweise für diese Biographie zur Verfügung gestellt hat.

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Teil I: Prag 1920–1939

Abbildung 1: Vilém Flusser

Auftakt: Meta-Švejk

»Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß ich froh bin. […] Das wird was Wunderbares sein, wenn wir beide zusamm für Seine Majestät den Kaiser und seine Familie fallen wern …« Jaroslaw Hašek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk

Mit dieser subtil ironischen Bemerkung der Hauptfigur endet der erste Teil von Jaroslaw Hašeks (1883-1923) insgesamt vierteiligem satirischem und antimilitaristischem Schelmenroman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Das Buch erzählt die Abenteuer des Kriegsveteranen Josef Schwejk während des Ersten Weltkrieges. Die Missgeschicke Schwejks erweitern auf tragikomische Art und Weise diejenigen Gregor Samsas, der unglücklichen Hauptfigur von Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Was haben diese beiden Autoren und ihre Figuren mit Vilém Flusser zu tun? Zuerst einmal haben sie Flussers Kindheit und Jugend geprägt, handelt es sich doch um die zwei berühmtesten von Prager Autoren verfassten literarischen Werke der damaligen Zeit. Dann zeigt uns die Art und Weise, wie Flusser sich darauf bezieht, dass er in Hašeks und Kafkas Werk so etwas wie eine grundsätzliche stilistische und inhaltliche Kongenialität entdeckt hat. Und schließlich ist der eigentliche Ausganspunkt von Flussers Denken und Schreiben mit der literarischen Fiktionalität der beiden Autoren aufs intimste verwandt. Darüber hinaus sträubt sich das Leben und Werk Vilém Flussers gegen eine rein objektivierende dokumentarische Vorgehensweise. Je mehr man über ihn liest, je länger man sich mit ihm beschäftigt, desto mehr erscheint er einem als eine literarische Figur, enigmatisch und rätselhaft wie Gregor Samsa und Josef Schwejk. Flusser selbst hat in Gesprächen mit Freunden, in Interviews, Vorlesungen und Vorträgen, im Briefaustausch und auch in seinen Essays und Büchern systematisch und oft selbstironisch sich selbst zu einer literarischen Figur hochstilisiert.

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Teil I: Prag 1920-1939

J osef S chwe jk und G regor S amsa Bevor wir uns aber Flussers Selbstinszenierung und Selbstfiktionalisierung zuwenden, möchten wir versuchen, zu verstehen, warum die Missgeschicke von Josef Schwejk die Missgeschicke von Gregor Samsa aufnehmen und erweitern. Diese Missgeschicke klingen schon im ersten Satz von Kafkas Erzählung an. »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« In der deutschen Umgangssprache, die in Böhmen zur Zeit Kafkas verwendet wird, bedeutet Ungeziefer ein Tier, das nicht sauber genug ist, um geopfert zu werden. Gregor muss auf dem Altar der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geopfert werden, aber dies geht nur, wenn es ihm gelingt, sich sauber genug für das Opferritual zu präsentieren. Gregors unsauberer Zustand drückt sich in diesem Fall in der Metapher aus, in die er sich verwandelt, um dadurch seine eigene Entfremdung, Entmenschlichung und Verdinglichung und schließlich auch seine Insekt-Werdung zu verkörpern. Wir wissen jedoch, dass Gregor sein ganzes Leben und all seine Wünsche seiner Familie geopfert hat. Er hat als Handlungsreisender für einen ausbeuterischen Arbeitgeber gearbeitet, um für die Bedürfnisse der Mutter, der Schwester und des tatenlosen Vaters aufzukommen. Von der Familie und seinem Chef wird er wie ein abscheuliches Insekt behandelt. Aber anstatt sich aufzulehnen, verwandelt er sich am Ende in solch ein Insekt. Die wütende Reaktion des Vaters und des Chefs zeigen jedoch, dass die Revolte nicht besser und effektiver hätte sein können. Das Spiel der Ausbeutung und Erniedrigung beruht auf widersprüchlichen Worten und Taten. Man beteuert, nur das Beste für den Ausgenutzten zu wollen, vernichtet diesen aber letztlich, indem man ihn in ein amorphes Wesen verwandelt. Wenn derjenige, der die Rolle des Opfers verkörpert, ganz zu dem wird, was man von ihm will, oder schlimmer noch, sich dabei verformt, wird die Rolle aller anderen beteiligten Spieler aufgedeckt. Die Geschichte von Gregor Samsa wird oft als eine surrealistische Fabel gelesen, aber eigentlich handelt es sich dabei um eine äußerst realistische Darstellung von dem, was die vermeintlichen Machthaber von ihren Opfern wollen. Gregor Samsa unterwirft sich zwar, verwandelt sich dabei aber nicht in ein völlig willenloses Geschöpf. Er lehnt sich nicht auf, um die Macht derer, die ihn vernichten wollen, zu bestätigen. Gregor wird zum unsauberen Opfertier und verkehrt damit die Logik der Ausbeutung in ihr Gegenteil. Franz Kafkas Die Verwandlung ist somit eine Fabel über die Tragödie eines fehlerhaften Opfervorgangs, der den Schrecken des Rituals und des gesamten Systems enthüllt. Kafkas tragische Geschichte ist ursprünglich auf Deutsch verfasst worden. Jaroslav Hašek schreibt kurz danach, diesmal auf Tschechisch, eine amüsante Fabel, die auf die gleiche Art und Weise die grundsätzliche Perversität aller

Auf takt: Meta-Švejk

Machtsysteme aufzeigt. Die Figuren seines Romans haben keine wirkliche Chance, sich erfolgreich gegen diejenigen, die sie beherrschen und vernichten wollen, aufzulehnen. Sie können sie aber offen und ungestraft denunzieren, indem sie die Rolle des Hofnarren spielen, und schallend über all das lachen, worüber man eigentlich nicht lachen dürfte. Der 1922 in Prag geborene amerikanische Germanist deutsch-tschechisch-jüdischer Herkunft, Peter Demetz, beschreibt Schwejk als ein Meister des Ja-Sagens, der seine triumphierenden Gegner dazu zwingt, ihre ganze Torheit zu offenbaren. Zu Beginn von Hašeks Roman ist die Rede von einem Licht, das langfristig selbst die kühnsten Gewissheiten zerstören würde. Die Metapher des Lichts besitzt traditionsgemäß positive Konnotationen, hier jedoch enthüllt das Licht die Angst davor, dass die Zukunft in Europa doch nicht so hell sein wird, wie es die meisten damals erwarten. Liest man diesen Satz, nicht im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg, das heißt, zur Zeit als er verfasst wurde, sondern aus der Perspektive, die nach dem Zweiten Weltkrieg möglich wird, das heißt, nach Auschwitz und Theresienstadt, klingt die gegen den Strich gelesene Metapher des Lichts aus Hašeks Roman auf erschreckende Art und Weise prophetisch. Der brave Soldat Schwejk unterwirft sich frohgemut den Absurditäten des Krieges und den noch absurderen Befehlen seiner Vorgesetzten. Schwejks Freude an der Unterwerfung durchbricht die Erwartungen des Lesers, denn Schwejk müsste Angst und Schrecken vor seinem möglichen Tod empfinden oder Euphorie bei der Aussicht auf Ruhm in der Schlacht. Die Freude dieser Unterwerfung ist somit auch tragisch, weil sie die Absurdität der Lage enthüllt, in der sich die Figur und das gesamte tschechische Volk befinden. Genau aus diesem Grund beendet Hašek das 15. Kapitel des ersten Teils seines Romans mit der zu Anfang dieses Kapitels zitierten Aussage ›Das wird was Wunderbares sein, wenn wir beide zusamm für Seine Majestät den Kaiser und seine Familie fallen wern ...‹. Die Verwendung des ironischen Superlativs dient dazu, das gegenteilige Gefühl zu erwecken. Inwiefern aber ist es großartig, auf dem Schlachtfeld im Namen des Kaisers, des Führers, des Teufels oder Allahs zu sterben? Der Roman beantwortet diese Frage nicht.

D er A ppar at Diese Frage begleitet das gesamte Leben und Werk Vilém Flussers, der 1939 in die Bodenlosigkeit geworfen wird, als die Nazis in Prag einmarschieren und ihn zwingen, nach England und später nach Brasilien zu fliehen, während seine gesamte Familie zusammen mit anderen sechs Millionen Juden in den KZs ermordet wird, wie ein hartnäckiger Basso continuo. Wie geht Flusser mit diesem grausamen Verlust und seinem eigenen Überleben um, zuerst in Brasilien und dann in Europa, wo er die letzten 20 Jahre seines Lebens verbringt?

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Warum kehrt er nach Europa zurück, um dort zu sterben und genau an dem Ort begraben zu werden, von dem er 52 Jahre zuvor vertrieben wird? Es gibt verschiedene mögliche Antworten auf diese Fragen. Vilém Flusser diskutiert sie selber in verschiedenen Artikeln, zum Beispiel in einem Kommentar zu Hannah Arendts Konzept der »Banalität des Bösen«, der am 26. Juli 1969 in der Zeitung O Estado de São Paulo erscheint. Die deutsche Philosophin jüdischer Herkunft verweist auf die Unwahrheit der gängigen Vorstellung, dass die größten Verbrechen durch die größten Monster verübt werden. In Wirklichkeit werden die größten Verbrechen durch mittelmäßige Funktionäre verübt, die für riesige Apparate arbeiten. Flusser stimmt zwar Arendts Deutung zu, versucht aber zugleich wie immer auch die andere Seite des Phänomens zu ergründen, das heißt, wie es möglich ist, dass gebildete Menschen, die für mittelmäßige Apparate arbeiten, zu Verbrechen fähig sind, die sie eigentlich nie hätten begehen sollen. Während Arendt sich dafür interessiert, wie Apparate mittelmäßige Menschen in leistungsfähige und destruktive Funktionäre verwandeln, untersucht Flusser, wie es Apparaten gelingt, gebildete Menschen in ungemütliche und lästige Angestellte zu verwandeln. Beide Arten von Funktionären sind für die Erhaltung und Weiterentwicklung von Apparaten wie der deutsche Nazismus von Bedeutung. Flusser schreibt dazu in seinem Artikel: »Wir alle haben Erfahrungen mit der hässlichen Seite von Apparaten gemacht, aber glücklicherweise kennen wir nicht all die zerstörerischen Seiten von Apparaten. Wer ins Getriebe von zerstörerischen Apparaten gerät (zum Beispiel der Nazismus) hat das entsetzliche Gefühl, zermahlt zu werden. Und derjenige, der ahnungslos in die Maschinerie eines hässlichen Apparates gerät (zum Beispiel eine Handelsfirma oder ein Bildungsinstitut), empfindet ein Gefühl der Komik und Sinnlosigkeit. Aber der Unterschied ist nur provisorisch, zufällig und letztlich gefährlich. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als der Nazismus sich herauszubilden begann, als seine komische und belanglose Seite deutlich sichtbar waren. Später hat der Terror all dies zum Verschwinden gebracht. Die Komik der hässlichen kleinen Apparate verhüllt deren eigentliche Absicht: uns alle, einen nach dem anderen, nach und nach zu vernichten. Wenn man den Apparat ernst genommen hätte, als er noch bloß ein kleines komisch anmutendes Gebilde war, hätte es vielleicht jemand wie Eichmann nicht gegeben.« Dieser Warnung kommt gerade in der unmittelbaren Gegenwart, die durch eine bedrohliche Rückkehr von rechtslastigem Gedankengut und der weltweiten Wiedererstarkung populistischer Parteien charakterisiert ist, eine neue Aktualität zu. Eine wichtige Quelle zu Flussers breit gefächertem Apparatbegriff, der von bürokratischen Verwaltungsapparaten bis hin zu Fotoapparaten und Computern reicht, sind die Texte Franz Kafkas. Im Essay »Warten auf Kafka« aus dem Sammelband Jude sein wird der Apparatbegriff in einem existentiellen und

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sozialkritischen Sinne verstanden. Flusser geht von der Annahme aus, dass Kafkas Texte erst noch verstanden werden müssen, da seine Zeit noch nicht gekommen ist. Das, was Kafka zu Beginn des letzten Jahrhunderts schrieb, wird nach den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts jedoch endlich verständlicher. »Die Probleme, die ihn verfolgten und quälten«, schreibt Flusser, »hatten für diejenigen, die mit ihm lebten, keine Bedeutung. Heute beginnen manche dieser Probleme eine Bedeutung zu bekommen – zum Beispiel die Situation von Eltern, die auf der Flucht vor der unpersönlichen Verfolgung durch unbedeutende Funktionäre den sicheren Tod suchen und die Kinder den Verfolgern überlassen. Ein anderes Beispiel ist die Situation eines Menschen, der seine Individualität verloren hat und zu einer Schraube im Apparat wurde.« Und er fährt fort: »Alle diese Situationen sammeln sich um ein Zentralproblem: um das eines Menschen, der vom allmächtigen, aber nachlässigen und inkompetenten Verwaltungsapparat vergessen wurde […].« Es ist dies eines der »Zentralprobleme der nahen Zukunft.« Die in Apparaten operierende anonyme Macht diktatorisch geführter Gesellschaften steht für eine neue Form der Herrschaft, die uns vor Augen führt, »dass die höheren Mächte eine administrative hierarchisch überorganisierte Maschine sind, eine pedantische Maschine.« Wir müssen daher, so weiter Flusser in seinem Text über die Banalität des Bösen, »gegen den Apparat in seiner subhumanen Dummheit« kämpfen. Da Apparate jedoch unvermeidlich sind, können wir sie nur dann überwinden, wenn wir eine ironische Haltung ihnen gegenüber einnehmen. Ironie ist dabei nicht etwas Passives, sondern etwas grundsätzlich Subversives, im wörtlichen Sinn des Begriffs. Ironie untergräbt die Bedeutung von Apparaten, indem sie an deren abtötenden Spiel teilnimmt, aber nie, um das Spiel zu gewinnen. Es geht darum, das Spiel zu verändern, um dadurch den Apparat zu destabilisieren. Flussers Ironie kommt zum Zug, wenn ein Professor zum Beispiel seine Studenten bewertet und zugleich verkündet, dass jede Form der Beurteilung unfair ist. Flusser hat in seinen Kursen an den Universitäten in São Paulo den Studenten mitgeteilt, dass sie alle die Prüfung bestehen würden, wenn auch nur mit dem verlangten Notenminimum, vorausgesetzt, dass jemand nicht eine bessere Note verdiente. Der Ironie, die Flusser hier meint, kann man auch im Werk von Schriftstellern begegnen, die sich der Strategie der Metafiktion bedienen, um ihre Leser zu warnen, dass sie es eigentlich immer nur mit Fiktion zu tun haben, auch wenn diesen das, was sie lesen, immer viel realistischer als die Realität selbst erscheint. Die beiden brasilianischen Flusserforscher Erick Felinto und Lucia Santaella bestimmen Flussers eigenwillige Erkenntnistheorie als eine Denkbewegung, bei der dem Leser immer unwahrscheinlichere Sätze präsentiert werden, um sich der Wahrheit von ihrer Gegenseite her zu nähern. Diese Bewegung ist eine höhere Form der Ironie, die für die Philosophie das verwirklicht, was der jüdische Pilpul bei der

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Exegese des Talmuds leistet. Dabei wird eine unendliche Reihe von einander widersprechenden Kommentaren zu einem heiligen Text zusammengeführt. Wir werden im Laufe der Biographie noch an verschiedenen Stellen auf diesen spezifischen Denkansatz zurückkommen. Flussers ironische Denkbewegung führt zur Entwicklung einer Form der Philosophie, die sich in der Nähe der Science-Fiction ansiedelt, um dadurch die Wissenschaft ad absurdum zu führen und ein Licht auf die obskuren Aspekte der Wahrheit zu werfen. Es ist eine bewusst fiktive Philosophie, die von verschiedenen Kritikern und Flusser selbst als philosophische Fiktion bezeichnet worden ist.

I ronie In einem Artikel, der am 26. Februar 1972 in der Folha de São Paulo veröffentlicht wird und den Titel »Ironie« trägt, definiert Flusser den Begriff als »Waffe im Kampf gegen die Agonie.« Das Wort Agonie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Qual oder Kampf, vor allem den Kampf gegen den Tod. Ironie findet dann statt, wenn »der Schwache, um sich gegen den Starken zu wehren, sich selbst ironisch in Stücke schneidet«, sich in ein verachtungswürdiges Insekt verwandelt oder, wie der machtlose Schwejk, bewusst den Dummen spielt. Die Ironie ist aber »nicht nur die Waffe der Schwachen, sondern auch die tragische Waffe derjenigen, die in den Gaskammern oder in den Zirkusarenen sterben.« Ironie ermöglicht es, auf tragische Art und Weise, die eigene verlorene Würde wieder zu erlangen, genau in dem Moment, wo jede Würde schon verloren ist und man sich anschickt, auch noch das eigene Leben zu verlieren. Ironie kann jedoch auch eine beängstigende Form annehmen. Wenn Flusser seine ironische Methode entfesselt, die wir als umgekehrte Dialektik beschreiben könnten, entsteht ein Stil, der zwar äußerst klar ist, aber eine beunruhigende beklemmende Wirkung haben kann. Darin gleicht er Franz Kafka. Einige Kritiker haben diesen Aspekt bemängelt, sich dabei aber vielleicht einfach geweigert, der eigenen schmerzlichen existentiellen Beklemmung ins Auge zu sehen, dem, was Flusser als die grundsätzliche Absurdität alles menschlichen Denkens und Handelns bezeichnet. Dieses Gefühl der Beklemmung kann aber auch bereichernd sein, wie Mirjam, eine Romanfigur aus Gustav Meyrinks Der Golem festhält: Ihr Vater habe ihr einmal gesagt, dass die Welt einzig und allein dafür da sei, um durch unser Denken abgerissen zu werden. Erst dann beginne das eigentliche Leben. Flusser stellt eigentlich immer nur schwierige Fragen, auf die er dann meist in einem prophetischen Ton kategorische Antworten gibt. Diese werden jedoch gleich wieder abgerissen, um für neue, bessere, aber noch schwierigere

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Fragen Platz zu machen. Diese neuen Fragen können unter Umständen das dunkle gefängnisartige Beziehungsgeflecht, in dem wir uns befinden, oft ohne uns dessen bewusst zu sein, erhellen und uns dabei helfen, uns aus unserer Verstrickung zu befreien. Der brasilianische Diplomat Sérgio Paulo Rouanet vertritt in einem Brief vom 28. Januar 1981 die Auffassung, dass Flusser ein Schwejk zweiten Grades sei, ein ironischer kybernetischer Schwejk. Er habe nämlich die Welt der Apparate so lange nachgeahmt, bis es ihm gelungen sei, diese von innen her zu zerstören: »Sie sind eine Art Meta-Švejk, subtiler als Švejk; aber dieser wusste, dass er Švejk war, und Sie wissen nicht, dass sie Meta- Švejk sind. Seien Sie beruhigt: Ihre Kritik ist viel effizienter.« Flusser gefällt der Vergleich mit dem berühmten tschechischen Charakter: »Sie nennen mich Meta-Švejk, ein Beweis für Ihre Fähigkeit zur Empathie. Noch besser wäre die Bezeichnung: Post-Kafka. Auf jeden Fall: Prager.« So schließt sich der Kreis, der die Realität in die Fiktion zurückholt, damit sich die Fiktion als conditio sine qua non für das Verständnis der Realität erweist. Flusser ist sowohl Post-Samsa als auch Meta-Švejk. Diese beiden Figuren ermöglichen es uns, die intellektuelle und moralische Geschichte des 20. Jahrhunderts kritisch zu überdenken.

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»Sind wir doch alle, ihr lieben Geschwister, Wenzel und Hus, Karl und Rudolf, Kafka und Rabbi Löw, Dvořák und Rilke, zugleich ein Produkt jenes Gebraeus und schweben entrueckt darueber. Der fromme Herzog und der Rebell, der kluge und der rasende Kaiser, der Zerstoerer des natuerlichen und der Schoepfer des kuenstlichen Menschen […] das sind die Pfeiler des die Sterne beruehrenden Ruhmes […].« Vilém Flusser, Der Ruhm, der die Sterne beruehrt

Als Vilém Flusser am 12. Mai 1920 in Prag am Ufer der Moldau zur Welt kommt, ist die Tschechoslowakei erst zwei Jahre alt. Wenn wir bedenken, dass diese ein Jahr nach Flussers Tod in zwei Länder aufgeteilt wird – Tschechien und die Slowakei – wird plötzlich deutlich, wie stark sein Leben mit dem Land, in dem er geboren und in dem er beerdigt wird, verflochten ist. Die Instabilität des Heimatlandes, für die Flussers eigenes Leben beredtes Zeugnis ablegt, hat dazu geführt, dass er sich eher als Prager denn als Tscheche verstanden hat. Während das Land, in dem er geboren ist, eine sehr intensive, aber kurze Geschichte hatte, weist seine Geburtsstadt eine sehr lange und reichhaltige Geschichte auf, sowohl was ihre wissenschaftliche und künstlerische Tradition angeht, als auch wegen der vielen aufeinanderfolgenden ethnischen und militärischen Konflikte. In Bodenlos spricht Flusser von der Tatsache, dass Prag eine der wenigen Städte in der Geschichte ist, die zu einer Wiege der Zivilisation wurde. »Wie jede dieser wenigen ausgezeichneten Städte stempelt Prag seine Bürger mit einer nie mehr zu verleugnenden Marke. Man kann versuchen, sich ihr zu entziehen wie Rilke, man kann sie als Schicksal auf sich nehmen wie Kafka, man kann sie zu einem Lebenszweck machen wie Neruda, aber was immer man tut, für die Welt dort draußen, außerhalb der Tore Prags, wird man immer Prager bleiben. Das Charakteristische an Prag ist dabei, daß seine Persönlichkeit alle nationalen, religiösen und sozialen Unterschiede überwindet. Ob Tscheche, Deutscher oder Jude, ob Katholik, Protestant oder Marxist, ob Bürger oder Proletarier, man ist vor allem Prager. […] Prag ist ein existentielles Klima (oder

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war es zumindest bis zum Einbruch der Nazis), und alle gesellschaftliche Schichtung mit allen ihren Spannungen entfaltet sich in diesem Klima. […] In der Zeit zwischen den Weltkriegen war Prag, um nur einige Beispiele zu nennen, das Zentrum einer von Masaryk inspirierten neuen tschechischen Kultur, es war ein Brennpunkt des jüdischen europäischen Kulturlebens, und es war ein Zentrum jener deutschen Kultur, in der sich die Tradition der Habsburger Monarchie zu neuer Blüte emportrieb. Diese drei Kulturen befruchteten einander in Kampf und Zusammenarbeit so gewaltig, daß man zu dieser Zeit in Prag Ansätze zu vielen heute herrschenden Tendenzen beobachten konnte. Man braucht dabei nur an die Prager linguistische Schule, an Kafka, an das Prager experimentelle Theater, an die Phänomenologie, an Einsteins Vorträge an der Universität und an die psychoanalytischen Experimente zu denken.« Jan Neruda (1834-1891) war ein Journalist und Schriftsteller aus Böhmen, der international berühmt wurde. Der chilenische Nobelpreisträger Pablo Neruda wählte seinen Nachnamen in Erinnerung an ihn. Die Etymologie des Stadtnamens ist umstritten. Es könnte von pražiti abgeleitet worden sein, was so viel wie Säuberung eines Waldes durch Feuer bedeutet, von prahy, Flusswirbel, aber auch von Praze, dürrer, öder, von der Sonne ausgetrockneter Ort. Darüber hinaus könnte es der ursprüngliche Name eines kleinen Hügels sein, der sich in der Nähe des Flusses befindet. Die beliebteste Version geht jedoch davon aus, dass sich der Name der Stadt auf die Moldau selbst bezieht, auf eine Furt, wo eine Überquerung des Flusses möglich ist. An dieser Stelle wurde die Stadt geboren und von hier aus breitete sie sich auf die neun umliegenden Hügel aus. Die verschiedenen Namen der Stadt weisen auf deren Berufung hin: Praha matka mĕst, Prag die Mutter aller Städte und Stovĕžatá Praha, Prag der hundert Türme. Bemerkenswert ist auch die Version, die den Namen der Stadt auf einen Flusswirbel zurückführt und damit die lange und bewegte Geschichte der Stadt hervorhebt. Der Legende nach wurde Prag im 8. Jahrhundert vom Patriarchen Čech und seiner Enkelin, der Prinzessin Libuše gegründet. Diese stieg auf einen Felsen mit Blick auf die Moldau, von wo aus sie prophetenhaft verkündete: »Ich sehe eine große Stadt, deren Ruhm die Sterne berühren wird.« Im 9. Jahrhundert wird die Prager Burg erbaut, auf Tschechisch Pražský hrad, eines der beeindruckendsten Denkmäler Prags. Einer der ersten, der die Prager Burg regiert, ist zugleich der erste Märtyrer Böhmens, König Wenzel, ein gläubiger Christ, der von seinem eigenen Bruder Boleslav auf dem Weg zur Messe getötet wird. Trotz oder gerade wegen der Machtkämpfe wird Prag bald zum politischen Herzen des Königreichs Böhmen. Von Anfang an ist die Stadt ein Modell der relativen Toleranz, wohnen hier doch zugleich Tschechen, Deutsche, Juden, Polen, Roma und Italiener. Der 1346 gewählte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Karl IV., kommt aus Prag, die dadurch zur Hauptstadt des Reiches wird. 1347 gründet er die Karls-Universität (Univerzita Karlova v Praze)

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mit der formellen Zustimmung seines Freundes und Lehrers Papst Clemens VI., der damit die Rebellion der Franziskaner-Theologen um Wilhelm von Ockham neutralisieren wollte. Im selben Jahr ließ er die Karlsbrücke mit ihren sechzehn Steinbögen erbauen.

S tadt auf der G renze Der erste Artikel, den Flusser am 28. Oktober 1961 im Suplemento Literário von O Estado de São Paulo veröffentlicht, trägt bezeichnenderweise den Titel »Praga, a cidade de Kafka« (Prag, die Stadt Kafkas). Darin fängt er den Charakter der Stadt anhand eines Paradoxes ein: »[…] etwas zugleich Heiliges und Dämonisches schwebt bis heute über der Stadt.« Prag hat die gesamte Breite der westlichen Kultur in sich aufgenommen und war nie von den großen mystischen Strömungen des europäischen Ostens abgeschnitten. Im Essay bestimmt Flusser Prag als eine Stadt auf der Grenze und als solche als Verkörperung von Grenzerfahrung schlechthin. Prag befindet sich aber nicht dazwischen, »an der Grenze zweier Kulturen«, sondern ist die Synthese von verschiedenen Kulturen, die »zu einer einzigen, eben der ›eigenen‹ aufgehoben worden« sind. Die Stadt ist Ausdruck der architektonischen Grenze zwischen Gotik und Barock. Die Einheit von Gotik und Barock, verkörpert in der gotischen Kathedrale mit dem barocken Turm, führt zu einem geistigen Klima »der disziplinierten Erhebung zu Gott, während sich die Dämonen zwischen den Türmen der Kathedrale verstecken, zum verwickelten, überheblichen Kampf des Geistes gegen sich selbst.« In Bodenlos spricht Flusser von einem »religiösen Schauder«. Prag ist eine »mystische Stadt, in der die Dialektik zwischen Gott und Teufel, die auf anderer Ebene als Widerspruch zwischen phantastischem Glauben und scharfem Denken zutage tritt, nicht nur architektonisch, sondern in zahlreichen Mythen und in den Geistern ihrer Bewohner sich abspielte. […] Alle Probleme waren dort in diese zwielichtige Atmosphäre getaucht […] und das Chiaroscuro, dieses zugleich Gotische, Barocke und Surrealistische war der Boden, in dem die Prager verwurzelt waren.« Eine weitere Grenze, die Prag mitten entzwei schneidet, ist geographischer Natur. Die Stadt liegt auf der Grenze von Ost und West. Obwohl sie im Mittelalter ein intellektuelles Zentrum war, den Protestantismus direkt aus England und noch vor Luther aufnahm und auch im 19. und 20. Jahrhundert an allen wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen teilnahm, blieb der untergründige mystische Strom des Ostens, so Flusser, durchgehend von entscheidender Bedeutung: die Hussiten, Rabbi Loew und sein Golem, die jüdischen Kabbalisten und die byzantinische Tradition. Diese Momente verdichten sich in einer Grenze, die alle anderen in sich vereint: dem Gegensatz zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Tendenzen, dem meditativ intuitivem

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und dem rational intellektuellen Denken. »Die Spannung, die sich daraus ergibt, führt zu einem Lebensstil, der durch Skeptizismus und eine verzweifelte Ironie charakterisiert ist, und einen Zynismus pflegt, der sich sowohl gegen den Intellekt wie auch gegen die Intuition wendet […].« Diese Selbstzerfleischung und dialektische Zerrissenheit ist nicht nur das Grundthema in Kafkas Werk, sondern die Disposition einer ganzen Stadt und Zivilisation. In »Auf der Suche nach Bedeutung« macht Flusser diesen unlösbaren, aber produktiven Konflikt an Kafka und Rilke als Gegensätze und zugleich unzertrennbare Brüder fest. »Sie sind auf dem Niveau der Sprache Gegensätze: Kafka, ihr Asket, und Rilke, ihr Orgiast. Kafka (wie Wittgenstein), der unbarmherzige Enthüller der Pose und der Falschheit der Sprache – mit der Absicht, den Weg der heiligen Reinheit der fundamentalen Stille der Sprache freizulegen –, und Rilke (wie Heidegger), der enthüllende Prophet des Mysteriums, das in ihr wohnt. Zwei entgegengesetzte Schönheiten, die eine läuternd, die andere berauschend. Und indessen sind sie im Grunde die gleiche Schönheit, das heißt, die der Poesie als dem Unsagbaren. Die beiden Prager reisen in zwei verschiedenen Fahrzeugen dem gleichen Ziel entgegen, das auch das meine ist.« Flussers Vision von Prag als hundertturmiger Dreivölkerstadt muss innerhalb einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Deutungstradition angesiedelt werden, die das Prag der Jahre zwischen 1890 und 1939 vereinfachend als Ort magisch mystischer Geheimnisse zelebriert, was unter anderem zur Folge hatte, dass die oft prekäre Lebenswirklichkeit der Juden und ihre marginale Stellung im sozialen Ganzen übersehen wurden. Flussers Schilderung der spannungsvollen Komplexität der Prager Kultur sprengt zwar den Rahmen dieses Deutungsmusters, seine Sicht der Lage der deutschsprechenden jüdischen Minderheit als kulturelle Vermittler muss aber als rückwirkende Idealisierung gelesen werden. Hans J. Schütz beschreibt die jüdische Kultur deutscher Prägung als eine Sprachinsel, auf der zwar eine Treibhausstimmung herrscht, deren Enklavencharakter aber nicht von der Hand zu weisen ist, eine Kultur also, die nicht so sehr vermittelnde Brücke war, wie es Flusser haben will, sondern vielmehr »dreifaches Ghetto«, wie sie Claudio Magris, das Klischee der Dreivölkerstadt ironisch umdeutend, definiert. Dieses mauerlose Ghetto im Ghetto schloss den deutschen Prager Juden innerhalb der deutschen Gemeinschaft ein, die ihrerseits in der tschechischen isoliert war. Ein Zeitgenosse spricht von einer dahinschmelzenden Eisscholle und dem Gefühl, nicht dazuzugehören, heimatlos zu sein, in der Luft zu schweben und deshalb keinen eigentlichen Wurzelgrund aufweisen zu können. Ein weiteres Motiv, das lange vor dem Niedergang Österreich-Ungarns von zentraler Bedeutung war, war die Vorstellung, am Ende einer Epoche angekommen zu sein: Bilder, denen man auch in Flussers Texten immer wieder begegnet, und die zeigen, wie stark seine Darstellung des jüdischen Prags allgemeingültigen Topoi verpflichtet ist.

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Die Karlsbrücke und die anderen Brücken, welche die Moldau überqueren, können auch als Metonymie der Stadt Prag verstanden werden, als Verbindungsglieder zwischen Osten und Westen. Vielleicht spielen auch deswegen in Flussers Werk Brücken in vielfacher Hinsicht immer wieder eine wesentliche Rolle. Im schon erwähnten Essay »Prag, die Stadt Kafkas« spricht Flusser von den krummen Straßen, die bergauf rennen, sich dem Schloss entgegenschlängeln oder sich in die entgegengesetzte Richtung wenden, bergab verlaufen und auf dem Hauptplatz der Altstadt münden. »Der Fluß, mit seinem majestätischen ›S‹, bildet die Trennung zwischen den beiden Polen.« Die Struktur der Stadt lebt von einer binären Opposition, die sich auf allen Ebenen reproduziert. Verbunden damit ist eine Erfahrung der Trennung, die nach einer Vermittlung verlangt. »Die modernen Brücken, die den Fluß überqueren«, schreibt weiter Flusser, »sind unauthentische Versuche, die Spannung zu negieren oder zu verringern. Es sind Fluchtwege. Nur eine nicht, die Karlsbrücke, […] das unmögliche und doch verwirklichte Bindeglied zwischen Schloß und Kirche, Berg und Tal, König und Bürger, Überheblichkeit und Bescheidenheit […], Himmel und Erde […].«

P r ager J uden und K e t zer Die immerwährenden Konflikte zwischen Tschechen, Slowaken, Deutschen und Juden bestimmen die Geschichte der Stadt. Schon anfangs des 12. Jahrhunderts werden die Juden verfolgt und der Zwangstaufe unterzogen. Durch Erlässe unter Soběslav II. und Ottokar II. Přemysl (1253-1278) werden den Juden erste Bürgerrechte zugesprochen. Es ist verboten, Juden zu schlagen oder gar zu ermorden und die Zerstörung von Gräbern und Synagogen wird bestraft. Im Laufe des 14. Jahrhunderts werden die traditionellen monetären Aktivitäten der Juden durch die wachsende Konkurrenz von christlichen Kontrahenten zusehends eingeschränkt. Die Kirche propagiert die Lehre, dass den Juden als symbolische Buße für ihre Rolle in der Kreuzigung Jesu nur eine dienende Rolle zugestanden werden kann. Nach und nach werden die Juden in ihre Ghettos eingeschlossen, zuerst durch die horrenden Mieten und dann immer häufiger durch offene Aggression. Von 1310 bis 1346 beginnt unter der Schreckensherrschaft von König Johann von Böhmen für die Juden eine äußerst schmerzhafte Zeit. 1336 lässt er jüdische Einrichtungen plündern und Juden einsperren, die sich nur durch ein hohes Lösegeld wieder freikaufen können. Zur Zeit der Pestpogrome zwischen 1348 bis 1351 werden in einigen Städten Mitteleuropas Juden in ihren Holzhäusern bei lebendigem Leib verbrannt. Unter Karl IV. (1316-1378) genießen die Juden wieder einen gewissen Schutz. Sie müssen aber in der Öffentlichkeit einen Judenhut tragen. 1369 findet in Prag ein schwerer Pogrom statt. Karl IV. greift ein. Dabei geht es aber nicht so

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sehr darum, die Sicherheit der tschechischen Juden zu gewähren, sondern den Schutz ihres Hab und Guts sicherzustellen, das in solchen Fällen automatisch den Besitztümern des Königs zugeschlagen wird. Für den Gründer der KarlsUniversität sind Angriffe auf Juden als Ausdruck des Willen Gottes zu verstehen. Zu Ostern 1389, zur Zeit der Herrschaft Wenzels IV., geben die Mitglieder des Prager Klerus bekannt, dass die Juden die Hostie der Eucharistie geschändet hätten, und rufen eine entfesselte Menschenmenge dazu auf, das jüdische Viertel zu plündern und niederzubrennen. Der Anführer des Mobs, ein Mann namens Jesko, behauptet, dass es besser sei, die Juden selbst zu töten, als sie von Gott bestrafen zu lassen. Die Synagogen werden inmitten der Schreie ›Rettet das Gold‹ zerstört. Dreitausend Menschen, fast die gesamte jüdische Bevölkerung von Prag, einschließlich der Alten, Frauen und Kinder, sterben in den Kämpfen, ein Vorgeschmack auf den Völkermord, den die Deutschen im 20. Jahrhundert durchführen werden. Prag ist eine Stadt, die immer wieder mit Episoden der Ketzerei in Verbindung gebracht wurde. Eine Dimension, die in Flussers Denken eine wichtige Rolle spielt. So stürmten am 30. Juli 1419 Anhänger des vier Jahre zuvor beim Konzil von Konstanz auf dem Scheiterhaufen als Ketzer hingerichteten Jan Hus das Neustädter Rathaus am Karlsplatz. Die Hussiten wollten ihre dort gefangenen Glaubensgenossen befreien, dabei wurden zehn Personen, unter ihnen der Bürgermeister, zwei Ratsherren und der Stellvertreter des Richters, aus dem Fenster geworfen und mit Hiebwaffen getötet. Innerhalb des europäischen Kontexts der Zeit galt das gesamte tschechische Volk als ketzerisch, obwohl Papst Pius II. im 15. Jahrhundert lobend darauf hinwies, dass sogar ihre Frauen eine bessere Kenntnis der Schrift hatten als die italienischen Bischöfe. Wenn wir in Betracht ziehen, dass die Etymologie des Wortes Ketzerei nicht falsches Denken, sondern anderes Denken bedeutet, wird deutlich wie sehr der Geschmack für das stete Lernen und die Suche nach einer universellen Alphabetisierung die Tschechen zu logischen Kandidaten für ketzerisches, das heißt eigenständiges Denken, machte. Es überrascht somit nicht, dass der mährische Philosoph, Theologe, Pädagoge und Bischof Jan Ámos Komensky, auf Lateinisch Johann Amos Comenius (1592-1670) als Vater der modernen Bildung betrachtet wird. Schon in seinem ersten 1623 veröffentlichten Buch, betont er die Notwendigkeit einer allgemeinen Alphabetisierung und die Vorstellung lebenslangen Lernens. Er verlangt den Schulzugang für Frauen und arme Kinder sowie das Lesen von Texten in der Muttersprache der Schüler. Am 23. Mai 1618 findet der zweite Fenstersturz statt, der zugleich zu einem Wendepunkt der europäischen Geschichte wird und den Beginn des Dreißigjährigen Krieges markiert. Die Vertreter der protestantischen Stände, verärgert durch die deutschsprachigen katholischen Politiker, stürmen die Burg und werfen die beiden königlichen Statthalter Jaroslav Borsita Graf von

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Martinitz und Wilhelm Slavata sowie den Kanzleisekretär Philipp Fabricius aus dem Fenster des mehrere Stockwerke hohen Regierungsgebäudes. Die Bürokraten landen auf einem Misthaufen und überleben den Sturz, was die Katholiken einem göttlichen Wunder Gottes zuschreiben. Die religiöse Konfrontation führt am 8. November 1620 zur Schlacht am Weißen Berg, der von den Tschechen als nationale Schande betrachtet wird: Die Katholiken gewinnen und mehr als zweitausend Tote bleiben auf dem Schlachtfeld zurück. Die Tschechen überleben zwar als Volk, verlieren aber ihre Rechte und vor allem ihre Sprache. Das Zentrum des politischen, sozialen und kulturellen Lebens verschiebt sich von Prag nach Wien. Jan Komensky und andere Denker sehen sich gezwungen, zu fliehen und ins Exil zu gehen. 1622 übernehmen die Jesuiten die Karls-Universität. Diese zugleich katholische und deutschsprachige Vorherrschaft endet im späten 18. Jahrhundert. 1784 unter der Herrschaft von Joseph II. werden die Bezirke Malá Strana, Nové Mesto, Nove Mesto und Hradschin, wo sich die Prager Burg befindet, zusammengeführt. Der Kaiser versucht, die jüdische Gemeinschaft Böhmens, weltweit die größte ihrer Art, einzubürgern. Die Beschäftigungsbeschränkungen und die Sondersteuern werden abgeschafft, Deutsch wird als Bildungssprache eingeführt. Um die Stadt vor möglichen Feinden aus dem Norden zu schützen, wird die achtseitige Festung Theresien, auf Tschechisch Terezín, gebaut, wo die Nazis in den frühen 1940er Jahren das KZ Theresienstadt errichten werden.

D as moderne P r ag Prag ist immer wieder als Inbegriff des Mythischen, Mystischen, Geheimnisvollen, Irrationalen und Bedrohlichen präsentiert worden. Schriftsteller wie Franz Werfel, Leo Perutz und der schon erwähnte Gustav Meyrink haben das ihrige dazu beigetragen. Spuren von dieser Vorstellung finden sich auch bei Vilém Flusser. Dabei erlebt die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und besonders nach der Gründung der ersten Republik 1918 einen markanten Modernisierungsschub. In Vilém Flusser (1920-1991). Phänomenologie der Kommunikation erwähnt Andreas Ströhl den tschechischen Erfinder und Industriellen František Křížik (1847-1941), der eine elektrische Straßenbahn entwickelt, mit der Kafka noch über die Karlsbrücke fährt. Zudem installiert er am Moldauufer die weltweit erste Kohlenbogenlampe. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch die einzigartige kubistische Architektur der Stadt. 1910 gründen Pavel Janák, Josef Chochol, Josef Gočár und Vlatislav Hofmann die Skupina výtarných umělců (Gruppe bildender Künstler), die das malerische Programm Picassos und Braques ins Architektonische übersetzen.

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Wie Ströhl festhält, ist das Prag der Nachkriegszeit »vom Glauben an Wissenschaft und Fortschritt« beseelt und die Tschechoslowakei eines »der wirtschaftlich erfolgreichsten und technisch am weitesten entwickelten Länder der Welt.« So lässt Masaryk, der erste Staatspräsident der Tschechoslowakei, »seinen Amtssitz auf dem Hradschin durch den bedeutenden slowenischen Architekten Jože Plečnik modernisieren. […].« Der enge Zusammenhang zwischen Philosophie, Kunst und Technik, der für Flussers Denken bezeichnend ist, hat in Prag Tradition: 1920, im Geburtsjahr Flussers, schreibt der Künstler Zdenĕk Pešánek das wegweisende, bald jedoch vergriffene und verschollene Buch Kinetismus, »das Tendenzen aufgreift, wie sie von László Moholy-Nagy initiiert, später von Jean Tinguely, Daniel Spoerri und anderen weiterentwickelt und schließlich in Videokunst, Cyberspace und Hypertext ungeahnten technischen Möglichkeiten zugeführt wurden. Die lichtkinetischen Skulpturen, die Pešánek in den dreißiger Jahren baut, setzen dem Glauben an die Allmacht der Elektrizität strahlende Denkmäler […].« Mit dem Beginn der industriellen Revolution wächst die Bevölkerung Prags exponentiell. Mitte des 19. Jahrhunderts ist die deutschsprechende Bevölkerung noch in der Mehrheit, um 1880 aber stellt sie nur noch 14 Prozent und 1910 weniger als 7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Veränderung ist auf den starken Zufluss von tschechisch sprechenden Bevölkerungsteilen aus den ländlichen Gegenden Böhmens zurückzuführen. Parallel dazu nimmt auch die Bedeutung der tschechischen Sprache zu. Ab 1891 werden mit Ausnahme der deutschen Personennamen alle Straßenschilder und Denkmäler durch tschechische Namen ersetzt. 1897 erlässt Graf Kasimir Felix von Badeni (1846-1909) eine Sprachverordnung, die verlangt, dass am Arbeitsplatz die tschechische und deutsche Sprache gleichermaßen von Beamten verwendet werden. Dies zwingt die öffentlichen Beamten deutscher Herkunft, Tschechisch zu lernen, was diese als besonders erniedrigend empfanden. Das neue Nationalgefühl entfaltet sich zusehends. Teil des neuen Nationalstolzes ist auch der neu gegründete tschechische Gymnastikverein, Sokol (Falke) und die von Bedřich Smetana (18241884) in den Jahren 1869 bis 1872 komponierte Oper Libuše. Das ursprünglich von Josef Wenzig auf Deutsch verfasste Libretto wurde von Ervín Špindler ins Tschechische übersetzt und die Oper am 11. Juni 1881 in Prag zur Eröffnung des neuen Nationaltheaters, Národní divadlo, uraufgeführt. Der tschechische Ableger der nationalistisch inspirierten Turnbewegung Sokol, entstand am 2. Februar 1862 und entwickelte sich zu einem wesentlichen Bestandteil der tschechischen Nationalbewegung. 1900 stammen 80  Prozent der gesamten Industrieproduktion der österreichisch-ungarischen Monarchie aus den böhmischen Ländern. Die Alphabetisierungsrate liegt bei 96 Prozent, doppelt so hoch wie in Ungarn und deutlich höher als in den deutschsprachigen Teilen des Imperiums. Deutsche und Juden bilden zusammen die dominierende soziale Schicht. Für die Juden ist

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Deutsch die Sprache der Bildung und der Kultur. Das Tschechische hingegen wird als Sprache des Volkes wahrgenommen, was wiederum die Ressentiments der Tschechen gegenüber den Juden und den Deutschen verstärkt. Dies erklärt zum Teil die Gleichgültigkeit der meisten Tschechen, als die Deutschen 1939 das Land besetzten und damit anfingen, die Juden wie lästige Fliegen zu töten. Prag zieht junge erfolgreiche Wissenschaftler an, unter ihnen den österreichischen Mathematiker und Physiker Christian Doppler (1803-1853) – bekannt geworden durch den nach ihm benannten Doppler-Effekt –, der ab 1841 an der Tschechisches Technischen Universität Prag tätig ist. Der in Mähren geborene österreichische Physiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach (1838-1916) beginnt seine Lehrtätigkeit an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag im Wintersemester 1867/68. Unter seinen Studenten ist der in Böhmen geborene jüdische Schriftsteller, Essayist und Philosoph Fritz Mauthner (18491923), auf dessen zentrale Bedeutung für Vilém Flusser Ströhl hingewiesen hat. Mit sechs Jahren zieht Mauthner nach Prag, wo er bis 1892 lebt. Dann siedelt er mit der Familie nach Berlin über. 1905 zieht er nach Freiburg i.Br., wo er ein Jahr später Martin Buber kennenlernt, mit dem er in der Folge auch zusammenarbeitet. Mauthner debütiert als literarischer Autor und Publizist. Er schreibt Lyrik, Dramen, Novellen, Feuilletons und zwischen 1882 und 1897 insgesamt 12 Romane. Zudem verfasst er Bücher zu Aristoteles, Schopenhauer und Spinoza. Nach der Übersiedlung nach Berlin beginnt er mit der Niederschrift des dreibändigen philosophischen Werks Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901-1902), das Flusser in der Bibliographie zum ersten Kapitel von Língua e realidade (Sprache und Wirklichkeit, 1963) erwähnt. Darin betont Mauthner, wie nach ihm Flusser, die Bildhaftigkeit der Sprache. Sprache repräsentiert nicht die Wirklichkeit, ist somit nicht simples Abbild, sondern hat immer mit Konstruktion und Abstraktion zu tun. Der erste Band des vierbändigen Werks Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920-1923) enthält neben einer Geschichte Gottes auch einen Teil, der später separat als Die Geschichte des Teufels publiziert wird. Das letzte Kapitel trägt den Titel »Der Teufel als Fiktion«. 1965 publiziert Flusser A história do Diabo. Die deutsche Version, Die Geschichte des Teufels, erscheint posthum 1993. Ströhl verweist auf eine Passage in Mauthners Werk, die Flusser zur Niederschrift seines 1987 zuerst publizierten fiktiven Traktats Vampyroteuthis infernalis, in dem er die Evolution des Menschen mit derjenigen eines diabolischen Kopffüßers kurzschaltet, mitinspiriert haben könnte. In einem Abschnitt zur Menschwerdung des Menschen aus Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache ist die Rede vom Geistesleben einer Qualle. Mauthners schriftstellerische und zugleich philosophische Tätigkeit könnten Flusser in seiner hybriden Schreibweise auf der Grenze der Diskurse angeregt haben. Auch Flusser debütiert als Dichter und Dramaturg und wendet sich dann der Philosophie zu. Noch in den 1960er

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Jahren verfasst er Até a terceira e quarta geração (Bis ins dritte und vierte Geschlecht) – von dem auch 76 Seiten in einer deutschen Selbstübersetzung vorliegen –, ein historisch philosophisches Werk mit starkem literarischen Einschlag. Eine absolut zentrale Figur in der kulturellen, sozialen und politischen Erneuerung Prags ist der tschechische Philosoph, Schriftsteller und Politiker Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937), Katholik und deklarierter Gegner des Antisemitismus. In einem Gespräch mit dem Freund und Schriftsteller Karel Čapek (1890-1938) erweist sich Masaryk als schüchterner Mensch, der das Rampenlicht scheut. Trotz oder gerade deswegen ist er wohl zum größten Führer in der Geschichte seines Landes geworden. Masaryk, der aus einfachen Verhältnissen stammt, wird in der südmährischen Stadt Hodonín geboren, die ungefähr 50 Kilometer südlich von Brünn liegt und wächst in einem mehrsprachigen Milieu auf. Der Vater kommt aus der Slowakei, die Mutter, eine Bauerntochter und Köchin, stammt aus Auspitz. Masaryk hat sie später als Deutsche und Mährerin und sich selbst als Tschechen, Mährer oder Slowaken bezeichnet. Trotz seines einfachen Hintergrunds besucht er ein deutsches Gymnasium in Brünn und geht später in Wien zur Schule. Er ist ein ausgezeichneter Schüler und unersättlicher Leser. Von 1872 bis 1876 studiert er Philosophie in Wien und Leipzig, wo er Edmund Husserl kennenlernt. 1878 habilitiert er mit der Schrift Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation, die Vilém Flussers Vater Gustav ins Deutsche übersetzt. 1879 wird er Dozent in Wien und 1897 ordentlicher Professor in Prag. Im März 1878 heiratet er die amerikanische Musikerin Charlotte Garrigue und behält deren Namen als Zeichen des Respekts, eine Seltenheit in dieser Zeit. Zusammen haben sie vier Kinder: Alice, Herbert, Olga und Jan. 1882 hält er in Prag seinen ersten Vortrag über Hume und den Skeptizismus. Er schätzt den Patriotismus, betont dabei aber, dass die Liebe für die eigene Heimat nie zum Hass auf andere führen darf. Rassenreinheit ist weder möglich noch wünschenswert. Er verlangt eine Religion ohne die Zwangsjacke der Kirche, eine soziale Revolution ohne die Exzesse des Bolschewismus und den Nationalismus ohne jeden Fanatismus. Konservative in Wissenschaft und Politik identifizieren ihn bald als gefährlichen Gegner. Im Juni 1914 löst die Ermordung eines Erzherzogs einen Weltkrieg aus. Am 2. August 1914 schreibt Franz Kafka in sein Tagebuch: »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Am Nachmittag Schwimmschule.« In Prag wird Masaryk von der Polizei gesucht. Es gelingt ihm aber noch im Dezember desselben Jahres, zusammen mit der Tochter Olga nach Italien zu fliehen. Vier Jahre lang ist er unterwegs von Paris nach London, Moskau und Washington, um die zukünftige Republik seiner Träume zustande zu bringen.

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G olem , R oboter und M olche Zur gleichen Zeit schreibt der österreichische Schriftsteller Gustav Meyrink (1868-1932) in Prag den Roman Der Golem, der zuerst 1913 und 1914 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Die Weißen Blätter erscheint und dann 1915 in Buchform veröffentlicht wird. Darin nimmt Meyrink eine alte jüdische Legende aus dem 16. Jahrhundert wieder auf. Rabbi Judah Löw spielt Gott und schafft Mithilfe eines Zauberwortes einen Golem, auf Hebräisch ›formlose Masse‹, ein gigantisches mythisches Wesen. Der erste Golem wurde erschaffen, um das Ghetto von Josefov in Prag gegen die Angriffe der Antisemiten zu verteidigen. Aus dem Lehm der Moldau schafft Löw eine menschenähnliche Figur, auf deren Stirn er das Wort emeth einritzt, was auf Hebräisch ›Wahrheit‹ bedeutet. Der Golem muss dem Rabbi bedingungslos gehorchen. Allerdings wächst das Wesen und beginnt bald, Menschen zu töten, und nicht nur diejenigen, die die Juden bedrohen. Der Gewalt ist nur dadurch ein Ende zu setzten, dass man den Golem zerstört. Um dies zu bewerkstelligen, entfernt der Rabbi den ersten Buchstaben von der Stirn des Golems, so dass aus emeth das Wort meth wird, was auf Hebräisch ›tot‹ bedeutet. Die Legende des Golems erinnert an die Geschichte Frankensteins, den modernen Prometheus, den die englische Schriftstellerin Mary Shelley zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschafft. Die Ähnlichkeit ist so groß, dass viele den Golem als jüdischen Frankenstein verstehen. Gustav Meyrinks Geschichte vom Golem lässt, wie einige von Kafkas albtraumartigen Erzählungen, den kommenden Nazi-Terror erahnen, sein Golem erscheint nie, außer als quälender Schatten, der die in einer absurden Maschinerie gefangenen Figuren in Panik versetzt. Dies ist der Terror, der sich selbst erzeugt, das Grauen des Nicht-Seins, das man nicht begreifen kann, das keine Form besitzt und am Rande unserer Gedanken sein Dasein fristet. Die Nazis werden versuchen, die Juden und die Slawen zu vernichten, zuerst deren Seele, dann ihr Sein und zuletzt ihre Körper. Dies wird vor allem in den Juden, wie Meyrink in seinem Roman festhält, ein dumpfes Gefühl verankern, die instinktive Angst der eigenen Rasse, die Furcht zu sterben, bevor man eine schon vergessene Mission erfüllt hat, deren Erinnerung auf mysteriöse Art und Weise in einem weiterlebt. Eine weitere vergleichbare Legende erzählt das 1920 publizierte utopistische Drama des Tschechen Karel Čapek R.U.R. – Rossum’s Universal Robots, das am 25. Januar 1921 im Nationaltheater uraufgeführt wird. Das Wort ›Robot‹ ist ein Neologismus, der vom tschechischen robota, Schinderei, Zwangsarbeit abgeleitet ist. Der Titel des Dramas ist der Name einer amerikanischen Firma, die humanoide Arbeitskräfte herstellt und damit die ganze Welt beliefert. Dank dieser Roboter soll die von Arbeit und Verantwortung befreite Menschheit sich endlich dem Spiel und der Kreativität zuwenden können. Die Roboter aber be-

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ginnen mit der Zeit menschliche Verhaltensweisen nachzuahmen und deklarieren der Menschheit bald schon den Krieg. Nur ein einziger Mensch wird am Leben gelassen, damit er das verlorengegangene Geheimnis der Herstellung der Roboter wiederfinden kann. Wie in der Legende des Golems verwandeln sich somit die zum Dienen erschaffenen robotischen Sklaven in destruktive Despoten und auch hier ist es eine geheime Schrift, in diesem Falle eine chemische Formel, die ihre Existenz zugleich ermöglicht und bedroht. Denn die Roboter können zwar vieles, aber nicht sich selbst erschaffen und sind daher aufgrund ihrer befristeten Lebenserwartung dazu verdammt, restlos auszusterben. Das Motiv einer durch einen Text angeleiteten Maschine und deren ambivalente soziale Bedeutung tauchen in Flussers späteren Vorstellungen wieder auf, zum Beispiel im Technobild, dem durch Algorithmen gesteuerten Computer und der Vorstellung einer telematischen Gesellschaft der Zukunft. Auch hier bleibt Technik höchst ambivalent, kann sie doch den Menschen von Arbeit befreien und zugleich in eine neue Knechtschaft überführen. Karel Čapek verband seine Roboter explizit mit anderen künstlichen Geschöpfen, wie zum Beispiel dem Prager Golem. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang wäre auch noch der 1924 von Karel Čapeks Bruder Josef Čapek (1887-1945) verfasste Essay »Homo Artefactus«, der auf satirische Art und Weise die Schriften seines Bruders Revue passieren lässt. Josef Čapek ist einer der ersten, der die neue Wortschöpfung »Automat« in seinem Werk verwendet. Die Čapek-Brüder entwickeln in ihren Texten verschiedene andere künstliche Systeme. In der gemeinsam verfassten Kurzgeschichte L’eventail (1908) wird auch der Schweizer Uhrmacher Pierre Jaquet-Droz (1721-1790) eingeführt, der Ende des 18. Jahrhunderts drei Androiden, das heißt mechanische Puppen, der Öffentlichkeit vorstellte, einen Schreiber, einen Zeichner und eine Organistin. Das Wort Automat spielt in Flussers Leben noch eine weitere Rolle. So gründet sein zukünftiger Schwiegervater Gustav Barth in Prag das Schnellessrestaurant Automat Koruna, das erste Selbstbedienungslokal in der damaligen Tschechoslowakei. Der Roboter ist der moderne Golem und in gewisser Hinsicht auch eine mögliche Quelle von Flussers Apparat-Begriff, bei dem ebenfalls eine manipulierbare textuelle Botschaft, das heißt ein Algorithmus, hinter der Erscheinungsform lauert. Die Ambivalenz technischer Errungenschaften klingt schon im Titel von Čapeks Drama an. Das tschechische Wort rozum bedeutet Vernunft. Diese Vernunft jedoch, welche die Roboter erschaffen hat, und der Verstand der Roboter selbst, basieren auf Zerstörungslust und Herrschsucht. Die Roboter agieren mit kalter, gezielter Rationalität und gleichen darin aufs Haar ihren Erfindern. Jeder Krieg, der den Frieden sucht, ist eine Art von Golem, ein zerstörerischer Golem, der sich bald jeder Kontrolle entzieht. Der Nazismus, der schlechteste aller möglichen Golems, wird sich zuerst gegen die Juden wenden, bevor er eine gesamte deutsche Generation vernichtet. Ab-

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schließend möchten wir noch auf zwei weitere bedeutsame Momente aus dem Prager Umfeld des frühen 20. Jahrhunderts hinweisen. Im November 1916 mietet Franz Kafka ein Haus an der Zlatá ulička 22, um sich dorthin fürs Schreiben zurückziehen zu können. Diese Straße, bekannt als das Goldene Gässchen, die Straße der Alchemisten oder die Straße der Goldschmiede befindet sich mitten in der Prager Burg. Die Häuser sind hier so klein, dass man mit ausgestrecktem Arm die Decke berühren kann. Das kleine Dorf wurde im 16. Jahrhundert gebaut und ist bis heute mit all seinen Häusern erhalten geblieben. Hier, wie Meyrink in seinem Roman festhält, haben die Alchemisten den Stein der Weisen gesucht und die Mondstrahlen vergiftet. Kafkas Freund, Max Brod, beschreibt den Ort als Kloster eines jeden echten Schriftstellers. In Flussers Werk tauchen Hinweise auf die alchemistische Tradition an verschiedenen Stellen auf. Meist sind sie dabei mit der Verdauungsmetapher verbunden, auf die wir in Zusammenhang mit der brasilianischen Anthropophagie zurückkommen werden. Zwei Beispiele sollen hier fürs erste genügen. Flussers mehrsprachige Schreibpraxis ist ein alchimistischer Prozess der fortschreitenden Läuterung, in dessen Verlauf der Gehalt von einem Gefäß ins andere umgeschüttet wird, bis er von allen Schlacken gereinigt ist. Die durch die Erfahrung des Nazismus kontaminierte deutsche Sprache wird durch sukzessive Übersetzungen in eine Art Metadeutsch verwandelt, das sich seiner Verunstaltungen entledigt und die Einflüsse aller anderen Sprachen in sich aufgenommen hat. Im Essay »Retradução enquanto método de trabalho« (Rückübersetzung als Arbeitsmethode), den er wahrscheinlich in den 1980er Jahren in Frankreich verfasst, schreibt er dazu: »Ganz sicher besitzt Deutsch einen privilegierten Platz unter den Sprachen, die mir zur Verfügung stehen, da es die Sprache ist, in der ich mich mit meiner Frau unterhalte, meine Jugendgedichte verfaßt habe und in der ich wahrscheinlich auch träume. Aber das Verhältnis zur deutschen Sprache ist durch die Erfahrung mit dem Nazismus kontaminiert und durch den Ekel, den ich gegenüber dem momentan verwendeten Deutsch empfinde, das mir sowohl durch Überreste des Nazijargons wie durch die schlecht verdaute Assimilation von Anglizismen barbarisiert erscheint.« Das zweite Beispiel stammt aus der Welt des Vampyroteuthis infernalis. Der gesamte Körper des intelligenten Kopffüßers ist im Gegensatz zum Menschen, der aus einer Reihe von Symmetrien besteht, bis in alle Einzelheiten hinein Ausdruck eines sich um die eigene Achse Windens. In seinem Magen findet sich passenderweise »ein spiralisches Kristallorgan […] das ›Coecum‹, das Enzyme ausscheidet und in Struktur und Funktion an die goldpräzipitierenden Retorten der Alchimisten erinnert.« Karel Čapek hat außer dem schon erwähnten Roboter-Drama 1936 einen satirischen Science-Fiction-Roman unter dem Titel Der Krieg mit den Molchen veröffentlicht. Wie schon in der wissenschaftlichen Fabel R.U.R. geht es auch

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hier vor allem um eine Kritik der modernen industriellen Gesellschaft und der Vorstellung eines unproblematischen, kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschrittes, der im Grunde genommen auf Krieg und Verwüstung aus ist. Der Roman erzählt von der Entdeckung intelligenter Molche an den Küsten von Sumatra. Daraus wird bald schon ein lukratives Geschäft. Die in Gefangenschaft lebenden Molche vermehren sich rapid und sind bald überall auf der Welt anzutreffen. Vom Menschen haben sie nicht nur die Sprachen und die Technik erlernt, sondern auch die nationalistische Gesinnung und die zerstörerische Grundtendenz, was unweigerlich zu einem Krieg mit diesen führen muss. So wie der Golem und der Roboter Frühformen von Flussers ApparatBegriff darstellen, ist der Molch ein Vorahne des Vampyroteuthis infernalis.

D as vorzeitige E nde eines E xperiments Am 28. Oktober 1918, nur wenige Tage vor dem offiziellen Ende des Krieges, wird die Republik der Tschechoslowakei mit Prag als Hauptstadt gegründet. Peter Demetz beschreibt diesen Tag als einen Tag großer Freude und großer Illusionen. Man singt die neue Nationalhymne Kde domov můj, Wo meine Heimat ist, die im frühen 19. Jahrhundert von František Škroup für ein Theaterstück komponiert wurde. Ende 1918 wird Masaryk zum ersten Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt. Auf der Pariser Friedenskonferenz im Februar 1919 legen Masaryk und sein Außenminister Eduard Beneš die Landesgrenzen fest. Die Verfassung von 1920 garantiert Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und das Frauenwahlrecht – sechs Monate vor den Vereinigten Staaten. Masaryk fördert die Bildung in jeder Hinsicht, von den frühen Jahren bis zur Universität. Flusser wird am 12. Mai 1920 mitten in die turbulenten Auseinandersetzungen zwischen Tschechen, Deutschen und Juden hineingeboren. Die erste Verfassung tritt ein paar Monate früher, im Februar 1920, in Kraft. Franz Kafka stirbt am 3. Juni 1924 an Tuberkulose. Flusser ist vierjährig. In den letzten Tagen unter schrecklichen Schmerzen leidend schickt Kafka seinem Arzt eine typisch kafkaeske (und zugleich jüdische) Botschaft auf einem Zettel: »Töten Sie mich, sonst werden Sie zu meinem Mörder.« Er wird im Neuen Jüdischen Friedhof in Prag Želivského begraben. Auf seinem Grabstein werden nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Namen seiner drei jüngeren Schwestern eingetragen, Elli, Valli und Ottla, die von den Nazis in drei aufeinander folgenden Jahren ermordet wurden: 1941, 1942 und 1943. Hier liegen auch die anderen Zeugen einer verlorenen Welt, die Gräber der bedeutsamsten Vertreter von Prags intellektuellem Leben: die Schriftsteller Ota Pavel und Oskar Baum, der Maler Max Horb und der Philosoph Vilém Flusser, dessen gemeinsames Grab mit Edith Flusser nur wenige Meter von dem Kafkas entfernt ist.

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Die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen sind eine anregende Zeit für Künstler und Intellektuelle. Im Unionka Kavarna, dem Café Union, treffen sich Karel und Josef Čapek, Franz Kafka, Max Brod und die tschechische Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin Milena Jesenská (1896-1944), die im KZ Ravensbrück ermordet wurde. Im Kavárna Národní, dem National Café, versammeln sich die Mitglieder des Linguistischen Kreises von Prag, Jan Mukařovský, Vilém Mathesius, Roman Jakobson und der junge René Wellek. Zu erwähnen sind noch das Café Arco, das einen Snooker-Saloon besitzt, und das Jugendstilcafé Louvre, Zentrum des Brentano-Kreises. Hier hätten sich Sigmund Freud, Franz Kafka oder Vilém Flussers Vater Gustav treffen können. Die Tschechoslowakei erweist sich als wirtschaftlicher und politischer Erfolg. 1930 wird das Land zur zehnten Macht der industrialisierten Welt. Tschechische Marken wie Škoda, Plzeňský Prazdroj und Bat’a werden international bekannt. Die Tschechen genießen einen guten Ruf im Bereich des Völkerrechts, der Abrüstung und des Friedens. Masaryk hätte zu Europas erstem Präsidenten werden können, wenn es damals so etwas wie dieses Amt gegeben hätte. Für eine kurze, aber spannende Zeit wird Prag zur europäischen Hauptstadt des Humanismus. Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler Kanzler. 1935 verzichtet der inzwischen 85-jährige Masaryk auf die Präsidentschaft und bestimmt Eduard Beneš als seinen Nachfolger. Er stirbt am 14. September 1937. Am 21. findet seine Beerdigung statt. In Europa machen sich die neuen Kräfte des Blutes und der kollektiven Instinkte breit, schreibt Karel Čapek. Masaryk habe sowohl in seinen Worten als auch in seinem Handeln den stärksten Widerstand gegen die neuen Bedrohungen verkörpert. Er stehe für den klassischen Individualismus, den wir aus der Antike geerbt haben, die nüchterne Vernunft im Umgang mit der Welt und vor allem für ein urchristliches Ideal der Moral, welches die Liebe für alle Mitbürger und alle anderen Menschen predige. Diese Werte stehen auch im Mittelpunkt von Vilém Flussers Denken. Hinzufügen müsste man noch ein unbändiges Streben nach individueller und intellektueller Freiheit. Unter dem Druck der Ereignisse beginnt Beneš, Deutschland und dem Führer ein Zugeständnis nach dem anderen zu machen. Am 12. März 1938 dringen deutsche Truppen, ohne auf Widerstand zu stoßen, in Österreich ein. Hitler verkündet den Anschluss. Österreich kehrt in den Schoss des Deutschen Reiches zurück. In Wien wird die Ankunft des Führers frenetisch gefeiert, während die ersten systematischen Pogrome gegen die Juden beginnen. Die Tschechoslowakei ist umzingelt. Am Tage der Österreich-Invasion wirft ein Flugzeug der Luftwaffe an der tschechischen Grenze Tausende von Flugblättern ab, mit dem Satz »Sagen Sie in Prag, Hitler lässt Sie grüßen.« Der Sohn Masaryks, der Botschafter in Großbritannien ist, wird von westlichen Politikern beschwichtigt. Die Nazis würden es nie wagen, die Tschechoslowakei zu überfallen, so wie sie es mit Österreich gemacht haben. Konrad Henlein,

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der 1933 die Sudetendeutsche Heimatfront gründet, knüpft enge Kontakte zur NSDAP und forciert 1938 in Absprache mit Adolf Hitler die Sudetenkrise. Er stellt Forderungen, die Beneš unmöglich akzeptieren kann, und liefert damit den nötigen Vorwand für eine militärische Invasion. Die Radiosendungen der Nazis verbreiten hasserfüllte Fake News: Die Tschechen sollen versucht haben, führende deutsche Unternehmen im Sudetenland in den Bankrott zu treiben. Am 1. Oktober 1938 dringen die deutschen Truppen in den Norden von Böhmen ein. Die tschechischen Streitkräfte wollen kämpfen, aber Beneš verhindert dies, um eine Katastrophe zu vermeiden. Das Sudetenland wird noch im gleichen Monat in das Deutsche Reich einverleibt. Henlein amtiert als Gauleiter und Reichsstatthalter. Die gesamte Rüstungsindustrie und das gesamte Kriegsgerät werden schrittweise von den Nazis übernommen. Am 5. Oktober übergibt Eduard Beneš sein Amt dem früheren Richter Emil Hácha, der vergeblich versucht, die Deutschen zu beschwichtigen und die nationale Unabhängigkeit zu bewahren. Im März 1939 wird er dazu gezwungen, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem die deutsche Besetzung faktisch akzeptiert wird. Hácha zögert, aber Göring droht damit, Prag völlig zu zerstören. Hácha fällt daraufhin in Ohnmacht. Hitlers Leibarzt bringt ihn wieder zu sich. Er unterzeichnet den Brief, völlig gedemütigt. Am Morgen des 15. März 1939 dringen die deutschen Truppen in Prag ein. Es schneit heftig. Am nächsten Tag verkündet Joachim von Ribbentrop in den wichtigsten Radiosendern des Landes, dass die Tschechoslowakei nicht mehr existiert. Innerhalb von wenigen Tagen ist das Hakenkreuz überall in der Stadt zu sehen. Die slawischen Straßenschilder werden durch deutsche ersetzt. Tausende werden verhaftet. Viele andere verstecken sich, wo sie können. Frauen und Kinder fliehen verzweifelt in die nahe gelegenen schneebedeckten Wälder.

Familie und Flucht

»Aber das ist die jüngste Geschichte […]. Was Sie interessiert, endet im Jahre 1944, dem Jahr der Ausrottung meiner Familie …« Vilém Flusser in einem Brief an Joseph Fränkl

In einem längeren Brief an Dr. Joseph Fränkl vom 16. Mai 1976, den Flusser aus Peypin-d’Aigues in der Provence schreibt und der im Sammelband Jude sein enthalten ist, geht er detailliert und ausführlich auf seine Herkunft ein. Der Name ›Flusser‹ gehe auf eine in Rakovník (deutsch Rakonitz) seit Menschengedenken ansässige jüdische Familie zurück. Rakovník ist eine Bezirksstadt in Tschechien (in der Mittelböhmischen Region), die sich ungefähr 50km nordwestlich von Prag befindet und einen am Stadtrand liegenden Judenfriedhof sowie eine barocke Synagoge besitzt. Um 1900 war der Ort eine weitgehend tschechisch geprägte, wirtschaftlich aufstrebende Kleinstadt mit etwas mehr als 6600 Einwohner, von denen rund 330 Juden waren. Zugleich war die Stadt eines der Zentren des tschechischen Antisemitismus. In der städtischen Judengasse befindet sich, so Flusser, ein kleines gotisches Haus, das früher in Familienbesitz war. Hier fanden die jährlichen Familientreffen statt. Eine Großtante und ihre zwei unverheirateten Töchter führten dort eine Tabaktrafik, eine Verkaufsstelle für Tabakwaren, Zeitungen, Zeitschriften, Schreibwaren, Ansichtskarten und andere Kleinwaren. Die Flussers waren mit den anderen jüdischen Familien des Ortes vielfach verschwägert. Flusser spricht im Brief ironisch von Inzucht. »Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sowohl die Glasers (jene andere Rakovníker Familie) als auch die Flussers auszusterben. Die Glasers degenerierten in Idiotie und Kleinverbrechen, und ich glaube nicht, daß jemand von ihnen den Nazismus erlebt hat.« Der Familienname, so weiter Flusser, bedeutet »Herauszieher von Kieseln aus Flüssen für Glasfabrikation.« Im Zusammenhang mit Flussers frühen Theorie der Kreativität gewinnt dieser Satz eine unerwartete Bedeutung. Der Eigenname ›Flusser‹ steht hier metaphorisch für den Schöpfungsprozess selbst, der gerade darin besteht, Eigennamen aus dem unstrukturierten Nichts ins Leben zu rufen. Er enthält somit nicht nur das deutsche Wort ›Fluss‹ und

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eine damit assoziierbare Vorstellung unstrukturierter Liquidität, sondern bezeichnet auch einen bestimmten Beruf, jemanden, der Kieselsteine aus einem flüssigen Medium fischt, so wie der Dichter Verse aus dem Chaos extrahiert, um das Unaussprechliche zu artikulieren. Hinzu kommt noch ein drittes Element: die Idee einer endgültigen kreativen Synthese, die in der Herstellung von Glas aus Sand und Kies eingefangen wird. In Laufe dieses Prozesses werden einzelne Kieselsteinchen oder Sandkörner erhitzt, bis sie zu einem neuen dichten einheitlichen Material verschmolzen werden. Glas wird in der Regel in drei Phasen hergestellt: in der ersten werden die einzelnen Komponenten verflüssigt und gemischt, in der zweiten die überflüssigen Gase ausgesondert und in der dritten das Glas abgekühlt: die Alchemie der Schöpfung. Der eigentliche Stammhalter der Familie ist Großvater Leopold (geboren 1857), ein aufgeklärter »nobler Hausierer«, wie ihn Flusser in seinem Brief nennt. Er verkaufte unter anderem Heiligenbilder an seine christliche Umgebung und sympathisierte mit marxistischen Ideen. Seine Frau Regina (geborene Pollack/Polák, Jahrgang 1860 oder 1862) betrieb einen Ausschank, wo sie Sliwowitz, ein beliebtes Pflaumendestillat, verkaufte, jednu za dvě, was so viel bedeutet wie, einen für zwei. Die beiden waren unorthodox, praktizierten aber durchaus die jüdischen Riten. Das Paar hatte zwei Söhne, Viléms Onkel Karel (geboren 1884) und der um ein Jahr jüngere Vater Gustav (geboren am 18. März 1885). Die Familie zog 1902 nach Prag. Flusser erwähnt in einem Brief (24. Mai 1980) an den Cousin David Flusser eine Erinnerung an die Großmutter. Diese sei ihnen stets segnend nachgelaufen, wenn sie ihr Haus in der Schnellovà in Prag verließen. Karel und Gustav gingen in Rakovník in die Grundschule, besuchten die dortige deutschsprachige Volksschule und legten ein Abitur an der tschechischen Realschule ab. Danach studierten sie, wie es üblich für das aufgeklärte Landjudentum war, an einer Wiener Universität. Karel wurde Bauingenieur, arbeitete bei der Bahn, baute Brücken und hatte zwei Söhne: Gustav und Otto. Während des Krieges wurden Karel und seine Frau Berta ins Konzentrationslager von Theresienstadt verschickt, überlebten aber und wanderten nach Israel aus, wo Karel zu Beginn der 1960er Jahre starb. Der eine der beiden Cousins, Gustav, eigentlich David Flusser (1917-2000), emigrierte 1939 nach Israel, heiratete eine Hamburgerin und wurde 1962 Professor für vergleichende Religionsgeschichte an der Universität Jerusalem. Er erforschte die palästinischen und rabbinischen Traditionen des Judentums und publizierte eine Jesus-Biographie. Sein Bruder Otto heiratete eine Wienerin und wanderte ebenfalls nach Israel aus. Er lebte wie David in Jerusalem und arbeitete dort als Postbeamter. Beide hatten Kinder.

Familie und Flucht

D ie E ltern : G ustav F lusser und M elitta B asch Ines Koeltzsch hat zu Vilém Flussers Vater Gustav (1885-1940) genauer recherchiert. Dieser begann 1903 ein Studium der Mathematik und Physik an der Deutschen Technischen Hochschule und an der Deutschen Universität in Prag. Unter anderem auch bei Albert Einstein, wie Flusser festhält. Er besuchte ebenfalls Vorlesungen über Philosophie und deutsche Literatur. 1908 bestand er die Lehramtsprüfungen und absolvierte eine einjährige Probezeit an einem deutschen Prager Gymnasium. Ein Jahr später begann er, als Lehrer an der Deutschen Handelsakademie an der Resslova 5 in der Nähe des rechten Ufers der Moldau zu arbeiten, wo er neben Algebra und Rechnen auch Tschechisch unterrichtete. 1910 versuchte er, das nötige Hochschulzertifikat zu erlangen, aber ohne Erfolg. Seine Zulassungsarbeit über Das tschechische Theater in den letzten 30 Jahren wurde vom prüfenden Professor an der Deutschen Universität nicht angenommen, möglicherweise weil er darin ziemlich unumwunden seine Sympathien für die tschechische Nationalbewegung äußerte. 1918 nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik holte er die Staatsprüfung nach. In der Erzählung Flussers im Brief an Fränkl klingt dies alles viel prestigeträchtiger. »Er dürfte um das Jahr 1908 promoviert haben und wurde Privatdozent für ›politische Arithmetik‹ (eine Vorstufe der Mengenlehre).« Gustav Flusser lernte T. G. Masaryk kennen und gehörte bald zum Kreis der Pátečníci (von pátek, Freitag), eine lose Gruppe von Gleichgesinnten und Freunden, die sich jeden Freitag um Masaryk im Haus der Schriftstellerbrüder Čapek oder an der Kavárna Slávia in der Národni třida versammelten. Gustav Flusser übersetze einige Bücher Masaryks ins Deutsche, darunter wie schon erwähnt auch Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation, das 1881 publiziert wurde. Wie Ströhl berichtet, kehrte er eines Freitags deutlich verärgert und verstört von einem solchen Treffen zurück und beschloss, an keinen weiteren teilzunehmen. Über die Gründe für sein Fernbleiben sprach er mit niemandem, nicht einmal mit Vilém Flusser. Es ist möglich, dass dahinter eine antisemitische Bemerkung eines Teilnehmers stand. Gustav Flusser interessierte sich für das Werk Ernst Machs und für den deutschen Philosophen Richard Avenarius (1843-1896), den Begründer des Empiriokritizismus. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges engagierte er sich für die Revolutionsbewegung und wurde 1918 sozialdemokratischer Abgeordneter im neuen tschechoslowakischen Parlament, wo er auch als amtlicher Übersetzer tätig war. 1924 gab er seinen Posten wieder auf. Vilém Flusser vermutet Antisemitismus als mögliche Ursache. Gustav Flusser wendete der Politik definitiv den Rücken und begann, sich wissenschaftlichen Projekten zu widmen. Er wurde ab 1928 Direktor der Deutschen Handelskammer. Daneben hielt er auch Vorlesungen an der Prager Karls-Universität. 1921 publizierte er in einer deutschen und einer tschechischen Version den Sammelband Deut-

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sche Politiker an das tschechische Volk. Zwei weitere, tschechischen Politikern gewidmete Bände kamen nicht mehr zustande. Vilém Flussers Interesse für Philosophie, vor allem für Kant und den deutschen Idealismus, geht auf seinen Einfluss zurück. In einem kurzen unveröffentlichten Text, den Flusser am 4. Januar 1987 in Robion verfasst und der den Titel »Mein Vater Gustav Flusser« trägt, umschreibt er sein Verhältnis zum verstorbenen Vater anhand dreier vergilbender Papiere, die sich in der linken oberen Schublade seines Schreibtisches befinden. Der Vater zeigt ihm die drei Papiere zweimal: als er dem ihrem Haus gegenüberliegenden Sokol beitreten will und als er eine Übersiedlung nach Palästina ins Auge fasst. In beiden Fällen geht es um eine fragwürdige nationalistische Wahl, eine Festlegung und zugleich eine Aufgabe der prekären, aber auch schöpferischen Lage des mitteleuropäischen Juden. Das erste Dokument enthält ein in Kinderschrift verfasstes tschechisches antisemitisches Spottlied, »das seine Mitschueler, ihm auf dem Marktplatz von Rakovník umhuepfend, gegen ihn sangen, zur Erinnerung niedergeschrieben.« Das zweite ist ein Briefumschlag, der an Gustav Flussers Rolle als »Vorsitzender des Ausschusses zur Erhaltung des juedischen Internats fuer zurueckgebliebene Kinder« erinnern soll, und das dritte ein jährlich wiederkehrender Bittbrief von der schon erwähnten Tante in Rakovník. Die drei Dokumente erinnern an die antisemitische Grundhaltung der tschechischen Gesellschaft und die jüdische Pflicht zu öffentlicher und privater Wohltätigkeit. »Beidesmal zeigte mir mein Vater diese Papiere mit feierlicher Geste. Er hatte, vom Hier und Jetzt gesehn, etwas Theatralisches an sich. Aber seine Feierlichkeit erweist sich im Hier und Jetzt als berechtigt: die drei Papiere sind Dokumente fuer die letzte Phase des Prager Judentums, das mein Vater ziemlich wuerdig repraesentierte.« Gustav Flussers starkes Engagement in der deutsch-jüdischen Prager Gemeinschaft beweist auch seine Mitgliedschaft im Israelitischen Humanitätsverein Bohemia, einer Loge des jüdischen Ordens B’nai B’rith, in den er 1913 aufgenommen wurde. Der Orden der »Söhne des Bundes« wurde 1834 in New York von deutschstämmigen Juden gegründet. Sein Hauptziel bestand darin, das verfügbare Kapital für wohltätige und kulturelle Zwecke einzusetzen. So wurden unter anderem Waisenhäuser unterstützt. »Völlig agnostisch«, schreibt Flusser in seinem Brief an Fränkl, »war er doch am Judentum interessiert, wurde Großpräsident der B’nai B’rith, leitete verschiedene jüdische Organisationen und ließ zu, daß ich Bar Mizwa machte.« Das religiöse Ritual des Bar Mizwa zelebriert im Judentum die religiöse Mündigkeit eines 13-jährigen Knaben. »Sein Antizionismus war virulent (erst heute verstehe ich seine Gründe dafür), und er lehnte ein im Jahr 1938 erteiltes ›Ehrenzertifikat‹ nach Palästina ab, das mit einem Jerusalemer Lehrstuhl verbunden war und ihm das Leben gerettet hätte.«

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Josef Čapek wurde im März 1939 unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert. Er starb im April 1945 in Bergen-Belsen. Ein ähnliches Schicksal ereilt Gustav Flusser, der wahrscheinlich bereits am 15. März 1939, dem Tag der deutschen Besetzung Prags von der Gestapo verhaftet wird. Unter den Schergen sind zwei seiner deutschen Schüler, die ihn denunziert haben. Er wird gefoltert, wenig später wieder freigelassen, dann erneut verhaftet und im September 1939 vom Prager Gefängnis in Panrác zuerst nach Dachau und dann am 27. September nach Buchenwald zu einem Arbeitskommando deportiert. Dort wird er am 18. Juni 1940 als Sozialist und Mitglied der zweiten Internationale zusammen mit dem Bürgermeister von Prag ermordet. Gustav Flusser ist 55 Jahre alt. »Er hatte ein volles Leben geführt«, schreibt Flusser im Brief an Fränkl, »war geistig immer tätig gewesen […] und ist innerhalb seiner Überzeugung, also würdig gestorben: Sichranah lebrachah (Die Erinnerung soll zum Guten gereichen).« In den offiziellen Dokumenten der Zeit steht in der grauenvollen bürokratischen Sprache des Nazismus: Auf der Flucht erschossen. Zwei Jahre später werden auch Flussers Großeltern, die Mutter und Schwester nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet, nachdem man sie zuvor »in die Dlouhá und auf den Zboŕenec umgesiedelt hatte. Vorher wohl noch hatte mein Großvater [seine] Fabrik an einen Strohmann […] zum Schein verkauft, in der verlorenen Hoffnung, sie für mich zu retten (sein Lebenswerk, und ich sein Stolz, denn jedes jüdische Enkelkind ist bekanntlich genial). Alle sind, zu mir Gott sei Dank unbekannten Daten, umgebracht worden, und ihr sinnloser Tod ist das Zeichen, unter dem ich zu leben habe.« Im Essay »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« schreibt Flusser zu seiner Situation als Überlebender. »Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug.« 1917 zogen die Flussers von der Altstadt in den Vorort Bubeneč und zwei Jahre später heiratete Gustav Melitta Basch, die aus einer wohlhabenden Prager Fabrikantenfamilie stammte. Beides kann man als Zeichen des sozialen Erfolges der Familie werten, die nur zwei Jahrzehnte zuvor aus der Provinz in die Hauptstadt eingewandert war. Nach der Hochzeit wohnte Gustav im Haus der Schwiegereltern, das im benachbarten Vorort Dejvice lag, wie Bubeneč eine der besten Prager Wohnlagen. Die beiden Wohnquartiere liegen im Nordwesten der Stadt (Prag 6), in der Nähe der Universität für Chemie und Technologie. Vilém Flussers Mutter, die am 30. November 1897 in Prag geborene Melitta Basch, war 12 Jahre jünger als Gustav und kam, wie schon erwähnt, aus einer ganz anderen sozialen Schicht. Der Unterschied hätte nicht grösser sein können: Melitta war im Moment der Hochzeit eine 18-jährige wohlerzogene junge Frau, Gustav hingegen ein sozial und beruflich arrivierter Mann Mitte dreißig. Hinzu kamen seine radikalen politischen Überzeugungen. Melitta Basch war

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die Tochter von Julius und Olga Basch und hatte zwei Geschwister: Wilhelm und Ludowika. Vilém Flusser wurde nach dem Onkel Wilhelm benannt und seine Schwester Ludvíka nach der Tante Ludowika. »Meine Großeltern Basch«, schreibt Flusser mit einer Prise Sarkasmus an Fränkl, »waren typische Prager Großbürger, kultiviert und beschränkt, jüdisch ›ohne Übertreibung‹ […] und reich, ohne es zu zeigen, das heißt Aktien, Häuser, Gold, aber was man damals wohl ›bescheidene Lebensführung‹ nannte, also keine Villas und große Autos.« Großvater Julius Basch (geboren am 23. Januar 1865) studierte Chemie in Deutschland und war bei I.G. Farben als Ingenieur tätig. Er entwickelte und patentierte ein neuartiges Verfahren zur Erzeugung von Lebensmittelfarben. Um 1890 gründete er in Prag eine Fabrik für giftfreie Farbstoffe, die einzige ihrer Art in Mitteleuropa. In der Produktion wurden hochmoderne automatische Mischapparate eingesetzt. Weitere Niederlassungen wurden in Japan, der Türkei, Holland und Südafrika eröffnet. Der in London lebende Onkel Basch, Wilhelm, war Violinist. Im September 1914 kehrte er nach Prag zurück, rückte ins Militär ein und starb kurz darauf an der serbischen Front. »[…] mein Großvater«, schreibt dazu Flusser, »hat seinen Tod nie überwunden.« Ludowika Basch war Krankenschwester während des Krieges und starb, ohne geheiratet zu haben – wie ihr Bruder Wilhelm –, am 18. Oktober 1918, am Tag der Revolution, an der Spanischen Grippe. Melitta war eine begabte Sängerin, trat aber nicht professionell auf. Die Basch-Familie waren »uralte Juden«, wahrscheinlich sephardischen Ursprungs und verfügten über einen Adelstitel, der ihnen im 19. Jahrhundert verliehen worden war. Ein Baron Basch war Leibarzt Maximilians von Mexiko und wurde während eines Aufstandes in Juárez hingerichtet. Ein weiterer Basch war Präsident der Wiener Börse. Als Gustav Flusser Melitta Basch heiratete, »war sie die einzige Tochter und Erbin. Man kann sich den Skandal vorstellen, ein linker Intellektueller heiratet Fräulein Basch und will seine Ideen nicht aufgeben, obwohl mein Großvater Basch meinen Vater sofort zum ›stillen Teilhaber‹ seiner Fabrik machte und ihn auch anderswie ›bestechen‹ wollte. Ich glaube, das war die stumme Tragödie der Ehe meiner Eltern: der hochmütige ›Geistige‹ und die viel jüngere, kultivierte und zurückhaltende ›fille rangée‹. Ich glaube jedoch auch, daß es eine gute Ehe war: mein Vater ›unterrichtete‹ meine Mutter, und diese ›kultivierte‹ meinen Vater.« So Flusser im Brief an Fränkl. Aus der Ehe gehen Vilém und seine Schwester Ludvíka (geboren am 21. Dezember 1922) hervor. Da Vilém der einzige Erbe ist, schlägt Großvater Basch vor, dass man ihn Basch-Flusser nennt, wogegen Flussers Vater Einspruch erhebt, »wohl wegen der aristokratischen Konnotationen des Hyphen.« Flusser erwähnt im Brief auch einen Siegelring mit einer Baronenkrone. In einem weiteren Brief vom 2. November 1986 an den in den USA lebenden Familienfreund Lewis Weiner – Leiter der New Yorker Gesellschaft für die Geschichte der tschechischen Juden –, auf den wir noch mehrmals in dieser Biographie

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zu sprechen kommen werden, erwähnt Flusser nicht ohne Stolz seine aristokratischen Vorfahren mütterlicherseits. »[…] there was a branch in the family of my mother’s side which was considered ›princely‹ […]. It was a dynasty of ›gaonim‹ from some small place in Bohemia and apparently they go back to the early 18th century. I have a ring on my finger, which was given me by my grandfather Basch on my bar mitsvah, the meaning of which is no longer clear to me. I always think I should leave it to Misha.« Gaonim (gāōˈnĭm, Exzellenz) ist ein jüdischer Ehrentitel, den man einem bedeutsamen Forscher verleiht. Mischa ist der Spitzname von Miguel, dem ersten Sohn von Edith und Vilém Flusser.

D ie B rücke Wie zuvor schon erwähnt, zieht Gustav Flusser nach der Hochzeit ins Haus der Familie Basch, ein Art-Nouveau-Gebäude mit drei Etagen an der Bubenečská 5 in Dejvice. Die Großeltern leben im ersten Obergeschoss, Viléms Eltern im dritten Stock. Sie führen »ein gutbürgerliches Leben«, schreibt Flusser im Brief an Fränkl. Gustav Flusser erwirbt auch ein komfortables Landhaus an der Moldaumündung. Wie Flusser in der kurzen Erzählung »Die Brücke« berichtet, die er ursprünglich auf Englisch schreibt und die ebenfalls in Jude sein enthalten ist, befindet sich hinter dem Gebäude, in dem er geboren wird, eine Fabrik für Anilinfarben für Lebensmittel wie Eiscreme und Würste. »Die Farben waren in Form von Zuckersternen auf einem Pappkarton ausgestellt, und meine Schwester und ich haben die Sterne gewöhnlich gegessen, wenn mein Großvater nicht hinschaute.« Es ließe sich hier eine mögliche Brücke zu Flussers spätem Interesse für Farben als Alternative zum alphanumerischen Code schlagen, das in den 1980er Jahren unter anderem zum interdisziplinären Kulturprojekt der A Casa da Cor (Das Haus der Farbe) in São Paulo führt. Die Fabrik trägt eine elegante Inschrift auf Französisch: Fabrique des colorants inoffensifs. Kommt hier mit dem Adjektiv inoffensiv, harmlos, auch so etwas wie eine unbeabsichtigte Ironie ins Spiel, besonders wenn man an die Entfaltung der nun folgenden Geschichte und das tragische Schicksal der gesamten Familie denkt? Ist es ein Kommentar über den gescheiterten jüdischen Assimilationsversuch? Viléms Zimmer blickt auf den Hinterhof und die Fabrik. »Doch die allerwichtigste Sache«, schreibt Flusser, »war die: Da gab es eine Brücke, die die Küche meiner Großeltern mit dem Dach der Fabrik verband, und das Dach war ein Garten! Ein Dachgarten gerade wie Semiramis Hängende Gärten! Das Dach war natürlich zementiert, doch es gab dort Blumenbeete, eine Schaukel für uns Kinder und mehr oder weniger eine Sommerlaube, in der meine Großeltern während des ›Sukkoth‹ (des jüdischen Laubhüttenfestes) lebten – natür-

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lich taten sie das nur symbolisch, da meine Großmutter Angst hatte, sich in den Nächten zu erkälten.« Eine Leiter verbindet den Garten mit dem Hof, die Welt der wohlhabenden Juden in der Höhe mit der Welt der tschechischen Proletarier in der Tiefe. Den Kindern ist deren Benutzung verboten worden. Nach der Schule gehen sie in der Regel zuerst nicht in ihre eigene Wohnung, sondern in die Küche der Großeltern und gelangen von dort über die Brücke direkt in den Garten. In der Küche stibitzen sie etwas zum Essen, wenn sie glauben, dass das tschechische Dienstmädchen wegschaut. Flusser verweist auf die sozialen Unterschiede, den Tropfen, der von ihrer Nase hängt, und ihren »analphabetenhaften Prager Slang […] (Tschechisch durchsetzt mit vielen deutschen Wörtern und fast ohne erkennbare Grammatik)«, wenn sie die beiden ertappten Kinder gehörig beschimpft. Flusser wächst in Prag zwischen den Sprachen auf, was nicht nur mit seiner sozialen Situation als assimilierter wohlhabender Jude zu tun hat, sondern auch in seiner schulischen und universitären Ausbildung angelegt ist. Er erhält eine umfassende humanistische Ausbildung, lernt Lateinisch, Altgriechisch und auch etwas Hebräisch. Er besucht die tschechisch-deutsche Volksschule, das deutsche Realgymnasium in Prag-Smíchov (Zborovskà 45), macht neben dem deutschen auch ein tschechisches Abitur und immatrikuliert sich 1938 an der tschechischen juristischen Fakultät der Karls-Universität, wo er zwei Semester Philosophie studiert (Abb. 2). »Man war auf komplexe Weise doppelsprachig«, schreibt Flusser in Bodenlos. »In der Kindheit sprach man tschechisch, obwohl einem das Deutsche nie fremd war. Die Volksschule war deutsch, aber der Umgang mit den Freunden tschechisch. Die Mittelschule war deutsch, und damals war das Deutsche auch die mehr verwendete Sprache. Die Reifeprüfung leistete man in beiden Sprachen. Die wenigen Semester, die ich an der Universität verbrachte, waren tschechisch. Das bedeutete ungefähr, daß man von der deutschen Sprachstruktur beherrscht war, außer auf den Ebenen des ganz konkreten Erlebens, auf denen die tschechischen Strukturen den Ausschlag gaben.« Flusser erlebt diese Zweisprachigkeit als ein Privileg und die Möglichkeit, sich zwischen den beiden Sprachen hin und her zu bewegen, als eine Chance, die Welt in Kategorien zu denken, die so radikal unterschiedlich sind, dass sie unvereinbar scheinen. Diese vielleicht kompensatorische Fähigkeit, zweifach, mehrfach zu sehen, könnte man auch als Ironie des Schicksals betrachten. Seit seiner Geburt ist Vilém Flusser auf einem Auge blind. In einem Artikel im Jornal da Tarde in São Paulo, vom 23. August 1986, schreibt der brasilianische Kunstkritiker Jacob Klintowitz dazu treffend: »er ist auf einem Auge blind, und oft glauben wir, dass er uns nur einen Weg zu bieten hat, um uns dann in der Folge gleich mehrere Versionen derselben Idee vorzuschlagen.« Aber zurück zur Erzählung »Die Brücke«.

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Abbildung 2: Vilém Flussers Studentenausweis an der Karlsuniversität in Prag

Von der Brücke aus kann man den Fabrikarbeitern zusehen, wie sie zusammen in der Pause Fußball spielen oder Würste essen und Bier trinken. Im Hof lebt auch ein riesiger Bernhardiner namens Barry, mit dem die Kinder manchmal spielen, wenn er in den Garten kommt. »Er war sehr gut zu uns Kindern.« Eines Tages aber zerbricht die fragile trügerische Idylle. Einer der Arbeiter spielt mit dem Tier im Hof, während Vilém und Ludvíka ihm dabei von der Brücke aus zusehen. Plötzlich dreht der Hund durch und beißt dem Arbeiter das gesamte rechte Bein oberhalb des Knies ab. Die Kinder beobachten, wie das Blut aus der offenen Wunde fließt, während das Bein noch im Maul des Tieres steckt. Für Vilém Flusser besitzt diese Geschichte emblematischen Charakter, zeigt sie doch, wie Güte plötzlich in brutale Aggression umschlagen kann. »Es geschah, glaube ich, 1926 doch für mich war es auch 1939. Der plötzliche Stimmungswandel nach der Okkupation durch die Nazis. In meinen Augen ist Prag wie der Bernhardinerhund Barry. Der Wandel von Prag überraschte mich nicht, als er kam: In einer Art prophetischer Vision hatte ich ihn bereits von einer Brücke aus gesehen. Hunde mag ich seither nicht, und auch keine Brücken.« Flusser ist damals ungefähr sechs Jahre alt. Diese Szene aus der frühen Kindheit verlegt die qualvollen Ereignisse, die zum Verlust aller Gewissheiten führen, zur lebensbestimmenden Bodenlosigkeit, in die Vergangenheit und schafft damit auch so etwas wie eine psychologische Distanz, aus der das Grauen beschreibbar wird. Im Zusammenhang mit den Ereignissen, die 13 Jahre später stattfinden, wird dieses Erlebnis zu einem traumatischen Ereignis, das sein ganzes späteres Leben prägt. Urplötzlich dreht der Hund durch und verwandelt sich in etwas ganz anderes. Auf die gleiche Art und

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Weise wird die Welt plötzlich verrückt und die Menschen, die man zu kennen glaubt, verwandeln sich in Monster.

S aul Im Flusser Archiv in Berlin sind verschiedene, sentimentalisch schwärmerische, religiös inspirierte und philosophisch spekulative, aber vor allem auch humoristische und satirische lyrische Kurztexte auf Deutsch und Englisch erhalten. Diese meist undatierten Texte stammen aus den verschiedensten Phasen von Flussers Leben. Einige sind auf herausgerissene Seiten, auf Zettel oder liniiertes Papier mit der Hand hin gekritzelt oder auf der Schreibmaschine getippt. Flusser signiert oft mit erfundenen Namen. In einer türkischen Fabel aus der Feder von Fuerchtegott Ephraim Flusser (A.D. 17) geht es um das Verhältnis von Rationalität und Glaube und in »Apokalypse und Fuge« von Johannes Jeremy Jesaias um Gefühl und Vernunft. »Mit der Vernunft im Bauch kann uns das nicht erschuettern./Statt primitief/Denken wir positief.« Flussers allererster Schreibimpetus ist literarisch ausgerichtet. Dies hat, wie noch zu zeigen sein wird, nachhaltige Folgen für sein gesamtes Werk. So schreibt er 1936, während er noch am Smíchovské Gymnasium ist, das neunseitige expressionistisch anmutende Theaterstück Saul. Gemäß der jüdisch-christlichen Tradition ist Saul (der ›Erbetene‹ auf Hebräisch) der erste König Israels. Saul muss um 1095 vor Christus gelebt haben und regierte vierzig Jahre lang. Im Theaterstück des jungen Flusser bittet Saul, lange vor Jesus und als Lichtsilhouette hinter einem Vorhang versteckt, dass Gott den Kelch der Verantwortung an ihm vorüberlässt: »Die Strahlenmacht/Die du in mein Herzen gebracht/verzehrt mich./Dein Wort in mir,/ nimm es ab von mir,/es verheert mich./Es brüllt in der Nacht,/in der Nacht, in der Nacht,/es zerstört mich./Lass mich schlafen, Herr,/eine Stunde./Ich flehe um eine Stunde Schlaf, Herr./Warum hast du mich erwählt,/warum hast du mich strahlend gemacht?/Warum gabst du mir das Licht,/das deine Stimme spricht,/das das Herz zerbricht./Mein Gehirn versagt,/da du den Wurm der Auserwähltheit hineingesetzt hast./Herr, ich will nicht deine Leuchte sein./ Gib mir meine Dunkelheit wieder.« Flusser hat immer wieder auf die Gefahren und Ambivalenzen dieses Zustands des Auserwähltseins und Inspiriertseins, der an mystische Erfahrungen grenzt, hingewiesen. Diese Vorstellungen sind in einem romantischen Sinne Zeichen des Künstlers und Dichters und können als eine bewusste Form der Selbstheiligung gelesen werden. In den langen Jahren des Exils und der Isolation müssen sie als eine Art psychologischer Rettungsring gedient haben. In einem Brief vom 2. September 1958 beschreibt Flusser, der sich darin mit Mozart identifiziert, diesen Zustand der Berückung. Der Briefempfänger, mit

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dem Flusser wegen der Publikation seines ersten Buches im Gespräch ist – dem ebenfalls in São Paulo verwurzelten Hellmut Wolff –, soll zum Zeugen dieses gefürchteten, aber letztlich herbeigesehnten Auserwähltseins gemacht werden. Ich will »Ihnen schnell einen furchtbaren Eindruck wiedergeben, den ich gestern abend hatte. Ich hoerte das Klavierkonzert in C moll (ich glaube K 492) von Mozart, und es wurde mir mit einemal [sic!] die Qual und der Fluch klar, unter dem Mozart lebte. Auf einmal versetzte ich mich in Mozarts Kopf, und fuehlte nach, was es bedeutet, von einer derartigen Masse von Ideen ueberfallen und erdrueckt zu werden. Er konnte, der Arme, gar nicht genug rasch schreiben, um sich von diesen fruchtbaren Ideen zu befreien. […] er schrieb praktisch ohne Unterbrechung, und doch nicht rasch genug, denn der ›Einfaelle‹ waren zu viele. […] ich bin eben ins Bureau gekommen, ohne die ganze Nacht geschlafen zu haben, unter dem entsetzlichen Eindruck von Mozarts Gehirn, und beeile mich, mir dieses Grauen vom Herzen und Ihnen ins Herz zu schreiben. Bitte verzeihn Sie.« Noch in den 1970er Jahren beschwört Flusser im Essay »Die Geste des Schreibens« das mehrsprachige assoziative Wuchern der Ideen und die schier unkontrollierbare Menge immer neu einströmender mehrsprachiger Einfälle, die nur durch systematisches Zurechtstutzen unter Kontrolle zu bringen ist. In Bodenlos spricht er von »Heerscharen von Worten«, die »darauf drängen, von mir geordnet, in eine von mir gewählte Richtung gelenkt und artikuliert zu werden, und Erlösung scheint mir eine Situation zu sein, in welcher dieser Strom der ›Inspiration‹ abbricht.« Saul verlangt die Dunkelheit zurück, das heißt, er betet, um nicht derjenige zu sein, der endlos über das Sein nachdenkt, weil er immer mehr sein will, als er ist, das heißt, weil er selbst Gott sein möchte. Am Ende des Stückes treten zwei Figuren auf, ein Arzt im weißen Kittel und jemand in einem normalen Straßenanzug, der Andere. Sie diskutieren über den soeben verstorbenen Saul. Der Arzt diagnostiziert ein Nervenfieber. Der Andere pflichtet ihm bei, verweist aber auf den tieferen Grund. »Saul hat, wie jeder Mensch, zwischen der Vergötterung der Natur und der Vernatürlichung Gottes zu wählen. Das Originelle an Saul ist, dass er sich weder für das eine oder das andere entscheidet, noch neutral bleibt, sondern einen dritten Weg wählt. Dieser ist, wenn Sie wollen, eine Vergötterung des Ich. Oder richtiger eine Abkehr vom Umgebenden und eine Einkehr ins Eigene.« Saul entscheidet sich für die Vergötterung des Selbst, seine radikale Wahl wird in einem tieferen Sinn zur Ursache seines Todes. »Denn mit dieser Wahl kann man nicht leben, weil das Leben jeden täglich zur Konfrontierung mit der Umwelt zwingt.« Daraufhin antwortet der Arzt, dass Sauls Lösung »praktisch nichts wert ist.« Der Andere stimmt dem zu, weil diese Lösung letztlich »unerreichbar« ist. Flussers jugendliches Theaterstück versucht, den menschlichen Zustand anhand der ungeklärten, ambivalenten Präsenz Gottes zu diskutieren: entweder ist der Mensch eine Fiktion, die Gott in die Welt gesetzt, oder Gott ist eine Fiktion, die der Mensch

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geschaffen hat. Flussers Hybris besteht nicht nur darin, im Namen der Götter zu sprechen, wie die Griechen es formulierten. Seine wahre Hybris ist viel verheerender, weil sie die Erschaffung eines einzigen Gottes impliziert, damit der Mensch selbst am Ende zum einzigen Gott wird.

E dith B arth In einem Interview, das Anke Finger am 30. Januar 2007 in New York geführt hat, berichtet Edith Flusser ausführlich über ihre Herkunft und Familie. Sie ist am 23. Juli 1920 geboren. Lachend erzählt sie, dass sie zwar im selben Jahr wie Vilém geboren sei, dass dieser dennoch viel älter sei als sie, ganze drei Monate. Ihre Mutter – Ernestine, auf Tschechisch Anjuschka – stammt aus der böhmischen Stadt Saaz (heute Žatec) im Nordwesten Tschechiens. Sie hat drei Schwestern: »die haben alle so hochtrabende Namen gehabt, die eine hat geheißen Philippine, dann Melanie […] und Theresie […].« Wie Edith Flusser festhält, war die Gegend um Saaz vor dem Zweiten Weltkrieg eine weitgehend deutsche Umgebung. Aufgrund der Beneš-Dekrete wird im Mai 1945 die deutschböhmische Bevölkerung deportiert und ihr Vermögen und Besitz konfisziert. Dieses Schicksal trifft auch die deutschsprachige Bevölkerung der Stadt Saaz. Der Vater, Gustav Barth, ist tschechischer Abstammung und kommt aus Schüttenhofen (Susice) in Westböhmen, in der Nähe des Böhmerwaldes an der tschechisch-deutsch-österreichischen Grenze. Er besucht in Pilsen die Handelsakademie, reist noch vor Kriegsbeginn nach Spanien und arbeitet dort ein paar Jahre in einem Import/Export-Geschäft in Barcelona. »[…] er war neugierig, wollte die Welt sehen […] und hat in Barcelona [einen] Job bekommen […]. Sein Chef […] hat ihn sehr gern gehabt […] Und dieser Mann, dieser Spanier, sein Chef hat ihm dann einen wunderbaren Ring […] geschenkt […] Den hab ich.« Als der Krieg ausgebrochen ist, ist er freiwillig zurück in die Heimat und ins Militär eingerückt. Während des Krieges hat er als Truppenkoch gedient. Somit taucht auch in der Erzählung Ediths, parallel zu Viléms Schilderung, ein Ring auf, der sie auf magische Art und Weise mit der Tradition und der männlichen Welt verbindet. Ediths Vater wird im Laufe der Jahre zu einem erfolgreichen Unternehmer. Die Mutter ist eine gebildete Frau, die zwar ganz in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter aufzugehen scheint, sich daneben – ganz im Gegensatz zu ihrem geschäftsorientierten praktisch denkenden Mann – aber für Kultur interessiert und ein reges soziales Leben hat. In vielfacher Hinsicht ist sie somit für Edith ein Vorbild gewesen. »[…] meine Mutter hat nicht gearbeitet, nein, nie, nicht. Sie war eigentlich eine gebildete Frau, mein Vater nicht, hat gelernt, hat Kurse mitgemacht zu Literatur, hat die Großmutter und die Schwester zum Kaffee

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am Nachmittag getroffen, geredet und geredet. Und sie hat sich gekümmert um das Haus, alles, der Garten. […] Und sie hat Bridge gespielt und … sie hat ein gutes Leben gehabt, damals, zu der Zeit.« Wie Edith im Interview festhält, kannten sich ihr Vater und derjenige Viléms zwar nicht, aber ihre Mutter und ihre zukünftige Schwiegermutter haben sich möglicherweise in einem Kaffeehaus beim Bridgespielen kennengelernt. Die stärkste Erinnerung an die Mutter ist mit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus verbunden, wo sie wegen ihrer Schwangerschaft eingeliefert wird. Zusammen mit der Mutter taucht auch ein Kinderfräulein auf, das die Schwester in den Armen trägt. Diese Frau bleibt in der Folge für mehrere Jahre bei der Familie. Ediths Vater arrangiert für sie später auch eine Hochzeit mit einem Schuster. Die Gouvernante kümmert sich um den Haushalt und die Erziehung der beiden Barth-Töchter. Dies ist für das spätere Leben Ediths insofern wichtig, als sie in Brasilien drei Kinder großzuziehen hat und dabei auf ein Kindermädchen und jede andere Unterstützung verzichten muss. Eva, Ediths zwei Jahre jüngere Schwester, ist in Brasilien geblieben und dort wohl inzwischen auch gestorben. »Ich war das sanfte Kind und sie war das rebellische Kind. So hat man in der Familie immer gesagt, das gute Kind war ich, und sie war der Lausbub.« Ediths Eltern lernen sich dadurch kennen, dass eine Tante mütterlicherseits einen Mann aus dem Böhmerwald heiratet. Nach der Hochzeit erbt der Vater ein Geschäft, das jedoch nicht gut läuft. Am gleichen Ort richtet er »ein Automatenbuffet [ein]. Automaten, also wo die Leute essen gegangen sind, [die Leute] haben Geld hineingeworfen, Essen bekommen, aber nicht nur das, sie konnten auch an Tischen sitzen […] Es war ein sehr gutes Geschäft, und alle jungen Leute und überhaupt haben dort gegessen.« Das Automat Koruna, das direkt am unteren rechten Ende des Wenzelsplatzes (Václavské náměstí) liegt, ist ein Schnellessrestaurant, das erste Selbstbedienungslokal in der damaligen Tschechoslowakei. Noch heute kann man den Schriftzug auf der Fassade sehen. »Koruna. Wie Krone. Das war in Prag sehr bekannt, das Geschäft, jeder wusste, was das war. […] Das ist mit meinem Vater entstanden, [er] hat das Buffet, das Restaurant, dort eingerichtet. […]. Es war ein ausgezeichnetes Geschäft mit einem ausgezeichneten Ruf […]. Er war interessiert, ein geschäftlich sehr interessierter Mensch. Er war ein Geschäftsmann, ein guter.« Edith wächst in einer äußerst wohlhabenden und beschützten Umgebung auf. Ihr Onkel besitzt ein Pferd: »Ich hab dieses Pferd geritten und ich war passioniert. Ich war eine der besten Prager Reiterinnen, bin gesprungen, hab Spanische Schule gemacht. Im Club. Ja, dieses Pferd hat ihm gehört, aber ich durfte es benutzen.« Die Familie fährt Ski in der Schweiz. »Dort in der tschechischen Schule war ich auffallend, ich war anders, aus einer reichen Familie. Zu Ostern bin ich Ski gefahren, sonnenverbrannt zurückgekommen und diese armen Kinder, die sind da bleich gesessen – unangenehm, aber das war so.«

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Von hier stammt wohl auch Ediths spätere Leidenschaft für alpine Landschaften. Die Familie wohnt an verschiedenen Prager Adressen. An den Umzügen lässt sich – wie schon im Falle der Flussers – der stete soziale Aufstieg der Familie ablesen. In den 1920er Jahren leben sie noch in einem Wohnhaus an der Čechova ulice 29 in der Nähe der Akademie der Bildenden Künste, wo Edith wahrscheinlich auch geboren ist, dann an der Bubenečská und zuletzt in der Bučkova Villa, die nur 200 Meter von dem Wohnhaus an der Bubenečská entfernt ist. In einem 1997 gedrehten Video, das Edith auf einer Erkundung der Stadt zeigt, wird das herrschaftliche alleinstehende hellgraue Haus mit Garten an der Bubenečská, das inzwischen gelb angestrichen ist, gezeigt. Als Edith und Vilém sich um 1937 kennenlernen, lebt die Familie Barth inzwischen schon in der Bučkova Villa. »[…] ich bin geboren in der Judengegend, der jüdische Teil der Stadt, und dann sind wir sehr bald übersiedelt in eine hübsche Wohngegend, eine sehr schöne Wohnung […] Wir sind dann, da war ich vielleicht 6, oder 7, in [ein] Haus gezogen, ein herrlicher Garten, Swimming Pool, das war sehr schön und von dort bin ich zu Fuß in die Schule. Das war nicht so weit, in die tschechische Volksschule.« Die Eltern, besonders die kultivierte deutschsprechende Mutter, wollen, dass ihre Töchter beide Sprachen sprechen, aber Edith weigert sich zuerst, Deutsch zu sprechen. »[…] ich bin tschechisch aufgewachsen, und ich hab mich geweigert, ich war ungefähr 12, überhaupt Deutsch zu sprechen, ich wollte nicht Deutsch sprechen. Ich weiß nicht, jeder hat Vorurteile, und man hat mich bestraft und mich in ein deutsches Lyzeum geschickt. […] ich hab sehr ungern Deutsch gesprochen. […] wir haben Tschechisch gesprochen, mit meinem Cousin, mit meiner Schwester […] auch die Angestellten, wir haben tschechisch gesprochen. Dann über das Lyzeum habe ich Freundschaften geschlossen, habe Deutsch gelesen auch, Prag ist eben doppelsprachig.« Nach 5 Jahren in der Volksschule kommt Edith für vier Jahre in ein Lyzeum. Obwohl die Eltern wollen, dass sie ins Gymnasium geht, um dann studieren zu können, beschließt sie, in die Handelsakademie zu gehen: »[…] ich hätte studieren sollen – habe ich mir eingebildet, ich muss was arbeiten, um meinem Vater zu helfen und bin in die Handelsakademie gegangen. So mit 15, 16.« Es ist dieselbe Handelsakademie, in der damals Gustav Flusser Direktor ist. Die beiden Familien kennen sich aber noch nicht. Edith bleibt vier Jahre, ohne jedoch die Ausbildung abzuschließen. In einem Interview, das Klaus Sander am 23. Mai 1996 mit ihr führt, geht es um ihre Erfahrungen mit der Mehrsprachigkeit und die Unterschiede zu Vilém Flusser. Dabei verweist sie auf die eigene ursprüngliche Zweisprachigkeit und betont die dominante Rolle der deutschen Sprache in Viléms Leben. Edith versteht weder Tschechisch noch Deutsch als ihre eigentliche Muttersprache. »Meine erste [Sprache] war, wahrscheinlich […] Tschechisch. Ich habe so das

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Gefühl, dass man mich zu dem Deutschen erst gezwungen hat. Aber dann, gleich danach, war es ein ewiges Hin und Her. […] Eigentlich waren wir in einer tschechischen Schule, [und das] nächste Jahr in einer deutschen Schule. […] Mein Mann aber hat die ganzen Schulen Deutsch gemacht. Er war nie in einer tschechischen. Er sagt irgendwo, er war in einem […] tschechischen Kindergarten […] Aber in der Schule war alles Deutsch.« Viléms und Ediths Vater heißen beide Gustav. Dieses erstaunliche Zusammentreffen zwischen dem Namen des biologischen Vaters und dem Namen des angeheirateten Schwiegervaters, von dem Vilém Flusser nach seiner Flucht nach Brasilien finanziell und wohl auch psychologisch lange Jahre abhängig ist, wird einen entscheidenden phantasmatischen Einfluss auf die Entwicklung des zukünftigen Philosophen haben. Nach dem Tod Gustav Flussers im Juni 1940 nimmt Gustav Barth sozusagen die tragisch freigewordene Rolle des Vaters ein. Dies führt für Vilém Flusser, der sich eigentlich zum Schriftsteller und Philosophen berufen fühlt, zugleich aber dem neuen Ersatzvater gegenüber in der Schuld steht – hat dieser ihm doch das Leben gerettet –, zu schweren seelischen Konflikten. Wir werden noch detaillierter darauf im zweiten Teil zu sprechen kommen. In diesem Zusammenhang stößt man auf einen weiteren Parallelismus. Gustav Flusser protegiert Edith als wäre sie seine eigene Tochter. Aus Ediths Erzählung lässt sich schließen, dass sie ihn vor Vilém kennenlernt: »Und in der Handelsakademie hab ich eben meinen zukünftigen Schwiegervater kennengelernt, der mich sehr gern gehabt hat, er hat mich genannt ›Edinko.‹ […] Er war ein sehr charmanter Mann, der Schwiegervater, und viele von den Frauen, meine Klavierlehrerin und so, haben ihn alle bewundert […].« Vergleicht man die familiäre Konstellation, in die Edith und Vilém eingebettet sind, so sticht eine Reihe von Oppositionen und Parallelismen ins Auge, die für eine Verdichtung des Beziehungsgeflechts sorgen. Den Frauen ist vordergründig eine untergeordnete Rolle zugedacht. Beide haben eine jüngere Schwester, die jedoch keine wesentliche Rolle spielt. Den beiden subalternen Müttern stehen die beiden gleichnamigen ineinander übergehenden dominanten Vaterfiguren gegenüber. Es sind die starken jüdischen Vaterfiguren um 1900, deren dunkle Seite man aus Franz Kafkas Brief an den Vater kennt. Und tatsächlich hat Viléms späterer Konflikt auf brasilianischem Boden zwischen Lohnarbeit und literarisch-philosophischer Kreativität viel mit Kafkas eigenen familiären Auseinandersetzungen zu tun. Ediths Mutter ist eine deutlich stärkere Figur als Melitta Basch, was wohl auch mit dem Alter der beiden Frauen zu tun hat. Das Verhältnis zwischen Gustav Flusser und Melitta Basch mutet fast wie eine Vater-Tochter-Beziehung an. Wichtig ist dabei auch der strukturierende Gegensatz von wirtschaftlichem Erfolg – verkörpert durch Gustav Barth – und intellektueller Beschäftigung, der für wohlhabende assimilierte Juden eine wichtige Rolle spielt. Durch den Verlust seines biologischen Vaters

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und dessen Ersetzung durch den Schwiegervater verlagert sich für Vilém der existentielle Schwerpunkt hin zum Geschäftlichen. Indem Edith sich aber für Vilém entscheidet, wendet sie sich bewusst der anderen, intellektuellen Seite zu, die sowohl durch Gustav als auch durch Vilém verkörpert wird. Damit wendet sie sich von ihrem Vater ab und nimmt zugleich ein Grundinteresse der Mutter wieder auf. Diese Wahl trifft auch Vilém Flusser, der sich von der wohlhabenden Familie seiner Mutter deutlich distanziert und sich für die intellektuelle Lebensausrichtung seines Vaters entscheidet.

D ie B egegnung Edith und Vilém lernen sich 1937 kennen. Martina Špidlovà und Marion Kliesch haben für die Ausstellung »Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste«, die vom 15. August bis zum 18. Oktober 2015 an der ZKM in Karlsruhe stattfand, topographische Nachforschungen zu den wichtigen Orten in Ediths und Viléms Prag angestellt. Sie konnten den Weg, den Vilém und Edith zur Schule zurücklegen und den Hügel, auf dem sich die beiden zum ersten Mal sehen, ausfindig machen. »Auf diesem Hügel, wir haben oben gewohnt, er und ich auch. Und um in die Stadt zu gehen, musste man den Hügel hinuntergehen. Und diesen Weg haben wir gemacht, sein Vater, die Schwester Ludvíka und er. Und ich hab diesen selben Weg gemacht, aber meistens hinter ihnen und hab ihnen zugeschaut, wie sie gehen. Und hab mich schrecklich gewundert und lustig gefunden, wie mein Mann so gegangen ist, diesen Gang gehabt hat. […] Ich bin aber in eine andere Gegend, wenn wir unten angekommen sind an der Moldau, ist er nach rechts, ich nach links, aber jedenfalls hab ich ihn so kennengelernt. Ich hab mit ihnen nicht gesprochen gehabt, vorher.« Der erste gegenseitige Eindruck ist eher kritisch. Edith findet Viléms Gangart amüsant, Vilém hingegen betrachtet sie wegen ihres Reichtums mit skeptischen Augen. »Mein Mann hat mich erst verachtet, ich bin zu reich; er war sehr links.« Oft ist in Beziehungen aber gerade das Gefühl der Ablehnung und Befremdung bloß ein Vorbote für eine noch tiefere gegenseitige Abhängigkeit. Die beiden Jungverliebten gehen zusammen in den Parkanlagen der Stadt spazieren und führen endlose Diskussionen über Kulturgeschichte und Politik, über den Spanischen Bürgerkrieg und den Zionismus, wobei Edith meist die passive Zuhörerin ist. Auch viel später noch unternehmen Edith und Vilém immer wieder längere Spaziergänge in ländlichen Gegenden. Der nachmittägliche Spaziergang nach dem beim Schreiben verbrachten Morgen ist ein Grundritual der gemeinsamen Existenz. Edith und Vilém erwägen eine Zeit lang die Möglichkeit, nach Israel auszuwandern. 1937 gehen sie zusammen an den Vortrag »Vorurteil gegen Gott« des österreichischen jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1887-1965), der beide sehr beeindruckt. Buber

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hatte schon 1909-1910 Vorträge in Prag gehalten, und seinen Begriff des dialogischen Lebens eingeführt, der in der Folge eine absolut zentrale Bedeutung in Flussers Denken und Werk einnehmen wird. »Ich war ein Bub«, erzählt Flusser in einem Interview vom 30. September 1991 mit Patrick Tschudin, welches das Schweizer Radio DRS-2 posthum am 13. Dezember sendet und das in Zwiegespräche. Interviews 1967-1991 aufgenommen wurde, »von vielleicht 17, 18 Jahren, da kam der Buber nach Prag. Das hat bei mir einen unglaublichen Eindruck hinterlassen. Schon dieser große schwarze Bart und diese starke Gestalt und dieser Blick! Das war ein Blick eines Sehers! […] Und so habe ich die Einsicht gewonnen in die jüdisch-christliche Weisheit, wonach Nächstenliebe der einzige Weg ist, um zu Gott zu kommen. Dank Buber habe ich auch das Bilderverbot im Judentum verstanden. […] Wenn ich […] Bilder mache, verstelle ich mir den Weg zum Anderen und dadurch zum ›ganz‹ Anderen. […] Sogar Gott ist nur, wenn ich zu ihm ›Du‹ sage. Natürlich bin ich nur, wenn Gott zu mir ›Du‹ sagt.« In diesen ersten Wochen bildet sich ein weiteres Grundmuster der Beziehung heraus, das ein Leben lang und über den Tod Viléms hinaus prägend wirkt. »[…] Ich musste immer lernen«, erzählt Edith, »mein Mann hat ja immer unterrichtet. […] wir sind da gesessen und ich musste zuhören. Ich musste immer lernen. Und begonnen hat es mit dem Marxismus. […] ich musste genau wissen, was der Marxismus ist, das ist meine erste Stunde, die ich bekommen habe. […] er hat das größte Vergnügen gehabt, mich zu unterrichten. […] was er im Kopf hatte, musste ich erfahren […].« Edith steht zwar weitgehend im Dienste von Viléms Karriere als Schriftsteller und Philosoph, dies macht ihn aber wiederum von ihr abhängig. Sie hört geduldig zu und stellt Fragen. An ihr testet er sein Wissen und seine Ideen. Für sie wird er alle seine Texte schreiben. Von ihrem Ohr ist er abhängig. Edith und Vilém werden ihr Leben in einer symbiotischen, um nicht zu sagen osmotischen Beziehung verbringen. Auch Volker Rapsch benützt in seiner Beschreibung von Ediths und Viléms Ehe den Begriff symbiotisch. Aus diesem Grund schwingt in Viléms Stimme auch immer die von Edith mit. Ihre Ehe ähnelt damit irgendwie auch derjenigen von Gustav Flusser und Melitta Basch, die, wie Edith festhält, eine eher zurückhaltende geduldige Frau ist. »Sie war eine sehr sanfte Frau […]. Meine Schwiegermutter war sehr lieb, […] sie war eine sehr gute Sängerin […]. Aber sie hat sich gar nicht so eingemischt.« Viléms oben erwähnte Beschreibung aus dem Brief an Fränkl könnte somit teilweise auch auf sein eigenes Verhältnis zu Edith angewendet werde. »Ich glaube […], daß es eine gute Ehe war: mein Vater ›unterrichtete‹ meine Mutter, und diese ›kultivierte‹ meinen Vater.« Flusser verwendet dabei interessanterweise dasselbe Verb wie Edith: unterrichten.

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D ie F lucht Am 12. März 1938 titelt das Prager Tagblatt ›Finis Austriae‹. Wien, die Schwesterstadt, in der so viele Freunde und Verwandte leben, fällt. Es folgen Nachrichten von Massenmord. Die Alpträume beginnen, die Realität zu durchsetzen. In Bodenlos schreibt Flusser über diese Zeit: »Das ganze Gerüst der Wirklichkeit begann, ins Wanken zu geraten. […] Alles, was man vorher als wirklich angesehen hatte, (Familie, Freunde, Schule, Philosophie, Kunst, Zukunftspläne, kurz: Prag), mußte als leerer Schein durchblickt werden, und die Wahrscheinlichkeit, in naher Zukunft ermordet zu werden, mußte als das alles überschattende Faktum angenommen werden. Das war eine Aufgabe, die die Kräfte selbst eines jungen Menschen zu übersteigen drohte.« Die bekannte Wirklichkeit bröckelt ab und fällt in den Abgrund. »Auch die Vernunft hatte für immer ihren Boden verloren.« Prag zerfällt in seine drei kulturellen Komponenten. Ein in »warmer Strömung treibender Eisberg.« Die Menschen tragen schlecht sitzende Masken. »Das also war Prag in ›Wirklichkeit‹ […]? Ein oberflächlich getünchter Urwald, in dem einem selbst die Rolle des gehetzten Wildes zukam.« In dieser Situation, fügt Flusser hinzu, wird das Opfer auf seine rein biologische Gegebenheit reduziert und zum Tier entwürdigt. Es folgt die Besetzung der Sudeten. Es eröffnen sich schreckliche Abgründe zwischen den Juden und ihren Freunden. Die tschechischen Freunde verzweifeln, weil sie verstehen, dass sie ihrer Freiheit und Zukunft beraubt werden. Die deutschen Freunde verachten aufrichtig die Barbarei der Nazis, können aber nicht verleugnen, dass die deutsche Besetzung ihnen auch Vorteile bringt. »Man wußte nicht, wie man mit ihnen sprechen sollte, denn man schämte sich, daß man ihre Maske durchblickte. Gleichzeitig aber wußte man, daß man in kurzer Zeit dieselbe Maske tragen würde. Die Aussicht auf einen gewaltsamen Tod durch die Nazis wurde immer mehr zur Hoffnung.« Der Alptraum verhindert den Schlaf, »denn im Schlaf wäre man zu sich gekommen […] Selbsterkenntnis wäre reine Verzweiflung gewesen.« Prag fällt. Die deutschen Panzer sind überall. Plötzlich zeigt sich die »brutale, vulgäre Gegenwart der exotischen Uniformen, mit ihren verlogenen romantischen Helmen, ihren gewichsten Stiefeln und ihrer tierisch-materiellen Gier nach den Waren in unseren Läden«, schreibt Flusser in Bodenlos. Die Gesichter der alten Freunde lächeln hinterhältig. Sie warten nur darauf, sich Hab und Gut der Ermordeten aneignen zu können: die Schakale der Nazi-Wölfe. Als sich die internationale Situation nach dem Anschluss Österreichs zuspitzt, beginnen Edith und ihre Mutter regelmäßig zwischen Prag und London hin und her zu fliegen, wo sich inzwischen ihre Schwester und ihr Vater, der sein Kapital ins Ausland verschoben hat, aufhalten. Man will Edith zwingen, ebenfalls die Tschechoslowakei zu verlassen, aber sie will ohne Vilém nicht weg. Im Interview mit Anke Finger schildert Edith eindringlich, den emotio-

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nalen Moment, in dem ihr Vater noch ein letztes Mal versucht, Gustav Flusser davon zu überzeugen, wegen der steigenden Gefahr einer Invasion, das Land zu verlassen. Die Diskussion zwischen »meinem Vater und meinem Vater«, wie Edith es ausdrückt, ist ein Kampf der Titanen. »Und ich erinnre mich, dann seh ich einen Streit, einen Kampf, zwischen meinem Vater und meinem Schwiegervater, mein Vater hat meinen Schwiegervater so gehalten, du musst, du musst, du musst weg, du kannst hier nicht bleiben, du musst weg, du hast eine Frau, du hast Kind, und er ist ruhig geblieben. […] mein Vater war weitsichtig, […] hat vieles vorausgesehen, was dann passiert ist.« Gustav Flusser weigert sich, wie ein Krimineller die Stadt zu verlassen. Wie viele andere Juden sieht er die Gefahr nicht, weil er sich mit der deutschen Kultur identifiziert und seine marginale Position innerhalb der tschechischen Kultur nicht wahrhaben will. Vilém hingegen, der die Tatenlosigkeit seines Vaters nicht akzeptiert, ist der Meinung, man müsse so schnell wie möglich weg. Im Nachhinein allerdings gibt er dem Vater Recht, weil die Flucht letztlich unwürdig ist. So schreibt er in Bodenlos. »Man versuchte einen ›tieferen Sinn‹ in diesem phantastischen Zusammenbruch der Wirklichkeit zu erkennen. Nicht: ›Was soll ich tun?‹, sondern: ›Was ist meine Aufgabe in dieser grotesken Lage?‹ […] ›Mein Leben retten‹ war keine befriedigende Antwort. Das war eine Antwort auf dem Niveau der Nazis und der einen belauernden ehemaligen Freunde. Es mußte eine bessere, würdigere Antwort geben. […] Sie kam nicht. All diese Methoden, die eigene Würde und Identität zu retten, erwiesen sich als leere Formen. […] Man entschloß sich, nach dem Westen zu fliehen, und wußte dabei, daß man damit den Entschluß gefaßt hatte, sich selbst und das eigene Schicksal zu verraten. Man hatte die Würde dem Leben geopfert.« Als die deutschen Truppen in Prag einmarschieren, verlassen Edith und ihre Mutter das Haus, in dem sie wohnen. Sie werden verfolgt und kommen vorübergehend an verschiedenen Orten der Stadt unter. Sie haben ein Visum nach England. In ihrem Fall ist es aber schwierig, von der Gestapo eine Ausreisebewilligung zu bekommen, denn diese will, dass der Vater zurückkommt, um an dessen Geld und Besitz heranzukommen. Um die Ausreisebewilligung zu bekommen, stehen sie mehrere Tage an. Eine Kafkaeske Situation. Jedes Mal, wenn sie ganz vorne in der Schlange stehen, wird diese kurzfristig aufgelöst und sie müssen am folgenden Tag wieder anstehen. Insgesamt viermal. Als die Mutter verlangt, dass man ihnen endlich eine Ausreisegenehmigung gibt, werden sie brutal angeschrien. Als der deutsche Beamte verächtlich die Pässe hinwirft und sich abwendet, nimmt sie überraschenderweise ein ganz junger Mann, der daneben steht, in die Hand und stempelt sie kurzerhand ab. »Dieser junge Mann hat mich so angeschaut […]. Und wir sind raus, und wir haben erst nicht verstanden […] und draußen haben wir gesehen, dass wir die Ausreise bekommen haben. Das hat uns das Leben gerettet.« Am Tag danach reisen sie zu dritt weg.

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Abbildung 3: Vilém Flussers hebräisches Gebetsbüchlein (mit einem Begleittext von Edith Flusser)

Vilém nimmt nur zwei Bücher mit: Goethes Faust (wegen Mephisto und nicht wegen dem Faust) und ein Gebetbuch in hebräischer Sprache, das die Mutter ihm in die Hand drückt (Abb. 3). Eine Mutter, die scheinbar bereits tot ist, wie Flusser in Bodenlos anmerkt, und von der er nicht wusste, dass sie überhaupt religiös war. Die Wahl der beiden Bücher ist emblematisch für Flussers dialektisches Denken: Er nimmt Gott mit und den Teufel. Das Gebetbuch, aber nicht der Faust geht »später verloren« merkt Flusser an. Interessanterweise und vielleicht auch ironischerweise taucht dasselbe, stark havarierte Gebetbuch jedoch wieder auf. In der erwähnten Ausstellung »Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste«, konnte man es in einer Glasvitrine sehen, zusammen mit einem handgeschriebenen Zettel von Edith: »Dieses Gebetbüchlein bekam der Papa 1939 auf seine Reise. Auf der Grenze, zwang mich ein deutscher Beamte, aus dem Büchlein etwas zu übersetzen.«

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Im Zug werden sie immer wieder von deutschen Beamten kontrolliert und schikaniert. An der holländischen Grenze in der Nähe von Arnheim lassen die niederländischen Beamten Vilém nicht weiterreisen, weil er im Gegensatz zu Edith und ihrer Mutter kein englisches Visum hat. Man droht, ihn in ein deutsches Konzentrationslager zu schicken, falls er innerhalb dreier Tage nicht das Visum bekommt. Vilém befindet sich immer noch auf deutschem Boden. Edith setzt für Vilém alles aufs Spiel. Auch in dieser Situation verhält sie sich dezidiert und selbstbewusst. »[…] ich hab mich aufgeführt wie eine Verrückte, und mein Vater, es ist ihm gelungen einen Beamten vom Außenministerium zu bestechen […] und er ist am nächsten Tag oder zwei Tage später an die Grenze und hat meinen Mann herausgeholt. Das war ein Wunder. Und alle diese anderen Leute sind dort geblieben. Ein Wunder.« Als Vilém endlich in London ist, trifft er in der Subway überraschenderweise auf Ediths Schwester.

Z wischenspiel E ngl and Im Dezember 1939 folgen heftige Niederschläge in ganz England. Der Januar 1940 ist der kälteste der letzten vierzig Jahre. Die Themse gefriert. Stürme verzögern den Nachschub von Kohle und behindern den Verkehr. Die Engländer leiden, aber die Flüchtlinge leiden doppelt so viel, auch unter dem Ressentiment wegen der militärischen Untätigkeit Englands. Am 14. Juni 1940 marschieren die Nazis in Paris ein. In wenigen Wochen haben sie jeden Widerstand zunichte gemacht. Ein Drittel der Panzer, die in Frankreich eindringen, ist von Škoda in der unterworfenen Tschechoslowakei hergestellt worden. Deutschland erobert mehr als eine Million Quadratmeter in Europa. Es bleibt fast niemand übrig, der sich den Nazis noch entgegenstellen könnte, mit Ausnahme von Griechenland, Großbritannien und den geschlagenen Verbänden britischer Soldaten, die auf den englischen Stränden gelandet sind. Am 23. Juli bestätigt Großbritannien Eduard Beneš als Chef der ›provisorischen‹ Regierung des tschechischen und slowakischen Volkes. Kein großer diplomatischer Sieg, auch wegen des Wortes provisorisch. Jan Masaryk erinnert daran, dass die Tschechen, die von den Nazis getötet worden sind, nicht vorübergehend tot sind. Die tschechische Hymne wird jedoch zum ersten Mal von der BBC ausgestrahlt und der König und die Königin laden Mr. und Mrs. Beneš zum Mittagessen ein. Am 7. September 1940 holt Hitler zu einem entscheidenden Schlag gegen London aus. Dreihundert Bomber und sechshundert Jagdflugzeuge greifen die Stadt an. Über tausend Menschen sterben unter den Bomben. Weitere Angriffe folgen. Sechzehntausend Häuser werden zerstört und mehr als dreihunderttausend Menschen sind obdachlos. Die Londoner passen sich an und helfen sich gegenseitig. Viele Bomben fallen, ohne zu explodieren. Auf einer aufgeklebten Etikette, steht auf Englisch und Tschechisch: »Kei-

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ne Angst. Die Bomben, die wir herstellen, explodieren nicht.« Diese von den tschechischen Arbeitern sabotierten Bomben kommen aus der Škoda Fabrik in der Tschechoslowakei. Über die Zeit, welche die Barths und Vilém Flusser in England verbringen, liegen verschiedene widersprüchliche Informationen vor. Flusser erzählt, dass er während seines Englandaufenthalts die London School of Economics besucht. Wie Rodrigo Maltez Novaes in einer E‑Mail an die Verfasser anmerkt, liegen jedoch keine schriftlichen Aufzeichnungen vor, was natürlich nicht bedeuten muss, dass Flusser dort keine Kurse besucht hat. Ediths Cousins behaupten wiederum, dass die Barths in dieser Zeit nicht in London gewesen sind. Wo sie sich aber genau aufgehalten haben, ist nicht mehr mit Gewissheit auszumachen. Flusser selbst liefert in einem Interview, das im März 1981 in der brasilianischen Zeitschrift Shalom erscheint, eine ans Surreale grenzende Erzählung zu dieser turbulenten Zeit. Man muss Flussers Geschichte, bei der er ganz allein und zu Fuß unterwegs ist, vor dem Hintergrund von Ediths Bericht lesen. Während der schwierigen Flucht nach Holland, so Flusser im Interview, sei es sehr kalt gewesen. Er habe nur dank den bei Bauern gestohlenen Eiern überleben können. An der holländischen Grenze hätten seine Schuhe praktisch keine Sohle mehr gehabt. Es habe ihm eine Internierung in einem Konzentrationslager in der Nähe von Köln gedroht. Dann aber habe sein Schwiegervater einen englischen Anwalt geschickt, der ihn im Kofferraum eines Autos über die Grenze geschmuggelt habe. Als der Krieg ausgebrochen sei, habe er der tschechischen Brigade beitreten wollen, sei aber abgelehnt worden, weil er auf einem Auge blind sei. In dieser Zeit habe er Texte für Jazzlieder geschrieben, die jedoch fast kein Geld einbrachten. Er habe auf ein Zeitungsinserat von seiner Majestät Taiko geantwortet, der einen mehrsprachigen Sekretär gesucht habe und positiven Bescheid erhalten. So habe er ein Schiff nach Thailand bestiegen. Als dieses in Rio einen Zwischenhalt eingelegt habe, habe er beschlossen zu bleiben. Nur deswegen sei er noch am Leben. Er sei sich sicher, dass die Japaner alle Weißen, auf die sie in Thailand gestoßen wären, umgebracht hätten. Möglicherweise versucht hier Flusser, der ein Meister der ironischen Selbstinszenierung ist und dem das Fabulieren einfach von der Hand geht, seinen brasilianischen Gesprächspartner zu verunsichern und zu verulken, oder aber er wählt bewusst ein satirisches Register, um sich von der Trauer der eigenen Erinnerung zu distanzieren. Auffallend ist dabei auch, dass er in dieser subjektiv verzerrten Erzählung ab einem gewissen Moment ganz allein auf der Flucht ist. Flusser nimmt einige der erwähnten Punkte im Interview mit Tschudin auf. So spricht er dort ebenfalls von Jazz-Texten: »man hat mir zehn Schilling pro Text gegeben, und von zwanzig hat man immer nur einen akzeptiert, da konnte ich nicht sehr gut von diesen zehn Schilling leben. […] Also haben wir

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versucht, irgendwohin auszuwandern, meine Frau und ich. Wir waren damals noch nicht verheiratet.« Im Interview geht Flusser noch auf einige weitere Momente seines Englandaufenthaltes ein. Das angelsächsische Denken, vor allem dessen Klarheit, Gründlichkeit und Anständigkeit seien in ihn eingedrungen. »Dann kam ich mit der englischen Philosophie direkt in Berührung, Hume zum Beispiel. Das ist ein solches Vergnügen! Obwohl ich gewußt habe, daß die Deutschen sich schon die Zähne wetzen, die Öfen aufstellen, das ist eine der Sachen, die sie mir doch nicht verdorben haben, dieses Vergnügen, zum Beispiel Hume zu entdecken, und auch die gegenwärtigen, zum Beispiel Russell. Darum war das Jahr in England wichtig.« Und an anderer Stelle fügt er hinzu: »Obwohl mein Aufenthalt in England 1940 relativ kurz war, fiel er doch in eine Phase des Lebens, in der sich der Geist endgültig bildet.« Aber zurück zu Ediths Erzählung. Edith und Vilém verbringen die ersten Nächte unter elterlichem Dach. Sie sind noch nicht verheiratet. So bezieht Vilém zusammen mit einem Cousin eine eigene Wohnung und schreibt sich auf der Universität ein. London wird in dieser Zeit regelmäßig bombardiert, so beschließen sie, die Stadt zu verlassen. In einem kleinen Autobus fahren sie alle zusammen mit anderen Flüchtlingen weg. Gustav Barth sagt dem Chauffeur, er solle so weit fahren, wie das Benzin reicht. So erreichen sie Exeter, im Cornwall, wo sie ein altes verlassenes Haus außerhalb der Stadt beziehen. In der Kurzbiographie, die man in Flusseriana – ein intellektueller Werkzeugkasten nachlesen kann, ist die Rede von einem Aufenthalt in Chagford, einem kleinen Dorf in Devon, das ungefähr 20 Meilen von Exeter entfernt ist und am nord-östlichen Rand des Dartmoors liegt. Dort leben sie mit Ediths Eltern und der Schwester Eva mehrere Monate lang zusammen. Weitere jüdische Familien aus Prag kommen dazu und leben gemeinsam mit ihnen im weiträumigen Manor House. Über ihren Köpfen fliegen die deutschen Flugzeuge hinweg, die nach London unterwegs sind, um die Stadt zu bombardieren. Edith arbeitet in einem Krankenhaus mit neugeborenen Kindern. »Ich habe damals meinen ersten Job meines Lebens angenommen […] Und [so] wusste ich dann, was man mit einem Kind macht.« Vilém langweilt sich und will in Exeter auf die Universität. Da dies nicht geht, beginnt er, allen die Haare zu schneiden. Ediths Vater kriegt keine Arbeitserlaubnis. Man geht spazieren, wartet ab und spielt Schach. Als die Bombardements noch weiter zunehmen, beschließen sie, das Land definitiv zu verlassen. Verschiedene Länder bieten Einreisevisa an, darunter auch Panama und China. Sie entscheiden sich schlussendlich für Brasilien, weil es einfacher ist, die Papiere zu bekommen. Unter anderem brauchen sie auch einen Taufschein, um zu beweisen, dass sie alle Katholiken sind. Bei den Taufscheinen handelt es sich womöglich um eine rein bürokratische Formalität. Edith erinnert sich im Interview mit Finger, dass sie sich zu diesem Zweck absichtlich taufen lässt. Ströhl bezweifelt dies, auch aufgrund eines weiteren Interviews,

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das er mit Edith geführt hat. Die brasilianische Regierung von Getulio Vargas sympathisiert vor dem Krieg mit Nazi-Deutschland und ist eindeutig antisemitisch. Während des Krieges hat sich Vargas dann auf die Seite der Alliierten gestellt. Die Prozedur ist langwierig und nerventötend. Im schon erwähnten, in Robion geführten Interview mit Tschudin liefert Vilém Flusser eine andere Lesart der Ereignisse: »[…] überall hat man uns natürlich den Weg versperrt, weil wir Juden waren. Aber der brasilianische Konsul war korrupt und hat sich durch relativ wenig Geld bestechen lassen, uns trotzdem ein brasilianisches Visum zu geben.« Als sie alles zusammenhaben, fahren sie nach Southampton, dessen Hafen bei ihrer Ankunft lichterloh brennt. »Das werd ich nie vergessen, der ganze Hafen hat gebrannt. Es war ein Meer von Feuer. Da sind wir doch durch, irgendwie und auf’s Schiff. Und mein Mann ist mit, mein Mann war dann immer das dritte Kind […]. Und wir sind dann abgefahren, mit einem Kreuzer, der hat das Schiff begleitet und eine Zeitlang gingen Unterseeboote, kreuzten, Angriffe gegen das Schiff… ›Highland Patriot‹. Ich hab’s sogar gefunden im Computer. […] Und diese Reise nach Brasilien war sehr, sehr, sehr lang.« In einem Zeitungsinterview mit Jochen Wagner, das am 8. April 2008 in der Süddeutschen Zeitung erscheint, spricht Edith Flusser von 30 Tagen. Sie erreichen das »Lichtermeer Rio de Janeiro« mit »einem Zettel voll Adressen um den Hals.« Dass Edith hier Vilém als drittes Kind der Familie bezeichnet, ist äußerst vielsagend, ist dieser doch neben ihr und ihrer Schwester Eva auch tatsächlich so etwas wie ein Adoptivsohn der Familie Barth. Dabei vermischt sich Ediths Schwester-Rolle mit der einer Mutter, was nicht nur auf die besondere Situation Viléms zurückgeht – die Tatsache, dass er bald schon ein Waisenkind sein wird –, sondern auch mit dessen Weltfremdheit und Hilflosigkeit zu tun hat. Der Highland-Patriot ist ein 14.172 Tonnen schwerer, 1932 bei der Belfast Harland & Wolff Ltd. vom Stapel gelassener Ozeandampfer der Royal Mail Lines Ltd. in London. Das Schiff verlässt den Hafen von Southampton im Juli 1940. Während der Nacht sind alle Lichter ausgeschaltet, um die feindlichen Boote nicht zu alarmieren. Die Passagiere dürfen nur eine Zigarette pro Tag rauchen. Sie diskutieren über Politik und hören die Radio-Nachrichten. Edith erinnert sich an die Menschen, die sie auf dem Schiff kennen lernen. Unter ihnen ist Alexandre Kafka (1917-2007), der entfernt mit dem Schriftsteller verwandt ist, und viele Jahre später zum brasilianischen Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) ernannt wird. Im Juni 1972, 32 Jahre später, reisen Edith und Vilém, die beschlossen haben, Brasilien definitiv zu verlassen, wieder mit dem Schiff nach Europa zurück. Die Reise dauert diesmal nur zwei Wochen. Auf dem Weg zurück nach Europa wird die Highland Patriot, die sie ins neue Leben getragen hat, vom deutschen Unterseeboot U-38, kommandiert von Fregattenkapitän Heinrich Liebe, 500 Kilometer westlich von der engli-

Familie und Flucht

schen Küste torpediert und versenkt. Es ist der 1. Oktober 1940. Drei der insgesamt 172 Passagiere an Bord verlieren dabei das Leben, die anderen werden von der HMS Wellington geborgen. Der vielversprechende Anblick der beleuchteten Küste von Rio de Janeiro verdeutlicht nur allzu sehr die Dunkelheit, der sie knapp entronnen sind. Edith spricht nachträglich vom Paradies von Rio und auch Vilém muss voller Hoffnung gewesen sein. Sie erreichen den Hafen von Rio de Janeiro im Spätsommer 1940. Die zuerst von beiden empfundene Hoffnung währt aber nur wenige Momente. Noch auf dem Boot ruft man Vilém zur Seite und eine Gruppe jüdischer Frauen führt ihn in eine nahe gelegene Synagoge, zum Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, für seinen von den Nazis ermordeten Vater. »Es war der ergreifendsten Besuch einer Synagoge in meinem Leben«, erzählt er im schon erwähnten Interview in Shalom. »In der großen Hitze winterlich gekleidet, blieb ich in Brasilien.« Flusser hat während seines Aufenthalts in England immer ein Stück Papier auf sich getragen, das er in zwei Spalten eingeteilt hat. In der ersten trägt er die Gründe für einen Selbstmord ein und in der zweiten die Gründe, die dagegen sprechen. Diese Frage verfolgt ihn in Brasilien noch jahrelang. In Bodenlos, das er nach seiner Rückkehr nach Europa in der dritten Person zu schreiben beginnt, hält er fest, dass er nie den irrationalen, aber existentiell gültigen Glauben aufgeben konnte, dass er eigentlich wie der Rest seiner Familie in den Öfen hätte sterben sollen. Dieser entsetzliche Satz, obwohl er aus der distanzierten Anonymität des ›man‹ formuliert ist, zeigt, dass die Nazi-Barbarei wie alle menschliche Formen der Barbarei auch diejenigen tödlich verletzt, die sie physisch am Leben lässt. Das durch das Schicksal geschenkte Leben ist ein geborgtes »unvorhergesehenes« Leben inmitten von Schatten, weil er sich selbst ausgerissen und nun ganz aus eigenen Kräften leben muss. Die grundlegende Abwesenheit eines nährenden Bodens ist paradoxerweise zum Fundament seines Lebens geworden. »Das Leben in der Bodenlosigkeit hatte begonnen. […] Man war für seine Eltern, Geschwister und nächste Freunde gestorben, und sie waren für einen gestorben. Man blickte in ihre Gesichter und sah Totenmasken. Man war ein Gespenst unter Gespenstern. Als man viel später und sukzessive die Nachricht von ihren verschiedenen grauenhaften Toden erhielt, war das nur eine Bestätigung des damals Erlebten. Sie konnten einen nicht mehr wesentlich treffen. Mit dem Entschluss zur Flucht waren sie schon ins Schattenreich entrückt, und der Mord an ihnen war nur noch ein automatisches Vollziehen eines damals entworfenen Prozesses. Nicht die Nazis, man selbst in seinem Fluchtentschluss hatte sie ermordet – um sich selbst, schattenhaft, zu retten.«

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Teil II: Brasilien 1940–1972

Abbildung 4: Vilém Flusser, São Paulo

Im Namen des Vaters

»Unser Vater war ein pflichtbewusster Mensch, ordentlich, positiv; er war es seit seiner Kinder-, seiner Knabenzeit gewesen, nach dem zu schließen, was verschiedene vernünftige Personen bezeugen, die ich darüber um Auskunft befragt habe. Soweit ich mich selbst erinnere, war er weder absonderlicher noch trauriger als die anderen unserer Bekannten. Nur still. Unsere Mutter war’s, die das Heft in der Hand hielt, die uns Kinder im Alltag schalt. Es geschah aber, daß mein Vater eines gewissen Tages ein Kanu für sich machen ließ.« João Guimarães Rosa, Das dritte Ufer des Flusses

Für Vilém Flusser sind die Namen letztlich wichtiger als die Wirklichkeit, weil sie es sind, die diese hervorbringen. Was bedeutet das für seinen eigenen Namen? Vilém ist das tschechische Äquivalent des deutschen Wilhelm. Der ursprüngliche germanische Name Willahelm besteht aus wil (Entschlossenheit, Wille) und helm (Helm, Schutz). Wilhelm ist somit derjenige, der vom Willen beseelt ist, etwas zu schützen. »Flusser« wiederum stammt von Fluss. So könnte man Vilém Flusser als denjenigen beschreiben, der den Fluss schützt. Wie schon gesehen, schlägt Flusser eine eigene Deutung seines Familiennamens vor. Flusser ist ein »Herauszieher von Kieseln aus Flüssen für Glasfabrikation.« Man könnte den Namen aber auch noch auf andere Art und Weise deuten: Er ist derjenige, der den vorbeieilenden Lebensfluss unterbricht, um ihn besser in Fiktion und Philosophie zu verwandeln. Da Flusser in Prag, der Hauptstadt der Tschechoslowakei, geboren wird und sich mit einem Umweg über das brasilianische São Paulo zu einem der originellsten Philosophen des 20. Jahrhunderts entwickelt, könnte der von ihm beschützte Fluss die Prager Moldau sein oder der durch São Paulo fließende Tietê, oder gar der metaphorische Fluss des Denkens.

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D as dritte U fer des F lusses Es gibt aber noch einen anderen fiktiven Fluss, der eine wichtige Beziehung zu Flussers Denkwelt unterhält. Der Schriftsteller, der ihn erfand, beschreibt ihn als groß, tief und ruhig. Der Erzähler der Geschichte, durch die dieser Fluss fließt, beschützt ihn seit seiner Kindheit. Er tut dies, weil er glaubt, dadurch zugleich seinen eigenen Vater zu schützen. Dieser ist ein pflichtbewusster Mensch, ordentlich und positiv, der sein kleines Kanu durch stetes Rudern in der Mitte des Flusses hält, stundenlang, tagelang, wochenlang, jahrelang. Die Flussmitte, wo der Vater endlos rudert, um nirgendwohin zu reisen, ist eine Art Nicht-Ort, sozusagen das dritte Ufer des Flusses, obwohl Flüsse eigentlich nur zwei Ufer besitzen. »A terceira margem do rio« (Das dritte Ufer des Flusses), ist zugleich der Titel einer der schönsten Geschichten des brasilianischen Schriftstellers João Guimarães Rosa (1908-1967), die 1962 in der Erzählsammlung Primeiras estórias (Erste Geschichten) publiziert wird. Vilém Flusser und João Guimarães Rosa lernen sich durch einen gemeinsamen Freund, den brasilianischen Philosophen Vicente Ferreira da Silva kennen, auf den wir noch zurückkommen werden. Zweifellos bewundern Flusser und Rosa sich gegenseitig, auch wenn Flussers Bewunderung diejenige Rosas bei Weitem übertrifft, widmet er ihm doch mehrere Zeitungsartikel und ein wichtiges Kapitel in Bodenlos. In der Widmung von Flussers Exemplar der Primeiras estórias spricht Rosa von seinem Freund Vilém Flusser, der dem »Teufel und der Sprache befiehlt«. In einem Brief vom 28. Januar 1964 wiederum bezeichnet Flusser Rosa als den »Thomas Mann der brasilianischen Literatur«. Dort spricht er auch von der »mythischen Kraft seiner Sprache.« Flusser gesteht den starken Einfluss, den Rosa auf seine Arbeit ausübt, und vergleicht ihn mit demjenigen Kafkas. 1957 veröffentlicht Rosa sein Hauptwerk, den poetischen Epos Grande Sertão: Veredas. Flussers erstes Buch Língua e realidade erscheint 1963, sechs Jahre später, ein Jahr nach den Primeiras estórias. Rosas literarisches Werk spielt in Flussers Philosophie eine zentrale Rolle, sowohl in Língua e realidade als auch in seinem zweiten Versuch Die Geschichte des Teufels, den er 1965 veröffentlicht. Wir möchten hier die Hypothese entwickeln, dass Flussers Denken, seine Person und sein Name die Niederschrift von Rosas Primeiras estórias inspiriert haben, insbesondere die Geschichte »Das dritte Ufer des Flusses«. Dabei übernimmt Flusser nicht die Rolle des Vaters, sondern diejenige des Erzählers. Dieser verbringt sein ganzes Leben auf einem der beiden Ufer, um von dort aus den Nicht-Weg seines Vaters zu verfolgen. Das dritte Ufer des Flusses ist zwar dessen unbewegliche Mitte, der Fluss selbst aber fließt unbeirrt und unaufhaltsam weiter. Wären wir nicht an Flüsse gewohnt, so müssten wir diese, wie Blaise Pascal es tut, als Pfade wahrnehmen, die sich fortbewegen. Jedes Gehen impliziert Veränderung und Transformation. Wenn der Weg sich bewegt,

Im Namen des Vaters

kann dies zu Schwindel führen oder aber zu einer neuen Sicht der Dinge, einer Epiphanie. Der Fluss als Weg, als ein Weg, der sich bewegt, ist zugleich eine der zentralen Metaphern fürs Leben und spielt eine wichtige Rolle in der Philosophie. Die Geschichte von Guimarães Rosa und seine Vorstellung eines dritten Ufers durchbrechen die übliche Wahrnehmung und führen uns zum Erstaunen zurück, zum Erstaunen über diesen Weg, der sich bewegt. Die verschiedenen Charaktere der Geschichte haben keine eigenen Namen. Der Sohn ist der Erzähler, neben ihm tauchen noch der Vater, die Mutter, die Schwester und der Bruder auf. Dieser Bruder hat nur eine Aufgabe. Er tritt von Zeit zu Zeit im Zusammenhang mit der Zahl drei auf: die drei Geschwister, die drei Ufer des Flusses, dreifache Sprachstrukturen. Der Vater lässt ein kleines Kanu bauen. Er baut es nicht mit den eigenen Händen. Als er das Kanu in den Fluss setzt, bittet ihn der Sohn, mitfahren zu dürfen. Der Vater schickt ihn jedoch weg und segnet ihn, als ob er sagen wollte, die Zeit dafür ist noch nicht gekommen. Der Vater entscheidet, sich von der Familie zu trennen, und rudert auf den Fluss hinaus. Er wird nicht nach Hause zurückkehren und auch nirgendwohin rudern. Er rudert, ohne anzuhalten, und hält das Kanu in der unbestimmten Mitte des Flusses. Die Umstehenden sind bestürzt, weil das passiert, was man nicht erwartet hat. Die Mutter schämt sich, aber trägt alles mit Würde. In Originaltext verwendet Rosa die Wendung »com muita cordura«. Das Wort »cordura« hat die gleiche Wurzel wie »cordial«, freundlich, und »cordeiro«, Lamm. Wer »com muita cordura«, mit großer Vernunft, reagiert, ist gehorsam bis zur Opferbereitschaft und lässt sich hinschlachten wie ein Lamm, wie Abrahams Sohn Isaak. Die alttestamentarischen Hebräer ließen ein Lamm oder eine Ziege als Opfergabe töten. Von diesem Brauch leitet sich auch der Begriff Sündenbock ab. Dies ändert sich auf radikale Art und Weise, als Gott seinen eigenen Sohn für die Sünden der Menschen opfert, das heißt, als er den Befehl, den er Abraham erteilt hatte, nun für seinen eigenen Sohn geltend macht. Dadurch wird Jesus Christus zum Agnus Dei, das heißt, zum Opferlamm Gottes. In Rosas Erzählung wird die Opferrolle vom Sohn auf die Mutter übertragen. Diese Verschiebung verhüllt und enthüllt zugleich die grundlegende Bedeutung der biblischen Tradition für Rosas Text. Am Ufer dieses magischen Flusses im Innern Brasiliens können die Figuren sich nur als Opfer verstehen, ist doch das Verhalten des Vaters so unergründlich wie die Absichten Gottes. Der Vater der Erzählung ist zugleich »unser Vater« im Himmel. Die Geschichte von Guimarães Rosa geht vom christlichen Geheimnis aus und bekräftigt dieses. Für die Figuren ist »unser Vater« ein gewöhnlicher Mensch, der jedoch eine ungewöhnliche Handlung vollzieht, welche die Grenze zum Übernatürlichen überschreitet. Für den Leser kann »unser Vater« auch Gott sein, eine andere Version Gottes jedoch, weil er derjenige ist, der sich selbst anstelle seines

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Sohnes opfert. Diese Version ist zugleich eine ketzerische, es ist die Häresie der Fiktion selbst. Die Jahre vergehen und die Familie versucht sich vergeblich, an die neue Situation zu gewöhnen. Der Erzähler denkt unablässig an den Vater, an die Hitze, die Kälte und die Einsamkeit, die dieser zu erdulden hat. Die Abwesenheit des Vaters ist somit stärker als dessen Präsenz. Auf die gleiche Art und Weise sind die Abwesenheit und das Schweigen des Gott-Vaters (der seit dem Buch Hiob im Alten Testament nicht mehr mit den Juden spricht) stärker im Westen verankert als dessen Gegenwart oder Wort. Der Fluss und der Vater bestimmen die Handlungen und Gedanken des Erzählers. Die Umstehenden und Bekannten finden, dass er seinem Vater immer ähnlicher wird, obwohl sich dieser in der Zwischenzeit in einen tierähnlichen, haarigen, bärtigen Einsiedler mit langen Fingernägeln verwandelt hat. Wenn sie ihn loben, betont er, dass er eigentlich nur das tut, was ihm sein Vater beigebracht hat, dass es nicht das Richtige ist, sondern eine wahre Lüge (»mentira por verdade«). Diesen Satz kann man auch auf die Funktionsweise von Fiktion selbst anwenden. Die Fiktion ist eine Lüge, die wahrer erscheint als jede alltägliche Wahrheit, eine Wahrheit, die sich als Lüge und Fiktion tarnt, um wahrer als jede Wahrheit zu sein. Wie noch zu zeigen sein wird, spielt diese Vorstellung von Fiktion eine wichtige Rolle in Flussers Werk. Die Opferung Gustav Flussers zwingt den Sohn, das ganze Leben hindurch auf ihn zu warten. In seinem Leben wird er vergeblich nach irgendeinem Sinn für dieses absurde Opfer, für diesen sinnlosen Holocaust suchen. Auch der Sohn aus Rosas Erzählung möchte irgendwann wissen, warum sich all dies zugetragen hat. Aber es gibt keinen Ausweg. Der andere Sohn, Vilém, findet auch keine Antwort. So wird er zum Philosophen, das heißt, zu jemandem, der nur wissen kann, dass er nichts weiß. Die Selbstdefinition von Rosas Erzähler dient dabei als Gleichnis für Vilém Flussers eigenes Lebensgefühl: ein Mensch der traurigen Worte, der eine Schuld trägt für etwas, was er nicht (mehr) zu ergründen versteht. In der Geschichte selbst, ist die Schuld eine doppelte. Es ist die unbegreifliche Schuld des Sohnes und die unbegreifliche Schuld Christi, der sich für die Menschen opfert, weil er ein besserer Mensch als alle anderen Menschen ist. In unserer Interpretation verdreifacht sich die Schuld, kommt doch noch diejenige von Vilém Flusser hinzu. Er fühlt sich schuldig, weil er den Vater, die Mutter, die Schwester und die sechs Millionen ermordeten Juden überlebt. Am Ende der Erzählung stellt der Sohn aus Rosas Geschichte fest, dass er traurig und alt geworden ist. Wie wird sich wohl der Vater in seinem Kanu fühlen, das irgendwo im Niemandsland zwischen den Ufern unterwegs ist, zwischen Geschichte und Mythos, Himmel und Erde, Himmel und Hölle? Die Schuld lastet schwer auf ihm. Und immer noch ist er unfähig, sie zu verstehen. Das Kind, das inzwischen ein alter Mann geworden ist, begibt sich zum Ufer und ruft den Vater. Dieser erscheint. Du bist alt geworden, ruft der

Im Namen des Vaters

Sohn ihm zu, du hast lange genug gerudert, komm, damit ich deinen Platz einnehme. In dieser Entscheidung gleicht er Christus, der ebenfalls anstelle seines Vaters leiden will. Der Vater gestikuliert mit einem Arm. Er ist bereit, auf den Tausch einzugehen, und rudert zum Ufer. Der Sohn beginnt jedoch plötzlich, vor Angst zu zittern. Die Haare stehen ihm zu Berge. Der Geist des Vaters und das Gespenst seiner Schuld nähern sich dem Flussufer. Eine Angst, die aus dem Jenseits kommt, packt ihn. Verzweifelt ergreift er die Flucht wie Vilém Flusser 1939 vor den Nazi-Schergen. Der Sohn bittet den Vater dreimal um Vergebung, aber dieser ist inzwischen spurlos verschwunden. Daraufhin erkrankt er. Kurz vor seinem Tod bittet er, dass man ihn in ein kleines Kanu legt und dieses dem unablässig strömenden Fluss übergibt, mit dem sein Wesen nun endgültig eins werden kann »nessa água que não para, de longas beiras: e, eu, rio abaixo, rio a fora, rio a dentro – o rio.« In seinem Briefaustausch mit dem Übersetzer, Curt Meyer-Clason, bemerkt Guimarães Rosa, dass die Schlusspassage der Geschichte auf Deutsch wegen dessen agglutinierenden Charakters eindringlicher wirkt als das portugiesische Original. So werden die beiden Worte »rio« und »abaixo« in ein einziges verschmolzen, flussabwärts. Die Übersetzung ins Deutsche deutet zudem auf ein drittes, im Inneren des Wortes enthaltenes Ufer hin: ab, fort, aus. Und so klingt der übertragene Text: »in jenes weitufrige Wasser, das nicht anhält: und ich, flußabwärts, flußvorwärts, flußaufwärts – den Fluß.« Was spricht für unsere hypothetische Deutung von Rosas Erzählung? Guimarães Rosa liest einen Teil der ersten Fassung von Língua e realidade und diskutiert mit Flusser über die Grenzen der Sprache, wahrscheinlich auf Deutsch, das er sehr gut beherrscht. Darüber hinaus sind ihm die symbolische Bedeutung des Familiennamens seines Freundes sowie die tragischen Momente seiner Lebensgeschichte sicher nicht entgangen. So wagen wir zu behaupten, dass die schönste Geschichte der brasilianischen Literatur, nichts anderes ist als eine Fabel über Flussers Leben. Vilém entkommt zusammen mit Edith aus Prag, als es von den Nazis besetzt wird. Zurück lässt er den Vater, die Mutter und die Schwester. Nach der Ankunft in Brasilien, in einer Stadt, die ebenfalls den Namen eines Flusses trägt, erfährt er, dass sein Vater in Buchenwald ermordet worden ist. In Bodenlos hält er dazu fest, dass er damit nicht nur den Vater verliert, sondern dass damit zugleich ein unersetzbarer Teil der Welt verschwindet. Diese Bemerkung verdeutlicht, warum der Sohn aus Rosas Erzählung den Platz des Vaters am dritten Ufer des Flusses nicht (mehr) einnehmen kann. Wie dieser hat sich auch Gustav Flusser für den Sohn geopfert. Warum aber opfert sich der Vater im nazistischen Holocaust, in der Mitte des schrecklichen Flusses der Geschichte, und nicht der Sohn? Wie soll dieser überleben, Geschäfte machen und Kinder haben, nachdenken und schreiben, im Wissen, dass er den Geist seines Vaters für immer begleiten und beschützen muss und dass ihn dabei die

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Gespenster seiner in Auschwitz ermordeten Mutter und Schwester begleiten? Wie kann er es verhindern, in seinem Schwiegervater einen ironischen Spiegel und ein spöttisches Gespenst zu sehen? Ediths Vater, der ebenfalls Gustav heißt, rettet ihm (zum zweiten Mal) das Leben an der holländisch-tschechischen Grenze. Derselbe Gustav Barth versucht vergeblich, Gustav Flusser zur Abreise zu überreden. Er hat genug Geld, um die Flucht beider Familien zu finanzieren. Flussers eigener Vater will aber von einer Flucht nichts wissen und hält am intellektuellen Prestige seiner Position als Professor fest. Sicher hat er Vilém vor dessen Flucht gesegnet.

E igennamen Alle Kinder, die aus Viléms und Ediths Ehe hervorgehen, tragen Namen mit starkem symbolischem Gehalt. Die ein Jahr nach ihrer Ankunft in Brasilien geborene Tochter trägt einen Namen hebräischen Ursprungs. Dînāh, deren Geschichte im Ersten Buch Mose (Genesis 34) erzählt wird, ist die einzige Tochter Jakobs und Leas und hat zwölf Brüder. Ihr Name bedeutet die Gerechtfertigte, wurde sie doch entführt, aber von ihren Brüdern befreit und erfolgreich der Familie wieder zugeführt. Insofern steht ihr Name auch für eine Vorstellung von Wiedergutmachung, von Sieg und Rettung. Flusser könnte sich für die Wahl dieses Namens unter anderem auch durch Thomas Manns Joseph und seine Brüder inspiriert haben. In »Auf der Suche nach Bedeutung« schreibt er zur Bedeutung Manns in der ersten Phase seiner intellektuellen Entwicklung: »Und ich kehrte zu den Alten zurück. Goethe begleitete mich immer, vielleicht weil er all das ist, was ich nicht sein kann, doch zu dieser Zeit wurde er die Brücke zu Thomas Mann, der mich tief beeindruckte. Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus, die beiden großen Siege der sich selbst bewußt gewordenen deutschen Sprache, die zwei großen Feste des Geistes wurden zu zwei unerschöpflichen Brunnen meines Durstes nach der Sprache.« Miguel Gustavo, der ein Jahr später noch während des Krieges geboren wird, erhält einen Namen, der diejenigen der Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits mit demjenigen des Erzengels Michael kombiniert. Im Hebräischen bedeutet Michael oder Mikael »Wer ist wie Gott?«, das heißt, der Mensch. In der Offenbarung des Johannes tritt Michael als der Bezwinger Satans auf, den er zusammen mit den anderen rebellischen Engeln auf die Erde herabstürzt. »Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel […] Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.« (Offenbarung, 12, 7 und 9)

Im Namen des Vaters

Victor, der am 3. Oktober 1951, sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Rio de Janeiro auf die Welt kommt, erhält einen Namen lateinischen Ursprungs: der Sieg. Seine Geburt besiegelt symbolisch die Vernichtung der Nazi Terrorherrschaft und den endgültigen Sieg über das absolut Böse, welches sich letzten Endes als gar nicht so absolut herausstellt. Wie wir noch sehen werden, gibt es noch einen anderen Grund für Victors Namen. Edith, schließlich, trägt einen Namen der vom altenglischen »éad«, Erbgut, Besitz und »ġȳð«, »Kampf« kommt. Ihr Name symbolisiert das Kämpferische und die Bedeutung der Tradition. Sie tut alles, damit Vilém und ihre Familie von Prag nach São Paulo fliehen können, vergleichbar mit Äneas, der mit dem greisen Vater auf dem Rücken und seinem Sohn Askanios an der Hand dem Brand seiner eroberten Vaterstadt Troja entkommt.

G elehrter oder U nternehmer Gustav Flusser ist von Anfang an Viléms existentielles Vorbild. Wie sein Vater wird er schlussendlich Professor, wenn auch auf einem anderen Kontinent und in einer anderen Stadt. Er sucht nach Studenten und Lesern, die auf ihn eingehen, ihn wahrnehmen und anerkennen, so dass er, wie der Sohn aus Rosas Erzählung, sagen kann, er folge eigentlich nur dem Pfad, den sein Vater für ihn festgelegt habe. Dies ist, wenn auch nicht vollkommen wahrheitsgetreu, zweifelsohne »mentira por verdade«. Dieser Weg zweigt aber erst im Laufe der Zeit vom anderen ab, der wiederum von seinem Schwiegervater Gustav Barth vorgegeben ist. Wie Ströhl festhält, der sich dabei auf Andeutungen Edith Flussers bezieht, kann man davon ausgehen, dass sich Vilém Flusser, aus einem Schuldgefühl seinem Schwiegervater gegenüber, über mehrere Jahre hinweg verpflichtet fühlt, einem geschäftlichen Leben nachzugehen, obwohl dieses seinen eigentlichen Interessen und seiner Berufung diametral entgegenliegt. Edith hat sich in diesem Konflikt entschieden auf Viléms Seite und dadurch auch gegen die eigene Familie gestellt. Der existentielle Konflikt zwischen der Gelehrtenfamilie-Flusser und der Unternehmerfamilie-Barth, zwischen Philosophie und Finanzen, ist mitunter auch ein Grundkonflikt jüdischen Daseins in der Diaspora. Dass sowohl Vilém Flussers leiblicher Vater, als auch der neue, in dessen Familie er wie eine Art Waisenkind aufgenommen wird, denselben Vornamen trägt, ist nicht ohne hintergründige Ironie. Im einzigen erhaltenen Brief an Gustav Barth, den Flusser höchstwahrscheinlich am 23. Mai 1964 (die Jahresangabe fehlt) an die sich auf einer Europareise befindenden Schwiegereltern schreibt, spricht er diesen als »Lieben Vater« an. Ein Brief an den Vater ganz anderer Art. Flusser fasst auf Anfrage seines Schwiegervaters die allgemeine und besondere ökonomische Lage zu-

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sammen. Es ist eine Berichterstattung und somit auch eine Geste der Subordination. Noch ist er der Welt der Geschäfte nicht ganz entkommen. Es ist die Rede vom Dollarpreis, von Inflation, Konkurs und Stellenabbau. »Ich bin schon gewoehnt«, schreibt er fast resigniert, »dass jeder Tag ein Kampf ums Ueberleben ist, so ist die jetzige Zuspitzung der Lage nur eine Dramatisation des Gewohnten.« Sein erstes Buch Língua e realidade ist inzwischen erschienen. Flusser spricht zuversichtlich von einer möglichen Zweitauflage und von Übersetzungen ins Deutsche und Französische. »[…] meiner Meinung nach [liegt] die Wuerde des Menschen in der permanenten Revolution gegen seine Situation«, sein Schicksal ist, »an dieser Revolte zugrunde zu gehen. So ist also meine Lage nichts als allgemein menschlich.« Der Brief endet jedoch in einer ironischen und zugleich selbstironischen Wendung, die typisch für Vilém Flussers Denken ist. »So seid Ihr denn, trotz Eurem Aufenthalt in Zuerich, dem Gewimmel der Ebene entrueckt, und koennt Euch, auf dem Zauberberg, der reinen Hingabe ans Dasein ergeben. Ich schreibe diesen Brief aus der Tiefe (de profundis) auch nur, weil Du mich darum gebeten hast, und weil vielleicht ein Kontakt mit Dollarkurs und Arbeiterloehnen der Bergluft erst die richtige Wuerze gibt, durch Kontrast sozusagen. Ich wuensche Euch weiter ein gutes Geniessen und geniesse im Anblick auf die Ansichtskarten etwas mit, (etwa wie Napoleon Moskau, nach den Worten Stalins).«

Paulicéia Desvairada

»Ich weiss nicht, inwieweit Ihr dort ueber Brasilien informiert seid, aber die Veraenderungen, die hier vorgehn, sind so rapid, dass jede Information ueberholt ist. Das Land hat kaum etwas gemeinsam mit dem, was wir bei unserer Ankunft vor 15 Jahren antrafen. In diesem Taumel des Fortschritts, sind wir alle, teils willens, mitgerissen, denn wer kann sich dem Einfluss des Milieus voellig entziehn?« Vilém Flusser in einem Brief an David Flusser (17. Dezember 1955)

Vilém Flusser wird 1922 zwei Jahre alt. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in Brasilien, veröffentlicht Mário de Andrade (1893-1945), einer der wichtigsten Vertreter des brasilianischen Modernismo, ein Gedichtband unter dem Titel Paulicéia Desvairada, was so viel bedeutet wie die irre oder die halluzinierte Stadt São Paulo. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Gedichtbandes organisiert Andrade eine Woche der modernen Kunst, deren Ziel es ist, die Werke der Modernisten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dabei liest er einige Gedichte vor. Die Lesung, die später als der Startpunkt der modernistischen Literatur Brasiliens verstanden wird, muss unter Buhrufen abgebrochen werden. Andrades Beziehung zu seiner Heimatstadt steht der Flussers diametral entgegen. Dies hat auch mit der unterschiedlichen Geschichte der beiden Städte zu tun. Prags traditionsreiche Geschichte reicht weit über tausend Jahre zurück, während diejenige São Paulos im Wesentlichen in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Kaffeeanbau und der Industrialisierung einsetzt. Zwischen 1886 und 1905 gelangen zahlreiche Einwanderer nach São Paulo, vor allem aus Italien, aber auch aus Deutschland, Japan und Libanon. Sie arbeiten mehrheitlich auf den Kaffeeplantagen. Im Gegensatz zu Prag führt diese plötzliche Präsenz verschiedener neuer Sprachen und Kulturen nicht zu einer auch nur annähernd vergleichbaren kulturellen Dynamik. Das Gedicht Andrades, das alle anderen in sich fasst, ist die »Ode ao burguês«. Seine Ode an die Stadt ist eigentlich eine Anti-Ode, das heißt, ein aggressiver Angriff auf die Figur des satten selbstzufriedenen Bürgers, den typi-

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schen Vertreter der Stadt. Schon zu Beginn beschimpft er diesen, als »digestão bem feita de São Paulo«, die gelungene Verdauung der Stadt. Dieser Mensch ist vor allem ängstlich und überempfindlich. Der Stolz des Paulistaners kann daher dem Stolz des Pragers kaum Paroli bieten. Andrades poetische Hasstirade gegenüber der Stadt ist befreiend und passt bestens zu Flussers eigener philosophischer Ablehnung jeder Form von Nationalismus, die in Brasilien oft bis zum ufanismo, das heißt, zum chauvinistischen Dünkel verkommt. Dieser Triumphalismus vermischt sich von Anfang an und bis in die Gegenwart hinein, mit unechter Religiosität und Kitsch. Er ist das Ergebnis der portugiesischen Kolonisation und der Arbeit der Jesuiten, die stets die Sklaverei und die Privilegien der Mächtigen unterstützt haben. Der Übername der Stadt São Paulo, Paulicéia, ist mehrdeutig, und suggeriert sowohl Zuneigung als auch Missbilligung. Mehrdeutig ist auch das Adjektiv desvairada. Es steht für schöpferischen Übermut und chaotischen Wahnsinn. So ist São Paulo einerseits der kreative Motor des Landes und andererseits das Nervenzentrum von dessen Neurosen und Pathologien.

A nfänge Die Stadt beginnt als Jesuitenkolleg auf einem steilen Hügel, zwischen den beiden Flüssen Anhangabaú und Tamanduateí. Zwölf Priester erbauen das Gebäude, unter ihnen Manuel da Nóbrega und Jose de Anchieta. Die Schule konzentriert sich auf den religiösen Unterricht der eingeborenen Bevölkerung. Man entscheidet sich für den Namen São Paulo, weil die Schule und die Stadt am 25. Januar 1554 gegründet werden. Am selben Tag feiert die katholische Kirche die Konversion des Apostels Paulus von Tarsus. Es ist diese von Anfang an durch die katholische Kultur geprägte Stadt, die der jüdische Flusser nach seiner Flucht aus Europa erreicht. Er und alle anderen Juden können nach Brasilien auswandern, nur weil sie für den verlangten katholischen Taufschein bezahlen können, ob sie nun zum Christentum konvertiert sind oder nicht. Flussers Ironie entgeht der Ironie seiner eigenen neuen existentiellen Situation in Brasilien nicht. In den ersten Jahrhunderten ist São Paulo ein kleines armes isoliertes Dorf. Dies hat auch mit der Schwierigkeit zu tun, die Serra do Mar von der Küste aus zu erreichen. Das Risiko, von Indianern angegriffen zu werden, ist groß. Da die Paulistaner die Ärmsten der portugiesischen Kolonie in Amerika sind, können sie sich keine der aus Afrika verschleppten Sklaven leisten. Dies führt dazu, dass Expeditionstrupps – die Bandeirantes (von bandeira, Fahne) – beginnen, Jagd auf indianische Sklaven im Landesinneren zu machen. Auf ihren Expeditionen entdecken sie aber auch Gold und Diamanten, was die portugiesische Krone und die Kolonie bereichert. Am 11. Juli 1711 erhält das ursprüng-

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liche Dorf auch wegen der strategisch günstigen Lage in der Nähe eines Passes über die Serra do Mar endlich das Stadtrecht. Die Stadt bleibt aber bis 1870 unbedeutend. Im neunzehnten Jahrhundert, nach der Unabhängigkeitserklärung Brasiliens (7. September 1822), wird São Paulo zu einer Kaiserstadt. Im Kloster von São Francisco werden juristische Lehrprogramme entworfen, der erste Keim der späteren 1827 gegründeten juristischen Fakultät am Largo de São Francisco im Zentrum der Stadt. Der Zufluss von Studenten und Professoren verleiht der Stadt zusammen mit der Expansion der Kaffeeproduktion neue Wachstumsimpulse.

U nterwegs zur M egalopolis In den Anfangsjahren der ersten Republik, deren Verfassung am 24. Februar 1891 ausgerufen wird, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt sich die demographische Entwicklung der Stadt. Zu den zahlreichen Einwanderern kommt das starke Bevölkerungswachstum hinzu. 1929 wird in São Paulo das Martinelli Building gebaut, der erste Wolkenkratzer der Stadt. Ein Volkslied aus dieser Zeit verdeutlicht die Vision der Stadt aus der Sicht eines Hinterwäldlers aus dem Landesinneren: »[…] só úa coisa aquí in Sum Pólo que eu já ponhei in reparo: que só se vê é estrangero! Brasilêro é muito raro!« Nur eins ist sicher: In der Stadt sieht man nur Fremde. Brasilianer sind eine Seltenheit! Die Industrie der Stadt und des Landes entwickeln sich rasant, zum Teil dank der Arbeit der Migranten und zum Teil wegen der Einfuhrschwierigkeiten während des Ersten Weltkriegs. Ganze Wohngebiete werden auf Grundstücken errichtet, auf denen früher Landhäuser und alte Bauernhöfe standen. Im westlichen Teil der Stadt entsteht Wohnungsbau mit gehobenem Standard. Die Zone ist heute bekannt als Região dos Jardins, Quartier der Gärten. 1932 bricht in São Paulo die Konstitutionalistische Revolution aus, ein bewaffneter Aufstand gegen die Diktatur von Getulio Vargas, der zur Verkündung einer neuen Verfassung führt, die unter anderem auch von Intellektuellen wie Mário de Andrade unterstützt wird. Es ist der größte zivile Konflikt im Brasilien des 20. Jahrhunderts. Der Militärputsch von 1964 wird keinen vergleichbaren Widerstand hervorrufen. Der Präsident-Diktator Getulio Vargas bewundert den Nazi-Faschismus und seine Führer: Hitler in Deutschland und Mussolini in Italien. Nur eine Reihe von geopolitischen Gegebenheiten verhindern ein paar Jahre später, dass Brasilien sich mit der Achse verbindet. Die Paulistaner mobilisieren eine improvisierte Armee von etwa vierzigtausend Menschen. Der junge Jurastudent, Miguel Reale (1910-2006), der später ein Freund Flussers wird, ist unter den Kämpfern. Nach drei Monaten und zweitausend Toten endet der Konflikt, bei dem São Paulo ganz Brasilien gegen-

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übersteht, mit dem Sieg der Vargas-Diktatur. Allerdings betrachten sich beide Seiten als Sieger, weil der Diktator eine Reihe von Zugeständnissen machen muss und damit zugleich ein Demokratisierungsprozess einsetzt. 1934 wird eine neue Verfassung verkündet und die Universität von São Paulo (USP) gegründet. 1936 wird in São Paulo der Flughafen von Congonhas fertiggestellt. Im gleichen Jahr wird in Rio de Janeiro der Flughafen Santos Dumont eingeweiht, wenn auch noch ohne Passagierterminals. Diese werden erst nach dem Krieg vervollständigt. 1941 kommen Vilém und Edith Flusser in der Stadt an. São Paulo hat damals knapp eine Million Einwohner, aber das Bevölkerungswachstum nimmt rasant zu, auch wegen der Ankunft vieler Einwanderer, die vor dem Krieg in Europa fliehen oder Opfer der Verfolgung sind, wie Vilém Flusser und die Barths. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges nimmt die Bedeutung von São Paulo für den Rest des Landes zu. Die Stadt ist ein Industriezentrum mit einer hohen wirtschaftlichen Wachstumsrate. Das Stadtzentrum wird damals noch von Dutzenden von Straßenbahnlinien auf Schienen durchschnitten, ein langsames aber effizientes Verkehrsmittel, das in den späten 1950er Jahren durch den Auto- und Lastwagenverkehr abgelöst wird. Das Wirtschaftswachstum bleibt auch nach dem Kriegsende bedeutend, so dass São Paulo in den 1950er Jahren zu einer der am schnellsten wachsenden Konurbationen der Welt wird. Warenhäuser wie Sears, das 1949 eröffnet wird, führen Rolltreppen und Klimaanlagen ein. 1950, als Flusser brasilianischer Bürger wird, hat São Paulo bereits zwei Millionen Einwohner. In einem tschechisch verfassten Brief vom 23. August 1952 an den damals noch in Prag lebenden Onkel Karel schreibt Flusser von dem unglaublichen Fortschritt und rasanten Tempo, welche die Stadt erfasst haben. In São Paulo würden täglich 150 Häuser, inklusive Wolkenkratzer gebaut und neue Fabriken entstehen. »Auch kulturell entwickelt sich die Stadt rapide, die Bevölkerung wächst exponentiell, manchmal wird einem dabei fast bange. Manchmal hält man inne und fragt sich, wohin die Menschheit denn so rennt, mit all den Raketenflugzeugen, elektronischen Kontrollen, automatischen Küchen usw. Jetzt fliegen die Flugzeuge von hier nach Rio schon jede 4.-5. Stunde […].« 1954 feiern die Brasilianer mit großem Pomp den Jahrestag der Stadtgründung. Im Bemühen, eine Art bürgerlicher Aristokratie zu begründen, nennt sich die Stadtelite, die historischen Bewohner von São Paulo, quatrocentões, als ob ihre Familien direkt von den Jesuiten abstammten, die das Kollegium von São Paulo gegründet haben. José Bueno, einer von Flussers engeren brasilianischen Freunden, gehört zu dieser Elite. Bueno ist Anwalt und stammt aus der Kaste der noblen Großgrundbesitzer. 1959 wird die Rio de Janeiro-São Paulo Luftbrücke zwischen den Flughäfen Santos Dumont und Congonhas eröffnet, die innovative Dienstleistungen anbietet: direktes Boarding ohne Re-

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servationspflicht, regelmäßige Flüge alle 90 Minuten und die neuen in der Nachkriegszeit entworfenen modernen Convair-Flugzeuge für den Transport von Passagieren. Dadurch rücken sich Cariocas und Paulistaner näher. Die Rio de Janeiro-São Paulo-Strecke wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer der profitabelsten der Welt. In den frühen 1960er Jahren hat São Paulo fast drei Millionen Einwohner und überholt damit Rio de Janeiro als bevölkerungsreichste Stadt Brasiliens. Zehn Jahre später, als Vilém und Edith Flusser nach Europa zurückkehren, hat sich die Bevölkerung der Stadt erneut verdoppelt. In den darauffolgenden Jahren wird das hektische Tempo leicht abnehmen. Weitere vierzig Jahre vergehen, bevor die Bevölkerung der Stadt sich erneut verdoppelt und etwa zwölf Millionen Einwohner erreicht.

M ultikulturelles S ão Paulo Paulicéia Desvairada, auch als Sampa oder terra da garoa, Land des Nieselregens, bekannt, ist eine sowohl multikulturell als auch multireligiöse Stadt, wie das Prag der frühen 1920er Jahre, in das Flusser hineingeboren wird. Glücklicherweise gab es in seiner Geschichte keine Pogrome, aber die Stadt und das Land tragen bis heute den Makel der Sklaverei, die in den enormen sozialen Ungleichheiten, der Proliferation der Slums, den alarmierenden Gewaltraten in den Städten im allgemeinen und insbesondere in der grassierenden Polizeigewalt weiterlebt. Die Migranten spielen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Stadt. Ab 1870 kommen etwa zweieinhalb Millionen Einwanderer aus der ganzen Welt. Die Italiener sind dabei weitaus die größte Gruppe, was zur Folge hat, dass der italienische Akzent alle anderen Sprachen einfärbt. Um nur ein Beispiel anzuführen: Die Stadt besitzt zurzeit um die sechstausend Pizzerien, die etwa eine Million Pizzen pro Tag produzieren. Die jüdische Kolonie versammelt heute mehr als sechzigtausend Menschen. Das jüdische Viertel befand sich anfänglich in Bom Retiro und liegt heute im südwestlich davon gelegenen Stadtteil Higienópolis – ein unglücklicher ironischer Name, der traurige Erinnerung an die »Säuberungsaktionen« der Nazis weckt. Die Juden leben zusammen mit einer großen arabischen Gemeinschaft, die vor allem aus Libanesen und Syrern besteht. In der Stadt gibt es fast so viele arabische Restaurants wie italienische Pizzerien. 1964 putscht das Militär und setzte den drei Jahre zuvor gewählten Präsidenten João Goulart ab. Dieser versuchte, den defizitären Staatshaushalt zu sanieren und Brasilien aus der Abhängigkeit der USA zu befreien. Das neue Regime unter Marschall Humberto Castelo Branco unterdrückt die linke Opposition und schränkt die bürgerlichen Rechte massiv ein. Erst Anfang der

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80er Jahre nimmt der Druck der Repression ab. Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Inflation hat einen beunruhigenden Höhepunkt erreicht. Freie Wahlen werden zugelassen. 1985, 13 Jahre nachdem Edith und Vilém Flusser nach Europa zurückgekehrt sind, wird der aus Minas Gerais stammende Tancredo Neves Präsident. Er stirbt aber kurz vor seinem Amtsantritt. Sein Stellvertreter, José Sarney aus dem Bundesstaat Maranhão, übernimmt das Amt bis 1989. In diesem Jahr wird in der ersten direkten Wahl nach der Diktatur Fernando Collor de Melo aus Rio de Janeiro zum Präsidenten gewählt. Zwei Jahre später findet seine Amtsenthebung statt und der Vizepräsident Itamar Franco aus Minas Gerais tritt an seine Stelle. Dieser übt die Präsidentschaft bis 1995 aus. Mit Itamar Franco beginnt die politische Vorherrschaft des Bundestaates São Paulo in der brasilianischen Politik. Die Präsidentschaft wird zwischen zwei Parteien, die beide ihre Basis im selben Bundesstaat haben, ausgemacht. Von 1996 bis 2002 ist es die Sozialdemokratische Partei (PSDB), mit dem Professor und Soziologen Fernando Henrique Cardoso und von 2003 bis 2010 die Arbeiterpartei (PT), mit dem früheren Metallarbeiter Luiz Inácio Lula da Silva.

Prager in São Paulo

»[…] ein weißer Rabe […].« David Flusser über Vilém Flusser als Prager Jude

Wie aus einer Karteikarte des brasilianischen »Registro de Estrangeiros«, der damaligen Ausländerregistrierung, hervorgeht, kommt Edith Barth, zusammen mit ihren Eltern und Vilém Flusser am 21. August 1940 im Hafen von Rio de Janeiro an. Alle europäischen Einwanderer müssen sich einer Quarantäne von acht Tagen auf der Insel Flores in der Bucht von Guanabara unterziehen.

Abbildung 5: Vilém Flusser (1940)

Erst dann dürfen sie das Festland betreten. Auf einem seltenen Foto dieser Zeit, das den österreichisch-jüdischen Einwanderer Kurt Klagsbrunn zeigt, sieht man ein großes Schild am Eingang des Internierungslagers. Darauf steht in verschiedenen Sprachen der Spruch: »Du warst ein Fremder und Brasilien

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nimmt dich wie einen Eigenen auf.« Da Flusser die Quarantänezeit weder in der Autobiographie noch in seinem Briefaustausch erwähnt, könnte es auch sein, dass ihm und den Barths diese Erfahrung aufgrund ihrer privilegierten ökonomischen Situation erspart geblieben ist. Edith und Vilém (Abb. 5) registrieren sich beide am 27. September 1940, Edith wird als Edita Barth in das Ausländerregister aufgenommen, aufgrund eines am 15. Juni 1934 in der Tschechoslowakei ausgestellten Passes und eines Visums des brasilianischen Konsuls in London. Auf Viléms Karteikarte ist neben der Nationalität in Klammern auch die »religião protestante«, protestantische Religion, angegeben (Abb. 6).

Abbildung 6: Vilém Flussers Karteikarte aus dem Fremdenregister

Vilém und sein zukünftiger Schwiegervater suchen mit der Hilfe der jüdischen Gemeinde von São Paulo einen Ort, wo sie wohnen und auch geschäftlich tätig werden können. Edith bleibt in Rio, in einer kleinen Pension im Stadtteil Leme, bis zu Viléms Rückkehr. Am 15. Januar 1941 heiraten sie und ziehen kurz darauf nach São Paulo. Edith erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine Flugzeugreise. Bei ihrer Ankunft habe Flusser spöttisch auf den beeindruckenden Bau des Belvedere Trianon an der Avenida Paulista gedeutet und angemerkt, das sei São Paulo. Es geht ihm dabei wohl um den grandiosen Kitsch des Denkmals, das gegenüber einem Park liegt, der damals ein Treffpunkt der Elite der Stadt ist. Das Belvedere wird 1950 abgerissen und an seiner Stelle wird das Kunstmuseum von São Paulo (MASP) gebaut. Das Paar verbringt ein paar Tage in einem Hotel an der Avenida São João mitten im Stadtzentrum und mietet dann ein Zimmer in dem ungefähr 8 Kilometer weiter südwestlich gelegenen Stadtviertel Jardim Europa. Der Name des Quartiers und der zentralen Verkehrsader, die Avenida Europa, die es durchschneidet, erinnert ironischerweise an den Kontinent, aus dem sie eben gerade geflohen sind. Der jüdische Siedlungsbezirk Higienópolis ist nicht weit entfernt.

Prager in São Paulo

Das neue Leben in São Paulo ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Abgesehen von der erzwungenen Exilsituation und den sich daraus ergebenden vielfältigen Problemen verliert Ediths Vater auf der Flucht aus Prag einen großen Teil seines Vermögens. Zusammen mit seinem Bruder gründet er das Import-Export-Unternehmen UNEX. Vilém beginnt mit dem Schwiegervater zu arbeiten, sieht sich aber dadurch gezwungen, seine Intelligenz, seine Ausbildung, seine Fähigkeiten und vor allem seine Wünsche zu opfern. Weder Vilém noch Edith können ihre abgebrochene Ausbildung wieder aufnehmen, obwohl sie dies auch in Hinblick auf ihr Alter gern getan hätten. Die brasilianischen Gesetze erkennen das von ihnen in der Tschechoslowakei absolvierte Teilstudium nicht an. Sie müssten somit von der Grundschule an alles wiederholen. Vilém macht tagsüber Geschäfte und studiert Philosophie in der Nacht. Beim Geschäftemachen geht es ihm weder um Gewinn noch um eine Besserung der sozialen Situation, sondern um das schlichte Überleben. Er sieht darin keine Würde. Dieselbe Distanz empfindet er gegenüber dem Philosophieren, denn hier in São Paulo denkt er nicht wie in Prag. Es geht nicht darum, ein neues Leben zu entwerfen oder gar das eigene Leben radikal zu ändern, es ist bloß ein Spiel mit Gedanken und Systemen. »Man spielte auf der Puppenbühne São Paulo«, schreibt er in Bodenlos. »Man lebte über den Zeiten und blickte mit Verachtung und Interesse (eine seltsame Verbindung) auf die Zeit Prags und São Paulos zurück und hinab.« Trotzdem fühlt er das verzweifelte Bedürfnis zu lesen und zu studieren, wenn auch nur, um nicht ganz und gar zu verzweifeln. Noch ist er vollkommen isoliert und hat keine Kontakte zum intellektuellen und akademischen Umfeld der Stadt. Vilém und Edith lernen relativ schnell Portugiesisch, aber Flusser führt fast keine Gespräche mit den wenigen Brasilianern, mit denen er geschäftlich zu tun hat. Er fühlt den Konflikt zwischen den beiden Städten und den beiden Zeiten. So schreibt er weiter in Bodenlos: »Der gleiche Himmel wölbte sich über Prag wie über São Paulo. Beide Orte waren also in den gleichen Raum und den ihn füllenden Weltkrieg eingebettet. Aber ein ganz anderer Zeitgeist atmete in São Paulo. In Prag begannen die ersten Deportationen und in Rio erwartete einen die Nachricht von der Hinrichtung des Vaters. Aber in São Paulo wurden die ersten Vorkehrungen getroffen, aus Kriegslieferungen den künftigen industriellen Aufschwung zu schmieden. Wollte man beide Zeiten, die des Todeskampfes von Prag und die der ersten Pubertät São Paulos […] in einen wirklichen gemeinsamen Raum ein[…]bauen, dann mußte man an der Bosheit und am Irrsinn der Welt verzweifeln.« Flusser stellt fest: Der gleiche Krieg, der seine ursprüngliche Welt zerstört hat, ist die Bedingung für das Wachstum der Welt, die ihn aufgenommen hat. »Man konnte den Krieg in Europa als Selbstmord oder als Geburtswehen eines neuen Europa deuten. […] Und […] denselben Krieg in Brasilien als ›das Erwachen des Riesen in seiner prächtigen Wiege‹ oder als Zersetzung der brasilia-

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nischen Eigenart […].« Die deutschen Panzer, »die über frostige Tundras rollten […], waren der Tod der paradiesischen Bananen und die ›prächtige Wiege‹, der schmutzigen Industrieviertel São Paulos.« Aus diesem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Zeiten und Welten entwickelt Flusser in der Folge eine eigene Dialektik, eine »umgekehrte Dialektik«, die aus These, Antithese, Antithese der Antithese und Synthese besteht. Diese Synthese ist jedoch immer nur eine vorläufige und öffnet sich auf weitere, neue Schleifen der dialektischen Spirale. Flussers Denken folgt dabei dem Aufbau ineinander verschachtelter russischer Puppen. Jede einzelne Puppe enthält eine weitere, die ebenfalls geöffnet werden kann. Die letzte und kleinste besteht aus massivem Holz. So führt die Suche nach Sinn immer tiefer in die Schichten des Realen hinein, um am Ende in ein unverständliches Nichts zu münden, oder – wenn man so will – zum Anfangspunkt zurückzuführen. Flussers Denken ist nicht linear, weder nach vorne als futurologische Projektion noch rückwärts als historische Analyse. Es operiert mittels schwindelerregender Spiralen von außen nach innen. In Bodenlos beschreibt er das existentielle Klima der ersten Jahre in São Paulo als komplexe, in sich verwickelte Situation: die Nazi-Öfen am Horizont, den Selbstmord stets vor sich, die Geschäfte am Tag und die Philosophie in der Nacht. Schon der ganz junge Vilém Flusser sieht die übermäßige Betonung des Fortschritts, so wie sie von der Moderne propagiert und forciert wird, als grundlegendes Übel. Dies gilt auch für das neue Brasilien, das aus dem Krieg hervorgeht. Der Kult des Fortschritts, des Wachstums um jeden Preis, wird sowohl von der brasilianischen Rechten wie der Linken befürwortet. Dies zeigt sich in der großen Ähnlichkeit der ökonomischen Politik der Militärdiktatur und der demokratisch gewählten Regierungen nach 1989. Für Flusser führt jedes Fortschreiten in den Tod. Umso mehr stört er sich später an den nationalistischen Slogans der Militärregierung und der offiziellen, deutlich faschistoid inspirierten Hymne der Fußballweltmeisterschaft von 1970.

A le x B loch 1941 kurz nach seiner Ankunft in Brasilien lernt Flusser einen anderen exilierten Prager jüdischer Herkunft kennen. Alex Bloch ist ein paar Jahre älter als Flusser und sein völliges Gegenteil: nicht analytisch und reflektierend, sondern draufgängerisch und verspielt. Bloch ringt nicht um eine sinnvolle Weltsicht in einer fragmentierten zerfallenden Welt wie Flusser, er ist Nihilist. Edith Flusser beschreibt ihn in Anspielung auf die einsame eigensinnige Figur aus Hermann Hesses gleichnamigem Roman als eine Art Steppenwolf. Bloch, der die Malerin Niobe Xandó heiraten wird, verkauft Haushaltsgeräte von Tür zu Tür, nur um zu sehen, wie die Menschen leben. So verkauft er auch Bücher, wie es in Brasilien zu dieser Zeit üblich ist, aber nur um die Bücher

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zuerst selber zu lesen und sie dann dem Freund auszuleihen. Während der Kriegszeit sind Bücher in São Paulo schwer erhältlich. Dies ändert sich nach Kriegsende, als Bloch in einer deutschen Buchhandlung zu arbeiten beginnt und den Freund regelmäßig mit neuen Büchern versorgen kann. Auch in dieser Hinsicht wird Bloch zu einer wertvollen Quelle für Flusser. Flussers Beziehung zu Bloch entwickelt sich zu einer engen Freundschaft, was unter anderem auch der jahrelange intensive Briefaustausch verdeutlicht, der 2000 unter dem Titel Briefe an Alex Bloch publiziert worden ist. Wie alle anderen Beziehungen, die Vilém im Laufe seines Lebens eingeht, ist auch diese durch heftige wiederkehrende Auseinandersetzungen charakterisiert. Es sei unmöglich, eine konfliktfreie Beziehung mit Flusser zu unterhalten, hält Maria Lília Leão fest, eine frühere Studentin, die sich in Brasilien um sein Werk bemüht hat. Im Nachhinein stelle man dann fest, dass es sich dabei um eine liebevolle, emotionale Form des Streites handle. »Wenn man Flusser nicht herausfordert, sich ihm nicht dezidiert in den Weg stellt, ihn nicht zu beeinflussen oder zu stimulieren versucht, wird er nicht mit einem streiten.« Es ist ein Privileg, sagen zu können, Flusser hat mit mir gestritten, weil es ein sicheres Zeichen dafür ist, dass er einem begegnet ist und als Gesprächspartner ausgewählt hat. Leãos Standpunkt ist natürlich derjenige einer treuen Freundin. Wie wir noch sehen werden, gibt es auch Gesprächspartner, die das ziemlich anders sehen, nimmt Flusser doch selten ein Blatt vor den Mund und weiß meist genau, wo der Schwachpunkt seines Gegenübers liegt und wie er diesen treffen kann. Nach einer besonders heftigen auch verletzenden Diskussion ist er fähig, den anderen, erbosten, beleidigten oder gar am Boden zerstörten Kontrahenten anzurufen, um sich enthusiastisch darüber auszulassen, wie toll das soeben zu Ende geführte Streitgespräch war und dass es unbedingt nötig ist, dieses bei der nächstbesten Gelegenheit wiederaufzunehmen. In den täglichen endlosen Diskussionen zwischen Bloch und Flusser besteht eine klare Rollenverteilung, die an diejenige zwischen Edith und Vilém erinnert. Am 30. Mai 1951 schreibt ihm Flusser, auf die vergleichbare Funktion von Dialog und Brief hinweisend: »Der Adressat meiner Briefe hat gleichsam ein Alter Ego zu sein. Daß auch meine vorgehenden Briefe mehr an mich als an Sie gerichtet waren, sehe ich beim Durchlesen […].« Bloch ist der mephistophelische Geist, der stets verneint, und verkörpert für Flusser zugleich die eigene Versuchung, sich dem Abgrund des Nichts zu überantworten. In einem in Bodenlos enthaltenen, dem Freund gewidmeten Kurzporträt spricht Flusser von einem »Zersetzungselement« in Blochs Denken, dessen er sich als Katalysator für das eigene Nachdenken bedient. Flusser setzt sich gegen den »Negativismus« des Freundes zur Wehr, um dadurch zu einer Synthese des eigenen Denkprozesses zu gelangen. Vilém und Alex kämpfen oft und viel. Sie beschweren sich über einander und doch hören sie nicht auf, sich immer wieder gegenseitig zu besuchen.

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Als Flusser beschließt, wieder in Europa zu leben und von Zeit zu Zeit nach Brasilien zurückkehrt, ist es Bloch, der ihn empfängt und sich um ihn kümmert. Bloch mag es aber nicht, dass der Freund vermehrt in der Sprache des Feindes schreibt, der Sprache derjenigen, die die Juden hingemordet haben, der Mördersprache. Dies scheint einer der Hauptgründe für den endgültigen Bruch zwischen ihnen gewesen zu sein, und zwar genau in dem Moment, als Flusser in Deutschland als Autor bekannt zu werden beginnt. Vielleicht hat die Trennung auch mit Blochs uneingestandenem Neid auf den plötzlichen Erfolg des Freundes zu tun oder mit der Trauer darüber, dass der späte Ruhm die ursprüngliche Intimität ihrer Freundschaft durchkreuzt. Im editorischen Nachwort zu den Briefen an Alex Bloch findet sich eine kurze Beschreibung der definitiven Trennung. Während eines Aufenthalts in São Paulo in den späten 1980er Jahren besucht Bloch Flusser, der bei seinem Sohn Miguel wohnt und beschuldigt ihn, mit dem Nationalsozialismus zu sympathisieren. Flusser ist sprachlos, stellt dann aber den Freund kurzerhand vor die Tür. Kurz bevor dieser das Haus verlässt, dreht er sich um und bittet Flusser, als ob nichts passiert wäre, ihm etwas über Buber zu erzählen. Bloch stirbt 1996, fünf Jahre nach dem Freund, in São Paulo kurz nach einem Besuch in Prag.

D ie ersten J ahre in B r asilien Am 19. November 1941 kommt Dinah, Ediths und Viléms Tochter auf die Welt. Am 2. Juli 1942 werden Viléms Mutter Melitta und seine Schwester Ludvíka, zusammen mit den Großeltern Julius und Olga Basch von den Nazis verhaftet und nach Theresienstadt verschleppt. Von dort werden sie nach Auschwitz deportiert, kurz nach der Zerstörung von Lidice, und am 6. September 1943 ermordet. Die Großeltern mütterlicherseits werden nach Treblinka deportiert und dort am 18. Dezember 1943 hingerichtet. Vilém erfährt davon erst nach dem Ende des Krieges. Am 28. Juni 1943 fast zwei Jahre nach Dinah, wird der erste Sohn, Miguel Gustavo geboren. Edith Flusser erzählt, dass Vilém in der Nacht pausenlos liest und studiert, während die neugeborenen Kinder weinen. In einem weiteren Gespräch aus 1990er Jahre behauptet sie, keine guten Erinnerungen an die brasilianische Zeit zu haben, vor allem wegen der finanziellen Schwierigkeiten. Edith ist in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Haushälterinnen und Kindermädchen sich um alles kümmern. Keine Hilfe zu haben, die sich um Haushalt und Kinder sorgen, und zugleich einen depressiven Ehemann, muss sehr schwer für sie gewesen sein. Man kann zudem davon ausgehen, dass zwischen Vilém und Gustav Barth stets eine Spannung in der Luft liegt, die sich jedoch nicht auflöst oder zu offenem Streit führt, weil Vilém seinem Schwiegervater nicht nur das Leben, sondern auch das finanzielle Überleben in Brasilien verdankt.

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Wie andere Freunde, auf die wir noch im dritten Teil zu sprechen kommen, berichtet José Bueno davon, dass Vilém völlig von Edith abhängig ist. Sie kümmert sich um die kleinsten praktischen Dinge, das Haus, den Haushalt, die Kinder, die Freunde und die Einladungen, so dass er unbehindert denken und schreiben kann. Nach Bueno hat sich Edith freiwillig in den Schatten gestellt, damit er allein im Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen kann. Vilém flirtet noch immer mit dem Gedanken an den Selbstmord. Während der 1940er Jahre leidet er nicht nur unter der Trennung von Heimat und Familie, sondern auch unter dem Verlust der stimulierenden intellektuellen Umwelt Prags.

Abbildung 7: Vilém Flussers Karteikarte aus dem Fremdenregister

Auf Drängen seines Schwiegervaters kauft Vilém 1947 ein Haus an der Rua Salvador Mendonça 76, wo sie bis 1972 leben werden. Am 15. Januar 1948 lässt er die neue Adresse im »Registro de Estrangeiros« eintragen. Dort wird allerdings die Nummer 84 angegeben. Die Straße befindet sich im Jardim Europa, der durch die gleichnamige Allee durchschnitten wird. In unmittelbarer Nähe ist auch die Rua Áustria, die ebenfalls durch ihren Namen an ihre Herkunft erinnert. Dem Ausländerregister kann man entnehmen, dass Edith und Vilém zuvor an zwei weiteren Adressen in São Paulo gewohnt haben: an der Rua Austria 5 im Jardim Europa (Eintrag vom 28. Januar 1941) und an der Rua João Pinheiro 77 im Jardim Paulista (Einträge vom 1. Dezember 1941 und 8. Juni 1943). Vor ihrer Einbürgerung müssen Edith und Vilém sämtliche Reisen innerhalb und außerhalb Brasiliens bei den zuständigen Behörden melden. So unternimmt Vilém im Juni-Juli 1944 und im Juli 1945 eine Reise nach Porto Alegre und Curitiba im Süden des Landes und im März-April 1945 eine Reise nach Rio de Janeiro. Er beantragt zudem ein Reisevisum für die USA (1. April 1947) und Europa (9. Januar 1948) und eins zusammen mit Edith für Argentinien (9. August 1948) (Abb. 7 und 8).

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Abbildung 8: Vilém Flussers Karteikarte aus dem Fremdenregister

1948 hat Flusser einen Autounfall, als er mit einem Taxi nach Santos unterwegs ist. Er wird dabei aus dem Auto geschleudert. Eine Art schicksalshafte Vorwarnung. Glücklicherweise hinterlässt das Ereignis nur eine Narbe auf dem Kopf. Am 23. Januar 1950 wird im Diário Oficial da União, dem Amtsblatt von São Paulo, Flussers Einbürgerungsdekret veröffentlicht. Dadurch wird ihm die brasilianische Staatsbürgerschaft zugesprochen. Edith muss ungefähr zur gleichen Zeit eingebürgert worden sein. 1951 zieht Flusser aus geschäftlichen Gründen vorübergehend mit seiner Familie nach Rio de Janeiro. Er arbeitet dort für die Import-Export-Firma UNEX, die seinem Schwiegervater und dessen Bruder gehört. Der Sohn Miguel kann sich an ein Mittagessen mit seinem Vater im Restaurant Albamar, an der Praça XV erinnern, das eine schöne Aussicht auf die Bucht von Guanabara hat. In São Paulo sind sie manchmal in einem arabischen Restaurant, das Almanara in der Rua Oscar Freire. Die fast täglichen Begegnungen mit Alex Bloch werden durch intensiven Briefaustausch ersetzt. Darin berichtet Flusser ausführlich von seiner ambivalenten Begeisterung für die Lektüre von Martin Heideggers Sein und Zeit. Die Intensität dieser ersten wichtigen Korrespondenz, die den direkten Dialog ersetzt, kündigt von Flussers leidenschaftlichem Bedürfnis, Briefe zu schreiben, als eine Form des erweiterten Dialogs. In den folgenden Jahren, vor allem nach seiner Rückkehr nach Europa 1972 wird Flusser Tausende von Briefen an dutzende von Korrespondenten verfassen. Wir werden im dritten Teil näher darauf eingehen. In einem Brief, den Flusser am 23. Mai 1951 Bloch aus Rio de Janeiro schreibt, geht er auf das komplexe Netz von Abhängigkeiten und Verpflichtungen ein, in das er sich nach seiner Flucht aus Prag verstrickt fühlt. Er nennt es treffend »Barthien«, in Anspielung auf den Namen seiner Schwiegereltern. »In diese Periode fiel für mich der Tod meines Vaters, der definitive Verlust

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Prags, der definitive Verlust des marxistischen Glaubens, die Flucht nach Barthien, die Erkenntnis der Süße der Spekulation und der Abscheulichkeit des Geldes, und all dieses Grausen war […] in den Teig meiner Liebe zur Edith gebettet.« Am 14. Mai desselben Jahres schreibt er seinen Cousins David und Otto Flusser nach Jerusalem, sie würden sich langsam an Rio gewöhnen, São Paulo fehle ihnen aber sehr, auch weil dort ihr Haus stehe. Rio sei natürlich viel schöner und das Klima deutlich angenehmer. »Edith and the children go swimming on the beach every day. I do it on week ends, if I don’t go to the mountains. […] the children are missing their garden, and naturally, Edith is missing her parents, although they visit us every other week.« Flusser erwähnt die geschäftlichen Schwierigkeiten, die zum Teil auf die Importrestriktionen und zum Teil auf die strengen Arbeitsgesetze zurückzuführen sind. Die Lagerbestände und die Verkäufe nehmen kontinuierlich ab, was nicht durch eine Reduktion des Personals kompensiert werden kann.

Abbildung 9: Vilém und Edith Flusser im brasilianischen Ferienort Campos do Jordão in der Nähe von São Paulo

Am 24. September berichtet er: »Bei uns steht die Geburt unseres dritten Kindes knapp bevor. Ich hoffe, dass es ein Maedel wird, dann soll sie (noch nicht definitiv) Gabriela heissen, sonst Alexander. […] wir werden wahrscheinlich

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um die Jahreswende nach São Paulo zurueckkehren.« Am 3. Oktober 1951 wird in Rio de Janeiro das dritte Kind geboren: »We call him Victor, Viki for short, to remind me of my sister [Ludvíka].« 1952 kehrt die Familie nach São Paulo an die Rua Salvador Mendonça zurück. Flusser macht sich selbständig und gründet zusammen mit zwei Partnern – einer von ihnen ist Elektroingenieur, der andere Verkäufer – an der Rua dos Italianos 292 im Quartier Bom Retiro eine kleine Radio- und Transformatorenfabrik, die Indústrias Radioeletrônicas do Brasil Ltda. (IRB), die später in STABIVOLT umbenannt wird (Abb. 10). Vorgesehen sind auch Fernsehgeräte und Ersatzteile für Radios. Flusser übernimmt bis zum 5. Dezember 1964 als »Director Commercial« die kaufmännische Leitung des Unternehmens, zusammen mit Juda Leib Datner als »Director Técnico«. »It is, naturally, a big change in my business life«, schreibt er am 15. Februar 1952 David und Otto Flusser, »but I am rather optimistic, as the setup seems to be good and calculations and market position promising.« Die Konkurrenz sei allerdings groß. Geplant ist unter anderem der Verkauf von Radiogeräten im Landesinnern, wo es so etwas noch nicht gibt. Im selben Brief spricht Flusser auch von einer Auseinandersetzung mit dem Schwiegervater Gustav Barth – »my rift with the family here« –, die dazu geführt hat, dass er die UNEX und Rio verlassen hat.

Abbildung 10: Vilém Flusser (1950er Jahre)

Der Konflikt zwischen Arbeit und Philosophie ist ein unüberbrückbarer Widerspruch. In den Briefen an David Flusser berichtet Flusser ausführlich davon. Am 23. August 1952 schreibt er: »Von uns hier ist nicht viel zu berichten. Die Fabrik laeuft überraschen[d] gut an, touch wood, ueberhaeuft mich aber

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mit Arbeit, sodass ich kaum einen vernuenftigen Gedanken fassen kann.« Er unternimmt Reisen nach Rio, Porto Alegre und in den Norden des Landes, um Radios zu verkaufen und versucht, Importlizenzen zu bekommen. Im gleichen Brief berichtet Flusser ebenfalls von wilden Lektüren: R.H. Tawneys Religion and the Rise of Capitalism, George Santayana, Karl Jaspers, Otto Jespersen über den Ursprung der Sprache, Max Black, Georg Misch über die Geschichte der Philosophie, eine Einführung in die buddhistischen Meditationen und A.H. Armstrongs, An Introduction to Ancient Philosophy. »Du siehst, Kraut und Rueben.« Am 17. Dezember 1955 schreibt er ihm: »Meine Arbeit ist bei weitem weniger interessant und befriedigend als Deine […]. Manchmal geht mir dieses aus lauter finanziellen Anregungen und materiellen Erfolgen bestehende Pseudodasein so auf die Nerven […]. So bemuehe ich mich […], die wenige freie Zeit dazu zu benutzen, geistig nicht zu verbauern. Die immer groeßer werdende Fabrik aber verschlingt nicht nur einen großen Teil meiner Energie, aber [sic!] sie geht mir in letzter Zeit auch in der Freizeit nicht aus dem Kopf.« Und schließlich am 12. Juli 1957: »Ich bin, wie Du wahrscheinlich weißt, eher spekulativ als aktiv veranlagt, das wirtschaftliche Leben war mir immer, besonders aber jetzt […] ein physischer Graeuel.« Im Herbst 1957 erleidet Flussers Schwiegervater, Gustav Barth, einen Herzinfarkt und ist monatelang zur Kur in Europa. Ein Jahr später kommt es zum »geschaeftlichen Zusammenbruch« der IRB, der zum Teil eine Folge der schweren wirtschaftlichen Lage und zum Teil auch auf Flussers mangelnden Sinn fürs Geschäftliche zurückzuführen ist, wie Flusser am 28. Oktober 1961 seinem in Israel lebenden Onkel Karel Flusser mitteilt. Im Juli 1958 muss Flusser um einen Ausgleich ansuchen. »Selbstredend«, schreibt er diesem am 30. September 1958, »ist das nicht nur finanziell, sondern auch moralisch ein harter Schlag gewesen. Ich habe mich davon noch lange nicht erholt.« Gustav Barth, dem es inzwischen wieder besser geht, hilft ihm, sich finanziell von dem wirtschaftlichen Misserfolg zu erholen. Das Geschäft habe sich normalisiert, schreibt er diesem am 17. Dezember desselben Jahres. Es würden aber noch große Schwierigkeiten vor ihm liegen. »Die Kinder gingen gestern in Ferien, (hier sind die großen Ferien selbstredend im europaeischen Winter), so hat die Edith alle Haende voll zu tun, sie zu beschaeftigen. Die Grossen haben eine Tanzerei nach der anderen, tagsueber verbringen sie im Klub, Schwimmen, Tennis, und Basketball. Der Kleine kann noch nicht richtig lesen, so muss die Edith von Frueh bis Abend vorlesen.« Flusser wird noch lange an den finanziellen Folgen seines gescheiterten Versuchs, geschäftlich unabhängig zu werden, und den daraus resultierenden Schulden tragen. So berichtet er David Flusser (Gusto) noch im April 1964 von seiner »wirtschaftlichen Zinsknechtschaft«.

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E ssay oder Tr ak tat Was viele der brasilianischen Freunde immer wieder stutzig macht, ist die Tatsache, dass Vilém Flusser als Intellektueller ziemlich unorganisiert wirkt. So hat er in dieser frühen Zeit zum Beispiel keine eigentliche Bibliothek. Edith Flusser erzählt in einem Interview aus dem Jahr 1996, dass sie und Vilém selten Bücher für sich selbst kaufen: »Mein Mann ging nie in eine Buchhandlung. Es ekelte ihn. Er sagte, so viel ist schon geschrieben worden, was soll ich da noch schreiben? Warum schreibe ich überhaupt, wenn schon so viel geschrieben worden ist?« Nach Lília Leão hatte »Flusser seine Bibliothek im Kopf, wir wussten nicht, wo seine Bücher waren.« Als er Ende der 1950er Jahre Milton Vargas kennenlernt, wird er dessen enorme persönliche Bibliothek benützen, um bestimmte Recherchen machen zu können. In Robion hat er ein kleines Studio ohne Bücher und Regale, mit einem Tisch, auf dem eine alte mechanische Schreibmaschine steht, neben der sich Papierberge stapeln, meistens die Korrespondenz mit den vielen Freunden. Diesem auch später immer wiederkehrenden Bild von Vilém Flusser steht die Tatsache gegenüber, dass er täglich schreibt und dabei systematisch Durchschläge von fast allen seinen Texten auf bewahrt. Eine Praxis, die ein frühes Werkbewusstsein signalisiert. Hinzu kommt die im Berliner Flusser Archiv einsehbare ziemlich umfangreiche Reisebibliothek. Eine vom Archiv publizierte repräsentative Auswahl umfasst über tausend Bände. Auffallend ist dabei hingegen die relative Unstrukturiertheit des Ganzen. Flusser scheint viele Bücher nicht im Original zu lesen, sondern bedient sich einer zugänglichen Ausgabe, auch wenn diese zum Beispiel auf Spanisch ist. Diese Praxis geht wahrscheinlich auf die frühen Brasilien-Jahre zurück und die Schwierigkeiten, sich damals Bücher zu besorgen. Wir werden im Zusammenhang mit Flussers erstem immer noch unveröffentlichtem Buch Das Zwanzigste Jahrhundert auf diesen Aspekt zurückkommen. Die Vorstellung einer fehlenden Bibliothek wird von vielen brasilianischen Bekannten und Freunden der Zeit in Zusammenhang mit Flussers erstaunlichem Gedächtnis gebracht. Alan Meyer, der aus dem Freundeskreis um Dinah stammt und ein häufiger Gast ist, erzählt von einer Diskussion über Wittgensteins Tractatus. Als man Flusser vorwirft, die Argumentation zu verfälschen, weil er den Text nicht gut kennt, beginnt dieser zur allgemeinen Überraschung, den Text auswendig auf Deutsch zu rezitieren, und übersetzt dann die wichtigen Passagen ins Portugiesische. Bei einer anderen Gelegenheit diskutiert er mit Dora Ferreira da Silva, die Frau des schon erwähnten brasilianischen Philosophen, Vicente Ferreira da Silva über Rainer Maria Rilke. Flusser behauptet zu Beginn, er verstehe eigentlich fast nichts von Rilkes Werk. Zum Schluss aber rezitiert er auf Deutsch eine ganze Reihe von Gedichten und übersetzt sie für die Anwesenden ins Portugiesische. »Und er übersetzte mit solch einem

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Impetus und Enthusiasmus«, erinnert sich Dora Ferreira da Silva, »dass alle völlig verblüfft waren.« In Anbetracht von Flussers ausgeprägten schauspielerischen Fähigkeiten kann man sich fragen, wie viel davon bewusste Selbstinszenierung ist. Flusser verschweigt in der Regel seine Quellen oder zitiert sie unvollständig. Auch Fußnoten oder Anmerkungen fehlen ganz. Wir haben uns dafür entschieden, diese Biographie à la Flusser zu schreiben, wie der Leser inzwischen sicher schon bemerkt haben wird. Das heißt, wir verzichten auf präzise Quellenangaben und erklärende Fußnoten. Im Gegensatz zu Flusser haben wir jedoch weiterführende bibliographische Angaben hinzugefügt: Flussers wichtigste Texte, die essentielle Sekundärliteratur und Bücher, die wir zu Rate gezogen haben. In einem Interview, das Angelika Stepken im Mai 1989 in Berlin mit Flusser führt, spricht sie ihn auf seinen Verzicht üblicher wissenschaftlicher Formen an. »Also zuerst: Warum schreibe ich, wie sie gesagt haben, ohne Fußnoten und so weiter. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Möglichkeiten, seriös etwas zu schreiben. Ich würde die eine ›Traktat‹ nennen und die andere ›Essay‹. Ein Traktat ist eine Abhandlung über ein Thema im Gespräch mit anderen Abhandlungen und hat daher die Pflicht, alle vorangegangenen Abhandlungen zu erwähnen, denn er führt den Dialog sozusagen weiter. Von daher die Masse von Fußnoten, welche das Lesen von wissenschaftlichen Texten so erschwert. Aber es gibt auch eine andere Art zu schreiben, nämlich essayistisch. Das ist ein Versuch, das ist eine Einstellung. […] ich habe allein dafür die Verantwortung zu übernehmen, in der Hoffnung, daß mir andere widersprechen. Und deshalb mache ich keine Kommentare und keine Fußnoten, soweit es mir gelingt. Ich zitiere ja doch. Man kann der Sache schwer entgehen. […] Ich entgehe der Sache nicht. Ich wiederkaue auch hier und da. Aber wenigstens zeige ich das nicht, ich versteck‹ es.« Flusser beherrscht die jüdische Kunst des Zitierens ohne Anführungsstriche. Das Zitat ist in der jüdischen Bibelexegese soweit Teil des eigenen Denkens geworden, dass kein Unterschied mehr gemacht wird, ob man mit der eigenen oder einer fremden Stimme spricht. Das Zitat wird dabei nie als Ornament oder Hinweis auf eine andere textuelle Autorität benützt. Durch den fast vollständigen Verzicht auf Zitate, Quellenangaben, Bibliographien und Fußnoten möchte Flusser zudem seinen nomadisierenden, bodenlosen Denkstil in der äußeren Form des Textes sichtbar machen. Seine Texte sind ohne Verwurzelung. Das macht ihre Leichtfüßigkeit aus. Flussers prinzipieller Verzicht auf Bibliographien kommt erst im Laufe der Jahre und stufenweise zustande. So findet man im ersten Buch Das Zwanzigste Jahrhundert ein mehrseitiges thematisch ausuferndes alphabetisches Literaturverzeichnis. In Língua e realidade hat Flusser hingegen für eine nach Kapiteln eingeteilte essentielle, aber doch ausführliche fachspezifische Bibliographie

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optiert. Im 1965 veröffentlichten Vorlesungszyklus Filosofia da linguagem (Philosophie der Sprache) schließlich hat er diese auf zwei bis drei Angaben am Ende der einzelnen Kapitel reduziert. Das im gleichen Jahr publizierte Werk – A história do diabo – kommt hingegen ohne Bibliographie aus. Von diesem Zeitpunkt an wird Flusser auf die Verwendung von Bibliographien grundsätzlich verzichten. Dieses Vorgehen ist Ausdruck einer grundlegenden Spannung in seinem Werk und zugleich der Versuch, diese zu überwinden. Akademismus und Essayismus, Faktizität und Fiktionalität, Philosophie und Literatur stehen in seinem Werk einander gegenüber, aber nur um immer wieder einander zugeführt und miteinander verwoben zu werden. Flusser schreibt Essays und keine Traktate. Dies ist wohl seine Trademark, seine Schwäche, aber zugleich auch das, was ihn von anderen Philosophen unterscheidet und seine Originalität ausmacht. Flusser wurde mehrfach wegen ungenauer oder abgeänderter Zitate kritisiert. Wir erlauben uns diesen lockeren Umgang mit Zitaten natürlich nicht, glauben aber zugleich, dass Flusser damit auch so etwas wie einen ironischen Effekt erzeugen will. Dies liegt daran, dass die von Flusser angeführten Zitate keine autoritativen Argumente darstellen sollen, sondern oft der vernichtenden Kritik des Verfassers unterzogen werden. Hier könnte man auch einen Vergleich zu seinem leichtfertigen Umgang mit Übersetzungen anführen, der ebenfalls die Vorstellung eines unberührbaren Originals in Frage stellt. Auch dies ist eine Folge des Denkens in der Bodenlosigkeit. Natürlich handelt es sich bei Flusser trotz der hybriden Qualität seiner Texte auf der Grenze verschiedener Diskurse nicht um Fiktion im engeren Sinne. Seine Verantwortung dem Text gegenüber ist als Essayist und Philosoph eine grundlegend andere. Flusser ändert, wie gesagt, seine Zitate manchmal absichtlich ab, um eine ironische Wirkung zu erzeugen. Es kann aber auch aus anderen Gründen geschehen, die mit seinem Denk- und Schreibstil zu tun haben sowie mit seinem assoziativen ungestümen Vorgehen, das eher die großen Zusammenhänge sieht als das kleine signifikante Detail. Ungenauigkeiten dieser Art, schließlich, sind vielleicht auch auf Vergesslichkeit oder mangelnden Respekt für den Gedanken des Anderen zurückzuführen.

B r asilianische F reundschaf ten Gegen Ende der 1950er Jahre gelingt es Flusser, sich der intellektuellen Szene in Brasilien zu nähern und mit einigen Mitgliedern des brasilianischen Instituts für Philosophie (IBF) Kontakt aufzunehmen. Flusser wird Philosoph und Intellektueller durch einen Akt des reinen Willens und der Beharrlichkeit, wie Miguel Vargas festhält, besitzt er doch keinen akademischen Titel, der ihn legitimieren würde.

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Gemäß José Bueno beginnt alles damit, dass Flusser auf einen Text des brasilianischen Philosophen Vicente Ferreira da Silva (1916-1963) stößt, was ihn dazu bewegt, an dessen Haustür zu klopfen. Ferreira da Silva, der in philosophischen Dingen wie Flusser ein Autodidakt ist, erklärt er unumwunden, er müsse sich unbedingt auf seine intellektuelle Karriere konzentrieren und zähle dabei auf dessen Unterstützung. In Vicentes Haus ist gerade die wöchentliche IBF-Sitzung in vollem Gange. Anwesend sind Milton Vargas (19142011), Ingenieur und Professor für Mechanik, die Dichterin Dora Ferreira da Silva (1939-2009), der Philosoph Luís Washington Vita (1921-1968), ein Pionier auf dem Gebiet der Geschichte der brasilianischen Philosophie, und Heraldo Barbuy (1913-1979), ein bedeutender religiöser Denker mit einem katholisch konservativen Hintergrund. Milton Vargas hat in der Festschrift zu Flussers siebzigstem Geburtstag über flusser diese erste Begegnung beschrieben. »Ich traf Vilém Flusser zum ersten Mal […] im Hause des Vicente Ferreira da Silva in São Paulo. […] Dora, eine schon damals ziemlich bekannte Dichterin, die Rilkes Duineser Elegien ins Portugiesische übersetzt hatte, und ich waren ins Gespräch vertieft, als jemand an die Tür klopfte. Es war ein eigenartiger, schon damals glatzköpfiger junger Mann mit einer scharfen Nase und beeindruckender Brille. Er war uns völlig unbekannt. Selbstbewußt stellte er sich vor und sagte, er suche Leute, mit denen er Gedanken austauschen könne. São Paulo sei eine menschen- und gedankenleere Wüste, fügte er hinzu. […] Anfangs war es ihm nicht gelungen, mit brasilianischen Intellektuellen Kontakt aufzunehmen, bis zu dem Tag, an dem Journalisten in ihm einen brillanten Leitartikler entdeckten. Von da ab erschienen Essays von ihm über Kunst und Literatur in Kulturzeitschriften und in den wichtigsten Zeitungen São Paulos. Er wurde sofort in der ganzen Stadt bekannt und bewundert.« Obwohl die meisten Anwesenden den Zeitpunkt dieser ersten Begegnung auf das Ende der 1950er Jahre festlegen, glaubt Dora Ferreira da Silva, dass sie schon viel früher stattgefunden haben muss, nämlich Ende der 1940er oder Anfang der 1950er Jahre. Da Flusser jedoch in den frühen 1950er Jahren in Rio de Janeiro ist, und vom Kontakt mit dem IBF erst zu Beginn der 1960er Jahre zu profitieren beginnt, hat sich Dora Ferreira da Silva wohl getäuscht. Sie muss diese Begegnung mit der Gründung des Brasilianischen Instituts für Philosophie durch den Philosophen Miguel Reale im Jahr 1949 an der Rua der Barão de Itapetininga 255 verwechselt haben. Der erste Kontakt zwischen Vicente da Ferreira Silva und Flusser ereignet sich jedoch zu einem ganz anderen Zeitpunkt. Ihr Mann habe ihr, so Dora Ferreira da Silva, von einem Paar erzählt, das er ihr vorstellen wolle. Sie werde sich dabei sicher amüsieren. Für Vicente ist Flusser die Verkörperung des aus Böhmen stammenden Grafen Johann Dionys Psanek aus D. H. Lawrences 1923 publizierter Novelle The Ladybird. Diese Figur besitzt einen Fingerhut mit dem Emblem eines Marienkäfers. Vielleicht ist hier der Ring gemeint, den Flusser

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von seinem Großvater Basch für den Bar Mizwa erhält. Graf Psanek ist ein Dandy, ein kleinwüchsiger eigenartiger Mann (»small, yet electric«) mit einer außergewöhnlichen verführerischen Stimme, wie eine männliche in der Dämmerung singende Meerjungfrau. Eine der Figuren beschreibt ihn als »impertinent little fellow! A little madman, really. A little outsider.«

Abbildung 11: Vilém Flusser

Edith und Vilém machen einen tiefen Eindruck auf Vicente und Dora da Silva. »Edith hatte honigfarbene Augen«, erzählt Dora. »Eine äußerst freundliche Person. Flusser hingegen hatte etwas Mephistophelisches, mit seiner riesigen Narbe«, die er sich im Autounfall auf dem Weg nach Santos zugezogen hat. Sie ist beeindruckt von der Lebhaftigkeit von Viléms Augen, muss aber später erfahren, dass eines davon aus Glas ist. »Aber es war unglaublich, wie er dieses Auge belebt hat, denn niemand hätte gedacht, dass es kein lebendiges Auge war.« Wie bereits erwähnt, ist Flusser tatsächlich seit seiner Geburt auf einem

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Auge blind. Das Auge sieht nicht, ist aber nicht aus Glas. Vielleicht hat Dora da Ferreira Silva wegen ihrer Wahrnehmung von Flussers mephistophelischem Charakter in der Vorstellung eines Glasauges so etwas wie eine Bestätigung gefunden oder aber Vilém hat sie bewusst getäuscht, indem er mit seiner Behinderung gespielt hat. Dora ignoriert jegliches Protokoll und fragt ihn unverblümt: Glauben Sie an Gott? Flusser, der sich kaum hingesetzt hat, steht auf und vollführt als Reaktion auf Doras Frage einen echten Tanz des Ekels. Kurz darauf aber entwickelt er seine Vorstellung eines paradoxalen Atheismus und beginnt, über das Heilige zu sprechen, eines seiner bevorzugten Themen. Milton Vargas hat die Begegnung zwischen Vilém Flusser und Vicente da Ferreira Silva in dessen Haus in über flusser eindringlich beschrieben. »Damals, in dieser Nacht in Ferreira da Silvas Haus, entstand eine eigenartige intellektuelle Bindung zwischen beinahe entgegensetzten Mentalitäten, und zwar dank eines gemeinsamen Interesses für die deutsche Philosophie. Beide waren bei Heidegger angelangt, aber auf verschiedenen Wegen. Vicente durch die deutsche Romantik und durch Hölderlins Dichtung, Flusser durch Husserls Phänomenologie. Beide waren in dieser Hinsicht Autodidakten, gleichwohl echte Intellektuelle, welche die offizielle Schulphilosophie verachteten […].« »Ein wenig später«, schreibt Vargas weiter, wurde Flusser dem »Rechtsphilosophen Miguel Reale vorgestellt und […] sofort kooptiert.« Reale, Präsident der IBF bis zu seinem Tod im Jahr 2006 und zweimaliger Rektor der Universität von São Paulo, erinnert sich an Flusser als einen außerordentlich gebildeten Menschen, mit profunden Kenntnissen in der deutschen Philosophie. Reale, der nicht der einzige ist, bezeichnet Vilém Flussers Haltung philosophischen Problemen gegenüber als »vulkanisch«. Die Annäherung an diesen neuen Freundeskreis eröffnet Flusser den Zugang zu einer Welt, der er schon immer angehören will, eine Welt, in der er Studenten unterrichtet, Vorträge hält sowie Bücher und Artikel veröffentlichen kann. Allerdings wird die Verbindung mit der IBF und ihren Mitgliedern auch negative Folgen haben, die sich ab 1964, dem Jahr des Militärputsches, verschärfen werden. Reale ist eine Schlüsselfigur der Ação Integralista Brasileira, die vor dem Zweiten Weltkrieg die Umsetzung des Faschismus auf brasilianischem Boden befürwortete. Auf konsistente Art und Weise und ohne zu zögern unterstützen daher Reale und der IBF den Militärputsch und dies obwohl das Institut die Koexistenz aller philosophischen Richtungen, auch der marxistischen, unterstützt. Trotz dieser theoretischen Form der Toleranz wird Reale 1968 zu einem der wichtigsten Fürsprecher des Ato Institucional n°5, der die Diktatur noch verschärfen wird, vor allem was die Verfolgung von Politikern, die Folter und den Tod der politischen Gegner angeht, unter ihnen auch Professoren der Geschichte und Philosophie. Es stimmt aber auch, dass Reale mit seinen Kollegen im linken Spektrum immer gut auskommt und dass seine Arbeit als Rektor der USP von

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allen Kollegen gelobt wird. In einem Gespräch mit Oswaldo Porchat, einem der wichtigsten Vertreter der philosophischen Skepsis in Brasilien, beschreibt Reale sich ironisch als den liberalsten unter den Faschisten. Es ist hier noch wichtig anzumerken, dass Flusser sich dieser politischen Differenzen sehr wohl bewusst ist. Er bewundert zwar die neuen Freunde und ist ihnen dankbar für die Gelegenheit, im akademischen Dialog mitzuwirken. Dabei stören ihn aber Reales und Ferreira da Silvas offene Sympathiekundgebungen für den Faschismus, denn er kann und will nicht vergessen, dass der Faschismus die italienische Version der deutschen Nazi-Barbarei ist. Sich auf eine, wenn auch beschränkte Beziehung damit einzulassen, ist ihm schlichtweg unmöglich.

D ie Terr asse Flussers erster in Brasilien publizierter Essay »Da língua portuguesa« (Von der portugiesischen Sprache) erscheint im Oktober 1960 in der Zeitschrift des IBF, der Revista Brasileira de Filosofia, in der Flusser bis zum Herbst 1971 insgesamt 23 Texte publiziert. Ab 1960 beginnen auch einige junge Leute, am Mittwochabend die Terrasse des Hauses an der Rua Salvador Mendonça, zu besuchen, um an den informellen Vorlesungen Flussers und den darauf folgenden Diskussionen teilzunehmen. Es sind Freunde und Kollegen der Dante Alighieri School, wo die Tochter Dinah studiert. Unter ihnen sind Celso Lafer, Alan Meyer, José Carlos Ismael, Betty Mindlin, Mauro Chaves, Gabriel Waldman und Maria Lília Leão. Das Gespräch entwickelt sich bald zu einem dynamischen Kurs über philosophische Fragen. Mauro Chaves, der später Journalist, Kulturproduzent, Dramatiker und Anwalt wird, versucht, Die Geschichte des Teufels ins Portugiesische zu übersetzen, aber Flusser will dann doch lieber seine eigene Version publizieren. In einem Brief, den José Carlos Ismael, der heute als Filmkritiker tätig ist, Flusser am 3. November 1964 schreibt, geht es um die »unermüdliche und beneidenswerte« Verzweiflung mit der dieser unnachgiebig darüber wacht, dass man sich nicht von falschen Wegen verführen lässt. Er scheint damit im Namen aller anderen Besucher der Terrasse zu sprechen. »Ich muss zugeben, dass sie uns alle gründlich aufgerüttelt und um unseren Frieden gebracht haben. Obwohl ich damit für viele andere spreche, drückt meine Aussage ein sehr persönliches Gefühl aus. Ich lege Zeugnis ab für all diejenigen, die bei Ihnen einkehren und für die Sie den zugleich beängstigendsten und einzigen Rettungsring darstellen.« Ismael bezieht sich dabei auf einen Witz, den Flusser am Tag zuvor erzählt hat: Nur Esel essen wahllos das Gras, das auf den Gräbern wächst. Intendiert ist hier wohl eine Kritik der planlosen Aneignung der Vergangenheit. Ismael fügt ironisch und provokativ hinzu: »Ich persönliche wage es aber zu glauben, dass das Gras, das

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auf unseren Gräbern wachsen wird, den dickköpfigen Vierbeinern schmerzhafte Magenverstimmungen verursachen wird. Wenn uns auch kein anderer Trost übrigbleibt, wäre dies nicht schon mehr als genug für uns?« An Wochenenden finden auf der Terrasse hitzige Debatten zwischen Vilém und seinen intellektuellen Freunden statt, unter ihnen Professoren, Künstler, Schriftsteller und Philosophen. Zu dieser Gruppe gehören, neben den schon erwähnten Alex Bloch, Milton Vargas, Dora Ferreira da Silva und José Bueno, auch der jüdische Migrant und Geschäftsmann Romy Fink (1912-1972), und die Maler Samson Flexor und Mira Schendel, auf die wir noch zu sprechen kommen. José Bueno erzählt, dass es zwischen den Debatten musikalische Einlagen gibt. Edith besitzt ein Klavier und hat in Prag eine musikalische Ausbildung genossen. Vilém hat eine gute Stimme und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Victor, der später in Frankreich Musiksoziologie studiert, trägt deutsche Balladen von Schumann und Schubert vor. Das Musikalische spielt eine wichtige Rolle in Flussers Leben und seinem intellektuellen Werdegang und dies obwohl er eigentlich als Philosoph des Verhältnisses von Bild und Text bekannt geworden ist. In »Auf der Suche nach Bedeutung« verbindet er die Musik mit dem doppelten Einfluss von Kafka und Rilke und der Poesie des Unsagbaren. »Diesem Modell folgend, tauchte ich spontan in den Ozean der Musik ein, in die Welt der Schallplatten. Aus unerklärlichen Gründen nahm mich Mozart gefangen. Ich fühlte in ihm die fast übermenschliche Perfektion im Versuch, die menschliche Verzweiflung zu überwinden. Dieses mein Eintauchen in die Musik führte mich zu Schopenhauer zurück, derart gegenmozartisch, und dadurch auch zur Sprache als Musik und zur Musik als Sprache.« Im Essay »Na música« (Über Musik), der in den 1960er Jahren entsteht, verweist Flusser auf die enge Beziehung von Musik und Mathematik in der griechischen Kultur der Antike und bestimmt diese als eine Art Modell für alle anderen Künste. Und im vorletzten Kapitel von Ins Universum der technischen Bilder (1985), welches den programmatischen Titel ›Kammermusik‹ trägt, setzt er das kleine musikalische Ensemble und dessen dialogische Funktionsweise als Metapher einer utopischen noch zu errichtenden telematischen Gesellschaft ein. 1961 beginnt, wahrscheinlich dank der Vermittlung von Mauro Chaves, die langjährige Zusammenarbeit mit Décio de Almeida Prado, dem Herausgeber des Suplemento Literário, der Literaturbeilage der Zeitung O Estado de São Paulo. Bis im Dezember 1971 veröffentlicht Flusser insgesamt 134 Beiträge. Es ist dies die längste, kontinuierlichste und intensivste verlegerische Zusammenarbeit, die Flusser je zuteilwurde.

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Abbildung 12: Edith und Vilém Flusser (1960er Jahre)

Am 20. Dezember 1962 nimmt Reale Flusser offiziell als IBF-Mitglied auf. Reale möchte, dass das Institut den rein akademischen Rahmen hinter sich lässt und Flussers intellektueller Stil weist genau in diese Richtung. Jenseits der klassischen akademischen Sichtweise will er ein Verständnis der Philosophie als etwas grundsätzlich Kreatives fördern. In diesem Sinne kann niemand das brasilianische Institut für Philosophie besser repräsentieren als Flusser, der eingewanderte Autodidakt, der, gerade weil er keine akademischen Titel besitzt, eine originelle und radikale Denk- und Schreibweise verfolgt.

D ie erste B uchpublik ation 1963 publiziert der Herder Verlag in São Paulo – die brasilianische Tochtergesellschaft des gleichnamigen deutschen katholischen Verlags in Freiburg i.Br. – Flussers erstes Buch: Língua e realidade. Vilém, der damals 43 Jahre alt ist, widmet das Buch Edith: Uxori dilectissimae, was so viel bedeutet wie »meiner geliebten Frau«. Auf die in den 1950er Jahren entstandenen Das Zwanzigste Jahrhundert und Die Geschichte des Teufels, die zu diesem Zeitpunkt immer noch ihrer Veröffentlichung harren, werden wir im Folgenden noch näher eingehen. Ausgehend von einer Reihe von Sprachen, darunter Tschechisch, Deutsch, Portugiesisch, Englisch, Französisch, Hebräisch, aber auch Inuktitut, die ostkanadische Dialektgruppe der Inuit-Sprache, entwickelt Flusser die fundamentale Rolle von Sprache(n) in der Konstitution von Wirklichkeit. Er disku-

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tiert dabei die Unterschiede der drei großen Sprachfamilien: die flektierenden, isolierenden und agglutinierenden Sprachen. Diese Dreiteilung ist von August Wilhelm Schlegels und Wilhelm von Humboldts klassischer morphologischer Typologie abgeleitet, die zwischen synthetischen und analytischen Sprachen unterscheiden. Zu den ersten zählen die agglutinierenden Sprachen (zum Beispiel Türkisch) und die fusionierenden, das heißt die flektierenden Sprachen (so zum Beispiel die meisten indogermanischen Sprachen) und zu den zweiten die isolierenden Sprachen wie das Chinesische. Obwohl Flusser in seiner Bibliographie Otto Jespersens Language. Its Nature, Development, and Origin (1921) erwähnt, in dem diese Dreiteilung einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wird, hält Flusser bis ins Spätwerk hinein daran fest. So taucht beispielsweise in seiner späten Vorstellung einer ganz aus Punkten (Bits) aufgebauten, von Apparaten projizierten Welt der Mosaikcharakter der isolierenden Sprachen wieder auf. Die vier Teile Buches beruhen auf poetischen Axiomen: Sprache ist Realität; Sprache bildet ( forma) Realität; Sprache erschafft (cria) Realität; Sprache verbreitet (propaga) Realität. Wenn Sprache Realität ist, diese bildet, erschafft und verbreitet, was erschafft dann die Sprache und ermöglicht, dass sie all dies tut? Nach Flusser ist es die Poesie, welche die Sprache schafft und immer wieder erneuert. Mit anderen Worten: der poietische Akt der Benennung der namenlosen Dinge erschafft die Namen der Dinge und dadurch die Sprache, ohne die wir die Realität nicht wahrnehmen könnten. In einem Brief vom 6. Juli 2004 bringt die brasilianische Dichterin Viviane de Santana Paulo den Inhalt von Flussers Buch auf den Punkt. »Es ist eine Freude zu denken, dass die Poesie die Produktion von Sprache ist und dass die Sprache Realitäten schafft, weil das unsere Existenz erweitert und vertieft, denn dann ist alles Poesie: cogito ergo poiesis.« Língua e realidade übt einen starken Einfluss in der damaligen brasilianischen intellektuellen Szene aus und führt zu einer ganzen Reihe von Rezensionen. Eine besonders positive Besprechung erscheint am 3. April 1965 in Estado de São Paulo. Der Autor ist der Ungar Paulo Rónai (1907-1992), der in ein Konzentrationslager eingesperrt wird, dann aber wie Flusser nach Brasilien entfliehen kann. Der Kritiker und Übersetzer ist erstaunt über die weiten theoretischen Horizonte, die Flussers Buch eröffnet und weist auf sein Verdienst hin, das Buch nicht auf Deutsch, sondern auf Portugiesisch geschrieben zu haben, in einer Sprache, die der Autor erst nach seiner Ankunft in Brasilien gelernt hat. Für Rónai zwingt die Übersetzung, eine Sprache sich zu biegen, um den Kurven eines fremden Gedankens zu folgen, und wird dadurch zum besten Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen Kulturen. Im Gegensatz zu Flusser lernt Rónai Portugiesisch während er noch in Ungarn ist. Er übersetzt brasilianische Gedichte und publiziert diese im August 1939 in Budapest. Portugiesisch ist in seinen Augen eine klare Sprache ohne Geheim-

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nisse, leichtfüßig wie die Sprache der Spatzen. Rónai entwickelt die gleiche intensive emotionale Beziehung zur Sprache wie Flusser, auch wenn seine Beschreibung viel zärtlicher ist. Er erzählt, dass die Entdeckung der persönlichen Infinitivform (infinitivo pessoal), die es nur im Portugiesischen gibt, eine große Überraschung für ihn war, die seinen patriotischen Stolz in Frage stellte, dachte er doch nur an den sprachlichen Reichtum des Ungarischen. Er bewunderte auch die formas mesoclíticas der Verben, die auf die erstaunlichen Fähigkeiten der portugiesischen Sprache zur Analyse und Synthese hinweisen. Diese Formen werden in der Regel mit dem Futur und dem Konditional verwendet. Dabei wird das Personalpronomen nicht nach dem konjugierten Verb, sondern zwischen dem Verbstamm und der Endung positioniert. So schreibt man zum Beispiel dir-lhe-ei anstelle von direi-lhe. Flusser hat in seiner philosophischen Beschreibung des Portugiesischen auf vergleichbare Phänomene hingewiesen. Er benutzt das Portugiesische als Standpunkt, von dem aus das Deutsche fremdgestellt und kritisiert werden kann. So weicht die Einheitlichkeit des Seins im Heidegger’schen Existenzialismus der polytheistischen Dreifaltigkeit des ›estar‹, ›ser‹ und ›ficar‹ im Portugiesischen. Das Eine zerbricht in drei Möglichkeiten und kann nicht mehr zusammengeklebt werden. Am 6. Juni 1964 schreibt ein anderer jüdischer Einwanderer, der deutsche Journalist und Theaterkritiker Anatol Rosenfeld (1912-1973), der 1937 nach Brasilien gelangt, in der gleichen Zeitung eine äußerst kritische Rezension von Flussers Buch, die jedoch bei näherem Hinsehen Flussers divergentem Denken einen ganz besonderen Tribut zollt. Rosenfeld ist mit Flussers zentralen Thesen nicht einverstanden, trotzdem empfiehlt er die Lektüre des Buches, weil es auf meisterhafte Art und Weise mit dem phänomenologischen Denken umgeht. Er betrachtet Língua e realidade als ein zutiefst poetisches Buch und formuliert damit gerade das Lob, das Flusser am meisten am Herzen liegt. Rosenfeld räumt ein, dass Flussers Behauptung, die Sprache bestimme unsere Sicht der Wirklichkeit, teilweise beizupflichten ist. Allerdings, so weiter Rosenfeld, wäre es besser gewesen, wenn Flusser sich der sorgfältigen Prüfung dieser Teilwahrheit gewidmet hätte, »anstatt sich in Mythen zu ergehen und aus den verschiedenen Formen des Nichts eine umfassende Mystik hervorzukehren.« Er findet es jedoch wünschenswert, dass Flusser weiterhin solche Bücher schreibt, die »phantastisch, wenn auch falsch« sind, weil bestimmte Fehler fruchtbarer sein können als ebenso viele Wahrheiten. Rosenfeld ist genau der Gesprächspartner, den Flusser immer gesucht hat. Jemand, der – unabhängig von seinen Überzeugungen – bereit ist, am allgemeinen Gespräch teilzunehmen. Er entdeckt Fehler, gibt aber zu, dass diese Fehler möglicherweise zu weiterem Nachdenken anregen können. Wie zu erwarten, ist Vilém Flusser mit Rosenfelds Argumenten nicht einverstanden. Er geht aber davon aus, dass die Veröffentlichung einer divergierenden Meinung das allgemeine Gespräch bereichert und die Realität erweitert. Mit der glei-

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chen Eleganz des Rezensenten weist er darauf hin, dass Rosenfelds scharfe Kritik von größter Bedeutung für die Verbreitung seines eigenen Denkens ist. In seiner Antwort, die ebenfalls im Estado de São Paulo am 26. Juni 1964 veröffentlicht wird, verteidigt Flusser die Grundideen seines Buches, die von früher Zerstörung durch »einen schonungslos luziden Geist« bedroht werden. Da die brasilianische Philosophie für ihn »eine von ihrer eigenen Sprache entfremdete Literatur« ist, steht ihm als Fremder die Aufgabe zu, die Herausforderung, die von der portugiesischen Sprache ausgeht, anzunehmen. »Ich betrachtete die portugiesische Sprache«, schreibt er in Língua e realidade, »als eine authentische Persönlichkeit, unterwarf mich ihren Geboten und versuchte die von ihr diktierten Gedanken zu formulieren. Ich ließ mich von der Schönheit der Verben ›estar‹ und ›ser‹ mitreißen, versuchte ihr geheimnisvolles ›ha‹ zu kosten, und suchte das Geheimnis ihrer Zukunftsformen ›haver‹ und ›ir‹ zu entwirren, ich gab mich ihr hin.« Flusser benützt die Sprache, vor allem das Portugiesische, im Gegensatz zu anderen Sprachen, die er beherrscht – Deutsch, Tschechisch und Englisch –, um das Unartikulierte zu offenbaren. Er geht dabei davon aus, dass die ontologischen Systeme der philosophischen Tradition der Fluidität der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Um Rosenfelds Behauptung, ein Zentaur sei ein völlig imaginäres Wesen, entgegenzuwirken, stellt er die Frage: »welches Recht habe ich zu behaupten, dass ein Zentaur für einen Griechen des 9. Jahrhunderts vor Christus bloß imaginär ist, poche ich damit nicht einfach auf meine eigene Überlegenheit?« Für Flusser verwirklicht sich etwas ausschließlich im sprachlichen Prozess, das heißt, »wenn dieses etwas von den am authentischen Gespräch Teilnehmenden (intellectos) verstanden wird.« Diese Aussage verweist auf die religiöse Grundlage seines Buches, welches das Ergebnis seiner »Unfähigkeit zu beten« ist. Man könnte Flusser in diesem Sinne als einen sanften Atheisten bezeichnen, jemand, der nicht an irgendwelche Götter glaubt, zugleich aber und paradoxerweise von dem Glauben als Grundlage der Sprache und der Menschheit ausgeht. »In der poetischen Sprachschicht werden neue Wörter und Sätze erschaffen, ins allgemeine Gespräch geschüttet (vertidas), um in Prosa umgewandelt (convertidas) zu werden. Es gibt aber auch den umgekehrten Prozess. Wörter und Phrasen werden in der Schicht des Gebets dem Unaussprechlichen zugeführt. Ich vermute, dass darin das ganze Geheimnis der Sprache liegt, das ganze Geheimnis des Denkens. Die Sprache als ein Ganzes, das Denken als ein Ganzes ist, so vermute ich, ein einziger gigantischer Satz (oração), ein einziges Gebet (reza). Aber ich und Tausende wie ich sind in der zentripetalen Strömung des sprachlichen Prozesses gefangen, und je mehr wir reden und denken, desto mehr entfernen wir uns von dieser Stille, in die das Gebet mündet.« Der brasilianische Philosoph Bento Prado Jr. (1937-2007), der Flusser aus seiner Studienzeit kennt, verweist in einem am 13. Februar 1999 in der Folha

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de São Paulo veröffentlichten Artikel auf die ironische Seite solcher Behauptungen. »Flusser liebte es, sein Publikum zu blenden (wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus seinem Zylinder zieht), indem er zum Beispiel seinen verwirrten Zuhörern, ausgehend von der These der Nicht-Äquivalenz von Ausdrücken wie it rains, es regnet und chove, demonstrierte, dass in der Welt dort draußen kein universeller Regen oder ein Regen an sich niederprasselt.« Indem Flusser beweist, dass Sprache Wirklichkeit erschafft und dass Poesie die Sprache erschafft, fasst er auf klare, überzeugende und einzigartige Art und Weise die Grundaussage des sogenannten linguistic turn zusammen, der die Philosophie der Gegenwart begründet. Flusser geht es darum nachzuweisen, dass unsere Sicht der Welt immer von Modellen abhängig ist und von diesen vorstrukturiert wird. In diesem Sinne ist sein Denken der Philosophie Kants und den Konstruktivisten verpflichtet. Er wird bis zum Schluss an dieser Grundansicht festhalten. In diesem Zusammenhang ist das 1911 publizierte Werk des deutschen Philosophen und Kant-Forschers Hans Vaihinger (1852-1933) Die Philosophie des Als-Ob, das in der Bibliographie von Língua e realidade vorkommt, von zentraler Bedeutung. Für Vaihinger kann die Vorstellungswelt als Ganzes kein einfaches Abbild der Wirklichkeit sein. Diese stellt uns aber ein Instrument zur Verfügung, mit dem eine Orientierung in der Welt einfacher gemacht wird. Diese Einfachheit ist nicht unmittelbar gegeben, weil Fiktionen Konstruktionen sind, die nicht nur der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch sich selbst in Frage stellen. Vaihinger behauptet, dass jeder Diskurs fiktiv ist, auch wenn er vorgibt, es nicht zu sein. Allerdings sind alle wahrhaftigen Fiktionen, ob es sich nun um die Wissenschaft, das Recht, die Philosophie oder die Fiktion im engeren Sinne handelt, dadurch gekennzeichnet, dass sie in sich selbst widersprüchlich sind. Solche Widersprüche dürfen nicht geleugnet, sondern müssen grundsätzlich erforscht werden, als ob jeder von ihnen ein komplexes Labyrinth aus Metaphern und Denkalternativen wäre. Tatsächlich ist alles, was wir sagen und schreiben, nur in diesem indirekten vermittelten Sinne wahr. Die Bedingung des ›Als ob‹, die jedem Diskurs zugrunde liegt, muss stets in Betracht gezogen werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass das Denken sich verhärtet und schlussendlich zum Dogma verkommt. Ich kann nie wirklich sagen, ›was ist‹, aber ich kann so tun, ›als ob‹ ich es weiß, indem ich Wort für Wort die Verantwortung für meine Spekulationen und meine Fiktionen übernehme. Dieser Vorschlag steht im Mittelpunkt von Flussers Denken. Es gibt aber dennoch wesentliche inhaltliche Unterschiede zwischen Vaihingers und Flussers Vorstellung. Vaihingers theoretischer Ausgangspunkt ist die Philosophie Kants, während die Grundlage von Flussers Denken die Bodenlosigkeit ist. Es gibt zudem bei Vaihinger keine Ironie, die mit der Flussers vergleichbar wäre. Obwohl Vaihinger davon ausgeht, dass alle Diskurse fiktiv sind, ist sein Stil streng akademisch. Flusser hingegen nähert sich in seinem

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Schreiben bewusst dem Fiktionalen. Alle seine Texte können in diesem Sinne als philosophische Fiktionen verstanden werden.

S o e t was wie E rfolg Am 19. Juli 1963 stirbt Vicente Ferreira da Silva in einem Autounfall. Er ist erst 47 Jahre alt. Sein plötzliches Verschwinden muss Flusser nicht nur an den Tod des drei Jahre zuvor im Alter von 46 Jahren ebenfalls in einem Autounfall verstorbenen Albert Camus erinnert haben, sondern auch an den eigenen Unfall von 1948. Diese seltsame schicksalhafte Parallele zu Ferreira da Silvas und Camus’ Leben wird Flusser fast dreißig Jahre später einholen. Noch im selben Jahr beginnt Flusser an der Universität von São Paulo (USP) Theorie der Kommunikation zu unterrichten. 1964 wird er zudem Professor für Kommunikationstheorie an der Kommunikationsfakultät der Fundação Armando Alvares Penteado (FAAP) in São Paulo. Im selben Jahr wird er auch in den Beirat der Biennale von São Paulo aufgenommen. Am 31. März 1964 findet ein Militärputsch statt, der in Brasilien eine Diktatur etabliert. Diese dauert bis 1985 und wird 1968, nach dem »golpe dentro o golpe«, den Putsch innerhalb des Putsches, noch zusätzlich verschärft. Im Gegensatz zu vielen anderen Professoren und Intellektuellen gehört Flusser nicht zur Opposition gegen die Militärregierung. Im Nachhinein wird er versuchen, diese Wahl, die auch negative Auswirkungen für ihn hat, politisch und philosophisch zu rechtfertigen. 1965 hält Flusser am Technologischen Institut für Aeronautik (ITA) in São José dos Campos eine Reihe von Vorlesungen über die Philosophie der Sprache. Aus diesen Vorlesungen und weiteren, die Flusser 1963 am brasilianischen Institut für Philosophie (IBF) hält, geht das Buch Filosofia da linguagem, Philosophie der Sprache hervor, das eine theoretische Weiterentwicklung von Língua e realidade darstellt und 1965 in der Zeitschrift der ITA publiziert wird. 2016 ist im Univocal Verlag von Minneapolis eine englische Übersetzung davon erschienen. Die Einladung geht vom Logiker und Wissenschaftsphilosophen Leônidas Hegenberg (1925-2012) aus, der von 1950-1988 für die ITA arbeitet und dem Flusser im Essay »Wie philosophiert man in Brasilien?« – der in den Sammelband Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung (1994) aufgenommen wird – einen Abschnitt widmet. Darin beschreibt er dessen Werk ganz im Zeichen der Übersetzung. »Alle Erklärungen sind ja ineinander übersetzbar. Es ist also klar, daß die Wissenschaft uns nicht Wahrheiten oder Erkenntnisse liefert, sondern […] unser Verlangen« nach einem »Zur-Ruhe-Kommen des Diskurses« befriedigt. Im selben Jahr veröffentlicht der Martins Verlag in São Paulo Flussers zweites Buch, A história do diabo, von dem eine frühere deutsche Fassung vor-

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liegt. Diese wird erst 1993 publiziert. Milton Vargas hält diesen Text für Flusser bestes Buch. Auch das zweite Buch ist Edith gewidmet: Uxori omnia mea, meiner Frau, die alles ist, was ich habe. Wie üblich versucht Flusser auch hier, unsere Denkgewohnheiten auf den Kopf zu stellen. Zentrale These der Arbeit ist, dass, wenn Gott die Welt und den Menschen erschaffen hat, der Teufel derjenige ist, der die Zivilisation, auf die wir so stolz sind, ins Leben gerufen hat. So beschreiben die einzelnen Kapitel einerseits die Geburt und die Kindheit des Teufels, andererseits die sieben Todsünden, die als Grundlage der menschlichen Existenz verstanden werden: die Wollust (luxuria), der Zorn (ira), die Völlerei (gula), der Neid (invidia), die Habgier (avaritia), die Hoffart (superbia) und die Trägheit und Trauer des Herzens (acedia). Im Vorwort bedankt sich Flusser bei Alex Bloch und einigen der Gesprächspartner der Terrasse an der Rua Salvator Mendonça (Mauro Chaves, Celso Lafer, Alan Meyer und J.C. Ismael), die er stellvertretend für alle anderen erwähnt. Zudem geht er auf die zentrale Bedeutung der spannungsvollen Beziehung zu Anatol Rosenfeld ein. »Anatol Rosenfelds Bedeutung für mich beruht leider nicht auf gegenseitiger Anerkennung, weil es mir nicht gelungen ist, ihn für mich einzunehmen. Dies ist in der Tat eine meiner bittersten Niederlagen. Für mich (auch wenn dies vielleicht bloß eine Projektion meinerseits darstellt) steht er für intellektuelle Redlichkeit und selbstgenügsame Demut. Er ist für mich daher so etwas wie ein vorbildhafter Kritiker. Ich schreibe, um genau diese Art von Kritik herauszufordern. Obwohl mir bewusst ist, dass […] sein Denken nicht genau dasselbe Gebiet absteckt, in dem ich gedanklich unterwegs bin, muss ich zugeben, dass seine Kritik relevant ist, weil sie Hochmut und Traurigkeit ans Tageslicht fördert. Mein Schreiben ist ein ständiger Kampf gegen diese beabsichtigte Beschränkung.« Diese Passage verdeutlicht die leidenschaftliche Beziehung, die Flusser mit dem Denken anderer Philosophen unterhält. Es ist eine Leidenschaft, die nicht nur auf Lob und Bewunderung basiert, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit einer radikal anderen Denkweise voraussetzt. Flusser erklärt den Unterschied anhand einer Metapher: Anatol sei ein tiefer Brunnen des Wissens, er hingegen eine Quelle, aus der ununterbrochen Gedanken, Fragen und Provokationen hervorsprudeln. Da die Auseinandersetzung mit dem Anderen die Verführung nicht ausschließt, bedauert er, dass es ihm nicht gelungen ist, Rosenfeld auf sein eigenes deutlich instabileres intellektuelles Terrain der philosophischen Fiktionen zu locken. Dabei spielt der Verzicht auf Bibliographien, der mit A história do diabo einsetzt und zum formalen Prinzip aller folgenden Texte wird, eine wesentliche Rolle. In einem unveröffentlichten Text, den Flusser 1973 anlässlich von Rosenfelds Tod verfasst, geht er näher darauf ein. Rosenfelds hartnäckiges Beharren auf den Quellen habe »die Flügel seiner Imagination beschnitten und deren Flug verkürzt.« Die intellektuelle Bescheidenheit des anderen, seine Unwilligkeit, auch nur einen einzigen Schritt über den engen Kompetenzbereich hin-

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aus zu wagen, sei ihm auf die Nerven gegangen. Diese Bescheidenheit »tauchte meine eigenen Versuche in diese Richtung in ein Klima der Verantwortungslosigkeit.« Rosenfelds intellektuelle Praxis der Langsamkeit und Genauigkeit hinterfragt den waghalsigen Denkanspruch Flussers, der zu brillanten, aber oft übereiligen Synthesen neigt und dessen Behauptungen oft eher durch die stilistische Brillanz der Metaphern als durch die argumentative Konsistenz bestechen. Anders ausgedrückt: Anatol lehrt und überzeugt, Flusser provoziert und destabilisiert. Flussers Verärgerung mit Rosenfelds Denkstil impliziert letztlich aber ein radikales Lob: »Ich bin überzeugt, dass diese Irritation noch immer wirksam ist. Mit anderen Worten, ich bin überzeugt, dass die brasilianische Kultur die Spuren seines Durchgangs in sich trägt und tragen wird. Geben wir es zu und verneigen wir uns vor seiner Person, damit die Erinnerung an ihn zu einem Segen für uns und die Gesellschaft wird, für die er sich aufgrund freier und luzider Wahl engagiert hat.« Damit stellt Flusser Rosenfelds Ehrlichkeit seiner eigenen zur Seite. Mitte der 1960er Jahre arbeitet Flusser an einem größeren literarisch-philosophischen Projekt, das den Titel Até a terceira e quarta geração trägt und von dem im März 1965 und April/Mai 1966 zwei längere Ausschnitte in der von Dora Ferreira da Silva gegründeten brasilianischen Zeitschrift Cavalo Azul erscheinen. Das Buch erinnert, was die Form als auch den Inhalt angeht, sowohl sehr stark an das erste abgeschlossene Buchprojekt Das Zwanzigste Jahrhundert. Versuch einer subjektiven Synthese und ist wie dieses immer noch nicht veröffentlicht worden. In der im Herbst 1969 entstandenen Autobiographie »Auf der Suche nach Bedeutung« verbindet Flusser das Projekt explizit mit Reale. »Um mich wiederzufinden, habe ich ›Até a terceira e quarta geração‹ geschrieben, von Foucault beeinflußt, doch noch und noch immer auf den Fäden der Sprache, die Maschen des Auswegs zur Nicht-Sprache suchend. Das Manuskript ist in den Händen von Miguel Reale. Dies ist bezeichnend: in den Händen von jemandem, der für mich in unglaublich bewundernswerter Form geistige Beweglichkeit mit Entscheidungskraft vereinigt. Ich verdanke ihm viel: einen großen Teil meiner Integration im Gewebe der brasilianischen Kultur und eine neue Sicht der Ethik, obwohl ich sie meinem Denken noch nicht einverleiben konnte. Wie ist es möglich, Werte zu haben, ohne Religiosität? Reale hat sie, und das ist mir unverständlich. Ich glaube, daß Reale mehr an meiner Zukunft teilnimmt, als an meiner Gegenwart.« Die doch eher befremdliche Anspielung auf den Einfluss Michel Foucaults, mit dessen Werk Flussers Denken eigentlich eher wenig zu tun hat, könnte ein nachträglicher Einfall sein. Foucaults Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften und Archäologie des Wissens sind 1966 bzw. 1969 erschienen, also mehrere Jahre, nachdem Flusser sein eigenes Buch abgeschlossen hat. Vielleicht will Flusser aber damit auch auf den archäologischen Charakter seines

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eigenen Unterfangens hinweisen, welches den Holocaust als eine Folge der Entwicklungen sieht, die in der frühen Neuzeit einsetzen. Am 8. Dezember 1967 schreibt Flusser an Leônidas Hegenberg: »Mein Buch Até a terceira e a quarta geração (subjektive Geschichte der modernen Ontologie) soll bei Grijalbo in der Editora Universitária herauskommen.« In einem späteren, von Flusser verfassten Lebenslauf, der auf den 31. März 1968 datiert ist, wird das Typoskript als sich im Druck befindend aufgelistet. Der Hinweis auf den subjektiven Standpunkt im Brief an Hegenberg nimmt den Untertitel von Das Zwanzigste Jahrhundert auf und verweist damit auf die untergündige Verbindung der beiden Texte. Der portugiesische Text umfasst insgesamt 336 Seiten und besteht aus vier Teilen: Die Schuld, der Fluch, die Strafe und die Buße. Jeder Teil besteht aus drei Kapiteln und diese wiederum aus je vier Subkapiteln. Geht Flusser in seinem ersten Buchprojekt einer Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts noch von der Aufklärung aus, so setzt er jetzt in der Renaissance an, dem Übergang in die Neuzeit und Moderne. Wie der Titel schon andeutet, geht es um vier Generationen und historische Phasen: die Renaissance, der Barock und die Romantik, das Viktorianische Zeitalter (die dritte Generation von Flussers Eltern) und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (die vierte Generation, zu der auch Flusser gehört). Die Entwicklung beginnt damit, dass sich die Menschheit im Westen aus dem bergenden Schoß der Kathedrale entfernt. Dies führt zur Abschaffung der Dimension der Transzendenz und einem Verlust des Sinns für die eigene Realität. Die Wissenschaft bietet sich dabei als ein Ersatz für die Religion an. Der Barock erschafft eine durch die Vernunft verwaltete Gesellschaft und die Romantik, die sich gegen die neue rationale Welt wendet, steht im Zeichen des aufkommenden Nationalismus. Dies mündet in den Kriegen des 20. Jahrhunderts, die Flusser ironisch als ewige Wiederkehr und eigentliches Ziel des Fortschritts deutet. Der Apparat und der Funktionär, deren teuflische Verkörperung Auschwitz und Adolf Eichmann sind, werden als Strafe Gottes gedeutet und Franz Kafka als der biblische Prophet, der die letzten Konsequenzen der neuen bürokratischen Verwaltungsgesellschaft schonungslos ausgelotet hat. Der vierten Generation kommt die Aufgabe zu, sich gegen den Apparat zu erheben. Flusser sieht einen ersten möglichen Ausweg in einer Hinwendung zur poetischen Kraft der Sprache. Ein weiteres Projekt, das mitten ins theoretische Herz von Flussers Werk weist, ist Da dúvida (Vom Zweifel), dessen Entstehungsgeschichte bis in die späten 1950er Jahre reicht. In einem Vorwort zur ersten brasilianischen Ausgabe von 1999 spricht Celso Lafer davon, dass er Hannah Arendt eine deutsche Version des Buches übergeben und mit ihr diskutiert hat. Diese Fassung ist verloren gegangen. Eine erste kürzere Variante erscheint 1965 in der Zeitschrift der ITA und später als fünftes Kapitel von Da religiosidade: a literatura e o senso de realidade (Von der Religiosität: Literatur und Realitätssinn). Darüber

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hinaus ist eine Reihe von Vorträgen, die Flusser 1963 am IBF hält, eingeflossen. Das Buch stellt Flusser höchstwahrscheinlich 1966 fertig. 2006 erscheint bei European Photography eine deutsche Übersetzung von Edith Flusser, aus der wir in der Folge zitieren. »Der Zweifel«, schreibt Flusser ganz am Anfang des Buches, »ist ein vielbedeutender Geisteszustand. Er kann das Ende eines Glaubens sein, er kann aber auch zu einem neuen Glauben führen. Der Zweifel beendet jede Gewißheit. Im Extremfall kann man ihn als ›Skepsis‹ ansehen, als eine Art umgekehrten Glaubens. In kleiner Dosis regt der Zweifel das Denken an, in übermäßig großer Dosis paralysiert er die geistige Tätigkeit. Als intellektuelle Erfahrung ist er eine Qual. Zusammen mit der Neugier ist der Zweifel die Wiege der Forschung, folglich die Wiege eines jeden systematischen Denkens.« Um zweifeln zu können, braucht es mindestens zwei Perspektiven – ›Zweifel‹ hat auch mit ›zwei‹ zu tun. Ausgangspunkt des Zweifels ist immer ein Glaube, der den Gläubigen an eine erste Kreuzung führt. Der Zweifel kommt später und ist vom Glauben abgeleitet. Obwohl er einen neuen Glauben hervorrufen kann, kann dieser nicht mehr in voller Naivität erlebt werden. Die ursprünglichen durch den Zweifel erschütterten Gewissheiten werden durch neue Gewissheiten ersetzt, die zwar verfeinert und anspruchsvoller sind als die früheren, aber nicht mehr authentisch wie der allererste Glaube, tragen sie doch die Spuren des Zweifels, der sie wie eine Hebamme zur Welt gebracht hat. Der Zweifel ist daher eine wesentliche Bedingung des Denkens und der Philosophie. Er ist jedoch auch gefährlich, weil er das Denken aufsplittert, und dadurch stets das Risiko der Schizophrenie in sich trägt. Extremer Zweifel führt in die Verzweiflung. Flussers Dialektik nimmt dieses Risiko auf sich und setzt sich damit auseinander. 1967 wird Flusser Professor für Wissenschaftsphilosophie am Polytechnikum (Escola Politécnica) der Universität von São Paulo – zunächst noch in Stellvertretung seines Freundes Milton Vargas, der den Lehrstuhl innehat – und Professor der Kommunikationsphilosophie an der Schule für dramatische Künste (Escola de Arte Dramática) und an der Escola Superior de Cinema von São Paulo. Gemäß einer Bescheinigung der FAAP vom 30. März 1971 ist Flusser ab 1967 ordentlicher Professor für Kommunikationstheorie an der Fakultät für Bildende Kunst. Im selben Jahr veröffentlicht er Da religiosidade, eine Sammlung von Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die von Kaf ka bis Guimarães Rosa reicht, sich mit dem religiösen Dilemma und der Frage des Zweifels beschäftigt und dem Themenkreis Apparat-Funktionär gewidmet ist. Das Buch, das von der staatlichen Kommission für Kultur von São Paulo veröffentlicht wird, ist von Vicente Ferreira da Silva beeinflusst und »unter dem Eindruck seiner Anwesenheit und Abwesenheit« geschrieben. »Die Literatur«, schreibt Flusser weiter in der Einführung, »ob sie philosophisch ist oder nicht, ist der Ort, wo sich der Reali-

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tätssinn artikuliert. Der Sinn für die Realität ist in gewisser Weise eine Form der Religiosität. Real ist, das, woran wir glauben. Während der vorchristlichen Zeit war die Natur die Wirklichkeit. Die vorchristlichen Religionen glauben an die Kräfte der Natur, die sie vergöttern. Im Mittelalter war die Wirklichkeit das Transzendente, das heißt der Gott des Christentums. Aber im 15. Jahrhundert beginnt sich die Realität zu problematisieren. Die Natur wird in Zweifel gezogen, und der Glauben an die Transzendenz beginnt sich aufzulösen. Unsere Situation ist bestimmt durch ein Gefühl des Irrealen und die Suche nach einem neuen Sinn der Realität, das heißt durch die Suche nach einer neuen Religiosität. Dies ist das Thema der hier ausgewählten Essays.« In den späten 1960er Jahren verschlechtert sich die politische Situation in Brasilien. Am 13. Dezember 1968, während der Regierungszeit von General Arthur da Costa e Silva, tritt der Ato Institucional n° 5 in Kraft, der bis zum Dezember 1978 aktiv ist und zu einer Reihe von willkürlichen und gewalttätigen Handlungen führt: halblegale Verhaftungen, institutionalisierte Folter und Mord. Die AI-5 steht am Anfang der wohl brutalsten Phase der Militärdiktatur. Sie ermöglicht es, Agenten und Regierungsbeamten für diejenigen, die als Feinde des Regimes betrachtet werden, willkürliche Bestrafungen festzulegen. Ein paar Monate nach dem golpe dentro do golpe erleidet Costa e Silva einen Schlaganfall, was zu einem weiteren Putsch führt. Eine Militärjunta verhindert, dass der Vizepräsident seiner verfassungsmäßigen Pflicht nachkommt und den Platz des verstorbenen Präsidenten übernimmt. Mit der Radikalisierung der Situation steht Flusser in den Augen vieler Professoren und Studierenden wegen seines IBF-Freundeskreises noch deutlicher als Reaktionär da. So stellt in einem Interview vom 5. Februar 1999 der Dichter Haroldo de Campos Vilém Flusser verkürzend Anatol Rosenfeld gegenüber. Dieser war »eine Art Walter Benjamin […] ein Mann mit linkem Hintergrund […] während Flusser mir als Intellektueller Heidegger’scher Prägung, der ein wenig, ein wenig zu sehr der religiösen Frage, die mir nicht ganz klar schien, zugewandt war […] und der einem Denken verbunden war, das ich als aufgeklärte Rechte bezeichnen würde […] eine Rechte, die zum Dialog fähig ist.« In einer deutlich polarisierten Welt gibt es keinen Platz für Schattierungen. Auch in der Politik, nicht nur in der Philosophie, eckt Flusser an, gerade weil er sich nicht einfach einordnen lässt. Seine vehemente Ablehnung von jeglicher Form der Systematisierung hat sich an ihm gerächt und gegen sein eigenes Werk gewendet. 1969 hält Flusser einen Vortrag über die Philosophie der Kommunikation im afro-brasilianischen Kulturzentrum (CCAB) und unterrichtet einen Kurs an der Psychiatrischen Vereinigung von São Paulo. Im Oktober und November schreibt er die schon erwähnte kurze Autobiographie »Em busca do significado« (Auf der Suche nach Bedeutung), die 1976 in Stanislavs Ladusans Rumos da filosofia atual no Brasil: em auto-retratos im Verlag Edicoes Loyola erscheint.

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1970 beginnt er zudem mit der Niederschrift eines Buches über Brasilien unter dem Titel À procura de um novo homem, von dem er auch eine deutsche Fassung erstellt: Auf der Suche nach einem neuen Menschen. Versuch über den Brasilianer, das spätere Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Das Buch, das er noch vor seiner Rückkehr nach Europa fertigstellt, bereitet diese auch in einem gewissen Sinne vor. So wie er in Brasilien nach Prag zurückschaut, so schaut er auch aus Europa nach Brasilien zurück, mit den gleichen Augen voll von einer bitteren Sehnsucht. In seiner Phänomenologie des Brasilianers verzichtet er auf jeglichen Anspruch auf Objektivität und versucht zugleich, Klischees und jede vorgefasste Meinung zu vermeiden. Indem er einen Schritt zurücktritt, um besser zu sehen, entwirft er seine ganz persönliche brasilianische Epoché. Das Buch untersucht die Spezifizität der brasilianischen Kultur anhand der Einwanderungsgeschichte, der Bevölkerungszusammensetzung, dem Verhältnis zur Natur und der brasilianischen Sprache. Flusser deutet den Entwicklungsunterschied zu Europa, die Dephasierung, zugleich als Rückständigkeit und Chance. Die portugiesische Sprache Brasiliens verkörpert ein Ideal des kulturellen Synkretismus. Aus den unterschiedlichen, sich gegenseitig befruchtenden Spielarten könnte »eine echte Sprache auf einem neuen Niveau entstehen.« Für Flusser ist Brasilianer-Sein kein Zustand, sondern ein Prozess. Der Brasilianer sollte das Gefühl der Unwirklichkeit, das von ihm Besitz ergreift, mit Freude auf sich nehmen, denn es ist genau dieses Gefühl, das zur Geburt eines neuen Menschen verhelfen kann. Dieser allein ist in der Lage, sein Wesen von innen her aufzubrechen. Dabei wird ihm seine Sprache helfen, aus der Verdinglichung und Entfremdung auszubrechen. Dieser neue Mensch hat eine sprachliche Chance, das heißt eine existentielle Chance, den linearen Diskurs zu überwinden. Flussers Suche nach einem neuen Menschen enthüllt zwar das Wesentliche am Brasilianer, ist aber deswegen nicht messianisch ausgerichtet. Brasilien und der Brasilianer stellen nicht die einzige Hoffnung der Menschheit dar. Wenn man an die aktuelle Situation des Landes denkt, so weiter Flusser, müsste man jede Hoffnung aufgeben. Dennoch erweist sich Brasilien als einer der wenigen Orte, wo man noch die menschliche Würde in einer ansonsten absurden Welt behaupten kann. Die westlichen industrialisierten Länder sind ein Opfer der Fortschrittsideologie, welche die Freiheit und die menschliche Existenz bedroht. Diese Ideologie ist auch in Brasilien wirksam, aber in den 1970er Jahren, als Vilém sein Buch schreibt, hat der Wahnsinn des unbegrenzten Fortschritts noch nicht ganz den Punkt erreicht, wo das kollektive Delirium in seinem ganzen Ausmaß sichtbar wird. Dies hat sich in der Zwischenzeit leider verändert. 1970 ist auch das Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko. Obwohl Flusser sich nicht für den brasilianischen Nationalsport begeistern kann, muss er die offizielle Hymne der Weltmeisterschaft mit ihrer unverblümt pro-

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gressistischen und faschistoiden Botschaft mitbekommen haben. Zum Pech all derer, die damals gegen die Militärregierung kämpfen, gewinnt Brasilien den Titel, was der Diktator, General Emilio Garrastazu Medici, nur allzu gut für seine eigenen Propagandazwecke ausnützen kann. Ende 1970 besucht Flusser die Ausstellung der Diplom-Arbeit von Gabriel Borba an der Fakultät für Architektur und Urbanismus in São Paulo (FAUUSP). Diese beschäftigt sich auf visuelle Art und Weise mit dem progressiven Ausfransen des marxistischen Engagements. Flusser lädt ihn an seine Konferenz an der Academia Paulista de Letras ein, wo er sich kritisch mit der marxistischen Weltsicht auseinandersetzt. Die Beschreibung Borbas ist ein gutes Beispiel für Flussers rhetorische und theatralische Fähigkeiten. Er beginnt seinen Vortrag über den Marxismus mit der Behauptung, ein Schuster habe die Idee der Schuhheit in seinem Kopf und zugleich das Leder und seine Arbeitsinstrumente in den Händen. Dabei hält er eine Hand über dem Kopf erhoben und die andere auf Brusthöhe. Plötzlich schlägt er die beiden Hände zusammen: Wenn ein Schuster die Schuhheit mit dem Leder verbindet, entsteht etwas Neues, was es zuvor noch nicht gegeben hat. Die Schuhheit ist das Modell, das Leder der Stoff und die Bewegung, die beide verbindet, die Praxis. Nach einer Reihe von ungewöhnlichen Überlegungen überrascht er erneut das Publikum, diesmal mit der Feststellung, dass alles, was er hier gesagt hat, eigentlich Unsinn ist und dass der Einzige, der diese Dinge wirklich versteht, ein junger Mann ist, der ganz hinten im Zuschauerraum sitzt. Er habe gerade seine Ausstellung gesehen und empfehle allen, sich diese anzusehen. Er möchte ihn hier deswegen vor allen Anwesenden einladen, sein Assistent an der Fundação Armando Alvares Penteado zu werden. Gabriel Borba, der bis zu Flussers Rückkehr nach Europa dessen Assistent wird, sieht in dieser einprägsamen Anekdote ein ausgezeichnetes Beispiel für Flussers eindringlichen Denkstil und seine unerwartete oft schockierende Art und Weise, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen.

P osto Z ero 1972 richtet die Folha de São Paulo für Vilém Flusser eine fast täglich erscheinende Kolumne unter dem Namen Posto Zero (Nullpunkt) ein – ein höchst ironischer Name, wenn man an die kurz darauf stattfindende Rückwanderung nach Europa denkt. Es sind kurze prägnante und provozierende phänomenologische Glossen zu alltäglichen Phänomenen der brasilianischen Gesellschaft und zu Themen von allgemeinem Interesse, denen Flusser gemäß seiner ironischen Denkweise stets eine philosophische transhistorische Dimension abgewinnt. So etwas hatte es bis dahin in Brasilien noch nicht gegeben. Flussers Kolumne hat einen durchschlagenden Erfolg und zieht eine große Leserschaft

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an. Die Kolumne erhält in kurzer Zeit viel mehr Leserbriefe als diejenige des Journalisten José Tavares de Miranda, dessen Beiträge auf der gleichen Seite erscheinen. Die erste vom 21. Januar 1972 trägt den passenden Titel »Começo« (Anfang). »Wer Artikel in einer Zeitung publiziert«, schreibt darin Flusser, »tut dies aus folgenden Gründen: 1° Er möchte informieren, das heißt, die Welt verändern. 2° Er möchte gut schreiben, das heißt, ein Werk hinterlassen. 3° Er möchte eine Antwort, das heißt, die menschliche Einsamkeit überwinden. 4° Berühmt werden, das heißt, sein Ego befriedigen. 5° Versuchen, damit Geld zu verdienen. Die letzten beiden Gründe sind den anderen natürlicherweise untergeordnet. Ruhm kann man nicht wirklich erreichen, weil er unersättlich macht und Geld kann man mit anderen Tätigkeiten leichter verdienen.« Es geht also um das Engagement. Allerdings wird die Kolumne schon nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Die letzte Glosse erscheint am 12. April: »Musa I. A de pedra« beschäftigt sich mit den steinernen Überresten der Antike und der Bedeutung von Denkmälern in der Gegenwart. Insgesamt werden 51 Kurztexte publiziert. Flusser schreibt sie oft serienhaft. So finden sich beispielsweise Textgruppen über Heidentum, Tiere (Ameisen, Schimpansen und Einhörner), berühmte Menschen (Nero und der Piltdown-Mensch), große Gefühle (Gleichgültigkeit, Ironie und Leidenschaft) und die Austauschbarkeit von Himmel und Hölle. Betrachtungen über Blickaustausch in einem Stadtpark stehen neben Überlegungen zu den Grundwerten der westlichen Gesellschaft. Andere Glossen wiederum beschäftigen sich mit Größe, guten Manieren, der Dekadenz der Städte, Wänden, dem Schachspiel, dem Tod und dem Karneval, den Frauen, den familiären Beziehungen und der Sexualität. »Ich war über dreißig Jahre in São Paulo«, schreibt Flusser 1987 im Essay »Heimat und Heimatlosigkeit«, »hatte jahrelang eine monatliche Seite in der größten und eine tägliche Spalte in der zweitgrößten Zeitung, bekleidete einige öffentliche Ämter und bin Mitglied der brasilianischen philosophischen Gesellschaft.« Flusser ist auf dem Höhepunkt seiner brasilianischen Karriere als Schriftsteller und Philosophieprofessor angelangt. Lília Leão erzählt, dass Tavares de Miranda auf Flussers Erfolg eifersüchtig reagiert und deswegen den Zeitungsherausgeber Cláudio Abramo aufsucht. Abramo, ein linker Journalist, begrüßt Flussers Zusammenarbeit mit der Zeitung auch wegen seiner bekannten Freundschaft mit Reale. Er reagiert verärgert auf Tavares de Mirandas Anfrage: Warum sollte man eine überaus erfolgreiche philosophische Kolumne, die auf große Beliebtheit bei der Leserschaft stößt, kurzerhand unterbrechen? Nachdem er mit Flusser darüber gesprochen hat, soll er Tavares de Miranda gesagt haben, wenn er entscheiden müsste, würde er lieber vorher ihn entlassen und Flusser die ganze Zeitung zur Verfügung stellen. Laut Mauro Chaves aber gibt Abramo dem Druck nach und ruft Flusser, um ihm mitzuteilen, dass man ihn feuern will. »Lieber Herr Flusser«,

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soll er gesagt haben, »dieses Land ist Scheiße, diese Zeitung ist Scheiße und ich bin ein Scheiß, deshalb müssen Sie gehen.« Beide Versionen könnten stimmen. Es ist aber viel wahrscheinlicher, dass die Zusammenarbeit mit der Zeitung beendet wird, weil Flusser das Land verlässt oder weil man einige seiner eingesandten Artikel nicht publiziert. Im März 1972 wird Flusser von Francisco Matarazzo Sobrinho dazu eingeladen, das Organisationsteam der Bienal de São Paulo zusammenzustellen. Anfang Juni 1972 reisen Vilém und Edith nach Europa und beschließen, ihr Haus an der Rua Salvador Mendonça zu vermieten. Wie wir im folgenden Teil ausführlicher sehen werden, geht die Abreise nicht ohne gefühlsmäßige Ambivalenzen über die Bühne. In einem Brief, den er José Bueno am 7. Dezember 1972 aus Merano schreibt, berichtet Vilém von seiner Begeisterung, endlich wieder in Europa zu sein, aber auch vom Fehlen der brasilianischen Freunde. »Du kannst dir vorstellen, was es für mich bedeutet, in Europa zu sein. Aber ihr fehlt uns. Man kann nicht alles haben. Obwohl ich mich hier viel besser verwirklichen kann, bin ich, was meine menschlichen Bindungen angeht, voll und ganz Brasilianer.« In einem weiteren Brief vom 20. Februar 1973 gesteht er jedoch, dass Brasilien langsam aus seinem Blickkreis verschwindet, weil er beim Versuch, sich zugunsten der brasilianischen Sache zu engagieren, gescheitert ist und weil ihn Brasilien als Problem immer weniger interessiert. In der Tat sind seine Gefühle eine Mischung aus »Ohnmacht und Kastration«, nicht weil er unfähig sei, das Problem zu lösen, sondern weil er nicht wisse, wie er seine Sorgen den Brasilianern mitteilen solle. Aus diesem Grund erscheine ihm das Land immer häufiger in den Träumen und Alpträumen als in den wachen Momenten. »Und wenn ich sporadisch brasilianische Zeitungen und Zeitschriften lese […], fühle ich die Qual einer gigantischen Entfremdung.« Er bittet daher Bueno, den Briefkontakt mit ihm weiterhin aufrechtzuerhalten, »so dass ich das lebhaften Pulsieren einer Realität, die mir durch die Finger gerutscht ist, doch noch spüren kann.« Mit dem Verlassen Brasiliens nimmt die Anzahl der Briefe schlagartig zu. In einem weiteren Brief vom 17. März 1973 an Bueno reagiert Vilém auf die Verzagtheit des Freundes, der Opfer von Depressionen ist, mit einer für ihn typischen existentiellen und ironischen Überlegung: »Da du nirgends einen Sinn finden kannst, lebst du auch wie jemand, der glaubt, dass nichts einen Sinn ergibt. Hier meine Sicht der Dinge: es kann keinen letzten Sinn der Dinge geben, denn, wenn es ihn gäbe, hätte er letztlich keinen Sinn. Ich befinde mich vor einem unendlichen Regress des Sinns, und das ist meine abgründige Vision von Gottes Tod. Aber zugleich die Vision meiner Freiheit.« Flusser räumt ein, dass diese Freiheit aus der Verzweiflung geboren ist. Trotz dieser Verzweiflung, oder auch gerade deswegen, sucht er den anderen, um mit ihm zu kommunizieren, denn nur dies und die Geste des Schreibens können dem Leben und den Dingen, die uns umgeben, wirklich einen Sinn verleihen.

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In einem Brief vom 12. Januar 1990 an José Carlos Ismael zieht Flusser eine Bilanz seiner brasilianischen Erfahrung. Sein Versagen als Brasilianer sei nicht die einzige Niederlage seines Lebens. »Ich habe auch als Jude und als jemand, der sich für die Werte der Linke engagiert hat, versagt. Vielleicht fällt meine Aktivität als Essayist ein bisschen positiver aus, aber ich wage kaum, es mir zu erhoffen. Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat dies als Positives: er zwingt einen dazu, sich im Spiegel anzuschauen.« Flussers Spiegel ist immer der andere, im Leben und auch nach dem Tod. Seine Auffassung des Todes gleicht derjenigen der jüdischen Theologie: Wir überleben nicht als erlöste oder verdammte Seelen, sondern allein in der Erinnerung der anderen.

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Die Anderen

»Auf der Terrasse gab es von Zeit zu Zeit ein Zuviel an Philosophie und Metaphysik, so dass mein Kopf fast explodiert wäre. Es gab da einen sehr schönen Hintergarten und ich zog mich dahin zurück, und da gab es eine Mauer und da stand ich dann und sah den Eidechsen zu, um meine Gedanken abzukühlen.« Dora Ferreira da Silva

Direkt neben dem Hintergarten, wo Dora Ferreira da Silva den Eidechsen zuschaut, um sich von den hektischen Diskussionen zu erholen, treffen sich am Mittwoch Dinahs Studienkollegen und am Sonntag all die anderen, die ›Erwachsenen‹. Die Diskussionen sind verworren und leidenschaftlich, so wie es Flussers Charakter entspricht. Flussers wöchentliche Diskussionsabende erinnern nicht nur an Sigmund Freuds und Georg Groddecks Treffen, sondern vor allem an den Kreis der Pátečníci um T. G. Masaryk, dem auch Viléms Vater zugehörte. Laut Jacob Klintowitz war Flusser sehr belesen: »[…] er weiß viel, ist vollkommen davon überzeugt, Recht zu haben, und deklariert zugleich, er habe überhaupt keine Überzeugung, auch die, keine Überzeugungen zu haben.« Flusser wirkt zugleich tief anregend und völlig unerträglich. Er provoziert, beleidigt und besticht im gleichen Moment: Er liebt den Klang seiner eigenen Stimme über alles. Seine »peripatetische Art und Weise, unaufhörlich hin und her zu gehen, vermittelt aber zugleich den Eindruck, dass er zuhört und eine Verbindung mit uns aufnehmen will.« Alan Meyer, der gleich zweimal die Woche dabei ist, erzählt, dass es am Sonntag immer Tee, Kuchen und endlose Gespräche gibt. Man weiß nie, wer sonst noch auftauchen wird. Plötzlich ist Cirell Czerna da, Jurist der IBF, oder Antonio Henrique Amaral, ein in Brasilien sehr berühmter bildender Künstler. Unter denjenigen, die Flusser am meisten herausfordern, sind Samson Flexor und Mira Schendel, beide Migranten wie er.

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S amson F le xor Samson Flexor (1907-1971) wird im Soroca, im damaligen Bessarabien (heute Moldawien), in einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studiert Kunst in Odessa. 1922-24 ist er in Brüssel, wo er die königliche belgische Akademie der Künste besucht. Dann ist er an der École Nationale des Beaux-Arts in Paris und an der Sorbonne, wo er Geschichte studiert. Die Familie zieht zuerst nach Bukarest und dann nach Frankreich. Der Tod seiner Frau 1933 stürzt ihn in eine tiefe Depression. Er konvertiert zum Katholizismus. Ein wiederkehrendes Motiv in Flussers Leben während der brasilianischen Zeit. Im Zweiten Weltkrieg ist er in der Résistance, dann flieht er nach Brasilien, wo er sich 1948 definitiv niederlässt. Flexor malt vor allem abstrakte Bilder. Im Spätwerk sind aber auch lyrische und figurative Elemente bedeutsam. Flexor stirbt 1971 an Krebs. Auf der Terrasse wird oft über monströse Bilder diskutiert. Für Flusser enthüllen imaginäre Wesen eine Lücke in der Realität, durch die das Nichts als Raum der Möglichkeiten aufscheint. Samson Flexor hat ein Jahr vor seinem Tod ein berühmtes Porträt von Flusser gemalt, das den Titel Um diálogo (Ein Dialog) trägt (Abb. 13). In Flussers Gesicht findet sich etwas, was einem Fragezeichen gleicht, welches in der Mitte der Stirn beginnt und am rechten Nasenflügel endet. Der Kopf ist leicht nach links geneigt. Die spärlichen Haare rahmen die Glatze links und rechts ein, als wären es Hörner. Die Augen sind in Dreiecke eingebettet, was dem stechenden Blick etwas Aggressives verleiht. Eine verschmitzte Figur mit hoher Stirnpartie und herausfordernden Augen unter eckig hochgezogenen Augenbrauen blickt einem entgegen. Flusser, der Zweifler, der Streitsüchtige, der Stänkerer, der Querdenker. Flusser der rechthaberische Provokateur, der arrogante intellektuelle Snob, der ewige Besserwisser. Und doch zugleich ein Mensch, der immer auch im heftigsten Kampf mit sich selbst und der Welt ist. Eine mephistophelische Figur. Das Dialogische des Titels kommt besonders in der Unterschrift des Künstlers zum Ausdruck. Flexor hat seinen und Flussers Namen so übereinander geschrieben, dass die ersten beiden Anfangsbuchstaben (FL) und der letzte (R) den mittleren Teil einrahmen: FLexoR, FLusseR. Flusser hat Flexor einen Abschnitt in Bodenlos gewidmet und darüber hinaus drei Essays zu seinem Werk verfasst. In Bodenlos geht er auf das Porträt und ihre Beziehung näher ein. Er spricht von geologischen Formationen, Tälern und falschen Symmetrien, einem »Fragezeichengebirge«. »Nie hat es eine bessere Kritik des eigenen Daseins gegeben und nie eine so greif bare Verwirklichung eines echten und tiefen, aufrührenden und leidenschaftlichen Dialoges.« Der Dialog mit Flexor sei ein Dialog mit dessen Werken, »Monstren waren selbst schon die Antworten auf die eigenen Gedanken. Flexor war der eigene Spiegel. Man erkannte sich in seinen Ungeheuern […]. Das war man selbst […] die Ungeheuer [haben] unsere Schönheit, die des Verfalls und des Todes.«

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Abbildung 13: Samson Flexor, Um diálogo (1968)

In einem Brief vom 31. Mai 1971 an den Freund, als Flusser auf einer Europareise ist, geht er auf das Verhältnis von Malerei und Mathematik ein, die Auswahl und Bedeutung der Farben sowie das Verhältnis von Zufall und bewusster Wahl in der Entstehung von Kunst. In »Flexor: in Memoriam« einem späten Text, der wahrscheinlich in den 1980er Jahren entsteht, unternimmt Flusser den Versuch, das Werk des verstorbenen Freundes für sein Spätwerk zu reklamieren. Ein Akt der Appropriation zwar, zugleich aber auch ein Akt der Liebe, typisch für Flussers Vorgehen, der beim Umgang mit Freunden immer seinen eigenen Einfluss auf diese sucht. Eine weitere wichtige Gesprächspartnerin auf der Terrasse ist Mira Schendel (1919-1988), Tochter eines tschechischen Vaters jüdischer Abstammung. Sie wird in Zürich als Myrrha Dagmar Dub geboren. Ab 1936 besucht sie die katholische Universität Sacro Cuore in Mailand. 1920 wird sie auf Veranlassung der Mutter katholisch getauft. 1949 emigriert sie nach Brasilien, wo sie zuerst in Porto Alegre ansässig ist und dann nach São Paulo übersiedelt. Sie übernimmt den Familiennamen ihres Mannes Knut Schendel, den sie in Brasilien trifft. In den 1960er Jahren produziert Mira Schendel mehr als viertausend Zeichnungen mit der Monotypie-Technik auf Reispapier, ein Werk, das mit der Philosophie von Flusser in ein Gespräch tritt. Auf der Terrasse dis-

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kutiert sie mit Flusser vor allem über Kunst und Theologie. Wir werden im nächsten Teil näher auf ihre Freundschaft eingehen.

B odenlos : E ine philosophische A utobiographie Flussers Terrasse ist ein wesentlicher Bestandteil seines Hauses, genauso wie die eigene Familie. Die direkten und indirekten Hinweise auf diesen Raum in Briefen und im Werk sind eine Hommage an die Familie, die dadurch zugleich verborgen und beschützt wird. Als Flusser Brasilien verlässt, destilliert er aus der Terrasse seine philosophische Autobiographie. Obwohl er schon Anfang der 1970er Jahre mit der Niederschrift beginnt, wird diese erst 1992 in einer deutschen Version veröffentlicht. Die portugiesische Variante erscheint 2007, mit dem gleichen Titel, auch weil der Begriff der Bodenlosigkeit schwer übersetzbar ist. Das Buch – einmal mehr Edith gewidmet (Uxori omnia mea) – besteht aus vier Teilen: Monolog, Dialoge, Diskurse und Reflexionen. Der erste Teil schildert vor allem die Flucht von Prag nach São Paulo, enthält aber auch Abschnitte zur brasilianischen Natur und Sprache. Der dritte Teil stellt Flussers Kommunikationstheorie vor und der vierte beschäftigt sich mit dem wiederentdeckten Prag. Uns interessiert hier vor allem der zweite, dialogische Teil, der zugleich auch der längste ist, macht er doch mehr als die Hälfte des Buches aus, was die zentrale Bedeutung des Dialogs in Flussers Theorie und Praxis akzentuiert. Der letzte Abschnitt ist der Terrasse in São Paulo gewidmet. Die anderen elf Abschnitte stellen ebenso viele Gesprächspartner Flussers vor: Alex Bloch, Milton Vargas, Vicente Ferreira da Silva, Samson Flexor, João Guimarães Rosa, Haroldo de Campos, Dora Ferreira da Silva, Jose Bueno, Romy Fink, Miguel Reale und Mira Schendel. Mit diesen elf Menschen, von denen vier Migranten wie Flusser sind, entwickelt er einen hochemotionalen oft aggressiven Dialog. Flusser sieht in dieser verbalen und intellektuellen Gewalt etwas grundlegend Positives, ist diese doch die eigentliche Voraussetzung jeglicher intellektueller Redlichkeit. Er geht davon aus, dass ein gewisses Maß an performativer Gewalt nötig ist, damit man mit Vorurteilen, Heuchelei, Narzissmus und Prahlerei aufräumen kann. Über frühere Freunde auf aggressive Art und Weise zu reden, ist aber trotz allem eine gewisse Form der Grausamkeit, weil es die Privatsphäre anderer verletzt und Flusser dies letztlich auch dafür missbraucht, um über sich selbst zu reden. Beim Schreiben seiner Autobiographie beweist Flusser immer dann so etwas wie Schamhaftigkeit, wenn es darum geht über seine eigenen Erinnerungen und Emotionen zu sprechen. Er durchbricht aber diese Scham immer wieder, wenn er seine Emotionen und Erinnerungen auf die anderen projiziert und diese dadurch als Spiegel benutzt. In einem Brief vom 27. November 1973 an José Bueno, eine der Schlüsselfiguren des Dialogs,

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zeigt Flusser, dass er sich der mitleidlosen Dimension seiner Dialoge voll und ganz bewusst ist. Sein Blick, führt er dort aus, fixiere und verdingliche beide Gesprächspartner. Er hoffe allerdings, dass diese Verdinglichung durch die Emotionalität aufgehoben werde, die aus dem Text hervorgehe. Als er Bueno darum bittet, das Manuskript noch vor der Veröffentlichung zu lesen, merkt er knapp an, dass seine europäischen Freunde, unter ihnen Abraham Moles, die Autobiographie als ein Meisterwerk betrachten. Die im Buch dargestellten Freunde hingegen würden sich nicht geehrt, sondern eher beleidigt fühlen. Milton Vargas, zum Beispiel, findet, dass der erste Teil eine Art »fui puta de Hitler«, I was Hitler’s bitch ist, der zweite Teil »purer Hass« und die Porträts der Gesprächspartner, einschließlich seines eigenen, »subjektive Karikaturen«. Die Dichterin Dora Ferreira da Silva unterbricht – wie einige andere Freunde auch – die Beziehung zu Flusser wegen des Porträts ihres zehn Jahre früher verstorbenen Mannes Vicente Ferreira da Silva, worin Flusser diesen als überzeugten Faschisten beschreibt. Vilém fühlt die dringende Notwendigkeit, diese Zeugnisse niederzuschreiben, möchte aber zugleich die ihm emotional nahestehenden Freunde nicht verletzen. Er denkt, dass eine Autobiographie eine Art ausgleichende Gerechtigkeit gegenüber all dem darstellt, was er während seines Lebens erlebt hat. Die Betroffenen jedoch fühlen sich gründlich verraten. Deswegen bittet er Bueno um seine Unterstützung. »Als ich anfing, dachte ich, dass ich eine Art Miniatur-Augustinus sei. Jetzt sehe ich, dass ich ein Miniatur-Dante (derjenige der Hölle) sein müsste. Helfen Sie mir.« In einem weiteren Brief vom 14. Dezember des gleichen Jahres, den er abschickt, noch bevor Bueno den ersten erhalten, geschweige denn gelesen hat, mahnt er diesen zur Lektüre des anderen Briefes, eine »wichtige Zeugenaussage«. Darin bedauert er zugleich sein mangelndes Taktgefühl, hat er doch Reale das ihm gewidmete Porträt schon zugeschickt. Und er fügt hinzu: »die Menschen ertragen es komischerweise nicht, ihr Spiegelbild in anderen zu sehen.« Er entschuldigt sich dafür, dass er »der Versuchung, Freunde auf die Probe zu stellen« nicht widerstanden hat. Es ist sicher Bueno hoch anzurechnen, dass er die Verzweiflung seines Freundes, die seiner eigenen Melancholie so nahe ist, verstanden hat. In einem Brief vom 8. Januar 1974 gesteht er, er sei zutiefst berührt von den Tugenden und Talenten, mit denen er ihn beschenkt habe. »Leider besitze ich die Tugenden, die Sie mir zuschreiben, nicht in einem so hohen Masse.« Das Kapitel über José Bueno in Bodenlos ist in der Tat viel weniger kritisch als diejenigen über Reale, Vicente, Dora oder Guimarães Rosa. Allerdings nennt Flusser den Freund auch nicht umsonst einen »edlen Vertreter des dekadenten Großgrundbesitzes.« Buenos Reaktion ist dankbar und liebevoll, aber auch ironisch auf aristokratische Art und Weise. Die Begriffe, die er auswählt, um seine bescheidene Replik zusammenzustellen, sind weitgehend rhetorischen Ursprungs und zeigen, dass er die Kritik verstanden hat, die Verletzung aber

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nicht eingestehen will, denn er ist ja ein legitimer Aristokrat (auch wenn er dem brasilianischen Adel entstammt, das heißt, einer Aristokratie, die schon im Moment ihres Entstehens dekadent war). In seinem Brief lässt sich der Aristokrat aus São Paulo jedoch nicht die Gelegenheit entgehen, Miguel Reale fertigzumachen. Er sagt, dass Flussers Kritik an Reale, wegen seiner faschistischen Positionen, immer noch sehr großzügig ausfällt, denn der brasilianische Faschismus ist nur eine grobe Imitation des europäischen und ihr Haupttheoretiker »ein junger verwirrter Emporkömmling, den Sie in seiner Reife kennenlernten: der spätere Ehrwürdige Rektor der Universität von São Paulo, Professor Miguel Reale.« In dem darauf folgenden Briefwechsel scheint der in der Regel immer wieder ironische Flusser die Ironie seines Freundes nicht wahrnehmen zu wollen. Denn in der Kritik an Reale ist natürlich auch eine Kritik an Flusser selbst eingebettet, der im Karrierismus und den politischen Irrungen des Juristen, der bei der Niederschrift der AI-5 mithalf, auf naive Art und Weise erhabene Erscheinungen der Intelligenz und Genialität, wenn auch auf der falschen Seite der Wahrheit erblickte. Man könnte in diesem Schweigen aber auch Flussers eigene Verlegenheit und vielleicht sogar ein Schuldgefühl herauslesen, sieht er doch in Reales Karrierismus den eigenen. Auffallend ist auch Flussers Beharren auf der philosophischen Dimension seiner Autobiographie. Über die eigene Familie sagt er darin fast gar nichts. Der Vater, die Mutter und Schwestern, die in Prag zurückbleiben, um zu sterben, werden verschwiegen und verwandeln sich in eine Metonymie von all dem, was er verloren hat, um zu überleben. Auch vom Schwiegervater ist nirgends die Rede, was auf Flussers Schwierigkeiten hinweist und den finanziellen und vielleicht auch moralischen Preis, den er bezahlt, um sein Leben zu retten. Edith ist der eigentliche Boden dieses bodenlosen Mannes. Vielleicht spricht er deshalb fast nie von ihr. Wenn er jedoch von ihr spricht, dann überhöht er sie auf Lateinisch, als ob er insgeheim anerkennen würde, dass er ohne Edith sicherlich in der Verzweiflung versinken würde. Von den drei Kindern spricht er noch weniger, in der Autobiographie und den anderen im Laufe seines Lebens veröffentlichten Texte so gut wie gar nicht. In seiner umfangreichen Korrespondenz – wie wir im dritten Teil noch sehen werden – zeigt er sich aber gegenüber Freunden stets als besorgter verantwortungsvoller Vater. Die Kinder werden liebevoll Dininha, Misha und Vik genannt. In einem Brief an Bueno vom 21. Januar 1975, der ihm am Ende seiner Briefe immer davon erzählt, wie es Flussers Kindern in São Paulo geht, schreibt er in diesem Sinne. »Ich bin Ihnen enorm dankbar für das Interesse, das Sie meinen Kindern entgegenbringen. Sie können sich vorstellen, wie sehr sie mir fehlen.« Die Verwendung liebevoller Kosenamen für die Kinder in der Korrespondenz und deren Abwesenheit in den veröffentlichten Texten, vor allem in der Autobio-

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graphie, ist eine eindeutig patriarchalische Geste. Die Familie und die Privatsphäre werden vor jeglicher Form von Small Talk und Klatsch abgeschirmt.

»C om carga feminina« Flusser unterlässt es, über sich selbst und seine intimsten Beziehungen zu schreiben. Er benutzt den Dialog mit den elf Menschen, die er am meisten bewundert, und spiegelt sich in diesen, indem er Ähnlichkeiten oder Unterschiede sucht. In beiden Fällen geht es darum, seine eigene Identität zu skizzieren. Die Reihenfolge der elf Namen in Bodenlos ist nicht alphabetisch, auch wenn das erste Kapitel Alex Bloch gewidmet ist, der ja auch der allererste Freund und Gesprächspartner in Brasilien ist. In der brasilianischen Ausgabe des Buches trägt das Kapitel einen in Klammern gesetzten Untertitel: »diálogo com um único interlocutor no clima da amizade e com carga feminina«, Dialog mit einem einmaligen Ansprechpartner in einem Klima der Freundschaft und mit einer weiblichen Spannung. Flusser weist in der Freundschaft mit Alex Bloch auf eine weibliche Komponente hin, macht diese aber nicht explizit an einem der beiden Partner fest, sondern leitet diese aus der Beziehung selbst ab. Vielleicht schwingt hier auch so etwas wie eine homoerotische Dimension mit, die unter Umständen weder Bloch noch Flusser bewusst ist. Alex könnte ebenfalls den Platz der verlorenen Schwester einnehmen. Am Ende des Kapitels jedenfalls bestimmt Flusser Bloch als sein Spiegelbild, das heißt, als jemanden, den er auch gerne wäre. Bloch ist »der Kritiker ›par excellence‹, von all dem, was man schreibt, und ihm gegenüber, muß man versuchen, sich zu behaupten. In diesem Sinn ist er ein ›alter ego‹.« Bloch ist nicht ein Genie, weil er ein geniales Werk geschaffen hat. Seine Genialität zeigt sich in seinem Leben, das in Flusser einen tiefen Neid hervorruft. Bloch hat sein Leben in ein Kunstwerk verwandelt und Flusser wäre ihm gerne darin gefolgt. Bloch wechselt mit Leichtigkeit den Charakter und die Maske. Er wird Verkäufer technischer Bücher, handelt mit Guaraná – eine tropische Pflanze aus dem Amazonasbecken, deren koffeinhaltige Samen als Nahrungsergänzungsmittel und Zusatz in Getränken verwendet werden –, ist Lakai eines buddhistischen Bischofs, Bordell-Mitarbeiter, Straßenbahnschaffner, Fernsehtechniker, Stahlbetonbauer, Börsenspekulant, Missionar im Landesinneren, Arbeiter in Stockholm und heiratet die brasilianische Malerin Niobe Xandó (1915-2010), für die Flusser in den 1980er Jahren eine Einführung für einen Werkkatalog schreibt. Flusser fasziniert und verführt vor allem, durch das, was er sagt und schreibt. Bloch fasziniert und verführt, durch das, was er tut und ist, und ist dabei immer das, was er noch nicht gewesen ist. Flusser sieht in ihm die Verkörperung von Hermann Hesses Steppenwolf, Albert Camus’ Fremdem und

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Goethes Mephisto zugleich. Nach Edith ist Bloch sicherlich Flussers bevorzugter Leser, weil er ihm mit konzentrierter Aufmerksamkeit zuhört, um dann rückhaltlos auf alle stilistischen Ausrutscher und jede Form von Unehrlichkeit hinzuweisen. Obwohl Flusser sich dadurch oft in seiner Selbstachtung verletzt fühlt, besitzt Bloch in seinen Augen die Fähigkeit, bis zum Kern der Aufrichtigkeit vorzudringen. Wichtig scheint uns hier auch die Tatsache, dass Bloch nicht schreibt, kein eigenes Werk produziert und dadurch auch nicht zu einem gefährlichen Konkurrenten werden kann. Zudem steht seine Kritik ganz im Dienste von Flussers eigenem Schreiben und Publizieren. Darin gleicht er Edith. Dies könnte eine weitere mögliche Bedeutung der im Untertitel erwähnten Weiblichkeit sein. Diese Lesart wird durch einen kurzen Vergleich mit Milton Vargas bestätigt. Dieser sei von einem steten Tatendrang besessen gewesen, während Bloch sich durch seine »reine Passivität« auszeichnete. Die Beziehung zwischen den beiden Freunden war, trotz der oberflächlichen Ausrichtung auf das intellektuelle Gespräch, immer zutiefst emotional, mit all dem, was solch ein Verhältnis impliziert, von der simplen Frustration über das mangelnde gegenseitige Verständnis bis hin zum offenen Widerspruch und der selbstzerstörerischen Konfrontation. Aus diesem Grund denken wir, dass Alex Bloch der Bruder oder die Schwester ist, die Flusser gerne gehabt hätte, auch um mit ihm, mit ihr zu kämpfen.

M ilton V argas Ein weiteres Alter Ego ist Milton Vargas. Dieser ist weniger ein Bruder wie Bloch als eine Vaterfigur, obwohl er eigentlich nur sechs Jahre älter ist als Flusser. Vargas ist eine Schlüsselfigur in Flussers Leben. Er ist derjenige, der ihm die Türen zu den intellektuellen Kreisen von São Paulo öffnet. Flusser betrachtet ihn als einen »Mentor« in »brasilianischen Dingen« und als einer seiner besten und engsten Freunde. Zusammen mit Bloch stellt Vargas so etwas wie eine Wahlfamilie dar. Bis zu seinem Tod 2011 unterhält Vargas einen engen Kontakt mit Viléms Sohn Miguel. Als emeritierter Professor der Escola Politécnica der Universität von São Paulo und Gründungsmitglied des IBF spielt Vargas eine zentrale Rolle beim Bau verschiedener Wasserkraftwerke, einschließlich die von Itaipu an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay und Tucuruí im brasilianischen Bundesstaat Pará. Zugleich wirkt er als bedeutender Literaturkritiker, vor allem im Bereich der »englischen romantischen und nachromantischen Dichtung«, wie Flusser in Bodenlos anmerkt. Er selbst hat sich als universalen Menschen in Sinne der Renaissance bezeichnet. In der Beziehung zu Bloch möchte Flusser stets vom anderen überzeugt werden, dass er Unrecht hat. In der Beziehung mit Vargas hingegen fühlt er, dass er ihn überzeugen muss, als ob er im Unrecht wäre. »Das Verhältnis zu

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Bloch hatte die Struktur von zwei Linien, die sich ruckartig voneinander entfernen, sich dann kreuzen (und zwar wiederholt und auf verschiedenen Ebenen), um schließlich auseinanderzulaufen. Das Verhältnis zu Vargas hat die Struktur von zwei Linien, die sich von entgegengesetzten Polen aus aufeinander zubewegen. […] Man schrieb zwar alles, was man schrieb, um von Bloch kritisiert zu werden, aber auch um den Widerstand von Vargas zu brechen. Sollte Vargas sich behaupten, man hätte verloren. Aber sollte er sich ergeben, hätte man dann nicht auch verloren?« Vereinfachend könnte man sagen, dass Bloch der ältere Bruder ist, den Flusser nicht hatte, und Vargas, der Vater, den er verloren hat und dessen Platz er einnehmen will, obwohl er ihn tief verehrt. Flusser und Vargas diskutieren oft miteinander, wenn sie zusammenkommen, und in langen intensiven Briefen, nachdem Vilém und Edith nach Europa zurückgekehrt sind. Lília Leão berichtet, dass Flusser in Europa davon spricht, dass er »nach Brasilien zurückkehren möchte, um seine Freunde zu sehen und um die Sehnsucht loszuwerden, mit Milton Vargas zu kämpfen.« Flusser schildert ihre Beziehung als weitgehend komplementär, auch was Vernunft und Gefühl angeht. »Man selbst spürte die Attraktion der Unvernunft, obwohl man in ihr immer eine Todesgefahr erkannte – zum Beispiel in Gestalt von Dada, Surrealismus, Neoromantik. Vargas spürte die Attraktion der Vernunft, der er aber immer mißtraute – zum Beispiel in Gestalt der neuen Physik, der neuen Methoden der Technik, der neuen Mathematik. Das Paradoxe daran war, daß man selbst für die Vernunft optierte, wiewohl man immer eine Neigung zu der irrationalen Seite der Dinge spürte, während Vargas gegen die Vernunft optierte, wiewohl er immer eine Neigung zur Wissenschaft hatte. Man selbst war also frustrierter Rationalist (frustriert durch die eigene Mentalität und die Entwicklung der Dinge), Vargas war frustrierter Irrationalist […].« Der Unterschied zwischen Flusser und Vargas ist besonders im politischen Bereich akut, vor allem wenn es um das heikelste Thema geht, die Nazis: »Für einen selbst war Nazismus Vermassung und der Vorläufer der augenblicklichen Entfremdung. Für Vargas war er Ausdruck unterdrückter Tendenzen, die sich als das ›Böse‹ manifestierten, weil sie unterdrückt waren, die aber fruchtbar sein könnten, würden sie bewußt angenommen.« Mit anderen Worten, Flusser kann und will den Einbruch der Barbarei der Nazis wie auch immer man ihn erklärt, nicht gutheißen, während Vargas die Möglichkeit einer positiven Sublimation des Nazismus betont. Flusser äußert sich allerdings nicht zu einem offensichtlichen Unterschied. Sympathie für die unterdrückten Kräfte, die zum Nazismus geführt haben, wie Vargas und Vicente hervorzuheben, bedeutet nicht, dass man automatisch antisemitisch ist. Vargas und Vicente haben ihre jüdischen Freunde mit offenen Armen empfangen. Die politische Position Vargas’, wie diejenige seiner Kollegen am IBF – Reale und Ferreira da Silva –, neigt deutlich nach rechts. Es ist dabei allerdings eine aufgeklärte

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Rechte wie Haroldo de Campos sie nennt, die nicht notwendigerweise auch rassistisch argumentiert. Eine Position, der Flusser nicht beipflichten kann. Dies bedeutet aber nicht, dass er sich dadurch automatisch links positioniert, auch weil er im Laufe der Jahre seine Kritik des Marxismus, dem sein eigener Vater zuneigte, deutlich verschärft hat. So verbringt Flusser sein Leben damit, mit zwei unterschiedlichen Vätern, zwei metonymischen Geistern, zu streiten, und versucht dabei, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, um sich selbst ausbalancieren zu können, wie ein bodenloser Seiltänzer des Denkens, ohne Gewissheiten, auch wenn er immer wieder wie jemand auftritt und schreibt, der sich seiner Ideen absolut sicher ist.

V icente und D or a da F erreir a S ilva Milton Vargas ist wie Vicente Ferreira da Silva IBF-Mitglied und im rechten politischen Spektrum angesiedelt. Für Flusser ist er »der größte, vielleicht der einzige brasilianische Philosoph«, wenn man unter Philosoph einen konsequenten und tiefen Denker versteht. Doch Vicente ist eine Art schlechter Vargas, weil ihm Vargas’ Güte fehlt. Vicentes Bosheit ist dabei vor allem eine theoretische, nicht eine »tätige Bosheit. […] Die Verführung des Bösen unter der Maske theoretischer Schönheit ist das Anziehende an Vicente […].« Sein faszinierendes und glamouröses Auftreten gleicht den ersten Eindruck von Bosheit wieder aus und verhindert, dass der Gesprächspartner diese als eine Tatsache erlebt. Für Flusser wären die praktischen Konsequenzen von Vicentes theoretischer Position »Genozid, brutale soziale und wirtschaftliche Ausbeutung des Schwachen durch den Starken, fanatische Verfolgung aller Gegner Vicentes […].« Denn im Gegensatz zu Bloch glorifiziert Vicente Abenteuer und Krieg, ohne eine Erfahrung von Abenteuer oder Krieg zu haben. Vicente analysiert die ethnischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen, die unsere Existenz bestimmen. Wenn man in Funktion dieser Bedingungen leben würde, befände man sich aber, so Flusser, in der Hölle. Deswegen verteidigt er gegenüber Ferreira da Silva die Existenz und Notwendigkeit anderer Bedingungen wie Anstand, Solidarität und Liebe. Flusser denkt, dass deren Verteidigung einen zu einem besseren Menschen machen. Dadurch dass Vicente Ferreira da Silva einem die Hölle offenbart, öffnet er einem zugleich den Weg zu einer, wenn auch frustrierenden, aber notwenigen Suche des Himmels. Vicente ist somit zugleich Freund und Feind. Flusser beschreibt ihn als einen »neuheidnischen Orgiasten« und sich als einen »bodenlosen Ironiker.« Zwischen Vicente da Ferreira Silva und Flusser gibt es oft dramatische Konfrontationen, manchmal sogar tragische,

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bei denen es nicht nur um Ideen allein, sondern um Lebenserfahrungen geht. »Vicente weckte den Juden in einem aus dem Schlaf.« Man könnte die ungewöhnliche Freundschaft zwischen den beiden Männern – um einen gewagten Vergleich zu bemühen – als die viszerale Notwendigkeit eines bodenlosen Menschen verstehen, sich in Adolf Hitler und Reinhard Heydrich, den Führer und den Schlächter von Prag, hineinzuversetzen und sie zunächst einmal als respektable Denker zu verstehen, um danach zu versuchen, sie allein mit philosophischen Argumenten zu überzeugen, den eigenen Vater, die eigene Mutter und Schwester und die anderen sechs Millionen Opfer des Holocausts doch nicht zu töten. Dieser Vergleich, der Flussers Text bis an seine karikaturistische Grenze führt, weil Vicente Ferreira da Silva diesen Vergleich nun wirklich nicht verdient hat, verleiht der absurden Aufgabe des Sisyphos, die Flusser auf sich genommen hat, ihre wahre Farbe. Diese besteht darin, der ganzen Menschheit, das heißt auch all denen, die allein von kategorischen Gewissheiten leben, den Zweifel beizubringen, damit sie ihresgleichen nicht in Asche verwandeln. Am Ende des Kapitels finden die beiden Denker nun doch noch irgendwie zusammen – jedenfalls ist dies Flussers Eindruck –, was sie auf einen Weg führt, an den sie in ihren Gesprächen nie gedacht haben. »Der Tod Vicentes war ein schreckliches Erlebnis. Einen solchen Dialog an der entscheidenden Stelle unterbrechen zu müssen, wo der wilde Kampf […] zu einem Ausweg zu führen schien, den beide ursprünglich für ausgeschlossen gehalten hatten: zum transzendenten Glauben. So fiel die Aufgabe hart auf die Schultern des allein Zurückgebliebenen, vom Freund-Feind Verlassenen. […] Welchen Beweis hatte man denn, daß Vicente im Begriff gewesen war, sich zu ändern? […] Man selbst schrieb eine Geschichte des Teufels, die nun ein frei baumelndes Ende eines abgeschnittenen Dialogs blieb. Die Toten schweigen – es sei denn, daß sie im eigenen Inneren weitersprechen. […] Ein Dialog bis zum eigenen Tode.« Wie man sich vorstellen kann, hat Dora Ferreira da Silva für das Bild, das Flusser von ihrem Mann in Bodenlos zeichnet, nicht viel übrig. In einem Brief vom 21. September 1973, mehr als zehn Jahre nach Vicentes Tod, greift sie Flusser frontal an, als wäre er auch ein Freund-Feind. »Wie schade, Flusser, dass Sie den Vicente eigentlich nicht wirklich kannten! Treten Sie einen Schritt zurück, um Himmels willen, und fassen Sie Mut. Sehen Sie denn eigentlich nicht, dass der Vicente Ihr dunkles Alter Ego ist, der Schatten, dem Sie Angst haben zu begegnen und zu sagen: Das bin ich auch? Ich kann mich daran erinnern, dass Edith einen Tag nach dem Tod von Vicente sagte: Es ist, als ob es auf der Welt kein Salz mehr gäbe. Warum habe ich das nicht vergessen? Weil die Wahrheit etwas ganz Einfaches ist, wenn man sie findet (was selten ist). Ja, Vicente ist einer der wenigen, von denen man sagen kann: Er war das Salz der Erde, er gab den Dingen ihren Geschmack und wer so war (ist), den müssen

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wir gut nennen. So nenne ich ihn und erkenne ihn wieder. Wie könnte ich Sie weiterhin einen Freund nennen, wenn Sie ihn in der Unwahrheit festnageln.« Flussers Antwort vom 18. Oktober desselben Jahres benützt die gleiche Tonalität, wählt aber das Du anstelle des distanzierten Sie: »Wenn deine Freundschaft eine Beziehung zwischen uns war […], dann ist es eigentlich egal, ob du sie unterbrichst oder nicht: denn es war nie eine Freundschaft. Dies sagt nichts über die Beziehung aus, die mich mit dir verbindet, und die von deiner Seite nicht verändert werden kann. Ich anerkenne dich, wie du bist (und dazu gehört auch die mitleidlose Brutalität und die fehlende Gnade, die sich in deinem Brief offenbart, eine Seite von dir, die ich immer schon kannte und die ich in dem Teil des von dir kritisierten Manuskripts [Bodenlos], der unsere Beziehung behandelt, als Ruptur bezeichnet habe) und es sind nicht Briefe wie dieser, die meine Gefühle dir gegenüber verändern werden, denn ich glaube an dich (Synonym von ›Freundschaft‹).« Es sieht so aus, als ob Flusser alle anderen als sein Alter Ego benutzte, um dadurch sich selbst zurückzugewinnen, das heißt, um denjenigen zurückzugewinnen, den er in Prag verloren hat. Dabei geht es nicht nur darum, den anderen als Spiegel zu benutzen, sondern auch immer darum, den anderen in sich aufzunehmen. »Ich hoere, in meinem Inneren, dein Kommentar zu allem, was ich denke und erlebe«, schreibt er in diesem Sinne am 18. Juni 1980 an David Flusser. »Die kurze Zeit mit dir hat dich wieder zu meinem alter ego werden lassen.« In seiner Antwort an Dora, in der Flusser auf die »mitleidlose Brutalität und die fehlende Gnade« hinweist, klagt er diese eigentlich an, eine weibliche Version seiner selbst zu sein, während er – aus seiner Perspektive wenigstens – sich wie eine männliche Dora verhält. Flusser führt den Briefaustausch mit Dora da Ferreira Silva in den darauf folgenden Jahren weiter. Er ist ein Sinnbild von Flussers selbstauferlegter Pflicht, immer authentisch und aufrichtig zu sein, auch wenn die anderen diese Authentizität und Aufrichtigkeit als bloße Ausrede für mangelndes Fingerspitzengefühl betrachten. Etwas mehr als ein Jahr später, am 24. November 1974, in einem Brief aus Meran, gibt Vilém endlich zu, dass Dora vom richtigen Gefühl ausgegangen ist, auch wenn sie die falsche Form gewählt hat: »Da du das Richtige gefühlt hast, auch wenn du dabei das Falsche kritisiert hast, muss ich deine Reaktion erst nehmen. Ich schreibe alles um, nicht nur Vicente und Rosa.« Er akzeptiert somit, wenn auch mit einem Vorbehalt, dass der Stil seiner Autobiographie falsch ist, »nicht aus den Gründen, auf die du mich aufmerksam gemacht hast, sondern weil ich es versäumt habe, meine Rolle als Zeuge ganz und gar auf mich zu nehmen […].«

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»Die Schnelligkeit ist die Eleganz des Denkens, die sich über die schwerfällige und langsame Dummheit mokiert. Die Intelligenz denkt und sagt das Unerwartete […]. Eine elegante Beweisführung überspringt die Zwischenglieder.« Michel Serres

»Flusser war ein echauffierter, energischer, kahlköpfiger Typ, der immer einen Anzug und Krawatten mit Schmetterlingsmuster trug, und er rauchte die Pfeife, auch während der Vorlesungen. Am ersten Unterrichtstag kam er überstürzt in die Aula (sie war voll, denn außer den regulären Studenten waren viele andere da, die als Zuhörer teilnehmen wollten) und dann, nachdem er sich vorgestellt hatte, sagte er, dass er für uns gute Nachrichten hätte: Wir hätten alle das Jahr bestanden, die Endnote würde für alle eine 7.0 sein (es war Februar und die erste Vorlesung!), er würde keinen Appell machen, keine Pflichtarbeiten verteilen, und wer es wolle, könne einfach gehen, ohne weiter am Kurs teilzunehmen, und dass dies alles OK sei. Er sagte auch noch, dass es ihm nicht gefiel, wenn die Leute ständig rein und raus gingen, deshalb würde er die Tür abschließen. Er zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und verschloss sie. Er tat dies in allen anderen Kursen für den ganzen Rest des Jahres. Wer zu spät kam, hatte das Nachsehen. Wer während seinen Vorlesungen Pipi machen musste, hatte ein Problem.« So schildert der Autor und Designer Ricardo Azevedo, der mehrere Jabuti-Preise, sowohl auf dem Gebiet der Literatur als auch im Essay-Bereich erhielt, in einem Gespräch seine erste Begegnung mit Vilém Flusser. Azevedo ist 1971-1972 Student an der Faculdade de Artes Plásticas der Fundação Armando Alvares Penteado (FAAP) in São Paulo. Die erste Klasse, die an der FAAP Kommunikation zu studieren beginnt, wird später »Turma Vilém Flusser 1971« genannt. Azevedo spricht von einem Professor, der in der schlimmsten Zeit der Militärdiktatur, als verschiedene Studenten und einige Professoren während der Nacht verschwinden, keinen Appell macht und sich nicht um Benotung kümmert, auch wenn er allen eine 7.0 gibt, die Mindest-

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note um, zu bestehen – wahrscheinlich, weil er denkt, dass niemand mehr verdient hat.

Abbildung 14: Vilém Flusser, São Paulo (1960er Jahre)

Flusser ist ein performativer Professor. Jede seiner Gesten ist eine Metapher seiner philosophischen Überlegungen. Weder einen Appell noch eine Auswertung durchzuführen, bedeutet auf die Instrumente der Kontrolle und die Macht des Professors von Anfang an zu verzichten, mit der Absicht, die Kursinhalte und die Kenntnisse des Vortragenden in den Mittelpunkt zu stellen. Diese spezifische Wahl wird durch den Erfolg seiner Vorlesungen bestätigt, die sowohl eingeschriebene Studierende als eine große Anzahl hochinteressierter Zuhörer anziehen. Natürlich ärgert diese Art von Auftritt die anderen Kollegen. Viele betrachten ihn als einen Exhibitionisten und Salon-Philosophen, der bloß eine Schau abzieht und den wesentlichen Aufgaben und Verpflichtungen seines Berufs aus dem Weg geht, um für sich selbst nur das Beste herauszupicken: den brillanten Vortrag. Die Tatsache, dass er die Klassentür verriegelt und niemanden hinein- oder hinauslässt, sehen sie als eine Bestätigung seiner fragwürdigen Arroganz. Aber diese Show ist viel mehr als ein unbedeutender Vorbereitungskurs vor Semesterbeginn. Flusser stellt hohe Anforderungen: absolute Pünktlichkeit und die ganze Aufmerksamkeit seiner Studenten, von denen er verlangt, dass sie stets aktiv mitdenken. Seine Lehrmethode ist altbewahrt: Flusser gibt das

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Beispiel dessen vor, der denkt und schreibt, was er denkt, und behandelt seine Themen in verschiedenen Sprachen. Der Künstler Octavius Donasci (ebenfalls ein Student an der FAAP) findet dieses Verfahren raffiniert, weil es von der impliziten Annahme ausgeht, dass die Kenntnisse und Denkfähigkeiten aller Studenten auf dem gleichen Niveau sind wie diejenigen des Vortragenden: »Er geht von einem absurden Prinzip aus: dass wir mindestens acht Sprachen verstehen.« Auf diese Weise nimmt er seine Studenten wenigstens ernst, im Gegensatz zu vielen anderen Professoren, die ihre Studenten verachten und oft sogar demütigen, um ihre eigene vermeintliche Überlegenheit zur Schau zu stellen. Donasci erzählt, dass Flusser stets mit dem ganzen Körper spricht und die Aula in allen möglichen Richtungen abschreitet. Daraus ergibt sich eine äußert eigensinnige Choreographie. Wenn das Thema beängstigend ist, zum Beispiel Kindermord in Süd-Argentinien, zieht er heftig an seiner Pfeife und bläst lange Rauchschwaden in die Luft (damals hat man noch viel und überall geraucht, vor allem während der Philosophie-Vorlesungen) und fixiert dabei empört seine Studenten, als ob er entsetzt wäre, dass niemand etwas dagegen unternimmt. Eine seiner pädagogischen Lieblingsgesten besteht darin, sich vor einem Studenten hinzustellen und über längere Zeit hinweg nur noch mit diesem zu sprechen, als ob dieser sein einziger Gesprächspartner wäre und nicht bloß ein eingeschüchterter Student, der die ganze Aufmerksamkeit eher erduldet als genießt. Die meisten Studierenden denken, dass er womöglich ein Verrückter ist, wenn auch eine faszinierende Figur. Donasci beschreibt ihn als eine wahnsinnige Mischung aus Groucho Marx und Sigmund Freud. Professor Flusser ist gleichermaßen charismatisch, brillant und distanziert, zeigt er doch kaum Interesse für die einzelnen Studenten. Trotz dieser Distanz, kann sich Azevedo jedoch an den befreienden Charakter seiner Vorlesungen erinnern. Sie zeigen ihm, dass die Dinge in der Regel viel komplexer, widersprüchlicher und faszinierender sind, als sie erscheinen. Er lernt dabei auch die Menschen bewundern, die es fertigbringen, die Gedanken des Zuhörenden aus ihrer Erstarrung zu lösen und zum Fliegen zu bringen, etwas, was sehr selten ist, und unter Professoren wahrscheinlich noch seltener. Der Ingenieur und bildende Künstler Roberto Kepler, der damals ebenfalls ein Student an der FAAP war, kann sich daran erinnern, dass er und seine Kollegen ihn arrogant fanden, weil er in den Vorlesungen in mehreren Sprachen vorträgt und das noch in einem sehr kategorischen Ton, der an einen jüdischen Propheten gemahnt, der Zugang zu allen Wahrheiten hat. So beschließen sie, ihn herauszufordern. Da einer von ihnen die brasilianische Indianersprache Tupi-Guarani beherrscht, stellt dieser Schüler am Ende der Vorlesung eine Frage auf Tupi-Guarani. Flusser schaut daraufhin alle Anwesenden an, als ob er sie mit seinem Blick durchbohren wollte, dazu schweigt er, um den Anwesenden zu verstehen zu geben, dass er die Falle wittert, dann wendet er sich abrupt dem fragenden Studenten zu und antwortet auf Tupi-Guarani. Eine höchst ge-

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schickte Inszenierung. Keplers Anekdote zeigt uns einen hintergründigen, schlagfertigen, überraschenden Vilém Flusser, sie betreibt aber zugleich eine fragwürdige Heroisierung. So erklärt die Erzählung zum Beispiel nicht, was der Student fragt, was Flusser antwortet und ob er überhaupt auf die Frage des Studenten antwortet. Es gibt ähnliche Geschichten über brillante Professoren, die man mit unmöglichen Fragen testen will, aus dem europäischen Sprachraum. Es könnte sich daher möglicherweise um eine urbane Legende handeln. Entscheidend ist hier jedoch, dass Flussers schillernde charismatische Persönlichkeit überhaupt zu solchen Geschichten Anlass gegeben hat. Vergleichbare Geschichten zirkulieren übrigens ebenfalls über Hannah Arendt, von der man erzählt, sie habe Kaugummi aus ihren Vorlesungen verbannt, das Ein- und Ausgehen während des Unterrichts strikt verboten, und dabei ununterbrochen ihre Zigaretten geraucht.

Abbildung 15: Vilém Flusser, São Paulo (1960er Jahre)

Die Künstlerin Jacqueline Aronis, die damals im Teenager-Alter ist, erfährt von Flussers Kursen an der FAAP und beschließt, die langweiligen Lektionen des Gymnasiums Mackenzie, das sich ganz in der Nähe befindet, zu schwänzen.

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Sie stößt auf einen elegant gekleideten Herrn in Anzug und Hemd, manchmal mit Hut, der unablässig spricht und die Studierenden provoziert, damit sie nicht mit dem Denken aufhören. Dieser fremde Professor hinterlässt bleibendere Spuren als alle anderen Professoren, denen sie zuvor in ihrem Leben begegnet ist. Einer der beliebtesten Sätze Flussers ist »Meu bem, você não entendeu nada!« (Meine Güte, Sie haben überhaupt nichts verstanden!), den er als Reaktion auf die naiven Fragen seiner Studenten benutzt. Auf den ersten Blick könnte man dies als Ausdruck von Flussers Arroganz verstehen – was es wohl auch ist. Flusser aber belässt es nicht dabei. Er versucht zu erklären, was den Studierenden entgangen ist, wobei sich zeigt, dass diese tatsächlich nichts verstanden haben, sich aber bemühen zu verstehen, was wiederum beweist, dass man in der Tat gar nichts wissen kann: Unser Wissen entsteht durch regulierende Fiktionen, die es uns erlauben zu handeln, als ob wir wüssten. Deshalb sollten wir alle so lange wie möglich mit unserem Verständnis zurückhalten, um die Entfaltung unserer Gedanken zu ermöglichen. Der Satz »Meu bem, você não entendeu nada!« kann somit als eine hintergründige Provokation verstanden werden, als eine Aufforderung weiterzudenken und alles zu bezweifeln. Laut Vargas unterscheidet sich Flusser von den meisten anderen Professoren durch die Fähigkeit, jede Frage aus einer völlig neuen und faszinierenden Perspektive zu analysieren. Flusser würde diese Fähigkeit als einfache Praxis der phänomenologischen Theorie betrachten, welche alle Gewissheiten vorübergehend suspendiert, um einen neuen Blick auf die Dinge auszuprobieren. Er benutzt diese Praxis nicht nur als pädagogische Methode, sondern auch als Sprech- und Schreibstil. Vargas hebt hervor, dass Flusser über keine systematische Ausbildung weder in der Philosophie noch in der Wissenschaft verfügt. Leonardo da Vinci sprach kein Latein und hatte deswegen keinen direkten Zugang zur Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit. Trotz dieser Beschränkung oder gerade deswegen schuf er die Grundlagen für eine völlige Erneuerung der Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit. In diesem eher gewagten Sinne beschreibt Vargas Flusser als eine Art Leonardo da Vinci des 20. Jahrhunderts. 1967 lädt Vargas Flusser dazu ein, seine Stelle als Professor der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Escola Politécnica der Universität von São Paulo zu übernehmen. Die Existenz dieses Fachs stellt für die damalige Zeit eine Ruptur mit der Vergangenheit dar. Die Escola Politécnica bildet Ingenieure aus, die sich normalerweise nur mit Berechnungen und Mechanik beschäftigen. Vargas hat dieses Fach vier Jahre lang unterrichtet und auf die Freude der Studenten hingewiesen, wenn sie die Möglichkeit hatten, von etwas anderem als von den verschiedenen Ingenieurstechniken zu hören. Aus diesem Grund sind diese Kurse meist überfüllt. Flussers unkonventionelle fachunspezifische Vorlesungen werden zu einem Erfolg. Bis heute, so weiter Vargas, könnten sich verschiedene Kollegen

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aus dem Ingenieurberuf noch sehr gut an ihn erinnern. Er bedauert, dass gerade dieses Fach der Universitätsreform von 1971 zum Opfer fällt. Durch die damaligen technokratischen korporativen Reformen, welche dem Geist der Interdisziplinarität den Garaus machen, wird jeder einzelnen Fakultät das Monopol über ihr Fach zugewiesen: Physik wird nur noch von Physikprofessoren und Philosophie nur noch von Philosophieprofessoren unterrichtet. Flusser wird in der Folge offiziell der Fakultät für Philosophie zugewiesen, was zu verschiedenen Problemen mit seinen Kollegen führt. Diese Umorientierung betrifft aber nicht die Vorlesungen an der Escola Politécnica, für die Flusser nach wie vor verantwortlich ist. Keiner seiner Kollegen will ihm das Privileg, vor 200 Studierenden zu sprechen, streitig machen. Flusser wird jedoch auf das neue Amt verzichten. Einige Professoren der USP erklären dies mit seinen fehlenden akademischen Titeln. Vargas jedoch meint, er sei nicht mehr erschienen, weil er damals bereits entschieden habe, nach Europa zurückzukehren. Flussers Entscheidung reift im Laufe der Jahre und konkretisiert sich um die Mitte der 1960er Jahre herum, auch weil der Druck der Diktatur zunimmt. Im neuen politischen Kontext hat Flussers methodischer Zweifel keinen Platz mehr. Der Putsch von 1964 und der Putsch im Putsch von 1968 führen zu radikalen Polarisierungen, besonders innerhalb der Universitäten. Die Gewissheit gewaltsamer Unterdrückung, die Zensur und die Folter sowie das Verschwinden von Professoren und Studenten lassen nur noch zwei mögliche Haltungen zu. Entweder ist man gegen das repressive System oder dafür. Wer sich gegen die Gegner des Systems stellt, wird automatisch zu einem Befürworter desselben – auch wenn das nicht immer der Fall ist, wie zum Beispiel bei Flusser. Die dunklen Zeiten Brasiliens, welche die Sonnenbrille des Präsidenten emblematisch verkörpern, erschweren jede mögliche Debatte, weil sie dazu führen, dass man das Land nur noch in zwei Tonalitäten wahrnehmen kann. Der Philosophie-Professor José Arthur Giannotti, der 1969 frühzeitig in den Ruhestand versetzt wird, gehört ins linke Spektrum. »Wir wollten damals klar definierte Partituren […] und bei Spielende wissen, wer die Gewinner und wer die Verlierer waren.« Jahre später gibt er zögerlich zu, dass Flussers »literarischer Denkstil«, deutlich seiner Zeit voraus war: »[…] heute wäre er ein viel bedeutsamerer Autor als damals.« Flusser weigert sich entschieden, am Spiel der Guten gegen die Bösen teilzunehmen, und dies auch in jenen dramatischen Jahren. Deswegen beurteilen Kollegen wie Giannotti und viele Studenten seine kritische Haltung als reaktionär. Da Flusser die linke Radikalisierung, die er als billig und unverantwortlich betrachtet, bekämpft, etikettieren ihn die linken Intellektuellen als Rechten, ein Stigma, das er nie mehr loswerden wird. In Bodenlos gibt Flusser zu, dass seine Diagnose der damaligen politischen Situation falsch war. Jahrelang habe er geglaubt, dass der Ausnahmezustand nur eine vorübergehende Phase in der brasilianischen Politik sein würde, und dass man den kreativen Prozess in der Kultur wieder aufgenommen hätte. Er

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versucht daher, die jungen Menschen davon zu überzeugen, sich nicht in gefährliche Abenteuer gegen die Militärregierung zu stürzen oder gar den bewaffneten Kampf zu wagen. Sie sollen ihre Energien für später aufsparen. »1964 traf die Jugend wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Da sie die wahre Lage der Dinge […] nicht zu sehen vermochte, hatte sie dieses Ereignis nicht nur nicht erwartet, sondern für unmöglich gehalten. […] Täglich verschwanden junge Menschen von der Oberfläche. Der zarte Embryo einer neuen Kultur, der, wie ich jetzt einsehen muß, überhaupt nicht lebensfähig war, wurde zerstückelt. […] Ich selbst konnte allerdings die Tatsachen nicht richtig verstehen. […] ›Réculer pour mieux sauter‹, das war mein Schlagwort (an das ich allerdings selbst nicht recht glaubte). Es war eine schwarze Periode für mich, denn ich sah mich gezwungen, zu lehren, was mir nicht wahr schien.« Als Flusser schließlich einsieht, dass dieses ›Für später‹ möglicherweise weder für ihn noch für die jungen Menschen eintreten wird, versteht er, dass vernünftige Ratschläge überhaupt keinen Sinn mehr haben. Aufgrund dieser bitteren Erkenntnis fragt er sich, wie er weiterhin Professor sein kann, wenn er keinen Ausweg mehr für sich und seine Studenten sieht. Seine Lehrtätigkeit hört für ihn damit auf. »So habe ich eben das Land (und die Jugend, die an mir hing) verlassen«, schreibt er rückblickend in Bodenlos. »In ihren Augen bin ich daher sicher ein Verräter.«

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»Ich stelle tatsaechlich die Phaenomene nicht ueber- und untereinander […]. Ich stelle sie naemlich ueberhaupt nicht, sie verschwimmen mir und verschraenken sich und verschlingen sich [selbst] und einander wie die beruechtigte Laokoongruppe […]. Ein Phaenomen […] ist fuer mich nicht etwas, das steht, es fliesst und windet sich, mal ist es da, mal ist es dort […]. Ich [bin] voellig ausser Stande […], systematisch zu schreiben. Das Wort ›System‹, also auch ›Hierarchie‹, ist fuer mich gleichbedeutend mit Luege.« Vilém Flusser in einem Brief an Hellmut Wolff (21. Juni 1958)

Vilém Flusser hat während seiner Brasilienzeit immer wieder mit dem Gedanken gespielt, nach Europa zurückzukehren oder in die USA auszuwandern. In diesem Sinne ist seine definitive Rückkehr im Juni 1972 keine Überraschung. Um dies zu ermöglichen, hat er schon in den 1950er Jahren, aber auch nach seinem Erfolg im akademischen Milieu Brasiliens Mitte der 1960er Jahre, hartnäckig und systematisch versucht, in Deutschland und den USA zu publizieren oder durch Vorträge an verschiedenen akademischen Institutionen außerhalb Brasiliens Fuß zu fassen. So verfasst er am 2. November 1962 zu einer Zeit als die frühe intellektuelle Isolation eigentlich überwunden ist, einen längeren Brief an Lionel Ruby von der American Philosophical Association. »This country is at once stimulating and frustrating for one interested in philosophical study and investigation. It is stimulating because practically anything one does is pioneering work, and because an eager and enthusiastic new generation offers a fertile and virgin field for one’s activities. It is frustrating, because ›official‹ intellectual groups […] are rigidly divided in two rival camps, the Marxist and the Catholic, and so deeply involved […] in their struggle as to be almost deaf to an indipendent voice […].« Aus diesem Grund möchte er gerne, wenn auch nur für ein paar Jahre, in die USA, um in einer anderen geistigen Umgebung unterrichten, schreiben und veröffentlichen zu können. Ruby empfiehlt ihm, ein Dossier zusammenzustellen, seine akademische Anbindung an die Universität von São Paulo zu klären und zu versuchen, eine Fellowship für Philosophie an einer

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der größeren amerikanischen Universitäten zu erlangen. »I have been appointed ›effective fellow‹ of the Instituto Brasileiro de Filosofia on December 20, 1962«, schreibt ihm Flusser am 14. Januar 1963. »I cannot, however, hope for a ›cátedra‹ at the University, since none is vacant or will be in the next future. On the other hand, I cannot apply for a doctor’s degree, because according to Brazilian laws, I would have to pass first throug [sic!] primary and secondary schools, since my certificate of ›maturity‹ and six [sic!] semesters at the Prague University are not recognized.«

D as erste S chreibprojek t Flusser versteht sein Schreiben von Anfang an als lebensstrukturierendes und lebensveränderndes Projekt, das ihm ermöglichen soll, seine enge berufliche und geographische Situation zu überwinden. Es geht darum, Philosoph und Schriftsteller zu werden und nach Europa oder in die USA zu emigrieren, um möglicherweise dort an einer Universität zu lehren und zu forschen. Auch wenn Flusser in der Folge immer wieder effektvoll die Karte des Antiakademismus ausspielt, weicht er von dieser ersten Ausrichtung nie ganz ab. Im Herbst 1950 beginnt er an einem Buch über das 18. Jahrhundert zu arbeiten. Noch bevor der Text abgeschlossen ist, sucht er nach einem möglichen Verlag. Im Briefwechsel mit Alex Bloch wird das geplante Buch an zwei Stellen erwähnt. Am 2. Mai 1951 schreibt Flusser aus Rio de Janeiro, er betrachte das Zusammenführen von Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Religion als sein eigentlicher Lebensweg. »Um ihn methodisch zu planen, muß man sich einen beliebigen Ausschnitt aus der Geschichte wählen, zum Beispiel das 18. Jahrhundert, und versuchen, von diesem Angriffspunkt aus, das Sichtfeld zu erweitern.« Und in einem weiteren Brief vom 28. Juni: »Ich habe mit der Einleitung zu meinem Buch begonnen.« Mit seinem synthetisierenden Blick auf die divergierenden philosophischen Strömungen Europas wendet sich Flusser auch direkt gegen Blochs eigene mephistophelische »Zerschmetterung aller Systeme.« Zwei Monate später, am 27. August, schreibt der damals 31-jährige, noch völlig unbekannte Autor, mutig und selbstbewusst, einen Brief an die Columbia University. Sein Interesse für das gewählte Thema führt er auf biographische Motive zurück, auf seine Herkunft und sein späteres Exil. »Having spent much time on problems of philosophy, I have been impressed, on the one hand, by the ever widening gap between Continental and Anglo-Saxon philosophy, and on the other hand, by the inability of recent philosophy, to digest the imminent, or even accomplished, downfall of European civilisation. As the establishment of links between Anglo-Saxon and Continental thought seems to me imperative, if the European heritage is not to be lost altogether, and as I

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have been subject to both influences during my studies in Prague and London, I might possibly be able to contribute something. The eighteenth century seems to be at the same time the climax and the beginning of the decline of European civilisation and I am therefore planning a book on 18th century thought as seen from our present position. […] The introduction to that book is now ready. It discusses the concept of logic as developped [sic!] in England and America, and the concept of history, as developped [sic!] in Germany, and tries to bring both concepts into an organic connection. […] The introduction is […] a closed entity and can be considered an essay apart. It is written in German, but I can have it, naturally, translated into English.« Über seine intellektuelle Situation in Brasilien schreibt Flusser: »Ever since my arrival in Brazil my contact with recent philosophy has been restricted to reading. In view of this country’s remoteness from events and the smallness of the philosophically interested public, there is, to my knowledge, no chance in this country for a critical appraisal of my thinking and for an eventual publication of the book I am planning.« Eine Antwort von Seiten der amerikanischen Universität, falls es eine solche je gegeben haben soll, ist nicht erhalten. Vielleicht auch aufgrund von Absagen gelangt er am 24. September 1951 an den an einer israelischen Universität arbeitenden David Flusser mit der Bitte, ihm bei der Suche nach einer Publikationsmöglichkeit zu helfen. Er arbeite seit etwa einem Jahr »an einer Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts«, die »vom Standpunkt eines, der im gleichen Masse unter dem Einfluss der deutschen und angelsaechsischen Philosophie steht«, geschrieben worden sei. Daher falle ihm »eine Synthese leichter als vielen.« Ausgangspunkt der Untersuchung sei die Auftrennung »der europaeischen Philosophie in kontinentale und angelsaechsische Stroemungen, die einander immer mehr entfremden [sic!] und sich so weit voneinander entfernt haben, dass sich der logische Positivismus der Englaender mit dem Existenzialismus eines Heidegger oder Jaspers nicht mehr in Verbindung bringen laesst.« Es gehe darum, »zwischen diesen beiden Entwicklungen eine Bruecke zu schlagen«, zwischen der »Logik in England und Amerika« und den »sogenannten Geisteswissenschaften, in Deutschland.« Die Einleitung, so Flusser, sei abgeschlossen. Ungefähr ein Jahr später, am 23. August 1952, schlägt er David Flusser vor, einige Seiten zu schicken. »Es ist so«, schreibt er, »dass ich der angloamerikanischen Logizitaet entfremdet bin und mich vom nordischen Urwalddunkel eines Heidegger und Jaspers habe verlocken lassen. Verachte mich aber deswegen nicht allzu sehr, denn den Russell und den Wiener Kreis habe ich doch in mir, und wer einmal Wittgenstein gelesen hat, der wird kein Metaphysiker. Gewisse Dinge in Heidegger sind aber doch so anziehend (kennst du Sein und Zeit?), dass man sich ihm nur schwer entziehen kann.« Von dieser Studie über die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts ist leider nichts erhalten geblieben.

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Flusser gibt dieses erste Projekt in der Folge auf und beginnt, an einem weitaus ambitiöseren synthetisierenden Projekt zu arbeiten, welches den Westen und den Osten miteinander versöhnen sowie Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion zusammenführen soll. Zwischen dem ersten aufgegebenen Projekt und dem zweiten neuen liegt Flussers Auseinandersetzung mit Wissenschaftstheorie und seine gleichzeitige Faszination für mystische Autoren wie Meister Eckhart und Angelus Silesius, den Buddhismus und den Hinduismus, so wie er in der Vedanta zum Ausdruck kommt. Vor allem die letzteren religiösen Texte finden einen deutlichen Niederschlag in Das Zwanzigste Jahrhundert. Eine Festlegung des genauen Zeitpunktes, an dem Flusser mit der Niederschrift des neuen Buches beginnt und eine detaillierte Erörterung von dessen thematischen und stilistischen Beziehungen zum ersten Projekt sind aufgrund der einsehbaren Dokumente im Berliner Flusser-Archiv leider nicht möglich. Der Abschluss des Buches kann aber aufgrund des vorhandenen Briefwechsels mit europäischen Verlagen auf den Herbst 1957 datiert werden. Das Zwanzigste Jahrhundert beerbt und – um in Flussers eigener Metaphorik zu verbleiben – verschlingt und verdaut den ersten unabgeschlossenen Text, der möglicherweise nicht sehr weit über die Einführung hinausgekommen ist, aber das Grundkonzept einer synthetisierenden organischen Versöhnung divergierender Diskurse liefert. Am 12. September 1957 schreibt er dem italienischen Philosophen Ernesto Grassi (1902-1991) in München – den er um Hilfe für eine mögliche Publikation in Deutschland bittet –, die Grundstimmung des gesamten Buches sei der Glaube. »Meines Wissens ist ein solcher Versuch, ausser vielleicht von Jaspers, zu unserer Zeit selten oder gar nicht unternommen worden, er findet eher Parallelen zur Zeit des Humanismus und im achtzehnten Jahrhundert.« Interessanterweise ist es gerade diese Nähe zu Jaspers’ Denken, die den Piper Verlag zu einer Ablehnung des Manuskripts bewegt (Brief vom 6. November 1957). Der Leserkreis sei in Brasilien »ziemlich beschraenkt«, deshalb suche er »in Deutschland nach einem weiteren Resonanzboden.« Um Grassis Interesse zu wecken, erwähnt Flusser, auch hier ein Meister der Verführung, dass er dabei sei, das Buch auf Portugiesisch zu publizieren. Tatsächlich liegt von der deutschen Fassung nur eine 32 Seiten lange Teilübersetzung ins Portugiesische ohne Titelblatt und mit einem Inhaltsverzeichnis ohne Seitenzahlen vor. Um seine Karriere zu fördern, schreckt Flusser, wie so viele andere Akademiker auch, vor dem Bluff nicht zurück. Ungehemmte Selbstanpreisung ist eine wichtige Spielform, der man in seinen Briefen immer wieder begegnet. Die Existenz einer frühen ersten Teilübersetzung ist signifikant, weist sie doch in eine Richtung, die für das gesamte spätere mehrsprachige Werk, das durch sukzessive multiple Selbstübersetzungen geniert wird, entscheidend ist. Es ist anzunehmen, dass Flusser versucht, den Text auch in Brasilien zu publi-

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zieren, vielleicht nachdem alle Versuche in Europa gescheitert sind. Im Nachhinein ist es nicht mehr möglich zu ermitteln, warum Flusser den Text nicht fertig übersetzt. Eventuell kann es auch damit zusammenhängen, dass er das Vorhaben abbricht, um sich anderen Projekten zuzuwenden. Das Buch, so weiter Flusser im Brief an Grassi, habe »eine entfernte Verwandtschaft mit einem nach Asien erweiterten Gustavo Corção […].« Der Hinweis auf Corção ist bedeutsam, wirft er doch ein Schlaglicht auf eine ganz wesentliche Seite der ersten Schaffensphase Vilém Flussers. Corção (18961978), mit dem der Flusser der 1950er Jahre einiges gemeinsam hat, ist als junger Mann Mitglied der Kommunistischen Partei, entscheidet sich aber dann für eine katholisch konservative Ausrichtung. 1945 schließt er sich der neu gegründeten streng konservativen UDN (União Democrática Nacionàl) an. Sein Denken ist durch den englischen Schriftsteller und Journalisten G. K. Chesterton (1874-1936) und den französischen Philosophen Jacques Maritain (1882-1973) geprägt. Beide stammen aus protestantischem Milieu, treten später aber der katholischen Kirche bei. Maritains Werk ist zudem vom Gedankengut Thomas von Aquins geprägt. Flusser hat drei seiner Werke in die Bibliographie von Das Zwanzigste Jahrhundert und Língua e realidade aufgenommen. Flusser setzt sich zur gleichen Zeit auch mit dem Werk Simone Weils (1909-1943) auseinander, deren Schicksal seine eigene damalige existentielle Lage auszudrücken scheint. Er liest und annotiert ihr 1949 erschienenes L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain (Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber). Simone Weil wächst, wie Flusser, in einer wohlhabenden jüdischen Familie des Pariser Großbürgertums auf. Sie engagiert sich in der französischen Gewerkschaftsbewegung und nimmt am Spanischen Bürgerkrieg auf der republikanischen Seite teil. Nach einer mystischen Erfahrung nähert sie sich der katholischen Kirche. Simone Weil interessiert sich nicht nur für das Christentum, sondern für verschiedene religiöse Traditionen, die von den griechischen und ägyptischen Mysterien bis hin zum Hinduismus und Buddhismus reichen, eine weitere Ähnlichkeit mit Flussers damaligen Interessen. In »Auf der Suche nach Bedeutung« hat Flusser sein Lebensgefühl dieser Zeit und die Verlockung einer Konversion zum Katholizismus eindringlich beschrieben. »Während des Zweiten Weltkrieges, im Hintergrund die Vernichtungslager und als Umgebung eine fremde Gesellschaft, verfiel ich der Einsamkeit des Mystizismus (für mich schon im Tractatus und bei Nietzsche vorausgesehen). Ich interessierte mich für das orientalische Denken, für Johann vom Kreuz, für Ekkehart; ich las immer wieder Angelus Silesius, entdeckte von neuem die deutsche Romantik, Dostojewski. Ich befaßte mich mit Buber und mit der protestantischen Existentialtheologie, ich entdeckte Jaspers. Die ersten Schriften Heideggers trafen mich zutiefst, provozierten in mir Enthusiasmus und Haß in einer fast unerträglichen Spannung. Ich begann in

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dieser Zeit, in Verzweiflung, zum ersten Mal den Ruf des Katholizismus, als Versprechung von Rettung und Trost, zu empfinden. Doch wußte ich immer, in einem Winkel meines Seins (im marxistischen, vielleicht), daß es nichts als Entfremdung und Flucht war. Daß ich den Intellekt verriet und nicht opferte.« Im Frühjahr 1958 beginnt Flusser, einen Verleger für das neue Buch zu suchen. Er wendet sich dabei an die Beck’sche Verlagsbuchhandlung in München und den esoterischen Origo Verlag in Zürich. Flussers sprunghafter, innovativer essayistischer Stil auf der Grenze der Diskurse hat im Kontext der späten 1950er Jahre kaum eine Chance. Vom ersten Verlag erfolgt eine klare Absage. Die Kritik trifft dabei einen wichtigen Aspekt von Flussers Schreibprojekt. Der Texte käme über »Ansätze zu Essays« nicht wesentlich hinaus. Man empfehle dem Autor, den Plan einer subjektiven Synthese, der er noch nicht gewachsen sei, aufzugeben und aus dem Ganzen einzelne Kapitel herauszunehmen und zu größeren Essays auszuarbeiten. Diese Bemerkung ist insofern von Bedeutung, als sie eine von Flussers zukünftigen Schreibstrategien anspricht, die darin besteht, aus Vorträgen, Essays und aus diesen wiederum Kapitel für Bücher zu erstellen. Dieses Vorgehen kommt beispielsweise bei Natural:mente und Nachgeschichte zum Einsatz. Flusser dankt und pflichtet der Kritik bei. »Als ich an dem Manuskript schrieb, hatte ich keine Publikation vor Augen, sondern wollte nur mir selbst die Probleme klaeren, die mich beschaeftigen und quaelen.« Er bietet dem Verlag an, ganz im Sinne von dessen Kritik, einzelne Texte aus der »Phantasie eines Zweiflers« einzusenden. Es sind »fromme Teufelslegenden« (Brief vom 20. Juni 1958), wie sie Flusser nennt, der theoretische Keim und die eigentliche Urform seiner späteren Philosophiefiktionen. Bei der Verlagssuche spielen in beiden Fällen Mittelmänner eine wichtige Rolle. Bei Beck ist es ein Herr Stein und Flussers Schwiegervater Gustav Barth, der zur Kur in einem Sanatorium in Baden weilt – das Schlosshotel Bühlerhöhe oberhalb der Stadt Bühl im Nordschwarzwald. Flusser lässt nicht locker und liefert durch Gustav Barth der Beck’schen Verlagsbuchhandlung die Texte »Fühler« und »Venus« nach. In einem Brief vom 22. Juli 1958 spricht er von weiteren Geschichten, aus denen sich vielleicht ein Sammelband erstellen lasse: »Im Wilden Westen«, »Der Vater« und »Das Unterseeboot«. Aber auch dieser Vorschlag findet kein Gehör. Der Lektor spricht von »grotesken intellektuellen Spielen und Anspielungen« (Brief vom 29. August 1958). Einmal mehr liegt Flusser mit seinen hybriden Arbeiten dazwischen: nicht wissenschaftlich genug und auch literarisch nicht interessant lautet das Urteil. Der Verlag schickt Flusser die Texte zurück und empfiehlt ihm, sich bei anderen Verlegern umzusehen. Der Briefaustausch mit dem Origo Verlag findet zwischen März und Dezember 1958 statt. Dessen Entwicklung verläuft nach einer Logik, die auch im Briefwechsel mit der Beck’schen Verlagsbuchhandlung zum Zuge kommt. Flusser benützt seinen Schwiegervater als Mittelmann und bittet ihn, Wyss

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in Zürich zu besuchen. Er lässt sich von Kritiken nicht entmutigen, sondern reicht einfach weitere Texte nach. Wie der Zürcher Rechtsanwalt F. Schöni, den Lewis Weiner in Sachen Publikation eingespannt hat, in einem Brief vom 25. März 1958 mitteilt, hat er, nach einer Reihe von Absagen, durch Vermittlung eines Freundes Hans Wyss vom Origo Verlag in Zürich das Manuskript von Das Zwanzigste Jahrhundert zukommen lassen. Flusser ist begeistert, möchte aber genauere Angaben zum Verlag, der ihm nicht bekannt ist. Im Juni schaltet sich Hellmut Wolff ein, ein Freund und Vertrauter von Hans Wyss. Wyss bekundet Interesse, verlangt aber finanzielle Unterstützung von Flussers Seite. Dieser erwähnt die Möglichkeit einer Hilfe seitens seines in Europa weilenden Schwiegervaters. Wolff beanstandet den feuilletonistischen Stil des Buches, verweist auf thematische und formale Ungleichheiten und eine Tendenz zu generalisierenden, extrem pointierten Aussagen. Er lobt aber zugleich dessen blitzgescheite Originalität. In seiner Antwort vom 21. Juni geht Flusser auf den »Pferdefuss des Stils« ein und die Tendenz, »ins polemisch Uebergescheite zu verfallen. […] Die Unebenheit ist teil[s] auf die aeussere und innere Hast zurueckzufuehren, mit der ich alles tue, also auch denke und schreibe. Teils aber auch auf meinen […] Versuch, in freien Versen zu schreiben.« Die feuilletonistische »Ueberspitztheit« ist eine Folge der Leidenschaft und ein Versuch, diese zu tarnen. Flusser erwähnt auch seine Teufelslegenden und seine damalige Arbeit am »Teufelsbuch«, Die Geschichte des Teufels. In einem Brief an Wyss vom 7. Juli schreibt Flusser vom Drang zu Schreiben und der Unfähigkeit den Mund zu halten. »Es ist als denke es in mir weiter, wenn auch wahrscheinlich im Leerlauf, und es draengt mich, was ich denke zu schreiben, aus Angst, es wuerden mich sonst die Gedanken verschlingen. Viel schwerer faellt es mir, zu analysieren, warum ich einen so grossen Wert auf das Veroeffentlichen des Geschriebenen lege. Manchmal glaube ich, es sei Demut, manchmal, es sei Hoffart, aber meistens sehe ich in diesem Wunsch ganz einfach den Versuch, die Isolation zu zerbrechen und in Konversation mit Menschen zu treten.« In diesem Sinne schreibt er am 13. August: »Wahrscheinlich sage ich Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen verrate, dass meine Gewissenskrise auch mein aeusseres Leben aus dem Geleise wirft. Ich bin psychisch nicht mehr lange faehig, Radios zu erzeugen […], und ich hoffe, vielleicht in Ihnen vom Schicksal einen Ausweg aus der Wirrnis gefunden zu haben […].« Wie schon im Falle der Beck’schen Verlagsbuchhandlung bietet Flusser seine Kurztexte an: neben dem schon erwähnten »Wilden Westen« auch »Beschwörung« und »Mutation«, eine frühe Fassung eines Textes, den Flusser ins Portugiesische überträgt und am 3. Dezember 1961 als »A vaca« im Estado de São Paulo publiziert. Derselbe Text wird in abgewandelter Form unter dem Titel »Maschinenbau« als elftes Szenario ins 1989 veröffentlichte Bändchen Angenommen. Eine Szenenfolge aufgenommen, welches 22 Szenarien, unterteilt in

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drei Teile – Familienleben, Wirtschaftsleben, Politik – und ein abschliessender vierter Teil – Showdown – enthält. »Ich bin der Überzeugung«, schreibt Wyss am 22. August, »dass der Beruf des Schreibens Ihre Berufung ist. […] Schicken Sie einfach alles. Aus den utopischen Geschichten lässt sich viell. mit der Zeit ein Bändchen zusammenstellen. Wollen Sie mich autorisieren, die Geschichten zu den üblichen Bedingungen der Presse anzubieten? Eine, die metaphysische Blattlaus, habe ich schon angeboten.« Auf diese Einladung hin reagiert Flusser am 28. August mit Begeisterung. »Meine erste Reaktion war, Sie anzurufen, doch sind die Spesen eines internationalen Gespraechs mit Hinblick auf die schlechte Uebertragung prohibitiv.« Er beschreibt Das Zwanzigste Jahrhundert als eine provisorische Stellungnahme zu den Problemen, die sich einem Menschen aus der westlichen Gesellschaft stellen, der sich auch der östlichen Tradition öffnen will. Von dieser Basis aus wolle er in den folgenden Jahren »Ausfaelle und Exkursionen« in die verschiedenen Wissensgebiete unternehmen. Diese Gebiete seien ihm alle gleich wichtig und würden aufs intimste miteinander zusammenhängen. Die Eile, das Buch herauszugeben, habe vor allem mit seinem Wunsch zu tun, eine Reaktion auf seine Denkweise zu erfahren. Daran möchte er seine zukünftigen Bemühungen orientieren. »Darum sind mir Einzelheiten im Inhalt nicht ausschlaggebend, und ich bin zu Aenderungen, Streichungen, und Ergaenzungen gern bereit, soweit sie den Geist der Sache nicht betreffen.« Auch in diesem Brief wirbt Flusser für seine anderen Arbeiten, Die Geschichte des Teufels, die er bis Ende Oktober 1958 fertigschreiben will, und die Teufelslegenden, die er als Abfälle des Teufelsbuches bezeichnet. Er habe insgesamt zwölf davon geschrieben. »Ich kann auf Wunsch zwanzig andere schreiben. Das Material faellt ja en masse ab, im Laufe des Schreibens des Teufelsbuches.« Zu diesem Zeitpunkt scheint Flusser somit noch weitgehend auf das Schreiben ganzer Bücher ausgerichtet zu sein. Die Teufelslegenden sind literarisch gefärbte Exkurse und Abschweifungen, die im Rahmen eines rein philosophischen Werkes keinen Platz finden. Diese beiden Gegensätze – Buch/ Einzeltext und Philosophie/Fiktion – wird Flusser im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere auf vielfältige Art und Weise auflösen und dazu nützen, seine Kreativität anzufeuern. In seiner Antwort vom 12. September empfiehlt Wyss Flusser Das Zwanzigste Jahrhundert, mit dessen Inhalt er in vielseitiger Hinsicht nicht einverstanden ist, vorerst ruhen zu lassen. Es ist wie wenn man »mit einem Taschenmesser sich durch Lianen u. Kakteen hauen wollte.« Dafür schlägt er für das Frühjahr 1959 die Publikation der Die Geschichte des Teufels vor, da er dagegen nichts einzuwenden habe. Ganz im Gegenteil: Er finde es ein brillantes, brüskierendes Buch, das einem fundierten gegliederten Konzept folge und einschlagen werde wie ein »Sprengkörper«. Dafür verlangt er allerdings die ziemlich hohe Summe von 5000 US-Dollar. Flusser ist erschüttert. Sein erstes Buch ist nach

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langen hoffnungsvollen Verhandlungen nun auch von diesem Verlag verworfen worden und das zweite wird die finanzielle Hürde nicht schaffen. Im März 1959, nachdem er Die Geschichte des Teufels abgeschlossen hat, startet Flusser, wohl auch ermutigt durch das begeisterte Urteil von Hans Wyss, einen dritten und zugleich letzten Versuch bei der Beck’schen Verlagsbuchhandlung. Als es auch diesmal nicht klappt, schreibt Flusser einen längeren erklärenden Brief, der in gewisser Hinsicht an die gespielte Unterwürfigkeit Schwejk’scher Diktion erinnert, der wir ganz zu Beginn begegnet sind, und das schon erwähnte Motiv der Getriebenheit anspricht. »Ihr Brief […], der den ›Teufel‹ auf schonende Weise zertruemmert, muss von mir aus innerer Notwendigkeit beantwortet werden, auf die Gefahr hin, dass ich Ihnen polemisch, exaltiert oder gar impertinent erscheine. Ich erlaube mir diese Antwort, da ich wahrheitsgemaess gestehen muss, nicht eigentlich der Verfasser dieses Buches zu sein. Es wurde mir diktiert, und ich bitte Sie, diese Behauptung nicht als Hysterie zu verwerfen, sondern ich ringe mir dieses Gestaendnis ab, um bei der Wahrheit zu bleiben. […] Sie haben scheinbar nicht gemerkt, dass es sich um so einen Versuch eines nachexistenzialistischen, nachrelativistischen, nachabstrakten und nachdodekaphonalen Wertens handelt, es ist mir nicht gelungen, zu Ihnen durchzubrechen. Ist das nicht ein Beweis fuer die Wirkungskraft des Teufels? […] Mir ist die Suendhaftigkeit des Buches voll bewusst, und ich haette eine Publikation mit gespaltenen Gefuehlen erlebt. Von diesem Standpunkt sind Sie vielleicht ein Finger Gottes. […] Ich habe gegen Pathos zu kaempfen gehabt, und mich darum um rhytmische [sic!] Sprache und epigrammatische Exaktheit bemueht. Sie haben bei der Lektuere des ›Zwanzigsten Jahrhunderts‹ nur Aperçus herausgelesen. Ein Beweis fuer die Kraft des Teufels auch in der Aesthetik« (Brief vom 14. März 1959). Das Zwanzigste Jahrhundert ist in vielfacher Hinsicht für die zukünftige intellektuelle Lauf bahn Flussers von Bedeutung. Neben den vielen thematischen Weiterentwicklungen ist es vor allem die Suche nach einer umfassenden Synthese divergierender Realitätsteile, die auch in Flussers später Vorstellung eines multimedialen Gesamtkunstwerkes wieder auftaucht. Flusser sieht sich einer chaotischen Welt gegenüber, in der »sinnvolle […] Kosmen unzusammenhaengend schweben. Aus dieser dem Wahnsinn verwandten Situation« versucht er, sich zuerst durch die indische Vedanta und den Zen-Buddhismus zu retten. Bald aber erkennt er, dass das Nirwana der Hölle des ungläubigen Thomas gleicht, und versucht, sich der katholischen Kirche zu nähern: Auch diese ist jedoch nur durch einen gewaltigen Willensakt des Glauben-Wollens zugänglich, zu dem er nicht fähig ist. »Denn die Sache mit dem Gewissen ist sehr kompliziert, in manchen Schichten des Seins meint man zu glauben, in anderen ist der Zweifel da, und in anderen sogar der Hohn ueber den Versuch, zu glauben. Auch zweifelt man an der Ehrlichkeit des Glaubensversuches und

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an der Reinheit der Motive, mit denen er unternommen wird« (Brief an David Flusser vom 12. Juli 1957). Besondere Aufmerksamkeit verdient die Quellenangabe, die einzige dieser Art in Flussers Werk. Diese umfasst sechseinhalb Seiten und versammelt 228 Titel ohne Angaben zu Verlag, Publikationsort und -jahr. Eine erste Durchsicht erweckt den Eindruck der völligen Beliebigkeit, bei näherem Hinsehen entdeckt man jedoch eine Reihe thematischer Schwerpunkte: westliche und östliche Philosophie, Autoren aus der christlichen Tradition, wie zum Beispiel Thomas von Aquin, Texte zu Geschichte, Geschichtsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte, Mathematik, Psychologie, Werke zur Evolutionstheorie und Ethnographie, Tierstudien, westliche und östliche Kunst – vor allem Malerei –, Thomas Manns Dr. Faustus und Joseph und seine Brüder sowie R.M. Rilkes Rodin. Es besteht ein eindeutiges Übergewicht an englischen Texten, gegenüber deutschen und französischen Werken. Flusser verwendet wahllos Werke in der Originalsprache oder in einer Übersetzung. So liest er Jaspers und Heidegger sowohl auf Deutsch als auch in englischer Übersetzung. Adler, Freud und Oswald Spengler hingegen sind in englischen Übersetzungen vertreten. Dies hat nicht nur mit der Schwierigkeit zu tun, in den 1950er Jahren in Brasilien an Bücher heranzukommen. Es ist auch Ausdruck von Flussers eigenem eklektischen Denken, seiner unstillbaren Gier nach Wissen, die sich nicht von engeren akademischen Einschränkungen und puristischen wissenschaftlichen Bedenken aufhalten lässt. In diesen frühen Jahren war Flusser zudem sozial relativ isoliert und hat sich daher umso mehr in ausufernde Lektüren gestürzt. Das Buch besteht aus einer Einleitung und sechs Kapiteln, welche einer Reihe von sehr breit gefassten Themen gewidmet sind: Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion. Die einzelnen Kapitel sind ungefähr gleich lang. Diese wiederum sind in 31 Unterkapitel und insgesamt 123 Paragraphen unterteilt. Das heißt, dass die durchschnittliche Länge eines Paragraphen unter einer halben Seite liegt. Diese extreme Vervielfältigung der einzelnen Textabschnitte und der darin beschriebenen Themen führt zu thematischer Zersplitterung und einer ausgeprägten Sprunghaftigkeit der Argumentation. Hinzu kommt eine extreme Vielfalt unterschiedlicher, sich abwechselnder theoretischer Standpunkte und Stilformen, die oft abrupt von Abschnitt zu Abschnitt wechseln, als ob nicht ein Autor, sondern gleich mehrere am Werk gewesen wären. Das Zwanzigste Jahrhundert ist ein anstrengender Text, der dem Leser viel Geduld abfordert, besonders am Anfang. Die zentrifugalen Tendenzen werden zum Teil durch innere thematische Verzahnungen aufgehoben. Dies kann die allgemeine Orientierungslosigkeit, die einen nach ein paar Dutzend Seiten ereilt, jedoch nicht wirklich lindern, wären da nicht immer wieder erstaunliche Formulierung und originelle Einsichten, die auf die Prägnanz und Brillanz des späteren Flusser verweisen. Hinzu kommen

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eingeschobene Zwischenkapitel, die eine kurze Zusammenfassung des Gesagten leisten. Das erste Kapitel behandelt die fünf Reiche und führt vom Westen (Rom und Byzanz) über den Nahen Osten (Babel) zum Fernen Osten (Indien und China). Damit ist zugleich der Grundgestus des gesamten Buches angedeutet, der darin besteht, Westen und Osten miteinander zu versöhnen und in einer subjektiven Synthese zusammenzuführen. Dasselbe gilt für die westliche Wissenschaft, die Flusser mit dem Weltbild der indischen Vedanta vergleicht, die europäische Kunstvorstellung, die er am Weltbild Chinas misst und die jüdisch-christliche Religion, die er dem Islam, dem Hinduismus und dem Buddhismus gegenüberstellt. Das eigentliche Ziel ist dabei aufzuweisen, dass die verschiedenen westlichen Diskurse im 20. Jahrhundert dazu tendieren, mit dem Osten zu verschmelzen. Diese Synthese ist zugleich die Lösung und Überwindung der tiefen Krise, in der die westliche Kultur steckt.

I n E uropa und den USA publizieren Flussers vergebliche Versuche, in den späten 1950er Jahren Das Zwanzigste Jahrhundert und Die Geschichte des Teufels außerhalb von Brasilien zu veröffentlichen wiederholen sich in den 1960er und frühen 1970er Jahren. Im Juni 1964 übergibt Gustav Barth dem Wittig Verlag in Hamburg verschiedene Manuskripte. Flusser fragt im Oktober nach, ob die Texte verloren gegangen seien. Die Antwort lässt lange auf sich warten. In einem Brief vom 21. April 1970 schreibt der Verlag, die Manuskripte seien bei einer Durchsicht des Lektorats wieder aufgetaucht. Man habe seinerzeit vergessen, sie zurückzuschicken. Gerd Klaus Kaltenbrunner vom Rombach Verlag in München lehnt zwar eine Publikation von Língua e realidade ab, bietet Flusser aber an, eine Anthologie über brasilianisches Denken zusammenzustellen (Brief vom 9. Juli 1968). Flusser ist begeistert und schlägt vor, dass sie sich im August treffen, da er als brasilianischer Delegierter zu einem Philosophie-Kongress in Wien eingeladen ist. Seine Tochter Dinah, die damals brasilianische Konsulin in München ist, trifft Kaltenbrunner und diskutiert mit ihm das weitere Vorgehen. Im März 1971 unterbreitet Flusser Kaltenbrunner einen weiteren Vorschlag, die Veröffentlichung eines 130 Schreibmaschinenseiten langen Buches, Auf der Suche nach einem neuen Menschen. Versuch über den Brasilianer. Kaltenbrunner lehnt es mit der Begründung ab, es passe nicht in das Verlagsprogramm. Auch aus der geplanten Anthologie wird nichts. Das Brasilien-Buch wird später auch vom Europa Verlag in Wien abgelehnt (Brief vom 8. September 1972). Flusser unternimmt auch verschiedene Versuche, in den USA zu publizieren. Das Manuskript von Das Zwanzigste Jahrhundert bietet er der McMillan Company in New York an (Brief vom 6. November 1957). Lewis Weiner spielt

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dabei die Rolle des Vermittlers. Der Verlag meldet finanzielle Bedenken an. Flusser lässt sich aber nicht so leicht abschütteln. Im Frühjahr 1959 schickt er Die Geschichte des Teufels (Brief vom 25. Februar 1959). Ohne Erfolg. Flussers Hartnäckigkeit ist bewundernswert und in einigen Fällen auch erfolgreich. So gelingt es ihm in zwei Fällen, eine Zusammenarbeit zu etablieren, die über mehrere Jahre hinweg funktioniert. Es handelt sich dabei um die Frankfurter Allgemeine Zeitung, bei der Flusser vom September 1966 bis zum Juli 1972 insgesamt 17 Beiträge veröffentlicht und die Kulturzeitschrift Merkur, bei der er über zwei Jahrzehnte hinweg, von 1965 bis 1986, sieben Artikel unterbringt. Die in der FAZ publizierten Arbeiten sind thematisch miteinander verwandt und direkt mit Flussers Europareise von 1966 verbunden, auf die wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen. Es geht darin um Brasilien, um ein Denken in den Tropen, das Projekt der neuen Hauptstadt Brasilia und die Suche nach einer neuen Kultur, deren Modell die mehrsprachige multikulturelle Gesellschaft Brasiliens ist. Einige der eingeschickten Texte werden abgelehnt, weil man sie zu philosophisch findet, interessant und originell, aber schwer verständlich. Flusser ist bereit, sich den Bedürfnissen der Zeitung anzupassen. Dinah, die 1966 in der brasilianischen Botschaft von Wien und 1971 im Konsulat in München tätig ist, spielt als Go-Between. Am 27. Juli 1970 schickt Flusser den Text »Auf der Brücke von Avignon«, in dem er sich klar gegen die politische Haltung der 68er-Generation ausspricht. Die FAZ schickt den Essay mit der Bemerkung zurück, der Artikel schaffe in seiner Einseitigkeit mehr Missverständnisse als einem lieb sein könne. Flusser versucht, die Zusammenarbeit mit der FAZ auch nach seiner Rückkehr nach Europa aufrechtzuerhalten. In der Zeit vor seiner Rückkehr nach Europa nimmt die Frequenz der Briefe und eingesandten Texten rasant zu, was wohl auch als Ausdruck von Flussers Sorge über die unmittelbar bevorstehende Trennung von Brasilien und den dort vorhandenen Publikationsmöglichkeiten zu werten ist. »Wie Sie sehen, liegt mir sehr daran, bei Ihnen zu erscheinen«, schreibt er am 16. Mai 1971, »denn es ist eine der sehr wenigen Brücken, die ich nach Europa habe.« Im Februar und März 1972 schickt er ein gutes Dutzend neuer Arbeiten, die allesamt abgelehnt werden. Karl Korn von der FAZ, dem wohl die Geduld gerissen ist, reagiert zwischendurch irritiert. »Die meisten Ihrer Arbeiten sind inzwischen erschienen. Sie erhalten Beleg und Honorar« (Brief vom 25. Januar 1972). Im Sommer 1972 schreibt Flusser trotzdem regelmäßig Briefe aus den verschiedenen Stationen seiner nomadischen Existenz. Er bietet nun Kurztexte an, Glossen, so wie er sie zuletzt für die Folha de São Paulo geschrieben hat. Sechs Jahre später nimmt er den Kontakt wieder auf. Auch diesmal ohne Erfolg. Es ist anzunehmen, dass die Zusammenarbeit nicht mehr weitergeführt wird, weil Flusser für die FAZ vor allem als kultureller Botschafter Brasiliens

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interessant ist. Der letzte Artikel erscheint deshalb wohl auch im Juli 1972 zur Zeit seiner Rückkehr nach Europa. Eine besondere Beziehung unterhält Flusser zu Hans Paeschke von der Zeitschrift Merkur, sein erster Verleger in Deutschland. Paeschke nimmt kein Blatt vor den Mund, er kritisiert Flusser offen. Mit seinen »Belobungen, Ruegen, Belehrungen, und Aufmunterungen« fühle er sich in »eine Knabenstimmung zurueckversetzt«, gleichzeitig aber wecke es den Lehrer in ihm. »Wollen wir den Kontakt aufrechterhalten abwechselnd als Lehrer und Schueler?« (Brief vom 17. Februar 1974). »Neugierig, wer von uns mehr von dem anderen lernt«, schreibt Paeschke am 7. März desselben Jahres, und Flusser am 19. Juni 1978: »[…] es freut mich, mit Ihnen wieder die Klingen kreuzen zu koennen, (wobei ich weniger an Rasierklingen und mehr ans Klingen der Glocken der naheliegenden Dorfkirche denke) […].« Am 21. Oktober 1964 wendet sich Flusser an den Kiepenheuer und Witsch Verlag in Köln, der soeben João Guimarães Rosas Grande Sertão: Veredas in einer Übersetzung von Curt Meyer-Clason herausgegeben hat. Flusser hat verschiedene Arbeiten zu Rosas Werk verfasst und in Brasilien publiziert. Einige davon legt er seinem Brief bei. Seine Absicht sei es, in Deutschland sowohl Essays als auch Bücher zu publizieren. »Die Artikel dachte ich als Einführung meines Namens.« Er wolle zudem zum Verständnis von Rosas Werk beitragen. Der Verlag ist zwar interessiert, will aber noch abwarten und verweist Flusser auf Paeschke, dem Flusser im November einen ersten Brief schreibt, dem er verschiedene Texte beilegt. Auf Paeschkes Ablehnung reagiert Flusser kurz darauf mit einem Brief und weiteren Texten. Aus diesen zimmert Paeschke einen Essay, der im März 1965 im Merkur publiziert wird. Flusser, dem es in erster Linie darum geht, publiziert zu werden, ist mit der Montage zufrieden. Er hofft, dass der Veröffentlichung von Essays die Publikation von Büchern folgen wird. Es ist seine erste Publikation in Deutschland, eine Rezension von João Guimarães Rosas Grande Sertão: Veredas: »Guimarães Rosa oder: Das große Hinterland des Geistes«. Darin verbindet er Guimarães Rosa ziemlich eigenwillig mit Martin Heideggers Existenzialismus und kritisiert Meyer-Clasons Übersetzung des Titels, wohl auch um sich selbst mit einer eigenständigen Meinung vor dem deutschsprachigen Lesepublikum zu profilieren. Flusser übersetzt Guimarães Rosa in sein eigenes damaliges Denksystem. Es ist dies eine für Flusser typische appropriative Deutungsstrategie, der wir auch in der Folge immer wieder begegnen werden: Der Andere soll als Zeuge für das eigene Dasein eingespannt werden. Rosa, so Flusser, gehöre zu den obersten Schichten der brasilianischen Gesellschaft, wirke kosmopolitisch wie ein französischer Diplomat, außerdem sei er Arzt, also Wissenschaftler. »Wer ihn auf dieser distinkten, kartesianischen Ebene trifft, der ahnt nichts von der Bodenlosigkeit, die unter den Brettern dieser Bühne gähnt.« Was Flusser hier signifikanterweise unterschlägt, ist Rosas Katholizismus und sein tiefer christlicher Glaube.

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Zentral ist nach Flusser Rosas Umgang mit Sprache, den er in höchst problematischen Bildern einfängt. »Was nun die Sprache betrifft«, so behandle sie der Autor, »als wäre sie eine sich sträubende Geliebte. Sie ist zugleich zu vergewaltigen und zu verführen, um besessen zu werden.« Flusser übersetzt den Titel Grande Sertão: Veredas mit »Großes Holz: Holzwege«, »weil mir ein Bezug zum Denken Heideggers gegeben scheint. […] ›Holzwege‹ sind ziellose Wege, sind ›veredas‹. Der Titel des Romans lautet also ›Großer Urstoff: ziellose Wege‹. Darauf allein bin ich bereit, eine ganze Ontologie zu errichten.« Meyer-Clason übersetzt das erste Wort des Romans ›nonada‹ mit ›hat nichts auf sich‹. Flusser deutet dies ganz anders. »Ich füge hinzu ›nicht nichts‹ = ›não nada‹, ›nein dem nichts‹ = ›não ao nada‹, ›im nichts‹ = ›no nada‹ […]. Die wahre Übersetzung des ersten Wortes im Roman ist jedoch das heideggersche ›Das Nichts nichtet‹. Aber in einem neuen Sinne: denn der Ausgangspunkt der Formel ist die Verneinung des heideggerschen Nichts und des sartrischen ›néant‹: Nonada.« Flussers abenteuerliche Umdeutung geht den zentralen Momenten des Werks aus dem Weg, dem Pakt der Hauptfigur Riobaldo mit den Kräften des Bösen und der Frage nach Schuld, Sühne und Erlösung. Er konzentriert sich auf die Oberfläche der Sprache und die Etymologie der Personennamen. In Flussers damaliger Sicht der Dinge erschafft die Sprache die Realität und die Eigennamen entwerfen neue Wirklichkeiten. So deutet er Riobaldo als derjenige, der sich vergebens gegen die Vernunft stürzt und Diadorim, der geliebte Freund, der sich zum Schluss als Frau entpuppt, als doppeltes Beten, als »eine Evokation, eine Invokation und eine Provokation des Unsäglichen.« Wie steht es aber um Flussers eigenwillige linguistische Interpretationen? Die Sprache schreibt Rosa am 27. August 1967 in einem Brief an Meyer-Clason, »ist für mich Werkzeug: ein feines, geschicktes, scharfes […]. Aber im Dienste des Menschen und Gottes, des Gottes-Menschen, der Transzendenz. Was Vilém betrifft, so entdeckt er manch Bedeutsames in meinen Büchern, aber er ist viel zu ›intellektuell‹ und begeistert sich allzu sehr für seine eigenen Thesen. Ich habe nicht im Geringsten die Intentionen, die er mir zuschreibt.« Bevor wir die Publikationsgeschichte bei Merkur weiterverfolgen, möchte wir einen kurzen Exkurs zur Figur Meyer-Clasons einfügen, dessen Existenz sich auf erstaunliche Art und Weise mit der Flussers verwoben hat. Hans Curt Werner Meyer-Clason (1910-2012) kommt 1936 als Kaufmann nach Porto Alegre in Brasilien. 1942 wird er von der politischen Polizei verhaftet und angeklagt, Spionage für das Dritte Reich betrieben zu haben. Er gesteht und wird zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Als Getulio Vargas Hitler den Krieg erklärt, werden viele andere deutsche Bürger verhaftet und der Spionage beschuldigt. Im Süden Brasiliens ist es verboten, Deutsch zu sprechen, obwohl viele Einwanderer und deren Kinder nur Deutsch können. Edith kann sich daran erinnern, dass sie damals nicht wagten, Deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen. Einige Deutsche sammeln zwar tatsächlich strategisch relevante In-

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formationen für Deutschland. Es sind aber keine professionellen Spione, sondern vor allem Patrioten, die versuchen, die deutschen Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Die Anklage gegen den jungen Meyer-Clason besteht darin, dass er Geschäftsinformationen gesammelt und diese der deutschen Botschaft in Rio de Janeiro übergeben hat. Es sind verschlüsselte, in unsichtbarer Tinte verfasste Texte, Mikrofotografien und chiffrierte Radiobotschaften. Meyer-Clason sitzt fünf Jahre lang im Gefängnis des Cândido Mendes Instituts auf der Ilha Grande vor Rio de Janeiros Küste. Um die Zeit totzuschlagen, beginnt er sich für brasilianische Literatur zu interessieren. Später wird er sich an diese Zeit als eine entscheidende Phase der Einkehr und Reflexion erinnern. 1947 wird er begnadigt und lebt für einige Jahre in Rio de Janeiro, zur gleichen Zeit wie Flusser mit seiner Familie. 1954 kehrt er nach München zurück. Dinah Flusser erinnert sich an Meyer-Clason als freundliche zuvorkommende Person, aber kann sich gut vorstellen, dass er ein deutscher Spion war. Er könnte sogar die nötigen Informationen geliefert haben, die dazu führten, dass die Highland Patriot, mit der ihre Eltern aus England kommen, auf der Rückkehr versenkt wird. Aber zurück zu Flussers Zusammenarbeit mit Merkur. Im Dezember 1965 lässt Flusser Paeschke einen Text durch einen Bekannten übermitteln. In einem Brief vom 31. Januar 1966 bietet er zudem seine Zusammenarbeit in Sachen Rezensionen an. Im September desselben Jahres versucht er, ihn während seines Europaaufenthaltes zu treffen. Danach bricht der Kontakt fürs erste ab. Im Januar 1974 meldet sich Paeschke bei Flusser. Er hat über Ernesto Grassi von Flusser gehört und einen neuen Text zur Zukunft des Fernsehens erhalten. »Ihre Betrachtungen über das Fernsehen sind, wie das meiste von Ihnen, voller Einfälle. Nur mit der Ordnung der Gedanken komme ich nicht ganz zurecht« (Brief vom 16. Januar 1974). Paeschke bemüht sich darum, bildend auf Flusser einzuwirken, und vielleicht ist er – wie nach ihm andere Lektoren – doch erfolgreich gewesen. Flussers Aufsätze würden von Einfällen nur so sprühen, enthielten aber zu viel »persönliche Konfession«, er müsse sich zuerst mit »objektiver Gedankenleistung durchsetzen«, seinen Stil verbessern, indem er regelmäßig gute deutsche Zeitungen lese. Ende 1978 tritt Paeschke von seiner Stelle zurück. Ein Verlust für Flusser, der trotz seines selbstsicheren Auftretens von der Reaktion anderer stark abhängig ist. Die Redaktion von Merkur schickt Flusser alle Texte zurück, die sich in den Jahren angesammelt haben und nicht publiziert worden sind. In der Folge versucht Flusser, wieder einen Kontakt mit den neuen Herausgebern herzustellen, was sich aber als schwierig erweist. Es kommt zu Spannungen. Flusser fühlt sich missachtet und reagiert beleidigt. Man schätze seine Mitarbeit nicht, schreibt er am 22. September 1986. Er sei oft in München in der Redaktion zu Besuch gewesen, dabei sei es aber nie zu einem tatsächlichen Gespräch gekommen. »Vor vielen Jahren, (zu Paeschkes Zeit), hatte sich […] etwas angebahnt, ist aber dann versickert.« Die Zeitschrift reagiert verständ-

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nisvoll. »Es war gut«, schreibt darauf Flusser am 30. Oktober 1986, »dass mein Wutausbruch bei Ihnen auf Verstaendnis gestossen ist, und dass sich dadurch zwischen uns eine Stimmung der freundschaftlichen Zusammenarbeit anbahnt.« Er hätte nur ungern darauf verzichtet. Es muss unter Umständen für Flusser schwierig und kränkend gewesen sein, immer wieder, immer wieder neu Kontakte zu knüpfen, Briefe zu schreiben, sich anzubiedern, für sich Werbung zu machen und mit Texten hofieren gehen. Die andere Seite des Bluffs und der Angeberei ist die Geringschätzung und der Misserfolg, mit denen Flusser bis ganz zu Ende konfrontiert wird. Der späte Durchbruch muss ein psychologisches Labsal gewesen sein, dessen Verlockung er sich nur schwer hat entziehen können. Aber davon mehr im dritten Teil der Biographie.

R eise nach E uropa und in die USA 1966-67 Vom September 1966 bis zum Februar 1967 unternehmen Edith und Vilém eine längere Reise, die sie quer durch Europa sowie nach New York und Boston führt. Während ihrer Abwesenheit vermieten sie das Haus an der Rua Mendonça. Flusser ist auf einer kulturellen Mission und reist im Auftrag des Brasilianischen Außenministeriums, der IBF, der Escola de Arte Dramática und der Escola Politécnica der USP in São Paulo sowie für die O Estado de São Paulo. Für den Kunstkritiker Jacob Klintowitz, der am 23. August 1986 einen Artikel über Flussers europäische Mission im Jornal da Tarde publiziert, handelt es sich dabei um eine eminent politische Aufgabe, die zeigt, dass die Militärregierung sich für kulturelle Belange interessiert und beabsichtigt, die brasilianische Gesellschaft zur Ordnung zurückzuführen, um in einem zweiten Moment die Macht wieder der Zivilgesellschaft zu überantworten. Dies hat dann 1985 auch stattgefunden. Flusser, so weiter Klintowitz, »fällt anfänglich auf diese Täuschung«, die darin besteht, die Revolution (besser gesagt: den Militärputsch) zu verharmlosen, »herein«. Nach kurzer Zeit durchschaut er aber das Spiel und hört auf, im Namen der brasilianischen Regierung zu sprechen. Flusser vertritt schon damals eine politische Position, die sich klaren Dualismen verweigert und daher nicht deutlich im linken Spektrum verankern lässt. Es ist verständlich, dass Flusser, der damals schon 46 ist, und erst seit kurzem in das intellektuelle und akademische Leben seiner Wahlheimat Eingang gefunden hat, eine solche Einladung, die es ihm erlaubt, für mehrere Monate Brasilien zu verlassen und endlich Europa wiederzusehen, nicht einfach ausschlagen kann. Dass Flusser kein bloßer Opportunist ist, sondern ein ideologiekritischer Mensch, der den Mut zur eigenen Meinung hat, verdeutlicht eine Anekdote von Lília Leão. 1983, das heißt, zwei Jahre vor dem Beginn des Demokratisie-

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rungsprozesses hält Flusser einen Vortrag an der CENAFOR dem Nationalen Institut für Berufliche Ausbildung. Das Auditorium hängt voller Flaggen Brasiliens und der Stadt São Paulos. Flusser, der sich der politischen Dimension seiner Geste gerade in Brasilien wohl bewusst ist, weigert sich, an diesem Ort zu sprechen. Er sucht den damaligen Rektor Peter Caran auf und sagt ihm, er könne in diesem Saal unmöglich einen Vortrag halten. Dieser findet die Idee toll und lässt ihm eine andere fahnenlose Aula herrichten. Flusser hält während seiner Reise quer durch Europa und in die USA Vorträge über die Kulturszene und Philosophie Brasiliens sowie über linguistische Aspekte der multikulturellen brasilianischen Gesellschaft. Er knüpft Beziehungen zu europäischen und amerikanischen Intellektuellen und versucht, diese nach Brasilien zu locken. Daneben trifft er Verlagsvertreter, um neue Publikationsmöglichkeiten für seine Bücher zu erkunden, und publiziert Essays in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und in Die Presse. So publiziert er auch den Artikel »Für eine Feldtheorie der Übersetzung (aus Brasilien gesehen)« in der von Walter Höllerer 1961 gegründeten deutschen Fachzeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Er kommt mit dem Kohlhammer Verlag und dem Fischer Verlag wegen einer möglichen Publikation von Língua e realidade und Die Geschichte des Teufels ins Gespräch. Flusser ist bereit, Língua e realidade zu kürzen und ins Deutsche zu übersetzen, würde dafür aber gerne bezahlt werden (Brief vom 4. Oktober 1966). Während seines Aufenthalts in den USA versucht er am 22. Dezember 1966, einen Text bei der New York Times unterzubringen, mit der Bitte, sein Englisch zu korrigieren. Auch nach der Rückkehr ist er in dieser Hinsicht noch aktiv. So schickt er einen Essay an die Yale University, die diesen jedoch ablehnt: »interesting and suggestive, yet far too sketchy and a little oracular« (Brief vom 8. März 1967). Flusser bereitet die Reise minutiös vor und muss die Abfahrt mehrmals verschieben. Er schreibt Dutzende von Briefen vor, während und nach der Reise, oft mehrere am selben Tag. Miguel Reale, Milton Vargas, Celso Lafer, Leônidas Hegenberg und David Flusser verfassen Empfehlungsschreiben und dienen als Vermittler. Diese Reise, schreibt er Hegenberg Ende Oktober 1966, sei für ihn zugleich eine intellektuelle und emotionale Herausforderung. Er habe viele bedeutende Denker getroffen, unter ihnen auch Theodor W. Adorno, und habe endlich Europa wiedersehen können. Adorno schreibt er am 23. November 1966 einen Dankesbrief: »Unsere Unterhaltung war fuer mich sehr beeindruckend und lehrreich, und ich hoffe, dass Sie mir Ihr neues Buch für eine Besprechung in unseren Zeitschriften nachkommen lassen.« Es handelt sich dabei wahrscheinlich um die Negative Dialektik, die 1966 bei Suhrkamp erscheint.

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Abbildung 16: Victor, Edith, Vilém und Miguel Flusser am Flughafen von São Paulo (späte 1960er Jahre)

Beim Lesen der vielen Briefe, besonders der Berichterstattungen, die Flusser regelmäßig an seinen Gönner und Freund Miguel Reale und an Helio Scarabôtolo, den Chef der Divisão de Cooperação Intelectual des brasilianischen Außenministeriums schickt, ist die Grenze zwischen Wunschdenken, Vorhaben, Plänen und tatsächlich Verwirklichtem im Nachhinein nicht immer deutlich auszumachen. Ausdrückliches Ziel einiger Briefe ist es ja auch durch lange Listen von Personennamen, Universitäten, Reisezielen und Publikationen den Adressaten zu blenden, um ihn für die eigenen Zwecke einzuspannen. Man könnte dies einerseits als Strategie der Selbstheiligung verstehen, befindet sich Flusser ja immer noch am Rande der akademischen Welt. Andererseits ist es eine Form der Selbstvermarktung, die auch in akademischen Kreisen zum Alltag gehört. Die eine Hälfte der Zeit verbringt man mit Forschen und Schreiben und die andere benutzt man, um für die eigene Person Werbung zu machen. Das Beispiel Max Bense ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. In einer auf den 5. Juni 1966 datierten Aufstellung der geplanten Aktivitä-

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ten für das brasilianische Außenministerium ist die Rede von einer Teilnahme an einem Seminar von Max Bense an der Technischen Hochschule in Stuttgart (29. September bis 1. Oktober). Flusser schreibt Bense zweimal, am 28. April und am 8. Juni 1966. Im ersten Brief erwähnt er die zwei Fragmente aus Haroldo de Campos’ Galáxias, die er vom Portugiesischen ins Deutsche übertragen hat. Die Übersetzung wird im März 1966 von Max Bense und Elisabeth Walther als Text 25 der Reihe rot in Stuttgart mit einem kurzen Vorwort von de Campos publiziert. Das Bändchen enthält zwei weitere von Anatol Rosenfeld übersetzte Fragmente. Flusser erwähnt seine Freundschaft zu Guimarães Rosa und den anderen Konkreten Dichtern Brasiliens. »Haroldo wird Ihnen wahrscheinlich seinerseits ueber mich schreiben.« Im zweiten Brief entschuldigt sich Flusser für seine Aufdringlichkeit und fügt erneut hinzu, er schreibe im Auftrag von Haroldo de Campos, was wohl in Anbetracht ihres angespannten Verhältnisses nicht zutrifft. In beiden Fällen bleibt Benses Antwort aus. Am 4. Oktober schreibt Flusser deswegen Dieter Lutz vom Kohlhammer Verlag in Stuttgart. Er könne Bense nicht erreichen, ob er für ihn intervenieren könne. Er sei am 15. Oktober und dann erneut am 5. November in Frankfurt. Flusser würde gerne einen Vortrag halten. Am 9. November schreibt er Scarabôtolo, er habe mit Bense in Stuttgart über mögliche Übersetzungen der brasilianischen Konkreten Poesie gesprochen und am 14. November hält er in einem Brief an Reale fest, dass Adorno in Frankfurt und der deutsche Hochschullehrer und Kunstpädagoge Arnold Bode (1900-1977) in Kassel ihn am meisten beeindruckt hätten, Max Brod und Max Bense seien dagegen die größte Enttäuschung der Reise gewesen. Im Schlussbericht ans Außenministerium wird Bense im Zusammenhang mit einem möglichen Brasilienbesuch erwähnt. Im Nachlass von Bense finden sich jedoch keinerlei Hinweise auf eine mögliche Begegnung mit Flusser. Es ist anzunehmen, dass diese schlussendlich doch nicht stattgefunden hat. Die Enttäuschung, von der in Flussers Brief an Reale die Rede ist, könnte schlicht auf das Nicht-Zustandekommen einer Zusammenarbeit zurückzuführen sein. So jedenfalls liegt der Fall bei Max Brod, dem Flusser am 20. April 1964 einen ehrfurchtsvollen Brief nach Tel Aviv schreibt. Aus dem Bericht seines Schwiegervaters, der sich auf Reisen befindet, habe er entnommen, dass Brod sich noch an seinen Vater erinnern könne, »wenngleich der Bub, der ich damals war, Ihnen entfallen sein muss.« Gustav Barth unterbreitet Brod im Auftrag Flussers einige Texte zur Sprachphilosophie, mit der Bitte, für diese in Israel einen Verleger zu finden. »In Brasilien habe ich nun die meisten Vehikel, (Buecher, Zeitschriften und Zeitungen), zur Verfuegung, aber der Rahmen ist mir ein wenig zu eng geworden. […] Der Kontakt mit Ihnen ist fuer mich ein Abenteuer.« Flusser schickt ihm den Durchschlag eines deutschen Artikels, den er auch der israelischen Tageszeitung Haaretz in Tel Aviv zukommen lässt und hofft dabei auf seine Unterstützung. Brod gefällt der Text. Er verspricht,

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sich für eine Publikation einzusetzen. Wera Lewin von Haaretz lehnt diesen jedoch ab. Flusser gibt nicht auf, schreibt Brod einen weiteren Brief, dem er einen neuen Text beilegt, und ködert ihn mit dem Angebot einer Publikationsmöglichkeit in Brasilien. Dieser zweite Text, »Concrete Poetry in Brazil«, den die Zeitung aus dem Deutschen übersetzt, wird im Juli 1967 publiziert. Dann versandet die weitere Zusammenarbeit. Aber zurück zu Flussers Europa-Reise. Am 27. August 1966 fliegen sie nach Rom und verbringen drei Wochen in der Schweiz. Anfang September sind sie zur Erholung im Schweizerischen Soglio, das im südlichen Teil der Val Bregaglia, in der Nähe der italienischen Grenze liegt. Der im Tirol geborene Maler Giovanni Segantini hat den hoch über dem Tal gelegenen Ort im Kanton Graubünden als Schwelle zum Paradies bezeichnet. Am 6. Oktober 1966 publiziert Flusser in O Diario den Artikel »De Maloia«. Sein Ausgangspunkt ist der Malojapass, der das Bergell-Tal mit der Hochebene des Engadins verbindet. Flusser holt darin zu einer umfassenden kulturhistorischen Betrachtung des geographischen und kulturellen Unterschiedes zwischen Norden und Süden aus. Aus den gegensätzlichen aber komplementären landschaftlichen Gegebenheiten entwickelt er zugleich eine Reflexion über die Identität des europäischen Menschen. Edith und Vilém werden auch nach ihrer definitiven Rückkehr nach Europa regelmäßig in die Alpen reisen, um sich dort von den Strapazen zu erholen, spazieren zu gehen und nachzudenken. Die Europareise führt zuerst nach München. Es folgen Stuttgart, Frankfurt a.M., Köln, Hamburg, Bonn, Kassel, Trier, Darmstadt, Kiel, Berlin, Wien und Madrid, wo er sich bis Ende November aufhält. Anfang Dezember sind sie in New York und wohnen bis Ende Januar 1967 bei Lewis Weiner. Danach sind sie in Boston, Ithaca und New Haven. Von dort reisen sie nach New York zurück. In der Bonner Rundschau erscheinen am 4. und 30. November kurze Zeitungsnotizen über seine Vorträge in Bonn und Trier. Geplant sind auch Reisen nach Mexiko und Israel, die jedoch nicht zustande kommen. Flusser kontaktiert Anfang Mai 1966 das israelische Konsulat in São Paulo und David Flusser vermittelt einen Kontakt zur Hebräischen Universität von Jerusalem, der Flusser Mitte August einen eindringlichen, aber erfolglosen Brief schreibt. Dabei geht es auch um die Finanzierung, die für die gesamte Reise eher knapp bemessen ist. Flusser muss jede Erweiterung und Veränderung bewilligen lassen. Manchmal fehlt das Geld und manchmal hält er Vorträge nur des Geldes wegen, so zum Beispiel vom 9. bis zum 12. Oktober für das Bundesministerium für Unterricht in Wien. Flusser begegnet dem Kulturhistoriker und Schriftsteller Friedrich Heer, Chefdramaturg am Wiener Burgtheater, und in München Curt Meyer-Clason, der Flusser weitere Kontakte für seine Vortragsreise in Deutschland vermittelt, unter diesen den deutschen Schriftsteller, Übersetzer, Kunstsammler, Forschungsreisenden und Ethnographen Rolf Italiaander (1913-1991) und Ernesto

Fluchtlinien

Grassi, der in Deutschland vor allem als Herausgeber der Reihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie bekannt wird, die zwischen 1955 und 1984 erscheint. Mehrere Bände sind in Flussers Reisebibliothek enthalten. Meyer-Clason versucht Die Geschichte des Teufels bei Piper und Suhrkamp unterzubringen, allerdings ohne Erfolg. In den USA hält Flusser einen Vortrag über brasilianische Philosophie am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und trifft in diesem Zusammenhang den amerikanischen Wissenschaftsphilosophen und Wissenschaftshistoriker Giorgio de Santillana (1902-1974). Im Schlussbericht ans Außenministerium ist auch noch die Rede von Begegnungen mit dem amerikanischen Philosophen und Logiker Willard Van Orman Quine in Cambridge und einem Gespräch mit Hannah Arendt in New York. Flusser hält Vorträge am Iberoamerikanischen Institut in Hamburg, am Romanischen Seminar der Universität Kiel, er besucht das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a.M., die Universität Bonn und die Technische Hochschule in Darmstadt. Am 11. November hält er den Vortrag »Die kulturelle Situation Brasiliens: Guimarães Rosa und Haroldo de Campos« an der Lateinamerika-Abteilung der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin und am 12. und 13. Dezember weitere Vorträge zu »Experiments in Language in Brazil« und »Some Present Trends in Brazilian Philosophy« am Fachbereich Latin American Studies der Yale University. Am 5. Januar 1967 spricht er über »Some Present Trends in Brazilian Thought« am Institute of Latin American Studies der Columbia University. Auf Vermittlung von Celso Lafer hält er ebenfalls einen Vortrag am Latin American Program der Cornell University in Ithaca und am 13. Februar ist er Gast des luso-brasilianischen Clubs der Harvard University. Ende Februar sind sie wieder in São Paulo. Hier herrschen inzwischen hochsommerliche Temperaturen und es ist die Feriensaison. Am 3. März schreibt Flusser dem brasilianischen Konsul in Boston, sie seien nun schon gut zehn Tage in São Paulo, hätten sich aber noch nicht richtig eingelebt. Ihr Haus ist immer noch vermietet und sie übernachten bei Freunden: eine chaotische Situation, unzuverlässige Verkehrsmittel, unterbrochene Telefonleitungen und erdrückende Hitze. Seine ganze Energie sei verdunstet und alle seine guten Vorsätze in den Wind geschlagen. Um sich den Ärger von der Leber zu reden, schreibt er einen kurzen Essay, den er dem Brief beilegt. Am 1. November 1966 verfasst Flusser in Kassel, wo er im Schloss-Hôtel Wilhelmshöhe logiert, einen Brief an die in Brasilien lebenden deutschsprachigen Freunde Rudolf Drucker und Ernst Hecht, mit denen er über Jahrzehnte hinweg einen dichten Briefaustausch pflegt. Sie sind Ansprechpartner, aber auch Zeugen seines Erfolges. Darin schildert er die ersten voreiligen Eindrücke vom Deutschland der 1960er Jahre, das Deutschland des Wirtschaftswunders. Er ist zwar beeindruckt vom allgemeinen Wohlstand, deutet diesen aber

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kurzerhand als »Kompensation eines Schuldkomplexes. […] Sie buessen. Aber sie buessen im Luxus. Darum ist alles Maske.« München ist eine »aufgeblasene Kleinstadt«, Wien eine Nazistadt, und »Wiege aller Faschismen«, Stuttgart wird von vulgären Aristokraten bewohnt. »Hamburg weitaus das Beste. Vielleicht englischer Einfluss? Aber eine Beamtenkultur, und die Intellektuellen sind die Beamten.« Die Universitätsjugend findet er »sehr gut«, die brasilianischen Studenten im Vergleich aber »lebendiger«. Edith ist allein nach Prag gefahren, kommt aber völlig niedergeschlagen zurück. »Bettlermoral ohne Not, sondern Halbarmut ohne Hoffnung. Kommunismus klarer Fehlschlag.« Der tschechische Philosoph Zdenek Kourim fragt Edith, viele Jahre später, warum Vilém nicht mit ihr in Prag gewesen sei. »Mein Mann konnte damals unmöglich nach Prag gehen; Prag bedeutete so viel Verzweiflung für ihn! Er begleitete mich zum Flughafen in München und holte mich dort wieder ab.« Dies wird sie nicht davon abhalten, zwei Jahre später einen weiteren Versuch zu unternehmen, die Stadt zu besuchen. Mit Deutschland hingegen hat sich Vilém Flusser bis zu seinem Ende nie wieder ganz versöhnt. Nach dieser ersten längeren Reise sind Vilém und Edith vor ihrer definitiven Rückkehr noch mindestens zweimal in Europa. Das erste Mal im Sommer und Herbst 1968 im Zusammenhang mit einem Vortrag in Wien und das zweite Mal im Sommer 1971. 1968 hält sich Flusser wieder in den Alpen auf, Anfang September ist er in Lofer in der Nähe von Kitzbühl. Sie besuchen Freunde in Malgolo, auf halbem Weg zwischen Trient und Merano, die Val di Non und den Mendelpass. Die zweite Reise führt sie im April 1971 zuerst nach Portugal (Evora) und Spanien (Granada) und im Mai nach Italien, Sizilien (Syrakus) und Griechenland (Athen). Mitte Juni sind sie in Wien. Es ist anzunehmen, dass Flussers Entscheid, 1972 Brasilien definitiv zu verlassen, durch die intensive Zeit in Europa und Amerika maßgebend mitbestimmt wird.

Herstory: Edith Flusser über Brasilien und die Rückkehr nach Europa

»Für uns war Europa Attraktion. Wir waren ja Europäer, Brasilien war uns sehr sympathisch, aber wir wollten nach Europa.« Edith Flusser

In einem am 29. Juni 2007 von Anke Finger geführten Interview geht Edith Flusser auf die Schwierigkeiten des brasilianischen Neuanfangs ein, die zum großen Teil auf ihre privilegierte Herkunft zurückzuführen sind und wohl auch mit ihrem Alter zu tun haben. »[…] wir haben dort Brasilianer kennengelernt, die mir ganz fremd waren, aber die waren so gut erzogen, die haben mir so imponiert in ihrer Art, die hatten einen Garten, der war voller Kolibris. Und diese Leute waren sehr nett zu mir, ich war ein junges Mädel, haben mir dann geholfen, eine Arbeit zu suchen. […].« Mit dem Geld ihres Vaters mieten sie in São Paulo ein Zimmer über einer Garage. Als verwöhnte Kinder der Oberschicht haben sie Mühe, sich in der neuen unbekannten Welt zurecht zu finden, vor allem Vilém, der sich in Lektüre und Studium flüchtet. Edith erinnert sich daran, dass sie etwas kochen muss und keine Ahnung hat, wie sie die Aufgabe bewältigen soll. »Die drei Nachbarinnen von unserem Haus waren jüdische Damen, Deutsche, da über eine Mauer, habe ich immer gefragt, wie man was kocht: wie kocht man Wasser, wie kocht man Eier – keine Ahnung! So haben wir überlebt. Einmal kam jemand zum Kaffee, mein Mann hatte ihn zum Kaffee eingeladen, und er war so höflich, dieser Herr, und er meinte, wissen Sie, so einen Kaffee habe ich noch nie getrunken.« Vilém, den Edith als grundlegend weltfremden Menschen schildert, sieht sich aus Geldmangel gezwungen, Büroarbeit zu verrichten, kann sich aber dafür überhaupt nicht begeistern. »Er hat so einen Widerwillen gegen alle diese Sachen gehabt. Es war ihm so fremd – er konnte nicht. […]. Den Weg zum Büro sind wir gegangen, man konnte ja nicht fahren, wäre zu teuer gewesen, und ich hatte immer Angst, er nimmt sich das Leben auf dem Weg.« Auch im Haushalt hilft Vilém nicht. Edith muss die Kinder alleine aufziehen. Diese schwierige

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Situation dauert ungefähr acht Jahre lang. »[…] er hat im Büro gesessen, er wusste überhaupt nicht, worum es geht im Büro, hat keine Ahnung gehabt. Wenn ich heute mich frage, er war verloren.« Das Verhältnis zwischen Ediths Vater und Vilém Flusser ist sehr angespannt, leben sie doch in völlig entgegengesetzten Welten. »Mein Vater war Geschäftsmann, war ein guter Geschäftsmann, mein Mann hat nichts davon wissen wollen; […] Ich habe versucht, zu schlichten … […] es ist mir nicht gelungen. Ich habe versucht, meinem Vater das und das einzureden und meinem Mann was ganz Anderes einzureden. […] Sie konnten einander nicht verstehen […]. Meine Mutter, meine Eltern, waren sehr gut, haben meinen Mann unterstützt, mit Geld, aber ein Kontakt war nie da.« Die Situation ändert sich, als Flusser den in der unmittelbaren Nähe wohnenden Milton Vargas kennenlernt, der ihm den Weg zu brasilianischen Universitäten eröffnet. »Da ist er auf die Universität gekommen, hat sich mit intellektuellen Leuten unterhalten können – da war alles anders. […] Es gab eine Zeitschrift in São Paulo, Literaturzeitschrift, wo mein Mann hat publizieren können, zufällig. Und über diese Zeitschrift hat er Milton Vargas kennen gelernt, und mein Mann hat sich mit ihm sehr angefreundet, gleich von Anfang an. Und er war ein Antisemit. (lacht) Mein Mann hat sich mit ihm unterhalten, war ein sehr gebildeter Mann, und es waren drei, vier Leute, um diesen Vargas herum, die sehr gut gebildete Menschen waren, mit denen mein Mann in Kontakt getreten ist. […] Es ging ihm besser, ja. Er hat dann aufgehört, in diese Firmen zu gehen, denn er hat da [an der Universität] etwas verdient. […] er hat dann sehr bald angefangen, sich zu unterhalten, denn er ist ja sehr gesprächig, er hatte sehr schnell einen Dialog mit allen möglichen Leuten aufgenommen. […] es war alles sehr fremd, aber er hat doch Sympathie dann aufgebracht für die […] brasilianische Gesellschaft. Gewisse Sympathien, nicht sehr groß, aber doch war er interessiert. […] man hat angefangen zu begreifen, was die Leute wollen. […] Wie sie sich benehmen, wie sie essen […] Da waren Leute wie die Dora […] und zwei, drei andere … Und mein Mann hat ihnen alles eingeredet, er hat immer viel gesprochen, und die haben dann gestaunt, sich gewundert. […] Und ich bin spazieren gegangen mit dem Kinderwagen, das war meine Gesellschaft, mein Leben.« Das Haus an der Rua Salvador Mendonça 76, das im Westen der Stadt, in der Nähe der Universität von São Paulo, jenseits des Rio Pinheiros liegt, wird, wie schon zuvor erwähnt, zum Begegnungszentrum. »Mein Mann war ein sehr guter Lehrer und die Leute waren begeistert von ihm, an der Universität, kamen rein und raus, ohne dass man gerufen hätte, so dass das Haus voll ist. […] Und er hat dann angefangen, Kontakt zu nehmen mit der Jugend. […] so alt wie wir, wir waren ja sehr jung, und da hatten wir sehr gute Beziehungen, die haben meinen Mann bewundert. Er musste immer erzählen, immer, immer, immer. Er hat nie aufgehört zu erzählen. Und da kamen immer mehr Leute

Herstory: Edith Flusser über Brasilien und die Rückkehr nach Europa

ins Haus. Wir hatten hinter der Küche […] einen großen Raum, das war eigentlich ein Unterrichtsraum, der wurde gefüllt mit Studenten, die wollten immer zuhören, hatten so viele Fragen, und mein Mann war begeistert natürlich. […] Alles auf Portugiesisch. […] Die jungen Leute waren sehr nett, haben mich verwöhnt, haben sich verwöhnen lassen. […] und er [Flusser] war glücklich, und er wurde von den Schülern angehimmelt.« Edith besucht zu Beginn auch Viléms Vorlesungen gibt dann aber auf. »Ich habe das getan, aber ich konnte das nicht, war zu aufregend.« Der dominante selbstzentrierte Charakter Viléms führt zu innerfamiliären Spannungen. Man fühlt sich an Michael Bergs Vater aus Bernhard Schlinks Der Vorleser erinnert. Dieser ist Philosophieprofessor, schreibt ein Buch nach dem anderen und hat kaum Zeit für seine Kinder. Die Studenten stehen in der Wohnung Schlange. Wenn die Kinder ihn treffen wollen, müssen sie sich zuvor anmelden. Flussers ungebremster Hang zum ununterbrochenen Vortrag, dem sich Edith kaum noch entgegenstellt, stößt unter den Kindern auf Widerstand. »Die Kinder […] konnten das nicht aushalten, haben es gehasst. Hör auf, ich weiß schon, ich will das nicht wissen, ich will das nicht wissen.« Flusser interessiert sich für die Freunde der Kinder vor allem auch als potentielle Zuhörer. Wie Alan Meyer festhält, hat Dinah in diesem Zusammenhang auch als Vermittlerin gedient. Der Lebenspakt zwischen Edith und Vilém ist besiegelt durch frühe Flucht vor der Vernichtung. Dies lässt sie über Widersprüche wohlwollend hinwegsehen. »[…] wir haben einander so geliebt, das ist ganz gleich, was da war […] aber er hat gerne alle links und rechts belehren wollen.« Schon in São Paulo, wie dann später in Europa, übernimmt Edith die Rolle einer Chauffeurin. »Dann hatten wir ein Auto. Ich habe angefangen zu chauffieren und hab meinen Mann in die Arbeit gebracht mit meinem Auto, und abgeholt, das hat sehr viel geändert in unserem Leben. Und mein Mann hat immer gesprochen zwischendrin, immer unterrichtet, da konnte man essen, chauffieren, streiten […] das hat mich so angestrengt, weil der Verkehr dort so wahnsinnig schlecht ist. […] Er konnte nicht, er hatte keine guten Augen. Ich konnte auch nicht, aber ich konnte. […] Mein Mann hat das geliebt, Auto fahren, er hat immer dabei laut gesungen, wenn ich gefahren bin. […] Mozart Opern. Der konnte alle auswendig.« In Ediths Erzählung, die immer wieder auf die Fremdheit Brasiliens eingeht und auch Viléms Engagement und Interesse für das Land stark relativiert, gewinnt die Rückkehr nach Europa den Charakter einer lang ersehnten Befreiung. »[…] wir sind kolossal gern nach Europa gefahren. Wir waren eigentlich nicht sehr gern in Brasilien. Das war uns fremd, natürlich, immer, obwohl wir hatten Freunde da, viele. […] Dann später, wie die Kinder groß wurden, ist Brasilien eingedrungen von allen Seiten. […] Wir waren ja lange in Europa, einige Male, mein Mann hat es gerne gehabt.« Es ist nicht nur der Putsch von 1964 und die Militärdiktatur, sondern auch pragmatische Überlegungen und

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eine ungebrochene Sehnsucht nach Europa, die schlussendlich den Ausschlag für eine definitive Rückkehr nach Europa geben. Ein Amerikaner will das Haus in São Paulo mieten und die Kinder ziehen in ihre eigenen Wohnungen: »Wir sind weggefahren und wir waren begeistert, dass wir frei sind. […] Weg von Brasilien, weg vom Haus, weg von der Wirtschaft, weg von den Kindern, die ihre eigenen Sorgen haben. […] Er wollte dort unterrichten, wollte in Europa studieren, wollte weiter studieren, er wollte dort arbeiten…«

Teil III: Europa 1972–1991

Abbildung 17: Vilém Flusser im Garten des Hauses in Robion (1980er Jahre)

Vernetzungen

»[Briefe] werden zuerst entziffert, wie alle übrigen Texte. Und dann wird zwischen ihren Zeilen gelesen. Kierkegaard meint, so lese man auch die Bibel, diesen Brief aller Briefe; und lese man sie nicht so, dann sei sie nicht die Bibel. Jeder Text aber kann als Brief gelesen werden, nämlich nicht kritisch, sondern mit dem Versuch, den Absender anzuerkennen. Selbstredend kann dabei die Anerkennung in Kritik umschlagen, wenn sich der Brief als Lüge herausstellt. Der Brief ist ein Modell für die höchste Form alles Lesens von Texten.« Vilém Flusser, Die Schrift

Im Interview mit Patrick Tschudin geht Flusser auf sein Verständnis von Biographie ein. »Es hat mich immer gestört, dass man die Lebensdauer von Menschen objektiv misst in Jahrzehnten, Jahren, Monaten. Ich glaub, das ist ein Maßstab, der für das Erleben und das Erleiden völlig ungeeignet ist. Es gibt Abschnitte, die sehr intensiv sind, die voller Erlebnisse sind, und es gibt andere, die ziemlich öd verlaufen. […] eine Biographie kann nicht von irgendeinem ›Ich‹ handeln […], sondern ich glaube, eine Biographie besteht im Aufzählen der Vernetzungen, durch die irgendwelcher Erlebnisstrom gelaufen ist.« Die Jahre, die Vilém Flusser bis zu seinem Unfalltod am 27. November 1991 in Europa verbringt, lassen sich in diesem Sinne als wachsende Vernetzung von Orten, Menschen und Dialogen beschreiben, als ein gigantisches Netzwerk, das durch Reisen, Vorträge, Briefe und Publikationen zusammengehalten wird, und durch das ein ununterbrochener Strom von Ideen zirkuliert. Die geographischen Netze und die Netze der Freunde und Verleger überschneiden und durchdringen sich weitgehend. Begegnungen führen zu weiteren Begegnungen. Texte rufen weitere Texte hervor. Flusser webt unermüdlich an seinem wachsenden Spinnennetz.

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B riefe und Termink alender Flusser nützt jede Chance, die sich ihm bietet, schreibt unermüdlich Briefe an alle möglichen Adressaten, oft mehrere am selben Tag und in verschiedenen Sprachen. In diesen spricht er manchmal ähnliche Themen an und benutzt zum Teil auch verwandte Formulierungen. Flusser schreibt nicht nur seine Essays serienmäßig, sondern auch die Briefe. Er versucht, seine Briefpartner in nicht abreißende Gespräche zu verwickeln, fordert sie heraus oder mahnt sie eindringlich, sobald eine Antwort ausbleibt. Oft werden die Briefe von Essays begleitet, zur Einsicht, als Aufforderung zur Diskussion oder in Hinblick auf eine mögliche Publikation. In einem Brief an die brasilianische Künstlerin Mira Schendel vom 27. September 1974 bestimmt Flusser die Wahl eines Stils als das zentrale Thema seines Schreibens. Jedes Thema verlangt nach einem bestimmten Stil und jeder Stil nach seinem Thema. Sein eigentlicher, wahrer Stil sei aber der intersubjektive, den er für seine Autobiographie Bodenlos, aber vor allem in seinen Briefen pflege. Eine aufmerksame systematische Lektüre der Briefe, von denen es hunderte, wenn nicht tausende in fünf unterschiedlichen Sprachen gibt, bietet daher einen privilegierten Zugang zur Person, zum Leben und Werk Vilém Flussers. Wie den Rest seiner Texte, verfasst Flusser seine Briefe nicht von Hand, wie viele seiner Briefpartner, sondern auf der Schreibmaschine: dicht beschriebene Seiten, praktisch ohne nachträgliche Korrekturen. Allein die frühen tschechischen Briefe sind von Hand geschrieben. Flusser tippt auf jeden Briefkopf die vollständige Adresse des Absenders und des Empfängers, samt Telefonnummer und Postleitzahl. Bei Kurzbriefen, die aus zwei drei Zeilen bestehen, können diese auch teilweise fehlen. In den 1970er Jahren benützt er eine Briefadresse in München an der Kufsteinstraße 4, besonders, wenn er auf Reisen ist. In der Regel aber ist das Briefeschreiben eine Tätigkeit für sesshaften Perioden. Viele Briefe beginnen deshalb auch mit dem Satz, »Ich kehre soeben von einer Reise zurück und finde Ihren Brief vor.« Flusser benutzt die Briefform, um neue Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, um die Publikation seiner Texte zu forcieren und zu überwachen und um Vorträge an Symposien und Kurse an Universitäten zu organisieren. Die zentrale Funktion der Briefe ist jedoch die Erstellung einer Art persönlicher Autobiographie und damit auch ein Art Tagebuchersatz. Im Unterschied zu diesem eher intimen Medium sind Briefe öffentlich. Das Schreiben von Briefen ist für Flusser Selbstvergewisserung und eine Form der gezielten Selbstinszenierung. Wie für seine Essays und Vorträge benützt Flusser auch für die Briefe Durchschlagpapier. Alle Texte werden systematisch gesammelt: ein Archiv zu Lebzeiten. Dieses ausgeprägte Werkbewusstsein bestimmt sein Schreiben von Anfang an. In den Briefen schildert er oft bis ins kleinste Detail hinein die jeweilige Wohnsituation, berichtet von Reisen und Reiseplänen, von Pu-

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blikationen, dem Inhalt zukünftiger Bücher, und diskutiert ausführlich die Themen, die ihn im Moment bewegen. Mit den verschiedenen Briefpartnern tauscht er sich dabei in der Regel über ganz spezifische Themen aus, die sich aus der jeweiligen Beziehung und dem Lebenskontext ergeben. Oft aber testet er die gleichen Vorstellungen bei verschiedenen Gesprächspartnern, um aus deren unterschiedlichen Reaktionen neue Dimensionen hervorzulocken. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der systematischen Praxis der Selbstübersetzung, deren Ziel es ist, die Standpunkte zu einem bestimmten Thema zu vervielfältigen und die Stichhaltigkeit der Argumentation zu überprüfen. Flusser braucht seine Briefpartner als Zeugen seiner Existenz, seines Denkens und Schreibens, auf die gleiche Art und Weise wie er Edith oder Alex Bloch als Zuhörer benützt. Seine eigentliche Kreativität entfaltet sich erst im Dialog mit anderen, in der direkten Auseinandersetzung. Die hartnäckige Insistenz, mit der Flusser seine Briefpartner umgarnt, verführt, belagert, mahnt und kritisiert, findet sich wie wir mehrfach gesehen haben, in seinem Umgang mit Verlegern wieder. Spannend sind die Briefe auch deswegen, weil Flusser sich dort explizit und ausführlich über andere Denker auslässt, die sein Werk zwar beeinflussen, darin aber nicht vorzukommen scheinen. So erwähnt sein deutscher Lektor Volker Rapsch in einem Brief vom 14. März 1985 einen Satz aus Ernst Kapps Grundlinien der Philosophie der Technik, mit der Bemerkung, Flusser würde ihn ohnehin schon kennen. Kapp leitet, wie Flusser, die Erfindung technischer Vorkehrungen weitgehend aus dem menschlichen Organismus ab, vor allem aus der menschlichen Hand. Ein weiteres Beispiel ist Günther Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen, das Flusser Mitte der 1970er Jahre mit Hans Paeschke vom Merkur diskutiert. »Tatsaechlich«, schreibt er diesem am 22. November 1974, »deckt sich vieles von dem, was er sagt, mit meiner Analyse des gegenwaertigen Gebrauchs des Fernsehens. Doch scheint mir Anders, ganz wie McLuhan, tatsaechlich reaktionaer zu sein […] Er entdinglicht naemlich das Fernsehen […] und verdeckt, dass es nur ein Apparat ist.« Gierig und unersättlich verschlingt Flusser die Welt, um sie zu verdauen und wieder auszuscheiden. Die Spinne, die Amöbe und der Vampyroteuthis infernalis – der »Anti-Ikarus«, wie er ihn in einem Brief vom 25. August 1987 an den Schweizer Schriftsteller Felix Philipp Ingold nennt – sind Figuren aus seinen Texten, aber zugleich Darstellungen seines eigenen Verhältnisses zur Welt. Die Spinne baut Netze, in denen sich ihre Opfer hoffnungslos verfangen. Die Amöbe sendet Pseudopodien aus, die den eroberten Fremdkörper umschließen, aufnehmen und verdauen. Der abgründige teuflische Tintenfisch mästet sich kannibalisch an seinen Artgenossen. Orale Verschlingungs- und Verdauungsmetaphern, die man auch als Besitz- und Machtanspruch deuten kann, sind überall in Flussers Werk anzutreffen.

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So benutzt er im Essay »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« zur Beschreibung des Heimwehgefühls eine kulinarische Metapher. Die Bande, die einen mit den Menschen und Dingen in der Heimat verbinden, sind »geheime Fasern«, die »über das Bewußtsein des Erwachsenen hinaus in kindliche, infantile, wahrscheinlich sogar in fötale und transindividuelle Regionen« reichen. »Das tschechische Gericht svickova (Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort ›Heimweh‹ gerecht wird.« Flusser assoziiert damit den tschechischen Rinderbraten, wohl auch wegen dessen Faserigkeit. Svickova heißt eigentlich Kerzenbraten, von svicka, Kerze, weil das Filet einer Kerze ähnlich ist. Die begleitende Soße wird aus einer ganzen Reihe von Zutaten hergestellt: Möhren, Sellerie, Petersilienwurzel oder Pastinake. Hinzu kommen Zwiebeln, Pfefferkörner, Pimentkörner, Wacholderbeeren, Lorbeerblätter, eine Messerspitze gemahlenen Ingwers, Thymian, Rinderbrühe, ein Becher Sahne, ein Becher Crème Fraiche oder Schmand sowie Mehl, Zitronensaft und Salz. Dazu wird Preiselbeerkompott serviert. Die zu durchschneidenden Fasern, die für die Bindung an die Heimat und den Schmerz der Trennung einstehen, werden somit durch die Komplexität der Zubereitung und die geschmackliche Vielschichtigkeit der Soße ergänzt, was implizit auf die tiefreichenden, schwer analysierbaren Gefühle verweist, von denen Flusser im Zitat spricht. Edith Flusser berichtet davon, wie er sich auf ihren Reisen quer durch Europa in den Hotellobbys an einen Tisch setzt, die Figuren auf einem Schachbrett aufstellt und wartet, dass sich jemand für eine Partie zu ihm setzt. Zeugen, die Flusser in den frühen 1970er Jahren kennenlernen, als er in Merano wohnt, berichten, er sei auf seinem Stuhl wie auf einem Pferd durchs Esszimmer auf seine Gesprächspartner zugeritten, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Neben den Briefen sind die Terminkalender (Abb. 18), in denen Flusser akribisch Tag für Tag notiert, wo sie sich gerade befinden, woher sie kommen und wohin sie unterwegs sind, besonders aufschlussreich. Insgesamt finden sich zwanzig Terminkalender im Flusser Archiv in Berlin. Die erste in braunes Leder gebundene Agenda für das Jahr 1972 kauft Flusser noch in Brasilien. Für die folgenden drei Jahre verwendet er unterschiedliche italienische Agenden – eine rote, eine grüne und eine braune, in einem handlichen Buchformat – und ab 1976 eine französische »agenda planing«, welche in Marseilles hergestellt wird und nach der lateinischen Phrase »Quo vadis« aus dem Johannesevangelium (13, 36) benannt ist. Ein treffend ironischer Kommentar zu Flussers ruheloser Existenz in diesen Jahren. Diese deutlich größeren, professionellen Terminkalender im A4-Format (27,5 x 21 cm) – insgesamt sind es 16 – haben einen grünen, roten oder schwarzen Plastikeinband und verfügen über ein zweiseitiges »ano-planing«, welches einen Gesamtblick auf das gesamte Jahr ermöglicht. Dasselbe Prinzip der Übersicht ist auch für die einzelnen Wochen gewählt worden.

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Die Terminkalender sind die Logbücher von Flussers nomadischem Leben. Neben den geographischen Angaben enthalten sie Namen, Adressen und Telefonnummern von Freunden und Hotels, Abmachungen, Einladungen und Konferenzen. Sie dienen als Planungsutensil und Pro-Memoria. In der Regel ist es Vilém, der Buch führt, immer wieder aber tauchen Notizen in Ediths Handschrift auf, die je nach den Umständen zu- oder abnehmen. Manchmal ergänzt sie einen Namen, eine Telefonnummer oder eine Adresse. In diesem Sinne sind die Terminkalender weitgehend zweihändig verfasst und dokumentieren Viléms und Ediths äußerst enge, lebenslange Zusammenarbeit in allen Belangen. Die Terminkalender sind darüber hinaus eine gute Illustration für Flussers Unterscheidung in intensive und öde Lebensabschnitte. Leere Seiten, auf denen manchmal nur der Name der Ortschaft steht, wo sie sich gerade befinden, alternieren mit vollgekritzelten Seiten, Zeiten der Ruhe und Meditation werden von frenetischen hyperaktiven Perioden abgelöst.

Abbildung 18: Auszug aus einem Terminkalender

E xil und K re ativität Von 1972 bis 1991 sind Edith und Vilém in zunehmendem Maße unterwegs. Sie ziehen im Laufe der Jahre immer wieder um, von Norditalien nach Frankreich und wieder zurück, von dem Loire-Tal in die Provence, von dort nach London und wieder zurück in den Süden Frankreichs. Sie fahren von Konferenz zu Konferenz, unternehmen ausgedehnte Reisen kreuz und quer durch Europa, fliegen in die USA, nach Brasilien und Israel. Da Vilém Flusser keinen Führerschein hat, wohl auch wegen seinem blinden Auge, sitzt Edith hinter

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dem Lenkrad. Sie fahren einen Renault 12, eine frontgetriebene Limousine der Mittelklasse, die zwischen 1969 und 1980 in Frankreich hergestellt wurde. Oft fahren sie mitten in der Nacht weg, nach Paris oder anderswo, immer mit leichtem Gepäck. Bei Bedarf übernachten sie auch im Wagen.

Abbildung 19: Edith und Vilém Flusser (1970er Jahre)

Flusser hat in den 1970er Jahren vor, eine Phänomenologie des Tourismus zu schreiben. Erhalten ist ein vierseitiger unveröffentlichter Essay, in dem er den Tourismus provokativ mit der Theorieauffassung des klassischen Altertums vergleicht. »Turismus [sic!] sei Reisen als Selbstzweck, also ›reines‹ Reisen, und es sei die These vertreten, dass der Turismus in der Gegenwart eine Rolle einnimmt, die ungefaehr der Rolle entspricht, welche die Theorie im klassischen Altertum spielte. ›Theorie‹ bedeutet etwa ›sight seeing‹ (Ansehen des Sehenswerten) und die klassische Theorie unterscheidet sich von der modernen grundsaetzlich durch ihre Reinheit, das heisst, dadurch dass sie nicht vor hat, angewandt zu werden. Absichtslose Gratuitaet als Katharsis ist also dem modernen Turismus und der klassischen Theorie gemein, und man kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht ahnen, ohne das Phaenomen des Turismus ernst zu nehmen.« Erfahrung hat für Flusser mit fahren zu tun und mit Gefahr, mit Ortsveränderungen, Umzügen und Reisen.

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In Flussers Vorstellung sind Migration, Exil und Nomadentum untrennbar mit Kreativität und Freiheit verbunden. Die Exilsituation ist eine Herausforderung zu schöpferischem Handeln. Die zunehmende Freiheit des Migranten beruht dabei auf der Dialektik von Verwurzelung und Entwurzelung. Die eigenen ursprünglichen Wurzeln kann man dadurch verlieren, dass man von seinem angestammten Territorium gewaltsam vertrieben wird oder weil man selbst beschließt, die eigenen Wurzeln auszureißen und sich von seiner Herkunft zu befreien. Dadurch dass man die eigenen Wurzeln durchtrennt und sich von seinem Ursprung distanziert, erreicht man eine bewusstere Lebenseinstellung. Danach ist jedoch keine wirkliche Rückkehr zum Ausgangspunkt mehr möglich. Die erste Entwurzelung eröffnet eine paradoxe Bewegung, die zwischen Engagement, dem Wachsen neuer Wurzeln, und Dégagement, dem Ausreißen und Abschneiden von Wurzeln, hin und her pendelt. In Flussers Philosophie des Exils setzen Entwurzelung und Verwurzelung einander voraus. Jede Verwurzelung verlangt nach Entwurzelung, und diese wiederum nach neuen Formen der Verwurzelung. Diese Wurzeln zweiten Grades und alle weiteren, die man unterwegs schlägt, zeichnen sich durch ihren provisorischen und künstlichen Charakter aus. Allein die allerersten, weitgehend unbewussten Wurzeln – die Muttersprache oder die Nationalität zum Beispiel – sehen auf ersten Anhieb vollkommen natürlich aus. Natürlich sind sie nur so lange, bis man sie verliert oder abschneidet. Im Essay »Exil und Kreativität«, der Mitte der 1980 Jahre entsteht und in den Sammelband Von der Freiheit des Migranten aufgenommen wird, beschreibt Flusser Vertriebene als »Entwurzelte, die alles um sich herum zu entwurzeln versuchen, um Wurzeln schlagen zu können. Und zwar tun sie das spontan, einfach weil sie vertrieben wurden. Es geht dabei um einen gleichsam vegetabilischen Vorgang. Den man vielleicht beobachten kann, wenn man versucht, Bäume umzupflanzen. Es kann jedoch geschehen, daß sich der Vertriebene dieses vegetabilischen, vegetativen Aspekts seines Exils bewusst wird. Daß er entdeckt, daß der Mensch kein Baum ist. Und daß vielleicht die menschliche Würde eben darin besteht, keine Wurzeln zu haben. Daß der Mensch erst eigentlich Mensch wird, wenn er die ihn bindenden Wurzeln abhackt.« Flusser deutet die oft beklagte und bemitleidete Opferrolle des Exilierten und Vertriebenen provokativ um. Er spricht von einem dialektischen »Umschlag im Verhältnis zwischen Vertriebenem und Vertreiber. […] Es ist die Entdeckung, daß die Geschichte nicht von Vertreibern, sondern von Vertriebenen gemacht wird. Nicht die Juden sind ein Teil der Geschichte der Nazis, sondern die Nazis ein Teil der jüdischen Geschichte. […] Und je radikaler wir […] ins Exil getrieben werden, desto mehr machen wir Geschichte. […] Aber das ist nicht das Entscheidende an der Entdeckung, daß wir keine Bäume sind: daß Wurzellose Geschichte machen. Sondern das Entscheidende daran ist, zu entdecken, wie mühsam es ist, keine neuen Wurzeln zu schlagen. […] Die Entdeckung,

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daß wir keine Bäume sind, verlangt vom Vertriebenen den Lockungen des Schlamms immer wieder zu widerstehen. Vertrieben zu bleiben und das heißt: sich immer erneut vertreiben zu lassen. Dies stellt selbstredend die Frage nach der Freiheit. Die Entdeckung der menschlichen Würde als Wurzellosigkeit […]. Die erste Vertreibung wurde erlitten. Sie hat sich als produktiv erwiesen. Und dann beginnt das Exil zur Gewohnheit zu werden. […] soll man eine neue Vertreibung provozieren? So stellt sich die Frage nach der Freiheit nicht als Frage, zu gehen und zu kommen, sondern fremd zu bleiben. Anders als die anderen.« Im Essay »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« – ebenfalls in Von der Freiheit des Migranten enthalten –, der auf den Vortrag »Heimat und Heimatlosigkeit« zurückgeht, den Flusser im August 1985 am II. Internationalen Kornhaus Seminar in Weiler im Allgäu hält, schreibt er zur befreienden Spirale von Verwurzelung und Entwurzelung. »Die Emigration aus Prag war ein fürchterliches Erlebnis, die aus Robion [ab 1981 Flussers letzter Wohnort in der Provence] wäre wahrscheinlich nur noch die freie Entscheidung, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren.«

Rückwanderung

»You see, Europe is doing something to me.« Vilém Flusser in einem Brief an René Berger (29. März 1973)

Am 2. Juni 1972 verlassen Edith und Vilém São Paulo Richtung Recife. Von dort geht die Reise per Schiff weiter, über die Kapverdischen und Kanarischen Inseln nach Madeira, Porto Santo, an Kap Finisterre vorbei und durch den Ärmelkanal nach Holland. Am 13. Juni 1972 erreichen sie Rotterdam. Es beginnt eine regelrechte mehrwöchige Odyssee, die einerseits den Eindruck eines ersten allgemeinen Orientierungsversuchs in der neuen, weitgehend noch unbekannten Welt vermittelt, andererseits aber auch die Begeisterung darüber, wieder in Europa zu sein, zum Ausdruck bringt. Diese erste Reise ist zugleich das Muster der vielen weiteren, die sie in den folgenden Jahren regelmäßig unternehmen, kreuz und quer durch Europa und immer im Auto. Manchmal sind sie über Wochen hinweg unterwegs und fahren mehrere Hundert Kilometer täglich. Da das europäische Autobahnnetz in den 1970er Jahren noch nicht sehr stark ausgebaut ist und die Flussers tendenziell Nebenstraßen bevorzugen, um die landschaftlichen Schönheiten und kulturellen Sehenswürdigkeiten zu genießen, dauern ihre Reisen oft mehrere Stunden pro Tag.

D ie W elt er - fahren Edith und Vilém brechen am 14. Juni von Rotterdam nach Amsterdam und Den Haag auf, übernachten in Otterlo – ein Dorf in der Nähe von Arnheim – und gelangen von dort dem Rheinufer entlang, über Köln und Düsseldorf, nach Königstein in Sachsen und Frankfurt an der Oder. Kurz darauf geht es weiter nach Zürich, wo sie im gutbürgerlichen Hotel Central, in der Nähe des Hauptbahnhofes übernachten. Es folgen Zug und der Gotthardpass. In Prato, das im oberen Teil der Valle Leventina liegt, kehren sie am 24. Juni in einem einfachen Bed and Breakfast ein. Das Hotel Tencia, in dem sie mehrere Tage bleiben, wird von einer Familie geführt. Am 26. Juni unternehmen sie einen

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kurzen Tagesausflug nach Gordola, Locarno und Ascona. Die Weiterreise führt ein paar Tage später zurück in den Norden, über Zürich nach Scheidegg, in der Nähe von Lindau, und nach Feldafing am Starnbergersee. Sie verbringen zwei Tage im Hotel Kaiserin Elisabeth, das einer der Lieblingsorte der Kaiserin Elisabeth von Österreich war und in einem weitläufigen Park liegt. Vom Hotel aus hat man eine eindrucksvolle Aussicht über den See. Am 31. Juni reisen sie erneut nach Süden, diesmal nach Rapperswil am Zürcher See, und von dort über Luzern und Interlaken nach Genf, wo sie am 2. Juli eintreffen. Am Tag danach fahren sie durch das Rhone-Tal nach Leukerbad und von dort nach Italien. In San Gimignano, wohin Flusser in den kommenden Jahren immer wieder zurückkehrt, bleiben sie mehrere Tage. Es folgt eine zweiwöchige Rundreise durch Italien: von Siena, nach Padua, Venedig, Vicenza, Ravenna, Arezzo und Florenz, zurück nach San Gimignano – wo sie fünf weitere Nächte bleiben – und von dort ein zweites Mal in den Norden, nach Verona und ins Trentino. Vom 22. bis zum 29. Juli sind sie in Malgolo ein kleines norditalienisches Dorf, das abseits von den touristischen Routen liegt und ein Schloss aus dem 15. Jahrhundert besitzt. Hier sind sie schon 1968 gewesen und haben Freunde. Von dort aus erkunden sie die umliegende Gegend. Möglicherweise halten sie schon damals Ausschau nach einem passenden Wohnort. Am 29. fahren sie nach einem Zwischenstopp in Courmayeur, das 10 km südöstlich des Mont Blanc liegt, nach Genf. Vom 30. Juli bis zum 13. August sind sie in Coppet einem kleinen Dorf am Genfersee, verkehrstechnisch günstig auf der Straße zwischen Genf und Lausanne gelegen. Danach geht es erneut nach Norden und Osten, nach Bern, Luzern, Kreuzlingen, Lindau, Feldkirchen und über den Arlberg nach Merano, wo sie bis Anfang September bleiben. Am 4. September sind sie wieder in Genf und am 10. zum ersten Mal in Paris im Hotel Nice et Beaux Arts, das im Marais liegt und in den nächsten Jahren zu einer der vielen fixen Adressen auf ihren Reiserouten wird. Nach einer kurzen intensiven Zeit verlassen Edith und Vilém am 19. September die Stadt Richtung Genf. Vom 7. bis zum 12. Oktober übernachten sie im Dreistern Hotel La Mainaz, das sich auf 1.300 Metern, hoch über dem Genfersee, auf dem Col de la Faucille im französischen Jura befindet. Sie werden in den folgenden Jahren auch an diesen Ort immer wieder zurückkehren. Bis Ende Jahr reisen sie noch mehrere Male zwischen Merano, Genf, wo Flusser zusammen mit dem dortigen brasilianischen Konsulat die Vorbereitungsarbeiten für die Biennale aufnimmt, und Paris hin und her. Dazwischen legen sie kürzere ein- oder mehrtägige Ausflüge ein: nach Wengen im Berner Oberland, ins französische Colmar und Cluny und von Merano nach Malgolo, Trient, Bozen und Venedig. Von Mitte Dezember 1972 bis Anfang Februar wohnen sie in Merano, das in den folgenden drei Jahren zu einem ersten Fixpunkt ihres neuen europäischen Lebens wird. Ediths und Viléms europäische Reisebewegungen der 1970er und 1980er Jahre stecken ein sich

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stets erweiterndes, aber doch begrenztes Gebiet ab, zu Beginn vor allem Frankreich mit einem Schwerpunkt in Paris, die Schweiz, Italien und Deutschland, später auch England, Spanien und Portugal (1977 und 1987) sowie die dalmatinische Küste Jugoslawiens. Auch die USA, vor allem New York, besuchen sie regelmäßig: Januar-Februar 1974, September 1977, Juni 1979, Februar-März 1982 und März-April 1986. Bei dieser Gelegenheit besuchen sie Dinah, die eine Wohnung an der Upper West Side 135 West 70th Street gemietet hat. In London sind sie Mai-Juni 1977, April 1976, Juni 1978 und 1979 sowie mehrmals im Laufe von 1980. In dieser Zeit wohnen sie bei der Tochter in der Nähe von Sloane Square. Dinahs stetiger Wohnwechsel hat grundsätzlich mit ihrer Arbeit im diplomatischen Dienst für Brasilien zu tun. Nach Vilém Flussers Tod wird Edith definitiv mit ihr zusammen wohnen und mit ihr von Land zu Land ziehen. Man könnte das kreisartige, immer wieder auf dieselben Orte zurückkommende und sich doch stets erweiternde Reiseverhalten auf Flussers eigenes Denken beziehen, das sich nach vergleichbaren Mustern entfaltet und weiterentwickelt. Ein wichtiger Grund für Ediths und Viléms Rückkehr nach Europa ist ihre starke emotionale Bindung an dessen Kultur und Geschichte, vor allem aber auch an die europäische Landschaft. So schreibt er in einem undatierten Brief der späten 1950er Jahre an Karel Flusser und dessen Frau, die damals noch in Prag wohnen. Ihre Schilderung von Spaziergängen auf der Kleinseite und dem Hradschin hätten eine ganze vergessene Welt wieder ins Leben gerufen. »Natürlich haben auch die Tropen ihre Anziehungskraft, die schoenen Straende zum Beispiel, aber nach so vielen Jahren hat man doch eine Heimweh nach einem Nadelwald, nach einem Kornfeld, oder nach einer Skiwiese. Das Reisen auf ein paar Tage nach Europa oder Amerika ist dafuer keine Medizin, und ich war auch schon seit Jahren nicht in Europa.«

D ie XII. B iennale von S ão Paulo Flusser kommt nach Europa als Vertreter der brasilianischen Kultur, mit dem Auftrag, Teilnehmer für die XII. Biennale von São Paulo zu finden, die im Herbst 1973 stattfinden soll. Dadurch ergeben sich nicht nur zahlreiche neue Freundschaften, sondern zugleich eines der zentralen Interessen der nächsten Jahre: die Kunst. Flusser verschickt in wenigen Wochen gegen einhundert Einladungsbriefe. Er lädt Moles ein, den er an der Universität in São Paulo kennengelernt hat, und schreibt dem Schweizer Schriftsteller, Philosophen und Kunsthistoriker René Berger (1915-2009), Direktor des Musée Cantonal des Beaux-Arts in Lausanne von 1962 bis 1981 und Professor an der dortigen Universität. Durch diesen lernt er wiederum Fred Forest kennen, mit dem er am 7. August brieflich Kontakt aufnimmt und dem er zum ersten Mal in Paris

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begegnet. Ebenfalls auf der Liste der Eingeladenen ist Alexandre Bonnier, der Flusser im Gegenzug dazu einlädt, im Herbst 1972 einen Vortrag am Pariser Institut de l’Environnement zu halten. In diesem Zusammenhang lernt er zwei Jahre später auch Louis Bec kennen, der ein Freund von Alexandre Bonnier und dessen Lebensgefährtin Jeanne Gatard ist. Damit sind die vier intimsten französischen Freunde genannt, die Flusser zu Beginn der 1970er Jahre kennenlernt und mit denen er über Jahre hinweg einen intensiven Kontakt pflegt: Abraham Moles, Alexandre Bonnier, Fred Forest und Louis Bec. Im Zusammenhang mit der Organisation der Biennale gibt Flusser ein enthusiastisches Interview, das am 6.-7. Januar 1973 in La Gazette de Lausanne veröffentlicht wird. J.D. Rouiller, wohl unter dem Eindruck des Interviews, bezeichnet Flusser als ein »tempérament fougueux«, ein auf brausendes Temperament. Flusser spricht von zwei radikalen Spielanweisungen, die sich auf das Werk Anatol Rapoports beziehen. Die Zuschauer sollen in den Entstehungsprozess der ausgestellten Werke eingreifen und die ästhetische Dimension des Werkes darf nicht innerhalb eines geschlossenen elitären Kreises gefangen bleiben, sondern soll direkt in den Alltag der Betroffenen hineinwirken. Kunst und Leben sollen, wie in vielen anderen künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, ineinander übergehen und einander hervorbringen. Flusser spricht von einem dramatischen Moment seines Lebens, da ihm zum ersten Mal die Möglichkeit geboten wird, ein theoretisches Konzept in die Praxis zu überführen. Aus diesem Grund hat er an seiner Fakultät in São Paulo ein Semester Urlaub beantragt und die Kurse einem seiner Assistenten übergeben. Im Laufe der Vorbereitungen sollen um die 25 thematischen Gruppen gebildet werden, zusammengesetzt aus zwei oder drei Europäern aus den Bereichen der Kunst, der Wissenschaft und der Technik. Diese sollen in São Paulo mit ungefähr 30 Brasilianern zusammenarbeiten, unter ihnen ein Industrieller, ein Regierungsvertreter, Ingenieurs und zukünftige Konsumenten des Projekts. Das Ganze ist ein großes kollektives Laboratorium. Alle Projekte sollen zudem durch den größten brasilianischen Fernsehsender Globo übertragen werden. Ein Projekt soll sich beispielsweise der radikalen Reform der Schulen widmen und Lehrer, Schuldirektoren und alle anderen, die in diesen Prozess eingreifen können, zusammenführen. Diese vielseitigen Erfahrungen sollen wiederum in Universitätskursen rund um die Welt Eingang finden. Ein ambitioniertes und radikales Projekt. Bis zum Zeitpunkt des Interviews sieht es noch so aus, als würden Flussers revolutionäre Ideen in die Tat umgesetzt, zudem haben verschiedene Künstler schon ihre Teilnahme bestätigt. Bald aber wird deutlich, dass die Organisatoren der Biennale nicht wirklich gewillt sind, auf Flussers Vorschläge einzugehen. Am 29. März 1973 schreibt er Berger resigniert aus Merano: »[…] from the news I have from Brazil I gather that my initial project was totally disfigured.« Und am 16. Mai aus Rochecorbon: »It is a pity that the whole thing will probably

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end as always: in favour of the apparatus. […] Thus we have become clowns of the apparatus. I left Brazil, because I did not want to be a clown any longer. And now I am becoming a clown in Europe.« Flusser hat in der Vergangenheit, wie wir schon gesehen haben, oft mit der Vorstellung einer möglichen Rückkehr nach Europa oder einer Übersiedlung in die USA gespielt, ohne ihr jedoch Folge leisten zu können. Diesmal gelingt der Auf bruch. Der Entschluss, definitiv in Europa zu bleiben, reift in den ersten Monaten nach der Rückkehr. Dabei spielen die eher enttäuschenden Erfahrungen mit der Organisation der Biennale eigentlich keine zentrale Rolle. Sie sind eher ein Vorwand, »um Brasilien mit Vorsicht den Ruecken zu wenden«, wie er seinem Cousin David Flusser in einem Brief vom 19. Februar 1973 mitteilt. »Die Gruende dafür sind mindestens doppelt: (a) ich habe das Land fuer meine Arbeit erschoepft, ich publiziere dort vielleicht zu viel, stosse ueberall gegen die Zensur, und die akademische Karriere ist mir langweilig geworden. Ausserdem spuere ich ueberall die Grenzen einer geistigen Arbeit in Unterentwicklung. (b) die [sic!] politische und wirtschaftliche Lage des Landes laedt staendig zu einem Engagement ein, das in meinem Alter zu gefaehrlich ist, und das auch meinen Kindern schaden koennte. In Europa fuehle ich die Moeglichkeit einer groesseren Entfaltung.« Der Bruch ist aber nicht endgültig. Flusser behält seinen brasilianischen Pass und verkauft sein Haus in São Paulo vorerst nicht. Im ersten europäischen Brief an den in Stockholm weilenden Alex Bloch, den er am gleichen Tag verfasst, spricht Flusser von einer Zäsur und einem entscheidenden Augenblick. »Wir gedenken, definitiv in Europa zu bleiben (wobei das Wort ›definitiv‹ provisorisch zu lesen ist). J’en ai marre Brasiliens, und das nicht nur aus politischen Gründen.« In den beiden Briefen an René Berger, in denen Flusser seine Enttäuschung über das Scheitern der Pläne zur Biennale zum Ausdruck bringt, findet man zugleich die Freude über die neue Lebenslage und die Begeisterung für die vielen sich bietenden intellektuellen Herausforderungen. So schreibt er aus Merano in einem von Ideen übersprudelnden Brief: »[…] my leave at my Faculty has been extended to March 74, and I am engaged in several work here. […] I have many more such ideas.« Am 16. Mai fügt er verschmitzt hinzu: »Please do write soon, to do something together, just for the fun of it. It may be the spring air of the Touraine that is doing this to me. Or maybe just the climate of freedom. And the excess energy which makes me want to do something.« In einem Brief an Milton Vargas, den er am 10. April 1973 auf der Insel Elba verfasst, schildert Flusser die Auswirkung seiner Rückkehr nach Europa äußerst treffend als eine »ressurreição em miniatura«, eine Auferstehung in Miniatur.

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»Fahren, fahren, fahren, viajemos continuamente – wir sind einfach um zwei Uhr nachts nach Paris gefahren.« Edith Flusser in einem Interview mit Jochen Wagner

Ihre ersten drei Jahre in Europa – vom Oktober 1972 bis zum Mai 1975 – verbringen Edith und Vilém Flusser damit, zwischen den Bergen Südtirols und der Flussregion der Loire hin und her zu pendeln. Von Herbst bis Frühsommer halten sie sich im italienischen Merano auf, wo sie bei der Familie Grosslercher, an der Via Hasler 4, Maia Alta, in Untermiete wohnen. Für den Rest des Jahres mieten sie vorübergehend eine zweite Wohnung in der Nähe von Saumur, zwischen Angers und Tours. Von dort aus unternehmen sie ausgedehnte Reisen oder fahren für ein paar Tage an einen der zahlreichen Vortragsorte Flussers. Die Wahl Meranos hat mit Flussers Anfälligkeit für Asthma zu tun und möglicherweise mit Ediths eigenen Kindheitserinnerungen an Bergausflüge vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein weiteres Motiv könnte Franz Kafkas Kuraufenthalt in der Pension Ottoburg sein, wo er sich zur Erholung im Sommer 1920 einige Monate auf hielt. Merano hat ein mediterranes Klima, ist seit dem 19. Jahrhundert ein vielbesuchter Kurort und gilt als Touristenhochburg des Habsburgerreiches. Vorteile Merans sind dessen relativ zentrale Lage und die Tatsache, dass man außer italienisch auch deutsch spricht, ohne jedoch in Deutschland zu sein. Merano ist nach Bozen die zweitgrößte Stadt in der Provinz Südtirol und liegt in einem von Bergen umgebenen Talkessel. Die höchste Berggruppe erreicht 3300 Meter. Die Bevölkerung setzt sich je zur Hälfte aus deutsch- und italienischsprechenden Einwohnern zusammen. Es ist keine neue Heimat, sondern ein provisorischer Ort, an den man sich im Herbst und Winter zurückziehen kann. Flusser nutzt die Abgeschiedenheit und Ruhe zum Schreiben und Lesen. Die geographische Lage deckt sich dabei weitgehend mit der existenziellen Grundeinstellung Flussers in diesen Jahren. So schreibt er Moles am 4. Dezember 1973: »All very fine, but what shall we be doing? My answer: stay put in Merano or a farm house near Strasbourg, write

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books and articles nobody will read, talk together about God and the world, and have a nice time as the fires are burning. I invite you to do this with us.« Die Via Hasler liegt in Obermais, einem höher gelagerten Villen-Viertel östlich der Passer, von dem aus der Rest der Stadt sichtbar ist. Der wichtigste Diskussionspartner in der Region ist der mit seiner Familie in Trient lebende Bernardo Bagolini, dessen Vater – Luigi Bagolini – Flusser aus São Paulo kannte, wo dieser als Universitätsprofessor tätig war. Bagolini ist Spezialist für jungsteinzeitliche Gesellschaften in der Region des Alto-Adige und der Val Camonica, was Flussers eigenes intensives Interesse für Anthropologie und Prähistorie tangiert. Edith und Vilém kehren immer wieder ins Trentino zurück, wo sie alte Bekannte besuchen. So fahren sie am 27. Dezember 1982 über Nizza, Pavia, Bergamo und Verona nach Trient und Merano. Am 31. treffen sie sich mit Bagolini und am 1. Januar 1983 mit der Familie Grosslercher. »Nach Meran sind wir immer über den Ofenpass«, berichtet Edith im schon erwähnten Interview mit Jochen Wagner. »Ich bin so viel gefahren […]. Wir liebten die Nebenwege, nicht die Hauptwege, und kannten den Federico Steinhaus, den Sprecher der jüdischen Kultusgemeinde in Meran. Zugleich lebte in Meran ganz unerkannt Anton Malloth, ein gelernter Metzger, der ›schöne Hans‹, er war der ›Schlächter von Theresienstadt‹ – Viléms Vater wurde ja in Buchenwald erschlagen.«

P endeln z wischen B erg und Tal Im Sommer 1975 publiziert Flusser in der Innsbrucker Kulturzeitschrift Das Fenster den Essay »Mein Tal in Südtirol« eine frühe Fassung des Kapitels »Vales« (Täler) aus der 1979 in São Paulo publizierten Essaysammlung Natural:mente – vários acessos ao significado da natureza (Natür:lich – Verschiedene Zugänge zur Bedeutung von Natur). Der Doppelpunkt verleiht dem Titel eine widersprüchliche Bedeutung: Naturalmente (natürlich), mente (Geist und lügt, von mentir, lügen). Das kleine Bändchen besteht aus 15 Essays zum Verhältnis von Natur und Kultur sowie einer Einführung und einem Schlusswort. Es handelt sich dabei um phänomenologische Betrachtungen zu Bergen, Wegen, Wiesen, Gras, Knospen, Regen, Stürmen, Nebel, Vögeln, Kühen und dem Mond. Lange Passagen von »Mein Tal in Südtirol« sind der Vorgeschichte des Tales gewidmet und den Gründen, warum Menschen sich überhaupt hier niedergelassen haben. Flusser deutet das Tal aber auch in einem existenzialistischen, autobiographischen und informationstheoretischen Sinne. »Ich bewohne ein Bergtal. […] Das heißt: ich bewohne es provisorisch. […] Ich existiere in der Gegend. (Bin aus dem Paradies vertrieben worden).« Die gebürtigen Talbewohner wohnen ebenfalls provisorisch in ihrem Tal, »auch sie sind dort Fremde im Sinn Camus’, homines viatores. Aber ich bin mir meiner Fremd-

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heit bewußter als sie […], weil ich aus der Ebene (nämlich der Hochebene Brasiliens) komme […] Mein Dasein im Tal ist also noch provisorischer als das ihre.« Flusser deutet Täler, wohl auch aus seiner damaligen Lebenssituation heraus, als Orte der Kreativität. Hier werden die mechanischen Diskurse aus der Ebene zu menschlichen Dialogen umgeformt. Täler sind Informationsverarbeitungsorte und in sich geschlossene, aber miteinander kommunizierende Universen. Täler sind eng und eignen sich dadurch nicht für die »mechanische Massifikation« der gegenwärtigen Massenkultur. »Täler sind utopische Ziele der Geschichte.« Die landschaftliche Unterscheidung von Tal und Ebene ließe sich auf Flussers eigenes saisonbedingtes Hin und Her zwischen den Bergen von Merano und der Flusslandschaft der Loire deuten, ein Pendeln zwischen privatem Rückzug und öffentlichem Engagement. Neben Merano wird im Laufe der 1970er Jahre Frankreich als Wohnort und intellektuelles Betätigungsfeld bedeutsam. Hier wohnen die engsten Freunde, hier hält Flusser zahlreiche Vorträge und Universitätskurse, und hier versucht er, seine Essays und Bücher zu publizieren. Das Loiretal, wo sie sich in den ersten Jahren immer wieder nach einer Wohnmöglichkeit umsehen, ist nicht nur vom Landschaftlichen und Kulturellen her eine äußerst vielfältige Umgebung, es liegt auch auf ideale Art und Weise zwischen Paris im Norden und der Provence im Süden. Wie schon im Falle von Merano ist die Wahl des Anjou das Ergebnis strategischer Überlegungen. Alle Wohnorte, die Edith und Vilém in den nächsten Jahren auswählen, weisen dieselben komplementären Eigenschaften auf. Es sind Orte des Rückzugs und der Ruhe, weitab von den großen urbanen Zentren, die es Vilém ermöglichen, sich ganz auf das Schreiben und Lesen zu konzentrieren. Zugleich aber liegen sie verkehrstechnisch ausgesprochen günstig. Das zweite Kriterium ist die enge Verbindung von landschaftlicher Schönheit und kulturellem Reichtum. Kurz: Es sind vielfach inspirierende Orte der Einkehr, von denen aus die anderen geographischen Knotenpunkte des Flusser’schen Netzes – Tagungsorte, Flughäfen, Großstädte – relativ einfach mit dem Auto erreichbar sind. Es ist Edith, die sich auf die Suche nach einer neuen Wohnmöglichkeit macht. In Briefen an Milton Vargas und René Berger aus Italien und Frankreich vom 10. April bzw. 16. Mai 1973 schildert Flusser ihre Odyssee nach dem Verlassen von Merano, ihren Aufenthalt auf der Insel Elba und ihre weitere Wanderschaft auf der Suche nach einer Bleibe für den Sommer. Von Merano fahren sie über den Arlberg in die Zentralschweiz und von dort über Langres und Troyes nach Paris, wo Flusser die restlichen Texte für den geplanten Sammelband La force du quotidien (Die Macht des Alltäglichen) abgibt, den Vertrag unterschreibt und weitere ausstehende Projekte diskutiert. Wir kommen auf dieses Buch und dessen Entstehungsgeschichte in einem der folgenden Kapitel wieder zurück. Danach reisen sie nach Beaune im Burgund und über Vienne in der Region Rhône-Alpes in die Provence und zur Côte d’Azur. Es folgen Niz-

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za, Savona, Genua, Portofino und Pisa. Vom 8. bis zum 18. April sind sie dann mit Abraham und Elisabeth Moles auf der Insel Elba, in Marciana Marina, an der Via del Cotone 38. Sie bewohnen ein Haus im östlichen Teil des Dorfes, von dem aus das Meer, der mittelalterliche Turm, die Fischerboote und der Hafen sichtbar sind. Die Wohnung sei primitiv, schreibt Flusser, aber die Gespräche hervorragend. Moles schreibt die Einleitung zum geplanten Essayband Flussers. Dann reisen sie auf der Suche nach einer Wohnmöglichkeit nach Chur, ins Jura und erneut ins Burgund. Von dort gelangen sie nach Paris, wo sie vorübergehend bei Moles wohnen, und danach in die Touraine, wo sie jedoch auch kein Glück bei ihrer Suche haben. Aus weiteren Briefen, die Flusser Ende Mai 1973 in Rochecorbon verfasst, einer kleinen Ortschaft nördlich der Loire, nur wenige Kilometer von Tours entfernt, geht hervor, dass sich die Nachforschungen nicht immer einfach gestalten. Dies könnte auch die Wahl des eher enttäuschenden Château de Salvert in Neuillé nördlich von Saumur erklären, in dem sie 1973 den Sommer verbringen (Mai bis Oktober). Finanzielle Motive könnten dabei auch eine Rolle gespielt haben. Das Château de Salvert wurde im 16. Jahrhundert erbaut und mehrfach restauriert. In einem Brief an Moles vom 7. Juni 1973 schreibt Flusser: »[…] so we finally found a place to stay, more or less convenient to us. It is the ugliest of the Loire castles (a kitsch example), and it has a spare room to which both of you are permanently and most cordially invited.« Im Essay »O cedro no parque« (Die Zeder im Park), ein weiterer Text aus Natural:mente, der in den ersten Jahren nach Flussers Rückkehr entsteht, möglicherweise im Château de Salvert, versucht Flusser, die spezifische Lage des Exilierten anhand eines an den falschen Ort verpflanzten Baumes einzufangen. In seiner Beschreibung betont er das Außergewöhnlich und Abartige: die pyramidale Form, das andere Grün, die zerquälte Form der Äste, der elephantenartige Stamm, »wie eine Trompete mitten in einem Streichorchester«. Das Fremde fügt sich nicht harmonisch ins Ganze. Flusser lässt die Zeder als Zeugin auftreten und nimmt dabei den schon erwähnten dialektischen Umschlag im Verhältnis zwischen Vertriebenem und Vertreiber wieder auf: »Ich bin eine Fremde, weil ich eine Zeder bin, und nur in Beziehung zu meiner Fremdheit ist der Rest des Parks einheimisch. ›Fremder zu sein‹ bedeutet eigentlich, dem Kontext klarzumachen, daß er selbst kein Fremder ist. Ich bin nicht mir selbst eine Fremde, sondern bin im Verhältnis zum Park eine Fremde.« In Flussers von Martin Buber inspirierter Deutung kommt man erst durch den anderen Fremden zu sich selbst. Dem Exilierten kommt damit eine wesentliche Rolle in der neuen Gesellschaft zu. Das Fremde ist nicht das Minoritäre, Unbedeutendere, Marginale. Erst die befremdende Künstlichkeit der Zeder gibt dem Park einen Sinn, den dieser in sich selbst nicht finden würde. »Es hat sich gezeigt: Fremd und sonderbar ist, wer sein eigenes Sein in der Welt, die ihn umgibt, behauptet. Dadurch gibt er der Welt einen Sinn und beherrscht sie auf eine

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gewisse Weise. Beherrscht sie tragisch, integriert sich nicht. Die Zeder ist in meinem Park fremd. Ich bin ein Fremder in Frankreich. Der Mensch ist ein Fremder auf der Welt.« Im darauffolgenden Jahr kehren sie in dieselbe Region zurück. Diesmal verbringen sie die Zeit von Ende März bis Oktober im ungefähr 30 Kilometer südlicher und jenseits der Loire gelegenen Fontevraud-l’Abbaye. Die Abtei von Fontevraud aus dem 11. Jahrhundert ist eine der umfangreichsten Klosterkomplexe Frankreichs. In einem Brief an Abraham Moles vom 1. April 1974 beschreibt Flusser, die Reise von Merano nach Fontevraud. »On March 28 we loaded our car with about 300 kg of our belongings (including books and manuscripts), and left Merano over the Ofenpass and the Julierpass, (more than 2300 m high and in deep snow), crossed Switzerland over Grisons and Emmental through Neufchatel [sic!] and over the Jura through Parmentier, crossed the entire Bourgogne through Bourges and Tours to get here. With little trouble the car did it! The only trouble was with the Italian frontier gard [sic!] which had to unpack two Brazilian paintings to see whether they were not Tintorettos. You know Fontevraud? The place with the abbey of the Plantagenets […] We occupy the first floor of a manor house in a big garden […] and the trees are beginning very tentatively to blossom. We have several bedrooms and one is yours. Whenever you can and feel like it you just take your car and come. We plan to go to Paris after Easter […] Why don’t you spend Easter with us.« Das Anjou ist vor allem als Weinanbaugebiet bekannt und liegt am unteren Tal der Loire. Im 12. und 13. Jahrhundert war es Teil des angevinischen Reichs, das sich von den Pyrenäen bis zum Ärmelkanal erstreckte. Einmal mehr fließen landschaftliche Anmut und kulturelle Vielfalt ineinander. Im Mai 1975 übersiedeln Edith und Flusser aus Merano, wo sie noch einen letzten Herbst und Winter verbringen, in die Provence nach La Font Chaude in Peypin-d’Aigues, wo sie bis Ende April 1980 leben werden. Damit hat das dreijährige Hin und Her zwischen der alpinen Landschaft in Merano und der Flusslandschaft der Loire ein Ende. Der Entschluss, in die Provence zu ziehen, hat mit der Freundschaft zu Louis Bec zu tun, der damals ungefähr zehn Kilometer westlicher, in Cabrières-d’Aigues wohnt. Peypin-d’Aigues liegt im Südosten des Departements Vaucluse in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, ungefähr vierzig Kilometer von Aix-en-Provence und siebzig Kilometer von Marseille im Süden entfernt. Louis Bec berichtet, dass er Flusser 1974 in Paris getroffen habe und sie beschlossen hätten, einander wiederzusehen. Bec lädt Edith und Vilém in die Provence ein. Sie kommen und beschließen zu bleiben. »We have rented half of a ›mas‹ North of Aix-en-Provence, at the foot of the Luberon«, schreibt Flusser am 17. Mai 1975 Moles. »I admire your enthusiasm. As for me, I am more and more impressed by the decline of what you might call the ›West‹ and believe this is a time for monastic withdrawal.« Der Luberon ist eine Gebirgskette aus

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Kalksteinfelsen südöstlich von Avignon, die nicht höher als 1.200 m ist. Peypin-d’Aigues liegt im östlichen Teil, dem Grand Luberon. Es ist ein überwiegend bewaldetes Gebiet, vor allem Eichen und Atlas-Zedern. Es werden aber auch Obst, Getreide, Gemüse und Wein angebaut. Im einzigen erhaltenen Brief an Dr. H. Grosslercher, den Flusser am 19. Juli 1975 in Peypin-d’Aigues verfasst und dem er ein Exemplar der Innsbrucker Zeitschrift Das Fenster beilegt, welches sein Essay »Mein Tal in Südtirol« enthält, geht er auf die neue Wohnsituation ein. Er habe den Text sowohl aus der Sicht des dort Ansässigen und des nur vorübergehend Verweilenden geschrieben. Er sei besser als alle anderen geeignet, sich darüber ein Urteil zu bilden, denn »mein Aufenthalt in Ihrem Tal ereignete sich in der Stimmung Ihrer Gastfreundschaft. […] Unsere provençalischen [sic!] Tage sind von Erlebnissen erfuellt, die wir eigentlich nicht das Recht hatten, zu erhoffen.« Die Minnesängertradition ist quicklebendig und äußert sich in einer wahren »Explosion an Festspielen und experimentalen Happenings. Das naheliegende Aix-en-Provence, aber auch Arles, Avignon, Marseilles, Cannes, Manosque usw. sprudelt nur so von kulturellen Ereignissen, (Musik, Theater, Mimik, Malerei, Fotografie, wissenschaftlichen und philosophischen Treffen), an denen wir aktiv und passiv teilnehmen, und das spielt sich in einer beinahe theatralischen Landschaft ab, und in Gebaeuden, die vom griechischen Theater in Orange bis zur karolingischen Abtei in Montmajour reichen. Der Ansturm der neuen Gedanken und Herausforderungen ist kaum zu verdauen.« Den Sommer 1978 verbringen sie im Chancel-Mas de la Croix in Cheval Blanc, das 50 km westlich von Font Chaude und 6 km südlich von Cavaillon liegt. Am 23. Juni 1978 schreibt Flusser an Alex Bloch. »Wir wohnen jetzt in einer Van-Gogh-Gegend (10 km von St. Rémy), während Font Chaude in einer Cézanne Gegend liegt (angesichts der Ste. Victoire), und ich merke einen Unterschied im Licht, aber vielleicht der schier endlosen Tage wegen (19 Stunden Licht). – Wir kommen von einer Reise nach Belgien, England und Rheinland (vor allem Brügge, Cambridge und Bonn), und man kann das germanische Licht vom Mittelmeerlicht ganz genau unterscheiden (Memling von Cézanne): Es gibt kein Europa, sondern zum Beispiel die lateinische Aquarellklarheit und die westgermanische (diesseits des Limes liegende) Helldunkelheit. Also etwa Descartes und Bacon oder Sartre und Heidegger.« Flusser, der sich in Briefen aus dieser Zeit an brasilianische Freunde stolz als Mensch der Mittelmeerkultur bestimmt, verwendet nicht nur hier den römischen Limes als symbolische Grenze zwischen dem zivilisierten Westeuropa und dem barbarischen germanischen Osten. Aber davon mehr später.

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R esümee 1972-1976 Eine auf Portugiesisch geschrieben Zusammenfassung der ersten vier in Europa verbrachten Jahre, die Flusser am 14. Juni 1976 in La Font Chaude in Hinblick auf die erste bevorstehende Brasilienreise seit ihrer Rückkehr nach Europa schreibt, zeigt, wie intensiv diese erste Phase nach dem Verlassen Brasiliens verläuft. Zu Beginn auf seine ambivalente Rolle als Rückwanderer anspielend, hält er fest, dass er wegen der verführerischen Kraft, die vom neuen europäischen Betätigungsfeld ausgegangen sei, und der damit verbundenen intellektuellen Herausforderung, beschlossen habe, definitiv in Europa zu bleiben, ohne jedoch je sein Engagement für die brasilianische Kultur ganz aufzugeben. Der dreiseitige dichtgedrängte Text entwirft das Bild eines grenzenlos tätigen, schier unermüdlichen Denkers und Autors. Wie schon bei der Berichterstattung zur Europa- und Amerikareise 1966-67 ist es auch in diesem Fall im Nachhinein schwer, Pläne und Projekte von tatsächlich stattgefundenen Ereignissen deutlich zu trennen. Die Rückwanderung jedenfalls hat sich mehr als ausbezahlt, dies die Botschaft an die brasilianischen Adressaten. Was dieser Text nicht sagt oder vielleicht sogar verbirgt, kommt in den Terminkalendern zum Ausdruck. Dort finden sich in diesen Jahren, besonders in den in Merano verbrachten Wintermonaten wochenlang leere Seiten, auf denen bloß der Name der Ortschaft steht, wo sich Edith und Vilém gerade befinden. 1972 ist charakterisiert durch die Beschäftigung mit der Kommunikationstheorie (Moles, McLuhan, Duvignaud), der Kunstkritik (unter ihnen Pierre Restany, ein Freund Fred Forests und eine zentrale Figur in der Bewegung des 1960 gegründeten Nouveau Réalisme, zu der unter anderem auch Yves Klein gehört) und dem Werk verschiedener Künstler (unter ihnen César, Forest, Bonnier, Rissa sowie Gérald Minkoff und den Lausanner Künstler Jean Otth – die Flusser durch René Berger kennenlernt). In diese Zeit fällt die Entdeckung der Bedeutung des Videobandes für die Kunst und die Kommunikationsformen der Zukunft, welche aufs engste mit seiner Freundschaft zu Fred Forest zusammenhängt. Flusser hält zahlreiche Vorträge – u.a. in Paris, Genf und Lausanne – nimmt an Gesprächsrunden in Frankreich, Holland, Deutschland, der Schweiz und Italien teil und wird ein Mitglied des Institut de l’Environnement du Ministère de la Culture in Paris. 1973 verdichtet sich die Zusammenarbeit mit dem Institut. Flusser lehrt zudem an der Universität von Tours und arbeitet zusammen mit dem Institut de Recherches Sociales in Nizza und der Gruppe »Art sociologique« von Fred Forest, Hervé Fischer und Jean Paul Thenot. Er hält Vorträge in Paris, Aachen und Lausanne. 1974 steht im Zeichen einer Amerikareise. Vom 18. Januar bis zum 8. Februar nimmt Flusser an einer Gesprächsrunde zur Zukunft des Fernsehens am Museum of Modern Art in New York teil, hält Vorträge an der University of Buffalo, der Columbia University in New York und einen Kurs an der Fairleigh Dickinson Universi-

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ty in New Jersey. 1975 unterrichtet er in Aix-en-Provence und gibt Kurse zur Theorie der Gesten am Institut de l’Environnement. In diesem Jahr beginnt die Zusammenarbeit mit Louis Bec und seinem Institut de Recherches Paranaturalistes. In Marseille spricht Flusser an einer Ausstellung internationaler Kunst zur Geste des Malens und am Institut de Recherches Psychologiques über die Geste des Suchens. An einem internationalen Treffen zur Fotografie in Arles hält er einen Vortrag zur Geste des Fotografierens. Damit ist ein weiterer theoretischer Schwerpunkt dieser Jahre genannt: eine Phänomenologie der Gesten. 1976 hält Flusser Vorträge zum Verhältnis von Natur und Kultur und nimmt an einem Kongress zur Idee der Ökomuseen in Le Creuzot teil. Er wird an die Chelsea School of Arts eingeladen und soll Ende Juni an einem Kongress über Bilder in Vallée de la Marne über Video sprechen. Für das Wintersemester 1976-77 sind Kurse an der Fakultät für Architektur und Urbanismus an der Universität Marseilles und der Faculté de Lettres in Nizza vorgesehen. Auch seine Mitarbeit in der Maison de la Culture von Aix und Grenoble soll weitergeführt werden. Hauptinteressen dieser ersten kreativen Phase sind die Strukturen der Kommunikation in der Kunst, den Geisteswissenschaften, den öffentlichen Beziehungen und der Erziehung sowie das phänomenologische Studium von Alltagsgegenständen und Gesten. In den 1970er Jahren entstehen ebenfalls drei längere Vorlesungszyklen, die eine erste Version von Flussers Kommunikationstheorie entwickeln. Diese basiert auf dem Gegensatz von Dialog und Diskurs, umfasst fünf unterschiedliche Kommunikationsstrukturen – Theaterdiskurse, Pyramidendiskurse, Baumdiskurse, Amphitheaterdiskurse, Kreisdialoge und Netzdialoge – sowie die folgenreichen Begriffe Technobild und Technoimagination. Technobilder, wie zum Beispiel die Fotografie und der Film, gehen im Gegensatz zu traditionellen Bildern auf Texte, das heißt Programme, zurück. Dialoge und Diskurse setzen einander voraus. Während Diskurse Informationen bewahren und weitergeben, besteht die wesentliche Funktion der Dialoge darin, neue Informationen zu synthetisieren. Den ersten Kurs Les phénomènes de la communication (Die Phänomene der Kommunikation), von dem es auch eine englische Fassung gibt, hält Flusser vom 6. November 1975 bis zum 26. Februar 1976 am Théâtre du Centre in Aix-en-Provence. Zwischen 1976 und 1977 folgt eine zweite, veränderte, französische und deutsche Version Cours de la théorie de la communication (Vorlesungen zur Kommunikologie) an der École d’Art et d’Architecture der Universität Marseilles-Luminy. Aus diesen beiden frühen Versionen entwickelt Flusser 1977-78 ein längeres Buch auf Deutsch Umbruch der menschlichen Beziehungen?, englisch Mutation of Human Relations? und französisch Mutation dans les relations humaines? Flusser nimmt den Faden dieser Überlegungen in seinen Bochumer Vorlesungen im Herbst 1991 wieder auf und verbindet sie mit den neu hinzu gekommenen Erkenntnissen der 1980er Jahre. Nach seiner

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Rückkehr aus Brasilien hält Flusser vom 18. November 1976 bis zum 28. April 1977 in der Maison de la Culture in Aix-en-Provence insgesamt neunzehn Vorlesungen unter dem Titel Comment notre crise existentielle se manifeste (Wie sich unsere existenzielle Krise manifestiert).

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»[…] den trotzdem [sic!] wir hier schon jahrelang leben, und uns oekonomisch und biologisch festgelegt haben, sind wir hier keineswegs verwurzelt und koennten ebenso in Labrador oder Neuseeland leben. […] jeder Mensch hat schließlich doch manchmal die Notwendigkeit einer echten Heimat, wobei allerdings sofort die Frage entsteht (um aller Sentimentalitaet auszuweichen), in welchem Sinne ueberhaupt schon Prag eine Heimat war, und ob wir hier in Brasilien, nicht heimatlicher sind inmitten eines im Ganzen viel sympathischeren Volks.« […] Vilém Flusser in einem Brief an David Flusser (17. Dezember 1955)

Obwohl Flusser sich schon bald nach seiner Rückkehr nach Europa dazu entschließt, Brasilien den Rücken zu kehren, bleibt er auf vielfältige Art und Weise mit dem Land und dessen Kultur verbunden. Da sind zuerst einmal die noch in Brasilien lebenden Söhne, dann die vielen Freunde und Freundinnen, mit denen er regelmäßig Briefe austauscht und schlussendlich Freunde wie Milton Vargas, der ihn mehrmals in Europa besucht. Hinzu kommen, nach einer dreijährigen Pause, die regelmäßigen mehrwöchigen Reisen, die Vorträge, die zahlreichen Publikationen in Zeitschriften und die beiden Buchpublikationen 1979 und 1983. 1973, wohl auch um mit der zu Ende gegangenen brasilianischen Periode abzurechnen, beginnt Flusser mit der Arbeit an der philosophischen Autobiographie Bodenlos. Einige europäische Freunde melden Zweifel an. Milton Vargas ist vom 1. bis zum 19. August desselben Jahres auf Besuch im Château de Salvert. Er findet das Buch zu einseitig und nicht dialogisch genug. Dies führt dazu, dass Flusser, verunsichert, die Arbeit vorübergehend einstellt. Am 9. November schreibt er Vargas, dass zwei brasilianische Freunde, deren Namen er nicht nennt, ihn auf vernichtende Art und Weise kritisieren und ihn beschuldigen, die Wahrheit verdreht zu haben. Im Dezember desselben Jahres beschließt er jedoch trotz starker Zweifel, mit der Arbeit weiterzufahren.

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M ir a S chendel Im zweiten Teil dieses Buches wurde schon auf Flussers Autobiographie Bodenlos und Mira Schendel hingewiesen. Ich möchte hier noch einmal genauer und detaillierter auf Flussers Verhältnis zu Schendel zurückkommen, weil es auf exemplarische Art und Weise eine ganz spezifische Seite von Flussers Umgang mit der Welt und den Freunden verdeutlicht. Die Dialoge mit Moles, Bonnier und Forest, auf die ich in einem der nächsten Kapitel eingehen werde, zeigen die ganze Bandbreite von Flussers Verhaltensrepertoire. Dieses reicht von leidenschaftlicher Begeisterungsfähigkeit, freundschaftlicher Großzügigkeit und der Bereitschaft zu Dialog und Selbstkritik bis hin zu hartnäckigem Festhalten an den eigenen Positionen, starrköpfigem Ignorieren der Position des Anderen, Vereinnahmen von dessen Gedanken und Rück-Projizieren fremder Kritik auf den Anderen. Flusser hat seiner eigenen Aufforderung zum offenen selbstkritischen Dialog und der rückhaltlosen Anerkennung der Welt des Anderen nur teilweise und nicht immer wirklich Folge geleistet. So beklagt sich Guimarães Rosa zum Beispiel im schon erwähnten Brief des 27. August 1967 darüber, dass Flusser ihm Absichten und intellektuelle Positionen unterstellt, von denen er keine Ahnung hat. Dasselbe gilt für Flussers äußerst eigenwilligen Umgang mit Quellen. Sein Hang, Namen falsch zu verwenden – beispielsweise Rapaport statt Rapoport – und Zitate gekürzt oder unkorrekt, sozusagen aus dem Gedächtnis, wiederzugeben, sind ein symptomatischer Teil dieses eigensinnigen selbstzentrierten Umgangs mit der Welt und den Anderen. Flusser wählt bestimmte Begriffe und Ideen aus dem Werk eines anderen Autors aus und deutet sie so um, dass sie in sein eigenes Denksystem passen. Die herausgelösten, dem ursprünglichen Kontext entfremdeten Bestandteile werden dadurch dem eigenen Denksystem unterworfen. Flusser operiert dabei weitgehend im Sinne der brasilianischen Anthropophagie, einer kritischen und kreativen Form der Appropriation. In einem 1970 verfassten Text über Oswald de Andrade, der 1928 mit seinem Manifesto Atropófago den Begriff kreierte, hebt Flusser hervor, dass es dabei immer um ein Doppeltes geht: um ein Einverleiben und ein Überwinden. Neue Begriffe werden nicht nur verschlungen und verdaut, sondern stillschweigend ins eigene System assimiliert. In diesem Prozess wird das Fremde in Eigenes überführt und diesem angeglichen. Dies führt in der Regel zu Veränderungen und bedingt ein weiteres Wachstum des Flusser’schen Denksystems. Da die Herkunft der einzelnen Bestandteile in der Regel nicht benannt wird, muss der Aneignungsprozess meist im Nachhinein und auf Umwegen rekonstruiert werden. Die Anthropophagie ist ein übersetzendes, transformierendes Verfahren, das sich wie Flussers Denken und Schreiben im Allgemeinen bewusst und provokativ auf kulturellen und diskursiven Grenzen positioniert. Enge disziplinäre Bedenken, die beispielsweise auf ein sauberes Ableiten der Begrif-

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fe pochen, greifen in diesem Zusammenhang zu kurz. Das Irritierende an Flussers spielerischem Denkstil ist dabei zugleich dessen eigentliche Stärke. Flusser verwendet das Denken anderer im Sinne eines Werkzeugkastens und lädt damit implizit dazu ein, mit seinem eigenen Denken ähnlich zu verfahren. Dass es im Prozess dieser Übernahme auch zu Ungenauigkeiten kommen kann, sollte nicht unbedingt als Problem verstanden werden, sondern als Möglichkeit, der Funktionsweise von Flussers Denkprozess näherzukommen.

Abbildung 20: Mira Schendel und Vilém Flusser auf der Terrasse des Hauses in São Paulo (1960er Jahre)

Flussers steter Versuch, die anderen immer wieder und immer wieder neu zu Zeugen der eigenen Existenz und Denkweise zu verpflichten, ob sie dies wollen oder nicht, hat sicher auch mit der Tatsache zu tun, dass er als junger Mensch fast sein gesamtes soziales Umfeld auf einen Schlag verliert. Wegen der Schattenhaftigkeit seiner Existenz als Überlebender braucht er die stete Präsenz der anderen, um sich wirklich am Leben zu fühlen. Man existiert erst dann, wenn man von den anderen wahrgenommen wird und diese unser Dasein bestätigen: Ja, du bist am Leben, du bist nicht tot, wie der Rest deiner Familie. Flusser ruht charaktermäßig nicht in sich selbst, sondern ist süchtig nach den anderen, allen voran Edith, ohne die er völlig hilflos ist. Flussers theoretische Hervorhebung des Dialogs als lebenskonstituierende Praxis könnte damit auch eine kompensatorische Funktion haben, deren Wurzeln in seine tragische Ver-

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gangenheit zurückreichen. Die vollkommene Bodenlosigkeit zwingt ihn, sich aus Versatzstücken eine Ersatzwelt zu bauen. In Das Zwanzigste Jahrhundert wird dies als absurder Versuch eines hilflos im Strom treibenden Menschen beschrieben, sich aus dem vorbeiziehenden Treibholz ein Floss zu zimmern, auf dem er dann den Strömungen trotzen kann. Flusser hat sich wie der Baron von Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen. Aber zurück zu Mira Schendel. Schendel besucht, wie schon festgehalten, regelmäßig die von Flusser an Wochenenden organisierten Treffen auf der Terrasse seines Hauses in São Paulo und lässt sich von seinem Denken für ihr eigenes Werk inspirieren. Sie weiß jedoch von Flussers problematischer Seite. In ihrem unveröffentlichten Tagebuch spricht sie von seiner Überheblichkeit und Arroganz, seinem egozentrischen Gehabe: »Das stolze und eitle Ego eines Flusser«. In einem Brief vom 29. März 1973 kündigt Schendel eine Europareise für Ende Mai an und erkundigt sich, ob man kurzfristig eine Ausstellung ihres Werks organisieren könne. Flusser, der ihr seit seiner Rückkehr nach Europa schon zweimal geschrieben hat, reagiert mit Begeisterung. Im gleichen Jahr schickt er ihr das ihr gewidmete Kapitel aus Bodenlos. In ihrem zweiten undatierten und zugleich letzten, diesmal nur an Edith adressierten Brief reagiert sie distanziert und pikiert auf den Text: »Ich hab das betreffende Kapitel gelesen […] seine Aggressivität ist ein echtes Problem […], mit dem ich nichts zu tun haben will.« Dies hat wohl auch dazu geführt, dass sie 1973 während ihres Aufenthalts in Europa Flusser nicht besucht und auf einen weiteren Briefkontakt verzichtet. In Bodenlos schreibt Flusser Schendel eine Aggressivität zu, die wohl eher für seinen eigenen dominanten Charakter typisch ist: Ein weiteres Beispiel appropriativer Projektion des eigenen Selbst auf die anderen. »Der Dialog, mit ihr verläuft in einer Fiberkurve – sowohl hinsichtlich seiner Intensität als auch seiner emotionalen Ladung. Dieses wilde Ausschwingen der Kurve entspricht Miras Charakter, und tatsächlich war es auch immer sie, und sie allein, die den Verlauf der Dialoge dirigierte. Nicht etwa, als ob sie mich (und alle ihre übrigen Partner) wie Werkzeuge behandeln wollte. Im Gegenteil, sie ist ein offener und einsamer Mensch und sucht echte Gemeinschaft. Aber es ist in ihr eine Unduldsamkeit, eine Art schwelender Fanatismus, welcher gegen ihren Willen und gegen ihr Gefühl dazu führt, daß alle Menschen, die ihr näher kommen, in Gefahr sind, von ihr vergegenständlicht zu werden. Stößt sie auf schwache Menschen, dann kann sie sie vernichten, und zwar wider ihren Willen und zu ihrem eigenen Leidwesen. Stößt sie auf widerstandsfähige, ja widerstandwillige Menschen (und dazu muss ich mich wohl ja rechnen). Dann sprühen Funken. In diesem, sagen wir, ›elektrisierenden‹ Sinn war der Kontakt mit Mira zu Zeiten für mich außerordentlich befruchtend, wenn auch sehr anstrengend und eine Geduld erfordernd, die ich eigentlich nicht habe. […] Kurz, ich bin ihr trotz ihrer Berg- und Talfahrten immer in stetiger Freundschaft verbunden.«

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Flusser versucht im Laufe der 1970er Jahre, mehrmals den Kontakt wiederherzustellen, lädt sie nach Europa ein und verspricht, sie bei der Suche nach Bekanntschaften, die ihr den Zugang zum europäischen Kunstmarkt ermöglichen können, zu unterstützen. In einem Brief an den gemeinsamen brasilianischen Psychoanalytiker, Poet, Sammler und Kunstkritiker Theon Spanudis (1915-1986), der zusammen mit Flusser und dem Physiker Mário Schenberg zum engeren Kreis ihrer Freunde gehört, schreibt sie dezidiert: »Flusser, ich denk nicht einmal daran, ihn zu besuchen.« Sie will sich der Beziehung fernhalten, auch weil es bei Flussers Versöhnungsversuchen letztlich nicht darum geht, ihren Standpunkt zu verstehen und anzuerkennen, sondern sie auf seine eigene Linie einzuschwören. Flusser will den unleugbaren Unterschied zwischen seinem Weltbild und demjenigen Schendels nicht akzeptieren, sondern ihre Welt seinem eigenen Standpunkt unterordnen. Diese Strategie zeigt sich deutlich in den letzten zwei Briefen, die Flusser mit großem Zeitabstand Schendel zukommen lässt. Am 27. September 1974, eineinhalb Jahre nach dem Zerwürfnis, verfasst Flusser einen weiteren längeren Brief, in dem er auf Schendels Vorwurf der Aggressivität eingeht. Er möchte noch einmal versuchen, den Kontakt wiederherzustellen, bemerkt er zu Beginn. Er wolle es nicht zulassen, dass die geographische Distanz ihre Beziehung in Frage stelle. Anstatt sie zu fragen, wie es zu so einer langen Trennung kommen konnte, weicht er aufs Theoretische aus. Der intersubjektive Stil, den er in seiner Autobiographie verwendet habe, so Flusser, verlange eine gewisse Aggressivität. »Wenn ich meinen Dialog mit dir betrachte, so fixiere ich ihn und damit auch dich. Denn fixieren, heisst ›töten‹, einbalsamieren […] und das ist genau das, was du als Aggressivität empfindest. […] wenn ich dich verewigen will, muss ich dich angreifen. […] Es nützt nichts zu sagen, dass ich dir dabei gegenüber keine Aggressivität verspüre […] der intersubjektive Stil ist aggressiv. […] Du hast recht: das ist mein Problem. Aber du hast auch unrecht: es ist auch dein Problem. […] Deshalb hoffe ich, dass du meine Aggressivität mit deiner beantworten wirst. Die beiden Aggressivitäten, (die grundsätzlich stilistisch zu verstehen sind, nicht ethisch, das heisst agonistisch, nicht polemisch), könnten mit Glück und Geschick dazu führen, dass wir uns näher kommen. Liebe Mira, bitte versuche es. (Abraços saudosos) Ich umarme dich voller Sehnsucht.« Zwei Aspekte sind besonders problematisch an Flussers Interpretation. Er geht nicht auf die in Schendels Vorwurf der Aggressivität implizit enthaltenen Kritikpunkte ein. Tatsächlich hat Flusser in seinem Bodenlos Kapitel die künstlerische Welt Schendels als bloßen Beleg seines eigenen Weltbildes verwendet. Flusser verlangt ganz im Gegenteil, dass sie sich seinen eigenen aggressiven und vereinnahmenden Umgang mit der Welt zur Verhaltensregel macht. In seinem letzten Brief vom 16. Dezember 1981 kommt Flusser noch einmal auf ihren misslungenen Dialog zurück. Auch diesmal fehlt die Bereitschaft zur

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Einsicht in die eigenen Verfehlungen: »[…] zwei Faktoren verhinderten, meiner Meinung nach, dass der bedeutungsvolle Dialog, auf den wir beide hintendierten, zwischen uns zustande kommt: die Lebenssituation, in der ich mich befand, und eine gewisse Reserviertheit (um nicht zu sagen ›Scham‹), deinerseits.« In einem Brief an Spanudis vom 22. März 1977 klingt ein weiteres wichtiges verborgenes Motiv an, welches das schwierige Verhältnis zwischen Flusser und Schendel miterklären könnte. Flusser trifft Spanudis während seines ersten Brasilienbesuchs 1976 und beginnt nach seiner Rückkehr einen intensiven Briefaustatsuch, der vom November 1976 bis zum Juni 1977 dauert. »Seltsam, dass Sie in Ihrem Brief jenen Schmitz mit mir vergleichen, von dem Mira schwaermt. (Uebrigens: wie geht es Mira?).« Flusser verweist hier knapp auf theoretische Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Philosophen und Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz (1928-)und erkundigt sich dann ebenso beiläufig nach Schendels Wohlergehen, mit der inzwischen der Kontakt weitgehend abgebrochen ist. Die bewusste Kürze ist ein Signal für die emotionale Bedeutung der beiden Fragen. Schmitz, der die Stelle an Schendels Seite einnimmt, die Flusser gerne besetzt hätte, wird kurzerhand verabschiedet. »Ich habe versucht, eins seiner zahllosen Buecher zu lesen, aber es ist mir leider nicht gelungen. Vielleicht, weil fuer mich die Zeit der Traktate, der langen und breiten Buecher, des epischen Ausfuehrens, der ›Pensée-fleuve‹ vorbei ist. Ich glaube, wir muessen uns mit Essays, mit kurzen und eng gestrafften Artikeln, mit lyrischem Einfuehren, mit ›Gedankenblitzen‹ begnuegen. […] eher Short Story und ›Phaenomenologie des Ruesselspitzenwackelns‹. Allgemeine Theorien sind nicht mehr zu lesen, sondern zum Kotzen. Was halten sie davon? Mein Kontakt mit meinen brasilianischen Freunden ist ins Stocken gekommen.« Tatsächlich lebt Flussers Verhältnis zu Schendel von der Präsenz eines weiteren unerwähnten Dritten und ließe sich in diesem Sinne als spannungsvolle Ménage-à-trois umschreiben, die von einer uneingestandenen possessiven Eifersucht Flussers lebt. Diese dritte Person, die Flusser in einem Essay und einem Brief kurz und in äußerst kritischem Sinne erwähnt, ist der deutsche Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer Jean Gebser (1905-1973), den Schendel 1968 in der Schweiz besucht und mit dem sie auch Briefe austauscht. Zudem liest und diskutiert sie 1969 dessen Hauptwerk Ursprung und Gegenwart zusammen mit Flusser. Gebsers spiritueller und philosophischer Zentralbegriff der Diaphanität spielt eine wesentliche Rolle in verschiedenen Werken Schendels, unter anderem auch in denen, die Flusser in Bodenlos diskutiert. Dort aber wird Gebser nicht erwähnt und sein vielschichtiger Begriff der Diaphanität rationalisierend auf die bloße Fähigkeit des menschlichen Blicks, die Oberfläche der Dinge zu durchbrechen, reduziert. Die sowohl für Gebser wie auch für Schendel fundamentale christliche Komponente wird dabei kurzerhand eskamotiert.

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Für Gebser und Schendel ist die Diaphanität ein begnadeter privilegierter Moment intellektueller und spiritueller Einsicht, in dem die Welt ihren geheimen Zusammenhang und tieferen Sinn offenbart. Für Flusser hingegen, der jedem Mystizismus grundlegend misstraut, kann die Transparenz der Dinge nur deren letztliche Bedeutungslosigkeit enthüllen. »Wir stehen inmitten durchsichtiger Strukturen«, schreibt er in Bodenlos, »durch die wir zwar nicht ›nichts‹ sehen, aber unendliche Reihen durchsichtiger Strukturen – und dies in alle Richtungen, auch nach innen. Wir sind auch für uns selbst durchsichtig geworden.« Für Gebser und Schendel ermöglicht die Diaphanität eine neue integrale Vision der Welt und der Geschichte, die den Menschen mit sich und Gott versöhnt. Für Flusser hingegen enthüllt sie die Bodenlosigkeit der menschlichen Existenz. Diese deutet er konsequent im Sinne der eigenen Biographie als Holocaust-Überlebender als Ausgangspunkt einer völlig neuen Vision der Welt, als Moment der absoluten Freiheit, die dem Menschen eine neue, diesmal ganz und gar selbst entworfene und erschaffene Welt zugänglich macht. Flusser deutet Schendels Werk als Überwindung der Bedeutungslosigkeit und Antizipation einer neuen emportauchenden Einbildungskraft, die er in den 1980er Jahren den computergenerierten Technobildern zuschreiben wird. Flussers Strategie besteht einerseits darin, die theoretische und wohl auch emotionale Beziehung zwischen Gebser und Schendel zu ignorieren und die Spuren dieses Verhältnisses in ihrem Werk zu tilgen. Gleichzeitig unterwirft er ihr Werk seinen eigenen philosophischen Kategorien und setzt dadurch Schendel als Zeugin seiner eigenen bodenlosen Existenz ein. Eine Liebeserklärung der besonderen Art.

B r asilienreisen Zwischen 1976 und 1989 reisen Edith und Vilém Flusser insgesamt vierzehnmal nach Brasilien. Dies verdeutlicht die enge Beziehung, die sie mit dem Land und den dort lebenden Menschen verbindet. Die erste Brasilienreise vom 6. Juli bis zum 4. Oktober 1976 findet vier Jahre nach der Rückkehr statt. In einem Brief vom 24. Juni 1976 an Moles begründet Flusser die Reise mit dem Bedürfnis, die zurückgebliebenen Kinder zu besuchen. Am 15. Juli, nach einer Woche, schreibt Flusser aus São Paulo, einen höchst ambivalenten Brief an Louis und dessen Frau Dany Bec. Edith und Vilém fühlen sich verwirrt und ermüdet. Sie wohnen in einem kleinen Haus, das voll von den Büchern, Möbeln und Kunstwerken aus ihrem früheren Haus ist und bald abgerissen werden soll. Dieses steht mitten in einer riesigen Baustelle, umgeben von drei sich im Bau befindenden Hochhäusern. Eine normale Situation in einer diabolischen Stadt wie São Paulo. »Unsere Freunde umgeben uns, unsere Kinder überschütten uns mit Liebe und Zärtlichkeiten […]. Sehen Sie den Paradox?«

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Flusser nimmt hier einen Widerspruch auf, den er auch seinem Buch Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen zugrunde gelegt hat. Die brasilianische Natur ist eine Stiefmutter, ein tückischer Feind, der es verlangt, dass man ihm gegenüber alle seine Kräfte anspannt. Dies führt dazu, dass dem Brasilianer keine Kräfte mehr übrig bleiben, um sich gegen den Menschen zu mobilisieren. Flusser dehnt diesen radikalen Widerspruch in seinem Brief auch auf das Verhältnis zur Gesellschaft aus: Die Liebeswürdigkeit und Großzügigkeit der Menschen steht in krassem Verhältnis zur allgemeinen Zerrüttung der sozialen Situation. »Der Drang, sich in brasilianische Dinge einzumischen«, fährt er fort, »meldet sich in meinem Gewissen, aber glücklicherweise sind die Umstände immer noch amorph und starr wie früher, so dass mir die Nutzlosigkeit jeder Form von Anstrengung meinerseits bewusst wird.« Im Brief schwingt aber auch so etwas wie ein Gefühl der Enttäuschung und Kränkung mit. Hat man ihn schon vergessen? Die Zeitungen ignorieren seine Anwesenheit, aber alle versichern ihm, dass man ihn bald interviewen werde. Alle sind interessiert, aber niemand unternimmt etwas. Allein das Goethe-Institut hat ihm einen Kurs für die Zeit seines Aufenthalts angeboten. Flusser will sobald wie möglich nach Frankreich zurückkehren, in die neue Wahlheimat. »Nichts hat sich verändert, oder besser: alles hat sich verändert, damit alles gleich bleibt. Deshalb denke ich an Chalons, Marseilles und Aix, wenn ich schreibe. Im Grunde genommen gehöre ich zu euch, aufgrund der Natur der Dinge und nicht nur wegen des Wunsches und der gefassten Entschlüsse, seid ihr, die Europäer, (und insbesondere ihr, meine europäischen Freunde), mein eigentliches Gegenüber. Das ist die Lektion, die ich bisher auf unserer brasilianischen Reise gelernt habe.« Ganz anders, überschwänglich diesmal, klingt es in einem Brief an Fred Forest, der drei Monate später am 15. Oktober 1976 kurz nach der Rückkehr aus Brasilien entsteht. Flusser spricht von einem sehr aktiven und emotional bewegenden Sommer. »Man wollte uns nicht mehr ziehen lassen, man wollte uns re-absorbieren. Meine Professur an der FAAP habe ich immer noch, und ich könnte hier tun und lassen, was ich will, und Geld in Hülle und Fülle machen [sic!]. In den wenigen Wochen unseres Aufenthaltes hier habe ich dutzende von Vorträgen gehalten (davon viele Stunden im Fernsehen) […] Wir sind schweren Herzens abgereist.« Kritische Worte fehlen nicht: »[…] es ist aber doch ziemlich trist. Es gibt kein eigentliches kulturelles Leben mehr und das Elend ist fast unerträglich geworden.« Die höchst widersprüchlichen Eindrücke der beiden Briefe dokumentieren die tiefe gefühlsbetonte Beziehung, die Flusser immer noch mit dem Land verbindet, und erklären, warum er mit Edith in der Folge immer wieder nach Brasilien reisen wird. Sie zeugen darüber hinaus von Flussers eigener emotionaler Anfälligkeit und seinem Hang zu einem oft ungezügelten Wunschdenken, das an Hochstapelei grenzt.

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Ein Jahr später sind sie erneut in Brasilien, diesmal vom 1. Juli bis zum 19. September. In einem weiteren Brief an Bec vom 30. Juli 1977 berichtet Flusser von der Luft- und Lärmverschmutzung. Die Paulistaner seien alle wie Becs Sulfanograde, das heißt im Schwefel lebende Kreaturen. Das Haus an der Rua Salvador Mendonça soll verkauft werden, um mit dem Erlös ein Haus in Frankreich zu kaufen, am besten auf der rechten Seite der Rhone, weil es dort in der Regel billiger sei. Flusser beklagt sich über die schleichenden Folgen der Militärdiktatur. Vom 2. bis zum 4. August hält er am Goethe-Institut von São Paulo drei Vorträge: »Imagination und Technoimagination«, »Imagination und Konzeption« sowie »Modelle«. Er fühlt sich aber weniger motiviert als noch vor einem Jahr. Sie sehen deutlich weniger Leute: »[…] sind wir wieder zu Europäern geworden?« 1979 reisen Edith und Vilém, nach einem kurzen Aufenthalt in London, über Boston und New York nach São Paulo. Diesmal bleiben sie vom 28. Juni bis zum 22. September. Flusser hält an verschiedenen Universitäten Vorträge. In einem Gespräch mit dem Kultur- und Filmkritiker José Carlos Ismael, das während seines Aufenthalts in São Paulo stattfindet und in Zwiegespräche veröffentlicht wurde, verweist Flusser auf Symptome von Antisemitismus und beschreibt eine wachsende Distanz zu seinen Freunden in Brasilien: »Die Gebiete meiner Interessen neigen sukzessive dazu, sich von den Interessen meiner Freunde zu distanzieren; sie werden exzentrisch. Mit jeder Rückkehr werden meine sentimentalen Bindungen an Brasilien schmerzlicher. Die Art und Weise, wie meine Freunde die unmittelbaren Probleme, die sie angehen, zerreden, läßt mich verzweifeln, weil das auf eine unerträgliche Entfremdung hinweist. In dieser Hinsicht ist jede Rückkehr schmerzlicher als die vorangegangene.« 1980 wird Flusser nach Brasilien eigeladen, um als Beirat an den Vorbereitungen der XVI. Biennale teilzunehmen. Sie bleiben vom 11. August bis zum 12. September. Flusser hält zahlreiche Vorträge, unter anderem auch in Porto Alegre. 1981 nimmt Flusser an der XVI. Biennale von São Paulo teil, die vom 16. Oktober bis zum 20. Dezember stattfindet. Auf dieser Reise, die vom 29. Oktober bis zum 21. November dauert, verbringen sie auch zwei Nächte in Montevideo. Die Biennale sei eine Schande, schreibt er Bec am 30. Oktober, so schlecht sei sie bisher noch nie gewesen. Er entschuldigt sich dafür, ihn dazu eingeladen zu haben. »Man hat Ihre Arbeit überhaupt nicht verstanden, ich würde am liebsten aus Schande im Boden versinken.«

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Abbildung 21: Besuch in São Paulo (1980er Jahre)

Nach seiner Rückkehr nach Europa publiziert Flusser zwar nicht mehr in den großen Zeitungen von São Paulo, verschiedene Essays erscheinen aber weiterhin in Zeitschriften, besonders nach 1976. Seine Arbeiten werden in Artes, Arte em São Paulo (11 Beiträge zwischen 1983 und 1987), Cavalo Azul, Especial, der Fotografie-Zeitschrift Iris (insgesamt 13 Beiträge), Inter-Facies und Pau Brasil publiziert. Vor dem Hintergrund dieser intensiven publizistischen Zusammenarbeit mit den brasilianischen Medien sind auch die beiden von Milton Vargas eingeleiteten Buchpublikationen Natural:mente (1979) und Pós-História: Vinte istantâneos e um modo de usar (Nachgeschichte: zwanzig Schnappschüsse und eine Gebrauchsanweisung) (1983) zu sehen, die beide bei dem Verlag Duas Cidades in São Paulo erscheinen. Letzteres erscheint fast zeitgleich mit Für eine Philosophie der Fotografie, artikuliert aber im Gegensatz zu diesem eine äußerst kritische, um nicht zu sagen apokalyptisch resignative Grundhaltung. Flusser untersucht darin die Gegenwartssituation anhand einer Reihe von unterschiedlichen Perspektiven: Arbeit, Wissen, Gesundheit, Wohnung, Kleidung, Spiel, Zerstreuung, Rausch, Schule. Im Mittelpunkt steht dabei die Fest-

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stellung, dass »unser Dasein in der Welt programmiert ist, daß die Welt selbst programmiert ist […]. Wir beobachten immer deutlicher, wie das Verhalten des einzelnen und der Gesellschaft von verschiedenen Apparaten programmiert wird. […] Die Apparate funktionieren immer unabhängiger von den ›Motiven‹ und immer mehr in Funktion ihrer Programme. Diese Programme werden immer öfter von zum Programmieren programmierten Apparaten entworfen. […] Die menschlichen Programmatoren sind immer häufiger selbst programmiert worden, um zu programmieren.« Nach 1981 folgen noch neun weitere Brasilienreisen: 26. Juli-29. August 1982 (vor der Rückkehr nach Europa verbringen sie drei Tage in Montevideo), 6. August-13. September 1983, 16. November-12. Dezember 1984, 21. September-27. Oktober 1985, 18. Juli-16. August 1986, 18. Februar-11. März 1987 (auf Einladung von Milton Vargas). 1988 sind sie gleich zweimal in Brasilien: vom 7. bis zum 17. Februar und vom 5. bis zum 19. August. 1989 sind sie vom 15. bis zum 26. August in São Paulo. 1983 hält Flusser drei Vorträge (22. August, 29. August, 5. September) an der Ibero-Amerikanischen Fakultät und nimmt vom 3. bis 7. September an einer Konferenz der Brasilianischen Gesellschaft für interdisziplinäre Kommunikationsforschung teil. In einem Brief vom 13. November 1983 an Moles schreibt Flusser stolz vom durchschlagenden Erfolg seines Buches über die Nachgeschichte, das im Zentrum der Diskussionen an der Universität und dem Kunstmuseum an der Avenida Paulista stand. Die neuen Richtlinien, die der Internationale Währungsfonds Brasilien aufgezwungen habe, seien katastrophal. Um zu überleben, müsse man vier bis fünf Jobs nachgehen. Das soziale Leben löse sich zwar auf, aber die Jugend sei für den theoretischen Dialog offen. »[…] eben aus dem Irrenhaus in Rio nach S. Paulo angekommen«, schreibt er am 28. November 1984 an den deutschen Freund und Fotografen Andreas Müller-Pohle. »Es ging in Rio angeblich um ein Film- und Videofestival, tatsaechlich aber um ein gegenseitig sich Ausstellen von Schauspielern, Regisseuren und vor allem nackten schoenen Maedchen. Das Ganze in einem kitschigen Luxushotel, das von schwer bewaffneter Polizei umzingelt war, um die wieder sich ein Kreis von Elend gruppierte. […] Jetzt versuche ich, mit einiger Schwierigkeit, Atem zu fassen, (bei beinahe 100° Luftfeuchtigkeit), und meine Papiere zu ordnen.« Während dieses Aufenthalts wird er auf der Avenida Paulista überfallen, weil sein Goldkettchen sichtbar wird.

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Abbildung 22: Besuch in São Paulo (1980er Jahre)

1987 nimmt Flusser am 2. Lateinamerikanischen Seminar zu Alternativen für die Lehre der Wissenschaftsgeschichte und Technologie (24. bis 26. Februar) teil, die von der Sociedade Brasileira de História da Ciencia mit der Mithilfe Milton Vargas’ veranstaltet wird. Unter den Vortragenden ist auch der Schweizer Grafikdesigner Karl Gerstner. Von 1987 bis 1989 ist er zudem konzeptueller Berater des interdisziplinären Kulturprojekts A Casa da Cor in São Paulo, zu dem Biochemiker, Philosophen, Architekten, Informatiker und Künstler eingeladen wurden, um das Gebiet der Farbe von unterschiedlichen Standpunkten aus zu untersuchen. In diesem Zusammenhang findet ein weiteres Interview mit der brasilianischen Zeitschrift Superinteressante statt, das in Zwiegespräche nachzulesen ist. Sprachen, so Flusser, sind ungeeignet, die Welt zu beschreiben. Diese müsste man mathematisch erfassen. »Das Problem der Zahlen ist, daß sie nicht direkt der Welt angepaßt sind. In der Welt berühren die Punkte einander, wogegen es in numerischen Codes Intervalle zwischen den Zahlen gibt.« Wenn man Farben als Code verwendet, lässt sich dieses Problem überwinden. »Wenn man zum Beispiel von Blau zu Grün gelangen möchte, wird man eine Unzahl von Zwischenstationen durchqueren und dadurch zu einer ganz exakten Ausdrucksmöglichkeit kommen. […] Infolge der großen Flexibilität des Farbuniversums könnten wir mittels eines Codes die feinsten Nuancen des Denkens und Fühlens besser ausdrücken als durch die Sprache. Obwohl die Worte sehr nuanciert sind, erreichen sie die Feinheit der Farbe nicht. Es gibt vieles, das mit diesen Farben und nicht mit Worten gesagt werden kann.«

Israel und das Judentum

»[…] the thing that bothered me most was my failure as a Jew. I therefore decided […] to try and write a ›Jewish book‹. One in which I could expose the problem of being born Jewish, wanting to overcome this, and discovering that to do so you must first fully assume your Jewish condition […] it is far too general to say that I am Jewish: I have almost nothing in common with say an orthodox Galician Jew from a Shtetl […]. It is much more honest to say that I was born a Prague Jew.« Vilém Flusser in einem Brief an Lewis Weiner (5. Januar 1990)

Besonders aufschlussreich für ein Verständnis des sich verschiebenden Verhältnisses zu Brasilien ist die parallel dazu stattfindende Um- und Neudeutung des Judentums. In verschiedenen Briefen hat Flusser die beiden Länder aufeinander bezogen. Edith und Vilém unternehmen zwei Reisen nach Israel: 1980 sind sie für einen Monat (28. April bis 22. Mai) und 1991 für eine knappe Woche (23. bis 27. September) dort.

D ie erste I sr aelreise 1980 Die erste 1973 geplante Israelreise kommt wegen des Jom-Kippur-Krieges nicht zustande. Dieser beginnt am 6. Oktober mit einem koordinierten Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens auf dem Sinai und den Golanhöhen, die sechs Jahre zuvor von Israel im Zuge des Sechstagekrieges erobert worden sind. In einem Brief vom 7. Oktober an David Flusser, den Flusser im Hotel La Mainaz schreibt, kontrastiert er seine momentane Lage mit den Ereignissen im Nahen Osten. Einmal mehr ist Flusser ein Zeuge aus der Ferne. »[…] wir waren schon dabei, in Genf unsere Karten nach Israel zu kaufen, und dir die Flugnummer zu telegraphieren, als die Feindseligkeiten ausbrachen […]. Die Nachricht […] traf mich […] in einem Hotel, das den Genfersee ueberblickt und Frieden ausstrahlt. Ich bin in juedischen Dingen unbewandert, nehme aber an, dass Yom Kippur-Samstag eine Art Sabbath der Sabbathe darstellt,

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also eine doppelte Oeffnung der Transzendenz, dem messianischen Frieden gegenueber.« In einem weiteren Brief an David Flusser vom 14. März desselben Jahres spricht Flusser von seinen Vorbehalten dem Judenstaate gegenüber. Er möchte nicht als Tourist kommen und fürchtet, dass er sich bei seinem Besuch entweder dafür oder dagegen engagieren wird. »Man kann nicht Tourist dort sein, wo das irdische Jerusalem, (oder zumindest Gerusalemme liberata), stehen sollte.« Flusser ist als junger Mensch Zionist, aber sein Zionismus zerbricht, als er 1939 ins Exil getrieben wird. Später wird er den Zionismus explizit verwerfen, weil dieser einer der Grundideen des Judentums widerspricht: Die jüdische Identität ist unvereinbar mit dem Begriff der Nationalität. Durch die Gründung Israels 1948 ist der Zionismus gestorben, weil er sein Ziel erreicht hat und sich dadurch zugleich sein Ziel als unerreichbar erwiesen hat. Flusser verdrängt das Judenproblem Jahrzehnte hindurch weitgehend, wenn auch nicht ganz. Einerseits, weil sich in Brasilien ganz andere Probleme in den Vordergrund drängen, und andererseits, weil ihn seine Bodenlosigkeit auf Umwegen in die Nähe der katholischen Mystik führt. Es ist nun gerade die Rückkehr nach Europa und die Freundschaft zu Moles, die ihm einen neuen Zugang zum Judentum ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem die Begriffe des Rituals und des Spiels, die auch im Zusammenhang mit Flussers um diese Zeit entstehende Gestentheorie eine wesentliche Rolle spielen. Diese neue Vorstellung einer Ästhetik des Rituals macht es aber zugleich unmöglich, dass er ein orthodoxer Jude wird. Dazu fehlt ihm der Glaube und die Praxis der Orthodoxie stößt ihn letztlich ab. Jude sein, so weiter Flusser, bestehe vor allem darin, ganz für den anderen da zu sein. Diese säkularisierende Übertragung des unbedingten Glaubens an ein transzendentes Prinzip auf ein rein immanentes Prinzip zwischenmenschlicher Liebe bestimmt insgesamt Flussers Umdeutung der jüdisch-christlichen Tradition. In dieser ist es gerade die Liebe Gottes für den Menschen, die das eigentliche Modell für alle anderen Formen der Liebe abgibt. Die Beziehung des Gläubigen zu Gott ist konstitutiv für dessen in der Welt sein. Flussers Umdeutung ermöglicht eine Religiosität ohne Gott, die sich ganz im zwischenmenschlichen Bereich abspielt. Der Verlust des Glaubens und die daraus resultierende Unfähigkeit zu beten, die wohl auf Flussers radikale Erfahrung der Bodenlosigkeit zurückgehen, sind unwiderruflich. So schreibt er auch im Brief vom 7. Oktober 1973 an David Flusser, er fürchte angesichts des Krieges um ihn und dessen Angehörige und versuche, soweit er fähig sei, in diese Richtung zu beten. Flusser hat Mitte der 1950er Jahre in Das Zwanzigste Jahrhundert noch die Notwendigkeit einer Rückkehr zum Glauben gefordert. Seine Hinwendung zu Mystikern wie Meister Eckhart, Johann vom Kreuz und Angelus Silesius gehören in diesen Zusammenhang. Der später eingetretene Bruch kann nicht gekittet werden. In

Israel und das Judentum

»Auf der Suche nach Bedeutung« hält er in Bezug auf diesen Übergang fest: »Zu dieser Zeit lernte ich unter großen Schmerzen, daß man den Glauben nicht erzwingen kann, und daß, wenn Gott gestorben ist, er endgültig gestorben ist.« Im Brief an David Flusser vom März 1973 bestimmt Flusser das Wesen des israelischen Staates als ein Widerspruch. Jude sein bedeute zwar, sich ganz dem anderen zuzuwenden, »aber die Wirklichkeit des Judentums, (und nicht zum wenigsten des Judenstaates, der ja vom Judentum nur schwer zu trennen ist), erscheint mir eher als Verschlossenheit und als ein Sich-selbst-Behaupten. […] die juedische Wirklichkeit widerspricht dem Bild, das ich mir vom Judentum mache.« Ganz anders klingt es nach Ediths und Viléms erster Israelreise im Frühjahr 1980. In den vier Wochen, die sie dort verbringen, hält Flusser Vorträge zur Philosophie der Fotografie an der Universität in Tel Aviv und zur Geste des Schreibens bei der Van Leer Foundation in Jerusalem, die ihn nach Israel eingeladen hat. Wie auch auf ihren anderen Reisen besichtigen sie daneben systematisch die Sehenswürdigkeiten. Sie sehen in Jerusalem unter anderem die Altstadt, die Klagemauer und das Historische Museum. Am Sonntag, dem vierten Mai fahren sie für den Rest ihrer Reise nach Rehovot, eine Stadt, die ungefähr 20 km südlich von Tel Aviv und 50 km nordwestlich von Jerusalem liegt. Dort wohnen sie im amerikanisch-israelischen Weizmann Institute of Science, ein multidisziplinäres Institut für naturwissenschaftliche Forschung und Ausbildung, das 1934 vom Chemiker und späteren israelischen Präsidenten Chaim Weizmann gegründet wird. Es gibt eine aufschlussreiche Verbindung zwischen dem Institut und Flussers Werk, die über Prag und den Golem verläuft. Am 17. Juni 1965 hält Gershom Scholem dort eine Rede zur Einweihung eines neuen Großrechners, der auf Scholems Vorschlag hin den Namen ›Golem I‹ hätte tragen sollen. Schon der Titel des Vortrages »Der Golem von Prag und der Golem von Rehovot« kündigt einen, für Flussers eigene Vorgehensweise typischen, historischen, geographischen und philosophischen Brückenschlag zwischen der mystischen Lehmfigur aus den Händen Rabbi Löws an, so wie sie in der kabbalistischen Legende aus dem frühen 17. Jahrhundert überliefert wird, und der Realität kybernetisch gesteuerter Apparate im noch jungen Staat Israel der frühen 60er Jahre. Es geht um das auch für Flusser zentrale Verhältnis von Magie und Mathematik, Mythos und Moderne sowie um die technische Implementierung messianischen Heilversprechens und die damit einhergehenden Ambivalenzen technologischen Fortschrittsdenkens. Von Rehovot aus unternehmen Edith und Vilém kurze Ausflüge in naheliegende Kibbuzim, ans Meer, nach Tel Aviv und Jerusalem. Der Terminkalender für das Jahr 1980 enthält ein Eintrittsticket für das innovative Nahum Goldmann Diaspora Museum, das 1978 eröffnet wird und sich auf dem Campus der

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Universität Tel Aviv in Ramat Aviv befindet. Flusser hat in seinen Terminkalender nie ein Museumsticket oder einen anderen Beleg auf bewahrt, was darauf schließen lässt, dass der Besuch von Bedeutung gewesen sein muss. Die Israelreise bestätigt ein Muster, dem wir schon zuvor bei Ediths und Viléms Reisen begegnet sind und das ihr gemeinsames Reisen insgesamt prägt: Sie ziehen es vor, sich aus den großen Touristenzentren in kleinere ruhigere, verkehrstechnisch aber günstig gelegene Orte zurückzuziehen, von denen aus sie dann bequem und in kurzer Zeit an die wichtigen Punkte gelangen können. Dies gilt für ihre verschiedenen Wohnorte in Europa, aber auch für die meisten Reiseziele. Beispiele dafür sind das Hotel La Mainaz, von dem aus man den Genfersee überblickt, oder das direkt am Tyrrhenischen Meer gelegene Hotel Approdo in Terracina südlich von Rom, in dem sie mehrmals unterkommen. Ende Mai verschickt Flusser aus London, wo sie vorübergehend in der Wohnung ihrer Tochter wohnen, einige äußerst persönliche und selbstkritische Briefe an Menschen, die er während seiner Reise in Israel getroffen hat, zuerst einmal an den Direktor des Weizmann-Instituts Dr. S. Freier. Ihr Aufenthalt, schreibt er diesem, sei »ein epochaler Einschnitt« in ihrem Leben gewesen und habe ein »Erdbeben« in ihm hervorgerufen, dessen wahre Bedeutung er erst mit der Zeit richtig verstehen werde (Brief vom 24. Mai 1980). Zwei weitere Briefe verfasst er am folgenden Tag. »Haette das Schicksal es nur ein wenig anders gewollt«, schreibt er Vera Jakubovic einer früheren Freundin aus Prag, die im Kibbutz Sde Nehemia im Nordosten des Landes lebt, »wir selbst waeren Kibbutznici geworden.« An Erich Zemànek und dessen Frau, die sie in Jerusalem besucht haben, schreibt er, die Begegnung habe sie beide zutiefst erschüttert. Ihr Leben in Israel sei eine Antwort auf die Frage, ob man nach Auschwitz leben könne. »Man koennte statt ›Israel‹ auch ›Menschenwuerde‹ sagen.« Am 26. Mai verfasst Flusser einen weiteren Brief an Chava Goldstein und deren Mann im Kibbuz Haogen, das ungefähr 70 Kilometer nördlich von Rehovot liegt. Eva und Putzo, wie Flusser sie liebevoll nennt, sind wie Vera Jakubovic frühere Freunde aus der Prager Zeit. Sie sind dem »Ideal treu geblieben«, obwohl sie den Glauben daran verloren haben. Sie stellen eine Form des politischen und sozialen Engagements dar, das Flusser zutiefst herausfordert und beschämt. In seinem Brief versucht er daher, den Freunden und sich selbst seine Motive klarzumachen. »Ich bin ueberzeugt, dass das zentrale Ereignis unseres Lebens nicht Auschwitz war, sondern die Enttaeuschung am Marxismus. Auschwitz ist einfach unverdaulich […]. Aber die Moskauer Prozesse, der Pakt Hitler-Stalin, das Gulag-Archipel, die chinesische Gegenrevolution, die boat-people, die kubanischen Fluechtlinge, und die Enttaueschung mit den Kibbutzim: das muss doch geistig und existenziell verarbeitet werden koennen?« Flusser bezeichnet den Marxismus als den einzigen zur Verfügung stehenden Humanismus und stellt sich die Frage, wie ein Marxist überhaupt zu

Israel und das Judentum

einem Antisemiten werden könne. Er deutet sowohl die Flucht aus Prag, als auch die Rückkehr nach Europa als eine Folge seiner Desillusion mit dem Marxismus. Der daraus resultierende Verzicht auf Engagement hat einen bitteren Beigeschmack hinterlassen und ein schlechtes Gewissen. »Ich moechte, dass ihr uns […] offen sagt, was ihr ueber uns denkt: ob ihr uns verachtet, bemitleidet, oder ob die Art, wie wir zu leben versuchen, billigt. Ich weiss, dass diese Aufforderung unverschaemt ist. Ich weiss auch nicht, ob die Edith einverstanden ist mit dem, was ich da schreibe.« Auch Alex Bloch berichtet er am 10. Juni 1980 ausführlich von den Eindrücken aus seiner Israelreise. Er könne das Erlebte nicht verdauen, ohne vorher ihm davon erzählt zu haben. In Israel sind ihnen Menschen begegnet, die wie sie aus der Tschechoslowakei vor den Nazi-Schergen geflüchtet sind, aber anstatt nach Brasilien zu reisen, in Israel gelandet sind. Es sind den Gaskammern Entkommene, die versucht haben, ihrem Leben trotz allem einen neuen Sinn zu verleihen, um »gemeinsam ein menschenwürdiges Dasein zu leben. Die meisten haben keine Illusionen: Sie glauben nicht an die Zukunft. Auch haben sie keine wirtschaftlichen Motive: Sie leben armselig, wenn auch nicht im Elend, essen schlecht, wohnen mies, ziehen sich schofel [schäbig] an, sind im Vergleich zu uns heruntergekommen. Hingegen haben sie, auch im Vergleich zu uns, ein außerordentlich volles Leben. Eine dramatische Intensität füllt die Atmosphäre: Diskussionen, Feiern, Tänze, Vorstellungen, Experimente in Erziehung, Verwaltung, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft sind überall gegenwärtig. Sie können das in New York, wenn auch auf andere Weise, erleben: Auch New York ist irgendwie jüdisch. Dort aber ist alles klein, bescheiden und vom Niedergang und Zerstörung täglich gefährdet. Wären wir, statt nach dem brasilianischen Nichts, in das israelische Alles-oder-Nichts ausgewandert, dies wäre unser Leben gewesen.« Flusser ist tief betroffen von dieser nicht gelebten Möglichkeit, die er als ein immer wieder aufgeschobenes Erlebnis beschreibt. Er verweist auf seine Zweifel dem Judenstaat und dem Kibbuz-Experiment gegenüber. Er glaube nicht, dass es ein gültiges Modell des Gemeinschaftslebens sei, viele Juden seien ihm darüber hinaus so fremd wie brasilianische Landbewohner. Was ihn jedoch erschüttert habe, sei eine ihm bis dahin unbekannte Religiosität und die unpathetische Bereitschaft, sein Leben für ein transzendentes Ziel hinzugeben. Morgens beginnt das Radio mit einem Gebet, das Gott als Beschützer und Erhalter der Welt bezeichnet. »Ich habe nirgends eine derartige politische, soziale und existentielle Freiheit erlebt wie dort.« Bloch als unverbesserlicher Skeptiker möge darüber lachen. Im folgenden Brief an Bloch, den Flusser am 7. März 1981 in Robion verfasst, kommt er nochmals auf die Israelreise zurück, diesmal im Zusammenhang mit seinem letzten Brasilienaufenthalt. Wie schon im vorhergehenden Brief scheint Israel als mögliches, aber nicht wahrgenommenes alternatives Aus-

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wanderungsziel zu Brasilien auf, was dazu führt, dass Flusser das Lebensklima der beiden Länder miteinander vergleicht. »S. Paulo war niederschmetternd. Dieselben uferlosen Diskussionen (ebenso wild, aber weit verantwortungsloser als in Israel), dieselbe von der Inflation zerfressene Aufgedunsenheit, dieselbe verblendete Alienation wie bei den vorangegangenen Besuchen.« Ganz anders Israel: »Eine Gesellschaft, die beinahe ausnahmslos in einem totalen Engagement lebt. Die Atmosphäre ist elektrisch geladen, und wilde Diskussionen über alle erdenklichen Themen sind allgegenwärtig.« Im Gegensatz zu Brasilien seien in Israel die Menschen dazu bereit, mit dem Einsatz ihres Lebens für ihre Überzeugungen einzustehen. Der Hintergrund dieser allgegenwärtigen dialogischen Auseinandersetzung sei nicht die unterdrückte Masse Brasiliens, sondern »ein brodelndes Meer von Todfeinden.« Edith und Vilém verlassen das Land mit einem ambivalenten Schuldgefühl Verwandten und Freunden gegenüber, die sie das Gefühl haben, im Stich zu lassen, eine Empfindung, die mit dem früheren Schuldgefühl nach dem Verlassen von Prag 1939 verwandt ist.

J ude sein Flussers Beschäftigung mit dem Judentum ist trotz seiner eigenen späteren Behauptung, als Jude vollkommen versagt zu haben, eigentlich über die Jahre hinweg kontinuierlich. So sind zum Beispiel zwei Briefe aus der Mitte der 1950er Jahre an den Rabbiner Pinkuss in São Paulo erhalten. Darin bittet Flusser Pinkuss um genauere Informationen zur jüdischen Religion und bestimmt die religiöse Frage als den Versuch, mit dem Tod zurechtzukommen. In einem weiteren Brief aus den frühen 1960er Jahren schreibt er ihm: »[…] gestern hörte ich Ihre Predigt. […] was mich beeindruckte, war Ihr Kriterium fuer das Judesein: eine Marke tragen, die zwar passiv erlitten wurde, aber dann aktiv angenommen wurde. […] der Jude [ist] zugleich Umwaelzer und Erhalter des Okzidents, und das ist sein ›Auserwaehltsein‹, seine Tragik, (um nicht zu sagen Tragikomik).« Was aber, so weiter Flusser, sei die gegenwärtige Rolle des Juden? Zum Beispiel seine Rolle in der brasilianischen Militärdiktatur? Ebenfalls im Archiv erhalten sind verschiedene Briefe an den Onkel Karel, der Ende der 1950er Jahre noch in Prag lebt. Diesem schreibt Flusser am 30. September 1958 einen längeren Antwortbrief, in dem er sich über seine schmerzhafte Trennung von Herkunftsland und Familie beklagt. Er verfasst die Briefe auf Deutsch, fällt ihm doch der Gebrauch des Tschechischen nach all den Jahren der Trennung sehr schwer. Flussers späteres unumwundenes Lob der Bodenlosigkeit wird hier noch von einem starken Gefühl der Heimatlosigkeit durchkreuzt, das typisch für die ersten brasilianischen Jahre ist. Die Kinder, so Flusser an den Onkel, seien ganz von allen Traditionen abgeschnit-

Israel und das Judentum

ten und hätten deswegen kein Gefühl für die eigene Geschichte. Er komme sich daher vor, als gehöre er zu einer letzten, einer verlorenen Generation. Karel sei für ihn das einzige Verbindungsglied zur Vergangenheit. »Zum Teil ist es auch Ediths und meine Schuld, wir haben in Prag zu wenig Wert auf Tradition gelegt und koennen uns an beinahe niemanden und nichts erinnern. Auch dem Boden der Religion sind die Kinder (unserer Schuld wegen) vollkommen entwachsen. Andererseits sind sie […] keine echten Brasilianer.« Obwohl die Korrespondenz mit Karel Flusser sich vor allem um Flussers Erbe in der Tschechoslowakei dreht – das heißt die dort zurückgelassenen Liegenschaften –, berichtet darin Flusser auch über die Kinder. Dinah, die damals 16 Jahre alt ist, sei »ein huebsches und liebes Maedel«, der 14-jährige Mischa besuche die Tertia und spiele »ueberdurchschnittlich Schach« und Viki gehe in den Kindergarten und sei wie alle Kinder seines Alters »sehr herzig« (undatierter Brief). Flusser freut sich darüber, dass sich wenigstens ein Teil der Familie vor der Naziverfolgung retten konnte und nun eng beisammen lebt. Er würde sehr gerne nach Israel reisen, dies ist aber aus finanziellen Gründen leider nicht möglich. Flusser spricht vom »alten Geist […] der Flussers« und vom Versuch, »den Kindern etwas von diesem Geist zu vermitteln« (28. Oktober 1961). Am 17. Dezember 1955 schreibt er in diesem Sinne an David Flusser: »Es wird vielleicht doch einmal moeglich, dass die neue Generation der Flussers zusammenkommt und, sei es in unserer Gegenwart oder nicht, an die entfernten fast mythologischen Wurzeln in Rakonitz zurueckdenkt.« Vor und nach der ersten Israelreise (Briefe vom 8. Februar und 24. Mai 1980) schreibt Flusser seinem Cousin Otto (Ota) Flusser – dem Sohn Karel Flussers, der inzwischen verstorben ist – und dessen Frau Schoschana. Es sei die erste »Fuehlungnahme nach beinahe zwei Generationen von Unterbrechung.« Sie wollen ein »geistiges, sentimentales und existenzielles Erleben der ›Wurzeln‹« erfahren, die Familie wiederentdecken und das Judentum auskosten. Ota und seine Frau seien Pioniere und hätten Grenzsituationen im Sinne Jaspers’ durchlebt, schreibt er ihnen nach der Rückkehr aus London. Im Frühjahr 1982 reisen Dinah und Victor zu Besuch nach Jerusalem. »Die Kinder haben sich bei Euch sehr wohl gefuehlt, und ich glaube, dass Ihr dem Viki neue Ausblicke eroeffnet habt« (Brief vom 3. Mai 1982). Flussers Beschäftigung mit dem Judentum ist nicht nur persönlicher und familiärer, sondern auch theoretischer Art. So veröffentlicht er im April 1963 den ersten von insgesamt sechs Artikeln in der Crónica Israelita, die von der Congregacão Israelita Paulista, der jüdischen Kultgemeinde in São Paulo herausgegeben wird. Der letzte Beitrag »Como filosofar enquanto judeu Brasileiro« erscheint sechs Jahre später. Flusser berichtet vom Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien, von linguistischen Problemen der brasilianischen Juden, vom Judentum als Quelle

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der westlichen Kultur und einer Form des Anti-Heidentums sowie von der Bedeutung des Rituals in der jüdischen Religion. Nach einer längeren Pause publiziert Flusser in den frühen 1980er Jahren in der brasilianischen Zeitschrift Shalom, besonders nach seiner Rückkehr von der ersten Israelreise, eine weitere Reihe von Essays zum Jude-Sein. Zwischen dem Februar 1980 und dem Juli 1984 erscheinen insgesamt 21 Beiträge, unter anderem auch der inzwischen ins Portugiesische übersetzte Essay »Pilpul«, der Flusser im Herbst 1981 als Grundlage für einen Vortrag in São Paulo und Montevideo dient und der später auch auf Deutsch veröffentlicht wird. Dabei geht es erneut um die Bedeutung des jüdischen Rituals, die Modellhaftigkeit jüdischer Existenz, die Idee des Zionismus und die enge Verbindung zwischen dem Judentum und dem Mittelmeerraum, aber auch um Themen aus der Aktualität: den Sieg der französischen Sozialisten und dessen Folgen für die Juden, der UNO-Beschluss 5/2, der Israel als eine nicht friedensliebende Nation bestimmen will und der palästinensische Terroranschlag vom 3. Oktober 1980 auf die Synagoge an der Rue Copernic 24 in Paris, bei dem 4 Menschen sterben und 46 weitere verletzt werden. Flusser wählt dazu einen ironischen Titel: »A contra-revolução copernicana« (Die Kopernikanische Konterrevolution). Flussers durch Martin Buber inspirierte Umdeutung der jüdischen Religion ist der Versuch, eine auf Nächstenliebe basierende Form der Religiosität zu erstellen, eine ganz und gar diesseitige Vision der Welt, bei der uns Gott allein im Gesicht des anderen begegnet. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, bedeutet für Flusser, durch die Anerkennung des anderen zu sich selbst zu kommen. Die einzige Art Gott zu lieben, besteht darin, den anderen zu lieben. Dadurch ist eine Religion ohne Gott und ohne Glauben an eine Transzendenz möglich. Dies entspricht Flussers eigener Haltung, derjenigen eines Menschen, der den Glauben irgendwann verloren hat, aber dennoch auf diesen nicht ganz verzichten will. Wichtig ist dabei auch der Begriff des Rituals, den Flusser im Sinne eines Lebensmodells deutet. In Jude sein sieht Flusser die kulturelle Aufgabe der Juden im Vorschlagen von Modellen, nach denen man zu leben hätte. So könnte man Edmund Husserls Phänomenologie als ein Modell wissenschaftlicher Forschung betrachten. In dieser spezifisch jüdischen Forderung, nach Modellen zu leben, sieht Flusser einen Grund für den Antisemitismus. »Für diejenigen, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehen, [sind] die Juden, die nach Modellen […] leben, unerträglich.« Auf weitere Dimensionen in Flussers Haltung zum Judentum und zum eigenen Jude-Sein verweist Felix Philipp Ingold. Durch sein Buch Dostojewskij und das Judentum (1981) habe er sich vermehrt mit Vilém über jüdische Themen unterhalten. Dieser habe zwar auf jegliche Apologie verzichtet, sei aber stolz auf seine jüdische Herkunft gewesen. Flusser befürchtet – und zu Recht, wie die Ereignisse der letzten Jahre zur Genüge beweisen –, es könne jederzeit zu einem Revival des Antisemitismus kommen. Er erzählt Ingold, er habe

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einen Auftrag, in New York eine Ausstellung zur Kulturleistung des Judentums im 20. Jahrhundert zu kuratieren, mit der Begründung abgelehnt, eine solche Schau würde den jüdischen Vorrang in der modernen westlichen Kultur auf so eklatante Weise dokumentieren, dass Nicht-Juden unweigerlich dagegen aufbegehren und von einer intellektuellen und künstlerischen Weltherrschaft des Judentums sprechen würden. Hintergründige Selbstironie und grenzenlose Selbstüberschätzung bis hin zur Hochstapelei gehören zur Psychologie der Marginalisierten und Verfolgten. Man findet sie auch in der Gay Community und unter Afroamerikanern. Flussers schillernde, widersprüchliche Persönlichkeit, seine leidenschaftliche Getriebenheit, sein Hang zur theatralischen Selbstinszenierung und zum großspurigen autoritären Auftritt muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. In den letzten Jahren intensiviert sich Flussers Beschäftigung mit dem Judentum. So schreibt er am 17. Juni 1989 an David Flusser. »Je aelter ich werde, desto juedischer, aber nicht ueber den Glauben, sondern ueber Benjamin, Levinas, Husserl usw. Ist das auch Glauben?«

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Auseinandersetzungen

»Ihr Vorwurf, ich sei ›rechthaberisch‹. […] Sollten Sie recht haben, dann waere allerdings mein Denken senil und verfallen. […] Ich hoffe aber, dass Sie sich irren […]. Erstens beharre ich nicht auf meinen Meinungen, weil ich keine festen besitze, sondern immer an mir zweifle. Allerdings auch an allen anderen. Zweitens streite ich gern, eben weil ich meine Meinungen immer pruefen will, und bereit bin, sie aufzugeben. Drittens bin ich immer auf der Suche nach neuen Partnern, eben um neue Gegenargumente gegen mich zu finden. Viertens aendere ich tatsaechlich meine Meinung in fast allen Hinsichten sehr oft und gruendlich. Worin Sie allerdings recht haben, ist, dass ich meine augenblickliche Meinung vehement zu verteidigen versuche. Aber diese Versuche sind Teil des geschilderten allgemeinen Bildes.« Vilém Flusser in einem undatierten Brief an Rudolf Drucker

A br aham M oles und E lisabe th R ohmer -M oles Abraham André Moles, der im selben Jahr wie Flusser geboren ist, und knapp sechs Monate nach diesem stirbt, spielt vor allem in den ersten Jahren nach Flussers Rückkehr nach Europa eine zentrale Rolle als Freund und Diskussionspartner. Der Briefaustausch umspannt fast zwanzig Jahre und reicht bis in die frühen 1990er Jahre. Moles promoviert in Physik und Philosophie und ist Dozent an der 1955 durch Inge Scholl und Otl Aicher in der Nachfolge des Bauhauses gegründeten Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG), wo auch Max Bense tätig ist, und ab 1966 an der Universität in Straßburg. Er erfindet zusammen mit Jacques Poullin das Morphophone, eine der ersten elektronischen Echokammern und schreibt ein Vorwort für Claude Elwood Shannons und Warren Weavers A Mathematical Theory of Communication. Zur Zeit der Studentenproteste 1968 wird Moles von einer Gruppe situationistischer Studenten, die seinen Kurs unterbrechen wollen, mit Tomaten beworfen. Im schon erwähnten Interview, das Flusser 1980 in São Paulo gibt, bezeichnet er Moles als den intimsten Freund nach seiner Rückkehr nach Europa. »Er ist engagierter Jude und hat mich zum Judentum zurückgeführt.«

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In verschiedener Hinsicht ist sein Werk mit demjenigen Flussers vernetzt. Zusammen mit Max Bense erarbeitet er eine Informationsästhetik, die Flusser nachhaltig beeinflusst. Er führt ein kybernetisches Kommunikationsmodell in die Geisteswissenschaften ein und arbeitet wie Flusser auf der Grenze der Diskurse. Moles leistet einen wesentlichen Beitrag zum Begriff des Kitsches, zu dem auch Flusser publiziert. 1971 veröffentlicht er Art et ordinateur (Kunst und Computer), welches Claude Elwood Shannons Informationstheorie in die Ästhetik überträgt. Dabei inspirieren ihn auch die Arbeiten des internationalen Autorenkreises Oulipo. 1972 veröffentlicht Moles Théorie des objets, das Flusser liest und mit ihm diskutiert. Dieses Buch spielt eine wichtige Rolle für Flussers erste französische Buchpublikation La force du quotidien. Moles bestimmt die Kommunikationstheorie als eine Metatheorie, die Geistes- und Naturwissenschaften umfasst und einen globalen Zugang zur Wirklichkeit ermöglicht. Auch darin ist er mit Flusser verwandt. Ingold berichtet, dass Moles der einzige Gegenwartsautor sei, über den Flusser sich vorbehaltlos anerkennend äußerte. Edith und Vilém Flusser besuchen Moles und dessen Frau Elisabeth Rohmer-Moles zuerst in Paris und dann in Straßburg, wohin diese in den frühen 1970er Jahren ziehen. Diese wiederum besuchen Edith und Vilém in Merano und später in Robion. Sie verbringen gemeinsame Ferien. Es ist eine sehr enge intensive Freundschaft, bei der es nicht nur um Vilém Flusser und Abraham Moles geht, sondern um alle vier Beteiligten. Erste Briefe werden schon im Herbst 1970 ausgetauscht. Zu Beginn schreibt Flusser noch auf Englisch, dann tendenziell auf Französisch, zwischendurch aber immer wieder auf Englisch und in seltenen Fällen sogar auf Deutsch, besonders, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die starke intellektuelle und emotionale Bindung, welche die beiden passionierten Denker miteinander verbindet, kommt in einer Erzählung Fred Forests zum Ausdruck. Edith und Vilém sind bei Moles und dessen Frau zu Gast. Das Essen, ein gekochter Fisch, steht auf dem Tisch und wird langsam kalt. Flusser und Moles diskutieren heftig und völlig unbeirrt weiter und entwickeln, ausgehend von dem aufgetischten Fisch, eine Kommunikationstheorie. Edith ruft nachdrücklich zu Tisch. Erfolglos. Dann liegt Moles plötzlich am Boden und Flusser stellt triumphierend in Siegerpose seinen Fuß auf ihn. Freundschaft als (spielerischer?) Kampf. Zugleich verdeutlicht die Anekdote eine problematische geschlechtsspezifische Dimension: die Männer diskutieren angeregt, während die Frauen warten. In einem Brief an Elisabeth Rohmer-Moles vom 9. April 1975 schreibt Flusser: »Abraham ist ein zugleich polymorpher und starker Mensch, was zu einer schwindelerregenden Anziehung führt, die einen zu verschlingen droht. Wenn man ihr aber widersteht, kann dies zu einer aussergewöhnlichen gegenseitigen Befruchtung führen«, die mit derjenigen Goethes und Schillers ver-

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gleichbar ist. »I hope we shall renew our exciting discussions«, schreibt ihm Flusser am 26. Januar 1973 aus Merano und am 23. Januar 1980: »It is a pleasure to disagree with you, especially if it is a profound disagreement […] It is a pleasure, because your mind is so keen that I sharpen mine while trying to fight you.« Dass die Auseinandersetzungen manchmal auch recht heftig sein können, entnimmt man einem Brief vom 10. April 1973, den Flusser aus den gemeinsamen Ferien auf der Insel Elba an Milton Vargas schreibt. Er spricht von einer »discussão violenta«, einer stürmischen Diskussion mit Moles über eine allgemeine Theorie der Wahrnehmung. Am 6. August 1973 schlägt Moles Flusser ein Treffen mit dem französisch-jüdischen Schriftsteller ukrainischer Abstammung Georges Levitte (1918-1999) in Paris vor. Damit erfüllt er ihm einen lang gehegten Wunsch. Mit feiner Ironie fügt er hinzu: Ich glaube, dass er Ihren Besuch erwartet. Sie könnten zusammen essen gehen und dabei versuchen, einander nicht allzu oft gegenseitig das Wort abzuschneiden, denn Sie sind beide genauso schwatzhaft und brillant. Flusser schreibt einen längeren Essay über Moles’ Werk, der Ende 1973 in der Zeitschrift Communication et langages unter dem programmatischen Titel »La communication: une philosophie nouvelle?« erscheint. Er geht darin von einem grundlegenden Widerspruch in Moles’ Werk aus. Dieses auferlegt sich sehr strenge formale Grenze, was dazu führt, dass dessen eigentliche Originalität nicht in den behandelten Themen, sondern in der Vorgehensweise zum Ausdruck kommt. Man erkennt in Flussers Beschreibung einmal mehr Aspekte, die für sein eigenes Werk und Vorgehen zentral sind. Moles’ phänomenologischer Ansatz ist unmethodisch und unsystematisch. Er ist kein Spezialist. Alles wird ihm zum Thema. Der lebendige Mensch und dessen Lebenswelt stehen im Zentrum seines Interesses. Jede Form des Akademismus ist ihm daher fremd. Sein Werk ist in ein Klima des steten Staunens getaucht, das an die Renaissance und die Vorsokratiker gemahnt. Die Dinge sind nicht hierarchisierbar. In Moles’ Universum werden die Dinge, die uns bedingen, dann wichtig, wenn sie den Menschen unmittelbar etwas angehen. Je wichtiger die Dinge für uns sind, desto näher stehen sie uns. Dies gilt auch für die anderen Menschen. Bedeutung ist somit anhand eines räumlichen Kriteriums quantifizierbar. Wie die auf uns einwirkenden Dinge fließt auch die Zeit nicht in die Zukunft, sondern kommt auf uns zu. In diesem auf den Menschen und seine Beziehungen zu anderen Menschen hin zentrierten Universum sind wir die Autoren unserer Welt. Flusser interpretiert Moles’ Ansatz in einem existentiellen Sinne als Ausdruck einer »atmosphère post-kafkaïenne«, die durch das System und den Apparat bestimmt wird. »Das fundamentale Problem meiner Existenz in der Welt ist die Suche nach einem würdevollen Leben innerhalb des Systems. Das ist genau das Problem, das Kafka aufgeworfen hat. Und [Moles’] neue Form der Wissenschaft ist in einem gewissen Sinne

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ein Versuch, auf die verzweifelten Fragen Kafkas zu antworten.« Die Welt ist ein System der Mediation zwischen mir und den anderen und die Kommunikationstheorie ist die Wissenschaft, die alle anderen möglichen Theorien umfasst. »Moles bestimmt […] die jüdisch-christliche Religion als eine ganz auf den anderen Menschen ausgerichtete Tradition. […] In diesem Sinne ist Moles eigentlich viel revolutionärer als diejenigen, die vorgeben, sich politisch für die Revolution zu engagieren.« Die wohl intensivste Zeit der Freundschaft zwischen Flusser und Moles sind die Jahre zwischen 1972 und 1976. Danach nimmt die Häufigkeit der ausgetauschten Briefe ab. Manchmal liegen längere Perioden dazwischen, in denen man sich nicht besucht oder spricht. Noch 1979 jedoch überlegen sich Edith und Vilém vor dem definitiven Verlassen von La Font Chaude, ob sie nicht vorübergehend zu Abraham und Elisabeth ziehen sollen. Mitte Dezember 1981 schickt Flusser Moles eine ihm gewidmete französische Übersetzung von »Pilpul«, einer der Schlüsseltexte zu Flussers Werk und zu seinem spezifischen Verhältnis zur jüdischen Tradition. Moles und Flusser verbindet auch ihre gemeinsame jüdische Herkunft. Die kämpferische Denkmethode des Pilpul besteht darin, ein zentrales Thema zu umzingeln, zu belagern und von allen möglichen Seiten aus anzugreifen. Diese einzelnen Positionen greifen nicht nur das zu kommentierende Zentrum an, sondern auch einander. »Diese Methode«, schreibt Flusser im Begleitbrief, »kenne ich gut, es ist meine eigene. Es ist die Art und Weise, wie ich denke. Ich finde sie bei Freud, Marx, Husserl und bei meinem Freund Moles. Es ist die Dynamik des talmudischen Denkens, ein Tanz um ein beliebiges Thema herum, auf das man zugeht und von dem man sich wieder entfernt. Ein Tanz, bei dem man stets mit dem Denken der anderen zusammenstößt. Durch das Absurde hindurch auf das Unsagbare zu, von Hiob bis Kafka.« In einem weiteren Brief vom 6. März 1985 an den Freund und Lektor Volker Rapsch schreibt er zu seiner späten Entdeckung des Pilpul. »Ich wusste lange nicht, dass der Talmud, (ungelesen), in mir spukt, und jetzt werd ich die (Lebens) geister nicht mehr los, die ich gerufen habe. Was dabei wichtig ist: wenn man derart um das Phaenomen herumtanzt, zerbroeckeln die Vorurteile, und das ›vor‹ sowie das ›ur‹ fallen ab: es bleiben nur die Teile. Und dann geht’s darum, die Teile zu komputieren. Nicht um Mitteilung […], sondern um Teilmittung. Der alte Brod, (auf dessen Knien ich Lutschbonbons schluckte), nennt dies das Wagnis der Mitte, aber unter ›Wagnis‹ ist eher das Wiegen einer Wage als eines Wagens zu verstehen. Von wegen wiegen und wagen: meint denn der Laotsu [sic!] mit Tao nicht auch so was?« In den folgenden Jahren, vor allem aufgrund von Flussers durchschlagendem Erfolg in Deutschland, wird ihre Freundschaft hart auf die Probe gestellt. In einem Brief vom 13. November 1983 aus Robion stellt Flusser zu Anfang fest, dass sie sich sehr lange nicht mehr schreiben und Moles’ letzter Brief noch

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nach Peypin-d’Aigues adressiert ist, das sie vor Jahren verlassen haben. Er ist nach einer Podiumsdiskussion in der Hamburger Hochschule für bildende Künste über Hannover nach Bielefeld gereist. Man hat sein neuestes Buch Für eine Philosophie der Fotografie heftig diskutiert und ihn zum Mitglied des Zentrums für interdisziplinäre Forschung ernannt. Es war ein höchst ambivalentes Ereignis, schreibt er Moles, alle diese übertriebenen Ehren, in der Nähe von Bergen-Belsen, dem er einen Besuch abstattet. Die Gegenüberstellung von Erfolg und Trauer ist bezeichnend. Ein Brief, den er am Tag zuvor an Alex Bloch geschrieben hat, bringt diese schwierige Situation auf den Punkt und fügt dem Ganzen noch eine weitere Dimension hinzu: »Mein Buch ›Fotophilosophie‹ ist in Hamburg an der Kunsthochschule so durchgesprochen worden, als ob es ein Klassiker wäre. In Bielefeld las ich an der Fakultät für Geisteswissenschaften […] und der Dekan (G. Jäger) hielt meinen Vortrag für ein historisches Ereignis. Die Akademie für interdisziplinäre Studien in Hannover hat mich für den Goethepreis vorgeschlagen. Im Zug nach Paris konnte ich nicht schlafen, bis ich draußen eine Stimme ›attention au depart‹ sagen hörte. Dann bin ich wieder Mensch geworden. Trotzdem (man ist unglaublich) habe ich mich in Deutschland königlich unterhalten und die Leute sind mir aufgeschlossen und gescheit vorgekommen. Ich sagte überall, ganz ohne Grund, daß ich Jude bin, bis ich merkte, daß mir das ›nützte‹. Man war noch freundlicher zu mir. Dann habe ich den Mund gehalten.« Fünf Jahre später kommt es zu einem heftigen Streit, von dem sich die Beziehung zwischen den vier Beteiligten nie wieder ganz erholen wird. In einem Brief vom 29. Januar 1988 schreibt Flusser, dass der ursprünglich als Einführungstext zum Vampyroteuthis infernalis geplante Essay von Moles nun in der grünen linksgerichteten deutschen Zeitschrift kultuRRevolution publiziert werde. Als Reaktion auf Moles’ Klage, seine Arbeit sei dem Vergessen anheimgegeben, schreibt Flusser dezidiert: »According to the Talmud, we are responsible for the immortality of others, by keeping them in our memory. Be assured you are ›immortal‹, in my memory, and in everything I am transmitting in the memory of others.« Am 30. April schreibt er ihm erneut, diesmal auf Französisch: »Vous me manquez intellectuellement, mais aussi sentimentalement« (Sie fehlen mir intellektuell, aber auch gefühlsmäßig). Er fragt, ob er den Text »Urbanität und Intellektualität«, der als Antwort auf einen früheren Text Moles’ entstanden ist und im Fischer Verlag erscheinen wird, ihm widmen soll. Er würde ihn auch gerne zitieren, aber er liebe das Zitieren nicht. »[…] ich mag Zitate nicht. Darin bin ich Kant treu, der von Göttingen sagte: ›die Stadt der zitierenden Wiederkäuer‹«. Daraufhin schreibt Elisabeth am 3. Mai einen mehrseitigen, maschinengeschriebenen Brief, den ersten dieser Art. Moles ist in der Zwischenzeit in Mexiko, was aber nicht der eigentliche Grund dafür ist, dass seine Frau die

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Aufgabe übernimmt. Als Freund, schreibt sie, hätte er sich eindeutig mehr um Moles’ Texte kümmern müssen, zum Beispiel durch eine Vermittlung an den renommierten Fischer Verlag. Es wiederhole sich hier, was schon beim Vorwort zu Vampyroteuthis infernalis passiert sei. Flusser habe den Text damals bestellt und gutgeheißen, sich aber nicht genügend dafür eingesetzt, damit er auch wirklich ins Buch aufgenommen würde. Stattdessen erscheine er nun in einer zweitrangigen Zeitschrift. Als Freund sollte man den anderen nicht glauben lassen, dass man etwas für ihn tun könne. Moles leide sehr unter seinen Publikationsschwierigkeiten, vor allem in Deutschland. Flusser hätte die Hindernisse aus dem Weg räumen können. Sie wisse, dass Flusser gegen das Zitieren sei, aber Moles habe es lieber, zitiert zu werden, als ignoriert zu werden, besonders im deutschen Kulturraum. »Ich weiß, dass Sie ein sentimentaler Mensch sind und diesen Brief nicht lieben werden«, beendet sie den Brief, »aber ich musste ihn unbedingt schreiben.« Flusser schreibt postwendend zurück. »[…] ich schreibe deutsch, um mich besser auszudruecken […]. Ihr Brief […] kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.« Er merkt an, dass er keinen Einfluss auf den Fischer Verlag habe. »[…] wenn ich Abraham zitiere, dann muss ich weitere Autoren zitieren, und damit die Widmung an Abraham verwischen.« Er habe mit verschiedenen Leuten über das Vorwort gesprochen und alle seien der Meinung gewesen, dass es sein Buch reduziere. »Das kann ich mir nicht leisten.« Er habe sich wegen Moles auch mit dem Verleger von Artforum zerstritten. Ingold und eine Gruppe um Lyotard, Baudrillard und Virilio hätten ebenfalls eine Zusammenarbeit mit ihm ausgeschlagen. »[…] die Leute, mit denen ich ueber Fotos rede, sind nicht fuer Abrahams Sicht, und jene, die ihm folgen, sprechen nicht mit mir darueber. […] Ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden, dass das Verschweigen seiner Arbeit skandaloes ist. Er ist einer der wichtigsten Denker. […] es ist ein Bruch in seinen Texten zwischen der Intention und dem Wortlaut, (und das ist im Deutschen und Englischen noch staerker als in den Originalen). Die Intention richtet sich ans Existenzielle, und der Wortlaut ans Akademische, und er sitzt zwischen zwei Stuehlen. Den Akademikern ist er nicht wissenschaftlich genug, und den anderen ist er zu wissenschaftlich. Das ganze ist ein kolossales Missverstaendnis, das ich mich ueberall bemuehe, aufzuklaeren.« Bei Flussers Beschreibung kommt man nicht umhin, an bestimmte Kritiken seines Werks zu denken, die genau diese Zwischenposition monieren. »Freundschaft ist eine seltene und wertvolle Sache. Im Fall Abraham noch dazu eine ausserordentlich bereichernde. Aber ich habe nicht das Gefuehl, man muesse sie ›verdienen‹. Sobald man beginnt, sich zu rechtfertigen, (wie ich dies in diesem Brief getan habe), kommt sie ins Wackeln.« Bei einer Freundschaft sollte man sich daher nicht gegenseitig Dinge in Rechnung stellen. »Abraham wie ich werden alt, und sollten etwas abgeklaert sein.« Flusser drängt auf ein baldiges Treffen, da man die Sache nicht so liegen lassen könne.

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Am nächsten Tag, dem 7. Mai, nach einem aufregenden Telefongespräch mit Elisabeth, schreibt Flusser einen zweiten Brief, diesmal an Moles. Zu Beginn des Briefes, vielleicht um die Spannung zu entschärfen und Moles vorzuführen, wie wichtig er ihm als Gesprächspartner ist, vergleicht Flusser ihre Freundschaft mit dem Dialog von Hiob und Ulysses im letzten Szenario – »Atempause« – von Angenommen. Er geht nicht weiter auf Elisabeths Vorwürfe ein, sondern schreibt über Themen, die sie verbinden, Kitsch, Lateinamerika, das neue Lumpenproletariat, den Ekel und fordert Moles auf, dazu Stellung zu nehmen. Er weiß, dass sie von Anfang an sehr oft nicht gleicher Meinung waren, er weiß aber auch, dass sie die gleiche Grundeinstellung teilen. »In Ihren Texten sagen Sie, was ich fuer gefaehrlich […] halte. Aber als Mensch sind Sie, in Ihrer Noblesse und Reinheit, ein Prototyp dessen, was ich einen ›Philosophen‹ nenne.« Zwei Wochen später folgt Moles’ Brief, der von tiefer Kränkung und Enttäuschung zeugt, zugleich aber vieles verschweigt, das mit seinen eigenen verlegerischen Misserfolgen und Flussers zunehmender Berühmtheit zu tun hat. Er unterstützt Elisabeths Vorgehen ganz und gar. Sie habe genau das ausgedrückt, was ihn an ihrer Freundschaft störe, was er aber wohl nie selbst gesagt hätte. Haben Elisabeth und Abraham Moles ihr Vorgehen zuvor diskutiert und den richtigen Zeitpunkt abgewartet? Flussers Verhalten, seine mangelhafte Loyalität, schreibt Moles, stellt ihre langjährige Freundschaft grundsätzlich in Frage. Er will wissen, aus welchen Gründen Ingold und all die anderen ihn abgelehnt haben. Wie konnte Flusser sich nur dem Einfluss der anderen beugen und sein Vorwort zu Vampyroteuthis infernalis nicht in das Buch aufnehmen? Moles wundert sich darüber, kennt er doch Flusser als starke Persönlichkeit. Die Frage stellt sich hier: Hat Flusser opportunistisch gehandelt und dabei nur seine persönlichen Interessen verfolgt? Der Schluss von Moles’ Brief wiederum klingt versöhnlich. »Ich weiß, dass Sie einen leidenschaftlichen und grosszügigen Charakter haben und davon ausgehen, dass sich mit der Zeit die Probleme von selbst lösen werden.« In dieser Angelegenheit, fügt er hinzu, gehe es jedoch nicht nur um ihr Verhältnis, sondern auch um Elisabeths Meinung. In einem Brief vom 5. Juni schlägt Flusser vor, dass man sich alle in Straßburg oder bei dem in der Nähe lebenden Sohn Victor trifft. Flusser möchte sich nicht mehr schriftlich über den Streit äußern. Dennoch folgt eine längere Reflexion über Freundschaft im Allgemeinen und im Besonderen. Abraham und Elisabeth, so Flusser, werfen ihm vor, ein schlechter Freund zu sein. Es folgt ein erstaunlicher Satz. »Sie haben sicher Ihre guten Gründe für das, was Sie tun, aber ich habe keine Ahnung davon.« Flusser weigert sich somit, auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einzugehen. Oder ist es ein Mangel an Empathie? Stattdessen erwähnt er die langjährige Freundschaft mit Alex Bloch, die im selben Jahr in die Brüche gegangen ist. Auch dieses spannungsvolle Verhältnis beruht auf der Tatsache, dass die beiden Gesprächspartner in

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vielen Dinge unterschiedlicher Meinung sind, oft heftig aneinander geraten, aber dennoch oder gerade deswegen miteinander verbunden bleiben. »[…] man konnte mit dem Bloch nichts mehr machen«, hält Edith im schon erwähnten Interview mit Anke Finger vom 30. Januar 2007 fest. »Mein Mann hat natürlich mit ihm gestritten, gerauft, geschrien, das haben sie beide, aber er war immer da, immer bei uns.« Es gibt aber noch weitere Parallelen, auf die Flusser nicht eingeht. Bloch und Flusser haben höchstwahrscheinlich ihre Freundschaft beendet, weil Bloch Flussers Erfolg in Deutschland nicht akzeptieren wollte oder konnte. Und es ist genau dieser wunde Punkt, der letztlich auch im Streit mit Moles den Ausschlag gibt. Dieses Moment kommt besonders deutlich in einem Brief zum Ausdruck, den Moles zwei Jahre später am 7. September 1990 schreibt. Dort kommt er wieder auf seine Enttäuschung wegen der verpassten Publikationschance in Deutschland zu sprechen, und dies obwohl er in einem früheren, sehr versöhnlichen Brief aus Mexiko, sich bei Flusser überschwänglich dafür bedankt, das Vorwort zu Vampyroteuthis infernalis in einer exzellenten deutschen Übersetzung in über flusser aufgenommen zu haben. Wohl als Zeichen der Versöhnung hatte Flusser auf das Titelblatt einen Verweis auf Moles’ Text anbringen lassen. »Damit, dass Sie diesen Text wieder in das Spiel der Sie betreffenden Essays aufgenommen haben«, schreibt dieser, »haben Sie die Bresche in der Freundschaft wieder zugeschüttet.« Es sei inakzeptabel, schreibt er aber nun ein paar Wochen später, dass Flusser keine wirkliche Dankbarkeit für seinen durchschlagenden Erfolg in Deutschland auf bringen könne, sondern sich ganz im Gegenteil immer wieder kritisch, wenn nicht gar abschätzig über das Land äußere. Er könne diese Hassliebe verstehen, aber nicht entschuldigen. Damit spricht Moles ein Motiv an, dass die letzten zehn Jahre von Flussers Leben entscheidend mitprägt. Der späte, lang erwartete Erfolg und Durchbruch findet weder in Brasilien noch in Frankreich statt, sondern gerade in dem Land, das seine Familie vernichtet und ihn als junger Mensch ins Exil getrieben hat. Ein schmerzhafter Widerspruch, dessen Flusser sich nur allzu bewusst ist. Vielleicht hat er gerade deshalb seinen Wohnsitz im französischen Robion gewählt. Dadurch kann er sich jeweils von den seelischen Qualen seines ambivalenten Erfolges jenseits des Limes erholen, im Land der horizontalen Barbaren, wie er sie in seinem ersten Buch, Das Zwanzigste Jahrhundert, nennt. Im schon erwähnten Brief vom 5. Juni geht Flusser auch auf seine »sehr intime« Freundschaft zu Miguel Reale ein, der ihn zur Zeit der Militärdiktatur beschützt und sich deswegen wahrscheinlich auch einige Probleme eingehandelt hat. Er hat dessen Memoiren erhalten, darin aber selbst keine relevante Spur hinterlassen. Er zitiere ihn zwar, erwähne aber nirgends seine zentrale Idee eines epochalen Überganges von einer linearen Schrift-Kultur zu einer null-dimensionalen Kultur synthetischer Bilder. »Das ist ein Beweis für mich,

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dass Reale und ich nie Freunde waren.« Gemäß dieser doch sehr engen Definition, die vielleicht aus einem Gefühl des gekränkten Stolzes hervorgeht, wäre Freundschaft die Fähigkeit, das Wesentliche am anderen wahrzunehmen. »Vielleicht bin ich bloss durcheinander. Ich möchte eigentlich Folgendes sagen: Ihre ›forma mentis‹, (Ihre Gedanken, Ihr Verhalten, Ihre Gegenwart in der Welt), ist ein Teil von mir. Ich bekämpfe sie in mir selbst. Ich will mich nicht von dieser Dimension, die zugleich meine geworden ist, trennen. Das hat nichts mit ›Dankbarkeit‹ oder Verpflichtung zu tun, es ist eine Seinsfrage.« Die letzten Briefe machen deutlich, wie sehr der Erfolg Flussers in Deutschland die Freundschaft grundsätzlich verändert hat. Dies lässt sich auch an dem Auseinanderdriften der jeweiligen Argumentation ablesen, die symptomatisch ist für die reale Distanz zwischen ihnen. Moles fragt sich, ob man einen – das heißt Viléms – intellektuellen Erfolg als eine Katastrophe betrachten solle. Er hoffe, dass das Schicksal Flusser freundlich gesinnt sei, und sieht auch Zeichen, die in diese Richtung weisen. Es bleibt aber die Bitterkeit und die Reue sowie die Enttäuschung darüber, dass sein Vorwort zu Vampyroteuthis infernalis eben doch nicht in das Buch aufgenommen wurde und dadurch eine wichtige Chance verloren ging, besonders in Hinblick auf Flussers wachsende Anerkennung im deutschsprachigen Raum. Flussers Beteuerungen, das Schicksal seiner Texte interessiere ihn eigentlich nicht, könne er nicht ernst nehmen: »Ich sehe, wie stolz Sie auf Ihre Einladung in die [Wiener] Hof burg sind […] Kein Intellektueller ist gegenüber der Wirkung seiner Texte wirklich gleichgültig […] alle Intellektuellen wollen, dass ihre Ideen die Welt aus den Angeln heben und müssen sich mit der Gleichgültigkeit der Welt abfinden, um weiterleben zu können.« Flusser geht nicht auf die Argumente von Moles ein und spielt die Bedeutung des Erfolges herunter. In einem Brief vom 30. September 1990 schreibt er dazu, er habe ihre Freundschaft niemals gefährden wollen. »Es ist mir peinlich, darauf einzugehen. Es muss genügen, Ihnen zu sagen, dass ich auf keine Weise der Publikation das gleiche Gewicht verleihe, wie Sie es zu tun scheinen. Das Buch Vampy verkauft sich schlecht, (was ich Louis Becs halber bedauere) […] Bitte: Schwamm drüber. […] Ich publiziere, um über meine Texte mit […] Freunden zu sprechen. Dass sie dann gedruckt, verkauft und besprochen werden (oder nicht) ist der nächste Schritt, der mich schon weniger angeht. […] Ich lebe, weil mir das Leben mit der Edith Vergnügen macht, weil ich immer noch etwas erfahre und lerne, weil es Leute wie Sie gibt, mit denen ich reden kann, und weil ich schon eben lebe. Aber ich fürchte mich nicht vor dem Nicht-publizieren, dem Nicht-schreiben, und dem Tod (vor dem Sterben allerdings).« Es stellt sich die Frage, ob Flusser hier nicht bloß laviert, um die Freundschaft zu retten. Im Schlussteil geht er explizit auf die Rolle Deutschlands und Frankreichs ein. »Und das bringt mich zu Ihrem Problem Deutschland: Ich bin in die deut-

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sche Sprache in Prag ›zufällig‹ hineingeboren […] Darum fällt es mir relativ leicht, dort zu reden und zu publizieren. […] Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich unmöglich vergessen kann, was meinen Leuten angetan wurde (ohne selbstredend die gegenwärtigen Menschen dafür persönlich verantwortlich zu machen). Und es ändert auch nichts an der Tatsache, dass ich manchmal lieber englisch und portugiesisch statt deutsch schreibe, und dann tatsächlich ganz anders denke. Und das führt mich zu Frankreich: Wir sind zu spät hergekommen, um der Sprache Herr zu werden, und daher denke ich hier als Fremder. Ich wohne nicht in Frankreich, sondern in unserem Haus mit einigen wenigen Freunden (zu denen so Gott will die Elisabeth und Sie gehören).« Bis kurz vor seinem Tod schreiben und sehen sich Flusser und Moles noch ein paar Mal, die Beziehung zu Elisabeth ist aber unwiederbringlich zerbrochen. Ihre Haltung habe sich nicht verändert, schreibt sie in einem Brief vom 17. Dezember 1990. »[…] Vergessen Sie mich ganz und gar, ich stelle mir vor, dass Sie sicher noch Gelegenheit haben werden, Abraham wiederzusehen.« Zwei Essays, die Flusser in den späten 1980er Jahren verfasst, zu einer Zeit also, als die Freundschaft in Krise gerät, dokumentieren grundsätzliche Ambivalenzen und Widersprüche, aber auch so etwas wie einen Wunsch nach Versöhnung. In seiner »Antwort« auf Moles’ 1977 geschriebenen Essay »Vom Fotografierbaren«, den er 1987 ins Deutsche übersetzt hat, schreibt Flusser, er habe den Text Wort für Wort durchgekaut, was ihm leider Magendrücken verursacht habe. Der Text ist ein Versuch, Moles Rede und Antwort zu stehen, nach Heraklits Motto »polemos pater panton«, der Kampf ist der Vater aller Dinge. Moles’ emportauchendem ›homo photographicus‹ und der Kamera stellt Flusser den ›homo historicus‹ und die Schreibmaschine gegenüber. Flusser moniert an Moles’ Vorgehen die Fragwürdigkeit seiner Klassifizierung und der mangelnde Versuch, aus den Fotokategorien herauszuspringen, das heißt, gegen den Apparat zu spielen. Fotos sind nicht nur Abbildungen von etwas, sondern vor allem Lebensmodelle. »Der Unterschied zwischen uns liegt im Akzent: er betont etwas anderes als ich es tue. Aber: es ist der Akzent, die Betonung, (die ›Stimmung‹), welche eine Weltanschauung kennzeichnet. […] Moles schaut die Sachen unter dem Mikroskop an, er macht ›close reading‹. Ich sehe panoramisch. Und zwar tue ich das in der Hoffnung, ›ueber‹ den Sachen zu stehen. Meine Methode klingt eleganter, aber die gruendlichere ist die seine. […] entweder Panorama oder Mosaik, (entweder ›Welle‹ oder ›Korn‹, entweder Heraklit oder Demokrit), und beides zugleich geht nicht. Man kann ein Teleskop mit einem Mikroskop nicht koppeln wollen. Aber beide sind noetig.« In »Problems with Moles’ concept of ›freedom‹« diskutiert Flusser Moles’ »Le Ghetto des Intellectuels et le Mythe de l’Humanisme (12 idées sur les Intellectuels et leur rôle)«. Es geht um die Frage der Freiheit, die Rolle der Intellektuellen in der modernen Gesellschaft und eine Definition von Kreativität. Nach Moles leben die Intellektuellen in einem isolierten von Mauern umgebe-

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nen Ghetto, das mit einem Zoo oder Harem vergleichbar ist. Sie bezahlen ihre Freiheit mit Verantwortungslosigkeit und einer Existenz in vollkommener Abhängigkeit vom Verwaltungsapparat. Flusser hebt zwar hervor, dass Moles’ Beschreibung durchaus wesentliche Aspekte des Intellektuellendaseins einfängt, widerspricht ihm aber dezidiert. Das Hauptziel der Freiheit ist eine Kreativität, die völlig neue Informationen hervorbringt. Die ist aber nur dann möglich, wenn man sich gegen die auferlegten Grenzen wendet und die Mauern überwindet, in denen man eingeschlossen ist. »In order to be free, one must hurl oneself, again and again, against all enclosures […] to get […] beyond all boundaries and limits.« Freiheit ist kein Zustand, kein Freiraum oder Spielfeld, sondern eine existentielle Grundhaltung, eine Entscheidung, die immer wieder erneuert werden muss, die man täglich zurückerobern muss. »It is an act of negation, before it is one of affirmation. […] The act of creation begins with a negation of conditions, of determinations, of limits. It begins with a decision to be free.« Es folgt ein erstaunlicher, anarchistisch anmutender Satz: »There can be no dealing with those in power: they must be get rid of.« Im Schlussteil des Essays, nachdem er sich polemisch von Moles distanziert hat, vollzieht Flusser eine interessante Wendung. Er weist auf einen grundsätzlichen Widerspruch hin zwischen einer Argumentation, die auf einem statischen verdinglichten Freiheitsbegriff beruht, und einer Vision, welche die Probleme, das Leiden und das Leben hervorhebt, das heißt einem existentiellen Freiheitsbegriff. Dieser implizite Widerspruch kann in Moles’ meisten Schriften gefunden werden. »Moles’ commitment to freedom«, schreibt Flusser abschließend, »is to be found not in his arguments, but in his visions. And there one can do nothing but accept the hand Moles is extending to us as a brother and a teacher. […] It may be that the key I believe to have found is not the right one. In that case, let us discuss it. But anyhow: in trying to decipher Moles I have come up against one of the greatest thinker now living.« Flussers vereinnahmender Deutungsansatz, der sein Gegenüber als Zeugen der eigenen Meinung kooptiert, kann somit auch als ein Versuch gelesen werden, den anderen trotz grundlegender Meinungsverschiedenheit im Namen des freundschaftlichen Dialogs zu akzeptieren.

A le x andre B onnier und J e anne G atard Eine weitere inspirierende Freundschaft, die ihren Niederschlag in Flussers Werk findet, ist die mit Alexandre Bonnier und dessen Lebensgefährtin Jeanne Gatard. Der in Chalons-Sur-Saône geborene Bonnier (1932-1992) ist Maler und Schriftsteller und daneben auch als Regisseur tätig. Nach einem Studium der Künste in Aubusson, in Zentralfrankreich, arbeitet er als Verantwortlicher der arts plastiques und des Centre de formation permanente am Institut de l’Envi-

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ronnement vom Ministère des Affaires Culturelles an der Rue Erasme 14-20 in Paris. Bonnier hat zudem eine enge Beziehung zur Maison de la Culture in Chalon-sur-Saône, die am 21. November 1971 auf Initiative von André Malraux, der damals Kulturminister in Frankreich ist, eröffnet wird. Dank Bonniers Vermittlung wird Flusser im Laufe der 1970er Jahre an beiden Institutionen verschiedene Vorträge halten. Jeanne Gatard (1937-) ist Malerin und Schriftstellerin und publiziert unter anderem Texte mit eigenen Illustrationen. Die Bekanntschaft mit Bonnier und Gatard geht auf die Organisation der XII. Biennale zurück. In einem Brief vom 7. November 1972 aus Merano bedankt sich Flusser für eine Einladung ans Institut de l’Environnement im Zusammenhang mit einer Konferenz zum Verhältnis von Kunst und Kommunikation, die Anfang Dezember desselben Jahres stattfinden soll. Flusser will einen Vortrag über die Rolle der Kunst in kulturellen Umbruchsituationen halten. Im Gegenzug schlägt er eine Teilnahme des Instituts an der Biennale zur ästhetischen Dimension des Alltäglichen vor, die Bonnier dankend annimmt. Bonniers Beitrag zur Biennale von São Paulo ist der Farbe Rosa gewidmet. Er schickt Flusser einen Vorschlag, bei dem sich Text und Bild gegenseitig kommentieren. Ein imaginäres hybrides Fabeltier mit einem langen, affenartigen rot-weiß schraffierten Schwanz und einem fischartigen Körper mit langen schmalen Zähnen, die einem Totenschädel entstammen könnte, steht einer Liste von mehrsprachigen Bezeichnungen der Farbe Rosa gegenüber. Bonnier hat seinen Namen unterhalb des Tieres platziert und entsprechend schattiert, um eine mögliche Identität von Künstler und Fabelwesen zu suggerieren. Das Fabeltier erinnert an den gelb-schwarzen Marsupilami, eine Figur von André Franquin (1924-1997) aus der französischen Comic-Serie Spirou und Fantasio, die 1952 kreiert wurde. Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, wie Bonnier den Schriftzug auf die konvulsivische Gestalt der Illustration bezieht. In einem begleitenden Text verweist er zusätzlich auf die grundsätzliche Ambivalenz der Farbe und deren breites Bedeutungsspektrum. Wie Fred Forest berichtet, lässt Bonnier als Teil seines Beitrages in São Paulo rosarote Gegenstände einkaufen: Schuhe, Geschirr, ein Büstenhalter. Von all dem findet man keine Spur in Flussers kurzem englischem Essay »Alexandre Bonnier: ›Pink‹«, der das Kunstverständnis des multimedialen französischen Künstlers in einem rein sozialkritischen und kommunikologischen Sinne deutet. Bonnier gehe es darum, die mehrfachen Bedeutungen der Farbe Rosa in einem dialogischen Prozess zu dekodifizieren. »And to do so in Brazil, where life is not ›pink‹, but ›tudo azul‹, (at least on the surface).« Wir leben in einer von Codes bestimmten Welt, von Dingen, die uns bedingen und bestimmen. Es geht deshalb darum, sich dieser oft verbogenen Kodifizierungen bewusst zu werden, um verändernd und umgestaltend auf die uns umgebende Welt einzuwirken. Die Farbe Rosa ist dabei nur ein Vorwand, ein Schlüssel, der es uns erlaubt, alle anderen Codes sichtbar zu machen. »It may

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become a powerful lever to lift the entire symbolical determination […] To such an attempt Bonnier is committed. He deserves the attention and collaboration of the Brazilian public.« Einmal mehr fällt auf, wie konsequent Flusser das Denken anderer den eigenen theoretischen Voraussetzungen subsumiert. Im Falle Bonniers und Gatards, die aus einem stark französisch geprägten kulturellen Kontext heraus produzieren, ist dies besonders deutlich. Am 14. Februar 1973 hält Flusser am Institut de l’Environnement den Einleitungsvortrag zur Tagung »Perspectives et Géometries«: »Lignes et surfaces«. Dieser Text wird in der amerikanischen Zeitschrift Main Currents in Modern Thought erscheinen und Flusser den Weg zur Teilnahme an der Konferenz »Open Circuits: The Future of Television« ebnen, die vom 23. bis zum 25. Januar 1974 am Museum of Modern Art in New York stattfindet. Am 3. Mai 1973 folgt ein Vortrag über »Le Monde Codifié« (Die kodifizierte Welt), der 1974 als Broschüre veröffentlicht wird und neben der Vorlesung auch die darauffolgenden Diskussionen enthält. Am 8. Mai nimmt Flusser an einer Diskussionsrunde zum Thema »Technologie et imaginaire« teil, bei der Klaus Blasquiz, Alexandre Bonnier, Enrico Fulchignoni, Jeanne Gatard, Piotr Kowalski, Abraham Moles, Eric Spitz und Jean Zeitoun anwesend sind. Eine Transkription dieser Diskussion wird zwei Jahre später publiziert. Flusser, der mit seiner Meinung ziemlich allein dasteht und dabei einmal mehr seiner Zeit weit voraus ist, geht es vor allem darum, hervorzuheben, dass durch die technologische Entwicklung eine klare Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Imaginären hinfällig geworden ist. Ein Spielfilm lässt sich nicht mehr deutlich von einem Dokumentarfilm unterscheiden, Kunst und Reportage gehen zusehends ineinander über. Flusser spricht von neuen kinematografischen Formen der Vermittlung, die in der Zwischenzeit in den Kinosälen angekommen sind, zum Beispiel 3D-Vorführungen und taktil unterstütze Kinoerlebnisse. Das Imaginäre ist weder ein Fehler noch eine Lüge. Es bedeutet eine neue Realität. Am 25. Februar 1975 hält er einen weiteren Vortrag über Gesten und am 30. November 1978 nimmt er mit einem Vortrag über Ikonoklasmus an der Konferenz »La lecture de l’image« teil, an der auch Jean Baudrillard und Gisèle Freund anwesend sind. Wie schon Bei Abraham und Elisabeth Moles tauscht Flusser Briefe sowohl mit Alexandre Bonnier wie mit Jeanne Gatard aus. Die Briefe sind auch hier zuerst noch auf Englisch, später dann auf Französisch, als sich Flusser in der neuen Sprache sicherer fühlt. Sie treffen sich zu viert oder paarweise und laden sich gegenseitig ein. Am 2. Mai 1974 schreibt Flusser Jeanne Gatard aus Fontevraud. »In Fontevraud erwarten Sie: (a) ein Garten, (b) eine Abtei (c), eine ganz spartanische Wohnung, (d) verschiedene dringende philosophische, theologische und ästhetische Probleme, (e) ein gutes Restaurant vis à vis, und (f) meine Frau und ich.« Bonnier lädt Vilém und Edith mehrmals zu sich nach Paris ein, an die Rue Mazarine 9 im sechsten Arrondissement, das auf der Rive

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Gauche liegt, in der Nähe der Jardins du Luxembourg. Flusser ist von der Art und Weise beeindruckt, mit der Bonnier Leben und Kunst ineinanderfließen lässt, etwas, was er auch mit der Organisation der Biennale 1973 beabsichtigt. Am 23. Dezember 1972 schreibt er ihm: »The visit at your house was an experience we shall not forget soon. Your personality, and the way you express it in your work and discourse, is a constant challenge to what I am trying to do myself.« Aus dieser Erfahrung geht ein kurzer Essay hervor: »Alexander Bonnier’s Living Room«, den Flusser Bonnier am 12. Oktober 1974 aus San Gimignano schickt, wo er sich vom 8. bis zum 20. Oktober aufhält. Ein weiterer Durchschlag des Textes geht am selben Tag an François Pluchart, den Herausgeber der Zeitschrift Artitudes, in der Flusser von 1974 bis 1977 fünf Beiträge veröffentlicht. Da dieser Brief und das Typoskript verlorengehen, schreibt Flusser eine zweite kürzere Version des Textes. »When writing the enclosed manuscript I was trying not only to understand the things you are doing, but even more yourself as you manifest yourself through your artistic gesture. I believe this is the true responsibility of the ›theoretician of communication‹ to open the way of a real understanding between people in general, and between creative people in particular.« Im Essay beschreibt Flusser seinen Besuch in Bonniers Wohnung an der Rue Mazarine, deren popartige Choreographie an Stanley Kubricks Film A Clockwork Orange von 1971 erinnert. Mit einem ironischen Augenzwinkern verweist Flusser darauf, dass die Wohnung viktorianische Assoziationen wachruft und an Mimì aus Puccinis La Bohème erinnert. Ein süßer Duft des Zerfalls umspielt den Besucher, der nach den vielen Treppen außer Atem vor der Eingangstür steht. Der erste Eindruck wird aber durch das Innere widerlegt, das nicht an die Oper erinnert, sondern an Tiefseefische und archetypische Träume aus Carl Gustav Jungs Repertoire. Der Raum hat therapeutische Qualitäten und verspricht so etwa wie Erlösung. Man möchte zwar die vielen Dinge, die einen umzingeln und bedrängen von sich wegschieben, um das Zimmer im traditionellen Sinne wieder bewohnbar zu machen, sieht aber bald ein, dass dies den revolutionären Charakter des Settings außer Kraft setzen würde. Bonniers Gegenstände, zum Beispiel der blumenförmige Phallus aus Papier, der aussieht wie eine Pistole, ist kein Objekt im normalen Sinne, sondern ein Rätsel, zu dem es keine Lösung gibt, weil jede mögliche Lösung bedeutungslos ist. Es ist sinnlos, diese Gegenstände einzeln verstehen oder gar aus dem Weg räumen zu wollen. »They are more like organs of a monstrous living being than they are like ›works‹ in an exhibition. To remove them is to amputate them, not to classify them. It is not them, but the living room itself, that is now fashionable […]. One must […] try to take the whole room in […]. In other words: one must play Bonnier’s game by trying to avoid the apparent rules and discover the true ones.«

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In diesem Sinne vermittelt das Wohnzimmer eine konkrete umfassende philosophische Erfahrung. Es ist die Erfahrung einer Muschel, in der die einzelnen Gegenstände nicht zur äußeren Welt gehören, sondern Erweiterungen des Körpers als konkretes In-der-Welt-sein darstellen, Ausscheidungen einer schöpferischen Phantasie, Pseudopodien. Das Muschelhafte von Bonniers Wohnzimmer, das sich nach außen hin verschließt, ohne sich jedoch ganz davon abzuschotten, erinnert an Flussers eigene in Briefen immer wieder betonte Notwendigkeit eines Rückzugs ins Private, von dem aus erst das Öffentliche verändert werden kann. Bonniers Wohnzimmer ist zugleich privat und öffentlich und stellt somit einen Versuch dar, diesen wesentlichen Unterschied der westlichen bürgerlichen Zivilisation zu überwinden. Das Private soll uns ein Gefühl der Sicherheit und Aufgehobenheit vermitteln, Bonniers Wohnzimmer aber ist zugleich gemütlich und scheußlich. Es wendet sich gegen die allgemeine Tendenz der Massenkultur, welche darin besteht, den privaten Raum mit gleichförmigen manipulierbaren Werten aus dem hochtechnisierten öffentlichen Bereich zu überfluten. »Bonnier’s room suggests the possibility of a private shell-like space which has the existential climate of public spaces. A dialectical synthesis through which the private becomes even more private by having absorbed the sacrality of the public.« Der allgemeinen Profanation des Privaten und Öffentlichen durch die Massenmedien stellt Bonnier die Möglichkeit einer totalen Wiederverzauberung des Privaten gegenüber. Kunst ist das letzte Refugium des Sakralen in einer Welt, die durch Massifizierung deren konsequente Profanation betreibt. Bonniers Wohnzimmer stemmt sich bewusst gegen diese Tendenz, indem es die Kunst als Mittel zur Sakralisierung des Banalen verwendet. Dieses spezifisch anti-bürgerliche Verständnis der Kunst ist den Maskenbildern und Federcollagen der Indianer Brasiliens vergleichbar. »It is a method of living meaningfully, and therefore of salvation.« Bonniers Wohnzimmer ist symptomatisch für unsere Zeit und besitzt modellhaften Charakter. In einer Welt, in der alles zum Stereotyp eines bestimmten technisch hergestellten Prototyps verkommt, sind Orte wie Bonniers Wohnzimmer Inseln im technologischen Strom, vergleichbar mit mittelalterlichen Klöstern. »They are shells within which some of us retire to save themselves from the rising tide of general profanation. To those committed to the general trend the shells are despizable reactionary remnants for molluscs […] But molluscs are remarkably resistant creatures, and ever since the Silurian geological period they are with us. And it is the monasteries, and not the majestic stream of barbarians, which shape to this day our thinking and acting.« Das zukünftige Haus in Robion wird eine solche Insel der Meditation und Kreativität im allgemeinen Strom darstellen. Ein zweiter wichtiger Essay, der von Jeanne Gatard angeregt wird und ihr gewidmet ist, ist der deutsch und englisch entstandene Essay »Die Tasche«, den Flusser im Herbst 1973 schreibt. Es ist eine ironische Reflexion über die

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eigene Schreibaktivität, das Sammeln und Auf bewahren von Texten, die Kontinuität des Werks, dessen Nachleben, die Klassifizierbarkeit von Texten und das nomadische Leben, das Edith und Flusser in Europa führen. Flussers gelbe Ledertasche mit Reißverschluss wird aus dem Auto gestohlen, das vor dem Hotel geparkt ist, jedoch mit unversehrtem Inhalt in einer nahegelegenen Straße wieder aufgefunden. »Ein niederschmetterndes literarisches Urteil«, fügt Flusser selbstironisch hinzu. Die verschiedenen Texte sind in bunte Mappen aufgeteilt, deren Inhalt verschiedenartig klassifiziert werden kann: die gesamte chronologisch geordnete Korrespondenz, die unveröffentlichten und veröffentlichten Essays, die Typoskripte der geplanten Bücher, die Vorträge und Vorlesungsskizzen und die allgemeinen Unterlagen, zum Beispiel Bescheinigungen von Universitäten. Aus dem Text geht ebenfalls hervor, dass Flusser oft die Originale an die Verleger schickt, was die Tatsache erklären könnte, dass von einigen Texten in den Briefen zwar die Rede ist, dass diese aber nirgends mehr auffindbar sind. »Ich trage die Tasche immer bei mir. […] Die Frage ist: koennen uns unsere Taschen gestohlen werden, oder werden sie immer unversehrt in der naechsten Strasse wiedergefunden? Im ersten Fall: sind wir leichter und gehen wir schneller voran und der Zukunft entgegen, wenn wir die Tasche los sind? Im zweiten: tragen wir totes oder Lebendgewicht in der Tasche? Die Tasche ist zu kompliziert, als dass man auf diese Fragen eindeutig antworten koennte. Jedenfalls ist es gut, dass von jetzt ab die Fragen selbst in der Tasche auf bewahrt bleiben.« Flusser hat in der deutschen Fassung am Ende in Klammern mit der Füllfeder noch »in meiner und in Ihrer« hingeschrieben. Zentrale Themen des mehrjährigen Briefaustauschs mit Alexandre Bonnier und Jeanne Gatard sind das Verhältnis von Kunst und Leben, die Liebe, das Altern, und der Tod, der im Zusammenhang mit der Sexualität eine zentrale Rolle in Bonniers Werk spielt. Die Kunst, schreibt Flusser am 21. März 1973 aus Merano, ist eine privilegierte Form des zwischenmenschlichen Dialogs und eine Revolte gegen die Endgültigkeit des Todes. »Art is the only means we have to spit in death’s face and say: quand-même, here I am.« Kunst ist zwar Ausdruck einer unmittelbaren privaten Erfahrung, diese kommt aber immer im Kontext bestimmter kultureller Modelle zustande. Dadurch ist sie der Ausdruck menschlicher Freiheit. Andererseits ist Kunst der Versuch, mit anderen ins Gespräch zu kommen, um die grundsätzliche Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes zu überwinden. Flussers Definition ist auch hier vor allem von der Kommunikationstheorie inspiriert. In einem Brief vom 2. Juni 1976 bedankt sich Flusser für die Einladung an Bonniers Ausstellung »La mort quotidienne« im Théâtre Oblique in Paris. Flusser verbindet Bonniers Umgang mit dem Tod mit Karl Jaspers’ Begriff der Grenzsituation, übersieht dabei aber, dass Bonniers Todesbegriff von Georges Batailles Philosophie der Verschwendung inspiriert ist, welche den Todestrieb

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(Thanatos) und die Sexualität (Eros) aneinander kettet und ineinander spiegelt. In einem späteren Brief vom 24. Oktober 1975, in dem eine mögliche Zusammenarbeit zum Thema des Todes erwogen wird, zitiert Flusser eine abgeänderte Version von ein paar Versen aus Tennyson’s Gedicht The Charge of the Light Brigade. Sterben (to die) wird hier dem gemeinsamen Gespräch gegenübergestellt (to do). Der Dialog wendet sich gegen den Tod und überwindet diesen, dadurch dass die Verstorbenen im allgemeinen Gedächtnis in Form der Erinnerung überleben. »Im Satz: ›Ours is not to question why, ours is just to do and die‹ […], konnte ich nie deutlich zwischen ›do‹ und ›die‹ unterscheiden. Let’s do.« Ein weiteres Thema ist das Altern. Am 21. Dezember 1977 schreibt Flusser, er fürchte sich nicht davor zu altern: »[…] die Zeit vergeht nicht in mir, sondern um mich herum. Ich bin immer in der Gegenwart, mit denen, die ich liebe, ich bewege mich nicht.« Am 28. Dezember fügt er dann aber ergänzend hinzu: »Ja, ich habe Angst, alt zu werden, nicht nur, weil die Körpermaschine nicht mehr so richtig funktioniert, und deshalb deren Erhalt immer teurer wird […], ich fürchte mich auch vor dem Alter, weil ich mich immer mehr als ein Eindringling in der Welt fühle, die denen ›gehört‹, die nach der Katastrophe geboren worden sind. […] für den grössten Teil der Weltbevölkerung sind Auschwitz und Hiroshima prähistorische Ereignisse. […] der Mensch […] wird nicht zu einem Schwarzen Loch, aber er ist dorthin unterwegs (mais il va vers le trou noir). […] Wir werden zu alten Leuten […] das heißt, wir sind weniger frei. Deswegen können wir uns vielleicht auch nicht dazu entscheiden, ein Haus zu kaufen.« Es ist aber in der Diskussion des Liebesbegriffes und dessen Verhältnis zur Sexualität, wo sich der kulturelle, persönliche und vielleicht auch altersbedingte Unterschied zwischen Flusser und Bonnier am deutlichsten zeigt. Bonnier schickt Flusser im Frühjahr 1979 eine kleine Zusammenstellung zum Begriff »amour« und erwähnt dabei eine ganze Reihe französischer Autoren: Madame de Lafayette, Stendhal, Louis Aragon, Alain Fournier, Marcel Jouhandeau, Henri Michaux, André Breton und Georges Batailles erotische Novelle Le bleu du ciel, in der auch Inzest und Nekrophilie vorkommen. Es geht um das Verhältnis von Freiheit und Pornographie. Auf diesem Terrain müssen Flusser und Bonnier unweigerlich aneinandergeraten. Am 22. April reagiert Flusser mit einem dreiseitigen Brief, in dem er auf eine Auseinandersetzung im Haus von Louis Bec hinweist. Die Provokation, so Flusser, sei von Bonnier ausgegangen: »Sie haben mir dieses kontroverse Thema ins Gesicht gespuckt, auf eine Art und Weise, die mich zum Feind macht, eine Rolle, die ich nicht gerne in der Tragödie des Denkens auf mich nehme.« Flusser, der in seinem Brief neuplatonische Elemente aufnimmt, unterscheidet vier verschiedene Zonen der Liebe. Die erste ist das Fegefeuer der Pornographie, gefolgt von einer ambivalenten Zone auf der Grenze von Hölle und

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Paradies, wo sich Sexualität, Einsamkeit, Angst, Freundschaft und Vertrauen ansiedeln. In der dritten Zone geht es um die Selbsterkenntnis im Anderen und die Entdeckung des Anderen in sich selbst. Die vierte, philosophische Zone ist der Reflexion über die Erfahrung der Liebe gewidmet. Flusser vergleicht die Erfahrungen, die hier möglich werden, mit denen des religiösen Mystizismus. Dahinter befindet sich der Kern der Liebe, dessen Licht aber so stark strahlt, dass man ihn nicht filmen kann: das Licht würde den Film verbrennen. Nach Flusser besteht Bonniers Fehler darin, Pornographie und Sexualität, das heißt, die Technik und den Akt miteinander zu vermischen. Allein die ersten beiden Dimensionen sind historischen Veränderungen unterworfen, sie sind der eigentliche Eingang zur Liebe. Flusser zitiert in leicht abgewandelter Form die 99. Strophe von Omar Khayyāms Rubaiyat, die er später im Zusammenhang mit der punktuellen, eindimensionalen Welt der computergenerierten, synthetischen Technobilder immer wieder aufnimmt. »Ah, Love! could thou and I with Fate conspire/To grasp this sorry Scheme of Things entire,/Would not we shatter it to bits – and then/Re-mould it nearer to the Heart’s Desire!« Die Erschaffung einer neuen vom Menschen bewusst projizierten Welt aus Punkten oder Bits muss somit als ein kollektiver Akt der Liebe verstanden werden. Flusser positioniert diese Überlegungen an der Grenze der dritten zur vierten Zone, dort wo die Liebeserfahrung und die philosophische Reflexion einander berühren. Wichtig ist dabei, dass Erfahrung und Reflexion einander bedingen. Die Erfahrung ist der eigentliche Stoff der Reflexion und diese wiederum gibt dem Erlebten einen Sinn: »In Kürze: die reflektierte Liebe, (die ›platonische‹ und die ›christliche‹), diese vierte Zone, von der ich gesprochen habe, ist das einzige Mittel, um sich dem Geheimnis der Liebe zu nähern.« Die Basis dafür sieht Flusser hier interessanterweise im ersten biblischen Gebot, der uneingeschränkten Liebe für Gott, die zum Modell für die Liebe zu unserem Nächsten wird. Der Brief enthält auch eine Reflexion über die neue Rolle der Frau. Die Frau ist zugleich das erste und das letzte Proletariat. Sie ist befreit von der Sexualität durch Pille und Abtreibung, von der Wirtschaft durch Erziehung und Bildung, von der Politik durch das Stimmrecht. Es ist daher anachronistisch geworden, eine Frau besitzen zu wollen. Die neue historische Situation zwingt den Mann, die eigene Frau, jede Frau, als sein Anderes zu verstehen. Es geht darum, sich von der Liebe zueinander besitzen zu lassen, miteinander und voneinander zu lernen. Vielleicht sind wir, so weiter Flusser, Zeugen der ersten Möglichkeit in der Geschichte, eine gleichberechtigte Liebe zwischen Mann und Frau herzustellen. Flusser kommt in seinem Brief noch zweimal auf Bonniers Liebesbegriff zurück, den er reduktionistisch findet. Bonnier spricht von der Liebe, meint damit aber die sexuelle Beziehung zwischen den Geschlechtern. Liebe ist aber vor allem auch vollkommene Hingabe an den andern, Engagement für eine

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Sache oder Idee. In diesem Sinne ist die Liebe eine zutiefst revolutionäre Kraft. So schreibt er am 27. Juni 1980 aus London: »Alexandre: Ihr Geschlecht interessiert mich weniger als Ihre Erfahrung, Ihre Sensibilität und Ihre Intelligenz […].« Dass Theorie und Praxis, gefordertes und effektives Verhalten in Flussers Leben oft auseinanderklaffen und dass diese Spannung selten, wenn überhaupt, reflektiert wird, ist gerade in dem hier angesprochenen Zusammenhang besonders auffallend. Ingold erinnert sich an das äußerst problematische Verhältnis zwischen Edith und Vilém, der sie skrupellos für subalterne Aufgaben einsetzt. Sie sorgt dafür, dass er sich ganz und gar mehrere Stunden pro Tag dem Schreiben widmen kann. Sie hört geduldig zu, wenn er neue Texte vorliest, organisiert sämtliche Reisen und Vorträge, kutschiert ihn über zwanzig Jahre hinweg durch ganz Europa, pflegt die Verlagsverbindungen, bekocht ihn und seine Gäste und erledigt daneben auch noch den ganzen Haushalt. Edith und Vilém nehmen das alles als völlig normal hin, so hat Vilém auch nie das Bedürfnis empfunden, sich für Ediths totale Hingabe je zu bedanken. »Offenkundig war Vilém ein Frauenverächter«, schreibt Ingold, ein »Verächter wohl deshalb, weil er ohne Frauen nicht auskommen konnte.« »Wenn ich mich nicht zum Widerspruch gegen Viléms Männlichkeitswahn aufraffen konnte«, schreibt Ingold weiter, »so deshalb, weil ja beide, er selbst wie seine Frau, fraglos und frustrationsfrei aufeinander eingespielt waren: sie schien seine Machosprüche gar nicht mehr mitzuhören.« Ingold erinnert sich an peinliche Auftritte, an Viléms aufdringliches Autoritätsgehabe in Gegenwart von Frauen. So rühmt er sich als Autor, der seine Texte wie ein pflügender Bauer schreibt: Der Autor muss die Erde wie ein Pflug aufreißen, genauso wie der Mann im Geschlechtsverkehr die Frau aufreißt. Es ist dies eine Beschreibung, die an einen schon zitierten Satz zu Guimarães Rosa erinnert, in dem Flusser die Sprache als eine sich sträubende Geliebte beschreibt, die es gilt, zugleich zu vergewaltigen und zu verführen. Bedeutsam ist hier auch die Reihenfolge. Dort steht aber auch, dass diese aggressive Haltung immer ihn Passivität umschlagen muss, das heißt, dass der Autor auch gleichzeitig sich von der Sprache erobern lassen muss. Diese Reziprozität ließe sich als ein mögliches Korrektiv zu Flussers machoartigem Auftreten verstehen. Besonders spannungsvoll verläuft die Beziehung mit der fast zwanzig Jahre jüngeren Jeanne Gatard, die sich wie andere selbstsichere Frauen seinem Charme nicht beugt und ihm auch theoretisch standhält. Als Flusser sie kennenlernt, ist sie Mitte-Ende dreißig. Auf dem einzigen im Internet auffindbaren Foto, das aus der betreffenden Zeit stammen könnte, begegnet einem eine beeindruckende charaktervolle Frau mit schwarzem Haar, schmalem Gesicht und dunklen tiefen spöttischen Augen. Jeanne Gatard wirft ihm unter anderem vor, zu selbstbezogen und zu heftig zu sein, vor allem wenn es um die jüdische Frage geht. Am 21. November 1977 schreibt ihr Flusser dazu, sie irre

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sich in ihrem Urteil über ihn in mehreren Punkten. Es gehe nicht um Konfrontation, weder in der kollektiven Geschichte noch im privaten Leben. »Ich bin hingegen davon überzeugt, dass das einzige, was zählt, die Ideen sind. […] Was die ›Zärtlichkeit‹ angeht, so finde ich sie weder kindisch noch lächerlich. Ich denke eher, dass es sich dabei um eine existenzielle Haltung handelt, die man nicht wählen kann, weil sie spontan ist. Man kann nicht zärtlich sein wollen. Ich wäre es aber gerne Ihnen gegenüber. Vielleicht können Sie das zwischen den Linien finden.« Die letzten zwei Sätze könnten darauf hinweisen, dass Flusser durchaus von der schönen jüngeren Frau angetan ist, dieses Gefühl aber dezidiert wegrationalisiert. Am 19. Oktober 1979, nach einer weiteren Auseinandersetzung in Sachen Judentum schreibt sie ihm, vielleicht nicht nur auf sein Verhältnis zu Edith, sondern auch auf Unausgesprochenes in ihrer eigenen Beziehung anspielend: »Mein lieber Flusser […] Ja, ich liebe Sie, aber ich liebe Edith mehr, Ihre starke Frau ( forte épouse), diese Grande Dame mit ihrer grenzenlosen Geduld. Mein lieber Flusser, Ihr Text (me paraît être vous-même, vous-même dans sa naïveté, son nombrilisme aussi) gleicht Ihnen aufs Haar, in seiner ganzen Naivität und seiner Nabelschau. Ich muss das einfach loswerden, verzeihen Sie mir […]. Aber ich bitte Sie, das Judenproblem ist doch nicht das einzige auf der Welt. […] (Je vous embrasse très familialement et sans aucune familiarité, et un peu plus Edith.) Ich umarme Sie sehr herzlich, aber ohne jede Vertraulichkeit, und Edith ein bisschen mehr.« Zusammen mit dem Brief schickt sie ihm einen Auszug aus ihrem Buch La Grand Sieste, das wie das frühere Des Anges du Vide Bilder und Texte kombiniert. Ein Thema, das Flusser eigentlich interessieren müsste. Flusser reagiert prompt. In einem belehrenden dichten zweiseitigen Brief, der Gatards Text nur knapp erwähnt, spricht er von einem Dialog der Tauben, dessen Gründe er nicht verstehe und wendet den Vorwurf der Nabelschau dezidiert gegen Gatard. Über den beigelegten Buchauszug verliert er kein Wort. Er wirft ihr eine verkürzende antirationale, romantisierende Haltung vor, die ihrem eigenen Lebensstil und ihren Texten widerspricht: »Sie engagieren sich gegen die selbstgenügsame Vernunft (la raison close), zugunsten von dem, was Sie Zärtlichkeit nennen. Ich glaube, dass dieser Standpunkt Ihrem In-derWelt-Sein widerspricht, (und daher forciert ist), und zudem äußerst gefährlich für die Zärtlichkeit.« Flusser, der sich hier einmal mehr als (frustrierter?) Rationalist outet oder vielleicht auch tiefere destabilisierende Gefühle verarbeitet, bestimmt die Vernunft als eine Öffnung auf die Welt, so wie die Zärtlichkeit eine Öffnung auf den anderen ist. Der Verstand ist die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und zu bezweifeln. »Verzeihen Sie mir, wenn ich barsch bin (si je suis rude): ich stamme nicht aus einer Mittelmeer-Kultur, sondern der Deutschen, und kenne die Folgen Ihrer Haltung, dieser antirationellen Zärtlichkeit, sehr wohl.« Der deutsche Idealismus, Schuberts Lieder, der Mystizismus eines Angelus Silesius, die Gedichte Rilkes und der Nazismus gehören

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alle in diese Welt. »[…] Ich habe unter deren Verlockung gelitten. […] Es gibt keine Zärtlichkeit, (Liebe, Anerkennung des anderen), ohne Vernunft […].« Gefühl ohne Vernunft führt zu Intoleranz und einer irrationellen unvernünftigen Form der Zärtlichkeit. Im Schlussteil des Briefes klingt ein irritierender überheblicher, ja gönnerhafter und lehrmeisterlicher Ton an und so etwas wie Eifersucht. Aber vielleicht kasteit damit Flusser einfach sein eigenes uneingestandenes Begehren: »Ihr Versuch, sich selbst nicht anzunehmen, führt zu einem universellen Nebel, in dem alles ›zärtlich‹ wird, (c’est-à-dire fermé sur soi-même parce que non informé) das heißt, in sich selbst verschlossen, weil nicht informiert. Aber ich irre mich sicher: Sie rationalisieren Ihre Gefühle, Sie quantifizieren sie: Sie lieben Edith mehr als mich. Also: Sie zweifeln, Sie überlegen, es gibt also doch noch Hoffnung, dass man sich versteht. So vernünftig bin ich nun auch wieder nicht: Ich versuche, Sie ganz und gar anzunehmen […].« In Flussers Vorstellung muss sich das Gefühl durch die Vernunft disziplinieren lassen. Auf die Frage, wie das Gefühl, als das Andere der Vernunft, diese in Frage stellen und ergänzen kann, geht er nicht ein. Dass sich Flusser selbst auch immer wieder zu extrem gefühlsbetonten irrationellen Reaktionen hinreißen lässt, besonders wenn Themen diskutiert werden, die ihm am Herzen liegen, zeigt sich in einem Brief, den er am 11. Dezember 1974 aus Merano schickt, wohin er am 9. nach einer kurzen siebentägigen Reise nach Paris zurückgekehrt ist. Er bezieht sich darin auf eine weitere heftige Auseinandersetzung mit Bonnier. »In der Regel verteidige ich meinen Standpunkt, für den ich redlich mit meinem ganzen Herzen und Gehirn eintrete (avec tout mon cœur et cerveau), auch wenn ich immer bereit bin, diesen aufzugeben, wenn es Not tut. Aber meine Verteidigung der Judenfrage gehört in einen anderen Kontext. […] Ich sage nicht, dass ich unehrlich war, aber ich war irrational. […] Hier ist also der Beweis dafür, dass Moles sich in Bezug auf meine philosophische Berufung irrt: Ich beherrsche (›kybernein‹) meine Emotionen nicht. Ich habe nicht die reine philia der sophia. Vor allem, wenn ich unter Freunden bin. Ich lasse mich gehen.« Dass diese problematischen Gefühlsausbrüche durch intellektuelle Erklärungen nicht einfach aus der Welt geschafft werden können, sondern nach Einsicht und Moderation rufen, scheint Flusser nicht in Betracht ziehen zu wollen. Es sind wohl solche Momente, die dazu geführt haben, dass man sich immer seltener trifft. In einem der letzten erhaltenen Briefe, den Flusser am 23. Januar 1981 aus dem neuen Haus in Robion schreibt, bedankt er sich für einen Brief, den Bonnier am 21. Dezember 1980 verfasst hat. Louis Bec habe ihm den Brief an dem Tag übergeben, an dem sie das neue Haus bezogen haben. Darin versucht er, nachträglich so etwas wie eine Versöhnung zu finden, die wohl nicht mehr zu erreichen ist. »Es war da etwas von Ihrer freundschaftlichen Wärme in der Kälte des neuen Hauses zu spüren. Ich bin mit Ihnen einverstanden: trotz

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unserer intellektuellen Divergenzen gibt es zwischen uns eine grundlegende emotionale Sympathie (un fond de sympathie émotionnelle), die unsere Beziehung stützt und uns vier aneinander bindet.«

F red F orest Eine äußerst produktive Freundschaft entwickelt sich auch mit dem algerischfranzösischen Pionier der Videokunst Fred Forest. Forest, der am 6. Juli 1933 in Muaskar, Algerien, geboren ist, fängt als Autodidakt an, ist in den 1960er Jahren Illustrator für die Zeitungen Combat und Echos, arbeitet als Medienkünstler, Maler, Zeichner und Grafiker und habilitiert 1985 mit einem Doctorat d’État an der Sorbonne. Zur Prüfungskommission gehören auch Abraham Moles und Jean Duvignaud. Forest lehrt an verschiedenen französischen Universitäten und ist Direktor des Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain in Nizza. 1974 gründet er zusammen mit Hervé Fischer und Jean-Paul Thenot das Kollektiv »Art sociologique«. Flusser lernt Forest 1972 kennen, als er ihn in seinem Atelier in L’Haÿ-lesRoses in einem der südlichen Vororte von Paris besucht und ihn an die Biennale 1973 einlädt. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt Forest und Flusser im Herbst 1972, in dem von Forest gegründeten Kulturzentrum Albertus Magnus, das an der gleichnamigen Straße im 5. Arrondissement von Paris liegt. Flusser sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl neben Forest, der – ganz in schwarzes Leder gekleidet – sich dem Publikum zuwendet. Er hat den linken Arm auf die Stuhllehne gestützt, hält mit der rechten Hand die im Mund steckende Pfeife, trägt eine dunkle Hornbrille, Anzug, Weste, Hemd und Krawatte und wirkt dabei wie jemand auf dem Sprung, der bloß darauf wartet, selber mitzureden. Forest nimmt an der Biennale in São Paulo mit einer Reihe von Installationen teil. Auf weißen Sockeln platziert er Telefone, mit denen die Besucher Anrufe tätigen und Botschaften hinterlassen können. Eine kleine Gruppe von Demonstranten zieht mit weißen Plakaten durch das Stadtzentrum. Hunderte schließen sich der stillen Demonstration an und blockieren den Verkehr während zweier Stunden. Forest wird schlussendlich von der brasilianischen Polizei verhaftet. In einem Interview mit Annick Bureaud vom 22. Dezember 2008 berichtet er von einer Begegnung mit Flusser in der Bibliothek des Institut de l’Environnement in Paris nach seiner Rückkehr aus Brasilien. »Es konnte zwischen uns manchmal sehr heftig (violent) werden. […] Man hatte sich seit meiner letzten Reise nach Brasilien nicht wieder gesehen. Plötzlich sieht er mich, springt auf wie von einer Tarantel gestochen (bondit comme un beau diable) und schreit, Fred, du hast mich verraten!, mitten in die fast religiöse Stille hinein.« Forest erklärt Flussers Reaktion als Frustration darüber, dass er

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selbst nicht an der Protestaktion dabei war und ihm etwas gelungen war, was er aus der europäischen Entfernung betrachtet, nie für möglich gehalten hätte. Er schreibt Flusser am 12. Februar 1974 einen dreiseitigen Brief, in dem er sein Unverständnis und seine Wut darlegt, und beendet den Brief » sehr erbost und sehr liebevoll (trés furieusement et très affectueusement).« In seiner Antwort aus Merano weist Flusser Forest darauf hin, dass seine Protestaktion wegen seiner privilegierten Lage als Europäer als grundsätzlich unehrlich einzustufen sei und dass seine brasilianischen Freunde die Aktion als opportunistisch eingestuft hätten. Er wisse aber, dass Forest zwar naiv, aber grundlegend ehrlich gehandelt habe. Man könne die Medien nicht von innen her in ihrer Struktur stören, man stärke sie dadurch nur. Es gehe darum, die Strategien grundlegend zu verändern. Der heftige Schlagabtausch, der nicht der letzte sein wird, führt nicht zu einer Trennung, sondern zu einer Intensivierung der Zusammenarbeit. Es ist dies ein Muster, das sich in vielen langjährigen Freundschaften Flussers wiederfindet. Im Interview berichtet Forest, dass ihn Flussers intellektuelle Lebhaftigkeit sowie seine Fähigkeit, die Dinge zu analysieren und anderen beim Verstehen ihrer Arbeit zu helfen, von Anfang an fasziniert haben. Flusser habe ihm viel beigebracht und ihm dabei geholfen, sich seiner eigenen Arbeit bewusster zu werden. Erstaunlich sei seine Fähigkeit, über irgendeinen Gegenstand kreativ nachzudenken, gewesen. Alles, was er erlebt hat, ist ihm zu einem Gegenstand der Reflexion geworden. »Flusser hat aktiv und leidenschaftlich an meinem Denken teilgenommen, so wie ich an seinen Gedankengängen. Mit ihm gab es eine Art gegenseitiger Kontamination; ausgehend von bestimmten Ideen konnte man sich gedanklich erhitzen und daraufhin in der allgemeinen Aufregung zusammen möglich Situationen entwerfen. […] Ich hatte außergewöhnliche Dialoge […] mit Flusser gab es immer den Affekt […]. Alles erweckte seine Neugierde und schärfte seine Reflexion. Ich hatte eine ungeheure Chance, jemanden wie Vilém Flusser kennen zu lernen und mit ihm Umgang zu pflegen […].« Als er ihn besser kennenlernt, versteht er, dass die harten und manchmal ungerechten Kritiken genau das sind, was ihn letztlich weiterbringt. In einem Brief vom 24. Januar 1988 schreibt ihm Forest, er besitze das Geheimnis der Improvisation und die Fähigkeit, andere zu ungeahnten kreativen Leistungen anzuregen.

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Abbildung 23: Video (1973)

Flusser hat sich seinerseits sehr für Forest und dessen Arbeit interessiert, besonders für die philosophischen und erkenntnistheoretischen Möglichkeiten des Videos und die Entwicklung einer neuen politischen und sozial engagierten Kunst. In diesem Zusammenhang drehen sie in Fontevrault, wo ihn Forest im Sommer 1974 besucht, das Video Les gestes du professeur. Wie Fred Forest am 12. März 2016 in einem Gespräch in Paris berichtet, drehen sie zwei Varianten, eine englische im Garten vor dem Haus und eine französische im Innern des Hauses. Flusser arbeitet damals intensiv an einer Phänomenologie der Gesten. Er glaubt, dass man anhand einer Entkodifizierung von Gesten, die wesentliche Bedeutung des Menschen erarbeiten könne. Da Forest immer seine Videokamera dabei hat, beschließen sie, einen kleinen Film über die Gesten des Professors zu drehen, während er über Gesten spricht: eine Mise en abyme und ein Metakommentar, die typisch für Flussers Werk sind. Der Film soll 20 Minuten dauern, das heißt die Länge eines damaligen Videobandes. Gehen dem Professor die Worte aus, so muss er warten, bis das Band zu Ende ist. Überschreitet er die festgelegte Zeit, wird er unterbrochen. Nach ungefähr 17 Minuten, so Forest, weiß Flusser nicht mehr weiter und muss die restlichen drei Minuten

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abwarten. Er weiß nicht wohin mit seinen Händen und wird aggressiv. Forest stellt sich neben ihn vor der laufenden Kamera auf. Wegen der abendlichen Hitze sitzt Flusser mit nacktem Oberkörper und in Shorts auf einem Stuhl im Garten. Für Flusser sind die dialogischen Beziehungen vor allem wegen ihrer Offenheit und Unvorhersehbarkeit interessant. Videoaufnahmen können die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt am besten einfangen. Während das Band läuft, denkt Flusser über das nach, was gerade stattfindet. Gleichzeitig und in Abhängigkeit davon wählt Forest die jeweilige Perspektive aus, von der Großaufnahme zur Detailaufnahme, vom Sprechenden und Gestikulierenden zu dessen Schattenbild. Die beiden Kontrahenten beeinflussen und kommentieren einander kontinuierlich. Flussers Projekt einer Phänomenologie der Gesten, das ihn fast zwanzig Jahre lang beschäftigt und das erst 1991 in Deutschland in Buchform erscheint, ist aufs intimste mit dem Videoprojekt Forests verbunden. So dreht Forest Videos zur Geste des Fotografierens und des Haarschneidens, die Flusser visioniert und in seine Essays einbaut. Forest macht auch ein Video in einem Altersheim, das er von den Insassen selbst drehen lässt. Flusser ist Teil des Projekts und stellt Fragen zum Altern und zum Tod. In einem im Dezember 1975 entstandenen unveröffentlichten Essay zur Zerstörungen fixer Standpunkte beschreibt Flusser die verschiedenen ineinander verschachtelten Ebenen, die den beiden Teilnehmern des Videoexperiments nur zum Teil bewusst sind, im Sinne eines regressus ad infinitum, eine weitere Denkkategorie, der man in Flussers Werk immer wieder begegnet – zum Beispiel die sukzessive Verschachtelung im zirkulären Prozess der Selbstübersetzung. Dabei bedingen sich nicht nur die Gesten des Sprechenden und diejenigen des Filmenden. Die durch Flussers Gestik und Worte ausgelösten subtilen Veränderungen von Forests Kameraführung schlagen ihrerseits auf Flussers Worte und Gedanken zurück. Sobald das Band zu Ende ist, sehen sie es sich an und diskutierten die verschiedenen Aspekte. Leider, so weiter Flusser, hat Forest keine zweite Videoausrüstung dabei, mit der man ihre Diskussion aufnehmen könnte, als Metakommentar zur ersten Aufnahme. Das Video wird später in einer Diskussionsrunde in Arles zum Thema der Fotografie verwendet. Dies ermöglicht noch einen weiteren Standpunkt. Das Video verwandelt sich nun in einen Dialog, der seinerseits in einem zweiten eingebettet ist, der auf die Unterschiede zwischen dem Medium des Videos und der Fotografie hinweist und mögliche Formen der Zusammenarbeit aufzeigt.

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Abbildung 24: Video (1973)

Ein weiteres gemeinsames Projekt, das 1973 verwirklicht wird, ist der Versuch einer elektronischen Untersuchung einer kleinen Straße in Paris: eine Archäologie der Gegenwart, wie sie Forest nennt. Er will die Gegenwart so darstellen, als ob sie schon zur Vergangenheit gehörte, und dadurch eine kritische Distanz herstellen. Die Rue Guénégaud, wo das Experiment stattfindet, zweigt von der Rue Mazarine ab und ist nur ein paar Minuten zu Fuß von Bonniers Wohnung entfernt. Pierre Restany und Vilém Flusser spazieren am Morgen des 18. April 1973 mit einem Tonbandgerät auf dem rechten bzw. linken Gehsteig hin und her und sprechen ihre Eindrücke auf Band. Die beiden Tondokumente werden dann in einer Galerie in einer Endlosschleife abgespielt. Flusser hat in verschiedenen Essays Fred Forests Kunstvorstellung und dessen künstlerische Tätigkeit sowie deren soziale Relevanz und emanzipatorische Seite kritisch beleuchtet. Anhand seines Vorgehens entwickelt Flusser einen kommunikationstheoretisch fundierten Kunstbegriff. Der Künstler drückt seine intimsten Erfahrungen aus, um andere nachhaltig zu beeinflussen und von diesen eine Antwort zu erhalten. Dabei manipuliert er gewisse Materialien, zum Beispiel Stein oder Wörter. Er verändert sie, um seine Botschaft mitzuteilen. Die unterschiedlichen Materialien setzen dem Künstler einen jeweils anders gearteten Widerstand entgegen und zwingen ihm dadurch ihre eigene Struktur auf. Dies hat zur Folge, dass der materielle Aspekt der Kunst ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und der ebenso wichtige Moment des sozialen Engagements dabei vergessen wird. Forest ist nicht nur einer der seltenen Künstler, der dieses romantische Vorurteil zu überwinden versucht, er verwendet auch ganz neue Materialien: die Medien. Diese neuen Materialien sind ephemer und daher schwer konservierbar. Bei Medien geht der Widerstand zudem eher von den Menschen aus, die über diese Materialien bestimmen, als von den Materialien selbst. Für Forest sind die sozialen Auswirkungen seiner Botschaft entscheidend. Diese ist zwar in bestimmten Medien enthalten, betrifft aber letztlich das Medium selbst. Es ist eine Metabot-

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schaft. Es geht dabei darum, die Anonymität und Passivität des Publikums zu überwinden und den Zuschauer dazu zu bewegen, von den Medien Besitz zu ergreifen. Das verlangt eine radikal neue, grundsätzlich kreative Einstellung zur Kunst und eine andere Vorstellung von Schönheit: Schönheit wird nicht mehr im Kunstwerk als Objekt entdeckt, sondern im intersubjektiven Dialog zwischen Künstler und Publikum ins Leben gerufen. Im Essay »Art sociologique«, das dem am 7. Oktober 1974 gegründeten Kollektiv um Hervé Fischer, Fred Forest und Jean-Paul Thenot gewidmet ist, hat Flusser auf theoretische und methodologische Schwächen von Forests Ansatz hingewiesen. Sein Haupteinwand betrifft die gesellschaftliche Relevanz der Kunst. Nicht die Kunst ist in eine Krise geraten, sondern das Weltbild der Wissenschaft, was unmittelbare Folgen auch für die erstere zeitigt. Es ist eine Krise des Objektivitäts- und des Fortschrittsbegriffs vor allem in den Geisteswissenschaften, aber auch in den Naturwissenschaften. Für das Kollektiv von »Art sociologique« ist die Kunst das eigentliche Problem. Anstatt das wissenschaftliche Establishment durch die künstlerische Imagination in Frage zu stellen, wollen sie die Kunst durch die Einführung wissenschaftlicher Elemente reformieren. Anstatt die Soziologie durch die Kunst zu hinterfragen, kritisieren sie die Kunst anhand der Soziologie. »Man will einen ›overlap‹, bei dem die Kunst die Botschaft und die Soziologie das Medium sind. Während der eigentlich revolutionäre ›overlap‹ darin bestehen würde, die Soziologie zur Botschaft und die Kunst zum Medium zu machen.«

Abbildung 25: Video (1973)

Ein weiterer Diskussionspunkt betrifft das Verhältnis zwischen dem von Forest gestellten Anspruch und den Möglichkeiten, den medialen Apparat tatsächlich verändern zu können. Forest möchte die weitgehend diskursiv geschalteten Massenmedien in dialogische Kommunikationsmittel verändern. Es geht um eine Entmassifizierung und Repolitisierung der Medien. Angesichts der allgemeinen sozio-politischen Lage aber haftet diesen Versuchen etwas Rüh-

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rendes, wenn nicht sogar Lächerliches an. Forest ist die Disproportion zwischen seinen Aktionen und der Macht der von ihm angegriffenen Institutionen wohl bewusst. Im Essay »Die Tätigkeit Fred Forests« schreibt Flusser von einer intersubjektiven Ironie, die dann entsteht, wenn der Künstler und sein Publikum sich in einem gemeinsamen Lachen über die grundsätzliche Impotenz zusammenfinden. Die Krise der Gesellschaft ist radikal, »was immer wir tun, um sie zu überwinden, ist laecherlich, und wir muessen es trotzdem immer wieder versuchen.« Damit reiht Flusser Forests Kunst in die eigene Schreib- und Übersetztätigkeit ein, die wiederum mit der Kafkas verwandt ist. Es ist ein Ausdruck der absurden Grundstimmung der menschlichen Existenz. »Man könnte […] sagen, dass das Ergebnis von Forests Erfahrung ziemlich enttäuschend ist, besonders wenn man sich davon erwartete, dass es ihr gelingt, die uns umgebende diskursive Mauer zu zerbrechen«, schreibt Flusser in »Sociologie: L’espace communicant de Fred Forest«, das im Frühjahr 1973 in Communication et langages veröffentlicht wird. »Sie ist aber mehr als befriedigend, wenn man sich etwas anderes weniger Utopisches davon verspricht.« Forest, folgert Flusser, hat auf verborgene Öffnungen im System der Massenmedien hingewiesen, das ist wohl sein zentraler Beitrag. In »Die Tätigkeit Fred Forests« schreibt Flusser dazu: »Die Loecher, die Forest in die Massenmedien zu schlagen bemueht ist, sind Oeffnungen in Richtung einer intersubjektiven, dialogischen Kommunikationsform, welche zugleich eine ›Kunstform‹ ist, und zugleich eine ›Erkenntnisform‹: naemlich eine gegenseitige Anerkennung im Hinblick auf eine gemeinsame Sinngebung. Wer mit Forest spielt […], ist aus der Massenkultur fuer den Augenblick hinausgeschritten, und hat bisher ungeahnte Gefilde, naemlich die eines intersubjektiven Erkennens und Wertens, beschritten.« Forest spricht dieses Thema im schon erwähnten Interview mit Bureaud an. In der Ausgabe vom 28. November 1988 der Zeitung Nord-Matin publiziert er das Werk Le trou (das Loch). Mitten auf der Seite befinden sich ein schwarzer Kreis und eine Schere. Im Begleittext wird der Leser dazu aufgefordert, ein richtiges Loch mit einer richtigen Schere in die Zeitung zu schneiden. Dieses Loch soll ihm helfen zu sehen, was sich hinter dem Loch befindet, das heißt, was sich hinter den Erscheinungen versteckt. Da er das Loch selbst ausgeschnitten hat, wird es ihm von nun an immer gehören. Diese Idee, so weiter Forest, sei ihm ein paar Jahre früher, nach einem gemeinsamen Essen mit Flusser gekommen. »Er sprach, gestikulierte, alle hörten ihm zu, er war ein geborener Komödiant. Plötzlich deutet er auf mich und sagt: ›Sehen Sie diesen Typ da, das ist der Typ Mensch, der Löcher in die Medien macht‹.« Flusser besitzt das Talent, sich geschickt in Szene zu setzen und immer wieder erfolgreich in den Mittelpunkt einer Gesprächsrunde zu rücken. Ströhl erinnert sich an seine Fähigkeit, jederzeit aus dem Stehgreif zu einem längeren Vortrag auszuholen, mit dem er auch größere Gruppen zu unterhalten versteht. Flusser:

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Ein Entertainer und Wortmagier. So schreibt ihm der Redakteur von Merkur Hans Paeschke am 8. Juli 1974: »Neugierig bin ich, ob Sie bis zu unserem Treffen noch ein weiteres Kindlein aus Ihrem Magierhut hervorzaubern werden.« In der Beziehung zu Forest scheint auch der plötzliche Tod durch Autounfall auf, der Flusser wie ein basso continuo in seinem Leben begleitet. Am 21. Mai 1975 schreibt Flusser Forest und dessen Frau Delphine, die ihren Sohn in einem tragischen Autounfall verloren haben. »Angesichts der Stupidität der menschlichen Kondition kann man nur schweigen […]. Aber Katastrophen wie diese verstärken die Solidarität zwischen Freunden, nicht? […] Wir müssen uns bald treffen […]. Wollen sie uns nicht beide besuchen kommen? […]. Wir haben viel zu diskutieren […], und ich denke, dass wir im Schatten des Todes authentischer und radikaler sein werden als gewöhnlich.« Im August desselben Jahres bittet Fred Forest Flusser um einen längeren Beitrag für ein geplantes Werk, das als Taschenbuch bei 10/18 unter dem Titel Art sociologique. Vidéo erscheinen soll. Jean Duvignaud, den Flusser schon kennt, ist der Herausgeber der Reihe. Forest schreibt, Flusser sei der einzige, der den theoretischen Ansatz von »Art sociologique« richtig verstehen und kritisieren könne. Es ist der Beginn einer zweiten heftigen theoretischen und persönlichen Auseinandersetzung. Am 10. September schickt ihm Flusser den englischen Essay »On the Art of Survival« mit der Bitte, diesen ins Französischen zu übersetzen. Da der Verlag dies aus finanziellen Gründen nicht leisten kann, bietet Forest seine Hilfe an. Am 20. Dezember schickt ihm Flusser die ersten drei Seiten eines weiteren diesmal auf Französisch verfassten Textes. Er bittet um genaue Lektüre. Falls der Verleger sein Französisch als zu problematisch betrachte, solle man ihm das sagen, bevor er sich in die Arbeit stürze. »Du weisst, dass ich nicht nur mit der Schreibmaschine arbeite, sondern mit meinem ganzen Wesen. Erspare mir dieses Engagement, wenn du irgendwelche Zweifel hegst. […] Also: wenn ich mich engagiere, dann gehe ich bis ans Ende, (das heißt auch ans Ende meiner Kräfte).« Forest sichert seine volle Unterstützung zu. Flusser schreibt den Beitrag bis Ende Februar 1976 fertig. »Sei nicht allzu voreilig mit deinem Urteil«, schreibt er ihm. »Ich kann verstehen, dass du Schwierigkeiten haben wirst, runterzuschlucken, was ich dir in die Visage spucke (pour avaler ce que je te crache dans le visage). Aber du musst es schlucken. Um es dann in mein Gesicht spucken zu können.« Forest meldet sich mit einem vierseitigen Brief zurück: der Text sei in seiner jetzigen Form nicht publizierbar, das sei das einhellige Urteil aller anderen Beteiligten. Er solle aus den olympischen Höhen seiner Gedanken hinuntersteigen und einen Argumentationsweg einschlagen, der weniger im Absoluten verharre. Er könne es sich nicht leisten, unnötige Risiken einzugehen. Im Gegensatz zu Flussers Kursen würden sich seine Arbeiten direkt mit der sozialen und ideologischen Realität der Dinge beschäftigen.

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Flussers schonungslose und pikierte Antwort aus London (Brief vom 3. März 1976) lässt nicht auf sich warten. Es ist ein süßsaurer gepfefferter Cocktail aus aggressiven demaskierenden und teilweise beleidigenden Bemerkungen, angereichert mit einem Schuss Überheblichkeit und Arroganz und abgerundet mit einer Dosis Versöhnlichkeit. Es tut mir Leid für dich, schreibt Flusser herablassend, weil du damit riskierst, den Essay zu verlieren. Ich glaube nicht, fügt er selbstherrlich hinzu, dass du in deinem Leben je wieder solch eine Antwort erhalten wirst. »Aber ich frage mich, was du eigentlich willst? Wenn du keine unnötigen Risiken eingehen willst, hast du kein wirkliches Ziel mehr, und damit auch kein nötiges Risiko mehr. […] Wir befinden uns beide in einer Situation, in der es schwierig ist, das Wirkliche vom Trügerischen zu unterscheiden […]. Ich bezweifle, dass du das besser kannst als ich, und dass deine Interventionen die Wirklichkeit auf direktere Art und Weise tangieren als meine Kurse, (und meine Ideen).« Was sie wirklich trenne, sei seine Weigerung, ein wirkliches Wagnis einzugehen. »Du sagst, ich würde dabei nichts riskieren. Wenn ich nichts riskieren wollte, wäre ich immer noch in São Paulo.« Forest antwortet erst am 22. Mai. Er hat die harten Worte weggesteckt und will Flussers Essay nun doch publizieren, allerdings in einer stark gekürzten Fassung, weil der Verleger Geldprobleme angemeldet hat. Obwohl er Flussers Einwände nicht fundiert finde, habe ihn dessen Kritik ein gutes Stück weitergebracht. Wenn man Flussers Heftigkeit standhält und sich nicht geschlagen gibt, die Kränkungen übergeht und selber zurückschlägt – oder wie Flusser es selber machoartig ausdrückt: die Spucke herunterschluckt, um dem Gegenüber selber ins Gesicht zu spucken –, dann können solche kompromisslose Konfrontationen durchaus bereichernd sein. Dies ist aber nicht jedermanns Sache, wie das Beispiel Mira Schendels verdeutlicht. Zu seinen zahlreichen Auseinandersetzungen mit Flusser berichtet Forest, in gewissen Situation habe Edith ihn verteidigt und Flusser daraufhin nachgegeben. Oft aber habe er sich in ein Argument hineingesteigert und dann keine Widerrede mehr geduldet. In anderen Situationen wiederum sei er auch fähig gewesen zu schweigen, zum Beispiel wenn er über keine Gegenargumente mehr verfügte. Er habe genau so viel von der Freundschaft profitiert wie Flusser. Diese Ausgewogenheit hat wohl auch damit zu tun, dass Forest wie Flusser eine Kämpfernatur ist. So hat er im Zusammenhang mit der Essaysammlung Art sociologique. Vidéo gegen den Verleger prozessiert und gewonnen. Man dürfe sich nie unterkriegen lassen, meint er dazu im Gespräch in Paris. Forests Erzählungen präsentieren Flusser als einen weltfremden, völlig unpraktischen Menschen, der allzu sehr in den Ideen lebt, um mit dem Alltag wirklich zurechtkommen zu können. Als Edith im April 1985 wegen einer Hüftknochen-Operation in Paris im Spital ist, gehen sie zusammen mit ein paar Freunden essen. Da Edith nicht dabei ist, ist Vilém ziemlich hilflos und

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hat Mühe, sich aus der Speisekarte etwas auszuwählen. Eine ähnliche Szene wiederholt sich in einem Restaurant im Sommer 1991, nachdem sie zusammen in Paris eine elektronische Installation von Forest angeschaut haben. Ein anderes Mal in Fontevraud trifft Forest auf einen sichtlich aufgebrachten Vilém. Überall am Boden liegen Bücher herum. Vilém beklagt sich über die unerträgliche Unordnung, ist aber selbst völlig unfähig (oder unwillig), etwas dagegen zu unternehmen. In dem 1992 in der Zeitschrift Kunstforum International erschienenen Essay »In der Metro und auf dem Videoband« schildert Forest eine weitere Begebenheit. Sie besteigen zusammen die Metro in Paris. Edith, die ihn sonst überallhin begleitet und nie verlässt – »so wie man nie ein Kind verläßt« – ist nicht zur Stelle. »Flusser war wie ein großer Kranker bei bester Gesundheit, der seine Schuhe nicht binden, keine Bierflasche öffnen, keine Schranktüre zusperren, keinen Platz im Restaurant finden konnte. Immer war Edith zur Stelle, um dies für ihn zu tun. Ohne sie war er verloren.« Der Metrozug ist gerammelt voll. Zwischen ihn und Flusser hat sich eine dichte Menge geschoben. Sichtbar über den Köpfen ist nur noch Flussers Mütze und der Regenschirm, den er wie »ein Periskop« in den Händen hält. Flusser spinnt unbeirrt und lauthals an den Gedanken weiter, die er auf dem Bahnsteig zu entwickeln begonnen hat. Von Zeit zu Zeit versichert sich Flusser, dass Forest noch nicht ausgestiegen ist. »Dann sprach er in meine Richtung einen rein phatischen Spruch dieser Art: ›Fred, das ist wirklich eine Erfahrung, die Metro, zu dieser Stunde‹.« Im selben Essay findet sich auch eine weitere kurze Darstellung ihrer Freundschaft, die Forest als tumultuös und lebendig beschreibt, stets abwechselnd zwischen höchst intensiven und ruhigeren Momenten. Flusser hat die außerordentliche Gabe, seinem Gesprächspartner das Gefühl, zu vermitteln, intelligenter zu sein. Forest nennt es einen Zustand der Gnade. Flusser kann unerschöpflich über die abgelegensten Themen diskutieren. Er versteht es aber auch, im richtigen Moment zu stoppen. »Dann schob er die Brille auf seine Stirn und stützte sein Kinn auf die Hand, um mit einer von Vibrationen aufgeladenen Konzentration zuzuhören – bereit, loszuspringen wie eine Katze auf ihr Opfer.« In einem Brief vom 28. April 1978 beklagt sich Flusser noch über seine Isolation und seinen geringen Bekanntheitsgrad in Frankreich. Mit dem Beginn der 1980er Jahre aber verlagert sich sein Leben zusehends nach Deutschland. Dies hat zur Folge, dass man sich viel seltener schreibt und sieht. Im Dezember 1983 nach seiner Rückkehr aus Deutschland, schreibt Flusser Forest nach langer Unterbrechung einen kurzen Brief. Er passe sich gerne seinen Bedürfnissen an: »[…] was für mich zählt, ist die Möglichkeit, Ideen austauschen zu können.« Gut zwei Jahre später, am 18. Februar 1985 versucht Forest, den Kontakt wieder aufzunehmen. Er lasse sich von Flussers hartnäckigem Schweigen nicht entmutigen, zu groß sei seine intellektuelle Schuld ihm gegenüber, als dass dabei so etwas wie Stolz noch irgendeine Rolle spielen könne. Dass er da-

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mit kein eigenes Interesse verfolge, mache es für ihn noch einfacher zu schreiben. Forest erzählt im Detail, woran er gerade arbeitet und hofft bald, von ihm zu hören. Flusser antwortet drei Tage später mit einem sehr persönlichen, offenen, freundschaftlichen Brief, der zeigt, in welche existentiellen Widersprüche ihn der gesellschaftliche und akademische Erfolg verwickelt. Er kenne seine Verachtung für die Rituale der Universitäten, schreibt er am 7. November 1985. »Ich muss eingestehen, dass es verlockend ist, ›berühmt‹ zu werden, und ich tu mein bestes, um mich dagegen zu wappnen. Ich veröffentliche viel […] vielleicht zu viel. Ich habe an verschiedenen Symposia teilgenommen […]. Aber ich habe immer ein schlechtes Gewissen dabei. Meine eigentliche Wahl ist, wie du weisst, in einem kleinen Dorf zu leben, um die Ereignisse aus einer theoretischen Distanz zu verfolgen. Für mich besteht die Würde darin, nicht von den Apparaten verschlungen zu werden (ob es nun die akademischen oder die der sogenannten Massenmedien seien). Das ist nicht leicht. Ich bin mir sicher, dass du meinen aristokratisierenden Elitismus missbilligst, und ich habe selber meine Zweifel. Aber jedes Mal, wenn ich mich in das, was man eigentlich nicht mehr ›den öffentlichen Raum‹ nennen kann, herauswage, empfinde ich eine widerwärtige Eitelkeit (vanité répulsive): Was hältst du davon?« Im letzten im Archiv einsehbaren Brief vom 8. Mai 1991 erwähnt Forest ein Treffen mit Flusser an einem Kolloquium über Cyberspace in München und die Freude, ihn endlich mal wiedergesehen zu haben. Forest ruft ihn im Hotel an und will ihn im Laufe des Sommers in Robion besuchen, um sich über vergangene und zukünftige Projekte auszutauschen. »Du bist wirklich sehr berühmt geworden«, schreibt er ihm, »selbst aus der Schweiz […] erhalte ich Neuigkeiten über deine Aktivitäten.« Gemeint damit ist der Vortrag »Telematik. Verbündelung oder Vernetzung?«, den Flusser am 19. November auf der Tagung »Wo bleibt die Informationsgesellschaft?« des Gottlieb Duttweiler Instituts für wissenschaftliche und soziale Studien in Rüschlikon (Zürich) hält.

L ouis B ec Eine ganz besondere Rolle in Flussers neuem Leben in Europa spielt Louis Bec. Im Gegensatz zu den anderen drei hier beschriebenen Freundschaften, nimmt er an allen Veränderungen, die in den frühen 1980er Jahren einsetzen, aktiv teil. So publiziert er 1987 gemeinsam mit Flusser im Verlag von Andreas Müller-Pohle das Buch Vampyroteuthis infernalis, das neben einem Text von Flusser eine Reihe von bildhaften Darstellungen Becs enthält. Louis Bec ist 1936 in Algerien geboren. Er ist Biologe, selbsternannter Zoosystémicien, arbeitet für das Kulturministerium, unterrichtet an verschiedenen Kunstschulen und ist Direktor von CYPRES (Centre Interculturel de Pratiques et Echanges Transdisciplinaires) in Marseille. Bec, der wie Flusser bewusst auf

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der Grenze von Kunst und Wissenschaft operiert, versucht gezielt das Feld der Naturwissenschaften mit einer fabulatorischen Epistemologie zu erweitern, die auf künstlichen simulierten Lebensformen beruht und nach einer Methode vorgeht, die Bec als Technozoosemiotik bezeichnet. In bester französischer Tradition gründet er 1970 das »Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste«, auch ISRP genannt, dessen Namen an Alfred Jarrys Pataphysik und das 1948 ins Leben gerufene »Collège de Pataphysique« erinnert und auch einiges damit gemeinsam hat. Die Briefe des Instituts, die Bec an Flusser schreibt, kommen hochoffiziell und hochwissenschaftlich daher, mit eigenem Briefkopf, Unterschrift des Präsidenten und Stempel des Instituts. Die ironische Grundhaltung des ganzen Unternehmens soll auch das akademische Brimborium veräppeln. In einem Brief vom 29. Februar 1976 wird Flusser hochtrabend als »Monsieur le Conseiller Philosophique particulier« angesprochen. Im Schlussteil sind die Zeilen auseinandergerutscht. Bec entschuldigt sich dafür, beklagt den Mangel einer diplomierten Sekretärin, die sich das Institut wohl nicht leisten kann, und verabschiedet sich mit einem »Grand merci paranaturalistement et amicalment.« Am 28. September 1975 um 11  Uhr zelebriert das Institut in Cabrièresd’Aigues seinen fünften Jahrestag. Eine Gendenktafel wird enthüllt. Dabei werden aber keine langen ermüdenden Reden gehalten. François Bazzoli, Vize-Präsident des ISRP hält eine einführende fünfminütige Rede, gefolgt von Vilém Flusser, Alexandre Bonnier und dem Essayisten François Cali, denen ganze 20 Minuten zur Verfügung stehen. Flusser wird wohl unter der Zeitknappheit gelitten haben. Um 11.30 Uhr folgen schon die abschließenden Worte von Louis Bec, Präsident des ISRP und kurz darauf um 11.40 Uhr ein Aperitif d’Honneur. Für das Bankett sind ein nordafrikanisches Méchoui, ein ganzes grilliertes Schaf oder Lamm vom Spieß, Käse, Salat, Früchte und orientalische Süßigkeiten vorgesehen. Getrunken wird ein Vin rosé du Château de Sannes (Lubèron), ein Wein aus der unmittelbaren Umgebung von Cabrières-d’Aigues. Flusser ist, wie man auf Italienisch sagt, »una buona forchetta«, ein guter Esser, der auch einen edlen Tropfen nicht verschmäht. Das Institut untersucht die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen künstlichen und natürlichen Lebewesen. Bec erfindet ein ganzes Heer phantastischer Tiefseekreaturen, die er mit chimärischen Eigenschaften ausstattet. Er erschafft fiktive Taxonomien und Physiologien sowie eine Morphologie, die naturwissenschaftliche Klassifikationsschemata grundsätzlich hinterfragt. Dies geschieht auch in Form großer mehrfarbiger zoologischer Wandtafeln, wie man sie aus dem Schulunterricht und den Naturwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts kennt. Ein Beispiel dafür sind die beiden 1976-77 entstandenen Arbeiten Großer Plan der Sulfanograde Varenna Okeini Nr. 1 und Nr. 3, auf denen selbst dreidimensionale Haut- und Haarproben nicht fehlen. Bec operiert jedoch nicht in einem völlig erfundenen Raum. Die von ihm ersonnenen

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Lebewesen entstehen aufgrund strenger, empirisch messbarer Kriterien, wie zum Beispiel Wassertemperatur, Salzgehalt und Sauerstoffverbrauch. Darin gleicht er Flussers Vampyroteuthis infernalis, dessen Beschreibung zwischen wissenschaftlicher Exaktheit und künstlerischem Einfallsreichtum schwankt. Am 8. und 9. Oktober 1976 hält Flusser im Namen der ISRP in der 1971 gegründeten Maison de Culture in Chalons-Sur-Saône zwei Vorträge zum Verhältnis von Natur und Kultur, »Nature-Culture-Ordure« und »Orthonature et Paranature«. Orthonature/Paranature erscheint im Februar 1978 in einer Auflage von 60 nummerierten Exemplaren als Broschüre des Instituts. Darin diskutiert Flusser das Verhältnis von Natur und Kultur. Im Gegensatz zu gängigen Vorstellungen, welche die Kultur aus der Natur herleiten (Orthonatur), definiert Flusser die Natur als eine Transformation von Kultur (Paranatur). Damit verbunden ist eine Neubestimmung des Begriffs Kunst: diese ahmt nun nicht mehr die Natur nach, wie es die traditionelle westliche Definition von Kunst als Mimesis verlangt, sondern entwirft selber neue Paranaturen. In diesem Modell wird die Wissenschaft zudem zu einer möglichen Kunstform unter anderen. Wenn der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft hinfällig wird, dann ist jede Form von Wissenschaft ein Kunstgriff (auf Französisch »artifice«). Wenn die Wissenschaft selbst eine Kunst ist und die selbstbewusste Kunst zu einer Wissenschaft wird, dann kann man bei beiden Erkenntnisformen ästhetische Kriterien anwenden. Die Organismen des ISRP sind der lebende Beweis, dass es nicht nur eine Form von Natur gibt. Es gibt genauso viele Naturen, wie es Methoden gibt, diese zu erzeugen. Ein Beispiel dieses veränderten Verständnisses von Natur sind Becs schon erwähnte Sulfanograde, Schwefelkreaturen, die in einer gleichzeitig stattfindenden, begleitenden Ausstellung an der naheliegenden Avenue Victor Hugo in Chalons-Sur-Saône zu besichtigen sind. Auf Anfrage kann man für drei französische Francs kleine Plastiktüten, die die erstaunlichen Kreaturen enthalten, erwerben und sie dann selber großziehen. In einem unveröffentlichten 1987 entstandenen Text, der den Titel »Louis Bec: Sulfanograde« trägt, beschreibt Flusser diese in mehrfacher Hinsicht hybriden Organismen und die damit verbundene philosophische Perspektive. Sulfanograde sind simulierte Organismen, die auf vorhandenen biologischen Kenntnissen beruhen und zugleich zukünftige neue Erkenntnisse herausfordern. Anhand dieser Kreaturen lässt sich die Frage untersuchen, was geschehen würde, wenn man den Kohlenstoff in den Organismen durch Schwefel ersetzen würde. Diese Frage ist insofern bedeutend, als man tatsächlich an heißen Schwefel- oder Methanquellen in der Tiefsee lebende Organismen, sogenannte Extremophile, gefunden hat, die in Symbiose mit schwefel-oxidierenden Bakterien leben. Für Flusser ist der epistemologische Aspekt entscheidend. Mit dem Begriff der Simulation, den Flusser, wie Jean Baudrillard zum Beispiel, nicht als einfachen Gegensatz zur Realität sieht, sondern in einem

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projektiven Sinne versteht, befinden wir uns jenseits des Gegensatzes von wahr und falsch. »Dort, in diesem Jenseits, stehen die Sulfanograde. Wer dort steht, der kann nicht mehr zwischen Wissenschaft und Kunst unterscheiden. Dort nämlich treffen sich beide, um einander zu überholen. Dort wird Wissenschaft zu einer der Künste: sie macht Simulationen, die zur Erkenntnis führen sollen. Und dort wird Kunst zu einer der Wissenschaften: sie macht ihre Simulationen aufgrund vorangegangener und in Hinblick auf künftige wissenschaftliche Erkenntnis. Eigentlich war das schon immer der Fall; die Wissenschaft hat schon immer simuliert […] und die Kunst hat schon immer versucht, zu erkennen. Nur standen früher die Wissenschaftler und die Künstler noch diesseits von wahr und falsch und wußten daher nicht, was sie machten. Bec weiß es.« Bevor sich Edith und Vilém in Peypin-d’Aigues, an ihrem neuen Wohnort in der Provence in der Nähe der Familie Bec niederlassen, unternehmen sie zwei weitere ihrer zahlreichen Rundreisen quer durch Europa. Ende Februar 1975 verlassen sie Merano und fahren über Zürich nach Paris, wo sie am 25. ankommen. Am 1. März reisen sie weiter in den Süden Frankreichs, nach St. Rémy, Nîmes, Nizza und von dort über Genua, Bergamo zurück nach Merano, wo sie vom 8. März bis Ende April bleiben. Auf ihrer Durchreise besuchen sie am 5. März Louis Bec, der damals noch in Cabrières-d’Aigues wohnt. Flusser notiert in seinen Terminkalender dessen Namen, Adresse und Telefonnummer. Am 30. April verlassen sie Merano. Diesmal geht es über Tremezzo am Comer See, nach San Remo (Hotel Royal), Aix-en-Provence, Tours, Saumur, Dol-de-Bretagne und St. Malo. Sie verbringen einige Tage in der Bretagne, am Meer, in Sables d’Or les Pins und in Bénodet, das am Atlantik liegt. Von dort reisen sie zurück in den Süden über Cognac und Angoulême nach St. Rémy und Peypin- d’Aigues. Am 3. Mai, während sie noch in San Remo sind, schreibt Flusser eine Telefonnummer und eine Adresse in den Terminkalender: La Font Chaude, Peypin-d’Aigues, Par la Tour d’Aigues. Flusser hat neben den Namen der Vermieterin, auch den von Louis Bec zusammen mit einer Uhrzeit notiert, was darauf schließen lässt, dass Bec, wie später im Falle von Robion, die Rolle des Vermittlers übernommen hat. Die neue relative Stabilität und die Nähe von Louis und der Künstlerin Danièle Bec sowie der zwei Töchter, Virginie und Annelaure führen zu einem neuen, fast familiären Lebensstil. In diesen Jahren müssen sich Edith und Vilém auch einen Hund angeschafft haben, den man auf Fotografien vom Haus in Robion und von einer Vorlesung in Bielefeld im Herbst 1984 sehen kann. Eine struppige zerzauste mittelgroße Promenadenmischung namens Alma. Flusser und Bec sehen sich mehrmals die Woche auch ohne Voranmeldung. Man lädt sich regelmäßig gegenseitig zum Essen ein. Flusser erkundet das geographische Umfeld, das naheliegende Aix-en-Provence und Marseilles. Edith und Vilém fahren auch an das knapp 100 Kilometer entfernte Mittelmeer.

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Am 7. September kommt Dinah für einen dreiwöchigen Besuch. Auch Milton Vargas besucht Flusser in der neuen Umgebung. Am 6. Juni hält er in Marseille einen Vortrag über die Geste des Malens und besucht am 25. ein Konzert von John Cage in Aix-en-Provence. Diese fast alltägliche Intimität führt dazu, dass Flusser und Bec nur ganz wenige Briefe austauschen. In diesem Sinne ist die Situation mit dem Verhältnis zu Alex Bloch vergleichbar, mit dem er nur in den frühen 1950er Jahren, als er für kurze Zeit in Rio de Janeiro wohnt, und ab 1973 nach seiner Rückkehr nach Europa Briefe austauscht. Ist Bloch aber der stets verneinende Gegner und Gegenspieler, so ist Bec in vielfacher Hinsicht eine zutiefst verwandte Seele, ein kongenialer Freund und Vertrauter, und durch den ausgeprägten Altersunterschied wohl auch so etwas wie ein Sohn und Schüler. Die beiden sind durch ein grundsätzliches Einverständnis über die radikale Fiktionalität der Welt, einen Sinn für verspielte ironische Kreativität und ein Vorgehen auf der Grenze der Diskurse miteinander verbunden.

Abbildung 26: Vilém und Edith Flusser in Marseille (1980er Jahre)

Die Korrespondenz mit Louis Bec umfasst insgesamt acht Briefe Flussers und vier Becs, die sie zwischen dem Frühjahr 1976 und dem Herbst 1981 austauschen. Diese entstehen fast immer in Zeiten der Trennung. Flusser schreibt im Sommer 1976 und 1977 sowie im Herbst 1981 aus São Paulo. Als sich Flusser während seiner ersten Brasilienreise Mitte Juli 1976 eher enttäuscht meldet, schreibt Bec aufmunternd zurück: »Sie müssen wissen, dass die Freunde, die Sie hier haben, ungeduldig auf Sie warten, und sich freuen, Sie bald wiederzusehen.« Bec schreibt am 30. Juli 1978 seinerseits einen langen intimen Brief aus Caracas. Der Brief enthält Kritzeleien der jüngeren Tochter Virginie, die Bec ironisch als runische Schrift bezeichnet, sowie die Zeichnung einer

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Schnecke von Annelaure, die Edith und Vilém, welche damals noch keine Enkelkinder haben, einen großen Kuss schickt. Am 5. Juni 1980 schreibt Flusser aus London. Edith wird für mehrere Wochen allein nach Brasilien reisen. Flusser möchte bleiben, um zu arbeiten. Er fragt aber, ob und wie lange er in dieser einsamen Zeit bei den Becs wohnen könnte. Vilém hat Mühe, allein zu sein, er braucht die stete Präsenz anderer Menschen und den ununterbrochenen Dialog. Nach dem Umzug nach Robion bleiben weitere Briefe aus, werden sie doch durch den fast täglichen Dialog ersetzt. Am 30. März 1976 schreibt Flusser Bec einen Brief aus Cefalù an der Nordküste Siziliens. Sie sind auf einer ihrer zahlreichen ausgedehnten Italienreisen, die sie vom 15. März bis zum 24. April zuerst über Mâcon nach Paris und von dort über Neuchâtel und Zürich nach Merano führt. Von dort geht es dann nach Süden: Modena, Orvieto, Positano, Catania, Erice, und von dort zurück nach Cefalù, Cosenza und Terracina. Auf ihren regelmäßigen Reisen quer durch Europa werden bestimmte Fixpunkte immer wieder angelaufen. Der gewählte Weg und die jeweiligen Zwischenstopps scheinen von der jeweiligen Situation abhängig zu sein. Sie ziehen es meist vor, ein Hotel außerhalb der großen Städte zu wählen, das durch seine besondere Lage hervorsticht. So sind vom 2. bis zum 22. April im Hotel Approdo, das direkt am Meer liegt und einen Blick über den kilometerlangen Sandstrand bietet. Von dort aus fahren sie insgesamt fünfmal nach Rom, das nur 110 Kilometer entfernt ist. Die Reise führt dann wieder nach Norden zurück, nach Siena und von dort nach London, wo sie vom 26. April bis zum 11. Mai sind und die Tochter Dinah besuchen. Am 15. Mai sind sie wieder in der Provence. Flussers ausgesprochene Faszination für den Mittelmeerraum hat dazu geführt, dass sie zwischen 1975 und 1987 insgesamt zehn Italienreisen unternehmen. Nach der ersten Erkundungsreise im Juli 1972, die sie kreuz und quer, von Norden nach Süden und wieder zurück führt, verbringen sie zusammen mit Elisabeth und Abraham Moles im darauffolgenden Jahr zehn Tage auf der Insel Elba. Von der Schweiz her kommend reisen sie im Oktober 1974 erneut nach San Gimignano und erkunden von dort aus die Toskana: Volterra, Arezzo, Pisa und Siena. Die Rückreise führt über Montecatini Terme nach Mailand und Como und von dort über Lugano und den San Bernardino nach Merano (26. Oktober). 1975 sind sie erneut in Italien: von Trento (16. Oktober) über Bassano nach Vicenza, Ferrara, Bologna, Florenz, Rapallo, Portofino und Bordighera und von dort zurück nach Peypin-d’Aigues (25. Oktober). Auf die schon erwähnte längere Reise im Frühjahr 1976 (15. März-24. April) folgt 1979 noch eine weitere, die über Venedig (22.-26. Februar), Verona, Fiesole, Grottaferrata (4.-9. März), L’Aquila und Ferrara nach Jugoslawien an die dalmatinische Küste führt (Split und Dubrovnik). 1984 fahren sie zum zweiten Mal in den Süden des Landes. Auf der Durchfahrt übernachten sie erneut im Hotel Approdo in Terracina: Lucca (27. Januar) – Orvieto – Rom – Terracina –

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Neapel (31.-5. Januar) – Siena – Robion (7. Februar). Es folgen noch zwei weitere Reisen in den Süden Italiens: Die erste führt wieder über Lucca (24. Mai 1986), nach Frascati, Terracina (26.-28. Mai Hotel Approdo), Neapel (27. Mai-1. Juni) und Amalfi und von dort wieder nach Norden über Assisi, Gubbio, Albano Terme und Mantua bis nach Robion (5. Juni); die zweite verläuft über Straßburg (17. Mai 1987), Trento (18. Mai), Pistoia, Neapel und Amalfi und führt nach Erice (24.-31. Mai) in Sizilien und von dort wieder zurück über Amalfi nach Fidenza, Mailand, Straßburg und Robion (5. Juni). Diese letzte Reise steht im Zusammenhang mit Flussers Teilnahme am »Laboratorio Internazionale di Fenomenologia delle Immagini Fotografiche« in Erice. Flusser, der von Angelo Schwarz eingeladen wird, hält am 29. Mai einen Vortrag über die Philosophie der Fotografie. Er nimmt ebenfalls an der von Schwarz organisierten »Biennale Internazionale Torino Fotografia 85« teil, die vom 15. Juni bis zum 7. Juli 1985 in Turin stattfindet. Dort trägt er am 17. Juni zusammen mit Maurizio Mamiani zum Verhältnis von Philosophie und Fotografie vor. In Südfrankreich unternimmt Flusser auch den Versuch, die Erfahrung der Terrasse in São Paulo in Europa, wenn auch in einem eindeutig bescheideneren Rahmen wiedererstehen zu lassen. Jeden Samstagnachmittag um 15 Uhr trifft er sich mit dem fast zwanzig Jahre jüngeren Bec und Edith zum hoch ritualisierten Gespräch. Wie Bec berichtet, sitzt man sich in zwei Fauteuils gegenüber. Vilém im größeren, Louis im kleineren. Edith hört zu. Wie in den Briefen beginnt Flusser mit einer detaillierten Zusammenfassung der Woche, der gemachten Reisen, der wichtigsten politischen, ökonomischen und philosophischen Themen, die nach Aufmerksamkeit verlangen. Es werden Texte gelesen und aus dem Stehgreif für Bec ins Französische übersetzt. Danach wird der Text aus den verschiedensten Perspektiven diskutiert. Jede Bemerkung wird anhand von Wörterbüchern, Enzyklopädien und Atlanten überprüft, die Edith geduldig herbeischleppt. Bec spricht von seiner Faszination für das histrionische Talent Flussers, für dessen Redegewandtheit und intellektuelle Originalität, verliert aber kein Wort über das asymmetrische Setting, das ihn zum Zuhören zwingt und Edith wieder einmal in eine dienende Rolle einsperrt.

Schreiben und Publizieren

»[…] die Lästerlichkeit meines unstillbaren Publikationstriebs […].« Vilém Flusser, Bodenlos

Flusser versucht im Laufe der 1970er Jahre, in intellektuellen Kreisen und im Verlagswesen Frankreichs Fuß zu fassen. Er publiziert Essays in verschiedenen französischen Zeitschriften und hält Vorträge in Paris, Chalons-Sur-Saône sowie Universitätskurse in Aix-en-Provence und Marseille. Es gelingt ihm aber nur, ein einziges Buch zu veröffentlichen, wenn man von kleineren buchähnlichen Publikationen absieht. Eine Folge der Publikationsschwierigkeiten in Frankreich ist Flussers Versuch, in andere Sprachen auszuweichen. So publiziert er Natural:mente und Pós-história in Brasilien, weil es dafür in Frankreich kein Interesse gibt. Trotz des systematisch aufgebauten Freundesnetzes, bleibt er weitgehend isoliert. Sein Einfluss in der französischen Kultur ist marginal. Daran hat sich auch nach seinem Tod nicht viel geändert. Dies hat verschiedene Gründe, nicht zuletzt die sprachlichen Schwierigkeiten, über die er sich in verschiedenen Briefen beklagt. In den ersten Jahren lässt er seine Texte noch ins Französische übersetzen, später schreibt er sie selber direkt auf Französisch oder übersetzt sie aus dem Englischen und Deutschen. Durch die Übersiedlung nach Europa verstärkt sich Flussers Tätigkeit der Selbstübersetzung, was zu einer systematischen Strategie der Mehrfachverwertung führt, die auch einen Einfluss auf das Schreiben von Büchern hat. Flusser hat in Brasilien einige seiner Bücher auf Deutsch und Portugiesisch geschrieben, wobei er von der einen Sprache in die andere übersetzt hat. Einige Bücher und vor allem die Universitätskurse hat er konsequent nur auf Portugiesisch verfasst. In Europa erweitert sich das Spektrum der Sprachen. Sowohl Bücher als auch Universitätskurse und Essays verfasst er nun in drei, manchmal sogar in vier verschiedenen Sprachen. So gibt es von der Vorlesungsreihe Communication Photographique neben einer vollständigen französischen Fassung auch englische und deutsche Teilfassungen. Von Nachgeschichte gibt es zwei vollständige Fassungen (deutsch und portugiesisch), eine englische Teilfassung (17 von den insgesamt 20 Kapiteln) und ein Kapitel auf Französisch,

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das als Essay publiziert wird. Gesten liegt in zwei Ausgaben vor (deutsch und französisch) sowie in zwei Teilversionen (englisch und portugiesisch).

S chreibstr ategien Die Praxis der Selbstübersetzung spielt eine absolut zentrale Rolle in Flussers Denken. Flusser benützt sie, um sich vom Geschriebenen sowohl inhaltlich wie formal zu distanzieren, die Stimmigkeit und Kohärenz der Argumentation zu testen und Stilebene und Sprachregister zu prüfen. Kurz: um seine Texte zu kritisieren. Durch den Vorgang der Selbstübersetzung führt Flusser zudem das Prinzip der Pluralität in das schreibende Subjekt ein. Dadurch dass dieses vielfältige, ex-zentrische Ich sich andauernd in neue Sprachen übersetzt, wird es sich selbst fremd. Durch Selbstübersetzung können darüber hinaus verschiedene kontrastive Standpunkte gesammelt werden, da jede Sprache eine andere Perspektive auf den Gegenstand ermöglicht. Im neuen europäischen Kontext kommt der Praxis der mehrfachen wiederholten Selbstübersetzung noch eine weitere wichtige Bedeutung zu. Flussers Isolation und seine unsichere finanzielle Lage machen ihn abhängig vom Verdienst, den Symposien, Publikationen und Universitätskurse einspielen. Selbstübersetzung ist daher auch eine Form des verlegerischen Recycelns, das einem Prinzip der Vervielfältigung und Verwendbarkeit gehorcht. Flusser sieht in der (Selbst)Übersetzungspraxis aber auch eine existentielle Grenzerfahrung, eine ars moriendi, das heißt ein Spiel mit dem eigenen Tod, das dadurch zustande kommt, dass man einen Moment des Bruchs und der Diskontinuität in die Einheitlichkeit und Beständigkeit des Subjekts einführt. Flussers erste Schreibsprache ist Deutsch. Auf Deutsch schreibt er seine ersten Gedichte, das Theaterstück Saul und die ersten Bücher, Das Zwanzigste Jahrhundert und Die Geschichte des Teufels. Irgendwann im Laufe der 1950er Jahre beginnt er, seine deutschen Texte ins Portugiesische zu übersetzen sowie Essays und Bücher direkt auf Portugiesisch zu schreiben. Dies hat einerseits mit der Tatsache zu tun, dass er in Europa keinen Verleger findet und andererseits mit seinem wachsenden Engagement in der brasilianischen Kultur. Die Selbstübersetzungspraxis, die für Flussers Denkstil so wesentlich ist, kommt somit erst allmählich zustande und dehnt sich im Laufe der Zeit auch auf das Englische und Französische aus. In Briefen und Kommentaren hat Flusser viele verschiedene sich widersprechende Beschreibungen zu Abfolge und Sprachwahl geliefert. Mira Schendel schreibt er zum Beispiel am 27. September 1974. »Ich übersetze systematisch. Ich schreibe alles zuerst auf Deutsch, die Sprache, die am stärksten in meinem Zentrum pulsiert. Ich übersetze dann ins Portugiesische, die Sprache, die am meisten die soziale Wirklichkeit artikuliert, für die ich mich engagiert habe.

Schreiben und Publizieren

Dann übersetze ich ins Englische, die Sprache, die am ehesten unsere historische Situation artikuliert und die das reichhaltigste Repertoire besitzt. Am Schluss übersetze ich in die Sprache, in der ich den Text gern publiziert hätte. Ich übersetze ihn zum Beispiel ins Deutsche zurück oder versuche, ihn ins Französische zu übersetzen, oder schreibe eine neue englische Fassung.« Man kann feststellen, dass die Wahl der ersten Sprache und die weitere Reihenfolge der verwendeten Sprachen vom Thema abhängig sind und entscheidend von der jeweiligen Entstehungssituation des Textes mitbedingt sind. Die Wahl der Schreibsprache für die Schlussfassung hängt in der Regel von den bestehenden Publikationsmöglichkeiten ab. Weitere Fassungen werden meist in Hinblick auf andere mögliche Verwendungsbereiche erstellt. Neben der systematischen Selbstübersetzung und dem Verfassen verschiedensprachiger Versionen entwickelt Flusser eine dritte Schreibstrategie, die nicht nur dieselben Ziele wie die anderen beiden verfolgt, sondern mit diesen auch aufs engste verzahnt ist. Bücher entstehen nicht als kompakte, in sich stimmige Gebilde aus einem Guss, sondern durch das nachträgliche mosaikartige Zusammenfügen kleinerer beweglicher Texteinheiten. Die einzelnen Texteinheiten werden zuerst oft als Vorträge konzipiert, was nicht nur deren Länge bestimmt, sondern zugleich eine Möglichkeit bietet, den Text vor einem Publikum zu testen. Im Akt des Vortragens, der demjenigen des Vorlesens verwandt ist, können auch Klangfarbe und Rhythmus überprüft werden. Die Vorträge können dann zu Essays umfunktioniert und separat publiziert werden. Die einzelnen thematisch verwandten Texte werden wiederum zu ganzen Büchern vereint. Dies gilt nicht nur für Flussers erstes französisches Buch La force du quotidien (1973), sondern auch für viele weitere Bücher, die in den 1970er und 198er Jahren entstehen. Jedes einzelne der insgesamt zwanzig Kapitel von Pós-história geht auf einen Vortrag zurück, den Flusser an einem jeweils anderen Ort und in einer anderen Sprache gehalten hat: in Aix-en-Provence, Marseille, Jerusalem, Tel-Aviv, São Paulo und Porto Alegre. In einem Brief vom 26. Oktober 1979 an Alex Bloch, in dem Flusser seine Arbeit an dem Buch beschreibt, das damals noch der nachindustriellen Gesellschaft gewidmet ist, findet man einen Verweis auf die Länge und deren Funktion. Das Schreiben von kurzen, vierseitigen Essays »erlaubt thematische Gliederung und verhütet, von vornherein eine Struktur verfolgen zu müssen: also etwa ein Glasperlenband, an dem alle Perlen gleich groß sind, das Band selbst aber vor dem Aufknüpfen unbestimmt bleibt.« Eine ähnliche Strategie kommt im Zusammenhang mit dem Buch Gesten. Versuch einer Phänomenologie zum Zug. Flusser hält im Winter 1975-6 einen Kurs über Gesten am Institut de l’Environnement und 1977 den Kurs »Les Gestes« an der École d’Art d’Aix-en-Provence. Im Laufe der 1970er Jahre referiert er zudem über die Geste des Fotografierens in Arles, die Geste des Malens in Marseille und die Geste des Gehens in Avignon. Auch hier werden die ursprünglichen Vorträge zu publizierbaren Essays

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umfunktioniert, in andere Sprachen übersetzt und schlussendlich als Buchkapitel verwendet. Flussers kurze nomadische Texteinheiten überspringen leichtfüßig die Sprach- und Gattungsgrenzen.

S chreibmaschinen Ein weiterer wesentlicher Aspekt von Flussers Schreibtätigkeit ist sein stark ritualisierter Umgang mit mechanischen Schreibmaschinen. Das Auswechseln von Farbbändern zum Beispiel erledigt er nie selber, sondern lässt es in einem Geschäft ausführen. In einem Gespräch mit Daniela Kloock »Über das Zeitalter der Telematik« hält Flusser dazu fest: »Ich selbst habe eine alte Schreibmaschine, so wie sie in Osteuropa erzeugt wurden, jetzt werden sie auch nicht mehr hergestellt. Ich habe fünf Schreibmaschinen. Und man bekommt sie nur in ganz billigen Papierläden. Aber leider werden sie jetzt immer rarer. Das Malheur ist, ich bin technisch derart unfähig, daß jedes Mal, wenn das Farbband ausgeht, ich mir eine neue Schreibmaschine kaufen muß, weil ich es nicht wechseln kann.« Im Flusser Archiv in Berlin ist eine weiße AEG Olympia dactymétal senior erhalten (Abb. 27). Dieses Modell ist möglicherweise nicht in Frankreich, sondern in Jugoslawien von der UNIS hergestellt worden, was Flussers Bemerkung über die osteuropäische Herkunft seiner Schreibmaschinen bestätigen würde. Entscheidend für Flussers bereits beschriebene orthographische Eigenheiten ist, dass dieses Modell, wie praktisch alle anderen, die Flusser im Laufe der Jahre verwendet, nicht über eine deutsche Tastatur verfügt. Daher müssen die Umlautformen als »ae«, »oe« und »ue« geschrieben werden, was den Texten diesen leicht befremdlichen, altertümlichen Charakter verleiht. Aus demselben Grund verwendet er für das Eszet (ß) konsequent ein doppeltes S. In den publizierten deutschsprachigen Fassungen sind diese wichtigen formalen Unterschiede leider durchgehend dem allgemeinen Gebrauch angepasst worden. Wir haben in der Biographie diese Formen bewusst beibehalten, verweisen sie doch auf Flussers besondere Lage zwischen den Kulturen und sein gebrochenes Verhältnis zur deutschen Sprache. Flusser ist interessanterweise nirgends auf diese doch bemerkenswerte Tatsache und deren symbolische Konnotationen eingegangen. Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang stellt sein erstes Buch Das Zwanzigste Jahrhundert dar, in dem durchgehend Umlautformen verwendet werden. Daneben finden sich aber auch kürzere Textpassagen, wahrscheinlich Vorarbeiten zum Buch, in denen die Umlautformen ausgeschrieben worden sind. Die im Archiv in Berlin erhaltene Textfassung des Buches ist möglicherweise von einer anderen Person mit einer deutschen Schreibmaschine ins Reine getippt worden.

Schreiben und Publizieren

Abbildung 27: Eine der letzten Schreibmaschinen von Vilém Flusser

Flussers Schreibmaschinentexte weisen alle die gleiche Form auf. Das Schriftbild bleibt über die Jahre hinweg konstant: zum Bersten gefüllte Seiten, minimale Ränder und ebenso knappe Abstände an Blattanfang und -ende, nur ganz wenige Textblöcke pro Seite. Flusser hat alle mehrseitigen Essays nummeriert, fast immer beginnend mit der zweiten Seite. Die Zahl erscheint meist in der oberen rechten Ecke zwischen zwei Strichen. Die Essays sind praktisch nie datiert. Anhand einer Durchsicht der Texte von den 1960er bis in die 1990er Jahre lässt sich jedoch aufgrund einiger formaler Eigenschaften eine erste grobe zeitliche Einteilung erstellen. In den 1960er Jahren steht auf der ersten Seite meist noch kein Name, sondern nur ein Titel, der in der Regel unterstrichen ist. In den frühen 1960er Jahren taucht dann vereinzelt (auch auf Briefen) Vilém Flussers kursiv geschriebener Name in der oberen linken Ecke auf. Im Laufe der 1960er Jahre beginnt Flusser vorgedrucktes Papier mit seinem Vornamen und Namen in Großbuchstaben in der oberen linken Ecke zu verwenden. Diese Form benützt er bis in die frühen 1980er Jahre hinein. Danach setzt sich eine neue Form durch, die wohl damit zusammenhängt, dass Flusser nun meist auf Anfrage hin schreibt. So steht jetzt unter dem unterstrichenen Titel in Klammern fast immer auch der Name der Zeitschrift, der Zeitung oder des Symposiums, für die der Text gedacht ist. Manchmal ist auch das Jahr angegeben. Vilém Flussers mit der Schreibmaschine getippter Name steht nun in der oberen rechten Ecke. Der Akzent auf dem Vornamen kann fehlen und wird in einigen Fällen im Nachhinein mit der Hand ergänzt.

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Abbildung 28: Vilém Flusser, Zwerge (Textausschnitt)

Auffallend ist bei fast allen Texten die vollkommene Abwesenheit von nachträglichen Korrekturen. Äußerst selten sind von Hand angebrachte Veränderungen, aber auch hier wie in allen anderen Fällen kann man bei Flusser, der auf das Prinzip der steten Veränderung setzt, nie von einer absoluten Regel sprechen. Bei Vortragsessays der 1970er und 1980er Jahre findet man manch-

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mal Unterstreichungen, die wohl als Erinnerungsstütze dienen oder das Vorlesen erleichtern sollen. Auch hier stellt das Schreibmaschinenmanuskript von Das Zwanzigste Jahrhundert eine Ausnahme dar, weist es doch eine ganze Reihe signifikanter Korrekturen auf: mit einer Füllfeder durchgestrichene Sätze oder Satzteile sowie Neuformulierungen und Korrekturen von Tippfehlern. In einem unveröffentlichten Videointerview vom 2. Oktober 2014 geht Vera Schwamborn auf Flussers Umgang mit der Schreibmaschine ein. »Wie er da getippt hat ja das macht ja da hinten immer Pling, […] bei dieser Schreibmaschine. Und dann ist eigentlich Schluss. Und dann […] gehst du in die nächste Zeile. Und er hat immer über dieses Pling hinweg geschrieben. […] Er konnte ja kein Ende finden. […] Das Blatt Papier hat ihm das Ende vorgegeben und dann ist er weiter gegangen. […] Das war für ihn die Herausforderung […] das ist auch wie so eine Liebesbeziehung zu diesem Blatt Papier […] Das Denken, das Schreiben so zu steuern, dass […] das Blatt Papier bis zur Neige ausgeschöpft ist. Wie auch bei den Flaschen, bis zum Ende trinken. Und zwar exakt. Ohne besoffen zu sein, sondern zu leeren, Punkt, fertig, perfekt.« Flusser hat seine Texte immer wieder, immer wieder neu geschrieben und dabei grundsätzlich auf Notizen und nachträgliche Veränderungen verzichtet. »Die Sachen sind immer fertig. […] er macht ja tausende Varianten, also das ist ja das, wo er so gut darin ist. […] er hat ein Thema und montags schaut er es so an und dienstags ein bisschen anders. Und da schreibt er wieder einen neuen Text darüber. […] deshalb macht er sich dann keine Notiz, also diese Notiz ist das fertige Werk. […] ich bin nie über eine Notiz gelaufen. Würde eigentlich auch seinem ganzen Tun widersprechen.« Flusser hat an verschiedenen Stellen seines Werks den Umgang mit Schreibmaschinen und deren philosophische Bedeutung thematisiert. Die Funktionsweise der mechanischen Schreibmaschine enthüllt Wesentliches über den Schreibprozess und unser Verhältnis zur Wirklichkeit. In dem frühen unveröffentlichten Essay »Die Schreibmaschine«, eine Vorarbeit zum späteren Essay »Die Geste des Schreibens«, der in den Band Gesten aufgenommen wurde, geht Flusser auf das emotionale Verhältnis des Schreibenden zur Schreibmaschine ein. Im Gegensatz zu einem Pinsel oder einer Violine ist bei der Schreibmaschine ein persönliches Verhältnis nicht mehr möglich und eigentlich auch nicht nötig. Dies erweist sich aber als ein Vorteil. Die »Gleichgültigkeit des Schreibers gegenüber seiner Maschine« führt zu einer entscheidenden Wandlung des Schreibprozesses. Wer eine Feder benutzt, muss behutsam und leserlich schreiben. »Von diesem Zwang ist der Maschinenschreiber befreit, er kann draufhaun und dreinhaun, so schnell er nur will, er wird immer verständlich bleiben.« Jeder Text, der mit der Feder verfasst wird, ist einmalig. »Die Maschine jedoch liefert Durchschläge, eine Tatsache, die ebenso brutal wie das Wort

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ist. In der Möglichkeit des Durchschlagens liegt schon die Verleitung zur Verantwortungslosigkeit, das Geschriebene ist kein Individuum mehr.« Das Schreiben mit der Schreibmaschine ist eine kämpferische aggressive Geste, die auf ideale Art und Weise Flussers polemischen draufgängerischen Denkstil reproduziert und simuliert. Der auf den Tasten einer mechanischen Schreibmaschine herumhämmernde Schreibende ist verantwortungslos, ein unverantwortlicher Mensch und zugleich jemand, der die ihn einengende Verantwortung los ist. Diese Verantwortungslosigkeit erinnert zugleich an Flussers zentralen Begriff der Bodenlosigkeit. Schreiben ist ein Durchschlagen, ein Penetrieren, ein hartnäckiges Trommeln. Die Schreibmaschine artikuliert eine an Nietzsche gemahnende Philosophie mit dem Hammer. Die von der Schreibmaschine hingehämmerten Sätze zertrümmern falsche romantisierende Visionen des Schreibprozesses und machen der Mystik des inspirierten Schaffens den Garaus. Im Gegensatz zur Feder treibt die Schreibmaschinenschrift »das Unpersönliche, das Charakterlose und Typische, bis auf die Spitze.« Der wichtigste Aspekt im Schreibprozess ist der Widerstand, den das Schreiben zu durchdringen hat. Das von innen her Andrängende, noch NichtGeschriebene muss durch eine Reihe von Widerstand bietenden Schichten hindurch gedrückt werden. Dies wird im Schreibmaschinenschreiben deutlich, drückt man doch mit Buchstaben versehene Hämmer gegen ein Blatt Papier. Diese Vision, die an Kleists Vorstellung einer allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden erinnert, negiert die Vorstellung einer von der Sprache und der Praxis des Schreibens unabhängigen Wahrheit, die sich im Akt des Schreibens mehr oder weniger realisiert. Die sogenannte ursprüngliche Intention des Schreibenden, kann zwar angenommen, letztlich aber nicht festgestellt werden. »Besser ist die Frage«, so Flusser in »Die Geste des Schreibens«, »wie die Schichten beschaffen sind, die man durchdringen muß, um die Tasten der Maschine drücken zu können. […] Diese Hindernisse sind zahlreich, und unter ihnen gibt es einige, die der Schrift vorausgehen. Sie haben mit rhythmischen und gestalthaften Regeln zu tun, die sich gegen die auszudrückende Virtualität auflehnen und ihr bestimmte Strukturen aufzwingen. Doch erst nach der Durchdringung dieser Schichten, erst dann, wenn die Virtualität auf den Widerstand der Wörter stößt, entschließt man sich zu schreiben.« Die »Schnelligkeit, die Verantwortungslosigkeit und Charakterlosigkeit des Schreibmaschinenschreibens« schreibt Flusser im Essay »Die Schreibmaschine« machen ein unmittelbares Schreiben möglich. »Die Schreibmaschine ist aus der Sehnsucht geboren, das Wort so frisch und authentisch wie es aus Hirn und Herz (und anderen Organen) dringt, durch die Fingerspitzen aufs Papier zu bringen. […] Die Schreibmaschine verlängert […] den Weg des Gedankens zum Papier, und verkürzt die Zeit, aber die Leistung ist nicht dieselbe. Die Zeit, das ist der Feind des Gedankens, und die Maschine ist da,

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ihn zu schlagen.« Die Mechanik der Schreibmaschine soll den Schreibprozess beschleunigen. Dabei können aber auch falsche Sätze zustande kommen. Die Schreibmaschine erwischt die Echtheit, und hält sie fest. Darum kann sie einem auch als Lügendetektor dienen. Im schon erwähnten Gespräch mit Kloock argumentiert Flusser interessanterweise ganz anders. Hier geht es ihm um die Schwierigkeiten des Schreibens und die daraus resultierende Langsamkeit. »Ja, je mühsamer, desto besser, ich schreibe ganz langsam. Direkt ins Papier. Je langsamer, desto besser.« Das Schreiben an einer Schreibmaschine hat etwas grundsätzlich Diskontinuierliches. Ein Klingelton macht darauf aufmerksam, dass man ans Ende einer Zeile angelangt ist. Die Schreibwerkrückführung muss man dann selbst betätigen. »Die Schreibmaschine«, schreibt dazu Flusser in »Die Geste des Schreibens«, »ist ein Werkzeug, das zugleich für das Anfertigen der dargestellten Linien und als Gedächtnisstütze für bestimmte Aspekte der Geste des Schreibens programmiert ist. Sie läuft von links nach rechts, sie springt, sie klingelt, wenn sie in der Ecke ankommt, aber sie speichert auch die Zeichen des Alphabets in ihren Tasten. Sie ist also die Materialisierung einer ganzen Dimension der westlichen Existenz im 20. Jahrhundert […]. Ein verbreiteter Irrtum ist der Glaube, daß die Maschine die Freiheit der Geste ›einschränkt‹. Man ist freier, wenn man tippt, als wenn man mit einem Füller schreibt: nicht nur, weil man schneller und mit geringerer Anstrengung schreibt, sondern weil die Maschine besser als der Füller das Überschreiten der Regeln der Geste gestattet und zwar genau deshalb, weil sie die Regeln augenfällig macht.« Die Tastatur macht deutlich, wie aus aneinandergereihten Buchstaben Worte, Sätze, Paragraphen und ganze Texte entstehen. Umgekehrt ermöglicht die Klaviatur der Schreibmaschine ein Zerstückeln des inneren Gedankenflusses in Sätze, Wörter und Buchstaben. Die Schreibmaschine macht den durchdringenden Charakter des Schreibens deutlich, den Flusser in Für eine Philosophie der Fotografie als ein Zerreißen von Bildern bestimmt, die eigentlich aufgerufen sind, die Welt vorstellbar zu machen, diese aber schlussendlich verstellen. Schreiben ist in diesem Sinn eine ikonoklastische Geste. »Die Maschine schlägt mit ihren Hämmern auf die Oberfläche, und das Tippen ist somit eine eindringendere […] Geste als das Schreiben mit einer Füllfeder. Schreiben ist eine der Phänomenalisierungen des Denkens.« Obwohl wir die Wirklichkeit als ein Kontinuum wahrnehmen, artikuliert diese sich grundsätzlich in Pausen, im Stottern. Schreibmaschinen klappern. Filme bestehen aus einer diskreten Bildabfolge, die das Auge fälschlicherweise als Fluss registriert. Die auf den Bildschirm projizierten Pixel erscheinen als durchgängige Oberfläche. Das Schreiben mit der Schreibmaschine führt uns konkret vor Augen, dass die scheinbar bruchlose Kontinuität des Wirklichen in ein aus Punkten zusammengesetztes Ganzes zerfällt. Dieses Moment wird im Essay »Warum klappern eigentlich die Schreibmaschinen?« aus Vom Stand

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der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design thematisiert. »Maschinen sind Stotterer, auch wenn sie zu gleiten scheinen. Das erkennt man an schlecht funktionierenden Autos und Filmprojektoren. Aber diese Erklärung genügt nicht. Denn die Frage meint: Warum stottern Maschinen? Und die Antwort lautet: Weil überhaupt alles auf der Welt (und die Welt als Ganzes) stottert.« Aber zurück zu Flussers Publikationsversuchen im Frankreich der 1970er Jahre.

P ublik ationsstr ategien Der Briefaustausch der frühen 1970er Jahre zeigt, wie hartnäckig und systematisch Flusser vorgeht und welche Strategien er jeweils einsetzt, um sein Beziehungsnetz zu erweitern und zu verdichten. Persönliche Beziehungen führen zu neuen Publikationsmöglichkeiten und diese wiederum führen zu neuen Begegnungen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Forest vermittelt einen ersten Kontakt mit der von Jean Duvignaud, Georges Perec und Paul Virilio 1972 neu gegründeten Zeitschrift Cause commune. Flusser schreibt Duvignaud am 12. Oktober 1972, wenige Monate nach seiner Ankunft in Europa, einen ersten Brief aus Genf. Er hat vor, ihn am 30. Oktober in Paris zu besuchen. Als Adresse gibt er die Délégation permanente du Brésil, an der Rue Carteret 33 in Genf an. Dieses Treffen kommt jedoch nicht zustande. Flusser und Duvignaud begegnen sich hingegen am 11. Dezember an einer Diskussionsrunde im Institut de L’Environnement zum Thema Kunst und Kommunikation. Flusser schickt Duvignaud zwei Texte: »The Bed« und »Line and surface«, der auf einen Vortrag Flussers in Lausanne zurückgeht und im Frühjahr 1973 in der amerikanischen Zeitschrift Main Currents in Modern Thought in New York erscheint. Im Brief erwähnt er eine mögliche Zusammenarbeit im Französischen Fernsehen (ORTF) und lädt Duvignaud an die kommende Biennale ein. Flusser wird die brasilianische Karte bis in die 1980er Jahre hinein immer wieder geschickt ausspielen. Do ut des. Dabei geht er nach einem Prinzip einer sich zunehmend enger gestaltenden dialogischen Zusammenarbeit vor, die den Gesprächspartner in ein sich stets ausdehnendes und dichter werdendes Netz einspinnen soll. Duvignaud geht auf Flussers Einladung an die Biennale ein; er wird mit einer vierköpfigen Gruppe teilnehmen. Im Februar 1973 publiziert Cause commune einen ersten vom Englischen ins Französische übersetzten Essay: »Du Lit« (Nummer 5). »Line und surface« ist für die nächste Nummer vorgesehen. Nach Erscheinen des ersten Essays reicht Flusser gleich zwei weitere nach, »Books« und »Mirrors«, der im November 1973 in einer französischen Übersetzung veröffentlicht wird. Im Begleitbrief weist er darauf hin, dass die beiden Texte zusammen mit »Beds« Teil desselben phänomenologischen Schreibprojektes sind und Ende 1973 in einer Essaysammlung beim Verlag Mame in Paris publiziert werden sollen. Zudem

Schreiben und Publizieren

fordert er eine schriftliche Bestätigung dafür, dass »Line and surface« in der nächsten Nummer erscheinen wird. Da dies nicht stattfindet, schickt Flusser im Mai den Text noch einmal an den Verleger, diesmal an M. Ferrier, dem er den Text bei seinem ersten Besuch der Zeitschrift in Paris ausgehändigt hat, mit eindringlicher Bitte um eine Stellungnahme. Den Kontakt mit der Zeitschrift pflegt Flusser auch über Frédérique Côme, mit der er Anfang Dezember 1972 gemeinsam La Grande Borne besichtigt, eine in den 1960er Jahren im südlichen Paris erbaute soziale Wohnsiedlung. In einem Brief an Côme vom 11. Mai 1973 spielt Flusser eine weitere Karte aus. Da sich Ferrier anscheinend für seine Arbeit interessiere, schicke er einen Text, der für ein Seminar über Kunst und Wissenschaft an der Columbia University vorgesehen sei: »Comment lire les symptômes?« Es sei das erste, was er auf Französisch geschrieben habe. »Meine Sprache ist zugleich barbarisch und unleserlich. Ich hab nicht einmal versucht, den Text zu korrigieren. Aber vielleicht versteht man, was ich sagen will? […] können Sie dafür einen passenden Publikationsort finde? Ich kenne die französische Presse noch nicht.« Es bleibt bei den zwei Publikationen. Flusser unternimmt weitere erfolglose Versuche bei den Zeitschriften Gulliver, Art Vivant und CREE. Zu weiteren Publikationen auf Französisch hingegen kommt es bei der Zeitschrift Communication et langages. Von 1973 bis 1978 publiziert Flusser insgesamt vier Texte, zwei durch Vermittlung Forests und die anderen zwei dank Moles. Am 3. Januar 1973 schickt er den Herausgebern der Zeitschrift den Essay »Dialogue and Discourse«. »Please do not consider the mistakes therein (I write English better than French, but not well). I am sorry to give you the additional bother of translation.« Flusser möchte wissen, ob die Autoren der Zeitschrift für ihre Publikationen bezahlt würden. Obwohl dies nicht der Fall ist, überweist man ausnahmsweise 150.- französische Francs auf sein Konto. Flusser hakt sofort nach und schickt den Vortrag »The Future of Television«, den er im Januar 1974 am MOMA in New York innerhalb der Veranstaltung »Open Circuits« halten wird, in der Hoffnung, man könne diesen noch vor dem Treffen publizieren. An diesem Vortrag zeigt Flusser auch ein Video von Forest.

M aison M ame Moles vermittelt den Kontakt zum französischen Verlag Maison Mame an der Rue de Rennes in Paris, wo er Herausgeber der wissenschaftlichen Reihe collection médium ist. In dieser Reihe erscheint im Herbst 1973 Flussers erstes in Europa verlegtes Buch. Im Herbst 1972 besuchen Flusser und Forest die Verlagsleiterin, Anne Doria, die an einer phänomenologischen Essay-Sammlung über Alltagsgegenstände interessiert ist. Flusser hat an solch einem Projekt, das den Titel Coisas que me cercam (Dinge, die mich umgeben) tragen sollte,

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in Brasilien noch vor seiner Rückkehr nach Europa gearbeitet. Ende Dezember schickt er dem Verlag sechs Essays in einer englischen Übersetzung. »I send them in English (although my English is not very good, it is better than my French). Please disregard any errors in grammar or orthography, I did no revision, since the essays have to be translated anyhow.« Am 21. Februar 1973 schickt ihm Doria den Vertrag. Der erste provisorische Titel ist Communication et environnement (Kommunikation und Lebenswelt). Noch fehlen einige Seiten, damit die erwünschte Länge des Buches erreicht ist. Flusser reicht die Essays »Fountainpens« und »Motor cars« nach. »Canes« soll entfernt und durch »Spectacles« ersetzt werden. Schließlich werden aber beide Texte aufgenommen. Im Juni 1973 hat man sich auf den definitiven Titel geeinigt: La force du quotidien. Doria schickt Flusser Ende Juni die französische Gesamtübersetzung des Buches von Jean Mesri und Barbara Niceall. Das fertige Buch enthält ein Vorwort von Moles, eine Einführung von Flusser sowie zehn Kapitel: Stöcke, Flaschen, Füllfedern, Brillen, Teppiche, Mauern, Spiegel, Bücher, Betten und Autos. Es ist auffallend, wie kompromissbereit und flexibel Flusser bei der Zusammenstellung und Herausgabe seiner Texte ist. Dies gilt auch für Detailfragen. Der Umgang mit seiner ersten französischen Buchpublikation ist in diesem Sinne exemplarisch. Als Moles in einem Brief Flusser darauf aufmerksam macht, dass es mit einer Schreibmaschine nicht einfacher zu schreiben ist als mit einem Kugelschreiber, korrigiert Flusser die Stelle umgehend. Als er Ende Dezember 1973 vom Verlag die Druckfahne erhält, verlangt er explizit, dass man seinen Namen korrekt schreibt, das heißt, ohne Umlaut. »Everything seems to be o.k., but my name is written wrong all through. It is FLUSSER without the tremolo, (two points) on top of the U. Is there time to change it?« Als auf dem fertigen Buch dann sogar Vilèm Flüsser steht, reagiert er gelassen. Er habe zwar noch nicht seine eigenen Belegexemplare erhalten, eine Kopie aber in den Händen gehalten. Trotz des zweifach fehlerhaft geschriebenen Namens habe es ihm gefallen. Dieses Verhalten steht ganz im Gegensatz zu demjenigen Moles’, der sich über die Illustrationen und über die falsche Schreibweise von Flussers Namen beklagt. Die Illustrationen passen seiner Meinung nach nicht zum Text, da sie dessen Niveau deutlich unterbieten. Der Name des Autors der Einführung fehle auf dem Titelblatt, bemerkt er in eigener Sache. Zudem kritisiert er die Wahl der Schriftart für den Umschlag und die Einführung. Ob Flussers Flexibilität letztlich auf eine gewisse Gleichgültigkeit Details gegenüber zurückgeht, sei hier dahingestellt. Wie schon in der Vergangenheit geht es ihm zuerst einmal darum, publiziert zu werden. Flusser funktioniert nicht nur als eine ständig produzierende und selbstübersetzende Textmaschine, er ist auch sein eigener Impresario, was die viel behauptete These seiner grundsätzlichen Weltfremdheit zumindest in Frage stellt. Als der Presseattaché des Mame Verlags im Sommer 1973 ein Treffen mit

Schreiben und Publizieren

Marshall McLuhan zu organisieren versucht, bittet er dringend, telefonisch informiert zu werden, sobald das Datum festliegt. Die Begegnung kommt aber nicht zustande. Flusser, der weiß, wie man seine eigene Karriere fördert und worauf es dabei ankommt, bittet den Verlag, einen Presseagenten ausfindig zu machen. Im Frühjahr 1977 soll er einen Vortrag unter dem Titel »L’irruption du téchno-imaginaire« in Paris halten. Forest verschickt 800 Einladungen. Flusser beauftragt ihn auch, Claude Lévi-Strauss und Alain Robbe-Grillet, mit dem er ein langes Gespräch im Institut de l’Environnement gehabt hat, direkt anzuschreiben. Um das Budget aufzurunden, liest und begutachtet er verschiedene Manuskripte für den Verlag. Der Verlag Duas Cidades in São Paulo will Gaston Bachelards La terre et les rêveries du repos publizieren. Edith würde die Übersetzung übernehmen. Flusser bittet den Verlag, dies abzuklären. Darüber hinaus versucht er mithilfe des Verlags, weitere anderssprachige Fassungen des Buches zustande zu bringen. Doria schickt La force du quotidien an den amerikanischen Verleger Doubleday und sucht einen italienischen und spanischen Verlag für das Buch. In einem Brief vom 6. November 1973 an Gordon Swann, von dem die Illustrationen zum Buch stammen, schreibt Flusser zuversichtlich, es solle weitere Ausgaben in Kanada, möglicherweise in den USA und Deutschland geben und eine weitere brasilianische Ausgabe sei in vollem Gange. Solche Wendungen des selbstzufriedenen Eigenlobs und der offenkundigen Werbung für die eigene Person finden sich in den Briefen immer wieder. Bei der deutschen Fassung handelt es sich um einen Versuch, das Buch bei Rowohlt unterzubringen. Die Verbindung läuft über Ernesto Grassi, mit dem Flusser schon seit Jahren bekannt ist. Doria telefoniert mit Grassi, der sich die französische Ausgabe ansehen will. Flusser soll ihm ein Exemplar zukommen lassen. Um für die Veröffentlichung seines Buches ein passendes Terrain vorzubereiten, versucht Flusser zugleich, Grassis Buch Humanismus und Marxismus an den Mame Verlag zu vermittelt. Zu diesem Zweck schreibt er eine vierseitige Rezension, die er am 21. November 1973 zusammen mit einem von Grassi verfassten Abstract an den Verlag schickt. Er habe das Buch in einem Zuge gelesen und sei davon völlig fasziniert. Mame müsse es unbedingt veröffentlichen. Nach seiner Rückkehr aus den USA Ende Februar 1974 findet Flusser einen Brief von Grassi vor, der ihm schreibt, Rowohlt werde das Buch nun doch nicht veröffentlichen. »Ich bedauere sehr«, schreibt daraufhin Flusser, »dass mein Buch in Rowohlt nicht herauskommen kann, und danke Ihnen fuer Ihre Bemuehungen diesbezüglich.« Wohl auch um den Kontakt nicht ganz abbrechen zu lassen, bietet er Grassi an, Humanismus und Marxismus bei Duas Cidades in São Paulo zu publizieren. Milton Vargas habe Edith aufgefordert, das Buch ins Portugiesische zu übersetzen. Grassi reagiert freundlich, aber distanziert. In einem letzten Brief, den Flusser fast zwei Monate später schreibt, entschuldigt er sich für sein Schweigen. »Die Verspae-

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tung meines Briefs ist auf unsere Irrfahrten durch Europa zurueckzufuehren. Diese Migration erklaert auch, warum Ihnen meine Frau bisher nicht schrieb.« So bleibt es letztlich bei der französischen Ausgabe. Flusser möchte nach La force du quotidien zwei weitere Bücher bei Mame unterbringen. Die Essay-Sammlung Ça existe la nature? (Existiert die Natur?) und die Autobiographie Bodenlos. Die Arbeit an den phänomenologischen Essays zum Verhältnis von Natur und Kultur ist eine Weiterführung des ersten Bandes zu Alltagsgegenständen und entsteht im Zusammenhang mit der beglückenden Erfahrung der europäischen Natur, die Edith und Vilém in vielen Reisen erkunden. Ende September 1973 schickt er Doria die ersten fünf Essays: »Cows« »Cedar«, »Rain«, »Fingers«. Weitere drei folgen bis Ende Oktober: »The Moon«, »Birds« und »Mountains«. Da das Buch nicht zustande kommt, veröffentlicht es Flusser dank der Hilfe von Milton Vargas 1979 in Brasilien bei Duas Cidades unter dem Titel Natural:mente. Am 26. Juli 1973 schickt Flusser dem Verlag erste Teile aus Bodenlos, das damals noch den Titel Zeugenschaft aus der Bodenlosigkeit trägt. Zusammen mit einem Brief schickt er am 13. Dezember 1973 auch eine auf Französisch verfasste Strukturskizze des Buches, deren Inhalt in wesentlichen Punkten von der späteren, posthum veröffentlichten deutschen Ausgabe abweicht. Flusser schickt weitere Teile des Buches an Moles, der ihn wie Doria, ganz im Gegensatz zu seinen brasilianischen Freunden, ermutigt weiterzuschreiben. Am 28. Mai 1975 bittet Flusser Doria, sie am neuen Wohnort in der Provence zu besuchen. Er verlangt eine Aufstellung der bisher verkauften Exemplare und möchte wissen, wie viel Geld dabei für ihn herausspringe. Er bedauert, dass der Erfolg des Buches letztlich nicht den allgemeinen Erwartungen entsprochen hat. Von den 2951 gedruckten Exemplaren sind 722 verkauft und 197 für Werbezwecke eingesetzt worden. Die Ausgaben übersteigen die Einnahmen um ungefähr 400.- französische Francs. Im Juni desselben Jahres berichtet Doria, dass Mame endgültig geschlossen wird und sie deshalb arbeitslos ist. Sie lädt Edith und Vilém ein, sie in St. Tropez zu besuchen, wohin sie aus Paris gezogen ist. Augenzwinkernd und Bezug nehmend auf die eigene Entscheidung, sich aufs Land zurückzuziehen, bemerkt Flusser in seiner Antwort dazu: »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entscheidung, ein kontemplatives Leben zu führen, das einzige, das zur dekadenten Situation passt, in der sich unsere Zivilisation befindet.« Zwei Jahre später übernimmt Jean Pierre Delarge den Verlag. Flusser möchte wissen, wie es um seine Manuskripte und die verbleibenden nicht verkauften Bücher steht. Nur ganz wenige Exemplare sind in der Zwischenzeit verkauft worden. Delarge schickt einen Scheck über 100.- französische Francs. Die hartnäckigen, wohl auch kränkenden Publikationsschwierigkeiten und die begrenzte Resonanz im französischen Raum spielen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Flussers fast explosiver Wirkung in Deutschland in

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den 1980er Jahren. In einem Brief an Moles vom 17. Juli 1981 beklagt er sich über die Schwierigkeit, in Frankreich als Autor aufzutreten. Im April habe er die portugiesische Fassung von Nachgeschichte abgeschlossen und in der Zwischenzeit eine deutsche Fassung an den Klett-Cotta Verlag geschickt. »Now I have a draft in French, (with the help of my Arab neighbour). What would you suggest I do with it? I cannot stay in France without publishing there for the silly reason that my French is so bad.« In einem weiteren Brief vom 12. Januar 1982 an Hervé Fischer berichtet er von der französischen Fassung von Nachgeschichte und folgert resigniert: »Ich glaube, dass man nicht in einem Land leben kann, ohne dort zu publizieren.«

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»Ich wurde in Deutschland gefeiert.« Vilém Flusser in einem Brief an Alex Bloch (12. November 1983)

W endepunk t Im Februar 1980 stehen Edith und Vilém vor der Entscheidung, La Font Chaude definitiv zu verlassen und vorübergehend in Straßburg bei Abraham Moles zu wohnen. Es ist nicht klar, ob sie weiterhin Miete für das Haus bezahlen wollen. Als Louis Bec und seine Familie kurz darauf ins fast hundert Kilometer entfernte Sorgues in der Nähe von Avignon ziehen, beschließen sie, ihnen dorthin zu folgen. Im Frühjahr kaufen sie sich dank Becs Vermittlung ein bäuerliches Anwesen im nur noch dreißig Kilometer von Sorgues entfernten Robion, wo sie bis zu Flussers Tod im November 1991 leben werden. Es ist das erste Mal seit ihrer Rückkehr nach Europa, dass sie in ihrem eigenen Haus wohnen wie früher in São Paulo. Bis zu diesem Zeitpunkt sind sie immer irgendwo zur Miete gewesen. Die neue Wohnsituation verändert zwar ihren nomadischen Lebensstil nicht, bietet aber eine gewisse existentielle Beständigkeit und dies gerade in dem Moment, wo sich der Schwerpunkt ihres Lebens von Frankreich nach Deutschland zu verlagern beginnt. Robion befindet sich südöstlich von Avignon, in der Nähe von Cavaillon. Das neue Haus ist ein kleiner zerfallener Mas, ein freistehendes bäuerliches Anwesen, das einem Architekten gehört. Für Haus und Terrain bezahlen sie 300.000 und für die dringend notwendige Renovierung, die der frühere Besitzer übernimmt, weitere 200.000 französische Francs. Ende Mai, nach einem letzten in La Font Chaude verbrachten Winter, ziehen sie vorübergehend nach London in Dinahs Wohnung an der Pavilion Road 139 in Knightsbridge südlich von Hyde Park, in der Nähe von Sloane Square. Dort wollen sie den Abschluss der Renovierung abwarten. Als Flusser im Sommer 1980 zusammen mit Edith in Brasilien ist, organisieren sie den Rücktransport eines großen Teils der Möbel und Kunstgegenstände aus dem früheren Haus an der Rua Salvador Mendonça. Flusser hält zahlreiche Vorträge in São Paulo und Porto Alegre, um das

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nötige Geld dafür zu verdienen. Dinah kommt aus Montevideo, wo sie im diplomatischen Dienst tätig ist, um ihnen beim Packen zu helfen. Mitte September sind Edith und Vilém wieder in London. Es folgt eine anstrengende Zeit. Um die Renovierung einigermaßen mitverfolgen zu können, reisen sie regelmäßig mit dem Auto über den Kanal nach Südfrankreich, wo sie in der Regel bei Bec übernachten. Im Dezember erreichen ihre Habseligkeiten aus São Paulo den Hafen von Marseille. Es gibt Probleme wegen einiger nicht deklarierter Bilder. Auch die Renovierung bereitet Schwierigkeiten. Aufgrund der Verteuerung, beginnt der Architekt überall zu sparen. Mitte Januar 1981 ziehen sie jedoch endlich in das neue Haus ein. Es ist ein eisiger Winter und die Heizung funktioniert nicht. In einem Brief vom 7. März 1981 an Alex Bloch berichtet Flusser ausführlich von den Anfangsschwierigkeiten und der neuen Wohnsituation. Bei den Instandsetzungsarbeiten scheint er nicht besonders aktiv gewesen zu sein. »Die Edith begann zu arbeiten wie un negre [sic!]. Zum Glück half uns ein junges Ehepaar von Künstlern en chômage. Jetzt erst beginnt das Haus Formen anzunehmen. Es ist auf einem Terrain, das seit undenklicher Zeit bebaut war. Überall Mauerreste. Es lehnt sich an die ramparts des vergessenen Château. Es hat drei Ebenen. Die unterste ist eine Cave […]. Sie dient als Abstellraum. Die zweite Ebene ist das Haus selbst. Ein Sitz- und Speisezimmer mit den S-Mendonça-Möbeln und -Bildern. Eine schöne provenzalische Küche. Eine Art Wendeltreppe zu Ediths und meinem Zimmer. Zum Teil uraltes, schön geschwungenes Gemäuer. Die dritte Ebene ist ein separater, uralter Bau, der mir als Schreibzimmer dient. Gegenüber ist eine herrliche natürliche Terrasse, die für die Zigeuner reserviert ist, wenn sie nach St. Marie de la Mer ziehen […]. Das Dorf ist nicht sehr freundlich und besteht zum großen Teil aus Ruinen, zum anderen aus HLM [Habitation à loyer modéré, sozialer Wohnungsbau in Frankreich] der Cavailloner Arbeiter. Wir werden uns adaptieren müssen.« Erstaunlich an dieser Passage, ist nicht nur die Tatsache, dass Edith und das arbeitslose Paar die ganze Arbeit verrichten, während er wohl in seinem Zimmer sitzt, in die Schreibmaschinentasten haut und an seiner Pfeife saugt, was in seinem Brief keine Erwähnung findet. Erstaunlich sind auch die unverhohlenen rassistischen Untertöne und die völlige Unumwundenheit, mit der Flusser die subalterne weibliche Rolle mit der eines Schwarzen kurzschließt. Spuren eines verkappten Rassismus finden sich immer wieder in Flussers Werk, was man bei einem Holocaust-Überlebenden eigentlich nicht erwarten würde. Was Flussers unbesorgte Verwendung des Wortes ›Neger‹ erklären könnte – aber damit nicht entschuldigt, besonders in Anbetracht seiner ausgesprochenen Sensibilität für Sprache –, ist die Tatsache, dass es noch nicht vor allzu langer Zeit im allgemeinen Sprachgebrauch anzutreffen war, besonders in Europa, und dementsprechend oft auch als völlig unproblematisch angesehen wurde. Inzwischen ist es auch hier zu Recht verpönt.

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Abbildung 29: Vilém Flusser in Robion (März 1983)

Robion ist ein uraltes Dorf, das am Westabhang des Luberon liegt, 5 km von Cavaillon, 30 km von Avignon und 60 km vom Marseiller Flugplatz entfernt. »Das Haus blickt auf den schroffen, weißlichen Felsen mit Pinien und Zedern auf der einen Seite und auf die Rhoneebene mit den Alpilles im Hintergrund auf der anderen Seite. Die Gegend ist voll schöner Dörfer (darunter Gordes mit dem Schloss Vasarelys und Lacoste mit der Ruine des Schlosses des Marquis de Sade). Oppede (die Ruine des Meinhard d’Oppede) und Menherbes (die Ruine des Minervatempels) sind in Gehweite, St. Remy (van Gogh) und Glanum (das römische Castrum) 10 Minuten mit dem Auto.« Flussers detailreiche Schilderung der Vergangenheit Robions als mehrfach überschichtetes Palimpsest, in einem weiteren Brief an Bloch vom 19. Juli 1981, reicht von den vorgeschichtlichen Anfängen bis in die Gegenwart hinein und liest sich wie ein kurzer Abriss der gesamten Menschheitsgeschichte. Bemerkenswert ist nicht nur Flussers historischer Überblick, sondern auch der extreme Detailreichtum der Schilderung. »Uns gegenüber ist eine Felsenwand (la falaise du Luberon), in der Höhlen sind, welche zum Teil von Vögeln (Tauben, Dohlen, Falken und einem Adlerpaar) behaust sind. Dort wurden Grabstätten und ungeglättete Steinwerkzeuge gefunden, die vielleicht bis in das 30. Jahrtausend zurückeichen dürften. Es war eine Kultur, die mit der Dordogne (Cro-Magnon, Ste. Madeleine usw.) in Verbindung stand, aber selbstredend weit jüngeren Datums. Die Ponies und Bisons sind wohl hier zwischen den Gletschern der Alpen und der Pyrenäen durchgezogen, und die Menschen mögen hier von der Höhe aus über der Rhone-Ebene gelauert haben.« Ingold, der Flusser mehrmals in Robion besucht, erinnert sich an ausgedehnte Spaziergänge in der unmittelbaren Umgebung und wortreiche Exkurse. Flusser habe über archaische Steinmauern doziert und landschaftsphi-

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losophische Reflexionen über Transportwege zwischen den Alpen und dem Mittelmeer entwickelt, mit sehr präzisen Angaben über Verläufe und Funktionen uralter Straßenbauten. Viléms wichtigste Geste, so weiter Ingold, sei der ausgestreckte Arm zum Horizont hin, seine Optik, die Panoramafahrt. Das große Ganze sei ihm wichtiger als das Detail, der Satz wichtiger als das Wort gewesen. Eine vergleichbare Szene – ein gemeinsamer Spaziergang in der Abendsonne – findet sich am Ende von Michael Bielickys Video Vilém Flussers Fluß, das im August 1991 in Robion kurz vor Flussers Tod realisiert wird. In der fast paradiesisch anmutenden Landschaft rund um Robion gedeihen reichlich Wein, Oliven und Obst. Um 6000 v. Chr. befand sich ungefähr am Ort, wo das Haus steht, ein neolithisches Dorf. Die griechischen Phöaker gründeten um 850 v.  Chr. das 4 km entfernte Cavaillon. In der Nähe befindet sich eine griechische Villa. Im Zuge der Völkerwanderung erreichten die Wisigoten die Gegend. Im Herbst 700 folgten die Araber, die einen Alcázar – eine maurische Festung – bauten, der auch das Haus umschloss, in dem sie wohnen. »Aus dieser Zeit stammen die Zedern gegenüber unserem Haus. Sie sind nicht libanesisch, sondern kommen aus dem Atlas.« Robion wurde albigensisch, später calvinistisch und jakobinisch. Es unterstützte die Maquisards auf dem Luberon in ihrem Kampf gegen die deutsche Besatzung. Heute wählt es sozialistisch und kommunistisch. »Wenn wir hier wohnen«, schreibt er am 1. Mai 1983 an Bloch, »dann doch nicht aus irgendeinem Engagement, sondern weil wir au-dessus de la mêlée leben wollen.« Und am 16. Mai 1985: »Man soll nicht nur intellektuell, sondern auch existentiell ausklammern (zum Beispiel in Robion wohnen).« Im Juni 1981, kaum haben sie sich einigermaßen im neuen Haus eingerichtet, laden sie sämtliche Freunde zu einem Symposium über die Analogien der Sprachen ein, das vom 3. bis zum 8. August stattfindet und als ein umfassendes Ideenlaboratorium konzipiert ist, welches sich mit dem Verhältnis von Text und Bild, Bild und Raum, der Rolle der Technobilder und anderer Codes – zum Beispiel Musik, Theater und Körper – beschäftigen soll. Flusser interessiert sich auch für mögliche Interaktionen zwischen Natur und Kultur, der Region und der internationalen Gemeinschaft, dem Westen und der Dritten Welt. Das Frühjahr 1981 ist in vielfacher Hinsicht ein Wendepunkt. Flusser nimmt auf Einladung der Fotografin Erika Kiffl, die ihn im Jahr zuvor bei einer Veranstaltung in Wien kennenlernt, im Februar desselben Jahres an einem Fotosymposium im Schloss Mickeln bei Düsseldorf teil. Hier lernt er seinen späteren Verleger, den Fotografen und Herausgeber der Zeitschrift European Photography Andreas Müller-Pohle kennen. Auf dieses Treffen gehen weitere folgenreiche Beziehungen zurück. Besonders bedeutsam ist auch diejenige mit dem Schweizer Schriftsteller und Universitätsprofessor Felix Philipp Ingold, die durch den in Zürich lebenden Fotokünstler Rudolf Lichtsteiner, den Flusser in Düsseldorf getroffen hat, vermittelt wird. Auch die langjähri-

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ge Freundschaft mit dem in Hamburg lebenden Fotografen und Autor HansPeter Dimke lässt sich auf das Düsseldorfer Symposium zurückverfolgen. Damit bahnen sich erste entscheidende Kontakte an, die im Laufe der 1980er Jahre dazu führen werden, dass sich der Schwerpunkt von Flussers Schreib- und Publikationstätigkeit von Frankreich zusehends nach Deutschland verlagern wird.

Abbildung 30: Vilém und Edith Flusser mit ihrem Hund Alma in Robion (1980er Jahre)

Abbildung 31: Vilém und Edith Flusser in Robion

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In einem kurzen Text zum Symposium, der noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift Camera Austria erscheint, nimmt Flusser einen deutlich skeptischen Standpunkt ein. Dies wird sich im Laufe der folgenden Jahre ändern. Flusser verabschiedet sich zu Beginn der 1980er Jahre nicht nur von Frankreich als Schwerpunkt seiner Vorträge und Publikationen, sondern auch von einer eher pessimistisch inspirierten Weltsicht. Dieser Skeptizismus wird sich zwar nie ganz auflösen, aber einer wachsenden Begeisterung, die sicher auch mit Flussers spätem Erfolg zusammenhängt, Platz machen. »Während sich am Horizont die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wolken ballen«, schreibt er dort kritisch, »versammeln sich in einer Ecke des Bildes einige Menschen, um übers Fotografieren zu sprechen […]. Diese eines Bosch würdige Szene wird durch die Frage, die über der Versammlung schwebt […] ›Ist Fotografie Kunst?‹ ins Gespenstige gesteigert: Es mickelt im Schloss. Die Begriffe ›Fotografie‹ und ›Kunst‹ werden beschlichen, anstatt angegriffen zu werden. […] [Es] haben sich dort tatsächlich Gesprächskreise geformt […]. Ob allerdings ›neue‹ Ideen beschworen wurden, kann bezweifelt werden. […] Im Kopf einiger Beteiligten mögen vielleicht, seit Mickeln, einige Zweifel gespenstern.« In einer Mitteilung vom 25. Oktober 2016 an den Verfasser schildert Müller-Pohle den Vorgang aus seiner Sicht. »Als ich in den 1970er Jahren zur Fotografie kam, waren Benjamin, Barthes, McLuhan, Sontag und andere angesagt, aber Vilém Flusser war in der Szene vollkommen unbekannt. Das änderte sich schlagartig mit der Begegnung beim Düsseldorfer Fotosymposium. Vilém eröffnete die Veranstaltung mit einem Vortrag mit dem Titel ›Wie sind Fotografien zu entziffern?‹ und dem schon weit weniger eindeutigen Untertitel ›Für eine Theorie der Techno-Imagination.‹ Seine Terminologie, sein Duktus, sein ganzes Auftreten faszinierte viele Teilnehmer, einige stieß es ab […]. Nachdem ich mein Referat vorgetragen und den ersten Gegenwind abbekommen hatte, stand Vilém auf und sagte, das weiß ich noch wörtlich: ›Ich danke Ihnen für diesen ausgezeichneten Vortrag. Aber Sie sollten statt von visualistischer, von phänomenologischer Fotografie sprechen.‹ Das war der Beginn einer langen Auseinandersetzung, Zusammenarbeit und Freundschaft.«

A ndre as M üller -P ohle Der deutsche Fotograf, Medienkünstler und Verleger Andreas Müller-Pohle (1951-) spielt in dem hier angesprochenen Prozess der Verlagerung eine entscheidende Rolle. Müller-Pohle wird in Brunswick (Deutschland) geboren und studiert von 1973 bis 1979 Wirtschaft und Kommunikation an den Universitäten von Hannover und Göttingen. In einem ersten Brief vom 4. März schreibt Flusser, er habe sich sehr gefreut, ihn kennenzulernen und sei tief beeindruckt von seiner theoretischen Sicht. Wie schon bei Bec liegt auch dieser

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Freundschaft eine grundlegende Seelenverwandtschaft zugrunde, die in den folgenden Jahren Flussers Kreativität beflügeln wird. Zwischen 1983 und 1989 publiziert er im Verlag Müller-Pohles fünf Bücher, die die eigentliche Voraussetzung für seinen durchschlagenden Erfolg im deutschsprachigen Kontext zu Beginn der 1990er Jahre sind: Für eine Philosophie der Fotografie (1983), Ins Universum der technischen Bilder (1985), Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? (1987), Vampyroteuthis infernalis (1987) und Angenommen – Eine Szenenfolge (1989). Flusser hat bisher noch nie so viele Bücher, in so kurzer Zeit veröffentlicht. Dieser Kreativitätsschub hat sicher auch damit zu tun, dass er im Gegensatz zu den 1970er Jahren nicht mehr auf Französisch, sondern auf Deutsch schreiben kann und dass die Bücher umgehend publiziert werden. Im selben Brief lädt Flusser Müller-Pohle an die kommende XVI. Biennale in São Paulo ein. Müller-Pohle leitet einen Workshop an den Rencontres Internationales de la Photographie, die vom 26. Juli bis 1. August in Arles stattfinden, und besucht in diesem Zusammenhang Flusser in Robion. »Ihr Brief, mit seinen freundschaftlichen Bemerkungen und seinem engagierten Unterton«, schreibt ihm Flusser am 19. September 1981, »ist das Gegenteil apparatischen Funktionierens. Eine wahre Erholung.« Müller-Pohle fordert Flusser auf, in der von ihm verlegten Zeitschrift European Photography zu publizieren. Von 1982 bis 1994 publiziert Flusser dort insgesamt 24 Beiträge, fünf davon posthum. Der erste – »Fotografieren als Bildermachen« – erscheint in der Frühjahrsausgabe. Müller-Pohle vermittelt Flussers Teilnahme an einem Kolloquium zur Ausstellung am International Center of Photography »When Words Fail. 100 Years of German Photography 1840-1940«, der vom 19. bis zum 21. Februar 1982 in New York stattfindet. Am 14. März nach seiner Rückkehr schreibt Flusser von »niederschmetternden Eindruecken«, den Zwängen ununterbrochenen Produzierens und seiner Unfähigkeit, die Dinge treiben zu lassen. Es ist dieselbe unlösbare existentielle Spannung zwischen Rückzug und Engagement aus den 1970er Jahren. »Diesmal war New York fuer mich vor allem der Eindruck des Ueberflusses und der Ueberfluessigkeit von ›schoepferischen Handlungen‹, und die Erkenntnis der Notwendigkeit, zu all dem kritischen Abstand zu nehmen. Nicht Informationen zu erzeugen und zu horten, sondern Informationen zu verdauen. Nicht ›programming‹, sondern ›data processing‹. Also Robion, nicht Manhattan. Und doch kann ich nicht umhin, jeden Tag zu schreiben, also das Gegenteil von dem zu tun, was ich Ihnen hier predige. Ich gestehe: ich bin in einer Krise. Zum Beispiel: wir haben einige gemeinsame Projekte besprochen. Statt dies alles laufen zu lassen, bin ich begierig, von Ihnen darueber zu hoeren. […] Es ist eben so wie in dem alten Witz: nicht einmal konsequent und ein andermal inkonsequent, sondern konsequent inkonsequent sein.« In dieser ersten Phase der Freundschaft mit Müller-Pohle kommt es auch zu einer engeren Zusammenarbeit mit dem katalanischen Fotografen Joan

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Fontcuberta, den Flusser im April 1984 in Barcelona durch die Vermittlung Müller-Pohles kennenlernt. Joan Fontcuberta und Cristina Zelich haben Flusser und Müller-Pohle zu dem von ihnen organisierten Symposium »Mediterranean Photography« eingeladen. Edith und Vilém besuchen daraufhin Fontcuberta in Barcelona. Im Sommer 1984 verbringen Christina und Joan Fontcuberta ein paar Tage in Robion. Flusser, Müller-Pohle und Fontcuberta verbindet die Vorstellung, dass die Fotografie nicht einfach ein objektives Abbild der Realität darstellt, sondern subjektiven und konventionellen Regeln folgt. Im Dezember 1984 veröffentlicht Fontcuberta bei European Photography den Fotoband Herbarium für den Flusser eine zweisprachige englisch-deutsche Einführung schreibt. In der Botanik ist ein Herbarium eine Sammlung von getrockneten und gepressten Pflanzen oder Pflanzenteilen. Es geht dabei vor allem darum, verschiedene Pflanzen miteinander zu vergleichen oder das Vorkommen bestimmter Arten nachzuweisen. Ganz anders bei Fontcuberta. Was auf den ersten Blick als eine Reihe von schwarzweißen Fotografien exotischer Pflanzen erscheint, stellt sich bald als eine geschickte vielschichtige Inszenierung auf der Grenze von Kunst und Wissenschaft heraus. Fontcubertas 28 Pflanzen tragen lateinische Namen, wie es die taxonomische Konvention will. Diese erinnern aber eher an Edward Lears 1872 publizierte ironische Nonsens-Botanik als an einen wissenschaftlichen Traktat. Auch die in einem bewusst dokumentarischen Kontext abgelichteten Pflanzen sind alles andere als real. Es handelt sich dabei durchgehend um kleine ephemere Skulpturen aus industriellen Abfällen, die nichts Organisches enthalten. Die Pseudo-Pflanzen des Herbariums simulieren die Exaktheit wissenschaftlicher Klassifikation und präsentieren sich als ordinäre getrocknete Pflanzen aus exotischen Gärten. Fontcubertas spielerischer Ansatz gleicht Louis Becs paranaturalistischem Projekt mit dem Unterschied, dass Becs erfundene Taxonomie strengen empirisch verifizierbaren Regeln folgt. Sowohl Fontcuberta als auch Bec sind aber vom gleichen subversiven Flusser’schen Geist wissenschaftlicher Dekonstruktion beseelt, der auf eine radikale Infragestellung einfacher Vorstellungen von Realität, Faktizität und Objektivität abzielt. In einem Brief vom 1. Januar 1986 an Fontcuberta bringt Flusser dessen kritischen Umgang mit Fotografie auf den Punkt: »you understand what photos are about: to document something which does not exist.« In diesem Sinne bittet er ihn in einem weiteren Brief vom 2. September 1986, ein paar Fotos von einem imaginären Insekt anzufertigen, das er in der Philosophiefiktion »Bibliophagus convictus« beschrieben hat. »I am about to write a scientific paper on ›Bibliophagus convictus‹«, schreibt Flusser augenzwinkernd. »Would you be interested in photographing that animal? […] I know I can trust your capacity to document this animal as faithfully as you document plants, and I hope I can seduce you to do it.«

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Der Bibliophagus ist eine Insektenart aus der Ordnung der Hautflügler, zu der auch Bienen und Ameisen gehören. Im Unterschied zu diesen aber leben sie ausschließlich von gedruckten Texten, die sie kauen und zu kleinen Kugeln rollen. Dabei scheiden seine Speicheldrüsen ein Kritikase genanntes Enzym aus, das sich zusammen mit der Druckerschwärze zu einer Informasis genannten Säure verbindet. Die kleinen Kugeln werden an die anderen Mitglieder des Stocks weitergegeben, bis alle daran teilgenommen haben. Im Laufe dieser Prozedur nimmt die Menge an Informasis stets zu. Danach überbringt ein Mediator-Insekt die vorgekauten Kugeln dem nächstgelegenen Stock, was dazu führt, dass alle Bibliophagi Stöcke der Welt miteinander verbunden sind. Wichtig ist dabei, dass nur neue Informationen in das System eingespeist werden. Wird der gleiche Text, zum Beispiel in Form eines Zitats, ein zweites Mal gefressen, können krebsartige Verzerrungen entstehen, die über die Königin auch ins Erbgut des gesamten Stockes eingehen. Flussers Geschichte artikuliert eine utopische Vision kollektiver Verbundenheit durch die Verbreitung immer neuer Informationen und weist dabei zugleich auf deren dystopische Seite hin. Ein höchster ironischer und aktueller Text in Hinblick auf das Internet und dessen Geschichte. Am 15. September schreibt Fontcuberta: »Your invitation to illustrate your ›Bibliophagus convictus‹ seems very exciting to me and of course I agree.« Leider kommt das Projekt aus Zeitgründen dann doch nicht zustande. Eine Vorstellung davon, wie Fontcuberta Flussers Bibliophagus fotografisch umgesetzt hätte, kann man dem 1987 zusammen mit Pere Formiguera veröffentlichten Fotoband Fauna entnehmen. Die Autoren geben vor, das verloren geglaubte Archiv des 1895 geborenen und 1955 auf geheimnisvolle Weise verschwundenen deutschen Zoologen Dr. Peter Ameisenhausen entdeckt zu haben. Dieser hatte eine ganze Reihe von erstaunlichen Tieren katalogisiert und dadurch der Wissenschaft zugeführt, zum Beispiel den Ceropithecus icarocornu, einen mit Flügeln versehenen Affen, der ein Horn auf dem Kopf trägt oder die Solenoglypha polipodida, die aussieht wie eine Schlange mit 12 Füssen. Diese simulierten Tiere erinnern nicht nur an Becs Sulfanograde, sondern auch an die computergenierten Chimären, die Flusser 1987 in einem Essay über die amerikanische Künstlerin Nancy Burson erwähnt. Burson zerlegt Fotos berühmter Politiker und Schauspieler in Pixel und komputiert daraus zusammengesetzte Bilder, zum Beispiel das Gesicht eines Diktators aus Fotos von Hitler, Mussolini, Stalin, Mao und Chomeini. Zentrale Themen des jahrelangen Dialogs zwischen Flusser und MüllerPohle sind neben der Fotografie, der Apparat, das Utopische, das Verhältnis Bild/Schrift und Abstraktion/Konkretheit, die Immaterialität und die Möglichkeiten immaterieller Veröffentlichungen. In einem Brief vom 13. September 1982 entwickelt Flusser sein zentrales phänomenologisches Konzept der Subjekt/Objekt-Beziehung, im Kontext der Fotografie. »Wenn ich die reine Inten-

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tion ›Subjekt-Objekt‹ (das heißt das Projekt des Subjekts zum Objekt hin) vom Subjekt und Objekt befreie, bleibt nur das Projizieren uebrig. So: (S)➝(O). Man sollte erreichen, nur den Pfeil, nicht mehr das Objekt zu fotografieren, und zwar ohne dabei Subjekt zu sein. Das waere reines Projizieren, also ein Zurueck von der Abstraktion, zwar nicht zum Konkreten hin, aber zum reinen Verhältnis hin. Das meint Husserl mit ›zurueck zur Sache!‹, denn fuer ihn ist ›Sache‹ nicht Objekt, sondern ein Verhaeltnis, (eine Sachlage).« Auf Anregung Müller-Pohles verfasst Flusser einen ersten Entwurf zu einer Philosophie der Fotografie, den er ihm zusammen mit elf weiteren Texten, die wohl alle für eine mögliche Publikation vorgesehen sind, am 24. Juli 1982 vor seiner Abreise nach São Paulo zuschickt. Nach seiner Rückkehr Anfang September beginnt er mit der Niederschrift des Typoskriptes, das ungefähr 50 Seiten umfassen soll. Am 11. Dezember schickt er Müller-Pohle die erste Fassung. Über die Festtage verreisen Edith und Vilém nach Italien. Das Neujahr verbringen sie in Merano. Von dort reisen sie über Ravenna, Perugia und Siena zurück nach Nizza und Robion, wo sie am 15. Januar 1983 ankommen. Müller-Pohle schickt das überarbeitete Manuskript am 16. Januar zurück. »Im übrigen«, schreibt er im Begleitbrief, »schreit Ihr Buch bereits nach einer Fortsetzung – einer PHILOSOPHIE DES COMPUTERS. Doch darüber sollten wir reden, sobald wir mit dem jetzigen Thema fertig sind.« Müller-Pohle und Flusser scheinen sich gegenseitig anzutreiben. Zwei Tage später folgt Flussers Antwort. »Danke fuer Ihren lieben Brief […], der mich bei unserer Rueckkehr von einer herrlichen Italienreise erreichte, und der mir die Heimkehr angenehm gemacht hat. Es ist gut, Freunde zu haben.« Im selben Brief spricht Flusser, der es wie immer versteht, für sich und sein Buch gezielt Werbung zu betreiben, von einer möglichen brasilianischen, französischen und amerikanischen Ausgabe des noch nicht publizierten deutschen Textes. Am 23. März folgt die Druckfahne. Flusser schickt Müller-Pohle daraufhin eine Liste von Personen und Institutionen, denen man ein Exemplar des Buches zuschicken soll, unter ihnen sind auch Bazon Brock und Helmut Heißenbüttel. Flussers englische Übersetzung des Buches wird von der Princeton Press grundlos abgelehnt, auch die Cahiers de la Photographie verzichten aus finanziellen Gründen auf eine Publikation. Die englische Fassung, Towards a Philosophy of Photography, erscheint aber in einer von Derek Bennett stark überarbeiteten Version im April 1984 ebenfalls bei European Photography. Als Flusser im Februar 1984 einen Vortrag am Institut Culturel Français in Neapel über Text und Bild hält, dreht sich die nachfolgende Diskussion um seine Fotophilosophie. In einem Brief vom 11. Februar an Müller-Pohle spricht Flusser von einer möglichen italienischen Ausgabe des Buches und Zeitungsartikeln in Napoli Notte und Il Messaggero und verweist auf erste Zeichen einer breiteren Rezeption im deutschen Sprachraum. »Ich glaube, wir beginnen die deutsche Fotoszene aufzuwirbeln.«

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Im Herbst 1985 erscheint in Brasilien die von Flusser erstellte portugiesische Fassung des Buches unter einem neuen Titel Filosofia da caixa preta (Philosophie der Schwarzen Kiste), der auf die Tatsache hinweist, dass Flussers Essay weitaus mehr als ein Buch über Fotografie ist. Die Fotografie ist das erste Technobild und die Fotokamera eines der ersten Beispiele eines Apparates vergleichbar mit Auschwitz und den bürokratischen Verwaltungsapparaten Kafkas. Die früheren Studenten und Diskussionspartner der Terrasse in São Paulo, José Carlos Ismael, aber vor allem Maria Lília Leão spielen bei der Publikation eine entscheidende Rolle. In einem Brief vom 4. November 1985 bedankt sich Flusser bei ihr für die »fast übermenschlichen Anstrengungen«. Für eine Philosophie der Fotografie, das 2011 zu seiner elften Auflage gelangt, ist das weitaus erfolgreichste Buch Flussers und ist bisher in 23 unterschiedlichen Übersetzungen erschienen, unter anderem in einer japanischen, koreanischen und chinesischen Ausgabe. Es ist der erste entscheidende Schritt auf dem Weg zum Durchbruch, den Flusser teilweise noch selbst miterleben wird. Es ist wichtig, hier noch anzumerken, dass es Flusser mit diesem Buch nicht so sehr um eine Geschichte der Fotografie geht. Die Fotografie versteht er als ein Modell, das ihm erlaubt, über wesentliche soziale und kulturelle Änderungen der Moderne nachzudenken, insbesondere über die Herausbildung und Funktionsweise von Apparaten, womit sowohl der Fotoapparat, als auch der Verwaltungsapparat gemeint sind: technische Apparate wie der Computer und das Video, Kafkas Schloss, Auschwitz und Hiroshima. In einem Brief vom 30. Juli 1983 an Ingold stößt man auf eine äußerst aufschlussreiche Bemerkung Flussers zum Unterschied zwischen dem Video, das Flusser sehr intensiv in den 1970er Jahren beschäftigt hat, und dem neuen Medium der Fotografie, das in den frühen 1980er Jahren zu zentraler Bedeutung gelangt. »Worum es mir in dem Fotoessay ging, war das Wesentliche an Apparat und Programm in den Griff zu bekommen. Die Fotografie diente mir dabei nur als ein Vorwand, obgleich ich bemueht blieb, dem Phaenomen Foto treu zu bleiben. Tatsaechlich ist der Essay auf Aufforderung von European Photography entstanden, sonst naemlich haette ich lieber das Videobild mit seinen dialogischen Virtualitaeten fuer ein Modell einer Apparatfunktion genommen.« Dieser Hinweis Flussers relativiert die Ausschließlichkeit mit der sein mediales Denken immer wieder auf die Fotografie eingeengt worden ist. Inzwischen beginnt Flusser mit der Niederschrift eines Folgebandes, der den Arbeitstitel Lob der Oberflächlichkeit trägt, eine Vorarbeit zum späteren Ins Universum der technischen Bilder. Am 26. November schickt er Müller-Pohle die ersten 18 Seiten des Textes. Die Arbeit kommt aber nur langsam voran. »Ich schreibe fieberhaft weiter, und bin beim 7. Kapitel«, meldet er Müller-Pohle am 15. Januar 1984. Am 11. Februar schickt er Kapitel 4 bis 10 und dann in wöchentlichem Rhythmus die noch fehlenden der insgesamt 16 Kapitel. Das letzte, »Kammermusik«, ist am 22. März fertig: »Ich werde alles umschreiben,

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wenn ich Ihre Kritik habe.« Müller-Pohle berichtet, dass Flusser in der Zusammenarbeit stets auf Tempo macht. Nach jedem verschickten Kapitel folgt knapp danach ein Telefonat, in dem sich Flusser erkundigt, ob er das soeben verschickte Kapitel schon gelesen habe. Mitte April liefert Flusser Kapitel 3, 4 und 5 von »der Einfuehrung ins Universum der Technischen Bilder« nach, »die, wie Sie sehen werden, bereits Ihre Kritiken und Vorschlaege einverleibt haben.« In einem Brief vom 19. April verweist Müller-Pohle auf eine Besprechung zu Für eine Philosophie der Fotografie von Ingold, die in der Basler Zeitung erschienen ist: »eine Kritik Ihres Herzensfreundes Ingold, was für ein entsetzlicher blabla …« Die Kritik in der Basler Zeitung, antwortet Flusser, »ist nicht blabla, sondern geradezu ein unbegreifliches Missverstaendnis.« Ingold hat Flusser sein Buch über Malevič gewidmet, »wo er sich mit ›Fotophilosophie‹ weit besser auseinandersetzt.« Diese Meinungsverschiedenheit hat leider in der im Nachlass erhaltenen Korrespondenz mit Ingold keine Spuren hinterlassen. Zudem ist nicht deutlich, worauf sich die Kritik Flussers genau bezieht. Im selben Brief fügt Flusser hinzu: »Universum der technischen Bilder: Ich schwimme darin, und kann mich nur schwer fuer anderes interessieren. Ihre ›Vorschlaege/Kritik‹ sind fuer mich unentbehrlich, und ich baue sie ein, wo ich nur Platz dafuer finde. Beigeschlossen Kapitel 6-9, und ich arbeite fieberhaft weiter. Finden Sie bitte Zeit, das zu lesen und mich zu kritisieren. Meiner kompetenten Meinung nach wird die Sache ausgezeichnet: so etwas ist noch nie dagewesen.« Es folgt ein selbstironischer Kommentar: »Ein Beweis, dass der Autor der schlechteste Kritiker auf der Welt ist.« Ende Mai legt Flusser den endgültigen Titel fest: Ins Universum der technischen Bilder. Der erste provisorische Titel war Absprung ins Universum der technischen Bilder. »Ich bin, bis auf Widerruf, mit dem Buch zufrieden. (Der Widerruf kommt wahrscheinlich morgen.)« Wie schon in der Zusammenarbeit mit Moles zur ersten europäischen Buchpublikation geht Flusser auf alle Kritiken Müller-Pohles ein. Die Intensität der Zusammenarbeit beschreibt er als einen Kampf von Körper gegen Körper. Am 1. August, bezüglich der Erstellung einer definitiven Fassung, schreibt er ihm: »Jetzt werde ich Kapitel fuer Kapitel anhand Ihrer Einwaende, (und neuerer Lektueren), durchgehn, und Ihnen au fur et a la mesure [sic!] Korrekturen schicken.« Und er macht erneut Druck, damit der Text so schnell wie möglich publiziert wird. »Lieber Andreas: ich habe es nun etwas eilig. Nicht nur in Deutschland, sondern ueberall beginnt es von derartigen Ueberlegungen zu wimmeln. Ich weiss: unser Essay ist in einer anderen Tonart, (sagen wir: phaenomenologisch). Trotzdem.« Noch bleiben die Reaktionen auf Für eine Philosophie der Fotografie aus. Flusser ist ungeduldig. Am 25. September 1984 beklagt er sich bei Müller-Pohle: »Das allgemeine Schweigen […] ist mir ein Raetsel, aber ich glaube, es hat

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keinen Sinn, eingreifen zu wollen. Auch Dimke hat meinen letzten Brief unbeantwortet gelassen. So sieht eben der Dialog aus in der vortelematischen Lage. Gott sei Dank reden wir beide miteinander.« Dies wird sich aber bald ändern. So kommt kurz darauf durch die Vermittlung von Angelo Schwarz eine italienische Publikation beim Agora Verlag in Turin zustande. Anfang 1985 steckt Flusser schon wieder in einem neuen Schreibprojekt, das er in den Briefen noch als »Zukunft des Schreibens« oder als »Schreibzukunft« bezeichnet. Es ist das zukünftige Die Schrift, das 1987 publiziert wird. Gleichzeit wird die Druckfahne von Ins Universum der technischen Bilder fertiggestellt. Aus Mexiko und Italien kommt die definitive Zusage für eine mexikanische bzw. italienische Ausgabe von Für eine Philosophie der Fotografie, von der im Sommer eine zweite deutsche Ausgabe veröffentlicht wird. Ein zentrales Gesprächsthema mit Müller-Pohle ist das elektronische Schreiben und Publizieren. »Dieser Brief«, schreibt Müller-Pohle am 10. Oktober, »ist mit meinem neuen Computer geschrieben. Das Schreiben und Editieren am Bildschirm ist eine unglaubliche Erleichterung. Sie sollten darüber nachdenken, sich ebenfalls einen solchen Apparat anzuschaffen, dann müßten wir nur noch Disketten austauschen.« Dieser Gedanke ist der Keim für die spätere Veröffentlichung von Die Schrift auf einer Floppy Disk und hat sicher auch Flussers Interesse für die Welt des Computers gefördert, mit der er sich im Zusammenhang mit seiner Vorstellung einer aus Bits komputierten Welt beschäftigt hat. Seiner mechanischen Schreibmaschine wird er aber bis zum Schluss treu bleiben. »Wie Sie an den Tippfehlern merken, schreibe ich, (ohne word processor), in Eile«, antwortet Flusser am 3. Dezember. Am 20. September 1981 meldet Flusser Ingold, er habe Vampyroteuthis infernalis in einer deutschen und portugiesischen Manuskriptfassung abgeschlossen und plane nun eine französische und englische Fassung. Daraus wird aber nichts. Als Müller-Pohle vier Jahre später, im Herbst 1985 den Text liest, ist er begeistert. Er schlägt vor, gewisse Teile umzuschreiben und andere leicht zu kürzen. Es ist schon die dritte Publikation innerhalb weniger Jahre. Ende Januar meldet Flusser, er habe mit Rapsch ausführlich über das neue Buch gesprochen und die Einführung von Moles in einer deutschen Übersetzung beigelegt. Er sei zuversichtlich, diesen bei ihrem nächsten Treffen Anfang Februar in Straßburg zu kleineren Veränderungen bewegen zu können, damit der fiktive Charakter des Vampyroteuthis nicht gleich von Anfang an deutlich gemacht werde. Mit Bec wird er die Frage der Illustrationen besprechen. Moles erklärt sich zwar bereit, den ursprünglichen Titel mit dem Hinweis auf die Philosophiefiktion wegzulassen, will aber sonst nichts Weiteres am Text ändern. Flusser hat inzwischen wegen der portugiesischen Fassung von Vampyroteuthis infernalis auch mit Lília Leão Kontakt aufgenommen, die den Text in Brasilien veröffentlichen will. Das Buch wird erst 2011 vom Verlag Annablume in São Paulo publiziert.

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Die erste deutsche Ausgabe des Buches erscheint im Herbst 1987 bei European Photography. Vilém Flusser und Louis Bec werden als Koautoren genannt. Der Untertitel, Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste und die Abbildung auf dem Umschlag verweisen auf den hybriden Charakter des Buches, das im Anhang eine offizielle Bescheinigung des Präsidenten der ISRP enthält sowie 15 schwarzweiße Tafeln von imaginären Kopffüßern. Der Präsident hebt die gleichzeitige zoologische, epistemologische und ästhetische Bedeutung des Unterfangens hervor. Die einzelnen Tafeln verdeutlichen nach Bec verschiedene Eigenschaften Vilém Flussers: die faszinierende verführerische Seite seines Denkens, sein umfassender Überblick der verschiedenen Wissensfelder, die blitzartige Aufnahmefähigkeit und das immense Gedächtnis. Flusser ist ein vielarmiger Krake, ein Walk-Man der Tiefendimensionen. Im September 1985 erwähnt Müller-Pohle Mal die Möglichkeit einer verlegerischen Zusammenarbeit mit Volker Rapsch. Im Dezember beschließt er dann, zusammen mit diesem neben European Photography einen neuen Verlag zu gründen, in dem sie die zukünftigen Werke Flussers herausgeben wollen. Flusser schlägt den Namen Matrix vor, den der Sohn Miguel für sein eigenes Software-Unternehmen in Brasilien Matrix Sistemas verwendet hat. Der Verlag wird schließlich Immatrix Publications heißen. Diese Wahl hat mit Müller-Pohles Interesse für elektronisches Publizieren zu tun, aber auch mit den gemeinsam mit Flusser geführten Gesprächen zur Dematerialisation der Kultur. So spekuliert dieser in einem Brief vom 31. Januar 1986: »Ihre ausserordentlich fruchtbare Herausforderung an mich, ueber die Dematerialisation der Kultur ein Essay zu schreiben, geht mir wie ein Muehlrad im Kopf herum, (aehnlich wie das damals mit der Fotophilosophie der Fall war). Obwohl ich, unter anderem, an der Schriftzukunft wiederkaue, kann ich mich dieses Gedankens, nicht erwehren.« Flusser spricht von verschiedenen ineinander verschachtelten Realitätsebenen und folgert: »Angenommen, die verschiedenen Materienebenen sind russische Puppen: jede beinhaltet die untere und ist in der oberen enthalten. Also ist der astronomische Kosmos ein Teil, (Aspekt?), eines Superkosmos, und jedes Quark beinhaltet einen noch unentdeckten Infrakosmos. Haette etwa die immaterielle Kultur, ein russische-Puppe-Bewusstsein?« Im Zusammenhang mit der Verlagsneugründung beschließt Müller-Pohle, einen Computer mit einer Harddisk von 20 Megabyte anzuschaffen, was für die damalige Zeit an der oberen Grenze liegt. Am 12. April 1986 berichtet Flusser von einer langen Diskussion mit Louis Bec »betreffs floppy disk« und der Möglichkeit, dessen »Viecher« zu publizieren. »Und habe viel mit Ihnen zu reden, im Sinn unseres Immateriellengespraechs im Central Park, und im Sinn des neuen Verlags, der mich sehr, (auch theoretisch), beschaeftigt. Haben Sie endlich meine ›Schrift‹ gelesen? Wir muessen gemeinsam fuer die

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Zukunft des Schreibens im Immateriellen sorgen. Sie lastet auf unserer beider Schultern.« In seiner Antwort vom 17. April 1986 sinniert Müller-Pohle im Zusammenhang mit Flussers Die Schrift über die Möglichkeit einer digitalen Veröffentlichung nach. »Die Diskette ist ja nur ein Aspekt. Wohin wir kommen müssen, ist der elektronische Transport der Informationen, also (im Augenblick) über das Telefonnetz. Das ist zwar unter finanziellen Gesichtspunkten – zur Zeit – ein Flop und unter technischen (wegen des Postmonopols) entsetzlich limitiert, aber es ist dennoch das eigentlich Begeisternde, wenn wir heute an ›Verlag‹ denken, oder nicht? Ihre ›Schrift‹ also nicht nur – leider noch – als Buch und auf Diskette, sondern auch in der Mailbox, oder zumindest Teile des Buches, oder eine Zusammenfassung davon.« Die erste Ausgabe von Die Schrift erscheint zugleich in Buchform und auf Floppy-Disk in einer SoftwareAusgabe für MS-DOS Rechner, mit der Aufforderung an den Leser, den Text mit eigenen Bemerkungen zu ergänzen. Der dialogische Charakter elektronischen Publizierens war sowohl Müller-Pohle wie auch Flusser bewusst. MüllerPohle erwähnt die dialogische Struktur im Zusammenhang mit der Rolle des Verlegers. Flusser spricht von einer Verwendung der Diskette in Universitätskursen in Kassel und Luminy: »Der Schneeball muss ins Rollen kommen« (Brief vom 27. April 1987). Das letzte gemeinsame Projekt ist Angenommen, welches wie Die Schrift im neuen Verlag erscheint. Flusser widmet es seinem Cousin David Flusser, »der jüdisch-christlicherweise immer das Beste annimmt.« Wie die zwei vorhergehenden Bücher versucht auch dieses, den rein textuellen Rahmen zu sprengen. Bei Vampyroteuthis infernalis geht es darum, den Text durch Abbildungen zu erweitern, die nicht als bloße Illustrationen zu verstehen sind, sondern als gleichberechtigt neben diesem stehen. In Die Schrift soll das alphabetische lineare Schreiben durch eine digital komputierte Version ergänzt werden. Angenommen schließlich ist als Vorlage für mögliche Videobilder geplant. So steht in einer dem Buch vorangestellten Fahndung: »All jene, deren Einbildungskraft sie befähigt, die Vorstellungen und Begriffe der hier vorliegenden Szenenfolge in Videobilder umzukodieren und diese Bilder in irgendeiner Weise zu programmieren, werden hiermit aufgefordert, sich telefonisch oder schriftlich mit Immatrix Publications in Verbindung zu setzen.« In diesem Zusammenhang schickt Flusser im April 1988 Kapitel zwei, drei und vier aus Angenommen an Florian Rötzer mit dem Hinweis es würden Einbildner gesucht, die diese Texte in ein Bild, (zum Beispiel einen Clip), übertragen können. Weitere Projekte, die in die angesprochene Richtung weisen, aber nicht zustande kommen, sind eine Diskettenausgabe von Becs Zeichnungen des Vampyroteuthis auf einem Amiga Computer und die Herausgabe des Textes von Angenommen auf Computerpapier. Diese Endlospapier-Ausgabe ist als Buchmesse-Hit gedacht. In den letzten Jahren nach dem Erscheinen von Angenommen nimmt die Intensität der Kontakte zwischen Müller-Pohle und Flusser leicht ab, was nicht

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nur mit der Tatsache zu tun hat, dass Flusser 1989 in Stefan Bollmann einen neuen Verleger gefunden hat, sondern auch mit der frenetischen Frequenz, mit der Flusser in der letzten Phase seines Lebens von einem Symposium zum nächsten eilt. In einem kurzen Brief an Müller-Pohle vom 5. Oktober 1989 listet Flusser knapp seine »germanischen Reisen« auf: 12.-14. Oktober Fakultät für Architektur, Universität Karlsruhe – 15.-19. Oktober Steirischer Herbst, Graz – 25.-27. Oktober Stiftung für Kommunikationsforschung Bonn – 31. Oktober-5. November Pädagogische Aktion München – 10.-11. November Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart – 7.-9. Dezember Universität Konstanz.

Abbildung 32: Andreas Müller-Pohle, Edith und Vilém Flusser in Israel (23. September 1991)

In der letzten Septemberwoche 1991 kurz vor Viléms Unfalltod unternehmen Vilém, Edith, Joan Fontcuberta und Müller-Pohle eine kurze gemeinsame Reise nach Israel in Zusammenhang mit der dritten israelischen Biennale der Fotografie, an die sie eingeladen worden sind und die unter dem Titel »The Persistence of Memory« im Kunstmuseum von Ein Harod stattfindet. Ein Harod liegt im Norden Israels in der Nähe von Nazareth und dem See Genezareth. Eine schwarzweiße Fotografie von Fontcuberta vom 23. September 1991 während eines gemeinsamen Autoausfluges nach Jerusalem zeigt Edith ganz in Weiß zwischen Müller-Pohle und Vilém mit Spazierstock und Schirmmütze (Abb. 32). Die beiden wirken entspannt, tragen eine Sonnenbrille und lächeln in die Kamera. Müller-Pohle berichtet, dass Vilém Flusser sich auf der Fahrt vom Flughafen abschätzig über den Zustand des Landes äußert und einmal

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im Kibbuz angekommen, die angebotene Unterbringung nicht akzeptieren will. Daraufhin wird er in einem entfernten Hotel einquartiert. »Vilém stand rasch im Mittelpunkt des Geschehens, er wurde der Star der Veranstaltung, was den griechischen Kurator John Stathatos stark verärgerte. Ich musste wegen eines familiären Notfalls vorzeitig zurück nach Deutschland, aber was ich hörte, war, dass Vilém in Ein Harod großen Eindruck hinterlassen und zahlreiche Bewunderer und Freunde gewonnen hat. Die spätere Übersetzung der Fotophilosophie ins Hebräische geht auf diese Begegnungen zurück. [Dies ist] zugleich das letzte persönliche Wiedersehen mit Vilém Flusser.« Der letzte Kontakt ist ein Telefongespräch am 23. Oktober 1991. In seinem Bericht vom 25. Oktober 2016 geht Müller-Pohle auch auf einige persönliche Momente seiner engen Freundschaft und intensiven Zusammenarbeit mit Flusser ein. Man habe sich dutzende Male in Robion und Göttingen getroffen. Flusser sei für ihn der wichtigste Lehrer gewesen und habe seine theoretische und künstlerische Arbeit nachhaltig beeinflusst. Zudem habe er deutliche Spuren auch in seiner Biographie hinterlassen. Flusser widmet Ins Universum der technischen Bilder Müller-Pohle: Ohne ihn, »dessen fotografische und theoretische Arbeiten mich stark beeinflußt haben, wäre dieses Buch entweder überhaupt nicht oder ganz anders geschrieben worden.« Die ursprüngliche, von Flusser vorgeschlagene Widmung ist deutlich länger, »doch das große Lob war mir unangenehm, und so haben wir sie zusammengestrichen.« Flussers Einfluss »auf mein Leben war immens, immerhin hat er mich zehn Jahre lang zu seinem Verleger gemacht. Übrigens hat Joan Fontcuberta irgendwo behauptet, Vilém sei für ihn ein Lehrer und für mich ein Guru gewesen, aber das trifft das Verhältnis in keiner Weise. Weder habe ich mich je zu einem Guru hingezogen gefühlt, noch hat Vilém eine solche Rolle eingenommen. Vilém war intellektuell und rhetorisch dominant, aber er war ein neugieriger und forschender, dialogischer und kooperativer Typ und damit das Gegenteil von einem Guru.« Müller-Pohle spielt auch auf Flussers schwieriges Verhältnis zu Deutschland an. So habe ihn Erika Kiffl dazu überreden müssen, nach Düsseldorf zu kommen. Sein großer Erfolg in Deutschland Mitte der 1980er Jahre hat ihn »zunächst versöhnlich gestimmt und später vollends in dieses Land hereingezogen, was nicht wunder nimmt angesichts der großen Zahl von Unterstützern hierzulande. Ich erinnere mich an eine Ausstellungseröffnung von Thomas Bayrle in Frankfurt, bei der Vilém die jungen Leute beobachtete, wie sie sich mit Küsschen und Umarmung begrüßten: ›Schau Edith, das sind doch nicht mehr die Deutschen von damals, das ist wirklich eine neue Generation‹.« Müller-Pohle spricht vom leidenschaftlichen kämpferischen Geist Viléms. »Es gab in Viléms Gegenwart keinen Moment, der nicht intensiv gewesen wäre. […] Es gehörte ja durchaus zu Viléms Temperament, seine Umgebung,

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auch gute Freunde, gelegentlich mit provokanten Bemerkungen anzugehen, was der freundschaftlichen Stimmung nicht immer zuträglich war.«

F elix P hilipp I ngold Ein weiterer Mediator in Sachen Vorträgen und Publikationen im deutschen Sprachraum und ein wichtiger Diskussionspartner ist Felix Philipp Ingold (1942-), Professor an der ETH in Zürich und ab 1971 Inhaber des Lehrstuhls für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen. Ingold ist auch als Schriftsteller und Literaturübersetzer aus dem Russischen, Tschechischen und Französischen tätig. Flusser schickt ihm im Laufe der 1980er Jahre Teile aus Gesten, Lob der Oberflächlichkeit, Ins Universum der technischen Bilder, Die Schrift und Angenommen, auf die dieser stets mit detaillierter Kritik reagiert. Im Mittelpunkt stehen dabei Flussers Thesen zum Technobild, zur neuen Einbildungskraft und zur Telematik. Weitere Themen sind das Judentum, der Antisemitismus, die Rolle Chinas und Japans im ausgehenden 20. Jahrhundert, die Krise im Nahen Osten, der Niedergang der Sowjetunion, die Körperlichkeit, die Frage der poetischen Kreativität und die Bedeutung von Autorschaft. »Es ist mir zu einem unerlaesslichen Arbeitsstuetzpunkt geworden, mit Ihnen Gedanken zu tauschen«, schreibt ihm Flusser am 13. Februar 1986. Am 5. März 1981 lädt Flusser Rudolf Lichtsteiner, dessen Bekanntschaft er am Fotosymposium in Düsseldorf macht, zu einer Teilnahme an der bevorstehenden XVI. Biennale ein. Lichtsteiner ist interessiert, zudem möchte er, wie schon mit Flusser in Düsseldorf besprochen, einen Kontakt zum KlettCotta Verlag herstellen. Da Ingold einen Vortrag von Flusser zum Verhältnis von Schrift und Bild gelobt und schon selber bei Klett-Cotta veröffentlicht hat, möchte er sich bei ihm nach Publikationsmöglichkeiten für Flussers Werk erkundigen. Ingold meldet sich kurz darauf mit einer Postkarte aus Venasque, einem Dorf in der Provence, das nur 30 km nördlich von Robion liegt. Er hält sich dort über mehrere Jahre hinweg regelmäßig zwei bis drei Monate von Februar bis April zum Schreiben auf. Ingold und seine damalige Lebensgefährtin Ilma Rakusa – Slawistin, Schriftstellerin und Übersetzerin – treffen sich in den folgenden Jahren häufig in Robion und Zürich mit Edith und Vilém, die Ingold auch in Venasque besuchen. Für Ingold gehört Vilém der Generation seiner Eltern an, und ist in diesem Sine eine Vaterfigur, obwohl er ihn verhältnismäßig spät in seinem Leben kennenlernt. Er berichtet, er habe ihn stets als Autorität anerkennen können und verdanke ihm wichtige Erkenntnisgewinne, Anregungen und auch Zurechtweisungen. Vilém habe vermutlich in ihm eher so etwas wie einen nützlichen Assistenten als einen Kollegen gesehen, was jedoch teilweise durch Flussers Briefe widerlegt wird. Flusser, so weiter Ingold, interessieren nicht so sehr des-

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sen Überlegungen und Konzepte als dessen Fragen. Er testet mit ihm und an ihm seine eigenen Thesen. Er will Reaktionen darauf und Fragen dazu hören, das heißt, er nutzt das Gespräch mit Ingold, um sein eigenes Denken und Schreiben voranzutreiben. Von Anfang an setzt sich Ingold aktiv für Flusser ein, dessen Denken ihn fasziniert. So schreibt er am 6. Mai 1985 nach Erhalt von Lob der Oberflächlichkeit: Der Text habe ihn in einer Weise angeregt, wie es ihm seit Jahren nur noch selten geschehe. Um am 10. April 1984: »Lieber Freund, verehrter Kollege, – schön war’s (und anregend wie immer), einmal wieder mit Ihnen zu plaudern. Ich hoffe, unsere Gespräche werden bald wieder in Gang kommen; mir ist dieser Kontakt sehr wichtig, wiewohl ich natürlich weiss, dass ich weit mehr davon habe und daraus gewinnen kann als Sie.« Am 13. Februar 1986 schickt Flusser Ingold ein Kapitel aus Die Schrift. »Es ist mir zu einem unerlaesslichen Arbeitsstuetzpunkt geworden, mit Ihnen Gedanken zu tauschen«, schreibt er im Begleitbrief. »Ich hoffe, dass auch ich Ihnen irgendwie nuetze.« Ingold vermittelt Flusser die Literaturagentur Liepmann in Zürich, die ihn im deutschen Sprachraum vertreten soll, und schickt dieser am 5. Mai das noch unveröffentlichte Buch Nachgeschichte. Im Begleitbrief vergleicht Ingold Flussers Ansatz mit demjenigen des Anarchisten der Wissenschaftstheorie Paul Feyerabend. Flusser wiederum bleibt nicht untätig, sondern nutzt gezielt die neue Beziehung. Im April schickt er Ingold ein paar Essays aus dem bisher unveröffentlichten Gesten-Projekt und schreibt den durch Ingold vermittelten Basler Wissenschaftshistoriker Emil Alfred Fellmann (1927-2012) an. Dank Ingolds Vermittlung gelingt es Flusser, mehrere Beiträge bei der Basler Zeitung zu publizieren. Vom März 1982 bis zum August 1990 veröffentlicht er insgesamt 18 Artikel. Eine von Ingold vermittelte Publikation eines Auszugs aus Nachgeschichte in den Schweizer Monatsheften, eine Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, kommt jedoch nicht zustande. Der Briefaustausch mit der Zürcher Agentur Ruth Liepmann umfasst nur wenige Briefe. Flusser schreibt zwischen Ende Mai und Ende Juli 1981 insgesamt dreimal. Er will der Agentur die Exklusivitätsrechte für alle seine deutschsprachigen Publikationen übergeben und bietet Nachgeschichte an. Am 27. Juli meldet die Agentur, der Suhrkamp Verlag habe das Buch zurückgeschickt. Dasselbe Buch sei bereits von einer anderen Person eingereicht worden. Die Agentur bemängelt diese Doppelspurigkeit und fügt hinzu, »ein kleiner Papierberg« seiner eingeschickten Texte habe sich inzwischen angesammelt. Im Spätherbst 1981 lädt Ingold Flusser dazu ein, einen Beitrag in einer öffentlichen Vortragsreihe an der Hochschule in St. Gallen zum Thema »Der Körper als kulturelles Phänomen« zu leisten. Zurück aus einer Brasilienreise reist Flusser über Wien nach St. Gallen, wo er am 30. November über »Die Geste des Schreibens« referiert und am 1. Dezember bei Armin Wildermuth noch einen zweiten Vortrag zu einem brasilienorientierten Thema hält: »My-

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thisches, geschichtliches und nachgeschichtliches Dasein (Macumba, Kirche, Technokratie)«. In diesem Zusammenhang kommt es gemäß Ingold zu einem privaten Skandalon. Wildermuth, Chef des Departements für Philosophie, macht Flusser den Vorwurf des Rassismus und distanziert sich von seinen Aussagen. Es ist wohl aus diesem Grund, dass Flusser 1984 auf eine Kandidatur für eine offene Stelle als Professor der Kommunikation an der Universität St. Gallen verzichtet. In einem Brief vom 3. Februar 1982 beklagt sich Flusser bei Ingold über seine Veröffentlichungsprobleme seit seiner Rückkehr nach Europa. »Seit ich Brasilien verliess, (wo ich taeglich publizierte), habe ich ueberall Schwierigkeiten. Gruende: (1) Weil ich in der relativen Einsamkeit wohne. (2) Weil ich in Europa nicht bekannt bin. (3) Weil ich mir mit der Zeit einen eigentuemlichen Denk- und Schreibstil zugelegt habe, der nicht jedermanns Sache ist. (4) Weil meine Schriften nicht ohne weiteres in die hergebrachten Klassifikationen eingereiht werden koennen. Das ist mir unangenehm, weil ich ›engagiert‹ bin, aber ich habe zu oft veroeffentlicht, um mir der Eitelkeit meines Engagements nicht bewusst zu sein. Sollten Sie mir jedoch helfen koennen, die Barriere zu den Verlegern zu brechen, waere ich Ihnen sehr dankbar.« In diesem Sinne schickt er ihm die beiden Texte »Cro-Magnon« und »Hörapparate«, die später in den Essayband Angenommen aufgenommen werden. Flusser ist als Mensch und Denker jemand, der stark polarisiert und immer wieder zu heftigstem Widerspruch herausfordert. An seinem eigenwilligen Denken und seinen höchst unorthodoxen Methoden scheiden sich die Geister. Dabei muss wohl auch seine egozentrische, herausfordernde und manchmal auch arrogante Haltung eine Rolle gespielt haben. Dies lässt sich exemplarisch an dem kurzen Briefaustausch mit dem Schweizer Essayisten, Literaturkritiker und Journalisten François Bondy (1915-2003) aufzeigen. Bondy stammt wie Flusser von deutschsprachigen Prager Juden ab. Sein Vater, Fritz Bondy (18881980) österreichisch-schweizerischer Übersetzer, Feuilletonist und Regisseur, siedelte 1918 in die Schweiz über. Flusser versucht, seinen äußerst originellen, hier schon mehrmals erwähnten Essay zum jüdischen Pilpul bei den Schweizerischen Monatsheften zu veröffentlichen. Bondy, der Redaktor der Zeitschrift ist, begründet in wenigen Zeilen die Ablehnung in einem Brief an Ingold vom 15. Oktober 1981. Er moniert die kurzschlüssige und apodiktische Denkweise Flussers und die unzulässigen Verkürzungen seiner Argumentation. Er finde keinen Zugang zum Text. Für sein Nichtverständnis bittet er um Verständnis. Flusser, dem Ingold den Brief zukommen lässt, will Bondys Kritik nicht auf sich sitzen lassen und reagiert am 14. Dezember, nach der Rückkehr von seiner Brasilienreise. Er kenne einige seiner Arbeiten und schätze sie. Flusser gibt Bondy in einigen Punkten Recht und bestreitet andere. Kurz: Er sucht den Dialog. Zugleich wird man bei der Lektüre aber das Gefühl nicht los, dass Flusser sich irgendwie

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anbiedern will und eine menschliche und theoretische Gemeinsamkeit sucht, die Bondy, aus was für Gründen auch immer, schlichtweg verweigert. »Haben Sie Zeit und Lust, mir zu antworten? Und vielleicht etwas anderes von mir zu lesen? Es waere mir eine Ehre und Freude.« Bondy schweigt. Als Flusser eine Rezension zu Ingolds Dostojewski und das Judentum schreibt, fordert dieser ihn auf, den Text den Schweizerischen Monatsheften zu schicken. Flusser geht in seiner Rezension auf die religiösen Wurzeln des Antisemitismus bei Dostojewski ein. Die vom Christentum geforderte Nachahmung Jesu, folgert er provokativ, sei auch eine Aufforderung, Jude und Rabbiner zu werden, was wiederum für einen Christen unmöglich sei. Um den Antisemitismus zu ergründen, müsse ein Jude seinerseits, wie Dostojewski zuerst, seine religiösen Wurzeln im Christentum begreifen. Dostojewskis Antisemitismus, der sich aus diesem inneren unlösbaren Widerspruch ernähre, sei in diesem Sinne auch eine Form der Selbstzerfleischung. Flusser beschreibt diesen Widerspruch als eine »teuflische Spiegelung«, die Feder, welche die westliche Kultur von innen her antreibt. Am 16. Februar 1982 schreibt Bondy einen längeren Brief an Flusser. Er habe auf den ersten Brief nicht geantwortet, weil sehr viel Raum nötig wäre und seine Kompetenz in diesen Dingen nicht ausreiche. Wie schon im Brief an Ingold verweist Bondy auf den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem (1897-1982). Dieser hätte Klarheit schaffen können, sei aber momentan leidend. »Es gibt Lagen, in denen man eine bestimmte Auffassung ablehnt, ohne dass man deswegen eine andere oder gar eine bessere bereit hätte.« Bondy geht auf den Kern von Flussers Argumentation nicht ein. Er beschränkt sich auf Details und Ungenauigkeiten im Text. »Kleineres Problem: ist ›talmudisch‹ die richtige Bezeichnung für Jesus, Jahrhunderte vor der schriftlichen Niederlegung des Talmud? In dieser Frage äußert sich nicht Besserwisserei, sondern im Gegenteil Ignoranz, aber eben doch eine Unsicherheit gegenüber schroffen, arg verkürzten Formulierungen.« Der zweite Einwand betrifft ein Wort aus dem letzten Absatz. Flusser schreibt dort, dass die teuflische Spiegelung des Antisemitismus im Westen nicht überwunden werden könne und man sie deswegen vom Antlitz der Erde »wegfegen« müsse. Diese Formulierung artikuliert einen biblischen Zorn und hat wohl kaum etwas mit dem nazistischen ausradieren »aus dem Wörterbuch des Unmenschen« zu tun, wie Bondy festhält. Das Wort, fügt er hinzu, passe gewiss nicht in Flussers Vokabular. Er bittet wie schon beim ersten Mal seinem Nichtverständnis Verständnis entgegenzubringen. Am 13. März spielt Flusser den Ball wieder zurück. »Ich kann, von meiner polemischen forma mentis verfuehrt, nicht umhin, zu Ihrem Brief vom 16/2 Stellung zu nehmen. Obwohl Ihre sichtlich standardisierte Formel ›Verstaendnis fuer Nichtverstaendnis‹ nicht danach ist, einen echten Dialog in die Wege zu leiten. Meine Absicht ist nicht, Sie zu meinem Standpunkt zu ueberreden,

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sondern den Faden des Arguments nicht in der Luft baumeln zu lassen.« Der jüdisch-christliche Dialog sei möglich, aber nur auf der konkreten Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen und auf der theoretischen Ebene eines die beiden Religionen übersteigenden Metadiskurses. Der Dialog der Religionen hingegen führe zu einer Verwässerung der Botschaften und nicht zu einer Synthese. »Schliesslich zu ›talmudisch‹: Meiner Meinung nach ist die talmudische Zeit jene der jahrhundertelangen Ausarbeitung des Talmud, und sie ist mit seiner schriftlichen Niederlegung beendet. So habe ich doch, wie Sie sehen, das letzte Wort behalten, ausser Sie sollten mir darauf antworten wollen, was mich freuen wuerde.« Es ist Bondy der das letzte Wort behält. Am 15. April schreibt er mit hintergründigem Humor und einer Prise Herablassung: »Zur Jesusfrage habe ich bei einem Abendessen David Flusser konsultiert. Dessen Meinung: Er war kein talmudischer Rabbiner, sondern ein Charismatiker. Da ich kein Schriftgelehrter bin, ziehe ich jede eigene Meinung zurück und erkläre mich als neutral. Bei solchen Fragen wird es nicht so bald ein letztes Wort geben.« Von Flusser ist keine Antwort erhalten geblieben, wohl auch, weil Bondy Flussers Cousin und Jesusexperte ins Feld führt. Abgesehen vom Detailfehler, einer von vielen, die Flusser in der Hitze des Gefechts immer wieder unterlaufen, scheint mir sein hartnäckiger Versuch, einen paritätischen Dialog zu erzwingen, besonders aufschlussreich. Im Gegensatz zu Bondy ist Flusser zu diesem Zeitpunkt immer noch ein heimatloser Wanderer, der unter seiner akademischen Unbehaustheit sicher gelitten hat. In einem Artikel von Ingold zum Ende der Schriftkultur, der am 25. Juni 1983 im Magazin der Basler Zeitung erscheint, und den dieser Flusser zukommen lässt, kommt im ersten Abschnitt eine Reihe von Flussers Begriffen vor. Ingold spricht von massenmedialer Bilderflut, Techno-Imagination und dem Ausbruch aus der Linearität der Texte. Flusser ist geschmeichelt und bedankt sich am 23. Juli für den Text. »Es hat mich gefreut, dass Sie meine Gedanken im ersten Paragraphen Ihres Artikels […] ausfuehren, und sich sogar meiner Terminologie bedienen […].« Es folgt eine für Flusser erstaunliche Frage: »Warum haben Sie mich nicht erwaehnt?« Wie kann Flusser, der seit Jahren systematisch auf Fußnoten und Bibliographie verzichtet, verlangen, dass man seine Texte zitiert? Es sei hier zudem an die fünf Jahre später stattfindende Auseinandersetzung mit dem gekränkten Moles erinnert, bei der es ebenfalls um das Zitiert- und Erwähnt-Werden geht. Ingolds Antwort vom 28. Juli lässt die Abwesenheit von Zitaten und Fußnoten in Flussers Werk in einem kritischen Licht erscheinen, nicht so sehr als essayistische Freiheit oder bewusste Revolte gegen die Enge akademischen Denkens, denn als formale und inhaltliche Schwäche. Auf die Möglichkeit hin eine Rezension zu Für eine Philosophie der Fotografie zu verfassen, schreibt Ingold: »[…] ich kann mich in dieser Sache leider nicht auf die Äste hinauswagen, da es hier Leute gibt, die sehr viel besser

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Bescheid wissen […] Überhaupt: Das Thema wird gegenwärtig weithin diskutiert […]. Dies ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb ich nicht ausdrücklich auf Ihre Beiträge verweise: was Sie über Informiertheit, über Oberfläche etc. mitteilen, ist, glaube ich, seit den 60er Jahren (seit McLuhan […] Enzensberger u.a.) Allgemeingut, aber Sie bringen diese Probleme weit rigoroser auf den Begriff, und dies – wie Sie mit Recht beanspruchen – unter allgemeinphilosophischer Perspektive, wobei Ihr kulturkritischer Ansatz durchweg dominant bleibt.« In seiner Antwort vom 30. Juli umschreibt Flusser seinen absichtlichen Verzicht auf Quellenangaben als phänomenologische Attitüde, als Schau der Sache selbst. Es geht darum, »tabula rasa betreffs der apparatischen Welt zu machen. […] Selbstredend kann ich nicht leugnen, dass mich Gelesenes […] beeinflusst haben [sic!], aber ich habe eben versucht, diese Einfluesse auszuklammern.« Flussers Antwort überzeugt nur zum Teil und verbirgt offenkundige Widersprüche. Die schwerfällige Maschinerie des Zitierens, der vielen endlosen Fußnoten und seitenlangen Bibliographien, die übrigens, wie neuere Fälle gezeigt haben, nicht vor Plagiaten schützt, sondern mit Erfolg Wissenschaftlichkeit simulieren kann, ist ein problematischer Ausdruck des wissenschaftlichen Apparats. Konsequent auf Quellen zu verzichten, kann aber auch als eine Form der illegitimen Appropriation verstanden werden. Flussers bodenlose Texte stellen in diesem Sinne tatsächlich so etwas wie eine theoretische und ethische Gratwanderung dar. So lassen sich viele zentrale Ideen Flussers auf andere Denker zurückführen. Seine Medientheorie schuldet McLuhan und Enzensberger, an dessen Vortrag Flusser im Januar 1974 teilnimmt, viel mehr als er selbst eingestanden hat. Auch seine mehrstufige medientheoretische Evolutionsgeschichte aus Ins Universum der technischen Bilder geht zum großen Teil auf Jean Gebsers Modell der sprunghaften Bewusstseinsmutationen aus Ursprung und Gegenwart zurück. Ingold hat darüber hinaus auf die auffallende Korrespondenz zwischen der telematischen Gesellschaft der Zukunft und der Gebser’schen Vorstellung einer integralen aperspektivischen Welt in einem Brief (3. Januar 1986) explizit hingewiesen. Interessanterweise ist Flusser in seiner Antwort auf diesen Hinweis nicht weiter eingegangen. Es sei hier noch angemerkt, dass Flusser in Für eine Philosophie der Fotografie von drei Stufen ausgeht: Bild – Text – Technobild. Diese sukzessiv durchlaufenen Stadien, die durch zwei epochale Einschnitte getrennt sind – die Erfindung der Schrift und die Erfindung der Technobilder, allen voran die Fotografie – werden nicht ein für alle Mal überwunden, sondern sind ineinander enthalten wie russische Puppen. So gehen Technobilder auf Texte zurück, die Bilder »im Bauch haben«, wie Flusser es ausdrücken würde. Im darauf folgenden Ins Universum der technischen Bilder entwickelt er ein erweitertes, fünfstufiges Modell. Im Gegensatz zu Gebser, der von einer Zunahme der Dimensionen ausgeht, hat sich Flusser für einen ironischen Countdown entschieden, der bei der vierdi-

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mensionalen Raum-Zeit (4) anfängt und über Raum (3), Fläche (2) und Linie (1) in der Nulldimensionalität (Punkt) endet. Dem entsprechen Körper, Hand, Auge, Finger und Fingerspitzen. Die einzelnen Stufen sind durch Intervallen voneinander getrennt, die übersprungen werden müssen. Dabei wechselt man von einem Universum in ein anderes. In seinen Briefen verweist Ingold an verschiedenen Stellen auf mögliche verborgene (oder gar verschwiegene) Ursprungsorte von Flussers Denken, hebt dabei aber immer dessen originelle Leistung hervor. So schreibt er in Bezug auf Lob der Oberflächlichkeit, er sehe darin Anknüpfpunkte zu Überlegungen, die in Frankreich schon seit über 15 Jahre zu registrieren seien, zum Beispiel Deleuzes Logique du sens, »ein grossangelegter Entwurf für eine Philosophie der Oberfläche (des Phantasmas), und die Arbeiten von Baudrillard, Lyotard, auch Foucault und Serres schliessen daran, weiterführend, an. Eigentlich gehören auch Sie in diesen Zusammenhang […].« Flussers Gebrauch der Wolke als Metapher einer aus Punkten komputierten Welt könnte man auf Michel Serres’ von 1968 bis 1980 veröffentlichte fünf Hermes-Bände zurückführen. Dasselbe gilt für seine Begriffe der Negentropie und der Telematik. Ersteren hat Flusser höchstwahrscheinlich dem Werk des französisch-amerikanischen Physikers Léon Nicolas Brillouin (1889-1969) entnommen und ins Existenzielle und Kosmische übertragen. Der Begriff Telematik, den Flusser zuerst in Ins Universum der technischen Bilder verwendet, wird 1978 von Simon Nora und Alain Minc im Rahmen ihrer Studie zur Informatisierung der Gesellschaft geprägt. Selbst Flussers frühe Vorstellung eines Kommunikationsnetzes, die heute als prophetische Vorwegnahme des Internets betrachtet wird, geht auf eine frühere technische Innovation zurück, das französische Minitel, ein 1982 eingeführter Onlinedienst. Flusser hat seine französische Umgebung äußerst genau rezipiert. Flussers Arbeiten der 1970er Jahre zu einer Dialogisierung und Sozialisierung der Kunst sind nur teilweise originär, wurden diese doch von den künstlerischen Avantgarden, wie zum Beispiel der Fluxus-Bewegung, bereits in den 1960er Jahren formuliert und praktiziert. In einem Brief vom 6. November 1985 kontextualisiert Ingold ebenfalls Flussers Vorstellung einer dialogischen Kreativität, die auf Moles zurückgeht. In den 1950er und 1960er Jahren geht Flusser noch von der Möglichkeit einer creatio ex nihilo, einer bodenlosen, völlig originären Form der Kreativität aus. Flussers Überlegungen zur Ablösung des »schöpferischen Ich durch ein intersubjektiv kommunizierendes und kreierendes Wir« findet Ingold zwar bedenkenswert. Er verweist dabei aber auf einen ähnlichen Vorgang in der klassischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die »Linie Mallarmé-Valéry-Michaux-Pound, von Gertrude Stein und Joyce zu schweigen und ganz abgesehen von der bildenden Kunst, wo diese Entwicklungslinie (Kandinsky-Malevič-Konstruktivismus-Konkrete etc.) fast ungebrochen bis in die Gegenwart zu verfolgen ist […]«. Flussers eigentliche Origi-

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nalität besteht nicht im vorsichtigen, langsamen Abstecken eines abgesicherten Territoriums, sondern in der Abwandlung und Erweiterung der Begriffe, im kühnen theoretischen Mix und der provokativen Verbindung disparater Vorstellungen zu einem neuen widersprüchlichen Ganzen. Am 30. Juli 1988 schickt Ingold Flusser einen weiteren seiner scharfsinnigen Briefe, in dem er auf einen fundamentalen Wandel in dessen Denken hinweist. Man könnte diesen Umschwung in Hinblick auf die 1970er und 1980er Jahre, in denen eine eher pessimistisch resignative Stimmung vorherrscht, als eine utopische technologiefreundliche Wende bezeichnen. Ingold benützt dafür bewusst und provokativ den Heidegger’schen Begriff der Kehre und verweist zudem auf Flussers frühere Ablehnung von Bildern aufgrund ihrer Irrationalität. »Es scheint bei Ihnen eine radikale Abkehr von früheren Positionen stattgefunden zu haben – Sie erinnern sich an jenes Gespräch in St. G., mit dem blonden Wildermuth, dessen Plädoyer für das Bild Sie damals als parafaschistisch abgelehnt haben etc. Nun entfernen Sie selbst sich (vereinfacht gesagt) von der Schrift hin zum Bild, Sie arbeiten an Videokonzepten, schreiben über zeitgenössische Bildwerke etc. Mich würde interessieren, inwieweit Sie Ihrerseits sich dieser Kehre bewusst geworden sind bzw. ob es sich in der Tat um eine Abkehr von früher Erreichtem handelt?« Diese Bemerkung Ingolds eröffnet eine neue unerwartete Perspektive auf die schon erwähnte Auseinandersetzung zwischen Flusser und Wildermuth: Wildermuth moniert Flussers latenten Rassismus und Flusser wirft diesem eine parafaschistische Position vor. Es wäre interessant, den genauen Diskussionsverlauf zu kennen. Hat Flusser Wildermuths Rassismusvorwurf mit dem eigenen pariert?

Abbildung 33: Hochschule der Künste Berlin (1985)

In den allerletzten Jahren läutert sich Flussers langjähriger Ikonoklasmus tatsächlich zum Bilderlob, weil er sein Konzept der Technobilder nunmehr auf die computergenerierten, kalkulierten synthetischen Bilder abstützt, die auf

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numerisch codierte Anweisungen, sprich Computerprogramme zurückgehen. In seiner Antwort (29. September 1988) unterscheidet Flusser zwischen imaginativen und einbildenden Bildern. Sind die ersten immer noch Abbilder der Realität, die wegen ihrem Appell an das Emotionale einer klärenden Kritik bedürfen, so sind die zweiten Projektionen, Transkodierungen des Numerischen aus dem alphanumerischen Code in den Bildcode. Im programmatischen Essay »Eine neue Einbildungskraft«, der 1990 zuerst publiziert wird und 1995 in den Flusser Reader des Bollmann Verlags übernommen wird, schreibt er dazu. »Selbst der orthodoxeste Talmudist hätte gegen derartige Bilder nichts einzuwenden, weil sie nicht in den ontologischen Irrtum führen, Vorstellendes mit Vorgestelltem zu verwechseln. […] Sogar Platon hätte nichts dagegen zu sagen, weil derartige Bilder ›reine Ideen‹ sind und ihre Betrachtung daher ›Theorie‹ ist und zu Weisheit führt und nicht zu Meinung.« Ob diese utopische Wende mit seinem späten durchschlagenden Erfolg im deutschen Sprachraum zusammenhängt, soll hier dahingestellt bleiben.

Begegnungen

»Lieber Flusser, wie auch in unseren Unterhaltungen führen Sie […] so schweres Geschütz ins Gefecht, dass ich gleich die Waffen strecken möchte. […] Prof. Flusser auf ständiger Attacke, Frau Flusser mit mehr Einsicht, als sie zur Sprache bringt, und ich.« S. Freier, Weizmann-Institut der Wissenschaften (Brief vom 8. Juni 1980)

Wie schon in der Brasilien-Zeit und den 1970er Jahren spielen intellektuelle und persönliche Freundschaften, die ihren Niederschlag in einem dichten Briefaustausch finden, auch in den 1980er Jahren eine zentrale Rolle. Neben Andreas Müller-Pohle und Felix Philipp Ingold müssen noch Hans-Peter Dimke, Gottfried Jäger, Harry Pross, Irmgard Zepf, Florian Rötzer sowie Bernd Wingert, Rainer Goetz und Dieter Mahlow erwähnt werden. Diese Freundschaften liefern einen Einblick in die kulturelle Szene Deutschlands der 1980er Jahre, besonders im Bereich der Medien und der Kunst. Flusser nützt die neuen deutschen Beziehungen nicht nur zum intensiven mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch, sondern auch, um neue Publikationskanäle für seine immer zahlreicheren Texte zu finden und die Möglichkeit zu haben, seine Ideen in Vorträgen auszutesten. Wie schon in Frankreich arbeitet er gezielt und systematisch an seinem öffentlichen Erscheinungsbild.

H ans -P e ter D imke Am 7. September 1981 wendet sich Hans-Peter Dimke (1941-), der wie Müller-Pohle und Rudolf Lichtsteiner unter den Zuhörern am Fotosymposium im Schloss Mickeln bei Düsseldorf ist, mit einem ersten längeren Brief an Flusser. Dimke ist Autor, Fotograf und an der Hochschule für bildende Künste Hamburg tätig. Er hat mit 32 Jahren ein Studium der visuellen Kommunikation und Kunst angefangen und daneben seine professionelle Tätigkeit als Fotograf weitergeführt. Er sei von Flussers kritischer Vision der verlogenen Technobilder beeindruckt und habe sich deshalb Flussers französische Adresse notiert.

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Vielleicht entwickle sich ein Dialog oder man werde sich mal wieder an einem Symposium treffen. Eine Postkarte aus einer Amerikareise folgt. In einem weiteren undatierten Schreiben bittet er Flusser um einen Artikel für eine geplante Publikation zur sozialen Verantwortlichkeit in der fotografischen Praxis unter dem Titel 1984 ist anders. Flusser reagiert am 16. Juli 1982 mit ein paar Zeilen und legt den Essay »Berufsfotograf« bei. Am 16. September, ungeduldig, wie es so seine Art ist, verlangt Flusser eine Bestätigung, dass der Artikel angekommen ist. Am 23. folgt ein Telefongespräch. Er hat dies gewissenhaft archivarisch auf den Durchschlag des Briefes notiert. Flusser sucht das Gespräch nicht nur in Briefform, obwohl dies wohl seine wichtigste Kommunikationsform ist. Er telefoniert häufig, um Abläufe zu bestätigen oder zu beschleunigen. Geht man die Terminkalender durch, so findet man besonders in den 1980er Jahren hunderte von Eintragungen bezüglich Telefonaten, an gewissen Tagen steigt die Anzahl auf zehn und mehr Gespräche. In dem am 29. Oktober 1990 in Robion von Christian M. Doermer gedrehten Video Nachlese gibt es gegen Ende eine signifikante Szene. Flusser ist mitten in einer seiner langen verwickelten Ausführungen, als plötzlich das Telefon klingelt. Er unterbricht prompt und verschwindet im Nebenzimmer. Dimke schickt einen eigenen Text, der zugleich eine Reihe seiner Fotografien enthält. »Sie sehen«, schreibt er im Begleitbrief, »ich versuche die Theorie mit der Praxis zu verknüpfen.« Nach diesem eher langsamen und zögerlichen Anfang entwickelt sich bald eine intensive, spannende theoretische Auseinandersetzung. Flusser schreibt Dimke am 16. September 1987 er sei sein »großer Anreger«. Im März 1985 schreibt er auf Anfrage Dimkes ein Gutachten für eine offene Lehrstelle an der Fachhochschule Bielefeld. Trotz unvermeidbaren Wiederholungen ist jeder Dialog, den Flusser im Laufe seines Lebens gepflegt hat, durch ganz bestimmte thematische und emotionelle Schwerpunkte und eine einzigartige Entwicklung charakterisiert. Es ist dabei oft nicht auszumachen, wer wen antreibt und wer von wem profitiert. Dies trifft auch im Falle Dimkes zu. Intensive und ruhige Phasen lösen einander ab. Flusser wacht stets über den Dialog und greift ein, sobald er ins Stocken gerät oder zu versiegen droht. »[…] aus mir nicht ganz verstaendlichen Gruenden ist unsere Korrespondenz leider ins Stocken gekommen. […] Schreiben Sie mir, wenn Sie Lust dazu haben, was Sie machen, gemacht haben, und vorhaben zu machen« (Brief vom 2. September 1987). In der ersten Hälfte von 1988, als Dimke aus Zeitmangel nur noch knappe sporadische Lebenszeichen von sich gibt, verfasst Flusser drei längere intensive Briefe, um das unterbrochene Gespräch wieder zu beleben und schlägt ein Treffen in Frankfurt a.M. vor. Flusser schickt Dimke regelmäßig Texte, so zum Beispiel den Essay »Von der Schönheit« (Brief vom 22. September 1987), erwartet dann aber auch eine schriftliche Reaktion und fordert diese nach einer gewissen Zeit auch ein (Brief vom 7. Dezember 1987).

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Neben Reflexionen zur philosophischen und sozialen Bedeutung der Fotografie diskutieren Dimke und Flusser über das Verhältnis von Bild und Text, über Traum und Wirklichkeit, Intermedialität, künstliche Intelligenz, die Struktur des Gehirns, Chaostheorie und Fraktale sowie Logik und synthetische Bilder. »Schreiben Sie mir, wann immer Sie koennen. Unser Kontakt muss aufrechterhalten und belebt werden«, hält Flusser am 2. Januar 1984 fest und fügt selbstironisch hinzu: »Lassen Sie sich nicht allzu sehr vom symbolischen Charakter der neue[n] Jahreszahl beeindrucken: es ist sicher, dass Orwell zugleich ganz richtig und ganz falsch vorausgesehen hat, (und dies gilt fuer ueberhaupt alle Prophezeiungen und Futurologien, auch die meinen).« Um die Freundschaft zu festigen und zu vertiefen, lädt Flusser Dimke nach Südfrankreich ein. Als dieser dem Wunsch nicht nachkommen kann, schlägt er vor, dass man sich in Göttingen bei Andreas Müller-Pohle trifft, »denn wir haben einander viel zu sagen« (Brief vom 10. Oktober 1982). Tatsächlich werden Maren und Hans-Peter Dimke Edith und Vilém erst im Herbst 1989 in Robion besuchen. Im Oktober 1983 lädt Dimke Flusser seinerseits zu einer Podiumsdiskussion an die Hochschule für bildende Künste Hamburg ein, die für den 4. November geplant ist und an der auch Gottfried Jäger teilnimmt. Zentrales Thema ist Flussers kürzlich erschienenes Buch Für eine Philosophie der Fotografie. Im Anschluss an die Podiumsdiskussion findet ein Interview mit Martin Tschechne statt, das am 7. November 1983 im NDR ausgestrahlt wird. Flusser geht dort auf seinen Apparatbegriff und die Bedeutung Marshall McLuhans ein. Apparate tendieren dazu, automatisch zu funktionieren. »Der Fotoapparat wird immer automatischer und funktioniert immer besser, ganz genau wie ein Verwaltungsapparat. Je automatischer der Apparat, desto kleiner die kreative Fähigkeit des Menschen.« Man kann sich dagegen wehren, indem man Apparate wählt, die weniger automatisch sind. »Aber eine bessere Strategie ist, mit automatischen Apparaten versuchen, Sachen zu machen, die zwar dieser Apparat programmiert ist, zu tun, aber es nur in Ausnahmefällen tut, man kann sozusagen mit dem Defekt des Programms arbeiten. […] Was mich betrifft, so hat Marshall McLuhan mich befruchtet, indem er mir die Funktion der Apparate gezeigt hat, aber zum Unterschied von ihm bin ich gegen die Apparate engagiert. Apparate sind eigenständige, unmenschlich dumme, aber übermenschlich mächtige Wesen.« In der Folge lädt Dimke Flusser noch an eine Tagung über Neue Medien in München ein (Frühjahr 1986) und an ein Kolloquium in Hamburg über ästhetische Erfahrung und die Moral der Kunst, das er zusammen mit Jörg Zimmermann organsiert und das vom 20. bis 22. Mai 1986 stattfindet. Ein weiteres Treffen folgt an der Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig. Am Nachmittag des 22. Mai 1989 hält Flusser ein Referat zu »Kunst als Lebenseinstellung« und diskutiert mit den Studierenden. Am Abend nimmt er an einem

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Filmseminar teil. Dimke erwähnt in einem am Tag danach verfassten Brief den langen »Applaus der Begeisterung und die Zuneigung der Studenten und anderen Zuhörer« (Brief vom 23. Mai 1989). Im letzten im Archiv erhaltenen Brief, den Flusser am 4. Juni 1989 verfasst, kommt er auf diese Erfahrung zurück. »Das Beisammensein mit Ihnen und mit den Lehrern und Schuelern in Braunschweig war fuer uns beide ein schoenes Erlebnis.« Dimke vermittelt Flusser den Zugang zur Zeitschrift Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Vom Dezember 1984/Januar 1985 bis zum März 1991 publiziert er insgesamt 15 Beiträge, drei erscheinen posthum. Darin angesprochene Themen sind Exil und Kreativität, das Judentum sowie das Verhältnis von Leben und Kunst. Darüber hinaus erscheinen zwei Auszüge aus Die Schrift. In diesem Zusammenhang lernt Flusser auch den Redaktor Hans-Joachim Lenger kennen, der im November 1990 mit ihm für die Zeitschrift ein Interview führt. Anlass ist das Symposium »Interface« zum Thema elektronische Medien und künstlerische Kreativität. Im Interview erklärt Flusser sein Verhältnis zu seinen verschiedenen Schreibsprachen und die Bedeutung der Übersetzung als einer Sprungtechnik. »Vielleicht ist alles, was ich versuche eine Theorie der Übersetzung.« Am 2. Mai 1991 schreibt ihm Flusser begeistert. »Die Lektüre des Gesprächs mit Ihnen war ein Erlebnis. Man spürt heraus, daß dabei unsere Herzen in Einklang schlugen (das meint Konkordanz und Akkord, nicht wahr?) Meiner Meinung nach muß dieser Text weitere Kreise ziehen.« Drei spezifische Momente der jahrelangen Freundschaft mit Dimke sind von besonderer Bedeutung, werfen sie doch ein Licht auf wesentliche Aspekte von Flussers Biographie. Flusser lädt Dimke im Juni 1984 dazu ein, ihn in Robion zu besuchen und in diesem Zusammenhang auch am Treffen »Le vivant et l’artificiel« in Avignon teilzunehmen, wo er am 11. Juli einen Vortrag hält. Im Vorfeld kommt es zu einer Auseinandersetzung, in die auch Andreas Müller-Pohle verwickelt ist. Flusser, der sich auch hier gern widerspricht, findet in einem ersten Moment, dass eine Wasserscheide die beiden Fotografen trenne (Brief vom 27. Juni 1984). Zwei Jahre später jedoch verweist er in Hinblick auf Dimkes Kritik von Müller-Pohles Ansatz auf deren sich grundsätzlich ergänzende Einstellung (Brief vom 5. März 1986). Dimke sagt seine Teilnahme ab und verweist dabei kritisch auf den fragwürdigen Charakter der Selbstinszenierung bei solchen Gelegenheiten. In Arles würden sich Leute treffen, »um sich Fotos zu zeigen, die sie selbst mit einem Markenzeichen ausgestattet haben« (Brief vom 1. Juli 1984). Flusser reagiert heftig (Brief vom 7. Juli 1984), trifft diese Bemerkung ihn doch auch in Hinblick auf seinen eigenen existentiellen Grundkonflikt, der bis zu seinem Tod akut bleibt, und sich in den letzten Jahren, besonders nach seinem Durchbruch im deutschen Sprachraum, noch verstärkt: den Widerspruch zwischen bewusst gewähltem Rückzug und gesellschaftlichem Erfolg. »Dass Euch oeffentliche Veranstaltungen

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wie Arles und Avignon ankotzen, ist selbstverstaendlich […]: wir haben Robion als Wohnung gewaehlt, um derartigen Dingen aus dem Weg zu gehen. Ich muss Euch nicht erst erzaehlen, dass alle unsere Entscheidungen in den letzten beiden Jahrzehnten darauf abgezielt haben, dem Apparatbetrieb so weit wie nur moeglich auszuweichen.« Dass dies nicht vollumfänglich zutrifft, beweisen Flussers viele Versuche, in Frankreich und Deutschland zu publizieren und seine Enttäuschung darüber, dass dies erst gegen Ende der 1980er Jahre stattfindet. Flusser hat sich von den Verlockungen des Erfolgs verführen lassen. So schreibt er weiter unten: »Aber es spielen noch andere Faktoren mit, die mit Eitelkeit und Exhibitionismus zu tun haben.« Das zweite Moment zeigt einen ganz anderen, verletzlichen Flusser. In einem längeren Brief vom 19. Januar 1985, der einige Fotos enthält, beschreibt Dimke einen gemeinsamen Besuch im Konzentrationslager von Bergen-Belsen, an dem auch seine Lebensgefährtin Maren und Edith teilnehmen. »Wir waren zusammen in Bergen-Belsen und sie weinten in Erinnerung an Ihre Großeltern, die dort umkamen. Sie wandten sich ab und gingen, und ich ein paar Schritte hinter Ihnen, konnte Sie nicht einholen (ja natürlich hätte ich), um Sie in den Arm zu nehmen, Sie zu trösten. Ich war, im Bewußtsein der geschichtlichen Untaten, wie gebannt, – konnte nicht die Trauer mit Ihnen teilen. Und nicht, weil ich ›unfähig bin zu trauern‹, sondern weil ich mich nicht entscheiden konnte, so unmittelbar an Ihrer Trauer teilzunehmen.« Dimke macht ein paar Fotos im Bewusstsein, dass auch damit das Unvorstellbare und Unbegreifliche nicht zu bannen ist. »Es ist ein Paradoxon geworden – oder ist es einfach nur pietätlos? Außer Maren hat es nie jemand [sic!] gesehen, und ich möchte Sie bitten zu entscheiden, ob es jemals irgendwer sehen soll.« In einem zwei Tage später verfassten Brief geht Flusser mit keinem Wort auf die von Dimke geschilderte Begebenheit ein. Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Abschließend möchte ich noch auf ein drittes, diesmal eher theoretisches Moment eingehen. Am 16. April 1984 schickt Dimke Flusser einen mehrseitigen handgeschriebenen Brief, in dem er auf ein zentrales Moment von Flussers Medientheorie eingeht, die weitegehend aus seiner Übersetzungsarbeit hervorgeht. Im Mittelpunkt steht dabei die Metapher des Sprungs. »Wenn wir nicht nur an der fotografischen Oberfläche kratzen wollen, müssen wir der Fotografie eine Chance im interdisziplinären Kontext geben. Das sollen keine ›Gesamtkunstwerke‹ sein (im Gegenteil) eher verstehe ich darunter ›Mediensprünge‹! Also: in verschiedene Medien eintauchen und beim Medienwechsel muß man ja auftauchen (an dieser Stelle könnte ich mir eine ›Bewusstseinswerdung‹ vorstellen).« Flusser reagiert am 4. Juni 1984 ausführlich auf Dimkes theoretischen Vorschlag und liefert dabei zugleich eine der eindringlichsten Beschreibungen seines eigenen sprunghaft metaphorischen auf vielfachen Übersetzungsbewegungen beruhenden Denkens.

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»›Mediumspruenge‹: Es ist das Problem der Uebersetzung. Auf griechisch heisst ›Uebersetzung = Metapher‹. Zum Beispiel: Wenn ich das englische Wort ›power‹ ins deutsche ›Macht‹ uebersetze, dann verwende ich ›power‹ metaphorisch. Oder: Wenn ich den Begriff ›Analyse‹ aus dem Medium der Chemie ins Medium der Psychologie uebersetze, dann gebrauche ich ihn metaphorisch. Metaphern sind zugleich fruchtbare und gefaehrliche Strategien: sie bereichern das Medium, in welches ich springe, und sie verfaelschen das Medium, aus welchem ich springe. ›Power‹ heißt nicht ›Macht‹, sondern ›Koennen‹, ›Analyse‹ in der Chemie ist nicht ›Entbergung‹, sondern ›Zersetzung‹. Wenn ich mit malerischen Kriterien fotografiere, bereichere ich das Repertoire der Fotografie, und bin der Malerei ›untreu‹. Daher der bekannte Grundsatz der Uebersetzung: ›so treu wie moeglich, und so frei wie noetig.‹ Eine exakte Formulierung der Freiheit. Aber es gibt dabei noch etwas anderes. Um aus einem Medium in ein anderes springen zu koennen, (aus einem ›Universum‹ in ein anderes), muß ich beide vergleichen, (zum Beispiel ein englisch-deutsches Woerterbuch haben). Dieses Vergleichen kann ein ›Meta-Medium‹ genannt werden. (Das, was Sie ›interdisziplinaer‹ nennen.) Dieses Metamedium ist aber selbst ein Medium, zum Beispiel: physikalische Chemie. Und dann muss man, wenn man konsequent sein will, aus diesem Metamedium in ein anderes springen wollen. Zum Beispiel aus dem Metamedium ›Foto-Malerei‹ ins Medium ›Musik‹. Und um das zu tun, muss man ein Metameta-medium haben. Eine Stufenleiter aus Metaphern. Ein kolossal berauschendes Unternehmen, etwas so wie Seiltanzen oder Feuerwerke. Dafuer ein Beispiel: ›Suende‹ aus dem Medium Christentum in die freudische Analyse mit ›Komplex‹ uebersetzen, daraus in den Marxismus mit ›Verfremdung‹ übersetzen, und daraus ins Christentum mit ›Glaube‹ rueckuebersetzen, daher ›Suende‹ = ›Glaube‹. Sie sehn [sic!]: die Fruchtbarkeit und Gefaehrlichkeit der Metapher. Es ist nicht schwer, das Gesagte auf das Gebiet der technischen Bilder zu uebersetzen. Das ueberlasse ich Ihnen. Denn das muss gemacht sein.« In der Folge deutet Flusser diese Denkpraxis in Hinblick auf die Politik und die Arbeit des Fotografen. Es geht dabei nicht um ein Zusammenkleben von unterschiedlichen Realitätsbereichen, zum Beispiel von Medien oder Sprachen, sondern um den Riss, das heißt, ums Übersetzen. Der Nazismus verbindet in seiner Ideologie die arische Rasse mit sozialistisch anmutenden Maßnahmen und besiedelt Russland, dadurch werden Volkswirtschaft, Kulturkritik und Biologie zusammengeklebt. Das führt nach Flusser zu Kitsch. Kitsch ist allen Medien untreu und bereichert keines. Solange der Fotograf schizophren ist, zerrissen zwischen den Zwängen des Apparates und seinem eigenen Anspruch, »kann er aus einer der Seelen in die andere uebersetzen. Er ›zweifelt‹, (oder dreifelt oder vierfelt) […]. Aber sobald er die Seelen aneinanderklebt, (sich mit dem Apparat identifiziert), ist er zweifellos verzweifelt, und Kitsch ist die Folge. Daher bin ich prinzipiell gegen alle Collage.« Der Brief endet mit einer kulinarischen

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Metapher. »Dieser Brief ist als Modell fuer eine Serie von Medienspruengen gemeint, laeuft aber Gefahr, Collage zu werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, sein Staccato-Charakter. Beispiel: Rehruecken mit Preiselbeern, (Sprung ueber Medien) macht selig, Hamburger, (Mediumcollage), kann Durchfall erzeugen. Lesen Sie meinen Brief als Rehruecken, nicht als Hamburger […].«

Abbildung 34: Vilém Flusser (späte 1980er Jahre)

G ottfried J äger Vilém Flusser begegnet dem deutschen Fotografen und Fototheoretiker Gottfried Jäger (1937-) zum ersten Mal beim internationalen Symposium »Kritik und Fotografie«, das vom 23. bis zum 25. Oktober 1981 in Wien stattfindet. Jäger ist seit 1972 Professor für Fotografie und Film an der Fachhochschule Bielefeld. Flusser nimmt mit einem Vortrag zu »Fotografie und Tauschwert« teil. In der Folge lädt Jäger Flusser zu einem ersten Seminar am 8. Dezember 1983 in der Fotoabteilung des Fachbereichs Design der Fachhochschule Bielefeld ein. Es soll Flussers kürzlich veröffentlichtes Buch Für eine Philosophie der Fotografie diskutiert werden. Eine weitere Einladung zum 5. Bielefelder Fotosymposium, das vom 2. bis 3. November 1984 stattfindet, folgt. Flusser nimmt dankend an und revanchiert sich mit einer Einladung nach Arles an die »Rencontres Internationales de la Photographie« im Juli desselben Jahres. Flusser plant Mitte Juni nach Göttingen zu fahren, um dort Müller-Pohle zu

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treffen und fordert Jäger auf, ihn dort zu treffen, um über dessen Teilnahme am Symposium in Arles zu diskutieren. In einem weiteren Brief vom 23. Juli schickt er eine Kurzbiographie und verlangt eine Liste der Teilnehmer und Themen, wohl mit der Absicht, sich auf die Diskussion vorzubereiten. Vilém und Edith reisen aus Lüttich an, wo Flusser am 27. Oktober das Symposium »L’art e l’ordinateur« eröffnet. Am 29. spricht er an der lokalen Universität. Sie übernachten in Jägers Haus. Flussers Vortrag »Kriterien – Kritik – Krise« wird in der Folge mehrfach publiziert. Zur intellektuellen Zusammenarbeit gehören auch gegenseitige Rezensionen. So schreibt Flusser 1986 einen Kommentar zu Jägers Essay »Generative Photography: A Systematic, Constructive Approach«, das noch im Herbst desselben Jahres in der amerikanischen Zeitschrift Leonardo. Journal of the International Society of the Arts, Sciences and Technology in San Francisco erscheint. »Jäger’s work and his theoretical consideration«, schreibt Flusser dort, »are important steps toward the emerging culture of images generated by the apparatus.« Bis Herbst 1990 wird Flusser noch zwei weitere Beiträge in der Zeitschrift publizieren. In einem Brief vom 30. Januar 1988 nimmt Flusser den Kontakt wieder auf: Ob Jäger auch im September an das geplante Symposium »Philosophien der neuen Technologie« komme, das im Kontext der Ars Electronica in Linz stattfinde? Jäger lädt Flusser seinerseits zum Jahrestag der Fotografischen Akademie ein, die vom 4. bis zum 10. April in Leinfelden-Echterdingen, 20 Kilometer südlich von Stuttgart tagt. Joan Fontcuberta soll bei dieser Gelegenheit einen Preis erhalten. Zudem findet eine Ausstellung statt, die einer Retrospektive seines Werkes gewidmet ist. Flusser hält das Hauptreferat zum Festakt: »Genetik und generative Fotografie.« Auf die Frage Jägers, ob sein Name im Programm korrekt geschrieben sei und ob und mit welchem Titel er wünsche, angesprochen zu werden, reagiert Flusser knapp: »Die Schreibweise meines Namens ist richtig, und ich lege keinen Wert auf akademische Titel« (Brief vom 23. Februar 1988). Im selben Brief geht Flusser auf das Konzept der generativen Fotografie ein, das auch in Jägers Konzeption und Fontcubertas Werk eine zentrale Rolle einnimmt. »Der Begriff ›Genetik‹, (den Sie so geistreich fuer fotografische Arbeit angewandt haben), beschaeftigt mich immer mehr, insbesondere im Sinn von ›Morphogenese‹, also ›Lehre von der Entstehung der Formen‹. Seit ich mindestens zuschaue, wie Formen auf dem Computerbildschirm auftauchen, sich verwandeln und ineinander uebergehen, [Flusser meint hier auch Mandelbrot-Fraktale] gewinne ich einen neuen Blick fuer die Dynamik der ›Erscheinung‹. Fontcuberta mit seinen Pflanzen, (und jetzt auch Tieren), ist dabei nur eine unter vielen moeglichen Anschauungen.« Flusser bezieht sich hier auf die beiden Fotobände Herbarium und Fauna.

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Das Jahr 1988 steht im Zeichen des interdisziplinären Kulturprojekts A Casa da Cor, das vom 9. bis zum 11. August in São Paulo stattfindet. Flusser schickt Jäger seinen Essay »Postmoderne Farben« mit der Bitte nach kritischer Lektüre. Falls Jäger Interesse am brasilianischen Projekt hat, will er vorschlagen, dass man ihn in den wissenschaftlichen Beirat aufnimmt. »Ich bin an einem grossen, (wahrscheinlich zu grossen), Projekt in São Paulo beteiligt, an einem ›Haus der Farbe‹«, schreibt er Jäger am 17. April 1988. Sein zentrales Interesse ist dabei das Verhältnis von Zahlen und Farben und die damit einhergehende Beziehung von Kunst und Wissenschaft. Farbige Abbildungen in wissenschaftlichen Publikationen, zum Beispiel Farbfotografie von im Text behandelten Phänomenen, Computersimulationen und Projektionen von Kalkulationen, werfen die Frage auf, nach welchen Kriterien die Farben ausgewählt worden sind. Es geht um die »Adaequation der Farbe an Mengen, und nicht so sehr an Formen.« Flusser definiert Farben im Gegensatz zu Zahlen als qualifizierende Symbole. Wenn es gelänge, eine Farb-Zahl-Theorie »aufzustellen, dann waere eine Bruecke zwischen dem mathematischen (quantifizierenden, ›rationellen‹) Denken und dem kuenstlerischen, (qualifizierenden, ›aesthetischen‹) Denken geschlagen und der Bruch zwischen wissenschaftlicher und ›geistiger‹ Kultur waere ueberwunden. Derartige Einbildungen […], waeren dann zugleich Erkenntnis- und Erlebnismodelle, zugleich wissenschaftliches Werk und Kunstwerk.« Im selben Brief reagiert Flusser auf einen Text Jägers. Trotz grundlegender theoretischer Übereinstimmung macht er auf ein paar Unterschiede aufmerksam: »Ich bin nicht ueberall mit Ihrer Terminologie einverstanden, (zum Beispiel wuerde ich statt ›bildgegeben‹ lieber ›einbildend‹ sagen), und ich bin auch nicht ueberzeugt, dass sie die von Ihnen so klar ersehene epistemologische Wendung, (Anschauungswandel), radikal genug formuliert haben. Ich wuerde dies eher so formulieren: Statt Subjekte einer objektiven Welt werden wir zu Projekten von moeglichen Objekten.« Jäger lädt Flusser dazu ein, korrespondierendes Mitglied der Fotografischen Akademie zu werden. Im Sommer desselben Jahres besucht er zusammen mit seiner Frau zum ersten Mal Edith und Vilém in Robion. Dort diskutieren sie die Vorbereitung des Kolloquiums in São Paulo und eine Tagung der Deutschen Fotografischen Akademie in Berlin zum 150. Geburtsjahr der Fotografie, die vom 23. bis zum 25. Mai 1989 in Berlin stattfinden soll. In den letzten Briefen weist Flusser immer wieder auf das gehetzte Tempo hin. »Meine Agenda ist leider gespickt«, schreibt er Jäger am 4. September 1989. Er kann weder am 10. (11.-12. November 1989) noch am 12. Bielefelder Symposium (7.-8. November 1991) teilnehmen. »Aber es war ja für Sie ein unmöglicher Termin; Sie wissen, wie sehr gern wir Sie hier hätten! […] Für heute also für Ihre Frau und für Sie alles Gute. Ich denke noch oft an Sie beide und freue mich, Ihr Freund zu sein.« (Jäger in einem Brief vom 30. September 1989) Und Flusser

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in einem letzten Brief an Jäger vom 6. Juli 1991: »Ich denke, Sie ahnen nun schon, dass ich Ihnen zu beiden Veranstaltungen absagen muss. Ich tue dies nur sehr ungern, doch zwingt mich mein uebervoller Terminkalender hierzu. Zu viele Einladungen […] und eigene unfertige Buecher und Manuskripte etc. machen mir ein Kommen unmoeglich.« Am 30. September 1991 stattet Jäger zusammen mit seinem Sohn Markus Edith und Vilém einen zweiten und zugleich letzten Besuch in Robion ab. Es geht um die Vorbereitung einer Ausstellung, die für das nächste Jahr in Karlsruhe vorgesehen ist. Zugegen ist auch Patrik Tschudin, der mit Flusser ein Interview führt. Es ist zudem die Rede von einer bevorstehenden Reise nach Prag.

Abbildung 35: Thilo Mechau: Vilém Flusser

H arry P ross Harry Pross (1923-2010), der an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven und an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) lehrt, erhält 1968 den Ruf an die Freie Universität Berlin, wo er bis 1983 als Ordinarius am Institut für Publizistik lehrt. Nach seinem beruflichen Rückzug organisiert er in seinem Wohnort Weiler im Allgäu die Internationalen Kornhaus-Seminare, an denen Flusser zwischen 1984 und 1990 insgesamt fünf Mal teilnimmt. Im Juni 1983 wird auf Vorschlag von Stephen Hearst ein Rezensionsexemplar von Für eine Philosophie der Fotografie an Harry Pross verschickt. Die

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Besprechung, eine der ganz wenigen zu dieser Zeit und damit auch eine der frühesten im deutschen Sprachraum, erscheint in der Süddeutschen Zeitung Ende Januar 1984. Die knappe, aber äußerst eindringliche Rezension trägt den signifikanten Titel »Programmierte Magie«. Die Entzifferung von Fotografien, schreibt dort Pross, ist bloß der Anfang einer Philosophie der Fotografie. Es geht dabei im Wesentlichen um eine breit ausholende, zugleich historische und kulturtheoretische Untersuchung, welche die Erfindung der Schrift und die Erfindung der Fotografie aufeinander bezieht. Flusser betrachtet den Fotoapparat als ein »Werkzeug programmierter Magie und den Knipser als jemanden, der nicht weiß, was er tut […].« Pross verweist kurz auf einige markante Züge von Flussers Biographie und schließt mit dem Satz: »Es gilt ihn zu entdecken.« Am 2. August 1983, kurz vor der Abreise nach Brasilien, beantwortet Flusser einen Brief von Pross, in dem er auf dessen Buch La violencia de los simbolos sociales hinweist, das er von European Photography erhalten hat. Flusser bittet um die deutsche Fassung (Zwänge: Essay über symbolische Gewalt) und kündigt einen ersten Gedankenaustausch nach seiner Rückkehr Mitte September an. »Ihre Thematik scheint sich weitgehend mit der meinen zu decken, oder zu kreuzen.« Auch Pross verweist auf Gemeinsamkeiten, so schreibt er am 8. August, dass er Für eine Philosophie der Fotografie gelesen und darin gewisse Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Denken festgestellt habe. In ihren Briefen diskutieren Flusser und Pross vor allem das Verhältnis von Bild und Text und den Begriff der Kommunikation. Zurück aus Brasilien schreibt Flusser am 21. September: ich »koennte viel von Ihnen lernen.« In einem weiteren Brief vom 20. Januar 1984 bedankt er sich für die Einladung zum ersten Kornhaus-Seminar und für die Rezension von Für eine Philosophie der Fotografie. Am 18. August 1984 reisen Vilém und Edith über Trient nach Weiler im Allgäu, wo Flusser im Rahmen des ersten internationalen Kornhausseminars (22. bis 30. August) zum Thema »Kitsch« einen Vortrag hält. Moles ist unter den eingeladenen Referenten. Im folgenden Jahr nimmt er auch am zweiten Kornhausseminar vom 23. bis zum 29. August teil und referiert zum Thema »Heimat und Heimatlosigkeit«. Dieser Vortrag ist 1999 als CD bei supposé in Köln erschienen. In diesem Zusammenhang lernt er Irmgard Zepf kennen. In der Folge wird Flusser noch am dritten Kornhausseminar (22.-28. August 1986: »Becher, Teller, Löffel, Mahlzeit im Wandel«) mit dem Vortrag »Schöpflöffel und Suppe« teilnehmen sowie am fünften (1988), das dem Verhältnis von Dialekt und Schriftsprache gewidmet ist und am siebten (1990), das sich mit Mobilität, Identität und Vorurteil beschäftigt. Am 25. August 1988, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Brasilien, spricht Flusser über »Umcodieren – Imperative der elektronischen Revolution« und am 23. August 1990 über »Hausen oder Zelten.« Flussers Auftritt am dritten Kornhaus Seminar wird von Müller-Pohle und Rapsch mithilfe eines Kameramannes aufgenommen,

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mit der Absicht, diesen als Video zu vermarkten. Rapsch hat damals den Plan, eine Tonbandkassettenreihe anzulegen. Am 27. Juli 1990 bittet Flusser Marianne Pross, einen Brief an den ehemaligen Redakteur der Zeitschrift Merkur Hans Paeschke, mit dem er seit Ende 1978 keinen Kontakt mehr hat, weiterzuleiten. Es ist ein erstaunlich ehrlicher und mutiger Brief, der Flussers ambivalente Haltung zu Erfolg und Ruhm thematisiert sowie die schwierige emotionale Lage, die gerade ein deutscher Durchbruch mit sich bringen muss. Paeschke ist bei einem Vortrag, den Flusser am 9. Juli in Baden-Baden hält, unter den Zuhörern. Flusser erkennt ihn nicht sofort. Er erinnert sich im Brief an die Zeit, als er Paeschke von Brasilien aus in Deutschland besucht. »Sie waren tatsaechlich einer der ersten Kontakte mit der deutschen Kulturszene (wenn nicht ueberhaupt der erste), und ich habe es Ihrer Weltoffenheit und Humanitaet zu verdanken, dass ich die Huerde zwischen mir und der Publikation in deutscher Sprache nehmen konnte. Dann […] hat mich die Korrespondenz mit Ihnen bereichert […]. Daher fuehlte ich mich geehrt (und, ich will es gestehen, geruehrt), dass Sie zu meinem Vortrag kamen. Leider habe ich Ihren Erwartungen ueberhaupt nicht entsprochen. Ihr Gesicht zeigte Unwillen, und ich konnte mir dies nicht erklaeren. Als ich Sie im Gedraenge nach dem Vortrag danach ansprach, hatten Sie nur Einwaende gegen meinen Tonfall […]. Ich bin gegenwaertig in einer Zwickmuehle: zu meiner Ueberraschung haben meine Texte und Reden im deutschsprachigen Raum einen Nachhall, wie sie ihn vorher nur in Brasilien hatten, und das verfuehrt mich (trotz meinem Alter). Andererseits weiss ich genau, dass ich dem zu widerstehen habe, um frei weiterdenken zu koennen. Das ist einer der Gruende, warum mir Ihre Reaktion so wichtig ist: sie ist unbestechlich. Ich bitte Sie darum, lieber Herr Peaschke, auf diesen Brief Antwort zu stehen. […] ich begruesse Sie, auch im Namen meiner Frau, in Bewunderung und Freundschaft.« Paescke antwortet zwei Wochen später. Das Urteil ist vernichtend und muss Flusser tief getroffen und beleidigt haben, auch weil er sich in seinem Brief so weit vorgewagt hat. »Meine Antwort«, so Paescke, »muß Sie enttäuschen. Übrigens auch mich selbst, und um dieses Paradoxons willen tun Sie mir auch leid. Ich fühle mich von Ihnen nicht nur gefordert, sondern auch überfordert […] weil Sie […] in allem übertreiben […]. Das war am Anfang unseres Kontakts, vor 25 Jahren, noch nicht so, da empfand ich Ihr Temperament noch als exotisch und Ihre Gedanken als eine höchst originelle Paraphrase der so lianenhaft verschlungenen Gewächse in den Urwäldern Brasiliens. Das war unlängst ganz anders. Es war nicht nur Ihr Tonfall, der mich irritierte – vielleicht weil Sie mir kaum einen halben Meter […] zu schnell und zu laut auf- und abstampfend, geradezu körperlich zu nahe kamen.« Paeschke spricht von Flussers »dauernden Sprüngen von der Urgeschichte zur Posthistoire, von der Magie zur Technologie, vom Mythos zum Logos und zurück alle Bilder wie Begriffe wahrhaft

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›metafüsilierend‹, Existentielles und Ontologisches in einem Atemzug verbindend, vermischend, verwischend […] für mich ein Gedankenwirrwarr wie bei einem der vielen asiatischen Ersatz-Gurus und genau so verführerisch=chaotisch wie diese: Nicht eine Minute der Meditation, nicht eine, in der Sie sich selbst wie Ihre Hörer fragten, so gar kein Sokrates, sondern ein Spekulant, der mit seinen Sophismen dialektisch spielte […] ich wünsche Ihnen, in Ihren Jahren, etwas mehr Zweifel, auch Verzweiflung, und etwas weniger an autoritären Gebärden eines derart von sich selbst überzeugten Wissens. Dann werde ich der Autorität Ihres Gewissens und der Aufrichtigkeit Ihrer Bewunderung, die Sie mir zuwenden, auch wieder Vertrauen schenken. Mit Grüßen, vor allem auch an Ihre so bewundernswert [sic!] bescheidene Frau.« Interessanterweise führt Paeschke Flussers Hang zum sprunghaften Denken auf dessen zweite Heimat Brasilien zurück und legt damit eine Piste, die man weiterverfolgen könnte. Trotz ihrer verkürzenden stereotypisierenden Seite weist sie auf einen Zusammenhang hin, der bisher kaum untersucht worden ist. Flusser ist knapp zwanzig als er in Brasilien ankommt. Sein Kontakt zur lokalen Kultur, zur portugiesischen Sprache und zu den akademischen Gepflogenheiten des Landes haben sicher bleibende Spuren in seinem intellektuellen Habitus hinterlassen. So schreibt er in »Retradução enquanto método de trabalho«: »[…] der ›Geist‹ der portugiesischen Sprache [führt dazu], den Gegenstand auf einer Tangente zu verlassen. Das Portugiesische ist die Sprache der Exkurse, der sogenannten freien Assoziationen.« Paeschke berührt hier noch einen weiteren wunden Punkt. Flusser hat besonders in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder auf die Unzulänglichkeit individuellen schöpferischen Schaffens und den damit einhergehenden Tod des traditionellen Autors hingewiesen. In Anbetracht seiner kontinuierlichen systematischen Arbeit an seiner öffentlichen Erscheinung als Vortragender und Autor müssen solche Behauptungen unglaubwürdig klingen. Tatsächlich besteht ein deutlicher Widerspruch zwischen Flussers öffentlichen Auftritten, gewissen Aspekten seines Umgangs mit Freunden und seiner Philosophie des Dialogs. So schreibt er zwar Florian Rötzer in einem Brief vom 5. März 1989, »Es lebe der Dialog, und nieder mit den Autoren«, hält aber zugleich an seiner Identität als Schreibender fest. Ein Widerspruch, in den sich jedoch nicht nur Flusser verwickelt, sondern zum Beispiel auch die Autoren des philosophischen und literarischen Dekonstruktivismus, die darüber hinaus auch auf universitäre Seilschaften zählen können, was man wiederum von einem Einzelgänger wie Flusser nicht behaupten kann.

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I rmgard Z epf Besonders bedeutsam unter den vielen Freundschaften Flussers ist Irmgard Zepf, neben Mira Schendel, Dora Ferreira da Silva, Maria Lília Leão und Jeanne Gatard eine der ganz wenigen Frauen. Irmgard Zepf führt eine zentrale, weitgehend vernachlässigte Dimension von Flussers Denken ein: die Religiosität. Zugleich lässt sich in diesem Kontext noch einmal Flussers Frauenbild aufrufen, das schon an mehreren Stellen zur Sprache gekommen ist. Zepf ist 1935 in Breslau geboren, studiert von 1955 bis 1962 künstlerisches Lehramt und Freie Grafik bei Otto Coester an der Kunstakademie Düsseldorf und von 1962 bis 1965 Literaturwissenschaft an der Universität Münster. Von 1957 bis 1970 führt sie ein Leben als Nonne in einer Ordensgemeinschaft. 1977 promoviert sie mit einer Arbeit über Denkbilder bei Heinrich Heine. Ab 1980 hat sie einen Lehrstuhl für Kunsterziehung an der RWTH Aachen und arbeitet von 1985 bis zu ihrer Emeritierung an der Universität zu Köln. Im kurzen, im Berliner Archiv einsehbaren Briefaustausch geht es vor allem um das Spiel, das Heilige und das Verhältnis von Judentum und Christentum. Zepf und Flusser lernen sich im August 1985 am zweiten internationalen Kornhausseminar in Weiler kennen. Zepf erzählt ihm von ihrem über zwanzigjährigen Klosteraufenthalt, ihrer Auseinandersetzung mit Augustinus, Pascal, Kierkegaard, Sartre und der Zen-Philosophie. Damit spricht sie frühere existentielle Schichten aus Flussers eigener Biographie an, besonders die Zeit während des Zweiten Weltkriegs und die frühen 1950er Jahre, als er sich für den Mystizismus eines Meister Eckharts und eines Johann vom Kreuz, den Katholizismus und den Buddhismus interessierte, aber auch für das Werk der zum Katholizismus konvertierten Simone Weil. Zepf berichtet, Flusser habe sich bei ihr danach erkundigt, ob sie während ihrer Zeit im Kloster mystische Erfahrungen gemacht habe. Wie in vielen anderen Fällen besteht von Anfang an so etwas wie eine grundlegende gegenseitige Empathie. Flusser schenkt ihr ein Exemplar von Ins Universum der technischen Bilder. Am 31. August 1985 schreibt ihm Zepf einen begeisterten Brief. Die Lektüre habe auf sie gewirkt wie ein »geisteserweckendes Getränk«, das sie »aufgerüttelt« hat. »Ich weiß nicht, was ich an Ihrer ›Fabel‹ mehr bewundern soll, die kristallklare Sprache […] oder die Luzidität Ihrer Gedankenführung! Ich wüßte nicht, wie ich in Deutschland Derartiges finden sollte!!« Statt einer Kritik würde sie am liebsten einen längeren Erwiderungstext schreiben. »Meine nachklösterliche Zeit ist gekennzeichnet von lauter Suche und Irrfahrten. Umso mehr treffen mich jetzt Ihre Schriften. Ich nehme in Ihnen eine Radikalität wahr, durch die Sie das Neue als Neues kennzeichnen können […] zum Beispiel legen Sie […] neue Zugänge zum Begriff des Spiels und des Heiligen frei […].« Zepf möchte sich darum bemühen, dass Flusser an der Universität zu Köln einen Vortrag halten kann.

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In einem späteren Brief (20. Oktober 1985) kommt sie auf die Faszination von Flussers Texten zurück, die sie im Sinne einer Konvergenz von Kunst, Wissenschaft und Philosophie deutet und damit Flussers eigenes ultimatives Ziel anspricht, das er schon in seinem ersten Buch, Das Zwanzigste Jahrhundert, formuliert hat. »Ich lese Ihre Texte als künstlerische (die in ihren vieldeutigen ›perspektivenreichen‹ Bildern, die im Leser Vorstellungsbilder, Schaubilder ➝Theorien hervorrufen) und zugleich als wissenschaftliche […], dann lese ich Ihre Texte als ›Reflexionen‹ – eben ›Spiegelungen‹ – als philosophische. Diese komplexe Schwebstruktur bringt mein Denken und meine Vorstellungskraft immer wieder von neuem in Bewegung.« Flussers Texte, fügt sie hinzu, fordern immer wieder zum Widerspruch heraus. Flusser verfasst seine Antwort unter dem »Impakt, und ohne Abstand.« »Als ich mit Ihnen zu sprechen begann, hatte ich sofort das Gefuehl, […] einen Dialog gefunden zu haben. […] ich habe Sie, und Sie haben mich gewonnen« und er fügt hinzu: Sie »haben herausgefunden, dass es bei mir immer nur ums Heilige geht […]« (Brief vom 6. September 1985). Flusser, so Zepf am 11. September, entwirft ein ganz anderes Konzept der Technik als Adorno, dessen Angst davor mit der Erfahrung des Nazismus zusammenhängt, wo sie den autoritären Charakter stützt und verstärkt. Sie spricht von einem »kühnen Lichteinfall« und einer »Dimension der heiligen Zeit, des heiligen Spiels«, die Flusser in die profane Welt der Technik einbaut, ein unorthodoxes Vorgehen, das von seitwärts, nicht von oben kommt. Das Kapitel »Kammermusik« aus Ins Universum der technischen Bilder beschreibt Zepf als schöpferische »visio«, das heißt als spirituelle Eingebung und nicht so sehr als diesseitsbezogene Utopie oder gar als simple Gebrauchsanweisung. Dort spricht Flusser auch von einer neuen unorthodoxen Religiosität, die in der Form der neuen Technobilder aus den verschütteten Winkeln unseres Bewusstseins auftaucht. Zepf wirft wichtige Frage auf: Ist Flussers Vorstellung einer unorthodoxen Religiosität allein aus den Quellen der jüdischen Erfahrung von Religiosität zu gewinnen? Ist seine Vorstellung einer einheitlichen jüdisch-christliche Tradition, die er der griechischen gegenüberstellt, nicht problematisch? Gibt es nicht eher einen Bruch zwischen den beiden, und dies obwohl das Christliche von der jüdischen Erfahrung zehrt? »Ich habe mir selbstredend darueber den Kopf, (und mehr als ihn) zerbrochen«, schreibt ihr Flusser am 14. September. »Ich schlage vor: das Judentum ist im Christentum dialektisch aufgehoben, aber bei diesem Aufheben ist etwas verloren gegangen. Was ist verloren gegangen? Die unmittelbare Erfahrung des anderen. Denn das Christentum hat ueberall Christus als Vermittler. […] Hoffen Sie nicht, im gegenwaertigen Judentum die verlorene Unmittelbarkeit wiederzufinden. Es ist zu einem hohen Grad verchristlicht.« Im November desselben Jahres reisen Edith und Vilém über Straßburg und Göttingen nach Berlin, wo Flusser vom 24. bis zum 27. an einem Symposium an der Kunsthochschule teilnimmt. Auf der Rückreise stoppen sie für zwei

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Nächte in Köln (28.-30. November). Flusser hält am 29. einen Vortrag zum Thema »Text und Bild«. Im Frühjahr 1986 besucht Zepf Edith und Vilém in der Provence. Flusser wiederum lädt Zepf an ein von Milton Vargas organisiertes Seminar für Alternativen des Unterrichtes von Wissenschaftsgeschichte und Technologie ein, das vom 24. bis 26. Februar 1987 in São Paulo stattfindet. Verschiedene Briefe, die zwischen 1987 und 1991 ausgetauscht werden, sind leider nicht erhalten. Erwähnenswert ist aber noch ein kurzer Austausch aus dem Oktober 1991, der in einem direkten Zusammenhang mit Flussers Text »Altweibersommer« steht und ein überraschendes Schlaglicht auf dessen Frauenbild wirft. In diesem Text geht es um den Prozess der Menschwerdung, verstanden als evolutionäre Abweichung von den übrigen Primaten. Flusser behandelt diese Entwicklung auch in seinem letzten Buchprojekt, welches denselben Titel trägt. Frauen, so lapidar zu Beginn, sind »in Sachen Menschwerdung Männern voran« und ironisch fügt er hinzu: Frauen unterscheiden sich von den Schimpansen-Weibchen weit mehr als Männer von den Schimpansen-Männchen. Es ist für die Unterdrückung der Frauen in der westlichen Kultur charakteristisch, dass gerade dieses »deutlichere Menschsein der Frauen« nicht zum Ausgangpunkt anthropologischer Überlegungen benutzt wird. Flusser meint dabei vor allem die älteren Frauen, die im Gegensatz zu anderen Primaten die Zeit ihrer Fruchtbarkeit überlebt haben und dadurch über das Biologische herauswachsen, das heißt die »überflüssigen alten Frauen (wobei man bei ›alt‹ das Lachen unterdrücken muss, denn es meint älter als 40 Jahre).« Der vorliegende Aufsatz, so weiter Flusser, werde von einem alten Manne verfasst, der den Verdacht nicht loswerde, »dass es eine Art von Noblesse gibt, die früher vielleicht mit dem Wort ›Dame‹ gemeint war, welche einige wenige dieser Frauen umgibt, und in welcher sich das höchste bisher erreichte Menschsein äussert.« Im letzten Abschnitt spricht er von einer spezifischen Ausstrahlung, die von solchen Frauen ausgeht: »wenn sie den Raum betreten« rufen sie »ein Gefühl zugleich der Geborgenheit und der Herausforderung zu Kreativität« hervor, »kurz jenes Gefühl, das den angegriffenen Namen ›Kultur‹ trägt.« Flusser ist sich bewusst, dass von dieser Perspektive aus betrachtet »die ganze sogenannte Frauenbewegung als ein geradezu sträflicher Unsinn« erscheint. »Es ist geradezu lächerlich, wenn Frauen den Männern gleichberechtigt sein wollen. Im Gegenteil: es sind die Männer, die es den Frauen gleichmachen wollen, dies nicht können, und daher ihre größere physische Kraft einsetzen, um die Frauen zu unterdrücken und am weiteren Menschwerden zu hindern.« Die Frauen, welche die Reproduktionsfunktion hinter sich gelassen haben, nützen ihrerseits jedoch meist die neue Lebensphase nicht zur Verwirklichung ihres Menschseins. Anstatt den Männern vorzuleben, was es bedeutet, Mensch zu sein, äffen sie diese nach. »Ein Zeichen für diese verdrehte Situation, ist die Tatsache, dass unsere Kultur kein Schönheitsmodell für die Art Frauen bereithält, denen dieser Es-

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say gewidmet ist. Es sind schlussendlich nicht die Männer, sondern allein die für die Menschwerdung offenen Frauen, die einen radikal neuen Liebesbegriff und »eine tatsächliche menschliche Liebeserfahrung« schaffen können. Im letzten Teil des Essays führt Flusser eine historische Perspektive ein, die den zum Teil pejorativ konnotierten Begriff des Altweibersommers provokativ ins Utopische wendet. Das nomadische Zeitalter ist der Frühling der Menschheit und die Zeit der Sesshaftigkeit deren Sommer. Der Altweibersommer der Menschheit ist »die fruchtbarste, schönste und menschlichste aller Jahreszeiten.« Im Rückblick erscheint die Frauenunterdrückung als »der fatale Missgriff der Sesshaftigkeit und alle übrigen Verbrechen erscheinen als dessen Folge. […] Was eben gesagt wurde ist utopischer als alles Reden von Nachgeschichten, von immaterieller Kultur, von virtuellen Räumen, von telematischer Vernetzung, aber es ist auch viel schöner.« Zepf versucht »Altweibersommer«, in einem kunstpädagogischen Frauenbuch unterzubringen, als Text »eines Weisen – unter lauter Frauentexten«, wie sie in einem Brief an Jürgen Link vom 1. Oktober 1991 festhält. Dies kommt aber nicht zustande, da Konzeption und Textsuche schon abgeschlossen sind. Zu Recht hält sie kritisch fest, dass sich Flussers Essay eigentlich nur an wenige wohlhabende Frauen richtet. »Viele Frauen haben ein schweres, armes und einsames Alter.« Es ist auch die Rede von einem Besuch in Robion in den folgenden Monaten. Dieser findet aufgrund von Flussers Tod aber nicht mehr statt. In seiner kurzen Antwort aus Robion vom 22. Oktober 1991 verbindet Flusser Zepf explizit mit seiner Vision aus »Altweibersommer«: »Wenn ich es sagen darf, Du bist fuer mich ein Beispiel fuer eine Dame. Danke dafuer, was du ueber mich gesagt hast. Wir erwarten Dich, wann immer du willst, mit offenen Armen.« Vielleicht hat Flusser nicht nur an Irmgard Zepf gedacht, als er seinen Essay geschrieben hat, sondern auch an Edith. In diesem Sinne, trotz seiner dominanten auf brausenden Art, ist Flusser, wie Zepf in einem Telefongespräch dezidiert angemerkt hat, kein Macho.

B ernd W ingert, R ainer G oe t z , D ie ter M ahlow Vilém Flusser und Bernd Wingert lernen sich am Internationalen Kolloquium zum ZKM im Badischen Kunstverein in Karlsruhe kennen, das vom 10. bis 13. März 1988 stattfindet, den Titel »Die Künste im Auf bruch« trägt und sich mit visuellen, akustischen und sprachlichen Veränderungen beschäftigt, die der Computer mit sich bringt. Im Foyer stellt ihm Wingert sein Projekt über elektronisches Publizieren vor und lädt ihn in einem Brief vom 18. August dazu ein, im März des folgenden Jahres im Rahmen eines Seminars einen Vortrag am Institut für Technologiefolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Kernforschungszentrums Karlsruhe zu halten. Dem Brief hat Wingert eine

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kurze Präsentation des Projekts beigelegt. Flusser, der sich brennend für neue Formen der Publikation interessiert, schlägt »Ausbruch der Zahlen aus dem alphanumerischen System« oder »Kann man Farben mit Zahlen koordinieren« als mögliche Themen vor (Brief vom 27. September 1988). Wingert suggeriert ein Vortragsthema, das sich mit der Zukunft des Schreibens befasst – er verweist dabei explizit auf den Untertitel von Flussers Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? –, trifft dieses doch eher den Kern des Projekts. Tatsächlich geht es darin um die Zukunftsaussichten des Buches als Medium und die Möglichkeiten der Schrift als Code. So schreibt Flusser in der Einleitung: »Es sieht ganz so aus, als ob die Schriftcodes, ähnlich den ägyptischen Hieroglyphen oder den indianischen Knoten abgelegt werden würden. […] Mit dem Schreiben, so sagen wir, ginge all jenes verloren, das wir einem Homer, einem Aristoteles, einem Goethe verdanken. Von der Heiligen Schrift ganz zu schweigen. Nur, woher wissen wir eigentlich, daß diese großen Schriftsteller […] nicht lieber auf Tonband gesprochen oder gefilmt hätten.« Das Buch besteht aus 21 phänomenologischen Skizzen, welche die Schrift anhand verschiedener Dimensionen des Schreibens untersuchen: Schreibformen – Überschrift, Inschrift, Aufschrift, Vorschrift, Unterschrift –, Textsorten – Bücher, Briefe, Zeitungen, Skripte – und weitere verwandte Aspekte – gesprochene Sprachen, Dichtung, Lesarten, Buchdruck, Entzifferungen, Buchstaben, Zahlen, Papierhandlungen, Schreibtische. Flusser schlägt als Titel für seinen Vortrag »Schreiben für Publizieren« vor. Als Wingert meldet, dass er als Honorar nicht die verabredeten 300.- DM bezahlen kann, sondern bloß die Hälfte, sagt Flusser kurzerhand ab: »der geradezu beleidigenden Summe halber« (Brief vom 8. Februar 1989). Als Wingert jedoch verspricht, den Rest dennoch zusammenzukriegen, lenkt Flusser ein. Seine Anreise führt ihn von Robion durch die deutsche Schweiz, über Willisau, Rapperswil, Zürich nach Basel, wo er das Kunstmuseum besucht. Es folgen Pforzheim, Nürnberg und Köln und dann ein kurzer touristischer Abstecher nach Holland: Amsterdam, Delft und ’s-Hertogenbosch. Edith und Vilém haben es immer wieder verstanden, die Anreise zu einem Vortrag mit ihren eigenen Interessen zu verbinden. Flusser hält seinen Vortrag am 2. März 1989 an der Abteilung für angewandte Systemanalyse. »Ihr Vortrag hatte Resonanz«, schreibt ihm Wingert am 3. März. In einem weiteren Brief vom 13. Juli schlägt er vor, den Vortragstext nebst dem Tonprotokoll in ein elektronisches Buch umzubauen. Flusser ist von der Idee begeistert und schlägt vor, dass man sich Mitte Oktober zu diesem Zweck erneut in Karlsruhe trifft. Die Ausarbeitung dieses Projekts muss im Rahmen von ähnlichen Bemühungen dieser Jahre gesehen werden. Die Mitarbeiter im ITAS-Projekt »Elektronisches Buch«, Knud Böhle, Ulrich Riehm und Bernd Wingert, entwickeln auf Basis der Aufzeichnungen des Vortrags den »Flusser-Hypertext Prototyp 2«. Das experimentelle Publikationsprojekt

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umfasst die Audioaufzeichnung, den transkribierten Text, Abbildungen und nach inhaltlicher Ergänzung in Abstimmung mit Flusser, weitere Informationen in einem mit Apple HyperCard erstellten Hypertext. Eine Pilotversion wird im August 1990 entwickelt, überarbeitete Versionen liegen im Mai 1991 und im Frühjahr und Herbst 1992 vor. Am 20. Juni 1991 stellt Wingert Flusser eine Version des Hypertexts vor. Eine weitere späte Bekanntschaft ist Rainer Goetz, der zurzeit, als er Flusser kennenlernt, Dozent für Kunst-Didaktik an der Akademie der bildenden Künste Nürnberg ist. Zwischen 1988 und 1991 lädt er ihn vier Mal zu einem Vortrag ein. Am 23 Juni 1988 im Rahmen einer Vortrags- und Diskussionsreihe zur Standortbestimmung von Kunst und neuen Medien unter dem Titel »Vom Traum zum Trauma?« hält Flusser einen Vortrag zum Thema »Krise der Linearität«. Dies käme ihm sehr gelegen, meint er in einem Brief vom 12. April, hat er doch schon am 20. März desselben Jahres einen Vortrag mit demselben Titel im Kunstmuseum Bern gehalten. Dieser Vortrag wird noch 1988 beim Schweizer Benteli Verlag veröffentlicht und 1992 wiederaufgelegt. Flusser wird von dem als Kurator, Schriftsteller als Kulturphilosophen tätigen, 1943 in Österreich geborenen Gerhard Johann Lischka eingeladen. Lischka, der am Tag vor dem Berner-Vortrag mit Flusser ein Interview führt, das in Zwiegespräche aufgenommen worden ist, wird diesen erneut am 26. Mai 1991 einladen, diesmal in die Neue Galerie Schlössli Götzental in Dierikon in der Nähe von Luzern. Das öffentliche Gespräch wird 1993 von René Stettler als CD unter dem Titel »Intervention« publiziert. Darin geht es vor allem um Flussers Begriff der Einbildungskraft. Am 26. Juni bedankt sich Flusser für die Einladung nach Nürnberg und fordert Goetz und seine Familie, die den Sommer in Uzès, in der Nähe von Avignon verbringen, auf, sie in Robion zu besuchen. Im November lädt Goetz Flusser zu einem weiteren Ateliergespräch mit Kunst- und Kunsterziehungsstudenten ein. Flussers Agenda ist aber schon zum Bersten voll (Brief vom 7. Dezember 1988). Am 21. Februar ist ein Vortrag in Aix-en-Provence eingeplant und vom 23. bis zum 26. Februar 1989 ist er in Köln, wo er zum Thema neue Urbanität spricht (»Die Stadt als Wellental in der Bilderflut«). Dies ist zugleich das Sujet seines Nürnberger Vortrages. Am 3. März wiederum ist er in Karlsruhe. Man einigt sich zuerst auf den 28. Februar, verlegt dann aber die Einladung auf den 20. Februar. In einem Brief vom 8. Februar lädt Flusser Goetz und seine Frau zum Abendessen im Hotel Steichele ein. Zuvor hat er ein Interview mit Katharina Teichgräber vom Bayerischen Rundfunk München vereinbart, das in Zwiegespräche aufgenommen wird. Die dritte Begegnung findet im Zusammenhang mit einer Ausstellung am Guggenheim Museum von New York statt, die von Dietrich Mahlow betreut wird. Die Ausstellung, die unter dem Titel »Image of Thinking« organisiert wird und neben Mahlow und Flusser auch Jacques Derrida einbezieht, soll

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im Sommersemester 1990 oder im Wintersemester 1990/1991 nach Nürnberg kommen. Flusser, der über Denkbilder reden will, ist interessiert. Mahlow (1920-2013), der Philosophie, Kunstgeschichte und Psychologie in Freiburg i.Br. studiert und 1955 mit einem kunstästhetischen Thema promoviert, ist als Kurator und Museumsdirektor tätig und einer der ersten innovativen und interdisziplinären Ausstellungskuratoren seiner Zeit. Er ist auch international tätig und mehrmals Komitee-Mitglied der Biennale von São Paulo. Es ist auffallend, wie bedeutsam sowohl in den 1970er, als auch den 1980er Jahren neben den Bereichen Kommunikation und Neuen Medien – vor allem Video, Fotografie und Computer – das Thema Kunst immer wieder in den Mittelpunkt von Flussers Interesse und Tätigkeit als Autor und Vortragender gerät. Es sind nicht die philosophischen Fakultäten des akademischen Betriebs, die ihn immer wieder und immer häufiger einladen, sondern die deutschen Kunstakademien und Kunsthochschulen. Dies gilt für die Kunsthochschule Köln, die Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, die Hochschule für bildende Künste Hamburg, die Fachhochschule Bielefeld oder die Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig. Es ist kein Zufall, dass das erste öffentliche Flusser-Archiv in Deutschland an der Kunsthochschule für Medien Köln eröffnet wird, und dass das Archiv seit 2007 an der Universität der Künste in Berlin ist. Flusser und Mahlow lernen sich 1987 kennen. In einem ersten Brief vom 3. März 1988 mit der zweisprachigen Anrede »Lieber professeur et artiste«, schickt Dieter Mahlow, wohl in Anlehnung an dessen Vampyroteuthis, die Zeichnung eines weinenden Tintenfisches mit traurigen Augen vom französischen Künstler schweizerischer Herkunft Ben Vautier (1935-), der in den 1960er-Jahren zu den bedeutendsten Vertretern der Fluxus-Bewegung gehörte. Am 29. Mai folgt ein zweiter Brief mit der Anrede »Lieber großer Spieler«. Sie sollen sich Anfang September an einer Tagung in Ulm treffen und könnten dort auch über die Guggenheim-Ausstellung sprechen. Am 4. Juni schreibt Flusser: »Es ist wahr, wir haben dringend miteinander zu sprechen. Besonders, seit ich weiss, dass Sie am Guggenheim Museum eine Ausstellung […] organisieren. Heisst das vor allem Computer synthetized images, oder haben Sie dabei an andere Gedankenbilder gedacht? Ich schreibe eine Column für Art Forum, (mit dem etwas vertrottelten Titel ›Curie’s Children‹), und wuerde sehr gern ueber die Guggenheimsache dort etwas sagen.« Zwischen dem September 1986 und dem November 1991 veröffentlicht Flusser im amerikanischen Kunstmagazin Artforum insgesamt 18 Beiträge. Zwei weitere folgen posthum 1992. Vom 2. bis 4. September 1988 findet der erste Kongress der neu gegründeten IfG Ulm statt, welche die frühere, 1968 geschlossene HfG ersetzt und weiterführt. Der erste Kongress »Gestaltung und neue Wirklichkeit« umfasst sieben Symposien. Flusser nimmt am 6. Symposium (»Freiheit – Verantwortung

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– Gebrauchsgegenstände«) mit dem Vortrag »Gebrauchsgegenstände« teil. Mahlow ist mit von der Partie. Die Moderation hat Florian Rötzer. »Gebrauchsgegenstände« erscheint zuerst in der Basler Zeitung (8. September 1988) und dann erneut 1989 in der neunten Nummer der von Fabian Wurm herausgegebenen Zeitschrift Design Report. Es ist der erste Essay in einer längeren Textreihe zum Thema Design. Flusser wird bei Design Report zwischen 1989 und 1992 insgesamt zehn Beiträge veröffentlichen, einen davon posthum. In einem weiteren Brief (16. Juni 1988) schlägt Flusser Mahlow vor, auch den Vampyroteuthis infernalis in die Ausstellung einzubauen. Er habe schon mit Louis Bec darüber gesprochen. Auch Art Forum sei daran interessiert und bereit, dem Projekt den nötigen Raum zu gewähren. »Sie sehen: Ihr approach zum Problem des Einbildens von Gedanken hat in mir Begeisterung ausgeloest, und ich waere gluecklich, wenn wir, (nicht nur in New York, sondern vielerorts zum Beispiel in S. Paulo), daran zusammenarbeiten koennten.« Am 1. Juli dann schickt er eine zweiseitige Skizze, die Mahlow passend findet. Flusser, der noch nichts davon weiß, freut sich sehr, dass auch Derrida mitmacht (Brief vom 15. Juli). Becs Teilnahme kommt leider zu spät. Zur Vorbereitung der Ausstellung reist Mahlow nach New York, wo er sich mit Thomas Krens, dem neuen Direktor des Museums, und Derrida trifft. Das Resultat ist ernüchternd. Die Ausstellung soll vorerst einmal auf 1992 verschoben werden, da Bauarbeiten am Guggenheim Museum stattfinden sollen. Mahlow wird Derrida erneut im Juli in Paris treffen und möchte Flusser dazu einladen. Kurz darauf aber erkrankt er und muss das Treffen verschieben. Aus Ibiza meldet er dann im November, dass das Projekt definitiv aufgegeben wird. Flusser ist davon begeistert, Jacques Derrida persönlich kennenzulernen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Er findet aber die französischen Philosophen im Allgemeinen uninteressant. So schreibt er Rapsch, der von Derrida schwärmt: »Mir geht es umgekehrt wie Ihnen: seit einigen Jahren gehn mir diese Leute mit ihrer vorgetaeuschten Filigrandenkart auf die Nerven« (Brief vom 13. November 1985). Wie in vielen anderen Freundschaften, welche die Flussers über die Jahre hinweg pflegen, unterzeichnen auch Edith Flusser und Elly-Marie Mahlow die Briefe oder schicken sich von Zeit zu Zeit gegenseitig Grüße. »2 x 2 herzliche Umarmungen an euch beide!! verbunden mit dem Wunsch, daß wir uns wirklich in Ruhe aussprechen können«, schreibt Mahlow aus Ibiza am 10. November 1989. Am Ende signiert Mahlows Frau »herzliche Grüße, besonders an Edith Eure Elly-Marie«. In der Folge fliegt Mahlow nach Brasilia, um ein Projekt des Goethe-Instituts und der Deutschen Botschaft zu betreuen. Es geht darum, Künstler aus der ganzen Welt einzuladen, damit sie den Amazonas erleben können. Die daraus entstandenen Kunstwerke sollen in einer Ausstellung in Rio der Janeiro im Rahmen einer Umweltschutzkonferenz gezeigt werden. Mahlow kündigt das

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neue Projekt in einem besonders spielerischen handgeschriebenen Brief (7. August 1990) an, der viel über Flussers eigene intellektuelle Verspieltheit sagt. »[…] lass mich – nach Rückkehr – fragen, daß wir uns treffen, um darüber zu sprechen, ob wir zusammen arbeiten können: Du als Sprachgenie vielleicht die Hauptrede – in portugues, français or english, oder, oder – PS. Luis Bec sollte ein Umwelttier entwickeln, das sich unaufhaltsam ausbreitet – und DU entwickelst die produktive Antithese.« Die Verlockung ist zu groß. »Falls du mich dazu einladen willst«, antwortet Flusser, »waere ich zu allem bereit, obwohl sich Edith und ich geschworen hatten, nie mehr hinzufahren (schon wegen der Luftverpestung)« (Brief vom 14. September 1990). Da Derrida sich außerstande sieht, sein Konzept in Nürnberg zu präsentieren, beschließt Goetz, Flusser zu einem Doppeltermin an zwei hintereinander liegenden Tagen einzuladen. Am ersten Abend würde Dieter Mahlow ein »anschauliches Konzept bezogen auf ein neues visuelles Denken« (Brief vom 30. März 1990) vorstellen und am darauffolgenden Abend, dem 11. Juni, würde Flusser sein eigenes Konzept präsentieren. Da die Aula der Akademie zu diesem Zeitpunkt wegen Prüfungen belegt ist, soll das kleine Symposium, wie es Goetz nennt, im Laufer Wenzel Schloss, das von Kaiser Karl IV. erbaut worden ist, stattfinden. Edith und Vilém übernachten in einem Hotel im naheliegenden Altdorf. Flusser schlägt den Vortragstitel »Abbild und Vorbild« vor. Die vierte Einladung betrifft ein Symposium in der Lenbach-Galerie in München zum Thema »Zukunfts-Werkstatt/Denk-Werk-Statt/Medien-WerkStatt«, die für den 25.-27. Januar 1991 geplant ist. Flusser sagt zuerst ab. »Die Fahrt in winterlichen Bedingungen ist zu beschwerlich, und auf meinem Tisch häufen sich unerledigte Papiere« (Brief vom 8. Dezember 1990). Um ihm entgegen zu kommen, verlegt man den Termin auf den 8.-10. März und schlägt ihm eine besondere finanzielle Regelung vor. Daraufhin sagt Flusser zu. Er will über die »Zukunftswerkstatt« sprechen. Anfang August 1991 fahren Edith und Vilém für ein paar Tage nach Gießen, wo Vilém sich einer Operation gegen den grauen Star unterzieht. Die Eintragungen im Terminkalender in den folgenden Tagen übernimmt Edith. Am 28. August schreibt Vilém, er habe sich vorgenommen, bis Mai 1992 keine neuen Einladungen mehr anzunehmen. »Meinen Augen geht es toi toi toi etwas besser. Lesen werde ich ein Weile noch nicht koennen und ich bin sehr ungeduldig.«

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»Der wahre Intellektuelle ist wie eine Stechmücke, welche die Gesellschaft nicht schlafen lässt, sondern diese mit ihrem steten Herumschwirren stört, und wenn sie aufhört, darüber in der Luft zu kreisen, stürzt sie hinunter, um sie zu stechen, ihr das Blut aus dem Körper zu saugen und sie mit einer fieberhaften, gefährlichen Krankheit zu infizieren.« Vilém Flusser, Anatol Rosenfeld

Die letzten Jahre von Flussers Leben stehen im Zeichen seines plötzlichen durchschlagenden Erfolges im deutschen Sprachraum. Dieser setzt 1983 mit der Publikation von Für eine Philosophie der Fotografie ein, beschleunigt sich dann aber rapide im Laufe der folgenden Jahre, besonders nach 1988. So publiziert er zwischen 1985 und 1990 über 100 Beiträge in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Dass dieser Erfolg ein bittersüßer ist, wurde schon an verschiedenen Stellen hervorgehoben. Flusser ist geschmeichelt von all der Aufmerksamkeit und fühlt sich zugleich schuldig. Er schätzt die Aufmerksamkeit und die vielen Einladungen, fühlt aber zugleich so etwas wie Verachtung: Ein ungelöster Zwiespalt, den ihm Moles zum Vorwurf macht und als Undankbarkeit deutet. Vielleicht aber ist es eine emotionale Strategie, die es ihm erlaubt, den Widerspruch zu leben. »Ich habe an der Hochschule der bildenden Künste gesprochen, im Fernsehen und im Radio, die Leute waren nett und aufgeschlossen«, schreibt er am 8. Dezember 1985 an Bloch, »aber die Edith sagt, die Bevölkerung sei weniger angenehm und höflich als in Frankreich. Nachher waren wir in Köln, das aber ist eine französisierte, enorm reiche Großstadt […] Damit sind wir aber Deutschland nicht losgeworden: Ende Jänner sind wir in Dortmund, Siegen und Frankfurt eingeladen. (Vorher allerdings Paris, École Nationale Supérieur, und nachher vielleicht Mailand, Rom und Neapel).«

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F ahrender S chol ast Der Rhythmus der Vorträge und Publikationen steigert sich gewaltig. Am 29. September 1988 fasst Flusser, sichtlich erfreut und stolz, für Ingold seine Reisetätigkeit zusammen. »Lieber Freund, von verschiedenen auch thematisch wirren Reisen zurueckgekehrt, (SPaulo-Farbe, Weiler-Sprache, Ulm-Gestaltung, Osnabrueck-Medien, Linz-Elektronik, Bonn-Video), und auf dem Absprung zu weiterem (Luzern-Juden, Frankfurt-Messe, Oldenburg-Wahrnehmung, Bochum-Kulturrevolution) […].« Im September 1988 besucht er das European Media Art Festival in Osnabrück, wo Miklós Peternák ein Interview mit ihm führt, das 2010 auf der DVD »We shall survive in the memory of others« publiziert wird. Auf dem Symposium »The Media Are With Us!«, das am 6. und 7. April 1990 in der Budapester Kunsthalle stattfindet und sich mit der Rolle des Fernsehens in der rumänischen Revolution beschäftigt, hält Flusser den Vortrag »Fernsehbild und politische Sphäre im Lichte der rumänischen Revolution«. Am 14. und 15. Mai nimmt Flusser am Colloquium »CréationDécouverte« am Goethe-Institut in Paris mit einem Vortrag zu Kreativität und Zufall und einem darauf folgenden Podiumsgespräch mit Roland Fischer und Jochen Gerz teil. Am 22. Juli 1990 ist er zu Gast bei Peter Lilienthal und Siegfried Zielinski anlässlich der ersten Europäischen Sommerakademie für Film und Medien an der Akademie der Künste Berlin, wo er mit Bazon Brock, Robert Jungk und Nils Röller öffentlich über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner elektronischen (Re)Produzierbarkeit« diskutiert. Am 9. Oktober hält er am Kunstfestival Steirischer Herbst in Graz den Eröffnungsvortrag »Zelte«. Auf Einladung Peter Weibels an das neu gegründete Institut für neue Medien an der Städelschule Frankfurt nimmt Flusser vom 28. bis zum 30. November an der Konferenz »Strategien des Scheins« mit einem Vortrag zum Thema »Projektion statt Realität« teil. Am 13. März 1991 hält er einen Vortrag über das »Ende der Geschichte« im Rahmen der »Wiener Vorlesungen« und am 12. April den Vortrag »Vom Virtuellen« auf der Konferenz »Im Cyberspace – auf dem Weg zum medialen Gesamtkunstwerk« am Deutschen Museum München. Am 17. Oktober interviewt ihn Miklós Peternák in München. Eine gekürzte Version der Videoaufzeichnung wird 1992 im ungarischen Fernsehen ausgestrahlt und am 2. November eröffnet er die Veranstaltungswoche »Fotografie/ Neue Medien« der Hochschule für Künste in Bremen mit einem Vortrag zum Thema »Inszenierungen«. Siegfried Zielinski, der Flusser in dieser hektischen Zeit näher kennenlernt, erzählt in einem schriftlichen Bericht an die Verfasser von dessen Begegnung mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk im Sommer 1990. »Beide Ehepaare wohnten in Gästeapartments der Akademie am Hanseatenweg. Ihre hoch emotionalisierten Debatten […] begannen schon am frühen Morgen im Frühstücksraum des Gästetrakts der Akademie. Eines Tages mussten wir

Der Durchbruch

einen Krankenwagen holen, weil Vilém sich derart in Rage geredet hatte, dass er sich beim Aufspringen vom Tisch den Kopf an einem Kleiderhaken blutig gestoßen hatte, und wir alle ernsthaften Folgen der Verletzung befürchteten. Sie wurde sorgfältig behandelt und heilte rasch.« Mit Bazon Brock, der am 22. Juli für den kurzerhand ausgefallenen Paul Virilio einspringt, kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung. »Derartig gereizt wie an diesem Abend,« schreibt Zielinski, »habe ich Bazon Brock selten erlebt. Was natürlich auch an Flusser lag, der ihn immer wieder provozierte. Er war in Hochform an diesem Abend. Es war heiß, die große Ausstellungshalle der Akademie war überfüllt. Er fühlte sich sichtlich wohl und begann gleich scharf und pointiert. Die Debatte wurde zu einem Streit zwischen Kritischer Theorie (BB) und Postmoderne (VF). Als nuancierter Technologiekritiker hatte Robert Jungk zwischen den beiden Fundamentalisten kaum eine Chance. Als ich das Gefühl hatte, dass mich die beiden Partnerinnen der älteren Herren, VF und RJ, immer entsetzter anschauten, weil sie befürchteten, ihre Gatten könnten Infarkte erleiden, beendete ich abrupt die Diskussion – gegen das Gejohle des Publikums, das den öffentlichen Schaukampf über alles genossen hatte.« Zielinski hebt neben der gesteigerten intellektuellen Kampf bereitschaft auch Flussers publikumswirksames Auftreten und seine schauspielerischen Fähigkeiten hervor. »Er war bereits ein Star in den Diskursarenen, und wir alle hatten großen Respekt vor ihm. Vor allem, weil er – sobald er ein interessiertes Publikum identifizierte – ungeheuer eindrucksvoll sprechen konnte und einen Raum sofort einnahm. Legendär die Geste, mit der er in der Regel einen öffentlichen Vortrag begann. Er knallte seinen maschinenschriftlich vorbereiteten Vortrag […] auf den Tisch oder das Rednerpult vor sich und begann sofort frei, eindringlich, sehr akzentuiert und laut zu sprechen. Bei der Lektüre seiner Manuskripte im Archiv, konnte ich später sehen, wie eng er sich oft an seine schriftliche Vorlage gehalten hatte, ohne auch nur ein einziges Mal auf das Papier zu schauen. Er packte das Manuskript nicht einmal aus. Es war für die Publikation und zum Aufheben gedacht. Das Niederschreiben mit der mechanischen Maschine sorgte offenbar dafür, dass sich der Text regelrecht in seine Kurzzeiterinnerung eingeschrieben hatte. Gefürchtet war seine energische Diskursbereitschaft schon am frühen Morgen im jeweiligen Hotel, in dem die Redner der Konferenzen, Podien und Seminare untergebracht waren. Man hörte ihn schon von weitem, wenn man den Frühstückssaal betrat. Ich setzte mich in der Regel eher etwas weg von seinem Tisch, weil mir seine ungeheure Dynamik und laute Aufgeregtheit am frühen Morgen zu viel waren … […] Er argumentierte rasch, schlagfertig, zugespitzt, und es gelang ihm immer wieder, auch komplizierte Zusammenhänge in einer klaren Sprache zu umreißen. Zu solch einem erfolgreichen öffentlichen Auftreten gehört Mut. […] Auch eine gewisse Unverschämtheit. Das wirksamste Mittel für eine gelungene Rhetorik, das ich an ihm bewunderte, war jedoch, dass er entschieden hatte, nur über

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das öffentlich zu sprechen, für das er Kompetenz beanspruchen konnte und dass er nur solche Argumente öffentlich vorstellte, von denen er zutiefst überzeugt war.« Eine wichtige Figur, die Vilém Flusser während dieser hektischen, aber äußerst produktiven Phase begleitet und unterstützt, ist Volker Rapsch, zugleich sein letzter Lektor.

V olker R apsch Der 1949 in Bremen geborene Rapsch studiert an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste Berlin und anschließend am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, wo er bei Harry Pross promoviert. Dieser macht ihn auch im Zusammenhang mit dem internationalen Kornhausseminar in Weiler mit Vilém Flusser bekannt. Rapsch, der bei der Organisation der Seminare mithilft, wohnt damals noch bei Harry Pross und hütet das Haus während dessen Abwesenheit. Flusser lernt er im Spätsommer 1984 beim nachmittäglichen Kaffee im Garten des Hauses kennen. Auch Rapsch berichtet davon, wie sich Flusser oft in heftige Auseinandersetzungen verstrickt, so zum Beispiel während einer Fotodiskussion in Berlin, wo er sich mit einem anderen Fotografen anlegt. Er habe gerne in Diskussionen dominiert und dabei andere oft daran gehindert, in aller Ruhe ihre Gedanken auszuformulieren. Die Freundschaft wandelt sich deutlich im Laufe der Jahre. Rapsch, der zu Beginn eine eher zudienende Funktion hat, entwickelt sich in kurzer Zeit zu einem paritätischen Gesprächspartner, der mit seiner Kritik nicht zurückhält und Einfluss nimmt auf Form und Inhalt von Flussers Publikationen. Flusser hat solche antagonistischen Beziehungen geschätzt und den Widerstand im anderen bewusst gesucht, um dadurch seine eigene Kreativität anzuheizen. »Nehmen Sie fuer Ihre laestigen Einwaende meinen herzlichen Dank entgegen«, schreibt ihm Flusser am 12. Juni 1986, und Rapsch antwortet fünf Tage später: »möchte aber dennoch mich gleich dafür bedanken, daß Ihnen meine Einwände lästig genug waren.« In einem Brief, der nach mehreren Jahren der Zusammenarbeit und zwei gemeinsam fertiggestellten Büchern entsteht, fasst Rapsch seinen Umgang mit Flussers Texten zusammen. Aufgrund der »Ehrfurcht«, die er dessen Schreiben entgegenbringe, versuche er, die Texte möglichst unberührt zu lassen und nur dort einzugreifen, wo eine Änderung die Verständlichkeit steigere. Zudem verbessert er Tippfehler und orthographische Ungenauigkeiten (Brief vom 30. April 1988). Rapsch weiß von Flussers impulsiver Arbeitsmethode. So schreibt er ihm am 23. Mai 1987 im Zusammenhang mit der Schlussfassung von Vampyroteuthis infernalis: »Es steht Ihnen die unvermeidliche Arbeit bevor, sehr aufmerksam zu lesen. Bitte

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›überfliegen‹ Sie nicht nur den Text (weil Sie zwischenzeitlich bereits an anderen Dingen arbeiten) […].« Die enge Zusammenarbeit wirft ein interessantes Licht auf Flussers Schreibstrategien. Liebe zum Detail und Genauigkeit sind nicht Flussers Sache. Sein ungestümes, hüpfendes, springendes, galoppierendes, assoziatives Vorgehen sucht stets das Weite, die überraschenden zeit- und raumüberspannenden Zusammenhänge, die umfassende synthetische Sicht. So macht Rapsch ihn bei den Korrekturen zu Angenommen auf verschiedene Fehler aufmerksam. Flusser benutzt, was er gerade zur Hand hat, zum Beispiel Meyers Lexikon in einer Ausgabe von 1924. Das 12-bändige in Leipzig veröffentlichte Nachschlagewerk ist in der Reisebibliothek zu finden. »Seite 4 ›Dotter‹. Ich habe aus Meyer unter ›Ei‹ abgeschrieben, und dabei die Keimscheibe falsch verstanden. Bitte schreiben Sie die Sache aus einer etwas besseren Quelle ab« (Brief vom 6. Mai 1988). Und in Hinblick auf einen weiteren Fehler: »Seite 23. Sie haben recht, flicken Sie die Sache […].« Auch hier zeigt sich, wie schon in der Zusammenarbeit mit Moles zur Essaysammlung La force du quotidien, Flussers Pragmatismus und seine Fähigkeit, Fehler einzugestehen. Die spannungsvolle, aber schöpferische Beziehung zu Rapsch hat wohl auch dazu geführt, dass er beim Übergang von Müller-Pohles European Photography zum neuen Verlag Immatrix Publications und später zum Bollmann Verlag – vor allem, was die allerersten Publikationen angeht – eine Schlüsselrolle einnimmt. Rapsch stellt darüber hinaus vielleicht auch so etwas wie ein Gegengewicht zu Flussers ausuferndem hyperaktivem schwer kontrollierbarem Denken dar. Er ist zwar von Flussers assoziativer vulkanischer Kreativität fasziniert, mahnt in seinen Briefen aber immer wieder zu Genauigkeit und Konsistenz. Flusser muss sich dieser Komplementarität bewusst gewesen sein. Im Gegensatz zu Flussers französischen Freundschaften zu Moles, Forest, Bonnier und Bec, die allesamt zwischen 1920 und 1936 geboren sind, gehört Rapsch zu einer Gruppe jüngerer deutscher Intellektueller, die von Anfang an von Flussers auf brausendem und einnehmendem Charakter angetan sind und in der Folge alles Mögliche unternehmen, um ihm zum Erfolg zu verhelfen. Ohne ihr aktives Zutun hätte Flusser den Durchbruch im deutschen Sprachraum der späten 1980er Jahre wahrscheinlich nicht geschafft. Zu dieser Gruppe gehören neben Rapsch, der zum Zeitpunkt der ersten Begegnung Mitte dreißig ist, die schon erwähnten Müller-Pohle, Ingold, Dimke sowie Florian Rötzer (1953-) und Stefan Bollmann (1958-), auf die wir noch zu sprechen kommen. Der Altersunterschied – Flusser ist zu diesem Zeitpunkt schon über 60 Jahre alt – und dessen charismatische Wirkung haben dabei sicher eine Rolle gespielt. Rapsch möchte sich für Flusser einsetzen. Dieser schickt ihm Texte, damit diese in Zeitungen oder Zeitschriften erscheinen. Rapsch seinerseits schreibt Kritiken für die Presse und den Rundfunk. »Selbstverstaendlich«, schreibt

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ihm Flusser am 6. September 1984, »sind Sie, wenn immer Sie wollen, bei uns mehr als willkommen, sondern geradezu verlangt […]. Und selbstverstaendlich bin ich erfreut und geehrt, dass Sie ueber mich schreiben wollen.« Er sei außerordentlich begierig, Rapschs Text zu lesen, schreibt er kurz darauf. »Ich habe naemlich eine tatsaechliche Kritik meiner Reflexionen, (und nicht die ueblichen Kritiken, die entweder loben oder beschimpfen), sehr noetig, und ich weiss, dass Sie ein unbestechlicher ›Geist‹ sind.« Und in einem weiteren Brief an Harry Pross vom 16. Januar 1985, in dem es um eine Sendung von Rapsch über Flussers Werk geht, die am 28. Dezember 1984 im Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wird, schreibt Flusser. »Es hat also doch einen Sinn zu publizieren. Es gibt also doch ›Dialoge‹. Ich werde, bis ich mich beruhigen werde, an Dr. Rapsch schreiben, um ihm meinen Dank auszudruecken, (falls ›Dank‹ das richtige Wort ist). Jedenfalls danke ich Ihnen, dass Sie mir erlaubt haben, Dr. Rapsch kennenzulernen.« Pross schreibt zurück, auch Rapsch habe sich sehr über Flussers Reaktion gefreut (Brief vom 19. Januar 1985). Am gleichen Tag (16. Januar 1985) schickt Flusser Rapsch ein kurzes begeistertes Telegramm: »Ich umarme Sie für Ihr Sendungsmanuskript.« »Auf eine fuer mich undurchsichtige Weise haben Sie meine Grundgedanken […] erfasst, durchschaut und einer wohlwollenden Kritik unterworfen. Wir sind, lieber Freund, in einen Dialog getreten«, schreibt er zwei Tage später. »Ich habe Ihnen telegrafiert, um Ihnen ›on the spur‹, mein Gefuehl mitzuteilen.« Am 26. Januar 1985 schickt Flusser das zweite Kapitel von Die Schrift. Man erkennt ein gängiges Muster, das schon bei Moles in den 1970er oder MüllerPohle in den 1980er Jahren zum Tragen kommt. Flusser versteht es auch hier, den anderen zu umschmeicheln und zu umgarnen, um ihn in sein Netz zu locken. Bevor sich der Gesprächspartner dessen bewusst ist, hat er sich im Netz verstrickt und Flusser ist es gelungen, ihn erfolgreich für seine Zwecke einzuspannen. Zugleich projiziert Flusser dabei oft ein Bild von sich, das nur teilweise der Realität entspricht. So präsentiert er sich in der folgenden Passage zwar zu Recht als viersprachigen Autor, vereinfacht dabei aber die Situation. Flusser hat seine Texte immer selber übersetzt, aber nur in ganz wenigen Fällen in vier Sprachen übertragen. »Wollen Sie mit mir darueber dialogieren? Es ist nur eine Skizze. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch das erste Kapitel, (›Aufschrift‹), schicken. Uebrigens schreibe ich, wie Sie wissen, alles [sic!] in vier Sprachen, und diskutiere beim Schreiben deutsch mit meinem Verleger, portugiesisch mit Milton Vargas, (Prof. fuer Wissenschaftsphilosophie), und franzoesisch mit Louis Bec, (Bildhauer und Biolog [sic!]). Wollen Sie bitte daran teilnehmen?« Wie Rapsch in einem Brief festhält (12. März 1985), findet der erste Kontakt mit Müller-Pohle per Telefon statt. Beide bedanken sich bei Flusser für die Vermittlung. Flusser besitzt nicht nur die Fähigkeit, Leute um sich zu scharen, sondern hat auch ein ausgeprägtes Flair dafür, Menschen in seinem Namen zusammenzuführen und dadurch ihre Kreativität anzustacheln. Das

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nach seinem Tod ins Leben gerufene Netzwerk der Freunde Vilém Flussers ist ein Beispiel dafür. »Ich lese ›Vorschrift‹«, schreibt Rapsch im selben Brief, »und ich merke, wie sehr ich Ihnen hinterherhinke. Sie sind schon immer da, wo ich vielleicht nie herkommen werde. […] Sie reduzieren sehr stark, grenzen ein, ich mag das, denn Sie betonen implizit, daß das Leben nicht aus zig Möglichkeiten besteht, sondern aus Begrenzungen.« Ende März 1985 besucht Rapsch Flusser in Robion. Im Mai desselben Jahres zieht er von Weiler nach Frankfurt a.M. Flusser zieht sämtliche Register seiner Verführungskünste. So gelangt er an Rapsch mit der »unverschaemten Bitte« (Brief vom 31. Mai 1985), ihm bei der Suche nach weiteren Publikationsmöglichkeiten zu helfen. In solchen Situationen spielt Flusser oft mit Erfolg die Karte des isolierten unverstandenen Autors aus. Beim Schreiben von ganzen Büchern, und dies trifft, wie gesehen, schon auf Das Zwanzigste Jahrhundert zu, entstehen »Aufsaetze als Nebenprodukte«, wie sie Flusser nennt. »Ich moechte diese sehr gern publizieren, habe aber nur zu wenigen deutschen Zeitschriften Zutritt. Zwei bis drei dieser Artikel habe ich an Spuren, Hamburg, geschickt, und damit die Aufnahmefaehigkeit dieser Zeitschrift vielleicht schon ueberlastet. Einen weiteren schickte ich an Marianne Katz, Merkur, aber mit wenig Hoffnung: die Leute sind nicht sehr interessiert an mir, (warum sollten sie auch?). Koennen Sie mir helfen, oder haben Sie selbst in dieser Sache Schwierigkeiten?« In der Folge versucht Rapsch, das »Buchdruck«-Manuskript bei der Süddeutschen Zeitung unterzubringen und schreibt Rezensionen für den Rundfunk. Der WDR in Köln bringt eine Rezension von Rapsch im Sommer 1985 und Radio Bremen strahlt am 11. November desselben Jahres dessen Besprechung von Ins Universum der technischen Bilder aus. Im September 1986 vermittelt er Flusser den Kontakt zu Jürgen Link, Herausgeber der Zeitschrift kultuRRevolution, in der Flusser zwischen 1987 und 1994, insgesamt 15 Beiträge publiziert, davon 13 zu Lebzeiten. Nach einem Gespräch mit Flusser über Moles während des zweiten internationalen Kornhausseminars im August 1985 versucht er, auch für diesen in Sachen Publikation aktiv zu werden. Ende 1985 überlässt Flusser Rapsch, auf den er inzwischen nicht mehr verzichten will, auch das unfertige Manuskript von Vampyroteuthis infernalis, »ein miserables Manuskript […]. Ich weiss nicht einmal, ob es komplett ist.« Flusser, der den Text nicht in Hinblick auf eine Publikation schreibt – dies ist jedenfalls seine Behauptung –, sieht das Manuskript mit Moles durch, der auf eine Veröffentlichung drängt. Flusser spricht von einer beunruhigenden Faszination, die vom Stoff ausgeht, von »einem eigenartigen Taumel«, wohl auch weil er sich mit dem kannibalischen Kopffüßer identifiziert. »Statt aber zu beginnen, meine eigenen Tentakeln [sic!] zu fressen, habe ich mit dem Umtippen begonnen.« Rapsch findet den Text »eine Bombe« (Brief vom 9. Januar 1986) und schickt Flusser einen langen Brief voller Annotationen und Korrek-

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turvorschlägen. Er weist auf Inkonsistenzen hin und hat sachliche Einwände. Der Text muss vollständig überarbeitet werden. Rapsch mutiert langsam vom Lektor zum Mitautor. Flusser schickt eine Übersetzung von Moles’ Einführung mit dem Hinweis, der fiktive Charakter des Tintenfisches müsse so lange wie möglich in der Schwebe gelassen werden. Dies ist umso bedeutsamer, als Moles schon im Titel – »Philosophiefiktion bei Vilém Flusser« – auf die fiktive Natur des Vampyroteuthis hinweist. Rapsch findet Moles’ Text zwar witzig und phantastisch, aber nicht geeignet für das Buch. Er schlägt die Zeitschrift Merkur als alternative Publikationsmöglichkeit vor. Gleichzeitig arbeitet Rapsch an der Schlussfassung von Die Schrift, zu der ihm Flusser im Frühjahr 1986 die fehlenden Teile schickt. Flusser will einige Kapitel völlig umschreiben und dabei Rapschs Einwände berücksichtigen. Am 1. Juni 1986 schickt dieser Flusser einen dichten vierseitigen Brief, mit der ironischen Bemerkung, er habe nicht viel zu bemängeln. In Bezug auf das letzte Kapitel, »Nachschrift« schreibt ihm Flusser, nicht ohne hintergründigen Humor: »Sie haben recht, ich versteh nichts davon. Warum machen Sie die Nachschrift nicht selbst, mit einigen Saetzen aus meinem Vorschlag und unterschreiben Sie nicht selbst die Sache. ›Nachwort des Herausgebers‹.« Rapsch, der den gesamten Text noch einmal durcharbeiten will, möchte sich auch um die PR-Seite kümmern und versuchen, Vorabdrucke zu publizieren. Am 30. Oktober schickt Flusser den Essay »Zahlen«, der zu Beginn als eigenständiges Kapitel vorgesehen war. Rapsch baut den Text als kontrastiven Exkurs in das vierte Kapitel »Buchstaben« ein. »Sie haben die Sache so gerafft und eingebaut, dass damit das ganze Buch um eine Dimension erweitert wurde. Ich gratuliere Ihnen. […] ich habe das Gefuehl, dass wir etwas geleistet haben.« In diesem Sinne steht der Name »Vilém Flusser« tatsächlich nicht für einen einzelnen Autor, sondern für ein Team, zu dem neben Rapsch auch Edith und die anderen Leser und Kritiker seiner Texte gehören. Sind Für eine Philosophie der Fotografie und Ins Universum der technischen Bilder, die bei European Photography erscheinen, noch das Produkt der Kooperation von Flusser und Müller-Pohle, so entstehen die drei folgenden Bücher – Vampyroteuthis infernalis, Die Schrift und Angenommen – aus der Zusammenarbeit von Flusser und Rapsch. Zugleich werden diese neuen Bände im neuen Immatrix Verlag veröffentlicht, den Müller-Pohle und Rapsch gemeinsam gegründet haben. Am 23. Januar 1987 schreibt Rapsch den ersten Brief auf dem Geschäftspapier des neuen Verlages. Eine Lesung aus Die Schrift ist für den frühen Abend des 5. Februars in Frankfurt a.M. vorgesehen. Edith und Vilém übernachten im Hotel Splendid. Die Frankfurter »Karl-Marx-Buchhandlung« wird einen Büchertisch aufstellen und unter anderem auch Die Schrift auf Papier und auf Diskette anbieten. Man will dabei auch die Diskettenversion vorführen und versuchen, diese »dramaturgisch geschickt« in die Lesung einzubetten.

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Noch am selben Tag fahren die Flussers nach Baden-Baden, zusammen mit Wolfgang Preischkat. Am 6. Februar um 8.55 Uhr wird eine Sendung im Studio des Südwestfunks aufgenommen. Im Vorfeld dieser PR-Aktion strahlt der Hessische Rundfunk eine ungefähr zehnminütige Rezension von Preischkat aus. Eine weitere halbstündige Sendung für den WDR in Köln mit dem Titel »Über Schrift, Schreiben und das künftige Nichtmehrbuch«, vorgestellt von Rapsch, folgt am 3. März. Damit dies alles klappt, sollen das Buch und die Diskette für den 30. Januar bereit sein. Anfang Dezember 1986 arbeitet Flusser an einem weiteren Buch und schickt Rapsch den Essay »Besserwisserei«, der Urkeim von Angenommen. Der Arbeitsrhythmus in diesen Jahren nimmt deutlich zu. Flusser hat es nun wegen seines Erfolges und fortgeschrittenen Alters doppelt eilig und drängt. Am 30. Dezember schickt er den ersten Abschnitt und bittet Rapsch, umgehend seine Meinung dazu mitzuteilen und eine Kopie davon auch an Müller-Pohle zu senden. »Ich schreibe wie besessen weiter.« Im Herbst 1987 schreibt er alles völlig um und schickt eine Kopie an Müller-Pohle, Ingold und Rapsch. In einem Brief vom 31. Oktober an diesen zitiert er Ingolds kritische Reaktion und seine Antwort darauf. Ingold bemängelt die Tatsache, dass die Erzähler alle gleich reden und man den Eindruck eines allwissenden Erzählers habe, zudem könne er sich kaum vorstellen, dass man die Texte am Fernsehen visualisieren könne. Flusser, der dabei aus seinem Brief an Ingold zitiert, weist darauf hin, dass es zwar immer derselbe Erzähler ist und sich die einzelnen Teile nicht widersprechen, dass diese aber aneinander vorbei reden, »um die Komik eines gebrochenen didaktischen Bewusstseins vor Augen zu fuehren. Ich stelle mir nicht Bilder vor, die Szenen, sondern die Begriffe ins Bild setzen, siehe meine Hypothese einer neuen Einbildungskraft. Ich schlage jetzt vor: die Sache sehr schnell als Computertext zu drucken, (vielleicht mit einem von Bec illustrierten Deckel), und gross zu vermerken, dass dafuer ein TV-Bildermacher gesucht wird.« Im April 1988 beginnt Rapsch mit dem Lektorieren und Redigieren des Textes. In den Briefen spricht er von einer »harten Nuß« (Brief vom 26. April 1988) und davon, dass Flusser dem Verlag »ein schönes Ei ins Nest gelegt« hat (Brief vom 30. April 1988). »Wie immer«, antwortet Flusser, »ueberlasse ich die Endfassung Ihnen« (Brief vom 29. April 1988). Er freut sich, dass auch dieser Text gründlich und kritisch bearbeitet wird. Am 1. Mai schickt Rapsch die Fahne für den ersten Korrekturlauf. »Beim Durchlesen«, schreibt Flusser eine Woche später, »konnte ich nicht umhin, Ihre Einfuehlungsgabe und Ihre Offenheit zu bewundern. Die Sache liest sich jetzt geradezu wie eine Zusammenfassung meiner Weltanschauung, und die zahlreichen Widersprueche darin geben meine Zerrissenheit wieder. Selbstredend: die 21 Szenarii umfassen nicht die Gesamtheit meiner Weltsicht, aber da sie alle ironisch-zynisch sind, kann ein sich darin verlierender Leser meinen eigenen Irrweg nachvollziehen.

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[…] Aber: das Ganze soll […] schwer entzifferbar sein, und vom Leser Anstrengungen verlangen (Dialog).« Im September ist die zweite Korrektur bereit. Im Oktober schickt Rapsch Flusser die Korrekturfahne zu. Flusser ist begeistert. Das Buch soll im Frühjahr 1989 erscheinen. Flusser will seine Publikationen vermehren und breiter streuen, wenn möglich auch über die Sprachgrenzen hinweg. Es kann ihm nicht schnell genug gehen. Vilém sei zuweilen nicht zu bremsen gewesen, bemerkt dazu Rapsch in einem Schreiben an die Verfasser. So schickt er im April 1988 das Typoskript von Angenommen auch an Florian Rötzer, was zu Spannungen führt. MüllerPohle reagiert prompt und teilt Rötzer mit, dass ohne Absprache mit ihm und Rapsch nichts läuft. Flusser versucht darüber hinaus, das Buch beim Merve Verlag unterzubringen. Peter Gente aber, der in der Zwischenzeit einen Brief von Müller-Pohle und Rapsch erhalten hat, lehnt ab. »So abenteuerlustig wir auch sind, so wenig Lust haben wir auf einen Rechtsstreit« (Brief vom 5. April 1988). Dieses Ausscheren Flussers, das Ausdruck seiner wachsenden Ungeduld ist, wird nicht das letzte sein. So kontaktiert er 1991 auch Verlage, die seine Bücher in früheren Jahren abgewiesen haben, zum Beispiel Kiepenheuer & Witsch. Zu dieser Zeit arbeitet er an seinem letzten Buch, »Menschwerdung«, auf das wir noch näher eingehen werden. Am 7. Juli schreibt er euphorisch an Rapsch. »Ich habe in Düsseldorf Helge Malchow von Kiepenheuer & Witsch kennengelernt, der, ich zitiere, ›alles ungesehen von mir veroeffentlichen will‹. Was meinen Sie und soll ich ihm etwas schicken?« Flusser faxt Malchow am Tag danach aus Robion eine Textprobe. Das neue Faxgerät ist kurz zuvor in seinem Büro installiert worden. Malchow aber reagiert eher reserviert und hängt eine Liste von Korrekturvorschlägen an. Flusser lässt sich nicht abschrecken und kontert mit einem ausführlichen Brief, in dem er das Projekt vorstellt (Brief vom 14. Juli 1988): »Lieber Freund (darf ich Sie so nennen?).« Malchow schlägt vor, dass man sich nach dem 2. Dezember 1991 trifft. Flusser versucht, Rapsch und seine Lebensgefährtin Jutta zu überzeugen, in seine Nähe zu ziehen. »Edith meint, ein Haus fuer Sie gefunden zu haben«, schreibt er ihm am 31. Oktober 1987. Und am 13. Mai 1988: »Zuletzt: […] ins Konkrete, (Robion) auswandern ist noch nicht tot sein. Kommen Sie beide, um sich davon zu ueberzeugen, das heisst, bevor wir noch jeder schnell ein Ei legen, (Max und Moritz).« Im Sommer 1988 sind Volker und Jutta Rapsch daraufhin in Bouyon, das sich nördlich von Nizza im Département Alpes-Maritimes der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur befindet, und suchen ein Haus. Die Flussers sind in São Paulo. Rapsch möchte wissen, ob die kauf bare Immobilie, von der Flusser gesprochen hat, noch zu haben ist. Im Dezember desselben Jahres sitzt Flusser erneut an einem Buchprojekt, das den Titel Vom Subjekt zum Projekt trägt, voraussichtlich 25 Kapitel haben und Ende 1989 abgeschlossen sein soll (Brief vom 7. Dezember 1988). Es ist das vorletzte. Flusser beginnt, Rapsch die verschiedenen Kapitel in kür-

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zester Reihenfolge zuzusenden. »Ich kann Ihre Kommentare nicht erwarten. Ich schreibe ›fuer Sie‹.« Gleichzeitig arbeitet er in Aix-en-Provence an einem Clip zum Kapitel »Wirtschaftswunder« aus Angenommen. »Hoffentlich wird es klippklappen.« Rapsch, der sich zu Recht unter Druck gesetzt fühlt, ist zwar außerordentlich glücklich darüber, spricht in einem Brief vom 10. Januar 1989 aber auch von der »Furcht vor der großen Verantwortung, auch vor dem Anspruch, den Sie hegen.« Dass »Sie ›für mich‹ schreiben […], ist keine geringe Last, die ich zu tragen habe. […] Gleichwohl hoffe ich (und im Grunde bin ich davon überzeugt), daß wir einmal mehr gleichsam fruchtbar zusammen arbeiten bzw. zusammenarbeiten können. Ich bin, wie Sie sehr wohl wissen, außerordentlich glücklich über unsere Verbindung.« Ein Zeichen für die mittlerweile entstandene emotionale und intellektuelle Nähe ist das typisch Flusser’sche Wort ›beigeschlossen‹ für die geläufigeren ›beiliegend‹ oder ›beigefügt‹, dass Rapsch, der es sonst nie gebraucht, zum ersten Mal in seiner Antwort verwendet. Rapsch findet Vom Subjekt zum Projekt einen großartigen Text, schlägt aber Änderungen vor: Da beim Lesen der Eindruck entsteht, dass der rote Faden verloren geht, muss die Struktur verbessert werden. Sie planen, sich im März des kommenden Jahres in Köln zu treffen. Flusser antwortet postwendend. Ein Feuerwerk ironischer Wortspiele, das die aktive Rolle Rapschs deutlich in den Vordergrund rückt. Man kann sich fragen, ob Flusser in der Zusammenarbeit mit Rapsch nicht auch gezielt den Versuch unternimmt, aus seiner Rolle als isolierter Autor auszubrechen, um eine Art kollektiver vierhändiger Autorschaft zu konstituieren. Dieser Versuch ist mit der Suche nach neuen elektronischen und bildhaften Formen des Publizierens verbunden, auf die Flusser in der Folge hinweist. »Subjekt/Projekt: oder Unter/Entwurf: Das Abenteuer zu dem ich sie einlade ist doch gerade dass die Manuskripte die ich Ihnen sende (inzwischen auch Kapitel 6 Sex und 7 Kinder) gar nicht ans Drucken denken, sondern unterwuerfige Entwuerfe sein wollen die wir gemeinsam (und vielleicht auch unter Zunahme von einbildenden Leuten) erst geformt werden wollen. Darum die vielen Anspielungen an Ihre Phantasie (zum Beispiel 6=Sex).« Der Satz ist weitgehend ohne Interpunktion und funktioniert an einer Stelle grammatikalisch nicht mehr so richtig. Ein Zeichen dafür, dass der Gedanke in der Hitze der Begeisterung niedergeschrieben wird. Es folgt ein Bild aus der Welt der Alchemie. »Ihr Phlegma (Flamme) ist ja der Bunsenbrenner, auf dem die Retorte zur Praezipitation des Steins der Weisen zu braten haette« (Brief vom 14. Januar 1989). Dies alles ist von wachsenden Problemen mit dem Verlag Immatrix Publications überschattet, die im September dann zu einer ersten Ruptur führen. Vorher aber erscheint noch eine zweite Auflage von Die Schrift und Flusser beteuert sein Vertrauen in Rapsch. Dieser legt eine taz-Rezension vom 13. Mai 1989 zum Sammelband Philosophien der neuen Technologie unter dem Titel »Von Robotniks und Gerhirnmenschen« bei. Das beim Merve Verlag publi-

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zierte Bändchen geht auf das am 14. September 1988 im Rahmen der Ars Electronica in Linz gehaltene Symposium zurück, an dem neben Flusser auch Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Heinz von Foerster, Friedrich Kittler und Peter Weibel teilnehmen. Flusser ist mit dem Text »Gedächtnisse« vertreten. Der Rezensent Ulrich Ebermann spricht im Zusammenhang mit Flussers Beitrag treffend von Flussers relationeller Feldsicht und von intersubjektiven Strukturen von Fiktionen. Flussers Unzufriedenheit hat unter anderem damit zu tun, dass er aufgrund des verlegerischen Erfolgs seiner bei European Photography und Immatrix Publications erschienenen Bücher, nun auch seine anderen immer noch nicht publizierten Texte einem breiteren Lesepublikum zugänglich machen will. Rapsch liest das Typoskript von Nachgeschichte und ist bereit, sich auch Flussers erstes immer noch unveröffentlichtes Buch Das Zwanzigste Jahrhundert anzuschauen. Mitte September kommt es zu einer Krise. Flusser fühlt sich nicht mehr richtig betreut. »Ihr Anruf dieser Tage«, schreibt Rapsch, »hat mich ein wenig, besser: gehörig erschüttert. Wenn Sie inzwischen davon ausgehen, bei bzw. von Immatrix nicht mehr richtig betreut zu werden, dann muss ich diesen Ihren Eindruck korrigieren« (Brief vom 16. September 1989). Müller-Pohle habe zwar sein Engagement zurückgeschraubt, das könne man von ihm aber nicht behaupten. Er habe Zeit und Kosten in die Verlagsarbeit investiert, es vergehe aber auch ihm langsam die Lust. Damit meint er vor allem seine eigene Zusammenarbeit mit Müller-Pohle und die neuen Verlagsprojekte, die nicht ganz in seinem Sinne seien. Flusser reagiert mit einem detaillierten zweiseitigen Brief (24. September 1989). Wie schon in ähnlichen früheren Situation, auf die wir zu sprechen gekommen sind, zeigt sich, wie hoch Flussers Ansprüche an Freundschaften eigentlich sind und wie tief er sich darin emotional verstrickt. Der Brief schildert aus Flussers Sicht eine verworrene intellektuelle und emotionale Beziehung – ein »Wespennest« wie es Flusser im Brief nennt. Er wolle zwar sachlich und unsentimental argumentieren, schreibt er zu Beginn, das gehe aber nicht, weil er sowohl mit ihm als auch mit Müller-Pohle enge freundschaftliche Bindungen habe. »Seit ich mit Andreas die Verbindung aufnahm, hat sich in vieler Hinsicht mein Denken veraendert. Er hat meine Texte kritisch begleitet, hat mich moralisch gestuetzt, hat intellektuell und aesthetisch wertvolle Buecher daraus gemacht, und hat das Schicksal der Texte begleitet, als ob es seine eigenen waeren.« Die Beeinflussung war gegenseitig. So glaubt Flusser, in Müller-Pohles fotografischer und theoretischer Arbeit auch seinen eigenen Einfluss erkennen zu können. »Was mir vorschwebte, war ein Dialog zu dritt […]. Wie dies im Einzelnen ausfallen koennte, konnte ich mir nicht vorstellen, hatte aber Vertrauen zu Ihnen beiden, und zu Ihrer kreativen Jugend. […] es ist leider anders gekommen. […] ich habe meine Texte nur Ihnen und nicht mehr Andreas geschickt, in der Meinung, dass Sie beide sie

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unter einander besprechen wuerden. Ihre Reaktionen darauf waren mir sehr wertvoll, weil Sie mir kritischer gegenueberstehen als Andreas. Nichtsdestoweniger fehlte mir die Stellungnahme Andreas’ aufs Peinlichste. Es sind drei Buecher entstanden, und sie gehoeren zu dem fuer mich Wichtigsten, das ich geschrieben habe. Trotzdem hatte ich dabei nicht mehr das Gefuehl des vollen Engagements von allen drei Seiten.« Rapsch hat in den letzten Jahren tatsächlich Müller-Pohle in seiner Funktion als Lektor und Herausgeber abgelöst, was Flussers eigene Praxis, seine Texte nur noch an Rapsch zu senden, wesentlich mit verursacht hat. Flusser beharrt jedoch auf einer dreiseitigen Beziehung, und weist Rapschs Feststellung, Müller-Pohle habe sich zurückgezogen, zurück. Er findet, dass sich nun beide »dégagieren« und dass seine Texte deshalb »zwischen zwei auseinanderrueckende Stuehle fallen.« Rapsch betont in seiner Antwort vom 2. Oktober sein ungebrochenes Engagement und beteuert, sich stets über das übliche Maß eines Lektors hinaus eingesetzt zu haben. Man plant in Karlsruhe am 11. Oktober im Hotel Ramada zusammenzukommen, um die Zusammenarbeit neu auszuhandeln. Interessanterweise findet man im Briefaustausch zwischen Flusser und Müller-Pohle keinen einzigen Hinweis auf diesen Konflikt. In einem Brief vom 3. November berichtet Rapsch von einem Gespräch mit Müller-Pohle über die Zukunft von Flussers weiteren Büchern. Sie wünschen sich beide, dass Immatrix Publications weiterhin seine erste Wahl bleibt. Geplant ist eine »Edition Immatrix – Experimentale Kritik/Philosophie/Ästhetik« im Verlag European Photography, die von Rapsch herausgegeben werden soll sowie eine zügige Professionalisierung und verbesserte Vermarktung. Rapsch erinnert Flusser daran, dass sie abgemacht haben, alle weiteren Bücher zusammen zu realisieren. Er wolle diese Arbeit jedoch nur dann übernehmen, wenn Flusser seinerseits nicht bei anderen Leuten aktiv werde. Es gehe nicht darum die Exklusivrechte zu haben, sondern eine ernsthafte sorgfältig vorbereitete und ausgeführte Edition seiner Texte zu verwirklichen. Rapsch verlangt eine explizite Autorisierung von Flussers Seiten. Demselben Brief ist eine Liste mit zwanzig Titeln von Essays und Büchern beigegeben, die Flusser Rapsch in den letzten Jahren zugesandt hat. Zwischen diesen und den nun folgenden Ereignissen liegt eine schwere Asthmaattacke Ende November 1989, auf die wir in einem der folgenden Abschnitte noch zu sprechen kommen. Dieser einschneidende existentielle Moment hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass Flussers Ungeduld und Publikationswut noch weiter zunehmen. Bei der definitiven Ablösung von Müller-Pohles und Rapschs Immatrix Publications und Flussers Hinwendung zu einem völlig neuen Verlag spielt Rapsch jedoch immer noch eine wichtige Vermittlerrolle.

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D er B ollmann V erl ag In einem kurzen undatierten, aber wahrscheinlich Anfang Dezember 1989 geschriebenen Brief wünscht Rapsch Edith und Vilém eine gute Reise nach Davos, wohin Flusser zur Rekonvaleszenz reist. Am 28. Januar 1990, nur eine Woche nach seiner Rückkehr nach Robion, schreibt er Rapsch einen Brief mit dem Vorschlag zu einem neuen Publikationsprojekt. Es handelt sich dabei um den Sammelband Gesten. Flussers Liste enthält französische, englische und deutsche Essays. Die Manuskripte entsprechen nicht der Reihenfolge der Vorträge, die Flusser in Aix-en-Provence gehalten hat, zudem fehlen einige Essays. Im Brief erwähnt Flusser auch Stefan Bollmann, den er durch die Vermittlung von Rapsch kennenlernt. Der 1958 in Düsseldorf geborene Bollmann studiert Germanistik, Theaterwissenschaften, Geschichte und Philosophie und promoviert mit einer Arbeit über Thomas Mann, einer der Lieblingsautoren Flussers. In einem Brief vom 5. Juni 1989 bietet er Flusser die Möglichkeit an, regelmäßig in dem von ihm neu gegründeten Journal für Ästhetik Zeitmitschrift zu publizieren. Aus dieser Zeitschrift geht später der Bollmann Verlag hervor, der bis 1998 tätig ist, zuerst noch in Düsseldorf, dann ab dem 1. Juli 1991 in Mannheim. Wie Immatrix Publications wird auch der Bollmann Verlag aus Begeisterung für Vilém Flussers Werk gegründet. Bald wird daraus eine enge Zusammenarbeit und Freundschaft. Am 25. November 1990 schreibt ihm Flusser. »Sie sind, mein lieber Stefan, von der gleichen Muecke gestochen, die mich plagt, seit ich denke.« Flusser reagiert begeistert auf Bollmanns Publikationsangebot. Er habe etwas Ähnliches bei der Zeitschrift Merkur und der FAZ angestrebt, schreibt er am 12. Juni, aber ohne wirklichen Erfolg. Flusser möchte auch »Abfaelle« von seinem momentanen Schreibprojekt Vom Subjekt zum Projekt bei Bollmann unterbringen. Am 3. September schickt er »Vom Werfen und Entwerfen«. Später sind es Texte aus dem letzten Projekt Menschwerdung. Man plant ein Treffen in München für Anfang November. Am 29. Dezember 1989, kaum hat sich Flusser einigermaßen von seiner Asthma-Attacke erholt, schickt er ihm einen weiteren Text, mit einem äußerst passenden Titel: »Von der Ungeduld«. Bollmann besucht Flusser während seiner Rekonvaleszenz in Davos. Sie treffen sich am 13. Januar 1990. Bollmann ist nach Davos gereist, um Flusser einen Veröffentlichungsvorschlag zu unterbreiten. In einem Brief, der in über flusser aufgenommen wird, schildert Bollmann, der damals gerade 31 Jahre alt ist, seine erste Begegnung mit Flusser. »Warum sind Sie Verleger?«, fragt ihn dieser, nicht ohne einen ironischen Unterton, als erstes. Bollmann erwähnt seine Doktorarbeit zu Thomas Manns Zauberberg und deutet äußerst treffend Flussers höchst ambivalente Person vor diesem Hintergrund. »Und da spazierte ich in einer im Licht der Sonne funkelnden Schnee- und Eislandschaft Seite an Seite mit einem, der bohrende Fragen auf-

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gab und unvermutete Fragen hinzufügte und mir mal mehr Settembrini, mal mehr Naphta zu sein schien, während ich mir selber immer mehr wie Hans Castorp […] vorkam, der gleich mir aus dem Flachland in solche hermetischen Höhen hinaufgeraten war.« Settembrini, der intellektuelle Aufgeklärtheit vertritt, könnte für Flussers rationalistische Seite einstehen. Naphta, hingegen, der mit Settembrini um die Gunst des wissbegierigen Schülers Hans Castorp buhlt und viel mit dem nihilistischen Alex Bloch gemeinsam hat, könnte Flussers verführerischen, mephistophelischen Teil, seinen Hang zum Extremen repräsentieren. Naphta bedeutet eigentlich Rohbenzin, ein davon abgeleitetes Wort ist Napalm. Dass Flussers Ideen entzünden können und auch sollen, steht außer Frage. Er will seine Zuhörer in seinen Bann schlagen, sein Publikum unterwerfen. Das Dialogische ist zwar ein absolut zentrales Moment von Flussers Kommunikationsphilosophie, nimmt aber in seinem alltäglichen Verhalten, wie im Laufe dieser Biographie mehrfach deutlich geworden ist, nicht immer dieselbe auf paritätischen Austausch abzielende Rolle ein wie in seinem Denken. Im Zusammenhang von Bollmanns Naphta-Vergleich muss noch eine symbolträchtige, von Ingold überlieferte Anekdote erwähnt werden. Flusser besucht Ingold in seinem Haus in Venasque. Als er Monate später wieder dort ist, trifft er eine teilweise ausgebrannte Küche vor. Flusser war mit brennender Pfeife redend im Haus hin und her gegangen, und hatte überall glühende Asche verstreut. Die Glutpartikel hatten sich durch ein Sitzkissen gefressen und den Stuhl und anderes langsam zerstört. Zersetzung durch das Wort. Die Begegnung mit Bollmann ist folgenreich, löst er doch definitiv MüllerPohle und Rapsch als Verleger ab. 1990 erscheint, zwar noch herausgegeben von Rapsch, aber schon bei Bollmann, der Sammelband Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen, der neben einer leicht gekürzten Fassung von Nachgeschichte eine Reihe weiterer Essays enthält. 1991 erscheint zudem noch Gesten, eine Sammlung von Vorträgen und Kursen aus den 1970er Jahren. Ohne Rapschs Erwähnung. Auf den auf 14 Bände angelegten Editionsplan von Vilém Flussers Schriften und die anderen posthumen Publikationen kommen wir im nächsten Teil zurück. Rapsch schickt Flusser am 24. Januar 1990 eine Liste der Beiträge für die geplante Festschrift zu Flussers 70. Geburtstag. Darin kommt er noch einmal auf die schon im Brief vom 3. November 1989 erwähnte Abmachung zurück. Rapsch möchte festhalten, was sie gemeinsam in Davos besprochen haben. Die Festschrift möchte er noch im Immatrix Verlag herausgeben. Er hat zudem mit dem Fischer Verlag Kontakt aufgenommen. »Auch der Verlag Stefan Bollmann kommt für Künftiges vielleicht in Betracht. Aber bitte greifen Sie mit Verabredungen mit Dritten nicht vor, Sie wollten die Redaktion und die Verlagsfrage Ihrer Buchpublikationen mir überlassen.« Rapsch bleibt weiterhin aktiv, auch als sich Bollmann als Verlag gegenüber Immatrix Publications

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durchsetzt. In einem Brief an Flusser vom 14. Februar 1990 freut er sich über die fruchtbare Zusammenarbeit mit Bollmann, mit dem er an der Herausgabe des Bandes Nachgeschichten arbeitet. Er findet die einzelnen vorgesehenen Beiträge zu unterschiedlich, was Länge und Qualität angeht, und möchte noch weitere Essays integrieren. Zudem möchte er sich auch noch um Gesten kümmern. Rapsch besucht Flusser in Robion im Sommer 1990. Die Schrift soll dank seiner Vermittlung im Herbst 1991 im Fischer Verlag erscheinen, »sofern Andreas mitspielt« (Brief vom 13. September 1990). In seiner Antwort (Brief vom 18. September 1990) schreibt Flusser dazu: »Ich wage nicht, nach Andreas’ Reaktion zu fragen«. Dasselbe ist für Gesten vorgesehen. Für diesen Band möchte Rapsch gerne die Lektoratsarbeit übernehmen. Flusser ist einverstanden: »Selbstverstaendlich will ich Sie dazu (wie zu allem) als Lektor. Setzen Sie sich bitte mit der Edith zwecks Manuskript zusammen« (Brief vom 18. September 1990). An der Frankfurter Buchmesse soll Nachgeschichten präsentiert werden. Rapsch ist sehr froh, dass die Festschrift letztlich doch beim Bollmann Verlag erscheint. Obwohl die Texte nunmehr in einem anderen Verlag herauskommen, bleibt Rapsch Flusser – bis zu dessen Tod wenigstens – treu. Im Februar 1991 kommt es zu einer weiteren Auseinandersetzung, die auch diesmal von Flusser ausgeht. Rapsch verspricht, sich für dessen Teilnahme an einer Radiosendung einzusetzen, vergisst dann aber, diesen rechtzeitig zu benachrichtigen. Es folgt ein heftiges Telefonat. Rapsch entschuldigt sich für seine Vergesslichkeit: »Wenn Sie nun, vermutlich aus demselben Grund, der Sie veranlaßt hat, von Busch/Fischer die ›Gesten‹ zurückzuwünschen, von mir die ›Menschwerdung‹ anfordern, eben weil sie ›Unanständigkeit‹ unterstellen, dann hoffe ich nur, daß dieser Eindruck nicht von Dauer ist […]. Auch ich bin sentimental. Sie erhalten die ›Menschwerdung‹ mit separater Post« (Brief vom 17. Februar 1991). Auf das schon erwähnte Menschwerdung-Projekt, Flussers letztes unabgeschlossenes Buch, kommen wir in einem späteren Abschnitt zu sprechen. Flussers versöhnliche fast entschuldigende Antwort folgt am 22. Februar: »Je aelter ich werde, desto besser lerne ich, dass konkrete Dinge wie Freundschaft schwerer wiegen als Abstraktionen. Ich weiss, dass zwischenmenschliche Beziehungen immer in der Schwebe sind (das meint ja ›zwischen‹), und dass sie sich mit der Zeit verschieben. Und dennoch bin ich unbelehrbar: als Sie mir vor einiger Zeit sagten, wir wuerden gemeinsam die Welt aus den Fugen heben, habe ich das Gefuehl gehabt, auf unsere Freundschaft bauen zu koennen. […] Ich habe keine Ahnung, warum ich diesen Brief schreibe. Die Edith sagt, ich tue es, um mir die Sache vom Herzen zu schaffen. Vielleicht haben Sie eine bessere Erklaerung?« Wir möchten nun noch eine weitere wichtige Vermittlerfigur der letzten Jahre einführen, den deutschen Journalisten Florian Rötzer.

Der Durchbruch

F lorian R öt zer Vilém Flusser lernt Rötzer (1953-) Ende der 1980er Jahre kennen. Dieser macht im März 1988 am Rande des Kolloquiums »Die Künste im Auf bruch« im Badischen Kunstverein Karlsruhe ein Interview, das in der November/Dezember Nummer der Zeitschrift Kunstforum International publiziert wird und in Zwiegespräche nachzulesen ist. Darin sprechen sie über den ein Jahr zuvor veröffentlichten Vampyroteuthis infernalis, über Theorie-Fiktion und Phantasie, alternative Wahrheitsbegriffe und die zunehmende Bedeutung der Zahlen. Dank Rötzers Vermittlung publiziert Flusser vom Herbst 1988 bis zum Sommer 1991 insgesamt vier Beiträge bei Kunstforum International. Ab dem September 1991 wird ihm auch eine Kolumne eingerichtet, in der bis zu Flussers Tod drei Beiträge erscheinen, zwei davon posthum. Am 15. April 1988 lobt Flusser Rötzers »ausserordentlich freundschaftliche Bereitschaft, [ihm] bei [s]einen publizistischen Bemuehungen in Deutschland zu helfen.« Flusser schickt ihm drei Auszüge aus dem neuen Buch Angenommen mit der Bitte, diese in der Presse unterzubringen mit der Anmerkung »Es werden Einbildner gesucht, welche diesen Text in ein Bild (zum Beispiel einen Clip) uebertragen koenne[n].« Das zweite Szenario »Großmutter« erscheint in Band 97 von Kunstforum International. Rötzer gibt 1991 den Sammelband Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien bei Suhrkamp heraus. Der Titel des Buches stammt von Flussers Beitrag. Im Mai 1989 schickt er Flusser die erste Abschrift mit einer Reihe von Korrekturvorschlägen. Am 29. Mai schreibt ihm Flusser schmeichelnd: »Sie haben eine geradezu unheimliche Faehigkeit, sich in Gedanken anderer einzuleben, und es ist eine Lust, Ihre Fassung meines Manuskripts zu lesen. Ich lege ein Blatt bei, worin ich Korrekturen anmelde, und versuche, auf Ihre Einwaende einzugehen. Wenn Sie daran etwas auszusetzen haben, tun Sie das bitte.« Es ist die verlockende Stimme des Grafen Psanek, die Spinne, die an ihren Fäden spinnt. In einem weiteren Brief vom 25. Mai 1990 kommt Flusser auf Rötzers Methode des kritischen Lesens zurück. »Sie haben einiges ausgedrueckt, das ich unausgesprochen lassen wollte, und anderes haben Sie aufgedeckt, dessen ich mir nicht voellig bewusst war. Das ist ja, was mit ›Kritik‹ gemeint ist: einen Text in die Krise treiben. […] es ist nicht am Platz, fuer Ihre Kritik ›Danke‹ zu sagen, weil solche Dinge weit ueber solchen Floskeln stehen. Also besser, darueber den Mund zu halten. Seien Sie umarmt, lieber Freund […].« In Briefen vom 20. und 25. Mai 1990 lädt Rötzer Flusser zu einer Podiumsdiskussion und einem Symposium in der Frankfurter Städelschule ein. Unter den geladenen Referenten sind Niklas Luhmann, Wolfgang Kemp, Dietmar Kamper, Friedrich Kittler, Peter Weibel, Ernst von Glasersfeld, Siegfried Zielinski, H.-P. Jeudy und Jean Baudrillard. Thema ist der Status von Begriffen

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wie Fiktion, Virtualität, Illusion, Schein und Simulation. Das Treffen trägt den Titel »Strategien des Scheins« und findet vom 28. bis zum 30. November 1990 statt. Flusser nimmt mit dem Vortrag »Projektion statt Realität« teil. Die Tagungsakten erscheinen 1991 beim Boer Verlag in München. Am 5. Januar 1991 schreibt Flusser zur Frankfurter Veranstaltung. »Es war eine der gelungensten der letzten Zeit und wir beide danken Ihnen dafuer.« Es »faellt mir auf, wie sehr Sie an meinen Versuchen engagiert sind.« Der anwesende Dietmar Kamper wird am 15. Juni 1999 unter dem Titel »Das anthropologische Viereck von Raum, Fläche, Linie und Punkt« die erste einer langen Reihe von International Flusser Lectures halten, die damals noch von Silvia Wagnermaier zusammen mit Siegfried Zielinski herausgegeben wird. Inzwischen liegen fast dreißig Bände vor. Im Oktober 1991 findet in München ein weiteres Gespräch zwischen Flusser und Rötzer statt, das ebenfalls in Zwiegespräche aufgenommen worden ist. Erneut ist die Rede von Vampyroteuthis infernalis. Man muss »exakt sein […], wenn man phantasiert. Wenn man nicht phantasiert, kann man sich Freiheiten erlauben. Das ist das Tödliche am akademischen Denken, weil es immer geschützt denkt und daher in den Staub fällt. Wenn man phantasiert, dann kann man sich das nicht erlauben. Ich habe den Begriff phantasia essata, der, so glaube ich, von Leonardo kommt, intus. Ich habe dieses Vieh nicht erfunden, sondern entdeckt. […] Ich habe mir überlegt, wie die Welt aussehen müßte, wenn man sie aus der Tiefsee ansieht. […] Das ist eine Art Philosophie. […] man geht von der Seite aus. Es ist ein Seitensprung des Philosophierens.« An der Frankfurter Buchmesse 1991 erscheint beim Bollmann Verlag Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Rötzer schreibt dazu eine Rezension. Im letzten Brief an diesen (31. Oktober 1991) bedankt sich Flusser überschwänglich: »Sie haben mir mit Ihrer Gestenrezension und ebenso mit der Abschrift unseres Gespraechs das Herz erwaermt. Ich bin froh, dass Sie auf der Welt sind.«

P rofessor in B ochum In einem Brief vom 25. November 1990 an David Flusser und dessen Frau Hannah erwähnt Flusser eine Gastprofessur an der Ruhr-Universität in Bochum. Darin kommt einmal mehr seine schon an verschiedenen Stellen erwähnte Ambivalenz gegenüber dem durchschlagenden Erfolg in Deutschland zum Ausdruck. Sie seien soeben aus dem »widerlich wiedervereinigten Germanien« nach Robion zurückgekehrt. Dinah ist seit einer Woche an der brasilianischen Botschaft in Den Haag angestellt. Auch die beiden Söhne Miguel und Victor mit seiner Familie werden am Jahresende dort zusammenkommen. Edith und Vilém besuchen Dinah und deren Adoptivsohn Benjamin zwischen

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dem Dezember 1990 und dem Juni 1991 insgesamt sechsmal in Den Haag. »Ich habe eine Einladung zu einer Gastprofessur an der Ruhr-Universitaet fuer das Sommersemester bekommen, die ich vielleicht annehmen werde, weil das so nah von Holland liegt.« Flusser reagiert eher beiläufig auf die erste Professur an einer deutschen Universität und begründet sein Interesse dafür rein geographisch. Es fragt sich, ob diese Reaktion nicht als gespielte Gleichgültigkeit zu deuten ist, stellt doch diese Gastprofessur eigentlich auch so etwas wie eine späte Wunscherfüllung dar. Ist Flusser inzwischen so gefragt, dass ihn solch ein Angebot nicht mehr wirklich verlocken kann oder kommt das Angebot schlichtweg zu spät? Wie dem auch sei, Flusser nutzt diese Möglichkeit, um seine gesamte Kommunikations- und Medientheorie noch einmal aufzurollen und zusammenzufassen. Im Gegensatz zu seinen Vorlesungen in Brasilien und Frankreich, die allesamt auf einem ausführlichen Typoskript basieren, beschließt Flusser, in Bochum frei zu sprechen. Er verspricht sich davon einen intensiveren dialogischeren Gedankenaustausch mit den Studierenden. »Sie sind Zeugen einer Philosophie in fieri«, meint er zu den Studenten und fährt ziemlich unbescheiden fort, »so ungefähr muss es ausgeschaut haben, als Hegel nach Berlin berufen wurde oder als Husserl nach Göttingen kam, oder […] als der Bergson an die Akademie kam, oder als Bachelard an der Sorbonne vorlas.« Die Gastprofessur ist ein Geschenk der Stadt Bochum an die Ruhr-Universität zu ihrem 25-jährigen Jubiläum. Von Ende Mai bis Ende Juni 1991 hält Flusser drei Blockseminare. Das erste findet zwischen dem 30. Mai und dem 3. Juni statt. Edith und Vilém kommen aus Robion und fahren über Bern, Luzern, Börsch und Den Haag nach Deutschland. Börsch ist ein kleines Dorf südwestlich von Straßburg, eine der vielen Relaisstationen, die sie während ihrer Reisen immer wieder angelaufen haben. Ein weiterer Ort, der schon in den 1970er Jahren und danach immer wieder in den Terminkalendern erwähnt wird, ist Ottrott, das am Fuß der Vogesen, an der Elsässer-Weinstraße und nur 5 Kilometer südwestlich von Börsch liegt. Von Bochum fahren sie Anfang Juni kurz nach Prag (4.-9. Juni) und von dort über Köln nach Würzburg, München, Zürich und Düsseldorf. Am 21. Juni sind sie wieder in Bochum, für das zweite Blockseminar und am 25. bei ihrer Tochter in Den Haag. Edith hat deren Namen an den betreffenden Tagen in den Terminkalender eingetragen. Vom 27. Juni bis zum 1. Juli sind sie zum dritten und letzten Mal in Bochum. Von dort aus reisen sie nach einem kurzen Zwischenstopp in Börsch zurück nach Robion. Flusser organisiert seine Lehrveranstaltung um drei zentrale Themenkomplexe herum: Kommunikationsstrukturen, Phänomene der menschlichen Kommunikation und Kommunikologie als Kulturkritik. Seit seiner Ausreise aus Brasilien hat Flusser keine umfassenden Vorlesungsreihen mehr gehalten. In der Antrittsvorlesung bedankt er sich für die Möglichkeit, seine Gedanken

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»sammeln und raffen zu dürfen« und verweist darauf, dass seine »Intervention hoffentlich audio- vielleicht sogar videoaufgezeichnet [wird]. Einer meiner Verleger wird das sehr schnell in Buchform herausgeben.« Verschiedene Studierende fertigen Tonaufnahmen im Auftrag der Universität an. Insgesamt liegen zum Schluss fünfzig Stunden Aufzeichnungen vor. Diese sind trotz ihres Umfangs nicht vollständig: einzelne Tonkassetten fehlen und einige Passagen werden aus Versehen überspielt. Die neunhundert Seiten umfassende Transkription weist zudem viele Redundanzen und thematische Überschneidungen auf. Flussers Wunsch nach unmittelbarer Publikation wird nicht Folge gegeben. 1996 verweist Stefan Bollmann im editorischen Nachwort zu Kommunikologie zwar noch darauf, dass von den 35 mitgeschnittenen Tonbandkassetten Neues zu erwarten ist. Es ist aber das Flusser Archiv an der Kunsthochschule für Medien Köln, welches die nötigen Schritte für eine Publikation unternimmt. 1998 schenkt Edith Flusser dieser den gesamten Nachlass ihres Mannes. Am 16. November 1999 übernimmt das Historische Archiv der Stadt Köln, das nur wenige hundert Meter von der Kölner Kunsthochschule für Medien entfernt ist, die Originaldokumente des Flusser-Archivs zur konservatorischen Auf bewahrung. Fast sämtliche Originale, rund 2500 Essay-, Vortrags- und Buchmanuskripte werden eingelagert. 2005 nach systematischer Rekonstruktionsarbeit und Digitalisierung des umfangreichen Tonmaterials wird eine Netzedition online gestellt, die immer noch auf Vimeo verfügbar ist. Zum Audiotext kann der transkribierte Text mitgelesen werden. Die Buchausgabe der Bochumer Vorlesungen erscheint 2009 in stark gekürzter Form – die 900 Seiten sind dabei auf ungefähr ein Fünftel reduziert worden – in einer von Siegfried Zielinski und Silvia Wagnermaier betreuten Taschenbuchausgabe beim Fischer Verlag. Im Vorwort weist Friedrich Kittler, auf dessen persönliche Initiative Flussers Einladung nach Bochum zurückgeht, auf einige weitere Aspekte hin. Der Saal, in dem Flusser seine Vorlesung vorträgt, ist voller Wagenräder und Sensen, was auf die bäuerliche Vergangenheit der Stadt zurückverweist und zugleich in deutlichem Widerspruch steht zu Flussers Konzeption eines Siegeszuges der Computertechnik, welcher das Ende der Geschichte einläutet. In Deutschland, schreibt Kittler, blieb Flusser »ein Fremder, prophetisch, verstörend, unakademisch. Umso größer war seine Freude über die Gastprofessur.« Als Grund für die Annahme erwähnt Kittler ebenfalls Flussers Endzeitstimmung, die mit seiner körperlichen Befindlichkeit zusammenhängt – der vor kurzem überstandenen Asthmaattacke und dem schwierigen Zustand seiner Augen – und dem Gefühl ein Überlebender zu sein. So hält er in der Vorlesung fest: »Alle Personen, mit denen ich in Prag verbunden war, sind gestorben. Alle. Die Juden in den Lagern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen in Stalingrad.« In der Vorlesung verwendet Flusser dafür ein Wort, das sei-

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nem Publikum durch Mark und Bein geht: Abkratzen. »Kaum, dass Flusser die Brille über die Stirn geschoben hatte, sprach er frei. Aus dem Bart des Propheten kamen Worte wie Blitze, weil sie immer auch ein Urteil waren. […] Flussers Botschaft [war] keine Mystik, sondern Algebra: die Zahl, wie sie in Computeralgorithmen die Grenzen unserer Sprache übersteigt.«

L e t z te S chreibprojek te In den letzten Jahren arbeitet Flusser an neuen Buchprojekten, die er jedoch nicht mehr abschließen kann. Dabei spielt wohl auch die Hektik dieser Zeit eine wichtige Rolle. In einem Brief an Volker Rapsch vom 7. Dezember 1988 erwähnt er zum ersten Mal Vom Subjekt zum Projekt, in dem der Begriff des Entwerfens eine zentrale Rolle einnimmt. Das Buch soll 25 Kapitel umfassen, ungefähr 250 Seiten lang sein und bis Ende 1989 vorliegen. Erhalten geblieben sind aber nur eine Einleitung und 9 Kapitel. Anfang Januar 1989 bestätigt Rapsch, die Einleitung »Vom Projizieren« und die ersten fünf Kapitel erhalten zu haben. Flusser muss in der Folge die Fertigstellung des Buches aufgegeben haben. Das letzte Mal findet das Buch in einem Brief vom 17. Juni 1989 an David Flusser Erwähnung: »Ich arbeite jetzt an einem Essay ›Von Subjekt zu Projekt‹ (Husserl, angewandt an Telematik) […].« 1990 beginnt Flusser mit einem weiteren Buchprojekt, das den Titel Menschwerdung trägt. Es wird sein letztes sein. Auch bei diesem allerletzten Projekt ist Rapsch der wichtigste Dialogpartner. In einem Brief vom 3. September fragt er bei Rapsch nach, ob er von Bollmann die fünf Seiten lange Einleitung (»Vorderhand«) erhalten habe. Er legt das erste Kapitel »Von der Niedertracht« bei. »Jetzt werde ich eine kleine Pause machen muessen. Ich brenne auf Ihre Reaktion. Da ich mir (wieder einmal) einrede, dass so etwas nie vorher geschrieben wurde.« Am 18. September schickt er das zweite Kapitel, »Vom Handel« und erwähnt ein weiteres: »Wendigkeit«. »Leider muss ich jetzt wieder unterbrechen (Lilienthal und oesterreichischer Rundfunk kommen her), wo ich gerade im Schwung bin.« In diesem letzten Buch, das im Grunde genommen die früheren Versuche, vom linearen Text ins Bild auszubrechen – zum Beispiel die annotierbare Floppy Disk von Die Schrift –, aufnimmt und auf neue Art und Weise weiterführt, geht es um ein »›bildliches‹ Philosophieren […]. Man ›ersieht‹ dabei das Bedachte. (Im Grunde meint dies ja das Wort ›Theorie‹: ein Ersehen von Ideen, von Bildern). In unserer Tradition philosophiert man in geschriebenen Worten: Man baut lineare Diskurse aus Buchstaben auf Zeilen. So läßt sich das aber nicht mehr lange fortführen, weil Worte (ob geschrieben oder nicht) für die immer staubartiger werdenden (numerischen) Begriffe nicht adäquat sind. Man kann nicht mehr wie früher in Texten philosophieren, man muß es

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mit Bildern versuchen.« Hier fließen auch die im Zusammenhang mit dem kalkulierten Bild gewonnenen Erkenntnisse ein, die in Flussers Denken der späten 1980er Jahre zu einer klaren Aufwertung des Bildes gegenüber dem Text führen. Wie Silvia Wagnermaier in einem Nachwort zu den 2009 publizierten Bochumer Vorlesungen festhält, will Flusser parallel zur Arbeit am Buch auch ein Video mit dem Titel »Vom Mund in die Hand« herstellen lassen, was an Fred Forests Versuche erinnert: Die Bewegungen der Hände machen das Denken sichtbar. In einem Brief vom 14. Oktober 1990 an den österreichischen Filmregisseur Felix Breisach hält er dazu fest: »Es sollten Bewegungen von Haenden gezeigt werden, und dabei eine Stimme erlaeutern, was diese Bewegungen, wenn zu Wort gekommen, bedeuten.« Er führt eine Liste möglicher Denkgesten an: »fassen, erfassen, auffassen, greifen, begreifen, ergreifen, Begriff, Ergriffenheit, eingreifen, vorgreifen, stellen, herstellen, vorstellen, einstellen, einholen, herholen, hereinholen, ueberholen, wenden, anwenden, umwenden, einwenden, handeln, Handel, Handlung, verhandeln, unterhandeln, vorderhand, vorhanden, zuhanden, handfest, manipulieren, Manufaktur, Manifest, Manuskript, fingern, befingern, Fingerspitzengefuehl, digital, digitalisieren.« Volker und Jutta Rapsch, die inzwischen nach Köln gezogen sind und ihr Projekt, ein Haus in Südfrankreich zu kaufen, aufgegeben haben, besuchen Edith und Vilém im Sommer 1991 in Robion. In einem letzten Brief an Rapsch vom 7. Juli 1991 schreibt Flusser: »Das [sic!] Sie mir die Kritiken ueber mich schicken ist zwar freundschaftlich und ich habe nichts anderes erwartet, aber dass Sie mich selbst noch nicht virulent kritisiert haben, was die Menschwerdung betrifft, kann ich Ihnen nicht verzeihen. […] Lieber Volker, dass Sie das Haus hier nicht gekauft haben zeigt, dass Sie ein Idiot sind, aber es wird sicher noch etwas anderes gefunden werden. Kommen Sie beide bald, bleiben Sie lange […]. In Freundschaft.«

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»Mein Programm war ›Golem-Kafka-Auschwitz-Slánsky‹ […].« Vilém Flusser in einem Brief an David Flusser vom 4. Februar 1990

Z urück nach P r ag Im Sommer 1968 ist Flusser in Europa. Er soll mit dem Vortrag »Vom Repertoire des Denkens« am XIV. Internationalen Kongress für Philosophie teilnehmen, der vom 2. bis zum 9. September in Wien stattfindet. In diesem Zusammenhang plant er auch einen Vortrag an der Karls Universität in Prag. Am Abend des 21. Augusts auf dem Weg in die Tschechoslowakei stoßen Edith und Vilém aber noch in Österreich auf eine Kolonne tschechischer Fahrzeuge, die das Land infolge der Repressionen, die auf den Prager Frühling folgen, fluchtartig verlassen hat. In der Nacht zuvor sind eine halbe Million Soldaten aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien in die Tschechoslowakei einmarschiert und haben innerhalb weniger Stunden alle strategisch wichtigen Positionen des Landes besetzt. Flusser erkennt in einem der Autos einen alten Jugendfreund, der ihm von der schwierigen Situation in Prag berichtet. Daraufhin verzichten sie auf eine Weiterreise Der zweite Versuch findet fast zwanzig Jahre später statt. Spätnachmittags am 7. Mai 1986 reisen Edith und Vilém zusammen mit ihrem Sohn Victor und der Familie Bec in zwei Autos von Straßburg nach Prag. In einem Brief an Alex Bloch vom 16. Mai desselben Jahres schildert Flusser die lange Fahrt durch ein reiches blühendes Deutschland. An der Grenze müssen sie zweieinhalb Stunden warten. Das tschechische Essen ist fast ungenießbar. In der Tschechoslowakei begegnen ihnen trotz sporadischer Schönheit Verwahrlosung und eine Szenerie des Verfalls. Miserable Dörfer und schlecht bestellte Felder. Billige Wohnhäuser in den Stadtperipherien, die an die Wohnblocks São Paulos erinnern und nur ganz wenig Leute auf den Straßen. In einem winzigen armseligen Salon de Thé werden sie außerordentlich unhöflich behandelt, obwohl sie fließend Tschechisch sprechen. Als sie Smichov erreichen, ein Stadtteil Prags, finden sie sich wieder zurecht. In der Bubenečská erkennt sie der Sohn

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des Friseurs von Flussers Großvater, der direkt unter ihnen wohnte. Sie suchen Ediths Wohnhaus an der Bucková auf, das einigermaßen gut erhalten ist und immer noch einen wunderbaren Garten besitzt. Im Hotel Intercontinental finden sie schlechte, überteuerte Zimmer. Abends im Zentrum haben sie Mühe, einen Platz in einem Restaurant zu finden. Das Essen ist kläglich. Die Stadt selbst ist teilweise herausgeputzt, kleinere Straßen aber sind zerfallen. »Alles war genauso wie in der Erinnerung, aber bedrohlich.« Am folgenden Tag besucht Flusser die Altneusynagoge, wo jedoch niemand seinen Namen wiedererkennt. Am Abend wiederholt sich die lange Suche nach einem Restaurant. Sie begegnen dem Ehepaar Remes-Mrázková, die Kunstkritiker sind und sich über Korruption und Bespitzelung beklagen. »Man hatte den Eindruck, sie logen, ohne zu wissen, warum sie dies taten.« Ediths Cousin und dessen Frau »machten Witze, und das reine Entsetzen schaute ihnen dabei aus den Augen. Aber auch Neid auf uns, allerdings konnte man diesen Neid überall fühlen.« Flusser schreibt Bloch, er erzähle ihm das alles so ausführlich, weil er als Prager Jude der einzige sei, der ihre Bestürzung wirklich nachvollziehen könne. »Wir waren so erschüttert, daß wir daraufhin die Stadt in der gleichen Richtung verließen und gegen 4 h absurderweise in Bayern gerettet waren. […] Ich fuhr aus Prag mit Bec zu meinem Verleger nach Göttingen über Fulda und konnte nicht umhin, die Freiheit mit jedem Atemzug neu zu genießen, was mir seitens meiner deutschen Freunde den Vorwurf der Reaktion eintrug.« In Flussers eindringlicher Schilderung tauschen die frühere Heimat und das Land, das für den Tod seiner ganzen Familie verantwortlich ist, ihren Platz. Prag ist zu einer schäbigen Hölle verkommen, der man nur knapp entrinnt, und Deutschland ein Ort der Freiheit und des Wohlstands. War die erste erzwungene Flucht eine Reise ins ungewisse Exil, so ist die zweite ironischerweise ein befreiendes Entkommen. Im Frühjahr 1989 zeigt sich Müller-Pohle besorgt wegen Flussers Gesundheit. Am 28. März schreibt er ihm: »Wegen Ihres Asthmas mache ich mir ernste Sorgen, zumal ich ja weiß, wie unvernünftig Sie in gesundheitlichen Belangen sein können. Schränken Sie wenigstens das blöde Rauchen ein oder hören Sie am besten ganz auf damit, Edith und uns allen zuliebe!« Am 23. November hat Flusser dann tatsächlich eine massive Asthma-Attacke, die dazu führt, dass er vier Tage im Koma in einem Spital in Avignon verbringt. Im Terminkalender übernimmt Edith vom 24. November bis zum 3. Dezember die Einträge. Flusser bleibt insgesamt drei Wochen zur Erholung und reist dann für vier Wochen (vom 19. Dezember 1989 bis zum 20. Januar 1990) zur Kur in die Hochgebirgsklinik in Davos-Wolfgang. Flusser beschreibt es als »seinen Zauberberg«. Tatsächlich befindet sich das eigentliche Vorbild für das Kurhaus in Thomas Manns Roman, das Berghotel Sanatorium Schatzalp, ungefähr 8 km weit davon entfernt, oberhalb des Dorfkerns. Davos liegt in der Nähe einer Bergstraße, die Edith und Vilém in den 1970er Jahren oft befahren

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haben: von Chur über den Julier- und Ofenpass nach Merano. Sie überlegen sich, ob sie nicht doch in die Alpen zurückkehren sollen und machen täglich Spaziergänge in der Umgebung. Die Ärzte empfehlen ihm dringend einen Klimawechsel. Edith und Vilém suchen eine Wohnmöglichkeit im Schwarzwald in der Nähe von Freiburg. In einem Brief an Rainer Goetz vom 29. Januar 1990 schreibt er: »Ich habe gelernt, Dingen wie Freundschaft ein groesseres Gewicht als Dingen wie intellektuelles Engagement zu geben: zu irgend etwas [sic!] muss doch wohl die Begegnung mit dem Tod gut sein.« In einem weiteren Brief an David Flusser vom 4. Februar 1990 beschreibt Flusser das Koma als eine Erfahrung des Nichts, ein schwarzes Loch, in dessen Umfeld sich jedoch »einiges abspielt«. Flusser schildert eine apokalyptische Vision: Eine Großstadt in Südamerika, riesige achtstöckige Häuserblocks voller brüllender Menschen, mit zerfallenen Fassaden und zerborstenen Fensterscheiben, überall Unrat, zerlumpte Menschen und stinkende Autos. Bevor er ins Loch fällt, soll er angeblich »ich muss schreiben, il faut écrire« gesagt haben. Als er wieder zu sich kommt, hört er zuerst Dinahs Stimme: »ich sagte, C’est ma fille de Washington, aber es war niemand. Dann spuerte ich Ediths Gegenwart […] ich war gluecklich und dann kam ich tatsaechlich zu mir, in den Armen Mischas«, der aus São Paulo nach Frankreich gekommen ist. »Der Arzt sagte zu mir: ›Prag ist befreit‹, bevor ich etwas anderes hoerte. Ich konnte es nicht fassen, aber stellte mir vor, dass die Leute auf dem Wenzelsplatz« sangen. »Dass Prag zur gleichen Zeit wie ich aus dem Loch tauchte […], das ist fuer mich noch immer schwer zu verdauen.« In dieser Geschichte wird Flussers individuelles Schicksal auf symbolische Art und Weise mit dem kollektiven Geschick der Stadt Prag kurzgeschlossen. Dieser Verbindung begegnet man auch in einigen anderen Texten dieser Zeit. In Bodenlos finden sich zwei kurze Essays, die als Reaktion auf seine Wiederbegegnung mit Prag entstanden sind: »Bis ins dritte und vierte Geschlecht« und »Mein Prager Pfad«. Im ersten Essay definiert Flusser den Grundzug des Menschseins als die Negation, den Versuch, die uns bindenden Bedingungen aufzugehen. In seinem Fall geht es darum, seine Bedingung als Prager Jude aufzuheben und zu überholen, was allerdings nicht ganz so einfach ist, da er nie wirklich versucht hat, ganz und gar Prager Jude zu sein. Die Prager Juden haben »eine ganze Welt für sich gebildet« und diese ist während seines Exils untergangen. Auch wenn diese Welt verschwunden ist, kann sie erst dann überwunden werden, wenn sie zuerst angenommen wird, sonst ist sie »unüberwunden verschwunden.« Das erzwungene Exil hat ihm zwar ein neues, zweites Leben geschenkt, ihn dadurch aber zugleich der Möglichkeit beraubt, sich selbst ganz anzunehmen, um sich dadurch als Mensch zu überwinden. So steht am Ende dieses Lebens zwar eine Chiffre der Vergeblichkeit und des Scheiterns, diese eröffnet aber zugleich den Weg in ein neues Engagement an sich selbst und seiner Umgebung, ein Engagement, das weitaus radikaler ist

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als alle anderen schon durchlebten, weil es alle in sich trägt und zugleich das durch das erzwungene Exil Versäumte rückwirkend einholt. Diese Situation ist eine »Illustration für den Widerspruch zwischen Wurzellosigkeit und Überholung der Wurzeln.« Wie kann man die eigenen fehlenden Wurzeln einholen? Wie kann die Wurzellosigkeit zur Überwindung der Wurzeln umfunktioniert werden? Es ist die Frage, wie nach der Katastrophe, die zugleich eine persönlich und überpersönliche ist, zu leben wäre. Flusser spiegelt dabei die eigene nicht stattgefundene und dadurch verlorengegangene Existenz als Prager Jude und die eigene Kindheit im Prag zwischen den beiden Weltkriegen im definitiven Verlust einer ganzen Kultur. Er ist der letzte Überlebende, der aus der Ferne zurückkehrt, um festzustellen, dass seine Heimat während seiner Abwesenheit endgültig entschwunden ist. Der zweite Text entsteht während seines vorletzten Besuches in Prag im Sommer 1991. Er beschließt, den alten Schulweg, den er täglich von der Bubenečská 5, in Dejvic zum Gymnasium in Smíchov zurücklegte, noch einmal zu gehen. »Wie ist es, wenn man seinen eigenen Spuren nachgeht, wenn man […] sein eigener letzter Mohikaner« ist? »Prag ist eine monumentale Kleinstadt. Der (wieder-)gefundene Pfad ist selbst monumental. […] Die Gefahr ist groß zu entgleiten, sowohl in sentimentalen Kitsch als auch in akademischen Historizismus […]. Als Bub, als Bewohner Prags, durcheilte ich diese Gegend, ohne sie wahrzunehmen. […] Jetzt, da zweiundfünfzig Jahre die Decke der Gewohnheit zersetzt und aufgelöst haben, schlägt mir die Ungewöhnlichkeit der Szene in die Augen. […] Es fällt mir wie Schuppen von den Augen, als ob ich eine Operation am grauen Star mitgemacht hätte: Bin ich tatsächlich inmitten solcher Pracht geboren worden und aufgewachsen?« Der letzte Abschnitt des Weges, den er als Kind atemlos durcheilte, um nicht zu spät in die Lateinstunde zu kommen, durchschreitet er jetzt außer Atem als alter Mann, um sich selbst wiederzufinden. Es ist das »namenlose Unheil, das das 20. Jahrhundert über die großartige Bühne Prags hat ergehen lassen: jenes Unheil, aus dem ich gemacht bin. Das ist der Pfad, den ich gefunden habe: die unbeschreibliche Pracht als Schauplatz unbeschreiblichen Unheils.« Während dieses Besuches trifft Flusser Aleš Lederer, Chefredakteur der Zeitschrift Prostor, den Philosophen Rudolf Starý, Ladislav Hejdánek sowie Petr Mareš und Jan Bernard von der Karls-Universität. Über seine ambivalenten Eindrücke spricht er im schon mehrmals erwähnten Interview mit Tschudin. »Ich war überrascht […], dass die Stadt tatsächlich so unglaublich prachtvoll ist, wie ich sie in Erinnerung hatte. […] ich kenn nur eine einzige Stadt, die an Pracht mit Prag vergleichbar ist und das ist Venedig. Aber selbst indem ich das sage, bin ich mir dessen bewußt, daß Venedig eine Kleinstadt ist und Prag, trotzdem es relativ wenig Einwohner hat, ist eine kaiserliche Stadt. […] Es war mir nichts fremd, aber ich hab mich nicht wiedererkannt da drinnen. Das heißt, in diesem Sinne hab ich die 19 oder 20 Jahre, die ich in Prag verlebt hab

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und die doch für mich sehr wichtig waren, für meine Formation, verloren. Es kommt vielleicht daher, dass es keine Juden mehr in Prag gibt, und keine Deutschen. Aber, wenn man Prag von Juden und Deutschen säubert […] dann bleibt nur sozusagen eine Kulisse.« Flusser beschreibt den Prozess der erzwungenen Einsprachigkeit einer ursprünglich mehrsprachigen Stadt als Aushöhlung. Das rein tschechische Prag der Gegenwart ist zur bloßen Fassade verkommen. Flusser hält einen improvisierten tschechischen Vortrag im Haus der Fotografie. »Tschechisch, wissen Sie, ist meine Muttersprache. Ich hab es 51 Jahre nicht gesprochen und kein gedrucktes Wort gesehen. […] Und als ich da gesprochen hab, plötzlich ruft meine Frau ›Pass auf, Du sprichst ja Portugiesisch!‹ Ich bin aus dem Tschechischen ins Portugiesische gerutscht, während des Vortrages, ohne mir dessen bewusst geworden zu sein, weil ja das Portugiesische wahrscheinlich an dieselbe Stelle geschlüpft ist, an der in meinem Gehirn Tschechisch gelagert war, weil ja Portugiesisch jetzt sozusagen meine Muttersprache geworden ist. Also, warum sage ich Ihnen das? Weil ich über Biographie sprech’ und weil ich damit sagen wollte, obwohl mir die Stadt bekannt ist und obwohl sie mir zugleich völlig leer und fremd ist, haben mich die Leute […] sehr gut empfangen […]. Ich weiß ja genau, dass das eine Rekuperationstaktik ist. Die Leute möchten gern jemanden haben, der viele Jahre draußen war und jetzt irgendwie wiederkommt. Und so bin ich dann im November eingeladen, dort einige Vorträge zu halten auf dem Masaryk-Quai – nomen est omen.« Am 19. November hält Flusser einen Vortrag am Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon. Vier Tage später hält er auf dem vom Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen veranstalteten Kongress »Cultec – Kultur und Technik im 21. Jahrhundert« in der Messehalle Essen vor etwa 800 Zuhörern seinen letzten Vortrag in Deutschland: »Die Informationsgesellschaft. Phantom oder Realität?« Dieser Vortrag ist 1996 bei supposé in Köln als CD erschienen. Unmittelbar danach ist er erneut in Prag. Das Goethe-Institut hat ihn zu einem Vortrag am 25. November und einem Seminar am 26. über Kommunikationstheorie und Philosophie der neuen Medien eingeladen. Einen weiteren Vortrag, den er unmittelbar danach in Wien halten soll, hat er abgesagt als Reaktion auf den Erfolg der rechtsradikalen Partei Jörg Haiders. Flusser steigt im Hotel Ungelthof ab. Andreas Ströhl, der für das Goethe-Institut in Prag arbeitet und ihn dort trifft, berichtet davon, dass Flusser sich über die mangelnde Kultur und Dummheit der Kellner aufregt und sich über das schlechte Essen und die allgemeine Verwahrlosung beklagt. Sein Urteil über die Stadt seiner Kindheit ist äußerst streng wie schon in den Briefen an Bloch fünf Jahr zuvor. Die Tschechen sind Mitläufer, keine Opfer des Kommunismus. Er ärgert sich über die technische Zurückgebliebenheit, den billigen Kommerz und die kulturelle Einfalt. Wie Ströhl treffend festhält, ist Flusser aufgrund seines Exils und seines in der Bodenlosigkeit verbrachten Lebens »aus der Zeit gefallen« und weiß, dass es für ihn kein wirkliches Zurück mehr gibt.

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Im Essay »Heimkehr?«, den er für die Zeitschrift Prostor verfasst und der zuerst auf Tschechisch erscheint, reflektiert Flusser über die Möglichkeit einer Rückkehr. Es genügt nicht, dass Mauern fallen und sich der Staat dem Heimkehrenden öffnet. Dies berührt die individuelle Erfahrung nicht. Die Mauern der Heimat bleiben unangetastet. Man kann »nicht heimkehren, ohne dass die daheim Gebliebenen« einem »die Haustür öffnen.« »Man kann »zwar versuchen, den Schlüssel zur Haustür wiederzufinden, und sich selbst den Heimweg zu öffnen, aber [man] wird bald merken, dass das Schloss im Verlauf der letzten 50 Jahre ausgewechselt wurde. [Man] kann die Heimat selbst nicht mehr entschlüsseln.« Was man jedoch tun kann, »ist an die Haustür klopfen, in der Hoffnung sie möge sich [einem] öffnen.« Die hoffnungsvolle Wende am Ende des Textes verweist auf Flussers eigene Ambivalenzen seiner Heimatstadt gegenüber, die er zwar nicht wiedererkennt, der er sich aber doch insgeheim öffnet und von der er letztlich ein Signal erhofft. Ströhl berichtet von Flussers Sendungsbewusstsein und seiner aufklärerischen Verve. Die Stadt, die in Flussers Jugend eines der lebhaftesten Kulturzentren Mitteleuropas war, soll sich der Gegenwart öffnen.

Abbildung 36: August 1991

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D er le t z te V ortr ag Am 11. November 1991 verlassen Edith und Vilém zum letzten Mal gemeinsam Robion. Über Thalwil am Zürcher See, wo sie im Hotel Alexander am See übernachten, gelangen sie nach Bochum und von dort über Essen nach Prag. Flussers letzter Vortrag mit dem programmatischen Titel »Paradigmenwechsel« – der in die Essaysammlung Medienkultur (1997) aufgenommen wurde – findet am 25. November im überfüllten Saal des Goethe-Instituts von Prag statt. Flusser hält sich auch diesmal nicht an den Vortragstext. Er spricht vorwiegend deutsch, zwischendurch aber immer wieder tschechisch. Er schweift ab und kehrt zum Thema zurück, unterbrochen von kurzen Asthmaanfällen. Ströhl spricht von einem »Parforceritt« durch die gesamte Geschichte der Menschheit. Flusser ist ein »Meister der Improvisation und Unterhaltung.« Ganz am Ende schreibt er seine Adresse in Robion auf die Tafel, eine Einladung an alle Anwesenden, mit ihm in einen Dialog zu treten. Nach dem Vortrag findet ein Interview statt, in dem Flusser, nun wohl in einer ganz anderen Verfassung, dem Publikum empfiehlt, in die Welt hinaus zu reisen. »Es gibt fabelhafte Menschen in der Tschechoslowakei, und diese fabelhaften Menschen, die müssen nach Luxemburg oder nach Amerika, wozu sitzen die im blöden Prag«? In der schriftlichen Fassung des Vortrages versucht Flusser, den gegenwärtigen Moment im Sinne eines radikalen Paradigmenwechsels zu deuten, vergleichbar mit dem Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und Moderne. Wir sind nicht mehr modern und zweifeln daher auch anders. Unser Zweifel betrifft nicht mehr die Möglichkeit von Wissenschaft und Erkenntnis. »Ist es nicht so, als ob wir das Gefüge von Algorithmen und Theoremen, das das Gerüst der Welt ist, aus uns selbst entworfen hätten«, es dann »vergessen hätten, um es jetzt mühsam wieder zurück zu holen? Ist es nicht so, daß wir nur entdecken, was wir selbst erfunden haben? Dies ist der postmoderne, nachgeschichtliche Zweifel.« Es hat wenig Sinn »zwischen Datum und Faktum, zwischen wahr und falsch, zwischen wirklich und fiktiv, zwischen Wissenschaft und Kunst zu unterscheiden.« Stattdessen müsste man wahrscheinlich und unwahrscheinlich, konkret und abstrakt, formulieren und projizieren setzen. »Wenn wir annehmen, daß die Welt unsere Projektion ist, dann nehmen wir ebenso an, daß wir selbst nichts als diese Projektion sind. Und diese reversible Ontologie (kein Subjekt ohne Objekt, sowie kein Objekt ohne Subjekt) ist ein grundlegendes nachgeschichtliches Kennzeichen.« Abschließend hält Flusser fest, dass er wesentliche Aspekte des diskutierten Paradigmenwechsels nicht diskutieren konnte und sein Vortrag nur skizzenhaft und fragmentarisch bleibe. »Ich haben es dennoch gewagt, darüber zu sprechen, weil dies die erste Gelegenheit ist, in meiner Geburtsstadt einige der mich beschäftigenden Gedanken zu äußern.«

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Das Seminar findet am nächsten Tag im Veranstaltungssaal im zweiten Stock des Goethe-Instituts statt. Das Institut organisiert ein gemeinsames abschließendes Abendessen in der Wohnung von Carola und Jochen Bloss am Masaykovo nábřeží 32, Prag 2. Ströhl berichtet, dass Edith ein Zahn ausgefallen ist und sie deshalb beim Abendessen häufig die Hand vor den Mund hält, um die Lücke zu verbergen. Vilém meint gut gelaunt dazu, dass gemäß einem jüdischen Aberglauben ein Familienmitglied stirbt, wenn jemand einen Schneidezahn verliert. Es ist eine kalte Novembernacht. Da Ströhl nur ein paar hundert Meter vom Goethe-Institut zur Kavárna Slavia und zurück zu gehen hat, trägt er keinen Mantel, sondern nur ein Sakko. Die letzten Worte, die Flusser an ihn richtet, sind: »Junger Mann, wie alt sind Sie? Wollen Sie Ihren 30. Geburtstag noch erleben? Dann ziehen Sie sich wärmer an!« Kurz vor Mitternacht begleitet Ströhl Edith und Vilém zur Kavárna Slavia in der Národní třída, wo sie noch kurz Petr Rezek treffen, bevor sie zu Fuß zu ihrem Hotel gehen. Am nächsten Tag, dem 27. November, fahren Edith und Vilém in der Frühe ab. Sie möchten am frühen Nachmittag wegen Flussers grauem Star bei einem Augenarzt in Gießen sein. Wie immer fährt Edith. Vilém ist auch diesmal nicht angeschnallt. Irgendwie, so Vera Schwamborn, fühlt er sich so sicher an der Seite seiner vorsichtig fahrenden Frau, dass er sich weigert, den Sicherheitsgurt anzulegen. In dieser Weigerung kommt aber auch so etwas wie ein anarchistischer Zug seines Charakters zum Ausdruck. Bei Bor und Tachova ungefähr 25 km von der deutschen Grenze entfernt, auf der E50, die Prag über Pilsen mit Nürnberg verbindet, verlassen sie wegen des schweren Verkehrs die Hauptstraße, biegen in eine Seitenstraße ein und prallen auf einen stehenden Lastwagen. Vilém wird durch die Windschutzscheibe geschleudert und ist auf der Stelle tot. Flusser ereilt das Schicksal von Vicente Ferreira da Silva und Albert Camus. Edith bricht sich das Brustbein, ist aber sonst unverletzt. Sie, die ihn durch ihre Liebe vor dem sicheren Tod im Konzentrationslager gerettet und all diese Jahre umsorgt hat, ist nun diejenige, durch deren Hand er aus dem Leben scheidet. Edith liefert Jahre später eine tragisch surreale Beschreibung des Unfalls. »Mein Mann war so ausgelassen. Bis spät, bis vier Uhr früh oder so war er sehr animiert, und am nächsten Tag hätte er in Deutschland zu einem Augenarzt fahren sollen. […] Wir haben kurz geschlafen, ganz kurz, zwei oder drei Stunden […] Und wir sind ganz bald weggefahren. Er hat gesagt: bleib doch noch liegen, bleiben wir noch liegen. Aber ich wusste, ich konnte nicht rechtzeitig diesen Augenarzt erreichen, wenn wir dort im Bett bleiben sollten. Wir sind abgebogen von der Hauptstraße in dieses Bor, Bor heißt tschechisch Wald, da bin ich eingeschlafen, bin in einen Lastwagen reingefahren, der da gestanden ist. Aber ich wusste nicht, was passiert. Ich habe noch gelacht, nachdem das passiert ist. Ich habe gesagt, schau, was für eine Dummheit ich mach, wusste nicht, dass es so eine Katastrophe war, habe nicht verstanden. Es war eine Abfahrt von der Hauptstraße in eine Waldstraße, weil diese Hauptstra-

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ße […] voller Lastwagen [war]. Da haben wir gesagt, wie biegen ab und fahren durch den Wald. Das haben wir gemacht. Und da war ein Lastwagen in der Mitte der Straße gestanden, ein weißer Lastwagen, ich sehe eine weiße Wand, das war der Lastwagen. Und ich habe gemeint, es ist eine beleuchtete Straße. Von der Sonne. Und hinter mir ist die Sonne aufgegangen. Es war vielleicht fünf Uhr früh, ich weiß nicht. Und das war die Wand von dem Lastwagen.« Irmgard Zepf berichtet in einem Gespräch mit dem Verfasser (RG), dass Edith Flusser beim Anblick ihres tödlich verletzten Mannes an den Isenheimer Altar habe denken müssen. Eine vielsagende psychische Reaktion, die den absoluten Schrecken des plötzlichen Todes in ein komplexes Bild überführt, welches Vilém Flussers gesamtes Leben einfängt und zugleich religiös verklärt. Wenige Tage später wird Flusser auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag Želivského beigesetzt, nicht weit vom Grab Kafkas entfernt. Dort findet am 24. Oktober 2014 Edith Flusser im gleichen Grab ihre letzte Ruhe. Auf dem mehrsprachigen Grabstein stehen zwei Sätze. Der erste zugleich auf Tschechisch und Hebräisch angeführte Satz stammt aus Hosea 14.10: »Wer ist weise, dass er dies versteht, und klug, dass er dies einsieht?« Der zweite ist auf Portugiesisch: »Não morreremos conjugados. ›Nos‹ nunca morreremos, porque apenas eu e tu. A solidão è para a morte« (Als miteinander Verbundene werden wir nicht sterben. ›Wir‹ werden nie sterben, nur ich und du allein. Die Einsamkeit ist für den Tod). Sowohl das zweisprachige Bibelzitat als auch der portugiesische Text betonen die zentrale existenzielle Bedeutung des Dialogs. Das Buch Hosea ist eines der zwölf kürzeren prophetischen Bücher des Alten Testaments. In den ersten drei Kapiteln wird die Beziehung zu Gott als Verhältnis von Ehemann und Ehefrau gedeutet, das heißt als ein Dialog. Der portugiesische Satz wiederum nimmt eine der zentralen Thesen aus Flussers Kommunikologie auf. In der Einführung zu Umbruch der menschlichen Beziehungen? bestimmt Flusser die menschliche Kommunikation als Versuch, die eigene Einsamkeit, den eigenen Tod »und auch den Tod derer, die wir lieben, [zu] vergessen. Kurz, der Mensch kommuniziert mit anderen, ist ein ›politisches Tier‹, nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein einsames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben.«

N achruf Im Frühjahr 1992, ein paar Monate vor seinem eigenen Tod, publiziert Abraham Moles in der französischen Zeitschrift Communication et langages – in derselben Zeitschrift, in der fast zwanzig Jahre früher Flusser einen Essay über das Werk Moles’ publiziert hat – einen Nachruf, in dem er Flusser als »Philosophen der Sudeten« bezeichnet, wohl um dessen deutschsprachige Seite besser herauszukehren. Flusser, so Moles, ist für das französische Publikum fast ein

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Unbekannter, aber sein Werk hatte begonnen, in den deutschsprachigen Ländern wirksam zu werden, weil die Medien davon Besitz ergriffen hatten. Nach einem kurzen Auftritt im Kreis der französischen Intellektuellen, ist er wieder auf die für ihn vorgesehene schicksalhafte Umlauf bahn eines typisch mitteleuropäischen Intellektuellen geraten. Flusser ist wie ein Philosoph aus dem Leben geschieden: Er war sofort tot. Moles betont den universalistischen Anspruch von Flussers Denken und Schreiben, seine kritische rebellische Grundhaltung lange vor 1968 und seine Fähigkeit, abstraktes Denken dank Poesie und Rhetorik anschaulich zu vermitteln. Er sieht ihn in der Tradition Kaf kas, Brechts, Goethes, Hölderlins, Kleists und Meister Eckharts. Flusser ist ein Nomade der Kulturen und Ideen, ein charismatischer Erzähler aus Tausendundeine Nacht, dem es immer wieder gelingt, sich auf poetische Art und Weise in das Gehör seiner Zuhörer einzuschleichen, um deren Geist zu berühren und zu bewegen.

Teil IV: Nachleben 1991–2016

Abbildung 37: Andreas Müller- Pohle: Edith und Vilém Flusser in Aix- en- Provence (Juli 1984)

Edith

»Das war uns ganz natürlich, das Übersetzen.« Edith Flusser

Vilém Flusser hat oft die jüdische Vorstellung beschworen, dass man in der Erinnerung der anderen weiterlebt. Jüdische Friedhofsbesucher legen deswegen auch einen Stein auf das Grab einer/s geliebten Verstorbenen. In diesem Sinne haben wir beschlossen, die Biographie nicht mit dem Tod der Hauptfigur zu beenden, wie es üblich ist, sondern 25 Jahre über den Tod hinaus weiterzuschreiben. Einerseits offenbart sich im Nachleben des Werks Wesentliches aus Flussers Denken und Schreiben und andererseits zeichnet sich nach Viléms Tod Ediths fundamentale Rolle deutlicher ab. Dass das Leben und das Werk vieler Schriftsteller und Philosophen auf entscheidende Art und Weise von deren Lebensgefährten mitgeprägt worden ist, muss hier nicht besonders hervorgehoben werden. Im Falle Viléms und Ediths hat dies jedoch eine ganz besondere Ausprägung erfahren. Vilém Flussers Werk ist ohne Edith Flusser nicht denkbar. Und dies in vielfacher Hinsicht. Edith und ihre Familie retten Vilém vor dem sicheren Tod in einem Konzentrationslager. Edith sorgt dafür, dass Vilém fürs tägliche Schreiben freigestellt wird. Sie ist diejenige, der Flusser seine neuen Texte vorliest. Sie ist seine erste Leserin und Kritikerin. In diesem vielfachen Sinne hat sie am Werk stets mitgeschrieben. Edith beginnt darüber hinaus nach Flussers Tod, Viléms portugiesische Werke und Briefe ins Deutsche zu übersetzen. In den ersten Jahren nach seinem Tod geht sie täglich zur Arbeit ins Archiv. So lerne ich (RG) sie auch im Juli 1998 in München kennen: an einem Schreibtisch vor einem Computerbildschirm sitzend übersetzt sie Da dúvida ins Deutsche. Dieses Buch beschäftigt sie fast ein Jahrzehnt lang, wird aber erst 2006 als erster Band der Edition Flusser bei European Photography unter dem Titel Vom Zweifel publiziert. Das zweite größere Übersetzungsprojekt Ediths ist die Übersetzung von Natural:mente, das 2000 unter dem Titel Vogelflüge bei Hanser erscheint. In einer an mich adressierten E‑Mail vom 19. Juni 2000 berichtet sie von neuen Übersetzungsplänen. »Ich war mit der Korrektur meiner Über-

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setzung von Vogelflügen beschäftigt. Jetzt übersetze ich Vorlesungen zum Thema ›Wissenschaft‹ und andere zum Thema ›Sprache‹.« In dem Teil des Videos Nachlese, der am 29. Februar 2004 in der New Yorker Wohnung aufgenommen wird, berichtet Edith von ihrer übersetzerischen Beschäftigung mit den Briefen Milton Vargas’ und der schwierigen Arbeit an Língua e realidade, das bisher weder auf Deutsch noch auf Englisch publiziert worden ist. In einem kurzen Video von Klaus Sander, das als Nachruf im Internet und Flusser Studies 18 publiziert wurde, geht Edith auf die existentielle Bedeutung des Übersetzens ein. »Wie übersetze ich denn, natürlich nicht wörtlich. Früher habe ich mich sehr an die Worte geklammert, weil ich noch unsicher war, ich glaube aber, ich habe einen Fortschritt erreicht […] und wage es, Sätze zusammenzuziehen und erst nachdem ich sie wirklich gut verstanden und verarbeitet habe aufzuschreiben. Das Übersetzen, das ich heute am Ende meines Lebens mache, war auch der Anfang meines Lebens, denn wir haben immer, wir sind immer geschwankt zwischen dem Tschechischen und dem Deutschen.« Edith war stets besorgt um das Überleben des Werks ihres Mannes. So schreibt sie mir am 25. Februar 1998 aus München. »Ich erwarte seit langem ›Das Märchen der Wahrheit‹ (Bollmann Verlag) […], das von mir übersetzte alte brasilianische Texte enthält, das Buch wird hoffentlich bald erscheinen.« Leider ist es noch nicht veröffentlicht worden. Und am 28. Januar 1999: »Ich überleg, in welcher neuen, besseren Zusammenstellung die Bollmannbücher publiziert werden könnten und suche dafür, zusammen mit der Kunsthochschule in Köln, einen großen Verlag, der das ganze Werk übernehmen würde.« Im Anschluss an das Flusser-Symposium, das im März 1999 in Puchheim stattfindet und von Orazio Bonassi organsiert wird, erwähnt sie den Plan, ein zweisprachiges deutsch-italienisches Gesamtwerk zu publizieren. »Ein großes Projekt!«

D as wandernde A rchiv In einem handgeschriebenen Brief auf dem Papier des Supposé/Angenommen Netzwerks, den sie am 27. Dezember 1993 an den langjährigen Familienfreund Lewis Weiner schreibt, fasst Edith die Funktion des Archivs zusammen. Sie würde ihm gerne das Archiv zeigen, dem sie ihre ganze Energie widme. Viléms Werk sei wichtig. »I like the following sentence: All has been fulfilled: the author’s life, but not his work.« Edith zieht nach Viléms Tod nach Den Haag, wo Dinah als Botschafterin Brasiliens tätig ist. Dort nimmt sie am Auf bau des ersten Flusser-Archivs teil, auf das wir im nächsten Abschnitt näher eingehen. Als Dinah Mitte der 1990er Jahre als Generalkonsulin nach München versetzt wird, beziehen sie zusammen eine Wohnung an der Gumppenbergstrasse 1 bei der Herzog-Alb-

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recht-Anlage. Ende der 1980er Jahre adoptiert Dinah Benjamin, ein Waisenkind aus Brasilien. Als ich sie 1998 zum ersten Mal in München besuche, ist Benjamin ungefähr zehn Jahre alt. Ein aufgewecktes Kind mit krausem Haar. Das Flusser-Archiv zieht in eine Erdgeschosswohnung an der in der Nähe liegenden Prinzregentenstraße 74 und ist für kurze Zeit auch an der Arabellastraße 17 untergebracht, in einem Raum, den der Kunsthistoriker und Verleger Hubert Burda ihr kostenfrei zur Verfügung stellt. Edith geht täglich zu Fuß ins Archiv. Dort sichtet und notiert sie den Nachlass, arbeitet aber vor allem an den Übersetzungen weiter. Sie sieht sich nach möglichen Institutionen um, die das Archiv auf Dauer übernehmen können. So berichtet sie in einem Brief, den sie mir am 3. August 2000 aus New York sendet, sie habe sich auch bei der ETH in Zürich erkundigt. In einem weiteren Brief vom 25. Februar 1998 aus München schreibt sie über den Plan, das Archiv von München nach Karlsruhe an das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) zu verlagern, dessen Leiter, der österreichische Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel Flusser am 14. September 1988 am Symposium »Philosophien der neuen Technologie« im Brucknerhaus zu Linz kennenlernt. Nach einer kurzen Zwischenunterbringung im ZKM in Karlsruhe wird das Archiv im Herbst 1998 dann aber definitiv an die Kunsthochschule für Medien in Köln am Peter-Welter-Platz 2 ziehen, wo es fast 10 Jahre bleiben wird. Der Kontakt verläuft über Siegfried Zielinski, der ab 1993 als Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln tätig ist und 1994 zu deren Gründungsrektor ernannt wird. Als er 2007 an die Universität der Künste in Berlin (UDK) berufen wird, übersiedelt auch das Archiv nach Berlin (www.flusser-archive.org/). Neben Zielinski möchte ich hier noch die anderen Mitarbeiter des Kölner und Berliner Flusser-Archivs erwähnen: Silvia Wagnermaier, Nils Röller, Marcel René Marburger, Claudia Becker und Daniel Irrgang. Ohne ihr Engagement und ihre Kompetenz würde es das Flusser-Archiv in der jetzigen Form nicht geben. Im Herbst 2016 hat Maren Hartmann, Professorin für Kommunikations- und Mediensoziologie an der UDK die Leitung des Archivs übernommen. In diesem Zusammenhang muss noch das Projekt eines sogenannten Spiegelarchivs (Arquivo Vilém Flusser) am Centro Interdisciplinar de Semiótica da Cultura e da Mídia (CISC) an der Pontifícia Universidade Católica de São Paulo (PUC-SP) erwähnt werden, welches auf die Initiative von Norval Baitello Junior und Siegfried Zielinski zurückgeht und im Herbst 2016 eröffnet worden ist (www.arquivovilemflussersp.com.br/vilemflusser/). Um dieses Projekt zu verwirklichen, wurde im Laufe von 2012 und 2013 der gesamte Bestand des Flusser Archivs systematisch digitalisiert. In einem Interview, das Klaus Sander am 21. Mai 1996 mit Edith Flusser führt, beschreibt diese zu Beginn die Idee, ein Archiv des Nachlasses anzulegen, als ein Geschenk der Kinder. »Und da waren also eine Menge, Menge Papiere, Manuskripte, Bücher und die

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mussten in Ordnung gebracht werden. Sonst wären sie wahrscheinlich verloren gegangen mit der Zeit. Und es war wirklich eine sehr gute Idee von den Kindern, dieses Archiv mir anzulegen. Und mir dadurch irgendeinen Sinn zu geben. Für meine Zeit, denn ich war ja aus der Zeit, aus allem herausgerissen. Und das Archiv hat mir irgendwie wieder einen Boden, einen gewissen Halt gegeben.« Wie Edith weiter berichtet, ist das Archiv zuerst noch im Haus des jüngsten Sohnes Victor untergebracht, der im Elsass lebt. Karin Lauerwald ist mit von der Partie. Diese Lösung erweist sich aber bald als ungeeignet und das Archiv siedelt nach Den Haag über. »Mischa, der größere Sohn, hat uns da sehr viel geholfen. Und das war der Anfang dieses Archivs. […] Es war total wirr alles. Die Dokumente waren ja nicht geordnet. […] Ich habe nicht viel gemacht, ich habe kaum etwas gemacht. Ich habe die anderen Leute nur irritiert, wahrscheinlich, durch meine Gegenwart. Sie haben sehr viel gearbeitet. Es war noch ein anderes Mädchen da, die Vera [Schwamborn]. Auch sehr, sehr geschickt und sehr intelligent. […] Ich habe ja überhaupt keine Ahnung gehabt, nein, ich war auch nicht fähig. Aber sie, diese zwei Studentinnen und auch andere Leute, mit denen mein Mann früher in Kontakt war, haben […] diese großen Mappen gekauft. […] Und sukzessive […] hat man sortiert: den Themen und dem Alphabet nach. […] Und Mischa, der Sohn, der Systemanalytiker ist, hat da viel helfen können, weil er sich da auskennt. […] Und ich habe dann begonnen […] mit dem Übersetzen von Kleinigkeiten. Zu der Zeit hat man auf Anraten, ich glaube, Veras, hat man die Schlagwort-Listen angelegt und hat begonnen, zu lesen und die einzelnen Texte mit den Schlagworten zu belegen.« Bei der Klassifizierung der Texte stellt man fest, dass vieles fehlt. »Weil mein Mann sehr achtlos mit den Sachen eigentlich umgegangen ist. Er hat mit solcher Leichtigkeit geschrieben, mit solcher Leichtigkeit alles wieder überdacht und neu gedacht, dass er oft Manuskripte verschickt hat oder Durchschläge. Manuskripte hat er meistens behalten. Aber es ist auch vorgekommen, dass er sie verschickt hat. Und dann wussten wir nicht, […] wo sie zu suchen. Und das war in der ganzen Welt verstreut eigentlich.« Viele Texte gehen auch während der Übersiedlung von Brasilien nach Europa verloren und später als sie zwischen Merano und Frankreich pendeln und dann definitiv nach Robion ziehen. »Diese unsere […] Odyssee. Sind sie oft verschimmelt, verfault, diese dünnen […] Papiere, auf denen mein Mann geschrieben hat. Weil er auch sie verschicken wollte. […] Vieles ist kaputt gegangen. Und es fehlen sehr viele Manuskripte.« Trotz der Verstreutheit des Werkes hofft Edith Flusser, dass die Gedanken ihres Mannes als Grundlage für weiteres Denken dienen und allgemein zum Weiterdenken anregen. »Denn mein Mann […] wollte unterhalten, Freude machen, [andere] provozieren, sie zum Denken anregen. Das war sein Wunsch und das war gut so.« Ihre Aufgabe sieht sie vor allem darin, das in Brasilien entstandene portugiesische Frühwerk einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu ma-

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chen. »Ich will mich dann noch weiter […] mit den Übersetzungen aus dem Portugiesischen ins Deutsche befassen, damit diese jungen Leute, die das studieren werden, […] die alten Phasen meines Mannes kennenlernen. Denn er hatte damals mit Gedanken und mit Themen sich befasst, die er dann später nicht mehr in dieser selben Form […] aufgenommen hat […] die aber sehr, sehr interessant sind.« Im September 1999 ziehen Edith, Dinah und Benjamin nach Bridgetown auf Barbados, wo Dinah brasilianische Botschafterin ist. Den August 2000 verbringen sie in Dinahs neuer New Yorker-Wohnung am Broadway 1991 in der Nähe des »Lincoln Centers for the Performing Arts«, wo sie ab 2001 definitiv wohnen werden. Von hier aus beschäftigt sich Edith bis in die allerletzten Jahre mit Flussers Nachlass. Sie besucht Symposien in Europa, gibt Interviews, bewirtet die zahlreichen am Werk ihres Mannes interessierten Gäste und übersetzt weiter. Edith Flusser stirbt im September 2014.

F r au , M utter , M itautorin Wenn Edith zu ihrem Leben befragt wird, reagiert sie in der Regel defensiv und weicht aus. In den frühen 1990er Jahren wird sie von Alena Wagnerová interviewt. Sie habe keine große Lust über ihr Leben zu sprechen, sie finde das überflüssig. Vilém habe in Bodenlos schon alles gesagt. Sie fühle sich darin auch vertreten, der Rest sei unwichtig. Als sie kaum 16-jährig Vilém kennenlernt, treffen sie sich in einem kleinen Park in Dejvice, wo er ihr die marxistische Philosophie erklärt. Diese Rollenverteilung wird Edith hinnehmen und sich ein Leben lang zu eigen machen. »Wir haben immer über Philosophie gesprochen?« Das in Prag »begonnene Gespräch«, schreibt Wagnerová, »werden sie ohne Unterbrechung in den nächsten 55 Jahren fortsetzen, zuerst in Prag, dann in London, im weiten Brasilien und später wieder in Europa.« Als Christian Doermer 2004 im New Yorker Interview diskret nachfragt, ob ihr das ewige Gerede aufgestoßen sei und sie ihn deswegen aufgefordert habe aufzuhören, fügt sie verlegen lächelnd hinzu, sie sei stets eine gute Zuhörerin gewesen, man habe ihn einfach nicht zurückhalten können. Der in Israel lebende Cousin, David Flusser, habe sie beide einmal als »vulkanische Menschen« bezeichnet, »platzend vor Energie und Begeisterung.« Es ist wohl auch diese überwältigende innere Antriebskraft und dieser schier unwiderstehliche Drang, sich immer wieder anderen mitzuteilen, die es Flusser ermöglichen, im Gegensatz zu anderen Emigrierten, die Flucht und das Exil erfolgreich zu überleben. Ediths Wahl, ganz und gar für Vilém da zu sein, hat auch mit den Zwängen ihrer neuen Lebenssituation zu tun. Als sie in Brasilien ankommen, müssen sie feststellen, dass ihre Schulabschlüsse nicht anerkannt werden. Edith hätte

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ihr Abitur neu machen müssen. »Ich habe mich ergeben und die Tradition meiner Mutter fortgesetzt, keinen Beruf zu haben«, erzählt sie im Interview mit Wagnerová. »Meine Mutter war eine sehr gescheite Frau, in Prag hatte sie viele Freundinnen, spielte Bridge und traf sich mit ihren Schwestern und ihrer Mutter im Kaffeehaus Berger. Obwohl ich ein solches Leben als Mädchen verurteilt habe, war meine Mutter unbewußt doch ein Vorbild für das Leben einer Frau. Wir waren damals in Prag eine große Familie, und meine Mutter hat intensiv mit ihrer Familie gelebt.« In Bezug auf ihr Verhältnis zu Vilém hält sie Wagnerová gegenüber fest: »Für mich gab es nie das Frauenproblem, weil es das für meinen Mann nicht gab. Wir lebten einer für den anderen. Für meine Tochter ist es ein Problem. Man sagt mir, daß Vilém ganz anders war als die deutschen Männer. Er kannte nicht das geringste Überheblichkeitsgefühl gegenüber einer Frau. Deswegen blieb ich davon verschont. Wenn man von Frauenproblemen sprach, dann sagte es uns nichts. Wir liebten einander. Mein Mann hat mich respektiert, und diesen Respekt hat er auf andere Frauen übertragen. In Brasilien hatten wir viele Frauen um uns herum, meistens Künstlerinnen, er behandelte sie ohne Vorurteile.« Edith ist Flussers wichtigste Gesprächspartnerin und seine schärfste Kritikerin. Die Abhängigkeit ist gegenseitig. Vilém »hat oft gesagt, daß, wenn ich nicht wäre, er nichts machen würde. Ich schreibe nur für dich, sagte er. Es stimmte nicht immer, aber fundamental hat es wohl gestimmt. […] Ich habe viele Fragen gestellt, die er immer beantwortet hat. Er hat mir vorgeworfen, ihn nicht anzufeuern, nicht ehrgeizig genug zu sein. Ehrgeiz macht mir Angst.« Vilém diskutiert nicht über Ideen, die er noch nicht zu Papier gebracht hat. Ist der Text aber einmal fertig, so liest er ihn Edith vor. Wenn sie irgendetwas daran auszusetzen hat, ist Vilém sofort bereit, den Text umzuschreiben. »Manchmal fürchtete ich mich, einen Einwand zu machen, weil er vielleicht zu leichtfertig, unüberlegt sein könnte, weil er immer sofort bereit war – ›ich schreibe es um‹. Und er hat es auch sofort umgeschrieben«, erzählt sie. Dieser steten Bereitschaft Flussers, die Kritiken anderer aufzunehmen und in eine neue Textfassung einzubauen, findet man, wie schon im dritten Teil ausgeführt, auch im Umgang mit seinen Freunden. Wie von verschiedenen Freunden hervorgehoben, war Flusser im alltäglichen Leben auf Ediths stete Präsenz angewiesen. Als diese im Juli 1980 allein nach Brasilien abreist, fährt ihr Vilém, der zuerst noch beschließt, allein in London zurückzubleiben, um zu arbeiten, kurzerhand nach. In einem Brief vom 28. November 1984 an Müller-Pohle aus São Paulo schreibt er: »Edith ist mit ihrer Mutter voll beschäftigt, sodass ich wie ein Schaf im Hochhausdschungel herumirre, und nicht erwarten kann, nach Robion zurückzukommen.« Auf weitere Hinweise, dass Ediths und Viléms Zusammenleben nicht auf ein rein asymmetrisches Verhältnis reduziert werden kann, in dem allein der Mann das Sagen hat, stößt man auch im Interview mit Anke Finger vom

Edith

30. Januar 2007. So erzählt Edith dort, wie sie als 17-jährige den drei Monate jüngeren Vilém abfragt. »Ich hab ihn geprüft, mit ihm gesessen auf der Kleinen Seite und hab ihn verschiedene Materien geprüft. Latein und andere Gegenstände auch. […] Er hat’s gebraucht, damit er kann, für die Schule kann.« Zur Rolle des Zuhörers gehört auch immer ein Moment der Kontrolle und der Macht. Im gleichen Interview erzählt Edith von Viléms Schwäche für Gaumenfreuden. »[…] ich habe Tanzstunden genommen und mein Mann war auch da, ich habe ihn schon gekannt. Er ist aber hingegangen nur meinetwegen und nur um zu essen, weil man da auch Brötchen verkaufte, Sandwiches. Er ist hingegangen, hat nur gegessen, hat nicht getanzt […] Naja, war lächerlich, weil er gefräßig war.« Im New Yorker Interview von 2004 fügt sie hinzu, er habe immer gerne gegessen, sei ein Genießer gewesen, der alles, was ihm das Leben zu bieten hatte, genossen hat. Wie Vera Schwamborn berichtet, achtete Edith »darauf, dass Vilém wegen seiner Gesundheit bestimmte Dinge nur in Maßen aß.« Edith hat aber noch weitere mütterliche Kontrollfunktionen ausgeübt: In einem der zahlreichen Interviews, die Vilém in den späten 1980er Jahren gibt, taucht sie plötzlich auf und fragt den wild gestikulierenden Vilém eindringlich, ob es nicht langsam genug sei. Er müsse seine Gesundheit schonen. Vilém, der natürlich nichts davon hören will, winkt ab und redet weiter auf sein Gegenüber ein.

Abbildung 38: Thilo Mechau: Vilém und Edith Flusser

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K inder und F amilie Im Laufe dieser Biographie ist von Ediths und Viléms Tochter Dinah und ihren beiden Söhnen Miguel und Victor mehrmals die Rede. Obwohl die Familie auf Vilém und dessen Denken und Schreiben zentriert ist, was auch eine Folge von Ediths eigener engen Eingebundenheit in das gemeinsame Werk ist, haben sich Vilém und Edith nachhaltig und konsequent um die drei Kinder gekümmert. Vilém Flusser besitzt, wie schon im ersten Teil festgehalten, auch eine beschützende väterliche Seite, besonders der Tochter Dinah gegenüber. Dies kann man der Korrespondenz mit dem Onkel Karel Flusser, den Cousins David und Otto und Familienfreunden entnehmen, allen voran dem Briefaustausch mit dem schon mehrmals erwähnten jüdisch-tschechischen in den USA ansässigen Lewis Weiner, der auch ein wichtiger Gesprächspartner in Sachen Publikationen und Judentum ist. In einem Brief vom 30. Juli 1960 bedanken sich Vilém, Edith und Dinah dafür, dass Weiner Informationen über ein amerikanisches College eingeholt hat. Dinah, die damals 18-jährig ist, hat ein Stipendium für das Stephens College in Columbia, Missouri erhalten. »Please find out«, schreibt ihm Flusser am 17. Juli eindringlich, »the following: (1) is it segregated? (2) do you think there is antisemitism there? (3) what kind of students are attending […] will she be exposed to the superficial middlewest mentality? (4) what is the intellectual level of the teaching staff?« Und am 30. Juli: »[…] if she goes via New York, we […] shall be very grateful to you, if somebody of your family could meet her at the airport. Although she is a very independent girl, this is her first major trip alone and she might need some moral support. I am afraid she will feel rather lonely on her first day away from home.« Wie in allen anderen Texten von Vilém, wenn hier vielleicht auch in ausgeprägterer Form, spricht durch Viléms Stimme hindurch auch die von Edith. Dinah studiert in der 1945 gegründeten Diplomatenakademie Brasiliens Rio-Branco-Institut in Brasilia. Sie verfolgt eine diplomatische Lauf bahn, die sie quer durch die Welt führen wird: nach München, London, Montevideo, Washington, Den Haag, wieder nach München und schließlich auf Barbados. Victor debütiert als Sänger und Violinist in einem brasilianischen Orchester und absolviert ein Dirigenten- und Kompositionsstudium an der Universität von São Paulo. Mitte der 1970er Jahre beschließt er, in Frankreich Musikologie zu studieren, in Chalons-Sur-Saône, einem Ort zu dem Flusser über Alexandre Bonnier enge Verbindungen hat. Er promoviert und wird Professor für Musiksoziologie an der Universität Straßburg. Victor Flusser entwickelt ein Projekt, das versucht, durch Musik die Beziehungen zwischen Fachkräften, Patienten und deren Angehörigen in Spitälern zu verbessern. Miguel, für den Flusser besonders nach seiner Rückkehr nach Europa mehrfach eine Arbeit sucht, entschließt sich erst spät, eine Karriere in der elektronischen Datenverarbeitung einzuschlagen. Er studiert an der Universidade Presbiteriana Mackenzie in São

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Paulo. Im Herbst 1973 versucht Flusser vergeblich, Miguel, der schon damals Kenntnisse im Bereich des Data Processing hat, bei Alexandre Bonnier und dem japanischen Videokünstler Wen-Ying Tsai (1928-2013) unterzubringen. In einem Brief vom 7. November 1973 aus Merano bittet er diesen, eine mögliche Zusammenarbeit ins Auge zu fassen. Am 30. Juli 1977 schreibt er ungeduldig an Louis Bec: »Viki hat sich endlich entschlossen, nach Frankreich zu fahren, um einen Magister in Musikologie zu machen (wahrscheinlich in Chalon s/s mit Roy), und wird im August abreisen. Was Miguel angeht, so wird er vorerst bleiben, obwohl er seine Arbeit als Computertechniker für den Staat aufgegeben hat und sich ausschließlich Go und tai-dji widmet.« Am 25. September 1979 berichtet er David Flusser stolz davon, dass Miguel in São Paulo inzwischen einen Go-Klub betreibt, Tai Chi unterrichtet und eine Farm in Goiás besitzt, die sich 400 Kilometer nordwestlich von Brasilia befindet. Wie eine kurze Bemerkung an Weiner in einem Brief vom 2. November 1986 bezeugt, ist die Beziehung zum älteren Sohn nicht immer unproblematisch: »[…] and Misha was as charming as always, (you are rigth there).« Dass Miguel, wohl auch um dem dominanten Einfluss des Vaters aus dem Weg zu gehen, sich für Go und nicht Schach entscheidet, könnte in die gleiche Richtung weisen. »Jedes der Kinder hat seinen Charakter«, schreibt er David Flusser. »Dinah ist weltoffen, allerdings hat sie mit Maennern keine gute Erfahrungen, Miguel ist Einzelgaenger und Gruebler, und Viki ist ›engagiert‹« (Brief vom 25. September 1979). In den Briefen an die Familie und intimen Freunde zeigt sich Flusser als traditionsbewusster, für das Wohl der Familie besorgter Vater. »As for the familiy«, schreibt er Weiner am 15. Februar 1981, »Dinah has been appointed councellor at the Embassy in Montevideo. Miguel is preparing his MA on ›hospital computation‹ in S. Paulo, and Viki his PhD on ›musical sociology‹ at Chalon s/ Saone. […] No grandchildren in view. I envy you.« Victor heiratet im April 1983 »a French girl with a Jewish mother«, schreibt er am 30. März 1983. »Miguel visited us a few weeks ago on his way back from Japan to Brazil. He took part in an International Go championship in Osake [sic!]. Dinah […] does not know yet where she will be placed next from Montevideo, may be Tel Aviv? Miguel is involved more and more in system analysis, and, besides, is taking care of his fazenda in Goyaz. Viki is going to Campinas, to teach cultural animation at the University there.« Während ihres Brasilienaufenthalts adoptieren Victor und seine Frau Elisabeth ein Mädchen, der sie den Namen Silvia geben. In einem Brief an David Flusser vom 17. Juni 1989 berichtet Flusser von weiteren familiären Neuigkeiten. »Jetzt hat er auch ebenso einen Buben adoptiert, Daniel, er ist 5 Monate alt und macht ihnen Freude. Und jetzt versucht Dinah dasselbe mit Benjamin (8 Monate) […]. So gehen doch die Flussers auch diesseits weiter. Aber das haetten unsere Großeltern nicht geahnt: aus Rakovník ueber das brasilianische Hinterland ins dritte Jahrtausend.«

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E diths »V ilém « Edith hat zur Entstehung eines gewissen Flusser-Bildes wesentliches beigetragen. Sie hat ihn als selbstvergessenen Intellektuellen und genialischen kreativen Menschen durchgängig heroisiert. Im New Yorker Interview von 2004 spricht sie davon, dass alles und jedes Vilém fasziniert und »heiß« interessiert habe. Vilém habe immer philosophiert. Diese stete Gedankenarbeit erwächst aus Viléms Bedürfnis, alles, was ihm in den Weg kommt zu behandeln. Als er in den ersten Jahren in Brasilien gezwungen ist zu arbeiten, erzählt sie weiter, kommt es immer wieder zu Szenen, die dazu führen, dass man ihn für einen Narren hält. Während er in einer Bank auf jemanden warten muss, verliert er sich so in Gedanken, dass er bald nicht mehr weiß, wo er sich befindet und worüber gerade gesprochen wird. Flusser ist dazu prädestiniert, Schriftsteller zu werden. »Er mußte schreiben«, meint Edith im Gespräch mit Wagnerová. »Er war dazu berufen.« Was den kreativen Akt angeht, so hat Edith Flusser durchgehend die romantisierende Vision des inspirierten Schöpfers verbreitet. Vilém, schreibt sie am 9. Mai 2000 in einer an mich (RG) adressierten E‑Mail, hat »kaum je ein Blatt Papier weggeworfen.« Er »gebrauchte nie Radiergummi« und hat »nie korrigiert. Er schrieb eben von neuem. Von den Schreibmaschinen war er abhängig; es waren immer kleine tragbare Maschinen, die wir auf alle Reisen mitnahmen.« Er hatte den Text »im Kopf und hat ihn auf das Papier gelegt. So war es oft früh, nachdem er den Inhalt in der Nacht ›geschrieben‹ hatte.« Vilém, so weiter Edith im New Yorker Interview, habe nie ein Notizbuch bei sich gehabt, sondern alles im Kopf vor sich her gesponnen. So habe er sich oft in Frankreich nach einem längeren Spaziergang mit dem Hund und einem Gang zur Post vor die Schreibmaschine gesetzt und das zuvor Gedachte einfach aufs Blatt getippt. Er habe »alles perfekt aufgeschrieben. […] Das wars. Fertig. Unglaublich. Ich habe das nie verstanden.« Der Text ist wie aus einem Guss. Flusser schreibt immer ganz allein, in der Einsamkeit seines Arbeitszimmers, ohne Hilfsmittel und ohne Notizen. Dies ändert sich erst im letzten Jahr seines Lebens. Aufgrund einer Augenoperation ist er gezwungen, mit einer Sekretärin, der er die Texte diktiert, zusammen zu arbeiten. In Die Gesten des Schreibens präsentiert Flusser, wie schon zuvor erwähnt, eine deutlich davon abweichende Darstellung: Der Schriftsteller, ist kein Sprachrohr, sondern erlebt den kreativen Akt als einen dauernden Kampf mit der Sprache, deren Widerstand er zu überwinden trachtet. Der Text wird in die Tasten gehämmert. Schreiben ist ein aggressiver ikonoklastischer Akt, nicht ein bloßes Aufschreiben des zuvor Gedachten, sondern der Versuch, dieses durch die verschiedenen Widerstandsschichten zu drücken. Im Laufe dieses Prozesses verändert sich der Inhalt des Gedachten.

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Dass Flusser seine Texte nie korrigiert hat, wird durch verschiedene Typoskripte widerlegt. Schon sein erstes Buch, Das Zwanzigste Jahrhundert, enthält neben von Hand angebrachten Korrekturen, verschiedene Zusätze und Ergänzungen. Dass er allerdings seine Texte nie in derselben Sprache neu schreibt und in der Regel auch nicht von Hand korrigiert, sondern diese immer in eine andere Sprache übersetzt, trifft zu. Die Veränderungen und Umstellungen, von denen es beim Übergang von einer Sprache in die andere oft sehr viele gibt, finden somit nicht auf den schon beschriebenen Seiten statt, wie es üblich ist, sondern ereignen sich im Übergang in die neue Sprache. Umschreiben ist für Flusser übersetzen. Dadurch wirken die einzelnen Varianten tatsächlich so, als wären sie aus einem Guss entstanden. Die verschiedenen Textvarianten, so Edith Flusser, entstehen meistens kurz nacheinander. Dabei ist jedoch nicht klar ist, ob Flusser den zweiten und alle weiteren Texte jeweils aus dem Gedächtnis niederschreibt wie den ersten oder einfach den ersten neben der Schreibmaschine liegenden Text in einer anderen Sprache umschreibt. Für die zweite Möglichkeit spricht die Tatsache, dass die einzelnen Varianten im Vergleich oft so wirken, als hätte Flusser Wort für Wort übersetzt. Letzteres würde bedeuten, dass nur der erste Text – wenn überhaupt – aus dem Gedächtnis niedergeschrieben wird. Dabei wäre es interessant zu wissen, mit welcher Geschwindigkeit die einzelnen Texte in die Schreibmaschine getippt werden. Wann genau und warum Flusser diese doch für sein Denken so prägende Schreibstrategie entwickelt, ist aufgrund der schier unüberblickbaren Quellenlage schwer zu eruieren. In der allerersten Phase seiner Schriftstellerkarriere schreibt er jedenfalls ausschließlich deutsch. Das Portugiesische kommt später dazu. Wie schon erwähnt liegt eine Teilübersetzung von Das Zwanzigste Jahrhundert vor, die neben dem vollständigen Inhaltsverzeichnis auch das erste Kapitel und den ersten Abschnitt des zweiten enthält. Dies ist wohl der erste Versuch einer Selbstübersetzung und könnte möglicherweise auf das Ende der 1950er Jahre zurückgehen. Im New Yorker Interview aus dem Jahr 2004 geht es auch um Flussers Abhängigkeit von der Schreibmaschine. Er hat keinen PC benützen wollen. »Er hatte ja alles im Kopf.« Die Verleger hätten ihn immer wieder aufgefordert und schließlich dazu gezwungen, sich per E‑Mail zu verständigen. »Er war so fortschrittlich in seinen Gedanken […]. Es war ein Theater, diese E‑Mail zu installieren. Damit umzugehen, war sehr schwer für ihn.« In dieser Erinnerung akzentuiert Edith Flusser einmal mehr Viléms Schwierigkeit, sich in praktischen Alltagssituationen – ohne ihre Hilfe – zurechtzufinden. Ein weiteres Mythologem, dem man schon in der brasilianischen Zeit begegnet, ist Flussers erstaunliches Gedächtnis. Vilém, so weiter Edith im Interview, konnte ganze Bücher auswendig. Als ich (RG) Edith im Archiv in München auf die Tatsache anspreche, dass praktisch alle Bücher von Flussers

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Reisebibliothek keine einzige Randanmerkung oder Unterstreichung aufweisen, erzählt sie mir, sie könne sich an Situationen erinnern, bei denen Vilém nur leicht mit den Fingern über ein Buch streicht und am Tag danach den ganzen Inhalt weiß. Auch hier gibt es Beispiele die solch mythisierende Verallgemeinerungen in Frage stellen. So finden sich in der Reisebibliothek Bücher, in denen Flusser eine ganze Reihe von Annotationen angebracht hat, beispielsweise eine Taschenbuch-Ausgabe von Simone Weils L’enracinement aus dem Jahr 1949. Flusser ist in einer Zeit zur Schule gegangen, wo man noch stark mit auswendig gelernten Passagen, vor allem aus literarischen Texten, operiert. Dies erklärt zum Teil seine heute fast anachronistisch wirkende Fähigkeit, aus dem Stehgreif längere lateinische Zitate oder ganze Passagen aus Goethes Faust zum Besten zu geben. Flusser, so Edith, hat auch gerne längere Passagen aus Opern während der langen Autofahrten quer durch Europa vor sich her gesungen. Zum Schluss möchte ich noch eine weitere Anekdote aus Ediths und Viléms gemeinsamem Leben anführen, die auf treffende Art und Weise ihr Verhältnis auf den Punkt bringt und zugleich so etwas wie ein Gefühl der Trauer und Resignation vermittelt. Im New Yorker Interview erzählt Edith von ihrem Glauben. Sie seien beide fromme Juden, wenn auch nicht praktizierend. Als sie einmal in Paris am Jom Kippur beschließen, zur Feier des Tages in eine Synagoge zu gehen, wird Vilém wie ein bedeutender Rabbi in den Kreis der Betenden aufgenommen. Man führt ihn nach vorne in die erste Reihe und behandelt ihn wie einen großen jüdischen Weisen. Mit seinem intellektuellen intelligenten Gesicht habe er auch so ausgesehen, fügt Edith hinzu. Sie lässt man einfach draußen stehen. Zum Schluss findet sie einen Sitzplatz in der Empore ganz oben, in der hintersten Reihe.

Das Netz der Freunde

»Das, glaube ich, zeigt, was Freisein bedeutet. Nicht das Zerschneiden der Bindungen an andere, sondern das Flechten dieser Verbindungen in Zusammenarbeit mit ihnen.« Vilém Flusser, Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit

Nach Bekanntwerden von Viléms Tod lagert Louis Bec in Robion sofort alle Typoskripte und die gesamte Bibliothek ein. Am 22.-23. März 1992 kommt es in Straßburg zur Gründung einer Vereinigung der Freunde und Mitarbeiter Vilém Flussers unter dem Namen Supposé/Angenommen – Netzwerk der Freunde Vilém Flussers. Unter den Anwesenden sind Edith Flusser, Louis Bec, Fred Forest, Andreas Müller-Pohle, Florian Rötzer, Milton Vargas, Friedrich Kittler, Andreas Ströhl, Stefan Bollmann, Klaus Sander, Thomas Knöfel und Vera Schwamborn. Es wird das einzige Treffen des Netzwerks sein. Die Vereinigung verfolgt prinzipiell zwei Zielsetzungen: die Erhaltung und Förderung des Denkens Vilém Flussers und die Weiterentwicklung von Flussers transdisziplinärem Denken in Form von Ausstellungen, Publikations- und Veranstaltungsprojekten durch die Netzwerk-Teilnehmer. Das erste Ziel soll durch Sicherung und Aufarbeitung des Manuskriptbestands und dessen Publikation erreicht werden sowie durch die Anregung und Unterstützung der philosophischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Flussers Werk. Ein weiteres wesentliches Ziel ist dabei der Auf bau eines Flusser-Archivs. Der Bollmann Verlag und European Photography sollen drei Mal jährlich einen Newsletter veröffentlichen.

D as A rchiv in D en H a ag Das Netzwerk, so Vera Schwamborn, wird mit der expliziten Absicht gegründet, Flussers originelle Denkweise in einer passenden unkonventionellen Form weiterleben zu lassen. Dabei soll »ein Archiv der ganz anderen Art« entstehen, welches die neuen technischen Möglichkeiten des Computers nutzt. Man will

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mittels eines Begriffe-Suchprogramms einen Zugang zum gesamten Werk ermöglichen. Das neue Archiv zieht an die Ridderlaan 59 in Den Haag. Dies ist zugleich die Postadresse des Netzwerkes. Die Ridderlaan 59 befindet sich unweit des Hubertusparks und in der Nähe des Stadtteils von Scheveningen. Es handelt sich dabei um ein dreistöckiges idyllisch gelegenes Backsteineckhaus, das sich gegenüber einem kleinen mit Bäumen umstandenen Gewässer befindet. Die Wohnung befindet sich im zweiten Stock. Edith ist den ganzen Tag im Archiv tätig. In der allerersten Phase des Auf baus arbeitet neben ihr auch Karin Lauerwald, die den Schnitt in Michael Bielickys Videodokumentation Vilém Flussers Fluß übernommen hat. Die Arbeit des tschechischen Medienkünstlers erscheint zwei Jahre später in der Edition 235 in Köln. Vera Schwamborn, die zwischen dem Herbst 1992 und dem Frühjahr 1993 im neuen Flusser-Archiv in Den Haag arbeitet, lernt Edith und Vilém am 21. Februar 1989 im Rahmen einer Veranstaltung der Kunstakademie Nürnberg kennen. Sie ist 24 Jahre alt, fotografisch tätig und kennt Für eine Philosophie der Fotografie. Schwamborn stellt Flusser unorthodoxe Fragen, was diesen sichtlich amüsiert und herausfordert, da die anderen Studenten, so Schwamborn, ihm eher affirmative Ehrerbietung entgegenbringen. Mit Zustimmung habe er nie etwas anfangen können, meint sie in einem unpublizierten Videointerview vom 2. Oktober 2014, er habe stets so etwas wie Widerstand gebraucht. »Es war Edith«, so weiter Schwamborn in einem Bericht an die Verfasser, »die an jenem Tag den Adressaustausch vornahm und mich nach Robion einlud. Vilém war für das Intellektuelle zuständig, Edith für das Organisieren drumherum.« Der erste Besuch in Robion findet Mitte Juli statt. Schwamborn spricht von der starken Präsenz Flussers als Vortragender und seiner Fähigkeit, sich trotz unvermeidlicher Wiederholungen immer wieder zu erneuern, was zur Entwicklung eines »Universum[s] in Varianten« führt. Als sie ihm bei ihrer letzten Begegnung Mitte Oktober 1991 im Hotel Königshof am Stachus in München von einem Vortrag des damals 91-jährigen Hans-Georg Gadamer erzählt, fragt er sie, worüber dieser gesprochen habe, und fügt hinzu. »Hermeneutik, oder? Ich möchte im hohen Alter nicht immer wieder über dasselbe sprechen …« Manchmal, so weiter Schwamborn, hatte Flusser »etwas von einem Trickster an sich: Egal, was ihm zugeworfen wurde […], er drehte und wendete die Dinge so lange, bis den Zuhörern die eigene Denkordnung um die Ohren flog.« Schwamborn, die Flusser in seiner wohl hektischsten Lebensphase kennenlernt, spricht von einer anarchistischen Komponente in seiner Person und seinem ununterbrochen Präsent-Sein an immer wieder neuen Orten. Dies war nur dank Ediths stetem Einsatz möglich. »Sie besorgte A4-Papiere und die immer schwerer erhältlichen Farbbänder für die Schreibmaschine, sie erledigte die Korrespondenz und Organisation, sie fuhr Vilém von A nach B zwischen allen Vorträgen. Vor dem Hintergrund einer solchen Rundum-Versorgung konnte sich Vilém nach Herzenslust dem Schaffen verschreiben.« Im

Das Net z der Freunde

Videointerview beschreibt Schwamborn die Beziehung zwischen Vilém und Edith als eine Einheit, etwas Komplementäres. Denken und Organisation hätten sie wie »in einem Ballett fast«, einem »Tanz zusammen gemacht.« Nach Viléms Tod gibt es nichts mehr »zu organisieren, zu vermitteln […] Und es war dieses Werk da. Und deshalb hat sie eben tagtäglich auch daran gearbeitet, übersetzt und gemacht, damit sie einfach auch irgendwie wie an ihm dran war. Ja, das war also auch eine lange, lange Trauerarbeit. Dadurch hat sie das auch irgendwie geschafft, das überhaupt zu verkraften.« Im Juli 1992 fährt Schwamborn für eine Woche ins Archiv in Den Haag, um eingearbeitet zu werden. Anfang September beginnt sie dort zu arbeiten und zieht in einen Raum innerhalb der Archivwohnung. Als sie ankommt, sind die meisten aus Robion eingetroffenen Kisten schon ausgepackt. Die Reisebibliothek, die vielen Typoskripte und losen Blätter sind vorsortiert und zugänglich gemacht worden. Schwamborns Hauptaufgabe ist es, das Werk im Hinblick auf spätere Nutzer des Archivs thematisch über den Computer zugänglich zu machen. Die dafür nötige Software entwickelt Miguel Flusser, der regelmäßig aus Brasilien für ein bis zwei Wochen anreist und in der Organisation des Archivs mithilft. Schwamborn entwickelt ein Keyword-Manual, das Benutzer-Hinweise enthält. Die Instandsetzung des Computer-Systems dauert ungefähr ein halbes Jahr. Das Schlagwort-System besteht aus knapp 180 Keywords oder Kürzel. Diese reichen von ›Afrika‹, ›Arbeit‹ und ›Arendt‹ über ›Kant‹ und ›Kunst‹ bis hin zu ›Video‹ und ›Zentralnervensystem‹. Die einzelnen Dokumente sind durch acht unterschiedliche Keywords auffindbar. Dies ermöglicht zugleich einen Überblick über die Hauptthemen eines spezifischen Textes. Mit dem System können auch kombinierte Abfragen getätigt werden. Zur leichteren Auffindbarkeit von Keywords in Bezug auf ihren Bedeutungshorizont ist die Keyword-Liste in sieben Gruppen aufgeteilt: 1. Namen, 2. Kultur-Gesellschaft-Politik, 3. Kunst, 4. Philosophie-Phil./Relig.-Begriffe und Konzepte, 5. Zeit-Zeiten-ZeitverläufeGeschichte-Epochen, 6. Natur-Natur-Wissenschaft(en)-Technik-Apparate und 7. Sprache(n)-Bilder-Codes-Kommunikation-Medien. Einige Keywords tragen dem dialektischen Denken Flussers Rechnung, der immer zugleich auch an die andere Seite eines jeweiligen Begriffes denkt. Zudem werden für zentrale wiederkehrende Begriffskombinationen in Flussers Denken eigenständige Keywords definiert. Insgesamt sind es sechs: MAHIPO (Magisch-HistorischPosthistorisch) für Flussers Dreistufenmodell der Geschichte, PHPOOE (Philosophie-Politik-Ökonomie) für die platonische Dreiteilung der Polis, OBSUPR (Objekt-Subjekt-Projekt) für die Überwindung der Objekt/Subjekt-Beziehung im Projekt, KUWISS (Kunst und Wissenschaft) für die Dreiteilung Politik, Wissenschaft, Kunst und die damit verbundene Triade aus der deutschen Klassik das Gute, Wahre und Schöne, WWW (warum-wofür-wie) für die Unterscheidung kausal, final, formal, und schließlich noch WIR (Ich-du-wir), für die

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dialogische Ich/Du-Beziehung und die Selbstvergessenheit im Wir. Eine letzte Abfrage-Möglichkeit im Bereich der Keyword-Felder ist das Kürzel *FICT, welches alle Texte kennzeichnet, die einen offenkundigen Fiction-Charakter haben, die Philosophiefiktionen, die philosophischen Märchen und die fingierten Briefe. Verglichen mit der thematischen Verengung die Flussers Denken in der ersten Phase seiner Rezeption in Deutschland widerfährt, verweist dieses erste System nicht nur auf die enorme thematische Bandbreite, sondern auch auf wesentliche methodologische Aspekte seines Werkes. Wie Schwamborn berichtet, ist Edith von dieser Art des Zugangs zu Flussers Werk nicht wirklich überzeugt, setzt sie doch auf Übersetzungen der portugiesischen Texte und weitere Publikationen, zwei Strategien, die auch Vilém ins Zentrum seiner Schreibtätigkeit rückt. »Ediths Priorität lag eindeutig bei der Veröffentlichung der zahlreichen noch unbekannten Artikel, weshalb sie auch schnell, in meinen Augen zu schnell, den Publikationswünschen Stefan Bollmanns entsprach. Als Edith und ich uns über das weitere Vorgehen so gar nicht mehr einig waren, bin ich nach München zurückgegangen und Klaus Sander hat meinen Platz in Den Haag übernommen. Er bereitete dann gemeinsam mit Edith zahlreiche Manuskripte für die Publikation im Bollmann Verlag vor.« Das von Vilém und Edith über Jahre hinweg praktizierte Forcieren von immer neuen Publikationen hat natürlich seinen Preis. So beklagt sich schon bei seiner ersten französischen Buchveröffentlichung 1973 Moles über eine Reihe von gravierenden Fehlern, was implizit vielleicht auch eine Kritik an der überhasteten Art und Weise ist, mit der Flusser insgesamt seine Texte bei Verlagen, Zeitschriften und Zeitungen unterbringt. Flusser scheint es dabei vor allem um eine möglichst breite internationale Publikumswirkung zu gehen, was natürlich seiner in Briefen immer wieder betonten Gleichgültigkeit gegenüber den Verlockungen des Ruhms widerspricht. Diese Grundhaltung lässt über mögliche Fehler hinwegsehen. Auch hier geht es Flusser um das große Ganze und nicht um das unscheinbare Detail. Darin ist ihm auch Edith gefolgt. Ihre Übersetzungen gehen oft sehr freizügig mit dem Original um. Vergleicht man Vom Zweifel und Vogelflüge mit den portugiesischen Originalen, so stößt man auf eine ganze Reihe von Veränderungen, Kürzungen und Umstellungen. Diese sollten aber nicht einseitig als unbefugte Eingriffe betrachtet werden. Edith hat nach den gleichen Prinzipien der Selbstübersetzung gearbeitet wie Vilém: sie hat ein neues Original geschaffen. Vilém hat bei der Anfertigung seiner parallelen mehrsprachigen Versionen immer wieder eigenwillig Paragraphen umgestellt, Sätze gestrichen und hinzugefügt, die Interpunktion geändert, neue Perspektiven eingeführt und andere gestrichen. Ediths Übersetzungen sind nicht dem Original treu, weil das dem Geist des dezentrierenden vervielfältigenden Flusser’schen Schreibens grundsätzlich widersprechen würde. Ihre Treue gilt den Absichten des Autors, dem Grundimpetus seiner Kreativi-

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tät. In diesem Sinne hat sie auch nach Flussers Tod am Werk aktiv weitergeschrieben. Im New Yorker Interview von 2004 liest Edith ganz zu Beginn aus einem von ihr ins Deutsche übersetzten Brief Vilém Flussers an Milton Vargas vor. Man könnte dies als eine späte Appropriation von Viléms Arbeit missverstehen, es handelt sich dabei aber vielmehr um eine extreme Form der Identifikation, bei der die eigene Person von der des anderen kaum noch zu unterscheiden ist. In einem Interview zur Arbeit der beiden amerikanischen Regisseure Ethan und Joel Coen berichtet einer der Schauspieler von deren äußerst engen Zusammenarbeit. Da wo einer aufhöre, würde der andere einfach weitermachen, übergangslos fast. Ihre fugenlose kreative Zusammenarbeit beschreibt er als die eines zweiköpfigen Monsters, ein treffendes Bild, das man auch für Viléms und Ediths jahrzehntelange symbiotische Beziehung und Zusammenarbeit anwenden könnte.

Abbildung 39: Ed Sommer: Vilém und Edith

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Wie tief diese gegenseitige Abhängigkeit geht und wie weit sie in Ediths und Viléms Beziehungsgeschichte hineinreicht, verdeutlicht ein Brief vom 10. August 1948 an David Flusser. Der letzte, auf Englisch verfasste und mit der Schreibmaschine getippte Abschnitt des handgeschriebenen tschechischen Briefes zeigt auf, wie früh Flusser schon die radikale kulturelle Diversität dem, was er im Brief die »alleinseligmachende European culture« nennt, vorzieht. »Edith asks me to react more fully to two quite incredible passages of your letter […] namely to your theory of an existing universal culture and to your theory of the reasons why there are people who assert diversity of cultures. Both theories I consider far to silly to reply […] but on Edith’s request I want to add these obvious remarks.« Edith habe sich besonders darüber aufgeregt, dass er den rein lokalen Charakter Chinas betone und Indien einfach ignoriere. »This, she maintains, is due to a simply incredible European prepotence and to the fact that Europeans do not travel as much as the rest of the population of the globe. […] Had you seen for instance the US or Brazil as we have you would certainly change your mind.«

S ymposien In Den Haag beschließt das Netzwerk der Freunde Vilém Flusser auch, jährliche Symposien zu halten. Das erste findet im November 1992 im selben Raum des Prager Goethe-Instituts statt, in dem Flusser am 26. November 1991 seinen letzten Vortrag hält. Diese wie alle weiteren dreitägigen Flusser-Symposien in Prag entstehen auf Ströhls Initiative hin und unter seiner Leitung. Ströhl arbeitet mit Michael Bielicky zusammen, der für den Medienkunstaspekt zuständig ist. Die Themen der nachfolgenden Symposien gehen in der Regel aus der Abschlussdiskussion des jeweils vorangegangenen Symposiums hervor. Das letzte, das sich dem Thema »Flusser Medien Film« widmet, findet 1997 statt. Danach gibt es noch zwei weitere Flusser-Symposien in Prag, die jedoch nicht mehr zur ersten Reihe gehören: 2001 »Excavating the Future« und 2007 »Für eine Philosophie der neuen Zeit. Vilém Flusser und die europäische Moderne.« Parallel zu dieser Reihe findet eine Serie internationaler Veranstaltungen an jährlich wechselnden Orten statt: 1993 Antwerpen, 1994 Graz, 1995 München, 1996 Tutzing und Würzburg, 1997 Budapest, 1998 Bielefeld, 1999 Puchheim, São Paulo und Rio de Janeiro, 2000 Tokio, 2001 Monte Verità bei Ascona, 2002 Kassel, 2004 Boston und Philadelphia, 2006 Germersheim, 2007 Weimar und Prag, 2008 São Paulo, 2010 Rio de Janeiro, 2011 Ouro Preto, 2012 Fortaleza und Natal, 2013 Storrs, 2014 Berlin, 2016 Den Haag. Edith nimmt an den meisten Symposien persönlich teil und sitzt in der Regel in der vordersten Reihe. Das erste Prager Treffen von 1992 wird von ihr und Jochen Bloss gemeinsam eröffnet. Es nehmen David Flusser, Stefan Boll-

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mann, Florian Rötzer, Friedrich Kittler, Irmgard Zepf, Raimund Stecker, Josef Moucha, Fred Forest, Louis Bec, Michael Bielicky, Petr Rezek, Peter Weibel, Ivo Janoušek und Egon Bunne teil, die mit der sich damals noch zaghaft herausbildenden tschechischen Szene über Nachgeschichte, Schrift und Fotografie sowie Telematik diskutieren. Das letzte Symposium, an dem Edith teilnimmt, findet 2007 erneut in Prag statt. Sie ist inzwischen 87 Jahre alt. Die beiden Söhne Miguel und Victor begleiten sie. An den nachfolgenden Treffen nimmt sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr teil.

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Im Zeichen der Zerstreuung

»Kafka sagt: Erstens kann man nicht schreiben, zweitens kann man nicht deutsch schreiben, drittens kann man nur deutsch schreiben und viertens kann man nicht leben, ohne zu schreiben. Das ist mein Motto.« Vilém Flusser in einem Brief an Alex Bloch

Flussers bodenloses rastloses Leben hat einen Niederschlag in seinem Werk gefunden, und dies gleich auf mehrfache Art und Weise. Sein transdisziplinärer Denkstil, auf der Grenze der Diskurse zwischen Wissenschaft und Kunst, sprengt sämtliche Kategorien. Die Verschiedenheit der Ansätze und die Heterogenität der Themen führen in den ersten Jahren nach seinem Tod dazu, dass seine Werke in Buchhandlungen oft in verschiedenen Abteilungen angeboten werden. Zentrifugale und zentripetale Kräfte, Fragmentierung und Synthese halten sich dabei jedoch weitgehend die Waage. Flusser ist zwar seiner ursprünglichen These der grundlegenden Fiktionalität der Weltdeutungen treu geblieben, was für eine gewisse innere Kohärenz sorgt. Er hat aber im Laufe seiner Karriere immer wieder neue Themen in sein Repertoire aufgenommen und dadurch ein vielschichtiges mehrdeutiges Werk geschaffen, das man mit einer sich langsam ausdehnenden Spirale vergleichen könnte. Am 26. Oktober 1979 schreibt er Alex Bloch auf die Spannung zwischen bewusstem Selbstentwurf und Kontrollverlust beim Schreibprozess hinweisend: »Schreiben ist wie ein Spiegellabyrinth, das man baut, während man sich darin verliert.« Da Flusser fast alle seine Texte mehrfach übersetzt und rückübersetzt hat, liegt das Gesamtwerk in vier unterschiedlichen Sprachen vor. Seine Texte sind Teil eines gigantischen Netzes, ein sich in die verschiedensten Richtungen ausdehnender Irrgarten, in dem sich der Autor verbergen kann und der Leser verlieren soll. Vor der schieren Vielfalt der Texte und Sprachen ist es einfach, den Überblick zu verlieren. Fast jeder Text besitzt eine zweite, dritte oder vierte Version in einer anderen Sprache und manchmal auch eine oder zwei weitere gleichsprachige Fassungen. Neben dem Sprachwechsel spielt – besonders für das Spätwerk – ein komplementäres Prinzip der medialen Umwandlung, ein hin und her Springen zwischen unterschiedlichen medialen Ausdrucksfor-

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men eine wichtige Rolle. Das wichtigste Wachstumsprinzip dieses Textuniversums, das auf verschiedenen Ebenen aktiv ist, heißt: Aus einem mache viele. Diese im Werk und der Methode angelegte Tendenz zur Vervielfältigung und Zerstreuung hat auch die Veröffentlichung seiner Werke kontaminiert. Dies lässt sich anhand einer kurzen Geschichte der verschiedenen verlegerischen Versuche der letzten 25 Jahre in Deutschland aufzeigen.

D eutschl and Als Flusser stirbt, ist nur ein relativ begrenzter Teil seines mehrsprachigen Werkes publiziert worden. Zu Beginn der 1990er Jahre lanciert Stefan Bollmann daher eine Nachlass-Ausgabe von seinen Schriften, die er zusammen mit Edith Flusser und der Mitarbeit von Klaus Sander herausgibt. Das VilémFlusser-Archiv in Den Haag ist mit von der Partie. Von den insgesamt 14 geplanten Bänden, die bis Ende der 1990er Jahre hätten vorliegen sollen, werden schlussendlich nur 5 publiziert. 1993 erscheinen die ersten zwei Bände Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien und Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung. 1994 folgen der dritte und der fünfte Band, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung und Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung. Für das Frühjahr 1995 wird als vierter Band Umbruch der menschlichen Beziehungen. Schriften zur Kommunikologie angekündigt, der im ursprünglichen Editionsplan fehlt. Dieser erscheint im Januar 1996, unter dem neuen Titel Kommunikologie. Im ursprünglichen Editionsplan ist als Band vier Lesen, schreiben, rechnen. Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code vorgesehen. Die weiteren geplanten Bände sind: Das Märchen der Wahrheit. Glossen und Philosophiefiktionen (Band 6), Seßhafte und Nomaden. Für eine neue Anthropologie (Band 7), Mittelmeer-Gespräche. Religiosität und Freiheit (Band 8), Telematische Kultur (Band 9), Warten auf Kaf ka. Philosophieren zwischen den Sprachen (Band 10), Chaos und Ordnung. Wissenschaft, Technik, Kunst (Band 11), Bis ins dritte und vierte Geschlecht (Band 12), Das Zwanzigste Jahrhundert (Band 13) und Dialogische Existenz. Über andere und über sich selbst (Band 14). Bollmanns Schriften-Projekt weist verschiedene konzeptuelle und verlegerische Schwächen auf. So sind die ersten vier Bände vom Titel her zwar als Monographien angelegt, enthalten aber zahlreiche andere themenverwandte Essays, deren Wahl und Reihenfolge nicht immer einleuchtend ist. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist Band 6, dessen Titel, Das Märchen der Wahrheit, aus einem kurzen Text Flussers stammt und eindeutig mehr verspricht, als er hält. Im Archiv ist ein zweiseitiges Inhaltsverzeichnis einsehbar: ein Sammelsurium verschiedenster deutscher und portugiesischer Texte aus unterschiedlichen Momenten von Flussers Schriftstellerkarriere, die nur ganz

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lose durch deren fiktionalen Charakter zusammengehalten werden. Eigentlich handelt es sich dabei um Vorarbeiten zu den bei European Photography erschienenen Philosophiefiktionen Vampyroteuthis infernalis und Angenommen. Die beiden schon bei Bollmann veröffentlichten Bände Gesten. Versuch einer Phänomenologie (1991) und Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie (1992), die in einer Edition von Flussers Schriften nicht hätten fehlen dürfen, werden aus nicht einsehbaren Gründen nicht aufgenommen. Bei der Reihenfolge der Bände ist zudem weder ein klares chronologisches noch ein eindeutiges thematisches Schema erkennbar. Flussers erstes Werk Das Zwanzigste Jahrhundert und Bis ins dritte und vierte Geschlecht, die aus den 1950er bzw. den 1960er Jahren stammen, sind als Band 12 bzw. 13 vorgesehen. Die zwei Pilotbände werden in der Presse für die Übersetzungsleistung gelobt, enthalten aber insgesamt nur acht Übersetzungen von kürzeren Texten: vier aus dem Portugiesischen von Edith Flusser sowie je zwei aus dem Englischen und Französischen. Alle anderen Texte liegen schon in einer deutschen Fassung vor. Gerecht wird man Flussers radikalem mehrsprachigem Schreiben dadurch nicht. Parallel zur gebundenen Schriften-Edition publiziert der Bollmann Verlag zwei Taschenbücher, die man durchaus in die Gesamtausgabe hätten aufnehmen können: Von der Freiheit der Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus (1994) und Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen (1995). 1995 erscheint zudem eine weitere Textkompilation, Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, der 1996 in die zweite Ausgabe geht. Man wird den Verdacht nicht los, dass es dem Verleger vor allem darum geht, die noch nicht publizierten thematisch aktuellen Texte so schnell wie möglich dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich zu machen. Bollmanns verlegerische Tätigkeit surft auf der Welle der einengenden, aber medienwirksamen Vorstellung Flussers als ›digitaler Denker‹. Die fünf publizierten Bände der Schriften-Ausgabe sind inzwischen nur noch antiquarisch erhältlich. Die Publikationsrechte gehen noch in den 1990er Jahren an den Fischer Verlag, der neben einigen Bänden der Schriften-Ausgabe auch Bodenlos und Gesten neu auflegt. 1992 publiziert dieser eine Taschenbuchausgabe von Die Schrift, die inzwischen vergriffen ist. 1997 erscheint bei Fischer ebenfalls Medienkultur eine weitere von Stefan Bollmann herausgegebene Textkompilation, die das festgefahrene Bild Flussers als Medienphilosophen bestätigt und die Erwartungen des deutschen Lesepublikums bedient. Dieser Text wird ins Italienische übersetzt und erscheint 2004 bei Bruno Mondadori in Mailand unter dem Titel La cultura dei media. Nach Für eine Philosophie der Fotografie ist Medienkultur im deutschen Sprachraum immer noch eines der am besten verkauften Bücher. Die Rechte für Jude sein und Von der Freiheit des Migranten gehen vom Bollmann Verlag an den Philo Verlag und sind nun bei der Europäischen Verlagsanstalt, die beide Bände kürzlich (2014 bzw. 2013) neu aufgelegt hat. 2009 erscheint, ebenfalls bei Fischer, Kom-

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munikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen mit einem Vorwort von Friedrich Kittler und einem Nachwort von Silvia Wagnermaier. Dies ist zugleich die letzte Erstveröffentlichung von einem Werk Flussers im deutschen Sprachraum. Ein Grundproblem von Bollmanns gescheitertem Versuch einer umfassenden Ausgabe von Flussers Nachlass-Schriften ist die Tatsache, dass die Publikationsrechte für die fünf wichtigsten Titel, die in den 1980er erschienen und für Flussers Ruhm verantwortlich sind, bei Müller-Pohle und dessen Verlag European Photography liegen. Dieser lanciert 1996, wohl auch als Antwort auf Bollmanns verlegerische Tätigkeiten in Sachen Flusser, eine eigene auf zehn Bände angelegte Edition Flusser, die im Frühjahr 1998 erscheinen soll. In einem Rundschreiben vom 20. Mai 1996 verweist er explizit auf Unterschiede zu Bollmanns Schriften-Ausgabe und Besonderheiten der neuen Edition Flusser. Diese umfasst das vollständige monografische Werk Flussers, das von 1983 bis 1989 bei European Photography und Immatrix Publications publiziert worden ist: Band III – Für eine Philosophie der Fotografie, Band IV – Ins Universum der technischen Bilder, Band V – Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Band VI – Vampyroteuthis infernalis und Band VII – Angenommen. Eine Szenenfolge. Müller-Pohle verweist auf die Tatsache, dass er Flusser in den frühen 1980er Jahren für den deutschen Sprachraum »entdeckt« und diesen bis zu seinem Tod »hauptverlegerisch« betreut hat. Die geplante Edition Flusser versteht sich als eine authentische originale Werkausgabe: Flusser hat noch selbst zu Lebzeiten alle Texte autorisiert. »Erfundene Überschriften, Textkompilationen und ähnliches«, so Müller-Pohle, der damit eindeutig Bollmanns Unterfangen ins Visier nimmt, »sind in der Edition Flusser nicht zu finden.« Die Edition soll um fünf Bände erweitert werden: Band I – Quellen (eine vollständige Bibliographie sämtlicher bekannter Flusser-Texte, herausgegeben von Klaus Sander in Zusammenarbeit mit dem Flusser-Archiv, das sich zu diesem Zeitpunkt noch in München befindet), Band II: Die Geschichte des Teufels, (1996), zuerst 1993 bei European Photography publiziert, Band VIII: Standpunkte. Texte zur Fotografie (1998), eine Sammlung von Texten zur Fotografie, herausgegeben von Andreas Müller-Pohle), Band IX: Zwiegespräche. Interviews 1967-1991 (1996), herausgegeben von Klaus Sander und Band X: Briefe an Alex Bloch (2000), herausgegeben von Edith Flusser und Klaus Sander. Band I der Edition Flusser, obwohl schon zu weiten Teilen fertig, ist bis jetzt leider noch nicht publiziert worden. 2006 wurde Vom Zweifel, in einer Übersetzung von Edith Flusser, als Edition Flusser 0.1, anstelle des vorgesehenen Quellen-Bandes publiziert. Die Edition Flusser ist im Vergleich zur Schriften-Ausgabe zwar eindeutig kompakter im Auf bau und enthält einen deutlichen thematischen Schwerpunkt. Als Gesamtprojekt betrachtet fällt aber einmal mehr das Zusammengesetzte und Unabgeschlossene auf. Im Gegensatz zum Bollmann Verlag hat European

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Photography dafür gesorgt, dass sämtliche Titel der Reihe im Buchhandel immer noch erhältlich sind. Der Hanser Verlag hat in der von Michael Krüger herausgegeben Edition Akzente zwei thematisch verwandte Bändchen veröffentlicht: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen (1993), mit einem Nachwort von Florian Rötzer und Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur (2000). Der erste Band versammelt kurze phänomenologische Essays zu Alltagsgegenständen, von denen einige in La force du quotidien aufgenommen worden sind. Der zweite enthält phänomenologische Betrachtungen zum Verhältnis von Natur und Kultur und ist eine Übersetzung Edith Flussers des 1979 in Brasilien publizierten Essaybandes Natural:mente, worauf im Buch jedoch nicht hingewiesen wird. Zusammen mit dem publikumswirksameren Titel hat dies dazu geführt, dass Kritiker zu Recht den fehlenden Gegenwartsbezug bemängelt haben. Zwischen den zwei Veröffentlichungen liegen nicht nur 30 Jahre, sie sind auch durch die Sprache und den radikal unterschiedlichen kulturellen Kontext getrennt. Dass Flusser ein mehrsprachiges Werk hinterlassen hat, vor allem ein frühes portugiesisches und ein spätes deutsches, die sich vielfach voneinander unterscheiden und doch immer wieder aufeinander verweisen, ist erst ungefähr ab 2005 in der Werkrezeption wahrgenommen und systematisch untersucht worden Ein weiteres Beispiel für die hier festgestellte zentrifugale Tendenz der Publikationsgeschichte von Flussers Werken im deutschen Sprachraum betrifft eine Gruppe von Texten, die sich mit dem Thema des Designs beschäftigen, und wohl einmal mehr aus kurzfristigen verlegerischen Gründen aus dem Gesamtwerk herausgelöst worden sind. Neben den Medien, dem Digitalen und der Kommunikation ist der Flusser der 1990er Jahre auch als Apostel des Designs bekannt gemacht worden. Die erste Flusser-Rezeption beschäftigt sich vor allem mit der modisch-aktuellen Seite seines Denkens: Eine geschäftstüchtige Fiktion, die von verschiedenen Verlegern in England, Italien und Brasilien aufgenommen worden ist. Habent sua fata libelli. 1993 erscheint beim Steidl Verlag in Göttingen die Essaysammlung Vom Stand der Dinge herausgegeben und mit einem Nachwort von Fabian Wurm. 1999 publiziert der Reaktion Verlag in London The Shape of Things. A Philosophy of Design mit einer Einführung von Martin Pawley. Diese Sammlung enthält sämtliche Texte aus Vom Stand der Dinge zusammen mit fünf weiteren Arbeiten aus Dinge und Undinge. Das Buch wird in der Folge noch drei Mal neu aufgelegt. Eine Neuauflage von Vom Stand der Dinge ist im Herbst 2016 erschienen. Im Copyright-Vermerk der englischen Ausgabe wird neben dem Hanser Verlag auch der Bollmann Verlag angegeben. Somit ist neben den schon erwähnten Jude sein, Von der Freiheit des Migranten und Medienkultur, Vom Stand der Dinge die vierte auf den Bollmann Verlag zurückgehende Textkompilation. Man kann nicht umhin festzustellen, dass diese spezifische verlegerische Praxis zum Scheitern des Gesamtwerkprojektes beigetragen haben

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muss. 2003 erscheint bei Bruno Mondadori in Mailand Filosofia del design, das textidentisch mit der Auswahl des Reaktion Verlags ist. 2007 schließlich publiziert der brasilianische Verlag Cosac Naify in São Paulo O mundo codificado, welches einmal mehr auf dem erfolgreichen verlegerischen Mix aus Vom Stand der Dinge und Dinge und Undinge beruht. Ist Flussers in Deutschland publiziertes Oeuvre momentan auf verschiedene Verlage verstreut und nur noch zum Teil erhältlich, so zeichnet sich in Brasilien und im englischen Sprachraum eine andere Entwicklung ab.

B r asilien Bis zu seinem Tod publiziert Flusser insgesamt sechs Bücher in Brasilien Língua e realidade (1963), A história do Diabo (1965), Da religiosidade (1967), Natural:mente (1979), Pós-história (1983) und Filosofia da caixa preta (1985). In den ersten Jahren nach seinem Tod kann man eine vergleichbare Tendenz zur verlegerischen Verzettelung feststellen. 1998 erscheint in der Editora da Universidade de São Paulo der Sammelband Ficções Filosóficas mit einer Einführung von Maria Lília Leão und einem Kommentar von Milton Vargas. Im selben Jahr publiziert der Universitätsverlag der UERJ in Rio de Janeiro das bisher noch unveröffentlichte Fenomenologia do brasileiro: em busca de um novo homem, herausgegeben und mit einem Vorwort von Gustavo Bernardo. Die deutsche Fassung ist vier Jahre zuvor publiziert worden. 1999 erscheint bei Relume-Dumará in Rio de Janeiro A dúvida mit einem Vorwort von Celso Lafer. 2002 erscheint beim selben Verlag eine Neuauflage von Filosofia da caixa preta. Ensaios para uma futura filosofia da fotografia. Zugleich wird das 1967 zuerst erschienene Da religiosidade von Escrituras Editora in São Paulo mit einer Einleitung von Mario Ramiro neu aufgelegt. 2007 erscheint der schon erwähnte Sammelband O mundo codificado. Por uma filosofia do design e da comunicação mit einer Einführung von Rafael Cardoso. Die fünf hier erwähnten Bücher erscheinen in fünf verschiedenen Verlagen angeregt durch fünf verschiedene Herausgeber. Zu Beginn des neuen Jahrtausends ändert sich die Situation. Der in São Paulo ansässige Verlag Annablume beginnt systematisch, das gesamte auf Portugiesisch vorliegende Werk neu herauszugeben: Língua e realidade (2004), A história do Diabo (2005) und Bodenlos: uma autobiografia filosófica (2007). 2011 folgen A dúvida, Natural:mente, Pós-História, Filosofia da caixa preta und Vampyroteuthis infernalis. Daneben werden deutsche Schlüsselwerke der 1980er Jahre ins Portugiesische übertragen: A escrita. Há futuro para a escrita? (2010), O Universo das imagens técnicas. Elogio da superficialidade (2008) – das 16 der insgesamt 20 Kapitel der deutschen Ausgabe enthält –, Gestos (2014) – das jedoch nur sieben Kapitel der insgesamt 18 der deutschen Erstausgabe enthält – und Ser Judeu (2014). Weitere sollen folgen. Geplant ist auch eine Veröffent-

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lichung des umfangreichen Briefaustausches mit dem brasilianischen Diplomaten, Philosophen, Übersetzer und Schriftsteller Sérgio P. Rouanet.

D er englische und fr anzösische S pr achr aum Im englischen Sprachraum erscheinen nach The Shape of Things und einer neuen Übersetzung aus dem Deutschen von Towards a Philosophy of Photography (2000) bei Reaktion Books zwei Kompilationen mit thematischem Schwerpunkt: 2002 erscheint bei Minnesota Press in Minneapolis der ausgezeichnete Sammelband Writings herausgegeben und mit einem Vorwort von Andreas Ströhl. 2003 publiziert die University of Illinois Press The Freedom of the Migrant – eine englische Version von Bollmanns Von der Freiheit des Migranten – in einer Übersetzung von Kenneth Kronenberg, herausgegeben und mit einem Vorwort von Anke Finger. Es ist die Minnesota Press in Minneapolis, die ab 2011 beginnt, Flussers deutsche Werke aus den 1980er Jahren ins Englische zu übersetzen: 2011 erscheinen Into the Universe of Technical Images und Does Writing Have a Future? mit einer Einführung von Mark Poster und 2014 Gestures, alle in einer Übersetzung aus dem Deutschen von Nancy Ann Roth. 2012 publiziert der Verlag ebenfalls Vampyroteuthis infernalis in einer Übersetzung von Valentine A. Pakis. Flussers selbstübersetzende Tätigkeit, die zu einer Vervielfältigung der originalen Versionen geführt hat, hat auch die neuere Publikationsgeschichte beeinflusst. So sind bei Univocal Publishing, einem Verlag, der ebenfalls in Minnesota ansässig ist, in Zusammenarbeit mit dem Flusser-Archiv in Berlin insgesamt fünf Übersetzung aus dem Portugiesischen von Rodrigo Maltez Novaes erschienen: Post-History und Natural:Mind (2013), A History of the Devil und On Doubt (2014) sowie Philosophy of Language (2016). Geplant sind drei weitere Texte: Language and Reality sowie die Vortragsreihen Foundational Concepts of Western Thought und The Influence of Existential Thought Today. Rodrigo Maltez Novaes, der konsequent aus dem Portugiesischen ins Englische übersetzt, zeichnet ebenfalls verantwortlich für eine zweite 2011 bei Atropos Press erschienene englische Version von Vampyroteuthis infernalis. Novaes, dessen Projekt darauf hinausläuft, die weniger bekannten portugiesischen Arbeiten der 1960er Jahre und die portugiesischen Fassungen der späteren Texte einem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen, hat in einem eigenen Verlag, Metaflux, weitere Texte veröffentlicht: Imaterialism (2015) und Into Immaterial Culture (2015) sowie Groundless (2017). Weitere sollen folgen. Schon zu Lebzeiten ist Flussers Einfluss in Frankreich, obwohl er dort fast zwanzig Jahre lang wohnt, sehr gering. Daran ändert sich auch nach seinem Tod wenig. Die Publikationsgeschichte beschäftigt sich dabei weitgehend mit dem von deutschen Verlegern eingezirkelten Gebiet. Im Mittelpunkt der Auf-

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merksamkeit stehen Flussers Gesten-Theorie, seine Philosophie der Fotografie, das Design, die phänomenologischen Essays zu Alltagsgegenständen und zum Verhältnis von Natur und Kultur sowie die Medienkultur. Es handelt sich durchgehend um kleine, eher marginale Verlage. 1996 erscheint bei Éditions Jacqueline Chambon in Nîmes Choses et non-choses: esquisses phénoménologiques eine Übersetzung von Dinge und Undinge, und dies, obwohl Flusser 1973 das weitgehend textidentische La force du quotidien publiziert hat. 1999 publiziert HC-D’Arts in Cergy Les Gestes mit einem Nachwort von Louis Bec. Diese Ausgabe, die aus Originalarbeiten Flussers besteht, stellt eine gekürzte Version der deutschen Gesten-Ausgabe dar. Das Buch ist 2014 von Éditions Al Dante in Marseilles neu aufgelegt worden. 1996 veröffentlicht Les éditions Circé in Straßburg Pour une philosophie de la photographie, es folgen Petite philosophie du design (2002), Essais sur la nature et la culture (2005) und La civilisation des médias (2006). 2015 veröffentlicht der belgische Verleger Zones Sensibles in Bruxelles Flussers Vampyroteuthis infernalis: Un Traité, suivi d’un Rapport de l’Institut scientifique de recherche paranaturaliste in einer Übersetzung aus dem Deutschen von Christophe Lucchese. Trotz gegenläufiger Tendenzen in Brasilien und teilweise in den USA ist die Verlegerlandschaft von Vilém Flussers Werk 25 Jahre nach seinem Tod immer noch heillos zersplittert.

Der digitale Denker

»[…] alles, was ich denke, hat eine komische Spitze […].« Vilém Flusser in einem Brief an Volker Rapsch (6. März 1985)

Die ersten Jahre der Rezeption nach Flussers Tod stehen im Zeichen seiner Kommunikations- und Medientheorie, vor allem im deutschen Sprachraum, wo sein Werk wohl in diesem Zeitraum auf die breiteste Resonanz stößt. Das Schlagwort des digitalen Denkers macht die Runde.

E rste R ezeption Die Rezeption von Flussers Werk zu Lebzeiten ist eher gering und verteilt sich auf die verschiedensten Aspekte. Schon im Laufe der 1980er Jahre, aber vor allem zu Beginn der 1990er Jahre verfestigt sich die Deutung des innovativen Medientheoretikers. Flusser wird im Feuilleton als Geheimtipp der High-TechInspirierten und als Prophet der Informationstechnologien gehandelt. Er wird mit anderen modischen Denkern seiner Zeit in einem Atem genannt – Jean Baudrillard, Paul Virilio und Ivan Illich – und dies, obwohl sein Denken wenig mit diesen Autoren zu tun hat, und im Fall Baudrillards sogar quer dazu liegt. Ströhl spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem »außerakademischen philosophischen Futurismus«. Ein längeres wohlwollendes und teils begeistertes Porträt von Michael Schmidt-Klingenberg erscheint noch zu Flussers Lebzeiten am 8. Mai 1989 in Der Spiegel unter dem Titel »Die Macht geht auf blöde Apparate über«. Flusser wird dort augenzwinkernd als genießerischer Schreibmaschinen schreibender Computer-Philosoph vorgestellt. »Der Tafelspitz ist mit Bedacht ausgewählt. Nach etwa zehn Minuten Beratung gewann er gegen die zunächst in Aussicht genommene Wachtel. Zuvor noch eine Rinderbouillon mit Markknödeln. Dazu ein Grüner Veltliner. Es scheint zu munden. Nach dem gelungenen Mahl wird mit Sorgfalt eine Pfeife gestopft. Hinter der Tabakwolke lugt hin und wieder das graubärtige Gesicht mit den listigen Augen hervor. Vilém Flusser,

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68, nimmt seine bevorzugte Sitzhaltung ein: querliegend im Sessel, ein Bein über die Lehne geschwungen. Der Professor für Kommunikationsphilosophie weiß die guten Dinge des Lebens zu schätzen, außer Essen zum Beispiel auch ›Ruhm und Geld und Sex‹. Flusser ist ein radikaler Vordenker der neuen Techniken von Chip, Schirm und Computer. Unter den Freaks gilt er als der heimliche Star. Aber er hat nicht die geringste Lust, sich auf seine alten Tage noch selber gemäß den eigenen Erkenntnissen an das beginnende Zeitalter elektronischer Substanzlosigkeit anzupassen.« Flusser »klopft« seine Erkenntnisse »in eine alte Schreibmaschine, Typ Olympia, an einem hölzernen Tisch seines provenzalischen Landhauses in den Bergen des Luberon. Das Ansinnen seines Verlegers, ihm einen Computer zur Verfügung zu stellen, hat er entschlossen abgewehrt: »Dafür bin ich zu alt.« Schmidt-Klingenberg beschreibt Flusser als radikalen Vordenker und heimlichen Star, als »Insider-Tipp der europäischen Computer-Subkultur.« Damit ist die erste prägende Etikettierung als MedienGuru für den deutschen Sprachraum geleistet. Ein weiterer wichtiger, diesmal eher skeptischer Artikel von Hans-Joachim Müller, der Flusser in die Nähe von Nietzsche rückt und auf das inszenierte seiner Auftritte hinweist, erscheint am 15. März 1991 in Die Zeit: »Der Philosoph als fröhlicher Wissenschaftler. Ein Porträt des unakademischen Denkers Vilém Flusser.« Flusser wird dort als einer der bedeutendsten »Habitués der Denkpodien« der Gegenwart vorgestellt. »[…] stets füllen sich die Säle, wenn der weißbärtige Referent angekündigt wird, den es kaum an seinem Platz zu halten scheint und der nun, da er einmal das Wort hat, vom Wort nur noch schwer zu trennen ist. Meist fängt die Vortragsperformance mit der demonstrativen Ächtung des mitgebrachten Manuskripts an. […] Und dann beginnt er zu extemporieren, erzählt Geschichten, die sich unversehens in Diskurse verwandeln und sich gleich wieder zu Geschichten versinnlichen […] eine Metapher gebiert die andere, Metaphern schließen sich zum Kreis, und so jagt es dahin, das rhetorische Rondo, daß es einem ganz schwindlig wird und dem Redner immer wohlgemuter. […] Vertreter der Kathederphilosophen reagieren in der Regel gereizt auf Selbstdarstellungen der fröhlichen Wissenschaft. […] Und auch Vilém Flusser selbst scheint die späte Karriere zu irritieren, in die er jählings geraten ist.« Müllers Darstellung beschäftigt sich vor allem mit dem performativen Charakter von Flussers öffentlichen Auftritten und zeichnet ein Bild, das nicht ohne unverhohlenen Spott auskommt. Flusser provoziert und irritiert. Er ist ein bunter Vogel in der doch eher grauen deutschen akademischen Landschaft der späten 1980er Jahre. Die frühe akademische Rezeption im deutschen Sprachraum ist geprägt durch eine grundlegende Ambivalenz. In einer Rezension von Die Schrift aus dem Jahr 1988 spricht Aleida Assmann von radikalem Denken und dem Reiz und der Gefahr »rhetorischer Dramatisierungen.« Flusser polarisiert. Seine heftigen provokativen Auftritte an Symposien und Podiumsdiskussionen neh-

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men die Zuhörer gefangen oder stoßen sie ab. Flussers Ausstrahlungskraft, seine originelle sprunghafte Argumentationsweise, die suggestive Kraft seiner von Metaphern gesättigten Denkweise faszinieren oder werden als unsystematisch und fragwürdig abgetan. Besondere Irritation unter traditionellen Akademikern wecken seine vielen Sprachspiele und sein bewusst ironischer und forcierter Umgang mit Etymologien. Seine Verletzung akademischer Spielregeln, zum Beispiel sein konsequenter Verzicht auf Fußnoten und Bibliographie und sein grundlegend essayistisches Vorgehen, fördern das Bild eines charismatischen, aber letztlich unseriösen Denkers. Diese Vorstellung beruht weitgehend auf einem Missverständnis, für dessen Aufkommen Flusser selbst mit seinen Aussagen und seinem Auftreten einen Teil der Verantwortung trägt. Flusser bedient weitgehend die an ihn gerichteten Erwartungen, wohl auch weil ihm dieser späte Ruhm schmeichelt und der plötzliche Erfolg ihn für die vielen Jahre der Unbekanntheit nachträglich belohnt. So hat er eigentlich nie versucht, das ihn enger und enger schnürende Interpretationskorsett bewusst zu sprengen. Dirk Matejovski bringt in einem Vortrag, den er am 7. März 1999 im Flusser-Symposium in Puchheim hält, diesen Widerspruch auf den Punkt: Faszination und Verkennung. »Die Wirkungsgeschichte Vilém Flussers ist besonders innerhalb des deutschen Sprachraumes windungsreich und voller Mißverständnisse. […] diese Verkennung führte [dazu], daß die Schwergewichte der Flusser’schen Tätigkeit seit Ende der 80er Jahre in Vorträgen zum Themenkomplex Medien, Computer, Cyberspace, Fotografie und Design bestanden. In der Tat wurde Flusser als jemand wahrgenommen, der zusammen mit Baudrillard, Virilio, Derrick de Kerckhove, Neil Postman, und dem in gewisser Weise akademisch verankerten Friedrich Kittler, etwas zu den neuen Medien zu sagen hatte.« Flusser wird zu einem der bekanntesten Exponenten einer wilden Medientheorie. Sein Werk steht aber »zu dieser übersichtlichen und klaren disziplinären Sortierung […] auf irritierende und faszinierende Art und Weise quer.« Matejovski verweist auf das Schwebende, Tastende und Meditative seines Stils, die ständigen Neuanfänge, die »Freude an der Zuspitzung, an der Polemik, an der Apodiktik.« Auch Dimkes Einschätzung geht in diese Richtung. Vilém Flusser ist einer der wenigen Denker, der seinen eigenen Enthusiasmus auf das Publikum übertragen kann. Flussers Erfolg führt er auf dessen Fähigkeit zurück, jeweils einen großen kulturhistorischen Bogen zu spannen, zu vereinfachen, wo immer es möglich ist, sowie Ungleichzeitiges oder Unzusammengehöriges auf kreative und provokative Art und Weise zu verknüpfen. Hinzu kommen eine etymologisch begründete Sprachkultur und ein assoziativer fabulatorischer Denkstil. Kurz: ein »fabelhafter Dramatiker«. Im Brasilien der 1960er und dem Frankreich der 1970er Jahre stößt Flusser auf ähnliche Reaktionen. In einem Interview, das Ricardo Mendes am 3. März 1999 mit dem brasilianischen Philosophen José Arthur Giannotti führt, ver-

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weist dieser auf vergleichbare Missverständnisse. In den 1960er Jahren ist die vorherrschende Meinung in universitären Kreisen, dass Flussers Arbeiten archaisch und allzu literarisch in ihrer Ausrichtung sind, ein deutlicher Rückfall in eine überholte philosophische Tradition und dies gerade zu einem Zeitpunkt als die Mehrheit versucht, das Studium der Philosophie auf einer wissenschaftlichen Grundlage neu zu begründen. Was sich jetzt, gut dreißig Jahre später zeigt, ist, dass Flussers Ansatz eigentlich postmodern avant la lettre war. Man betrachtete Flusser als altmodisch und amateurhaft und schenkte seinen erstaunlich modernen und avantgardistischen Arbeiten wenig Aufmerksamkeit. »Much to Flusser’s frustration«, schreibt Rafael Cardoso in einem 2008 in Flusser Studies veröffentlichten Essay, »considered opinion in 1960s Brazil took little notice of his writings at all. Whatever attention was directed at his work generally fell into the category of respectful puzzlement. […] people were continually perplexed by Flusser’s ability to come up with innovative patterns of thought and weave together disparate threads and then not impose any clear design on the material thus produced. The zeitgeist called for simple answers, and Flusser refused to provide them.« In dem schon erwähnten Nachruf, der 1992 in Kunstforum International erscheint, führt Fred Forest ähnliche Gründe für Flussers umstrittene Wirkung als Denker innerhalb der akademischen Landschaft Frankreichs an. »Brillant, exzessiv und ekstatisch, wie er war, hatte er alle Eigenschaften, um die Salonintellektuellen mit Krawatte und Anzug zu verstören. Deswegen wurde er übrigens auch in Frankreich marginalisiert, da seine Persönlichkeit, seine Paradoxa und seine Gebärden im Land von Descartes zu sehr vom akademischen Gehabe abwichen. Trotz seines Ansehens hat er darunter gelitten. Er hat mir verschiedentlich anvertraut, daß er es als Ungerechtigkeit empfand, die man ihm in einem Land zufügte, das er, der ewige Emigrant, sich als Wohnsitz ausgewählt hatte. Die vor allem aus Deutschland kommende Anerkennung erlaubte es ihm dann besser, diese Frustration zu ertragen.«

»[…] die L eute haben das alles ernst genommen .« Vielleicht hat ein grundlegendes Missverständnis die Rezeption von Flussers Denken in Deutschland und anderswo von Anfang an getrübt. Denn seine Texte und Vorträge, auch die eher theoretisch und argumentativ daherkommenden Arbeiten zur Kommunikationstheorie müssten prinzipiell als Philosophiefiktionen gelesen werden, das heißt als befreiendes hoch spekulatives grundsätzlich ironisches Spiel mit der Wahrheit und als Versuch, das Undenkbare zu denken. Flusser benützt Modelle auf distanzierte, ironische und selbstironischer Art und Weise. Dies wird besonders deutlich in dem am 29. September 1990 in Robion gedrehten Interview mit Christian M. Doermer.

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Dort beschreibt Flusser den Zusammenhang von Nomadismus und Informationsrevolution im Kontext der jüdischen Mystik. Der Mensch der Gegenwart hat die Zeit der Sesshaftigkeit abgesessen und ist daher wieder frei zu nomadisieren. Flusser deutet das Wort »Sesshaftigkeit« gegen den Strich, und auf völlig ungebührliche Art und Weise als das Absitzen einer »Haft«. Die Sesshaftigkeit ist ein Leben im Gefängnis, dem ein früherer vorgeschichtlicher Nomadismus vorangeht und das in ein nachgeschichtliches Nomadisieren mündet. Der Gedankenfluss setzt mit einer ersten metaphorischen Verkürzung ein und ist schon bald nicht mehr zu stoppen: Wenn man die Stein-, die Bronze- und Eisenzeit aufgrund ihres gemeinsamen Gesteincharakters als eine einzige Periode fasst, könnte man behaupten, dass wir gerade dabei sind, die jüngere Steinzeit zu überholen. Wenn die jüngere Steinzeit durch Sesshaftigkeit gekennzeichnet ist, ist die jetzt heranbrechende Zeit nicht mehr sesshaft. Was nun folgt, ist ein erstaunliches Beispiel von Flussers assoziativem Denken, das vor keiner Grenze halt macht, sondern alle tänzelnd und augenzwinkernd überspringt. Man beachte die immer wieder eingestreuten Hinweise auf das Spielerische des ganzen Vorgangs: »Stein ist doch etwas Hartes. Vielleicht kommen wir aus der harten Steinzeit in die Zeit der Software. Vielleicht kommen wir heraus ins Weiche. Und wenn ich Weiche sage, und das ist natürlich ein Wortspiel […], dann sage ich doch Luft oder Wind oder Geist. Vielleicht kommen wir aus der Zeit der Materie in die Zeit des Geistes. Und das entspricht ja einer ganzen mittelalterlichen Mystik, die ja sagt, zuerst ist die Periode des Vaters, das Reich des Vaters, und dann ist das Reich des Sohnes, und dann kommt das Dritte Reich des Heiligen Geistes. Und vielleicht sind wir daran, in das nomadische Reich des nomadischen Geistes auszubrechen. Und als ich mir das so spekuliert habe, und dabei zu Hause natürlich laut gelacht habe, […] dann sind mir natürlich verschiedene Konnotationen eingefallen.« Eine vergleichbare Geschichte, das Lachen betreffend, auf die sich Flusser hier vielleicht insgeheim bezieht, wird im Zusammenhang mit der Entstehung von Franz Kafkas Roman Das Schloss erzählt. Flussers Gedankengang driftet weiter, angetrieben durch Wortspiele und Assoziationen. Er erwähnt eine Vorstellung des jüdischen Mystizismus, die davon ausgeht, dass der Geist Gottes in die Zerstreuung, in die Diaspora gegangen ist. Dieser »weibliche Geist« verteilt sich über die gesamte Welt, wird aber am Ende der Zeiten zum männlichen Gott zurückkehren, von dem er seinen Ursprung genommen hat. Flusser nennt es einen mystischen Zionismus, basiert er doch auf der Idee einer Rückkehr ins gelobte Land. »Der gegenwärtige Nomadismus ist diese Rückkehr des Geistes zu Gott. Immer mit einem ironischen Unterton. Und diese Sache habe ich mir dann auf verschiedene Arten und Weisen stilistisch ausgearbeitet. Ich habe einerseits den Schein erweckt einer wissenschaftlichen Analyse, andererseits den Schein eines prophetischen Voraussagens des Siegs der Software über die Hardware, andererseits

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habe ich das verbunden mit der Kommunikationsrevolution, auf die komischste Art und Weise – die Leute haben das alles ernst genommen – und das habe ich dann auf drei verschiedene Arten zuerst geredet und dann publiziert. Das ist, was ich zum Nomadismus zu sagen habe. […] Wenn man Witze macht, Metaphern macht, so ist eins geboten. Man muss exakt sein.« Man sieht es: Flusser hat einen ganz eigenen Begriff der Exaktheit. Besonders aufschlussreich in diesem kurzen Videoausschnitt sind auch Tonfall, Rhythmus, Gestik und Mimik, die allesamt aufeinander abgestimmt sind, um einen Gesamteffekt hervorzubringen. Flusser galoppiert schier unaufhaltsam von Idee zu Idee, von Wortassoziation zu Wortassoziation. Zu Beginn hält er seine Brille in der linken Hand. Die rechte skandiert den Rhythmus und markiert die Pausen. Während des Vortrages nähert er sich immer wieder dem Mikrophon, beugt sich auf dieses nieder und wippt dann abrupt mit dem Oberkörper wieder in die Höhe. Beim Übergang vom Harten zum Weichen, zu Luft und Wind, vollzieht die rechte erhobene Hand eine Drehbewegung. Dann wandert die Brille plötzlich in die andere Hand und beide Arme kommen fortan zum Einsatz. Von Zeit zu Zeit streicht er sich mit der freien Hand über die Glatze und tritt von einem Fuß auf den anderen. Als er auf die zusammenfassende Deutung zu sprechen kommt, bei der es um den bewusst inszenierten Schein des Wissenschaftlichen und Prophetischen geht, flackern die Augen schelmisch. In einem weiteren, höchst aufschlussreichen, noch unveröffentlichten Video von Wilhelm Mundt, das Edith und Vilém am 20. März 1988 im Gespräch mit Müller-Pohle und Rapsch zeigt, beschreibt Flusser, der dabei Platon, Aristoteles, Leibniz, Husserl, Heidegger, Ortega y Gasset, Camus und Voltaire, aber auch den Erasmus von Lob der Torheit – von dem sich eine portugiesische Version (Elogio da Loucura) in Flussers Reisebibliothek befindet – und die abgrundtiefe Ironie aus Kafkas Das Schloss ins Spiel bringt, seine Entwicklung als Denker im Zeichen einer zunehmenden ironisierenden Selbstentblößung. Flusser hält dabei fest, dass das Leben die Gedanken zwar beeinflusse, dass aber die Gedanken zu einem großen Teil ihrer eigenen Dynamik folgen würden. Er habe sich im Laufe der 1980er Jahre immer mehr von äußeren Zwängen befreit – wohl auch wegen des zunehmenden Erfolges – und infolgedessen berechtigt gefühlt, den satirischen Grundton seines Denkens ins Spiel zu bringen. In Für eine Philosophie der Fotografie habe er noch den ernsten Denker gespielt, dabei aber immer wieder kurz die Maske gelüftet. Beim Schreiben des Vampyroteuthis infernalis habe er ununterbrochen lachen müssen und die Maske eigentlich beinahe fallen gelassen. Er arbeite nach einem doppelten stilistischen Prinzip: je schwieriger ein Gedanke zu fassen sei, desto einfacher müsse er ausgedrückt werden. Aus diesem Grund bemühe er sich stets um kurze Sätze. Je ernster ein Gedanke aber sei, desto mehr müsse man darüber lachen können. Er habe dies immer

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wieder versucht. »Ob mir das gelingt, ist eine andere Frage.« Worauf Edith anfügt: »Nicht alle Leser merken das, die Ironie.« Seine Ironie, so Flusser, sei nicht im Sinne eines Sokrates zu verstehen: »Ich glaube mein Denkstil ist satirisch. […] Ich habe ein stilistisches Modell: Erasmus.« Diese Ironie kommt aus dem Gefühl, »dass es gefährlich ist, sich ernst zu nehmen, dass nur wenige Menschen das Recht haben zu lehren, dass mir dieses Recht nicht zusteht, dass mir eher zusteht, mich über die Lehre anderer in Ehrfurcht lustig zu machen. Vielleicht ist die ganze Kultur, in der ich aufgewachsen bin, von dieser Furcht vor dem Ernst-Nehmen und dem Ernst-Genommen-Werden geprägt. Diese Tradition ist an vielen Stellen zu finden, nicht nur in Prag. Sie haben das in der deutschen und vor allem in der französischen Tradition.« Dazu zitiert Flusser einen französischen Satz, den er Voltaire zuschreibt: man müsse nicht über die Dinge (»rire des choses«), sondern in den Dingen lachen (»dans les choses«). Dies würde ihm aber natürlich meistens nicht gelingen. Flussers Beschreibung erinnert auch an die ironische Respektlosigkeit des braven Soldaten Schwejk von Jaroslaw Hašek. Kafkas Werk, das Flusser in einigen frühen Essays eher in einem religiösen Sinne liest, deutet er hier als zutiefst ironisch. »Erstens ist Kafka außerordentlich lustig. Es ist die lustigste, wenn ich so sagen darf, die fröhlichste Lektüre, die ich in meinem Leben gehabt habe. Die Witze Kafkas sind die besten Witze, die ich kenne. […] auch Freud gehört vielleicht in dieselbe Kategorie. Die Witze Kafkas sind ganz hervorragend. Und dabei sind es Witze, die im Freud’schen Sinne wirklich Witze sind. Nämlich sie drehen ja das, was erwartet wird, um.« Der Hinweis auf Freud kommt im Laufe des Gesprächs von Edith, die immer wieder kurz eingreift. Dass Flussers entfesseltes selbstironisches, transdisziplinäres Denken im deutschsprachigen akademischen Raum nicht auf allgemeine Begeisterung gestoßen ist, lässt sich gut verstehen. Flusser ist mit seinen erstaunlichen Theorien und seiner weitgehend rhetorisch geprägten Methode zudem gerade in dem Moment aufgetreten, als sich in Deutschland eine neue Medientheorie herausbildete, die auf die Riten der Wissenschaftlichkeit setzte, um als neue Disziplin anerkannt und ernst genommen zu werden.

»A ber ehrlich sagt ja schon unsystematisch .« Im selben Interview, das in einer informellen Umgebung auf einer altmodischen gutbürgerlichen Couch und zwei um einen massiven Holztisch herum angeordneten Fauteuils stattfindet, gibt Flusser, wie sonst nirgends, Einblick in wesentliche Momente seiner Schreibpraxis und Biographie. Flusser betreibt Selbstübersetzung nicht nur, um seine Texte zu kritisieren und den Gedankengang präziser herauszuarbeiten, sondern auch um diese zu

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kürzen. »Der erste Text ist immer ungefähr zehnmal so lang wie der letzte. Darum schreibe ich immer ins Reine. […] die Übersetzung […] zwingt [einen], die Gedanken klar zu formulieren. Infolgedessen halte ich an dieser Methode fest und laufe dadurch die Gefahr, beinahe unleserlich zu werden. Ich dränge zu sehr. Ich verwende Ockham’s Razor zu sehr.« Worauf Edith, die damit auf Flussers immerwährende intellektuelle Ungeduld anspielt, bemerkt, er spiele dabei oft schon die nächste Partie, das heißt, er sei gedanklich schon mit dem nächsten Projekt beschäftigt. Ockhams Rasiermesser bezeichnet ein Beschränkungsprinzip aus der Scholastik, das von dem englischen Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham (1288-1347) entwickelt wurde und auch in der Wissenschaftstheorie Anwendung findet. Dieses Prinzip verlangt nach höchstmöglicher Sparsamkeit bei der Bildung von Hypothesen und Theorien. So soll man bei verschiedenen möglichen Erklärungen die einfachste vorziehen, mit möglichst wenigen Variablen operieren, die in klaren Beziehungen zueinander stehen, und für jeden Untersuchungsgegenstand nur eine einzige treffende Erklärung anerkennen. Alles Überflüssige soll wie durch den Schnitt eines Rasiermessers entfernt werden. Flusser verwendet Ockhams Regel in dem frühen, Guimarães Rosa Guimarães gewidmeten Essay »Do poder da língua portuguesa« (Zur Macht der portugiesischen Sprache), das in den 1967 publizierten Sammelband Da religiosidade aufgenommen worden ist. Dort vergleicht er die Arbeit des Schriftstellers auch mit der eines Diamantenschneiders. Extreme Verdichtung und Verkürzung sind bei Flusser eine Folge seiner systematischen Praxis der Selbstübersetzung. Ein weiterer Diskussionspunkt betrifft die rhythmische Dimension von Flussers Stil und deren Beziehung zur Verwendung einer mechanischen Schreibmaschine. »Ich lege sehr viel Wert auf den Rhythmus der Sprache. Das hoffentlich merkt der Leser nicht. Aber wenn Sie meine Sätze skandieren, so werden Sie feststellen, dass sie entweder jambisch sind oder trochäisch und dass ich oft hinterrücks Hexameter hineinschiebe. Und das tue ich, um diese Kürzung im Inhalt durch eine Schwingung in der Form zu kompensieren.« Da die einzelnen Sprachen je unterschiedliche Rhythmen bedingen, »wird die Übersetzung direkt zu einer rhythmischen Übung. Es kommt mir vor wie ein Übersetzen einer Trommelart auf eine andere Trommelart. […] Ich bin mir der Sache vollständig bewusst und so stark bewusst, dass es mir beim Schreiben zur zweiten Natur geworden ist. Ich muss mich gar nicht im Skandieren üben. Deshalb schreibe ich auf alten Schreibmaschinen. Ich klopfe die Tasten schon danach. Ich verwende es ein bisschen wie ein Hammerklavier.« Flusser geht auch auf den hier schon oft diskutierten Verzicht auf Zitate ein. »Man hat ja zwei Alternativen. Entweder sagt man bei jedem Gedanken […], wem man diesen […] verdankt. Es stellt sich heraus, dass der kleinste Teil, ein verschwindend kleiner Teil der Gedanken auf dem eigenen Mist gewach-

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sen ist. Also entweder sagt man das, dann füllt man Seiten und Seiten mit Zitaten, dann bleiben […] vom Text nur zwei Zeilen. Und alles Übrige sind Zitate. Oder aber man setzt voraus, dass der Leser weiß, dass die Gedanken, die man ausdrückt, auf andere gestützt sind. Und dann muss man vollkommen auf Zitate verzichten, denn sonst greift man ja die zitierten Stellen ziemlich wahllos heraus. […] ich habe mich entschlossen, erstens aus Ehrlichkeit, das zu verhüten, um nicht einigen Einflüssen […] ein zu großes Gewicht zu geben, und zweitens aus Leserlichkeitsgründen. Ich hasse das, wenn ich da fortwährend von Nummern soundso nach unten springen muss und wieder hinauf. Und wenn ich das dann hinten an die Kapitel anhänge, wie das manche Leute tun, dann bin ich mir dessen bewusst, dass entweder die Leute vor- und rückwärts blättern oder die Sache danach aus dem Kontext heraus lesen und dann einen ganz falschen Eindruck gewinnen. Also ich habe mich entschlossen, vielleicht auch aus Faulheit […] auf Zitate vollkommen zu verzichten, was mir manchmal seltsamerweise schwer fällt. Sie werden gemerkt haben, dass bei dem gestrigen Vortrag wollte ich Wittgenstein [den Tractatus logico-philosophicus] zitieren und konnte mich nicht genau an die Nummer erinnern, die er dem Satz gegeben hat. Wenn man zitiert, muss man ja exakt sein und dazu bin ich vielleicht zu faul. Also das ist eine Sache. Und außerdem ist meine Bibliothek in einem derartigen Mist-Zustand, derartig desorganisiert, dass wenn ich die Zitate, die ich ja im Bauch habe, vor Augen haben will, würde ich die Hälfte der Zeit mit dem Suchen der Bücher verbringen.« In diesem Zusammenhang möchten wir auf Michel Serres verweisen, einen Denker mit universellem Anspruch, der sich wie Flusser stets gegen Zugehörigkeiten jeder Art gewehrt und weitgehend auf Zitate, Fußnoten und Bibliographien verzichtet hat. In einem Interview mit Bruno Latour, Auf klärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, liefert er eine treffende Beschreibung seiner Texte, die man auch auf Flussers Werk anwenden könnte. Die mit Fußnoten und Zitaten gespickten Bücher würden letztlich den hinter dem Werk stehenden Wissenschaftler und Forscher zur Schau stellen. Sie seien ein soziales Artefakt, ein »Beglaubigungsschreiben im akademischen Milieu«, aber zugleich auch eine defensive Strategie, eine Rüstung, eine Festung, die vor gegnerischen Angriffen schützen soll, von der Sorge diktiert, »keinen Angriffspunkt zu bieten. […] Zuweilen denke ich, dass ein Werk umso mehr Exzellenz erreicht hat, je weniger Eigennamen es zitiert: nackt, ohne Abwehr, nicht ohne Wissen […], nicht so sehr darauf aus, recht zu haben, sondern leidenschaftlich auf neue Intuitionen aus. Eine akademische Arbeit zielt auf das Nachahmbare ab, ein Werk sucht das Unnachahmliche.« Im Interview spricht Flusser ebenfalls von der Entwicklung der zwischen 1983 und 1989 in Deutschland veröffentlichten Buchserie, die insgesamt fünf Titel umfasst. Der Lauf der Gedanken meint er, sei letztlich entscheidender als die biographischen Umstände, verfolgen diese doch eine ganz eigene Dy-

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namik. In diesem Sinne ist Flussers Leben ein Kopfprojekt, ein Versuch, die Bodenlosigkeit des Lebens durch eine gedankliche Konstruktion zu überwinden. Für eine Philosophie der Fotografie sei aus der Begegnung mit Müller-Pohle hervorgegangen. »Ich hatte das Gefühl, wie wir einander gesehen haben, zum ersten Mal im Leben einen Verleger im wahren Sinn des Wortes getroffen zu haben. Also jemanden, dem ich meine Gedanken zwecks Kritik unterbreiten kann, der mich auch tatsächlich hemmungslos kritisiert und dabei doch ein freundschaftliches Verhältnis zu mir hat – nicht nur persönlich, sondern auch gedanklich. […] Ich [sagte] mir, vielleicht würde ich, wenn ich Deutsch publizieren würde, Gesprächspartner finden, die ich in Frankreich, wo ich wohnte damals, nicht gefunden habe, aus dem einfachen Grund, weil Frankreich ein hochzentralisiertes Land ist und sich alles in Paris abspielt – ich aber aus verschiedenen Gründen nicht an diesem Pariser Theater teilnehmen wollte –, während ja, was Deutschland charakterisiert, die Dezentralisation ist.« Die Bücher gehen aus der Dynamik der Gedanken hervor. »Das zweite Buch [Ins Universum der technischen Bilder] war eine Erweiterung der Foto-Philosophie. Das dritte Buch [Die Schrift] war eine Erwiderung auf das Universum. Und das vierte Buch [Angenommen] war der Versuch, das, was ich in der Schrift theoretisch auseinander gelegt habe, irgendwie in Zusammenarbeit mit einem Bildmacher in die Praxis umzusetzen.« In der Folge geht Flusser auf einige wesentliche Einflüsse auf sein Werk ein. Allen voran Platon. Tatsächlich ist Flussers Philosophie mit ihrem Hinweis auf verborgene gedankliche Welten, ihrer Ablehnung der rein dinglichen Welt und ihrer strikten Kritik systematischer und hierarchischer Denkstrukturen viel eher Platon als Aristoteles verpflichtet. »Die platonische Tradition, die ich aus der Schule habe, ist für mich vollkommen ausschlaggebend. Obwohl ich glaube, dass mich ein Satz aus Aristoteles zum Philosophieren gebracht hat. Ein spezifischer Satz, nämlich Propter admirationem enim et nunc et primo inceperunt homines philosophari. Ich habe es lateinisch gelesen, mein Griechisch ist miserabel. […] Aus Verwunderung, aus Erstaunen nämlich haben die Leute damals und heute begonnen zu philosophieren. Das hat mich zur Philosophie gebracht. Philosophieren ist nicht eine Suche nach Wahrheit oder nach Weisheit, sondern es ist ein Ausdruck des Staunens darüber, dass man da ist und dass eine Welt da ist. Trotz diesem aristotelischen Hinweis war Platon für mich die Grundlage meines Denkens und ich muss gestehen, nicht so sehr deswegen, was er sagt, sondern wie er es sagt. Es ist die dramatische Schönheit Platons, die mich immer verführt hat. […] die platonischen Dialoge […] sind ja dramatische Vorgänge, in denen Gedanken wie Helden gegeneinander kämpfen. Diese Schönheit des Kampfes, also ästhetische Gründe, haben für mich Platon zu einer Grundlage meines Denkens gemacht.« Eine weitere wichtige Figur ist José Ortega y Gasset, den Flusser in »Auf der Suche nach Bedeutung« erwähnt. Dort wird er als Brücke zum Existentia-

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lismus und zum Werk Nietzsches genannt. Flusser hat Husserl nicht direkt gelesen, sondern über den Umweg von Martin Heidegger, Gaston Bachelard und Hannah Arendt. Später sind dann noch die französischen Phänomenologen hinzugekommen. »Und vielleicht als ersten, der mich dazu geführt hat, seltsamerweise Ortega. Noch als Bub in Prag kam mir Der Aufstand der Massen in die Hand. [Und] mir [sind die] Scheuklappen von den Augen gefallen. […] Husserl ist sehr schwer lesbar, ist doch furchtbar langweilig, ist doch nicht durchzuhalten. Also ich musste in den sauren Apfel beißen und mich da durch lesen, weil ich das Gefühl hatte, dass eine ganze Reihe traditioneller Probleme plötzlich wie Staub zerfallen sind. […] bei Husserl stellt sich das Erkenntnisproblem ganz einfach deshalb nicht, weil er die Erkenntnis als eine konkrete Tatsache annimmt und nicht fragt, wie kommt die Erkenntnis zustande, sondern weil er annimmt, dass es so etwas gibt wie Erkenntnis.« Abschließend kommt Flusser auf seine frühe Abkehr vom Marxismus und Camus’ Umgang mit dem Selbstmord zu sprechen. »Dieser alte Marx hat mir den Weg versperrt zu allem. Den ich auswendig lernen musste. Das war doch ein Klassiker. […] Zuerst der Zusammenbruch des Glaubens an den Kommunismus, dann der Einfall der Deutschen in Prag und dann die Atombombe. […] diese drei Ereignisse hintereinander haben in mir das Vertrauen zur Ordnung der Welt zerstört. Die Welt wurde fragmentarisch. Und ich war eigentlich immer bemüht, nicht eine neue Synthese zu versuchen, also nicht eine sogenannte heile Welt aus meinem Kopf hinaus zu projizieren, sondern mit diesem fragmentarischen Charakter der Welt zu leben und in diesem fragmentarischen Charakter, einen Sinn zu finden. Also eigentlich war mein Denken immer in diese Richtung. Ich weiß, dass ich es nicht erreichen kann.« Diese existenzielle Haltung erklärt Flussers Ablehnung von klaren Grenzen und stimmigen Systemen. »Jedes Mal, wenn jemand ein Entweder vorschlägt, irgendeine Lösung, […] eine totale, heile Vision hat, geht mich das Entsetzen an. Wie kann ein Mensch […] nach den Moskauer Prozessen, nach Auschwitz und nach Hiroshima, wie kann so ein Mensch eine Heilssicht haben? Und dasselbe Entsetzen geht mich an, wenn einer sich abfindet damit, wenn einer sagt ›So ist es eben, alles ist sinnlos und absurd‹, wenn er sich ergibt. Beides gibt mir gleiches Grauen.« Wie schon erwähnt, will Flusser in den späten 1930er Jahren zusammen mit Edith nach Israel auswandern. Er will damals auch in den Spanischen Bürgerkrieg ziehen, der Ende Juli 1936 ausbricht. Vom 19. bis zum 24. August desselben Jahres findet der erste der inszenierten Moskauer Schauprozesse statt. Der sowjetische Politiker Grigori Jewsejewitsch Sinowjew (1883-1936) wird unter Folter zum Geständnis gezwungen. Dabei muss er sich und andere als Faschisten bezeichnen. Zusammen mit seinen angeblichen Komplizen wird er zum Tode verurteilt und in der Moskauer Lubjanka erschossen. Im Gespräch spricht Flusser diesen Moment direkt an. »Wenn ich ehrlich bin, etwas ist in

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mir zerbrochen, als ich ein Bub war zwischen 1937 und 1939. Der Pakt HitlerStalin war das Ende. […] es gab einen Moment, wo ich nach Spanien wollte […] in den Bürgerkrieg. Und während ich meine Vorbereitungen getroffen habe, um aus Prag in diese, ich glaube es hat Gottwald-Brigade geheißen […] wie ich das im Begriff war durchzuführen, kam dieses Geständnis des Sinowjew. Und ich habe das als einen Zusammenbruch gespürt. Ich konnte nichts mehr tun. […] das war ein richtiger Zusammenbruch. Die Folge war, dass ich angefangen habe 14 Tage nichts anderes zu tun, als Rilke zu lesen, der damals ja noch nicht so ganz allgemein zugänglich war. […] Wissen Sie, ich kann mich erinnern, wie auf mich damals der Satz gewirkt hat: Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang [Duineser Elegien, Kapitel 1]. […] Sie sind eine andere Generation, Sie können das nicht nachfühlen. Das Nazi-Unglück war sozusagen eine Folge, es war nicht die Ursache. Wenn das zusammenbricht, wenn diese Hoffnung, die die Menschheit seit Jahrhunderten in sich selbst gesetzt hat, sich als eine derartige brutale Karikatur erwiesen hat, dann war der Nazismus eine Selbstverständlichkeit, das war eine Folge dessen. Der Humanismus war tot.« Flusser interessiert sich damals auch für Bertolt Brecht. »Dann ist mir von Brecht das Kotzen angegangen, vielleicht zu vollkommenem Unrecht […].« Flusser reiht sich hier in eine Gruppe von Intellektuellen ein, die zwar deutlich älter sind, aber alle dieselbe Desillusionierung mit dem Kommunismus durchgemacht haben, unter ihnen Arthur Koestler oder George Orwell. In einem Brief an David Flusser vom 4. Februar 1990 spricht Vilém Flusser von seiner kulturellen Programmierung und erwähnt dabei auch den Namen von Rudolf Slánský (1901-1952), der ab 1945 Generalsekretär der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei war, 1951 aber verhaftet und des Hochverrats angeklagt wurde. Wie viele andere der Angeklagten, war er jüdischer Herkunft, was auf den antisemitischen Hintergrund der Anklage hindeutet. Nach einem Schauprozess wurde er zum Tode verurteilt und am 3. Dezember 1951 durch Hängen hingerichtet. Wie schon in den Moskauer Prozessen hatte man die Angeklagten dazu gezwungen, ihre Schuld öffentlich einzugestehen. Interessanterweise erwähnt Flusser in diesem Zusammenhang auch den französischen Surrealismus und das Werk Marcel Duchamps als einen möglichen Ausweg aus der völligen Verzweiflung, ein Ausweg aber, der ihm aufgrund kultureller und geographischer Momente damals nicht zugänglich war. »Ich habe den Duchamp ja sehr spät entdeckt […] vielleicht erst in den 1950er Jahren […]. Hätte ich den Duchamp schon in den 1930er Jahren gekannt […] vielleicht hätte ich eine bessere Resistenz dagegen gehabt. Aber auch die französische Welt war mir verhaltnismässig verschlossen. Wir waren in Prag eher englisch orientiert, also wenigstens in unserer Familie. […] Es gab kein englisches Gegengewicht in demselben Sinne wie in Frankreich.« Auf den Zusammenbruch der Gewissheiten folgt ein hochambivalentes Gefühl der Freiheit. »Ich habe mich befreit gefühlt in den 1940er Jahren. Ers-

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tens, weil ich in der ersten Hälfte geglaubt habe, dass ich sowieso zugrunde gehen werde […]. Das gibt einem ein kolossales Freiheitsgefühl, wenn Sie glauben, dass Sie nur noch ein paar Monate vor sich haben. Am Anfang war ich überzeugt, dass die Deutschen den Krieg gewinnen und nachher war ich überzeugt davon, dass ich irgendwo im Wald umkommen werde. […] Ich bin nicht in den Wald gegangen, ich habe ja Edith gehabt. […] Aber ich hatte die Sehnsucht nach dem Wald, er war so nah. Es hat genügt, in den Zug zu steigen und an die Endstation zu fahren […]. Ich habe mir eine Liste aufgestellt von Gründen und Gegengründen für den Selbstmord […] Und immer waren die Gründe für den Selbstmord stärker […] Als mir der Camus in die Hand fiel […] es ist im Mythos des Sisyphos, wo er sagt: Es gibt nur eine philosophische Frage: Warum bringe ich mich nicht um? Alles andere kommt später. Das habe ich so vollkommen miterlebt. Übrigens, Camus ist ein Muster. […] Das Modell des ehrlichen, anständigen, unsystematischen Denkers. Aber ehrlich sagt ja schon unsystematisch.«

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»Es gibt Leute (und ich zähle mich zu ihnen), die glauben, ohne Schreiben nicht leben zu können. […] sie glauben, schreiben zu müssen, weil sich ihr Dasein in der Geste des Schreibens und nur darin äußert.« Vilém Flusser, Die Schrift

Um die Jahrtausendwende beginnt, sich eine grundlegende Wende in der Flusser Forschung abzuzeichnen. Diese wird eindeutig internationaler und öffnet sich neben der Medien- und Kommunikationstheorie auch den vielen anderen in Flussers Werk angelegten Themen und Stilformen. Hinzu kommt ein umfassendes Interesse für das mehrsprachige, zwischen zwei Kontinenten entstandene Gesamtwerk. Drei Faktoren spielen dabei eine wesentliche Rolle. Es findet eine Reihe von internationalen Symposien statt, die in vielfacher Hinsicht thematisches Neuland betreten und konsequent Forscher aus Brasilien, den USA und Europa zusammenführen. Gleichzeitig erscheinen kritische Werke, die den Schwerpunkt auf die Komplexität und die thematische und sprachliche Vielfalt von Flussers Werk legen. Darüber hinaus verlagert sich ab 2005 der kritische Diskurs durch die Gründung der Online-Zeitschrift Flusser Studies zusehends ins Internet. Wie noch zu zeigen sein wird, hat dies langfristig auch Folgen für die Frage nach einem möglichen Gesamtwerk gezeitigt.

I nternationale S ymposien Ein erstes wichtiges internationales von Ricardo Mendes und Gustavo Bernardo organisiertes Symposium, das Forscher aus Europa und Brasilien zusammenbringt und sich deutlich jenseits des einengenden Deutungsschemas des digitalen Denkers positioniert, findet am 12.-13. April 1999 im Goethe-Institut von São Paulo und am 15.-16. April im Instituto de Letras der UERJ in Rio de Janeiro statt. Unter den Gästen sind Milton Vargas, Martin Grossmann, Andreas Ströhl, Klaus Sander, Martin Pawley, Lucia Santaella, Arlindo Machado, Rubens Crispin sowie Ricardo Mendes und Gustavo Bernardo.

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Zwei Jahre später trifft sich vom 26. bis zum 28. Oktober erneut eine mehrsprachige und internationale Gruppe auf dem Monte Verità bei Ascona in der Südschweiz. Geht es in São Paulo und Rio de Janeiro um Flussers Präsenz in Brasilien, so widmet sich dieses von Rainer Guldin organisierte Symposium der Mehrsprachigkeit und Übersetzung. Ziel des Symposiums ist es, Redner aus verschiedenen Sprachregionen zusammenzuführen, um über einen weitgehend vernachlässigten aber zentralen Aspekt von Flussers Werk nachzudenken: das erkenntnistheoretische Modell der Mehrsprachigkeit und die vielfachen Übersetzungsprozesse, die damit zusammenhängen. Es geht dabei nicht nur um die Übergänge von einem Sprachuniversum ins andere und die sich daraus ergebende Pluralität möglicher Standpunkte, sondern auch um die vielfachen Übersetzungsprozesse in Flussers Werk: die Übertragung von Wörtern in Bilder, Texten in Fotografien, Philosophie in Video, die gegenseitige Durchdringung von Literatur, Wissenschaft und Philosophie sowie Flussers eigene langjährige Praxis der (Selbst)Übersetzung. Die auf Italienisch, Französisch, Deutsch und Englisch gehaltenen Beiträge des Symposiums und die polyglotten Diskussionsrunden, die darauf folgen, sind ein Versuch, sich auf diesen von Flusser begründeten mehrzüngigen Denkstil einzulassen. Unter den Vortragenden sind Irmgard Zepf, Gustavo Bernardo, Miklós Peternák, Silvia Wagnermaier, Nils Röller, Rainer Guldin und Louis Bec. Zu erwähnen wäre noch ein drittes Symposium, »A terceira margem: Vilém Flusser und Brasilien. Kontexte – Migration – Übersetzungen«, das vom 12. bis 14. Oktober 2006 in Germersheim stattfindet. Für die Organisation und die Durchführung sind Susanne Klengel und Holger Siever vom Fachbereich angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft von der Johannes Gutenberg Universität in Mainz verantwortlich. Es ist die erste europäische Tagung, die sich mit Flussers Frühwerk beschäftigt. Unter den brasilianisch und deutsch vortragenden Referenten sind unter anderen Gustavo Bernardo, Rainer Guldin, Willi Bolle, Norval Baitello Junior, Ricardo Mendes und Michael Hanke.

P ublik ationen Nach der Jahrtausendwende werden die ersten umfassenden Werkanalysen vorgelegt, die sich zugleich mit zentralen Aspekten von Flussers Werk beschäftigen. Gustavo Bernardo veröffentlicht 2002 in São Paulo A dúvida de Flusser, welches sich mit den Begriffen der Fiktionalität und des Zweifels auseinandersetzt. 2005 folgt Philosophieren zwischen den Sprachen. Vilém Flussers Werk von Rainer Guldin. In diesem Buch geht es nicht nur um die Themen der Mehrsprachigkeit und der Übersetzung, sondern auch um eine systematische Untersuchung der Kontinuitäten und Unterschiede zwischen Flussers brasilianischem Frühwerk und seinem deutschen Spätwerk.

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Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang noch Eva Batličkovás A Época Brasileira de Vilém Flusser (2010), die erste umfassende Untersuchung von Flussers portugiesischen Texten, Rodrigo Duartes Pós-história de Vilém Flusser: gênese-anatomia-desdobramentos (2012), Erick Felintos und Lucia Santaellas O explorador de abismos. Vilém Flusser e o pós-humanismo (2012), Ströhls Vilém Flusser (1920-1991). Phänomenologie der Kommunikation (2013) und Michael Hankes Kommunikation – Medien – Kultur. Vilém Flusser und die Signatur der telematischen Gesellschaft (2017). Ein weiteres Ergebnis der engen Zusammenarbeit zwischen brasilianischen, europäischen und amerikanischen Flusser-Forschern ist die Publikation einer dreisprachigen Einführung in Flussers Werk von Gustavo Bernardo, Rainer Guldin und Anke Finger. Das Buch, welches Flussers eigene Praxis der Selbstübersetzung anwendet, erscheint zuerst auf Portugiesisch – Vilém Flusser: uma Introdução (2008) –, dann auf Deutsch – Vilém Flusser (2009) – und zum Schluss auf Englisch – Vilém Flusser. An Introduction (2011). Der Gedanke dazu ist den beiden Verfassern auf einer Zugfahrt von Germersheim – wo sie an einem Flusser-Symposium teilgenommen haben – nach Lugano eingefallen. Gustavo Bernardo hat die auf Englisch verfassten Teile der anderen beiden Autoren ins Portugiesische übersetzt und Rainer Guldin daraufhin, den gesamten Text ins Deutsche übertragen. Aus diesen zwei Fassungen ist dann die englische hervorgegangen. Ein vielversprechendes Zeichen der neuen mehrsprachigen Gesamtvision von Vilém Flussers Werk ist die Veröffentlichung von Flusseriana – An Intellectual Toolbox/Flusseriana – ein intellektueller Werkzeugkasten/Flusseriana – Uma Caixa de Ferramentas Intellectual durch Univocal Publishing in Minneapolis im Herbst 2015. Der dreisprachig angelegte, englische, deutsche und portugiesische Sammelband, herausgegeben von Siegfried Zielinski, Peter Weibel und Daniel Irrgang, ist das Produkt einer Zusammenarbeit des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe und des Vilém-Flusser-Archivs an der Universität der Künste in Berlin. Es enthält ein alphabetisches Glossar mit rund 200 Einträgen von insgesamt 106 Autoren, eine Kurzbiographie und eine ausgewählte Bibliographie von Flussers Werken. In der Präsentation des Werks wird auf den unsystematischen unabgeschlossenen Charakter des Gesamtwerkes hingewiesen. »Denken im Freistil – das ist Vilém Flussers intellektueller Operationsmodus: herausfordernd und anstößig, paradox und verwegen. Es kennt weder Disziplinen oder Fächer, noch huldigt es anderen akademischen Gerüsten und Ritualen. Es will vor allem in laufende kulturelle und künstlerische Prozesse eingreifen und sie beeinflussen. Das benötigt keine geschlossenen theoretischen Systeme, sondern offene operative Gebilde. Die Flusseriana ist ein entwicklungsfähiger Werkzeugkasten, der […] Denkdinge verschiedenster Art enthält. Partikularitäten wie ›Altweibersommer‹, ›Atlas‹, ›Hörigkeit‹, das ›Tier‹ oder das ›Mittelmeer‹ genauso wie Verdichtungen

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von Flussers Denken wie die großen wiederkehrenden Themen ›Geschichte‹, ›Sprache‹, ›Mythos‹ und ›Religion‹, seine zentralen medienanalytischen Begriffe wie ›Apparat‹, ›Abstraktion‹, ›Kybernetik‹ oder ›Telematik‹, aber auch Flussers ureigene Wortschöpfungen wie ›Kommunikologie‹ oder ›Punkteuniversum‹, die alten und die neuen ›Einbildungskräfte‹. […] Das ist praktizierte Dialogik – ganz im Sinne des philosophischen Schriftstellers aus Prag.«

F lusser S tudies und F lusser B rasil Der dritte wesentliche Faktor, der zu einer Internationalisierung, einer theoretischen Repositionierung jenseits der verengenden Vorstellung des digitalen Denkers und teilweise auch zu einer akademischen Kanonisierung von Flussers Werk geführt hat, ist die Gründung von Flusser Studies (www.flusserstudies.net/). Für das jährliche Treffen der Modern Language Association vom 27. bis zum 30. Dezember 2004 in Philadelphia organisiert Anke Finger eine Session über das Werk Vilém Flussers. Edith Flusser reist mit dem Zug aus New York an. Ich (RG) treffe sie in einem Café. Wir reden erneut über die Möglichkeit eines Gesamtwerks, welches in Anbetracht der verlegerischen Zersplitterung und der Abwesenheit eines möglichen finanziellen Sponsors in weite Ferne gerückt ist. Dabei kommen wir auch auf digitale Formen der Publikation zu reden, für die, wie schon Vera Schwamborn bemerkt, Edith kein wirkliches Interesse auf bringen kann. Dabei entsteht die Idee, vorerst mal eine Online-Zeitschrift zu lancieren, auch weil solch ein Unterfangen mit einer relativ geringen finanziellen Basis auskommen kann. Im November des folgenden Jahres erscheint die erste Nummer. Inzwischen ist Flusser Studies schon über zehn Jahre alt. In dieser Zeit hat das Journal mehr als 200 Beiträge von über 120 unterschiedlichen Autoren auf Deutsch, Portugiesisch, Englisch, Französisch, Tschechisch, Spanisch und Italienisch publiziert. Das editorial board besteht momentan aus Rainer Guldin (Editor-in-Chief), Gustavo Bernardo, Simone Osthoff, Eva Batličková, Steffi Winkler und Joachim Michael. In den zehn Jahren zuvor waren noch Mark Poster, Jiří Bystřický, Gerhard Fröhlich und Anke Finger Mitglieder der Redaktionsleitung der Online-Zeitschrift. Am 26. November 2014, mehr als 22 Jahre nach der Gründung des Netzwerks der Freunde Vilém Flussers Supposé/Angenommen in Straßburg, wird im Zentrum der jüdischen Kultur in São Paulo die Internetplattform FlusserBrasil (www.flusserbrasil.com/) ins Leben gerufen. Unter den Anwesenden sind unter anderem Celso Lafer, Eli Bueno und Nancy Rouanet. Zum Executive board gehören Dinah Flusser, Eva Batličková, Gustavo Bernardo (der Hauptverantwortliche und eigentliche Initiator der neuen Internetseite) und Miguel Gustavo Flusser. Die Kurzpräsentation der wesentlichen Absichten der Inter-

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netseite erinnert an die Ziele des ersten in Den Haag gegründeten Netzwerks. »FlusserBrasil is a space for the preservation and dissemination of Flusser’s thinking, which makes available his articles and his correspondence, announces his books and books about him, and, in addition, promotes and manages the publication of his work in Brazil and worldwide.« Langfristig sollen alle Texte Vilém Flussers, die Essays, die Bücher, die Vorträge und sämtliche Briefe ins Netz gestellt und damit allen Interessierten zugänglich gemacht werden. Am 3. März 2009 stürzt das Kölner Stadtarchiv, in dem fast sämtliche Originale des Flusser-Nachlasses eingelagert sind, in sich zusammen. Die Ursache ist ein Wassereinbruch wegen einer offenen Baugrube, die für den Ausbau der Kölner Nord-Süd-Stadtbahn angelegt worden ist. Die Schäden sind beachtlich. Flussers Nachlass befindet sich jedoch glücklicherweise in einem Raum, der von der Katastrophe weitgehend verschont bleibt. Am 21. März tauchen die insgesamt 70 Archivkartons auf. Sie sind nicht beschädigt und müssen daher nicht umgepackt werden. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse hat das Archiv nun beschlossen, nach Absprache mit Miguel Flusser wegen der Urheberrechte, sämtliche Texte zu digitalisieren und eine dem Publikum zugängliche navigierbare Datenbank zu erstellen. Die ersten Texte sind im April 2017 ins Netz gestellt worden. So hat sich nach fast 25 Jahren, und von verschiedenen Seiten her, der erste für das Den Haager-Archiv gewählte Ansatz nun doch noch durchgesetzt. Die angestrebte Digitalisierung sämtlicher Werke geht nicht nur auf die Tatsache zurück, dass Flussers mehrsprachiges zentrifugal angelegtes Werk sich kaum in eine abgeschlossene Gesamtausgabe zwingen lässt. Sie ist zugleich ein sichtbares Zeichen seines offenen, sich stets wandelnden und erneuernden Denkens und passt wohl in ihrer durch Hyperlinks verbundenen mehrschichtigen, offenen und unfertigen Netzstruktur am besten zu Flussers Denk- und Schreibpraxis.

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Epilog

»Wenn ich auf mein Leben zurückblicke – was ich sehr ungern tue, denn ich schau lieber nach vorne – […] dann finde ich gar keine Identität.« Vilém Flusser in einem Interview mit Patrick Tschudin

»Vilém wurde, nach nicht einfachen Anfängen, eine ›Berühmtheit‹«, schreibt David Flusser im Nachwort zum posthum erschienenen Sammelband Jude sein, »und zwar irgendwie meteorenhaft, und sein tragisches Ende bei einem Autounfall in seinem Vaterland ähnelte ebenfalls dem Einschlag eines Meteors.« Dieser Vergleich fängt auf treffende Art und Weise das Schicksalhafte von Vilém Flussers Existenz ein, den späten unerwarteten Erfolg und das ebenso abrupte vorzeitige Ende, welches zugleich einen Kreis schließt, stirbt er doch zwei Tage, nachdem er seinen ersten und zugleich letzten Vortrag in seiner Geburtsstadt gehalten hat, aus der er 52 Jahre zuvor geflüchtet ist. Flusser hat in vielerlei Hinsicht ein überaus exemplarisches Leben geführt, das wesentliche Momente aus Kultur, Politik, Gesellschaft und Technologie des letzten Jahrhunderts in sich fasst: die mehrsprachige Herkunft Prags, das Jüdische, das kulturelle und politische Experiment der Tschechoslowakei, den Spanischen Bürgerkrieg, die Moskauer Schauprozesse, den Nazismus, das Exil, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, Auschwitz und Hiroshima, die brasilianische Erneuerung in den frühen 1960er Jahren und die darauf folgende Erfahrung der Militärdiktatur, den Kalten Krieg, den Auf bruch der 1960er Jahre, den Prager Frühling, Glasnost und die Perestroika, den Fall der Berliner Mauer, die zunehmende Bedeutung des Computers und die Anfänge der Kommunikationsrevolution, die kurz nach seinem Tod zur Bildung des Internets geführt haben. Obwohl Flussers abenteuerliches widersprüchliches Leben und Werk nicht auf einen einzelnen Schwerpunkt reduziert werden kann, sind diese nach seinem Tod von den verschiedensten Seiten beansprucht worden. Flusser ist weder ausschließlich Prager noch Vertreter der untergegangenen mitteleuropäischen Kultur, er ist nicht der brasilianische Philosoph des 20. Jahrhunderts oder der digitale Denker, der prophetenhaft das Internet und die Kommuni-

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kationsrevolution vorausgesagt hat, ebenso wenig ist er der Verkünder eines neuen radikalen Post-Humanismus oder einer der zentralen Theoretiker der Fotografie und des Designs. Flussers Biographie zeigt, dass der Ursprung in seiner inneren Widersprüchlichkeit und Komplexität zwar prägend ist, dass sich aber die Bedeutung von Leben und Werk erst aus dem gesamten Lebensweg erschließen lässt. Dies gilt auch für Flussers Mehrsprachigkeit und die daraus resultierende Praxis der Selbstübersetzung. Obwohl Deutsch die erste Schreibsprache darstellt, ist diese von Anfang an mit hebräischen und tschechischen Elementen durchsetzt. Durch das spätere Hinzukommen des Englischen, Portugiesischen und Französischen hat sich die mehrsprachige Dynamik von Flussers Denken noch weiter entfaltet und verfeinert. Es wäre auch hier verfehlt, nach der wesentlichen Sprache zu fragen oder eine eindeutige Sprachhierarchie festlegen zu wollen. So wie es kein singuläres Zentrum gibt, keinen in sich stimmigen einheitlichen Ursprung, von dem aus sich Flussers Leben erklären ließe, so gibt es auch keinen durchgehenden roten Faden, der die verschiedenen heterogenen Lebensstationen und Denkerfahrungen zusammenbinden würde, keine einzelne Sprache, die alle anderen in sich aufnehmen könnte. Es ist nicht eine einzige Faser, die durch die ganze Länge läuft, um eine Metapher aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zu verwenden, sondern das Übergreifen und Ineinandergreifen der verschiedenen Fasern, die für den inneren Zusammenhalt sorgen. Das Erstaunlichste an Viléms und Ediths gemeinsamer Existenz zwischen Sprachen und Kontinenten ist ihre Fähigkeit, ihr Leben immer wieder neu zu erfinden. Vilém Flusser geht nicht am Exil zugrunde, wie der ebenfalls nach Brasilien geflohene Stefan Zweig, der sich in der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 mit einer Überdosis Veronal das Leben nimmt. Er wartet auch nicht darauf, in die Heimat zurückzukehren oder ein anderes Land zu emigrieren, wie viele andere Exilierte, beispielsweise Ulrich Becher, der von 1941 bis 1944 in Brasilien lebt und zu diesem erzwungenen Aufenthalt das Stück Samba schreibt, dessen Geschichte von einer Gruppe aus Europa geflüchteter Figuren in einem billigen Hotel am Rande des brasilianischen Urwalds handelt. Alle warten sehnsuchtsvoll auf das Ende des Krieges und eine baldige Rückkehr nach Hause. Flusser kehrt nach dem Krieg nicht sofort wieder nach Europa zurück, wie viele andere im Exil lebende Deutsche, sondern versucht, im neuen Umfeld Fuß zu fassen, was ihm auch gelingt. Dieser markante Unterschied zum Schicksal anderer Exilierter hat sicher nicht nur mit seinem Charakter zu tun, sondern auch mit seinem Alter: Flusser ist noch nicht einmal 19 als er Prag verlassen muss. Im Alter von 52 Jahren nehmen Edith und Vilém Flusser das Risiko auf sich, nach Europa zurückzukehren, um dort ein neues Leben anzufangen. Dass so etwas überhaupt möglich ist, liegt vor allem an der Liebesbeziehung, die sie stets aneinander gebunden hat.

Epilog

Flusser bestimmt die kulturelle Aufgabe der Juden als das Vorschlagen von Lebensmodellen. Sein Leben und Werk schlägt ebenfalls ein Modell vor, die vielschichtige Praxis des Übersetzens. Flussers Übersetzungstheorie versteht sich als ein zugleich existentielles, philosophisches und schriftstellerisches Modell, das uns einen möglichen Ausweg aus der Heimatlosigkeit einer absurden, wurzellosen Existenz zeigt. Wer in der Bodenlosigkeit lebt, lebt nach dem Modell der Übersetzung. Er springt von Sprache zu Sprache, von Kultur zu Kultur, von Lebensphase zu Lebensphase und erfährt dabei jedes Mal so etwas wie einen symbolischen Tod. Die Übersetzung ist eine ars moriendi. Neben der schon erwähnten Metapher des Kometen müsste daher noch die Metapher des Phönixes eingeführt werden, des mythischen Vogels, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt, um aus seiner Asche neu zu erstehen. Im Falle Flussers durchläuft dieser Phönix allerdings den Prozess der Wiedergeburt gleich mehrmals. Viléms und Ediths Leben steht im Zeichen des Übergangs und des Wechsels, der Neuerfindung, des Risikos und der ununterbrochenen Suche nach Freiheit.

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Abbildungen

Abbildung 1: Vilém Flusser, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 2: Vilém Flussers Studentenausweis an der Karlsuniversität in Prag, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 3: Vilém Flussers hebräisches Gebetsbüchlein (mit einem Begleittext von Edith Flusser), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 4: Vilém Flusser, São Paulo, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 5: Vilém Flusser (1940), Arquivo nacional São Paulo. Abbildung 6: Vilém Flussers Karteikarte aus dem Fremdenregister, Registro de Estrangeiros, Arquivo nacional São Paulo. Abbildung 7: Vilém Flussers Karteikarte aus dem Fremdenregister, Registro de Estrangeiros, Arquivo nacional São Paulo. Abbildung 8: Vilém Flussers Karteikarte aus dem Fremdenregister, Registro de Estrangeiros, Arquivo nacional São Paulo. Abbildung 9: Vilém und Edith Flusser im brasilianischen Ferienort Campos do Jordão in der Nähe von São Paulo, in: Revista 18, Centro da Cultura Judaica, V/20, São Paulo 2007, S. 42. Abbildung 10: Vilém Flusser (1950er Jahre), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 11: Vilém Flusser, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 12: Edith und Vilém Flusser (1960er Jahre), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 13: Samson Flexor, Um diálogo, Ölrelief (1968), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 14: Vilém Flusser, São Paulo (1960er Jahre), Studio 61, São Paulo, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 15: Vilém Flusser, São Paulo (1960er Jahre), in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 16: Victor, Edith, Vilém und Miguel Flusser am Flughafen von São Paulo (späte 1960er Jahre), Vilém Flusser Archiv Berlin.

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Abbildung 17: Vilém Flusser im Garten des Hauses in Robion (1980er Jahre), in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 18: Auszug aus einem Terminkalender, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 19: Edith und Vilém Flusser (1970er Jahre), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 20: Mira Schendel und Vilém Flusser auf der Terrasse des Hauses in São Paulo (1960er Jahre), in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 21: Besuch in São Paulo (1980er Jahre), José Carlos Bisconcni Gama, São Paulo, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 22: Besuch in São Paulo (1980er Jahre), José Carlos Bisconcni Gama, São Paulo, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 23: Video (1973), Daniel Vittet, Genf, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 24: Video (1973), Daniel Vittet, Genf, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 25: Video (1973), Daniel Vittet, Genf, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 26: Vilém und Edith Flusser in Marseille (1980er Jahre), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 27: Eine der letzten Schreibmaschinen von Vilém Flusser, in: absolute Vilém Flusser, hg. mit biografischen Essays von S. Wagnermaier und N. Röller, Berlin 2003, S. 86. Abbildung 28: Vilém Flusser, Zwerge (Textausschnitt), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 29: Vilém Flusser in Robion (März 1983), Eric Francesci, Studio X/ Gamma, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 30: Vilém und Edith Flusser mit ihrem Hund Alma in Robion (1980er Jahre), Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 31: Vilém und Edith Flusser in Robion, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 32: Andreas Müller-Pohle, Edith und Vilém Flusser in Israel (23.9. 1991), Foto von Joan Fontcuberta, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 33: Hochschule der Künste Berlin (1985), in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 34: Vilém Flusser (späte 1980er Jahre). Abbildung 35: Thilo Mechau, Vilém Flusser, Foto von Thilo Mechau, Vilém Flusser Archiv Berlin.

Abbildungen

Abbildung 36: August 1991, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 37: Andreas Müller-Pohle, Edith und Vilém Flusser in Aix-en-Provence (Juli 1984), Foto von Andreas Müller-Pohle, Göttingen, Vilém Flusser Archiv Berlin, in: Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992. Abbildung 38: Thilo Mechau, Vilém und Edith Flusser, Foto von Thilo Mechau, Vilém Flusser Archiv Berlin. Abbildung 39: Ed Sommer, Vilém und Edith, Foto von Ed Sommer, Vilém Flusser Archiv Berlin.

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Personenregister Abramo, Cláudio  119 Adler, Alfred  152 Adorno, Theodor W.  159, 161, 311 Aicher, Otl  217 Amaral, Antonio Henrique  123 Ameisenhausen, Peter  279 Anders, Günther  173 Angelus Silesius  146, 147, 208, 236 Aragon, Louis  238 Arendt, Hannah  24, 114, 138, 163, 236, 367, 391 Aristoteles  37, 314, 386, 390 Armstrong, A. H.  97 Aronis, Jacqueline  138 Assmann, Aleida  382 Augustinus  127, 310 Avenarius, Richard  47 Azevedo, Ricardo  135, 137

Bachelard, Gaston  267, 337, 391 Bacon, Francis  190 Bagolini, Bernardo  186 Bagolini, Luigi  186 Baitello Junior, Norval  355, 396 Barbuy, Heraldo  101 Barreto, José Roberto  17 Barth, Gustav  40, 56, 59, 67, 78, 79, 92, 96, 97, 148, 153, 161 Barthes, Roland  276 Basch, Melitta  47, 49, 50, 59, 61 Bataille, Georges  232, 233

Baudrillard, Jean  222, 229, 250, 294, 330, 335, 381, 383 Baum, Oskar  42 Bayrle, Thomas  287 Bazon, Brock  280, 320, 321 Bazzoli, François  249 Bec, Dany (Danièle)  201 Bec, Louis  182, 189, 192, 225, 233, 237, 248-254, 272, 278, 284, 317, 324, 361, 365, 371, 380, 396 Becher, Ulrich  401 Becker, Claudia  355 Benjamin, Walter  116, 215, 276 Bennett, Dereck  280 Bense, Max  160-161, 217, 218 Bento Prado de Almeida  109 Berger, René  179, 181, 182, 183, 187, 191 Bergson, Henri  227 Bernard, Jan  344 Bielicky, Michael  274, 366, 370, 371 Black, Max  97 Blasquiz, Klaus  229 Bloch, Alex  90-92, 94, 105, 112, 129130, 131, 132, 144, 173, 183, 190, 211, 221, 223, 224, 252, 257, 271, 272, 273, 274, 321, 333, 341, 342, 345, 373 Bloss, Jochen und Carola  348, 370 Bode, Arnold  161 Böhle, Knud  314 Bolle, Willi  396

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

Bollmann, Stefan  286, 323, 332-334, 338, 339, 365, 368, 374, 375, 376 Bonassi, Orazio  354 Bondy, François  290-292 Bondy, Fritz  290 Bonnier, Alexandre  182, 191, 196, 227-238, 242, 249, 323, 360, 361 Borba, Gabriel  118 Bosch, Hieronymus  276 Brecht, Bertolt  350, 392 Breisach, Felix  340 Breton, André  233 Brillouin, Léon Nicolas  294 Brod, Max  41, 43, 161-162, 220 Buber, Martin  60-61, 92, 147, 188, 214, Bueno, Eli  398 Bueno, José  84, 93, 101, 105, 120, 126-127, 128 Bunne, Egon  371 Burda, Hubert  355 Bureaud, Annick  238, 244 Burson, Nancy  279 Bystřický, Jiří  398

Cali, François  249 Camus, Albert  10-11, 111, 129, 186, 348, 386, 391, 393 Čapek, Josef  40, 43, 47, 49 Čapek, Karel  38, 39-40, 41, 43, 47 Cardoso, Rafael  378, 384 César (Baldaccini)  191 Cézanne, Paul  190 Chaves, Mauro  104, 105, 112, 119 Chesterton, G. K.  147 Coen, Ethan  369 Coen, Joel  369 Coester, Otto  310 Côme, Frédérique  265 Corção, Gustavo  147

Crispin, Rubens  395 Czerna, Cirell  123

De Almeida Prado, Décio  105 De Campos, Haroldo  116, 126, 132, 161, 163 De Kerckhove, Derrick  383 De Lafayette, Marie-Madeleine  233 Delarge, Jean Pierre  268 Deleuze, Gilles  294 Demetz, Peter  23, 42 Derrida, Jacques  315, 317, 318 De Santana Paulo, Viviane  107 De Santillana, Giorgio  163 Descartes, René  190, 384 Dimke, Hans-Peter  17, 275, 283, 297303, 323, 383 Dimke, Maren  299, 301 Doermer, Christian M.  298, 357, 384 Donasci, Octavius  137 Doppler, Christian  37 Doria, Anne  265-268 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  147, 214, 291 Drucker, Rudolf  163, 217 Duarte, Rodrigo  397 Duchamp, Marcel  392 Duvignaud, Jean 191, 238, 245, 264 Dvořák, Antonín  29

Eichmann, Adolf  24, 114 Einstein, Albert  30, 47 Enzensberger, Hans Magnus  293 Erasmus  386, 387

Fellmann, Emil Alfred  289 Ferreira da Silva, Dora  98, 99, 101, 105, 113, 123, 126, 127, 132-134, 310 Ferreira da Silva, Vicente  74, 98, 101, 103, 104, 111, 115, 126, 127, 131, 132-134, 348 Ferrier, M.  265

Personenregister

Feyerabend, Paul  289 Fichte, Hubert  16 Finger, Anke  56, 62, 67, 165, 224, 358, 379, 397, 398 Fink, Romy  105, 126 Fischer, Hervé  192, 238, 243, 269 Fischer, Roland  320 Flexor, Samson  105, 123, 124-125, 126 Flusser, Edith  13, 15, 16, 42, 51, 5669, 77, 78, 79, 84-95, 97, 98, 102, 105, 106, 112, 115, 120, 126, 128, 130, 131, 133, 156, 158, 160, 162, 164, 165168, 173-176, 179-181, 186, 187, 189, 191, 197, 198, 201-203, 207, 209-213, 218, 220, 224, 225, 229, 232, 235, 236, 237, 246, 247, 251-254, 267, 268, 271, 272, 275, 278, 280, 286, 287, 288, 299, 301, 304-307, 311-314, 317-319, 326, 328, 332, 334, 336-338, 341-343, 347-349, 351, 353-371, 374377, 386-388, 371, 393, 398, 402, 403 Flusser, David  46, 81, 87, 95, 96, 97, 134, 145, 152, 159, 162, 183, 195, 204, 207, 208, 209, 213, 215, 285, 292, 336, 339, 341, 343, 357, 360, 361, 370, 392, 401 Flusser, Dinah  17, 78, 92, 98, 104, 123, 153, 154, 157, 167, 181, 213, 252, 253, 271, 272, 336, 343, 354, 355, 357, 360-36, 398 Flusser, Gustav  38, 43, 46, 47- 51, 58, 59, 60, 61, 63, 76, 77, 78, 79 Flusser, Hannah  336 Flusser, Karel  46, 84, 97, 181, 212, 213, 360 Flusser, Miguel Gustavo  17, 51, 78, 92, 94, 130, 160, 284, 336, 360, 361, 367, 371, 398, 399 Flusser, Otto  46, 95, 96, 213, 360 Flusser, Victor  17, 79, 96, 105, 160, 213, 223, 336, 341, 356, 360, 361, 371

Fontcuberta, Joan  278-279, 286, 287, 304 Forest, Fred  17, 181, 182, 191, 196, 202, 218, 228, 238-248, 264, 265, 267, 323, 340, 365, 371, 384 Formiguera, Père  279 Foucault, Michel  113, 294 Fournier, Alain  233 Franquin, André  228 Freier, S.  210, 297 Freud, Sigmund  43, 123, 137, 152, 220, 387 Freund, Gisèle  229 Fröhlich, Gerhard  398 Fulchignoni, Enrico  229

Gadamer, Hans-Georg  366 Gatard, Jeanne  182, 228-238, 310 Gebser, Jean  200-201, 293 Gente, Peter  328 Gerstner, Karl  206 Gerz, Jochen  320 Giannotti, José Arthur  140, 383 Goethe, Wolfgang von  64, 78, 130, 218, 314, 350, 364 Goetz, Rainer  297, 315-318, 343 Goldstein, Chava  210 Grassi, Ernesto  146, 147, 157, 163, 267 Groddeck, Georg  123 Grosslercher, H.  185, 186, 190 Grossmann, Martin  395 Guldin, Rainer  14, 15, 396, 397, 398 Gustavo Bernardo  14, 15, 378, 396, 397, 398

Hanke, Michael  396, 397 Hartmann, Maren  357 Hašek, Jaroslav  21, 23, 387 Hearst, Stephen  306 Hecht, Ernst  163 Heer, Friedrich  162 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  337

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

Hegenberg, Leônidas  111, 114, 159 Heidegger, Martin  32, 94, 103, 108, 116, 145, 147, 152, 155, 156, 190, 295, 386, 391 Heine, Heinrich  310 Heißenbüttel, Helmut  280 Hejdánek, Ladislav  344 Hesse, Hermann  90, 129 Hölderlin, Friedrich Höllerer, Walter  159 Homer 314 Horb, Max  42 Hume, David  38, 67 Husserl, Edmund  214, 215, 220, 280, 337, 339, 386, 391

Illich, Ivan  381 Ingold, Felix Philipp  17, 173, 214, 218, 222, 223, 235, 273, 274, 281, 282, 283, 288-296, 297, 320, 323, 327, 333 Irrgang, Daniel  17, 355, 397 Ismael, José Carlos  104, 112, 121, 203, 281 Italiaander, Rolf  162,

Jäger, Gottfried  17, 221, 297, 299, 303-306 Jakobson, Roman  43 Jakubovic, Vera  210 Janoušek, Ivo  371 Jarry, Alfred  249 Jaspers, Karl  97, 145, 146, 147, 213, 232 Jesenská, Milena  43 Jespersen, Otto  97, 107 Jeudy, H.-P.  335 Johann vom Kreuz  147, 208, 310 Jouhandeau, Marcel  233 Joyce, James  294 Jung, Carl Gustav  230 Jungk, Robert  320, 321

K afka, Franz  10, 11, 21, 22-26, 29, 30, 31, 32, 33, 35, 38, 39, 41, 42, 43, 59, 63, 74, 105, 114, 115, 185, 219, 220, 244, 281, 341, 349, 350, 373, 374, 385, 386, 387 Kaltenbrunner, Gerd Klaus  153 Kamper, Dietmar  335, 336 Kandinsky, Wassily  294 Kant, Immanuel  48, 110, 221, 367 Kapp, Ernst  173 Khayyām, Omar  234 Kiffl, Erika  274, 287 Klintowitz, Jacob  52, 123, 158 Kemp, Wolfgang  335 Kepler, Roberto  137-138 Kierkegaard, Søren Aabye  11, 171, 310 Kittler, Friedrich  330, 335, 338, 365, 371, 376, 383 Klein, Yves  191 Klengel, Susanne  396 Kliesch, Marion  60 Kloock, Daniela  258, 263 Knöfel, Thomas  365 Koeltzsch, Ines  47 Koestler, Arthur  392 Komensky, Jan Ámos  34, 35 Kourim, Zdenek  164 Kowalski, Piotr  229 Krens, Thomas  317 Kronenberg, Kenneth  379 Krüger, Michael  377 Kubrick, Stanley  230

Lafer, Celso  104, 112, 114, 159, 163, 378, 398 Laotse 220 Latour, Bruno  389 Lauerwald, Karin  356, 366 Lawrence, D. H.  101 Leão, Maria Lília  91, 104, 281, 310, 378 Lear, Edward  278

Personenregister

Lederer, Aleš  344 Leibniz, Gottfried Wilhelm  386 Lenger, Hans-Joachim  300 Levinas, Emmanuel  215 Lévi-Strauss, Claude  267 Levitte, Georges  219 Lewin, Wera  162 Lichtsteiner, Rudolf  274, 288, 297 Lilienthal, Peter  320, 339 Link, Jürgen  313, 325 Lischka, Gerhard Johann  315 Lucchese, Christophe  380 Luhmann, Niklaus  335 Lutz, Dieter  161 Lyotard, Jean-François  222

Mach, Ernst  37, 47 Machado, Arlindo  395 Magris, Claudio  32 Mahlow, Dietrich (Dieter)  297, 315318 Mahlow, Elly-Marie  317 Malchow, Helge  328 Malevič, Kazimir Severinovič  282, 294 Mallarmé, Stéphane  294 Maltez Novaes, Rodrigo 17,  66 Mamiani, Maurizio  254 Mandelbrot, Benoît B.  304 Marburger, Marcel René  355 Mareš, Petr  344 Maritain, Jacques  147 Marquis de Sade, Donatien-Alphonse-François 273 Marx, Groucho  137 Marx, Karl  220, 391 Masaryk, Tomáš Garrigue  30, 36, 38, 42, 43, 47, 123 Matejovski, Dirk  383 Mathesius, Vilém  43 Mauthner, Fritz  37

McLuhan, Marshall  173, 191, 267, 276, 293, 299 Meister Eckhart  146, 208, 310, 350 Memling, Hans  190 Mendes, Ricardo  383, 395, 396 Mesri, Jean  266 Meyer, Alan  98, 104, 112, 123, 167 Meyer-Clason, Hans Curt Werner 77, 155, 156-157, 162, 163 Meyrink, Gustav  26, 35, 39, 41 Michael, Joachim  398 Michaux, Henri  233, 294 Minc, Alain  294 Mindlin, Betty  104 Minkoff, Gérald  191 Misch, Georg  97 Moles, Abraham  217-227, 229, 237, 238, 253, 265, 266, 268, 269, 271, 282, 283, 292, 294, 307, 319, 323, 324, 325, 326, 349-350, 368 Moucha, Josef  371 Müller, Hans-Joachim  382 Müller-Pohle, Andreas  17, 205, 248, 274, 276-288, 297, 299, 300, 303, 307, 323, 324, 326, 327, 328, 330, 331, 333, 342, 351, 358, 365, 376, 386, 390 Mukařovský, Jan  43 Mundt, Wilhelm  386

Neruda, Jan  29, 30 Neruda, Pablo  30 Niceall, Barbara  266 Nietzsche, Friedrich  147, 262, 382, 391 Nora, Simon  294

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Ein Leben in der Bodenlosigkeit — Biographie

Ortega y Gasset, José  386, 391 Orwell, George  299, 392 Osthoff, Simone  398 Otth, Jean  191

Paeschke, Hans  155, 157, 173, 245, 308-309 Pakis, Valentine A.  379 Pascal, Blaise  74, 310 Pavel, Ota  42 Pawley, Martin  377, 395 Perec, Georges  264 Peternák, Miklós  320, 396 Platon  296, 367, 386, 390 Pluchart, François  230 Porchat, Oswaldo  104 Poster, Mark  379, 398 Postman, Neil  383 Poullin, Jacques  217 Pound, Ezra  294 Preischkat, Wolfgang  327 Pross, Harry  306-309 Pross, Marianne  308 Puccini, Giacomo  230

Rakusa, Ilma  288 Rapoport, Anatol  182, 196 Rapsch, Volker  17, 61, 173, 220, 283, 284, 307, 308, 317, 322-331, 332, 333, 334, 339, 340, 381, 386 Reale, Miguel  83, 101, 103-104, 106, 113, 119, 126, 127, 128, 131, 159, 160, 161, 224, 225 Restany, Pierre  191 Rezek, Petr  348, 371 Riehm, Ulrich  314 Rilke, Rainer Maria  29, 32, 98, 101, 105, 152, 236, 392 Rissa (Götz, Karin)  191 Robbe-Grillet, Alain  267 Röller, Nils  320, 355, 396

Rötzer, Florian  285, 297, 309, 317, 323, 328, 334, 335-336, 365, 371, 377 Rohmer-Moles, Elisabeth  217-227, 229 Rónai, Paulo  107-108 Rosenfeld, Anatol  108-109, 112-113, 116, 161, 319 Roth, Nancy Ann  379 Rouanet, Nancy  398 Rouanet, Sérgio Paulo  27, 379 Russell, Bertrand  67, 145

Sander, Klaus  58, 354, 355, 365, 368, 374, 376, 395 Santaella, Lucia  25, 395, 397 Santayana, George  97 Sartre, Jean-Paul  190, 310, Scarabôtolo, Helio  160, 161 Schenberg, Mário  199 Schendel, Mira  105, 123, 125, 126, 172, 196-201, 246, 256, 310, Schiller, Friedrich  218 Schlegel, August Wilhelm  107 Schlink, Bernhard  167 Schmidt-Klingenberg, Michael  381382 Schmitz, Hermann  200 Scholem, Gershom  209, 291 Scholl, Inge  217 Schopenhauer, Arthur  37, 105 Schubert, Franz  105, 236 Schütz, Hans J.  32 Schumann, Robert  105 Schwamborn, Vera  348, 356, 359, 365-368, 398 Schwarz, Angelo  254 Segantini, Giovanni  162 Serres, Michel  135, 294, 389 Shannon, Claude Ellwood  217, 218 Shelley, Mary  39 Siever, Holger  396 Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch

Personenregister

Slánský, Rudolf  341, 392 Smetana, Bedřich  36 Sokrates  309, 387 Sontag, Susan  276 Spanudis, Theon  199, 200 Spengler, Oswald  152 Špidlovà, Martina  60 Spinoza 37 Spitz, Eric  229 Starý, Rudolf  344 Stecker, Raimund  371 Stein, Gertrude  294 Steinhaus, Federico  186 Stendhal 233 Stettler, René  315 Ströhl, Andreas  17, 35, 36, 37, 47, 67, 79, 244, 345, 346, 347, 348, 365, 370, 379, 381, 395, 397 Swann,  Gordon 267

Tavares de Miranda, José  119 Tawney, R. H.  97 Teichgräber, Katharina  315 Thenot, Jean-Paul  191, 238, 243 Thomas von Aquin  147, 152 Tsai, Wen-Ying  361 Tschechne, Martin  299 Tschudin, Patrick  171, 306, 344, 401

Vaihinger, Hans  110 Valéry, Paul  294 Van Gogh, Vincent  190, 273 Van Orman Quine, William  163 Vargas, Getulio  68, 83, 84, 156 Vargas, Milton  98, 100, 101, 103, 105, 112, 115, 126, 127, 130-132, 139, 140, 159, 166, 183, 187, 195, 204, 205, 206, 219, 252, 267, 268, 312, 324, 354, 365, 369, 378, 395 Vautier, Ben  316 Virilio, Paul  222, 264, 321, 381, 383 Voltaire  386, 387

Von Foerster, Heinz  330 Von Glasersfeld, Ernst  335 Von Humboldt, Wilhelm  107 Von Kleist, Bernd Heinrich Wilhelm  262, 350 Von Ockham, Wilhelm  31, 388

Wagner, Jochen  68, 185, 186 Wagnermaier, Silvia  336, 338, 340, 355, 376, 396 Wagnerová, Alena  357, 358, 362, Waldman, Gabriel  104 Walther, Elisabeth  161 Washington Vita, Luís  101 Weaver, Warren  217 Weibel, Peter  320, 330, 335, 355, 371, 397 Weil, Simone  147, 310, 364 Weiner, Lewis  50, 149, 153, 162, 207, 354, 360-361 Weizmann, Chaim  209 Wellek, René  43 Wildermuth, Armin  289-290, 295 Wingert, Bernd  297, 313-315 Winkler, Steffi  17, 398 Wittgenstein, Ludwig  32, 98, 145, 389, 402 Wolff, Hellmut  55, 143, 149 Wurm, Fabian  317, 377

Xandó, Niobe  90, 129 Zeitoun, Jean  229 Zelich, Cristina  278 Zemànek, Erich  210 Zepf, Irmgard  17, 297, 307, 310-313, 349, 371, 396 Zielinski, Siegfried  17, 320-321, 335, 336, 338, 355, 397 Zimmermann, Jörg  299 Zweig, Stefan  402

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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