Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872: Auf Grund der stenographischen Niederschrift hrsg. vom Ständigen Ausschuß [1 ed.] 9783428572472, 9783428172474


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German Pages 272 Year 1873

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Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872: Auf Grund der stenographischen Niederschrift hrsg. vom Ständigen Ausschuß [1 ed.]
 9783428572472, 9783428172474

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Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872 Auf Grund der stenographischen Niederschrift hrsg. vom Ständigen Ausschuß

Duncker & Humblot reprints

Verhandlungen der

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Besprechung der socialen Frage.

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Eisenacher Versammlung zur

Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872.

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Ständigen Ausschuß.

Leipzig, Ber lag

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187^;.

L Hum blot.

Das Recht der Übersetzung, wie alle anderen Rechte, an den Gesammt-

Verhandlungen, wie an den einzelnen Referaten und Reden Vorbehalten von der

Verlagsbuchhandlung.

Erste Sitzung.

Sonntag, den 6. October, Vormittags 10^ Uhr.

?rot'. Dr. G. Schmöller (Straßburg) bittet die Anwesenden, Platz zu nehmen, und eröffnet die Verhandlungen mit folgenden Worten: Meine Herren! Erlauben Sie, daß ich, ehe wir in die Tages-Ordnung und in die Debatte eintreten, im Namen der Herren, welche Sie zu der heutigen Versammlung eingeladen haben und specieller noch im Namen derer, welche das Vorbereitungs-Comite gebildet haben, Sie Alle herzlich willkommen heiße, Ihnen unsern Tank für Ihr Erscheinen ausspreche und mit wenigen Worten die Gedanken kennzeichne, mit denen wir diese Versammlung berufen haben. Wir haben uns zu rechtfertigen, daß wir — meist Gelehrte, die sonst dem öffentlichen Leben ferne stehen —- es gewagt haben, eine solch statt­ liche, ehrenwerthe Versammlung zu berufen, in der Hoffnung, hier eine Basis zu finden für die Reform unserer socialen Verhältnisse, allgemeine Zu­ stimmung zu erwerben für Gedanken, die da und dort längst vorhanden, doch in der öffentlichen Meinung noch nicht zur Herrschaft gelangt sind. Der Liefe Zwiespalt, der durch unsere gesellschaftlichen Zustände geht der Kampf, welcher heute Unternehmer und Arbeiter, besitzende und nicht be­ sitzende Klassen trennt, die mögliche Gefahr einer uns zwar bis jetzt nur von ferne, aber doch deutlich genug drohenden socialen Revolution, haben seit einer Reihe von Jahren auch in weitern Kreisen Zweifel erregt, ob die auf dem Markt des Tages unbedingt herrschenden volkswirtschaftlichen Doktrinen, die in dem volkswirtschaftlichen Congreß ihren Ausdruck fanden, immer die Herrschaft behalten werden, ob mit Einführung der Gewerbefreiheit, mit der Beseitigung der ganzen veralteten mittelalterlichen Gewerbegesetz­ gebung in der That die vollkommenen wirtschaftlichen Zustände eintreten werden, welche die Heißsporne jener Richtung prophezeiten. In der Wissenschaft der deutschen Nationalökonomie zeigten sich längst abweichende Richtungen von großer Bedeutung; eine historische, eine philo­ sophische, eine statistische Schule entstand, die auf andern Grundlagen bauten, andere Methoden anwandten, als die an die englische Manchesterschule sich anlehnende deutsche volkswirtschaftliche Agitationspartei. Aber in den zunächst auf der Tagesordnung stehenden praktischen Fragen war man doch einig. Auch diese Schulen verlangten eine Reform des Zolltarifs, verlangten die Gewerbefreiheit; sie waren den damaligen conservativen Forderungen, welche die Erhaltung des Zunftwesens und die Beibehaltung feudaler Einrichtungen im Auge hatten, fernerstehend, als den Zielen des volkswirtschaftlichen Congreßes.

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Eröffnungsrede.

Nachdem aber diese Ziele erreicht, nachdem das Princip unbedingter volkswirtschaftlicher Freiheit bis zur letzten Consequenz verfolgt war, mußte

der innere Gegensatz sich zeigen. Er trat schnell um so schroffer zu Tage, als die sociale Frage, täglich an Bedeutung wachsend, am allerwenigsten ge­ eignet war, nur mit dem Princip der Nichtintervention des Staates, nur mit dem Dogma, den Egoismus des Einzelnen walten zu lassen, gelöst zu werden. Auch unser politisches Leben war unterdessen ein anderes geworden; in der Zeit der Kleinstaaterei und des preußischen Verfassungsconfliktes war es verständlich, daß man jede staatliche Thätigkeit mit Mißtrauen ansah, jede Reform lieber den Einzelnen und Vereinen, als der Gesetzgebung über­ lassen wollte. Der großartige Aufschwung des deutschen Reichs seit 1866 und 1870, die Versöhnung von Volk und Regierung, Parlament und Staats­ gewalt warf auch auf volkswirtschaftliche Fragen ein neues Licht. In der Bank-, in der Versicherungs-, in der Eisenbahnfrage sprach der Handelsstand sich in einer Weise aus, die vor 6—8. Jahren undenkbar gewesen wäre. Aus dem Arbeiterstande und seinen erprobten Führern entwickelten sich Bildungen, von denen die Doktrinäre der Manchesterschule nur mit Achsel­ zucken oder Erbitterung sprachen. Eine Anzahl zwar der regelmäßigen Besucher des volkswirtschaftlichen Congresses verschloß sich dem großen Umschwung der. Verhältnisse und An­ sichten nicht. Andere gehörten diesem Kreise mehr durch persönliche Be­ ziehungen, als durch ihre Principien an. Die eigentlichen Führer aber ver­ hielten sich um so schroffer gegen alle Reformpläne, die nicht unbedingt mit ihren einseitig doktrinären Principien in Einklang waren. Es gebe gar keine Arbeiterfrage, — so hieß es — es sei eine Gedankenverwirrung oder demagogische Hetzerei von einer solchen zu sprechen; der Arbeiterstand habe jetzt alles, was er brauche; wer nicht vorwärts komme, sei persönlich selbst daran schuld; selbst das Genossenschaftswesen wurde von Einzelnen scheel an­ gesehen, die Betheiligung des Arbeiters am Gewinn wurde als ein Eingriff in den Unternehmergewinn verurtheilt, die Gewerkvereine wurden angegriffen, weil man neue Zunftgedanken in ihnen witterte, überhaupt jede corporative Gliederung haßte; der Fabrikgesetzgebung, dem Fabrikinspektorate wurde so ziemlich jede Berechtigung für unsere deutschen Verhältnisse abgesprochen. Ueber Schiedsgerichte und Einigungsämter hielt inan ein verwerfendes Ketzer­ gericht in der Berliner volkswirtschaftlichen Gesellschaft. Es nahm jetzt fast den Anschein, als ob die Partei, die früher im Namen der Menschenrechte die Erlösung der nicht privilegirten Klassen von hartem Drucke gefordert, jetzt nur noch Sinn und Interesse für den einseitigen Klassenstandpunkt der Unternehmer hätte, als ob sie unter volkswirtschaftlicher Freiheit jetzt nur noch Freiheit für die großen Unternehmer und Kapitalbesitzer, für die großen Gesellschaften verstände, das Publikum auszubeuten. Eine dieser entgegengesetzte Richtung konnte von einem Auftreten auf dem volkswirtschaftlichen Congreß nichts erwarten; es galt auch hier, nicht den neuen Wein in alte Schläuche zu fassen, selbständig vorzugehen und für die Anschauungen, die in den verschiedensten politischen und wissenschaftlichen Kreisen längst Wurzel gefaßt hatten, eine einheitliche Sammlung, eine praktische Organisation zu schaffen. Denn nur dadurch konnte man hoffen, eindring-

Eröffnungsrede.

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Ucher aus die öffentliche Meinung und Gesetzgebung zu wirken. So entstand her Plan zu der heutigen Versammlung, als im Juli dieses Jahres eine kleinere Anzahl Beamte, Abgeordnete, Professoren und Journalisten zur Be­ sprechung dessen, was zu thun sei, sich in Halle versammelt hatte. Man verhehlte sich dabei die Schwierigkeit nicht, eine Einigung zu er­ zielen unter all denen, die als Gegner der sogenannten Manchesterpartei be­ kannt sind; die Schwierigkeit liegt darin, daß dieselben so verschiedenen politischen Parteien angehören. Die Professoren und Gelehrten dieser Richtung, die von ihren Gegnern soge­ nannten Kathedersocialisten zwar gehören fast alle den sich nahe stehenden Parteien der politischen Mitte an; aber sie beherrschen mit ihren volkswirthschaftlichen Ansichten nicht diese Parteien, die gesellschaftlich auf den Unter­ nehmerstand sich stützen und im Kampfe dieses Standes mit den Arbeitern diesen socialen Ursprung schwer ganz verleugnen können. Dieselben mußten, als sie diese Versammlung beriefen, sich klar sein, daß sie sowohl im fort­ schrittlichen, als im conservativen Lager sich Stützen suchen mußten; oder vielmehr, daß sie alle volkswirtschaftlichen Gesinnungsgenossen ohne jede Rücksicht auf politische Parteistellung zu gemeinsamer Berathung einladen mußten, wie es nunmehr geschehen. Wir haben absichtlich auch gemäßigte Socialisten und Mitglieder der Centrumspartei eingeladen. Bei solcher Zusammensetzung schien es aber gerathen, die Versammlung das erste Mal nicht zu groß werden zu lassen, d. h. nur eine bestimmte An­ zahl der hervorragendsten Parteiführer, Journalisten, Gelehrten, Industriellen und Arbeiter einzuladen. Nur in diesem Sinne haben wir die Besprechung als eine private bezeichnet, nicht in dem andern, als ob wir geheim halten wollten, was hier geplant werde. Weiter war durch diesen Charakter der Versammlung geboten, hier nicht über Principien zu debattiren, sondern sogleich in mecliam rem zu gehen, die wichtigsten im Augenblick schwebenden Reformpunkte herauszugreifen, wie die Frage der Arbeitseinstellungen, der Gewerkvereine, der Fabrikgesetzgebung und die Wohnungsfrage und zu versuchen in ihnen zu einem praktischen Resultate zu kommen. Gelingt das, so wird allseitig eine Wiederholung der Ver­ sammlung auf breiterer Basis gern in Aussicht genommen werden. Treten wir aber auch so ohue allgemeines Programm vor die Ver­ sammlung, das glaube ich zürn Schluffe meiner Einleitung doch aussprechen zu sollen, — die Mehrzahl derer, welche die Versammlung berufen und die Einladung unterzeichnet haben — die Männer, welche auf den deutschen Universitäten Nationalökonomie, Geschichte und Jurisprudenz lehren, und die ersten statistischen Büreau's leiten, stehen auf dem Boden einer durchaus ein­ heitlichen principiellen Ueberzeugung und haben gerade von ihr getragen, diesen Schritt gethan. Sie kommen überein in einer Auffassung des Staates, die gleich weit von der naturrechtlichen Verherrlichung des Individuums und seiner Willkür, wie von der absolutistischen Theorie einer alles verschlingenden Staatsgewalt ist. Indem sie den Staat in den Fluß des historischen Werdens stellen, geben sie zu, daß seine Aufgaben je nach den Kulturverhältnissen bald engere, bald weitere sind; niemals aber betrachten sie ihn, wie das Naturrecht und

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Eröffnungsrede.

die Manchesterschule, als ein nothwendiges möglichst zu beschränkendes Uebels immer ist ihnen der Staat das großartigste sittliche Institut zur Erziehung, des Menschengeschlechts. Aufrichtig dem constitutionellen System ergeben wollen sie doch nicht eine wechselnde Klassenherrschaft der verschiedenen einander bekämpfenden wirtschaftlichen Klassen; sie wollen eine starke Staatsgewalt,, welche über den egoistischen Klasseninteressen stehend, die Gesetze gebe, mit gerechter Hand die Verwaltung leite, die Schwachen schütze, die untern Klassen hebe; sie sehen in dem 200 jährigen Kampfe, den das preußische Beamtenthum und das preußische Königthum für Rechtsgleichheit, für Beseitigung aller Privilegien und Vorrechte der höhern Klassen, für Emancipation undHebung der untern Klassen siegreich gekämpft, das beste Erbtheil unseres deutschen Staatswesens, dem wir niemals untreu werden dürfen. In Beurtheilung unserer volkswirthschaftlichen Zustände leugnen sie ent­ fernt nicht die glänzenden unerhörten Fortschritte unserer Zeit in Technik und Produktion, in Handel und Verkehr, aber sie erkennen auch offen hie tiefen Mißstände an, die steigende Ungleichheit des Einkommens und Vermögens, das unreelle Treiben, die mangelnde Solidität in einzelnen Kreisen des Han­ dels, die Rohheit und Zügellosigkeit, die sich als Folge allgemeiner Ursachen in einem Theil der untern Klassen in steigendem Maße zeigt. Als Haupt­ ursache davon sehen sie den Umstand an, daß man in letzter Zeit bei allen Fortschritten der Arbeitstheilung, bei allen Neubildungen des Betriebs, der Geschäftseinrichtung, der Arbeitsverträge, wie der Gesetzgebung über diese Dinge, stets nur fragte, wird im Augenblicke dadurch die Produktion ge­ steigert und nicht die ebenso wichtige Frage stellte, welche Wirkung wird das auf die Menschen haben? gibt diese neue Organisation den genügenden An­ halt für Erzeugung der moralischen Faktoren, ohne welche die Gesellschaft nicht bestehen kann? erzieht sie die jugendlichen Elemente genügend? wirkt sie bei den Erwachsenen so auf Fleiß, Sparsamkeit, Ehrbarkeit, Familienleben, daß auch hier Fortschritte neben den volkswirthschaftlichen wahrscheinlich sind? Sie sind überzeugt, daß das Uebersehen dieses psychologischen Zusammenhangs zwischen den Organisationsformen der Volkswirthschaft und dem ganzen sitt­ lichen Zustand einer Nation der Kernpunkt des Uebels ist, daß von der Er­ kenntniß dieses Zusammenhangs die Reform auszugehen hat. Ihr Urtheil über die Arbeiterfrage gründet sich auf diese Anschauungen. Sie geben zu, daß die Arbeiter sich heute etwas besser kleiden und nähren, daß vielleicht nickt so viele tausende heute eines langsamen Hungertodes sterben, wie in vergangenen Jahrhunderten. Aber es scheint das ihnen ein geringer Trost. Sie fragen in erster Linie, ob die Lebensbedingungen, unter denen die meisten Arbeiter heute leben, ihren sittlichen und wirtschaftlichen Fortschritt wahrscheinlich machen und sie müssen das wenigstens für einen großen Theil der Arbeiter verneinen. Statt dessen sehen sie dieselben mit den besitzenden und gebildeten Klassen in immer schrofsern Gegensatz treten und dabei scheint ihnen nicht der Gegensatz der wirtschaftlichen Lage, sondern die Kluft in Gesittung, Bildung, Anschauungen und Idealen als das gefähr­ lichere. Sie erinnern sich aus der Geschichte, daß alle höhere Kultur wie die der Griechen, der Römer und anderer Völker an ähnlichen Gegensätzen, an socialen Klassenkämpfen und Revolutionen, an der Unfähigkeit, eine Ver­

Eröffnungsrede.

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söhnung zwischen den höhern und den untern Klassen zu finden, — zu Grunde gegangen ist. Wenn auch noch in weiter Ferne, sehen sie ähnliche Gefahren für unsere Kultur, wenn es nicht gelingt auf Grund unserer Rechtsgleichheit, unserer allgemeinen Schul- und Wehrpflicht, sowie auf Grund all der weitern Reformen, an denen die Gegenwart arbeitet, die untern Klassen soweit zu heben, zu bilden, zu versöhnen, das; sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus der Gesellschaft und des Staates einfügen. Nicht eine Nivellirung in socialistischen Sinn ist unser Gesellschaftsideal; wir halten die Gesellschaft für die normalste und gesündeste, die eine Stufen­ leiter verschiedener Existenzen, aber mit leichtem Uebergang von einer Sprosse zur andern darstellt; unsere heutige Gesellschaft aber droht mehr und mehr einer Leiter zu gleichen, die nach unten und oben rapide wächst, an der aber die mittleren Sprossen mehr und mehr ausbrechen, an der nur noch ganz oben und ganz unten ein Halt ist. Unzufrieden mit unsern bestehenden socialen Verhältnissen, erfüllt von der Nothwendigkeit der Reform predigen wir doch keine Umkehr der Wissen­ schaft, keinen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse, wir Protestiren gegen alle socialistischen Experimente. Wir wissen, daß die großen Fortschritte der Geschichte nur das Resultat Jahrhunderte langer Arbeit sind, wir wissen, daß stets das Bestehende dem Neuen einen fast unüberwindlichen zähen Wider­ stand entgegensetzt, weil eben das Bestehende in den Ueberzeugungen und Lebensgewohnheiten der Masse wurzelt. Wir erkennen nach allen Seiten das Bestehende, die bestehende volkswirtschaftliche Gesetzgebung, die bestehenden Formen der Produktion, die bestehenden Bildungs- und psychologischen Ver­ hältnisse der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen als die Basis der Reform, als den Ausgangspunkt unserer Thätigkeit an; — aber wir verzichten darum nickt aus die Reform, auf den Kampf für eine Besserung der Verhältnisse. Wir wollen keine Aufhebung der Gewerbefreiheit, keine Aufhebung des Lohnwerhältnisses; aber wir wollen nicht einem doktrinären Princip zu Liebe, die grellsten Mißstände dulden und wachsen lassen; wir treten für eine maßvolle, aber mit fester Hand durchgefübrte Fabrikgesetzgebung auf, wir verlangen, daß nicht ein sogenannter freier Arbeitsvertrag in Wahrheit zur Ausbeutung des Arbeiters fübre, wir verlangen die vollste Freiheit für den Arbeiter bei Fest­ stellung des Arbeitsvertrags mitzureden, selbst wenn er da Ansprüche erheben sollte, die scheinbar mit dem alten Zunftwesen eine gewisse Analogie haben. Wir verlangen, daß die Freiheit überall durch die Öffentlichkeit controlirt werde, und daß wo die Öffentlichkeit thatsächlich fehlt, der Staat untersuchend eintrete und ohne in die Unternehmungen sich zu mischen, das Resultat publicire. Wir verlangen von diesem Standpunkt ein Fabrikinspektorat, ein Bank-, ein Versicherungscontroleamt, wir fordern von diesem Standpunkt aus bauptsächlich Enqueten in Bezug auf die sociale Frage. Wir verlangen uicht, daß der Staat den untern Klassen Geld zu verfehlten Experimenten gebe, aber wir verlangen, daß er ganz anders als bisher für ihre Erziehung und Bildung eintrete, wir verlangen, daß er sich darum kümmere, ob der Arbeiterstand unter Wohnungsverhältnissen, unter Arbeitsbedingungen lebt, die ihn nothwendig noch tiefer herabdrücken. Wir glauben, daß eine zu große Ungleichheit der Vermögens- und Ein-

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Wahl des Bureaus.

kommensvertheilung, daß ein zu erbitterter Klassenkampf mit der Zeit auch alle freien politischen Institutionen vernichten muß, und uns wieder der Ge­ fahr einer absolutistischen Regierung entgegenführt. Schon darum glauben wir, daß der Staat einer solchen Entwickelung nicht gleichgültig zusehen dürfe. Wir verlangen vom Staate, wie von der ganzen Gesellschaft und jedem Einzelnen, der an den Aufgaben der Zeit mit arbeiten will, daß sie von einem großen Ideale getragen seien. Und dieses Ideal darf und soll kein anderes sein, als das, einen immer größeren Theil unseres Volkes zur Theilnahme an allen höhern Gütern der Kultur, an Bildung und Wohlstand zu be­ rufen, das soll und muß die große im besten Sinne des Wortes demokratische Aufgabe unserer Entwicklung sein, wie sie das große Ziel der Weltgeschichte überhaupt zu sein scheint. — Toch genug. Wir wollen ja nicht von den großen principiellen Fragen heute sprechen, sondern einzelnen praktischen Problemen näher treten. Es schien nur zweckmäßig, ehe wir in die Debatte eintreten, wenigstens den prin­ cipiellen Standpunkt derer, welche hauptsächlich die Versammlung veranlaßt haben, loyal und offen darzulegen. (Beifall).

Gehen wir zur Sache über, so wäre das erste, daß die Versammlung sich einen Vorsitzenden erwählt. Ich möchte mir erlauben, im Namen des Vorbereitungscomites dazu Herrn ?rok. Dr. Gneist aus Berlin vorzu­ schlagen. Ich frage, ob die Versammlung diesem Vorschläge zustimmt?' (Allseitiges Ja!) So darf ich also Herrn ?rok. Gneist bitten, den Platz des Vorsitzenden einzunehmen! ?rof. vr. Gneist, (Berlin): Meine hochverehrten Herren! Ich sollte Bedenken tragen, die Ehre der Geschäftsführung anzunehmen, welche Sie die Güte haben mir zu übertragen! Ich glaube aber, in einer Zeit, und unter Umständen, in welchen es sich um die wirtschaftlichen, und sittlichen Existenz­ fragen des deutschen Volkes handelt, ist es Pflicht eines Jeden, seinen kleinen Theil beizutragen, diese Fragen durch offenen klaren Austausch der Ideen zu fördern! Das Wenige, was ich dazu beitragen kann, ist Geschäftsführung! Handelte es sich darum, die sachliche Leitung unserer Debatten in dem Sinne zu übernehmen, daß der Vorsitzende mit dem Uebergewicht seiner wissenschaft­ lichen Autorität eingreifen dürfte: so würde der Vorsitz ganz anderen Männern gebühren, den hochverdienten Namen, den berühmten Männern welche in Deutschland als Vertreter dieser Fragen bekannt sind! Ich setze voraus, meine Herren, Sie übertragen -die Geschäftsführung einer anderen Seite, um die bedeutenderen Kräfte für die sachliche Betheiligung an der Debatte frei zu machen. In diesem Sinne nehme ich die mir zugedachte Ehre dankend an, und frage die hochgeehrte Versammlung, ob es ihr an­ genehm ist, daß als assistirende Vorsitzende, — wie das Vorbereitungs-Comite Ihnen vorschlägt — die Herren Staatsminister von Roggenbach und Herr ?rok. Hildebrand mich unterstützen? (Die Versammlung bejaht dies.) So bitte ich Herrn von Roggenbach und Herrn Dr. Hildebrand mich gütigst im Vorsitz zu unterstützen. Nur unter dieser Voraussetzung kann ich in Volks--

Zur Geschäftsordnung.

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wirtschaftlichen Fragen der Geschäftsführung vorstehen. Zch muß gestehen, ich komme mir dabei ein wenig vor wie Saul unter den Propheten! Um sodann das Bureau zu vervollständigen, bitte ich um die Zustimmung der Versammlung, daß als Schriftführer die Herren von Bojanowsky (Weimar), Buchhändler C. Geibel ft'. (Leipzig) und krok. Dr. Held (Bonn) eintreten. (Zustimmung der Versammlung.) Was die Öffentlichkeit unserer Verhandlungen betrifft, so hat sie sich, wie bei Verhandlung aller großen Volks- und Staatsinteressen gewissermaßen von selbst gemacht. Wir haben dafür gesorgt, daß die Tribünen für die Zu­ hörer offen stehen, und stellen auch anheim, durch den Eintritt in die Ver­ sammlung sich an der Debatte zu betheiligen; stellen aber die Bitte, daß Jeder hier unten die Güte haben möge, seinen Namen in das Verzeichniß der An­ wesenden, welches Herr vr. Eckardt am Eingänge des Saales führt, ein­ zutragen. Was die Veröffentlichung unserer heutigen Verhandlungen betrifft, so ist es dem vorbereitenden Comite nicht möglich gewesen, den großen Apparat eines „Stenographischen Bureau's" zu beschaffen. Wir haben nur einen Stenographen zu unserer Verfügung, dessen Kräfte nicht ausreichen zu einer sofortigen Berichterstattung für die Presse. Ich kann in dieser Beziehung nur sagen, daß wir das Mögliche thun werden, was vom Schriftführeramt ge­ schehen kann. Wir werden da ein Resume der Verhandlungen aufnehmen und stellen es den geehrten Vertretern der Presse zur Verfügung. Wir bitten diese Herren, sich am Schluffe der Sitzung mit unserem Schriftführeramte in Correspondenz zu setzen, und das Material zu benutzen, soweit es in der Eile zusammenzustellen möglich ist. Sodann noch einen geschäftlichen Punkt vor der Tagesordnung, nämlich unsern Kostenpunkt. Wir brauchen an Geld für Stenographie, Druck- und andere Kosten ungefähr 200 Thaler! Ich möchte den Vorschlag machen, daß wir diese Kosten durch freiwillige Beiträge aufbringen. Vielleicht ist es den Herren angenehm, heute, ehe Sie das Local verlassen, einen Beitrag von ein oder zwei Thalern an Herrn vr. Eckardt am Eingänge abzutragen. Nun, meine Herren, können wir in unsere Tagesordnung eintreten! Die Reihenfolge der Besprechungsgegenstände ist in dem Einladungsprogramm mitgetheilt. Inzwischen haben sich die drei Berichterstatter verständigt und sich darauf eingerichtet die Frage nach der Fabrikgesetzgebung zuerst vor­ zunehmen, dann die Frage nach den Strikes und Gewerbekammern folgen zu lassen, und endlich die Wohnungsfrage an dritter Stelle zu behandeln. Ich bitte den Berichterstatter, Herrn krok. Dr. Brentano, hier Platz zu nehmen. Nach dem Schluffe seines Vortrages werde ich dann die geehrte Versammlung bitten, über die Geschäftsordnungsfragen ihre Meinung auszusprechen: ob abgestimmt werden soll, und ob ein gewisses Maß für die Dauer der Reden gesucht werden soll, damit wir möglichst viel Redner sich aussprechen lassen. Sie sind wohl damit einverstanden, daß ich diese Frage nach dem Schluffe des Berichts stelle. (Zustimmung.) Wir können nun den Bericht über die Fabrikgesetzgebung entgegen­ nehmen.

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Fabrikgesetzgebung.

Referat des krok. Dr. Brentano (Breslau), über die

Fabrikgesetzgebung. Obenan unter den Fragen der socialen Reform steht die Frage einer Reform unserer Fabrikgesetze. Von den beiden bei der Fabrikgesetzgebung in erster Linie interessirten Parteien wird nach einer Aenderung Derselben verlangt. In Arbeiterkreisen verlautet der Wunsch nach Sicherung der strengen Durch­ führung ihrer Vorschriften und nach Ausdehnung ihrer Bestimmungen. In den Kreisen der Arbeitgeber wird die Nothwendigkeit einer strengen Durch­ führung gesetzlicher Vorschriften zwar gleichfalls betont, dagegen vielfach die Milderung, theilweise sogar die gänzliche Beseitigung einzelner Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung gefordert. Welche dieser beiden widersprechenden Forderungen die berechtigte sei, kann eine sachliche Erörterung allein uns ergeben. Bei dieser Erörterung ist es selbstverständlich, die bestehende Fabrikgesetz­ gebung zum Ausgangspunkte zu nehmen. Die Kenntniß der Bestimmungen derselben darf ich jedoch wohl voraussetzen; auch werde ich im Weitern noch auf dieselben zurückkommen; und ich beschränke mich deshalb darauf, hier der in der letzten Zeit nicht selten gehörten Behauptung zu widersprechen, daß die Bestimmungen der deutschen Fabrikgesetze lediglich eine gedankenlose Nach­ ahmung der englischen seien. Diese Behauptung beruht auf gänzlicher Unkenntniß der Entwicklung unserer deutschen Fabrikgesetze. Diese sind völlig selbständig in ihrem Ursprung wie in ihren Einzelbestimmungen. Nachdem bereits in den zwanziger Jahren die preußische Regierung die eventuelle Nothwendigkeit eines Fabrikgesetzes in's Auge gefaßt hatte, bean­ tragte 1837 der rheinische Provinciallandtag mit Rücksicht auf die Verhält­ nisse in den Regierungsbezirken Aachen und Düsseldorf den Erlaß eines Fabrikgesetzes für die Rheinprovinz. Um dieselbe Zeit lenkte der Lieutenant Georg von Horn die Aufmerksamkeit Friedrich Wilhelm III. auf die Thatsache, daß die Fabrikdistricte nicht im Stande seien ihr Rekrutencontingent für die Armee vollständig zu liefern. Und hierauf wurde durch das. Regulativ vom 9. März 1839 den Bestimmungen, welche der rheinische Provincial­ landtag lediglich für die Rheinprovinz beantragt hatte, für die ganze preußische Monarchie Geltung verliehen. Diese Bestimmungen wurden indeß nicht überall gleichmäßig und stets nur zeitweise ausgeführt. Ins­ besondere wurde schon damals von den Regierungen auf die Untauglichkeit der Ortsbehörden zur Controle ihrer Ausführung hingewiesen. An manchen Orten veranlaßten die Regierungen deshalb die Bildung von Local­ commissionen zur Inspection der Fabriken, und das Ministerium zog mehrfach in den vierziger Jahren die Weiterbildung der Fabrikgesetze und die allgemeine Einsetzung von Fabrikinspectoren in Erwägung. Allein erst nach­ dem die Stürme am Ende der vierziger Jahre gezeigt hatten, daß es, wie ein Ministerialrescript vom 22. Mai 1851 sagt, „jetzt mehr als sonst darauf ankomme, die Mittel zu finden und anzuwenden, welche den in der kürzer-

Referat.

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lichen Gesellschaft wirkenden auflösenden Elementen entgegenzuwirken geeignet seien", wurde das Gesetz vom 13. Mai 1853 erlassen, welches das Regulativ von 1839 als Ganzes in Kraft ließ, einzelne Bestimmungen desselben indeß zu Gunsten der jugendlichen Arbeiter abänderte, die Bestimmungen zur Controle der Durchführung verschärfte und insbesondere anordnete, daß diese Durchführung, „wo sich ein Bedürfniß ergebe, durch Fabrikinspectoren als Organe der Staatsbehörden beaufsichtigt werden" sollte. Mit Ausnahme der letzten Bestimmung sind die Borschriften der preußischen Gesetze von 1839 und 1853 beinahe wörtlich in die norddeutsche Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 übergegangen und haben mit dieser seit Gründung des Deutschen Reichs für dessen Gebiet Geltung erlangt. Damit ist für das Reichsgebiet also bestimmt, daß Kinder unter zwölf Jahren in Fabriken zu einer regelmäßigen Beschäftigung gar nicht angenommen werden dürfen; daß vor vollendetem 14. Lebensjahre Kinder in Fabriken nur dann beschäftigt werden dürfen, wenn sie täglich einen mindestens dreistündigen Schulunterricht erhalten und ihre Beschäftigung sechs Stunden täglich nicht übersteigt; und daß junge Leute, welche das 14. Lebensjahr zurückgelegt haben, vor vollendetem 16. Lebensjahre in Fabriken nicht über 10 Stunden täglich beschäftigt werden dürfen. Die übrigen Borschriften der Reichsgewerbeordnung lasse ich hier unerwähnt, da ich deren Kenntniß in dieser Versammlung voraussetzen darf und im Weitern auf dieselben zurückkommen werde. Betrachtet man diese Bestimmungen und vergleicht man sie mit den Be­ dürfnissen, denen sie dienen sollen, so erscheinen sie unzweifelhaft als in ihrer Anlage diesen entsprechend. Ja die deutschen. Bestimmungen zum Schutze jugendlicher Arbeiter brauchen selbst den Vergleich mit der Gesetzgebung des Landes nicht zu scheuen, in dem solche Vorschriften am Frühsten zur Ausbildung gelangten, in dem sie am Vollständigsten bis jetzt entwickelt wurden und die segensreichsten Wirkungen brachten, nämlich mit den Bestimmungen der eng­ lischen Fabrikgesetzgebung. Abgesehen davon, daß unsre Gesetzgebung ledig­ lich die in Fabriken, die englische Gesetzgebung die in jeglicher Art von In­ dustrie beschäftigten Kinder schützt, zeigt der Vergleich, daß wir in einzelnen Punkten über die Engländer sogar hinausgehen, in andern allerdings hinter ihnen zurückbleiben. Während die englische Gesetzgebung Kinder, welche das 8. Jahr zurnckgetegt haben, bereits zu beschäftigen gestattet, verbietet die deutsche die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren. Während es dage­ gen in England verboten ist, Männer unter 18 Jahren und Frauen jeglichen Alters länger als 10^2 Stunden täglich zu beschäftigen, kennt die deutsche Reichsgewerbeordnung die Beschränkung des Arbeitstags auf 10 Stunden nur für die 14 bis 16jährigen Arbeiter. Wären indeß die l4 bis 16jährigen Arbeiter wirtlich 10 Stunden täglich und nicht länger beschäftigt worden, so würde die deutsche Gesetzgebung auch hierin nur scheinbar hinter der englischen zurückgeblieben sein. Denn bei strenger Durchführung würde die besagte Bestimmung der Neichsgewerbeordnung auch in Deutschland zu einer Beschränkung des Arbeitstags auf 10 Stunden für alle in den geschützten Gewerben beschäftigten Arbeiter geführt haben. Wie aber steht es mit der Durchführung der Bestimmungen der deutschen Fabrikgesetzgebung?

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Fabrikgesetzgebung.

Hierauf ist vor Allem zu erwidern, daß wir uns bei der Frage, ob die Bestimmungen der deutschen Fabrikgesetze durchgeführt werden, in derselben traurigen Lage befinden, wie bei allen Fragen nach den thatsächlichen deutschen Arbeiterverhältnissen, daß uns nämlich bis jetzt kein Material zu Gebote steht, um eine erschöpfende Antwort geben zu können. Allein trotzdem dieser allgemeine Mangel auch bei unsrer Frage sich geltend macht, läßt sich doch mit Bestimmtheit behaupten, daß die Vorschriften unsrer Fabrikgesetze nur in sehr vereinzeln Fällen vollständig beobachtet werden. Wir haben nämlich ausdrückliche Zeugnisse, daß diese Vorschriften in bestimmten Districten nur theilweise, und daß sie in andern, und zwar in solchen, die zu den industrie­ reichsten Gegenden Deutschlands gehören, gar nicht zur Ausführung kommen. In Preußen haben zwar, seit Erlaß der Regulative von 1839 die Ministerien wiederholt zur strengen Durchführung der Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung ermahnt, die Regierungen zur Ernennung besonderer Fabrik­ inspectoren, falls dies erforderlich sei, aufgefordert, und, wenn einzelne Fabri­ kanten die Durchführung von sich abzuwehren suchten, deren Petitionen unnach­ sichtlich verworfen. Allein anders wie die Oberbehörden handelten die Local­ behörden, denen die unmittelbare Durchführung oblag. So klagte die Regie­ rung von Minden in einem Berichte vom 10. Januar 1852 ausdrücklich über die Lässigkeit der Localbehörden in Durchführung der Fabrikgesetzgebung; und directs Geständnisse großer Industrieller beweisen, daß sich die Sachlage seitdem nicht geändert hat. So berief sich der Abgeordnete Stumm bei der Berathung der Gewerbeordnung im norddeutschen Reichstage auf die That­ sache, daß die Bestimmungen der preußischen Fabrikgesetze nirgends durchgeführt worden seien. Der Redaction der Berliner Wochenschrift Concordia, welche schriftlich Ermittlungen anstellte, um sich über die Durchführung der Fabritgesetze zu vergewissern, schrieb einer der größten Leinenindustriellen aus Biele­ feld, daß daselbst zwar das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren im strengsten Sinne des Worts beobachtet, die Beschränkung der Arbeit von 14 bis 16jährigen Arbeitern auf 10 Stunden täglich dagegen in keiner Weise befolgt werde. Nur von den Tuchfabriken in Grünberg in Schlesien wurde ihr berichtet, daß sie die Bestimmungen der Fabrikgesetze voll­ ständig beachten. Und ebenso wie in Preußen ist es in andern deutschen Ländern. In Baden werden zwar nach amtlichen Berichten sämmtliche Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung anstandlos durchgeführt, allein an der Richtigkeit dieser An­ gaben werden im Hinblick auf vie Beschaffenheit der controlirenden Organe Zweifel erhoben. Aus Württemberg wird berichtet, daß dort vor Einführung der Reichsgewerbeordnung gesetzliche Bestimmungen über die Kinderarbeit über­ haupt nicht bestanden haben, weil dort Niemand überhaupt daran dachte, schul­ pflichtige Kinder zu beschäftigen, daß die Beschränkung der Arbeit von 14 bis 16jährigen Arbeitern auf 10 Stunden täglich daselbst jedoch wahrscheinlich gleichfalls unausgeführt sei. Was Baiern angeht, so wurde auf einer in diesem Sommer in Kaiserslautern abgehaltenen protestantischen Diöcesansynode darauf hingewiesen, wie sehr die Fabrikarbeit in vielen Gemeinden dazu diene,, die Leistungen der Schule herabzudrücken. Es wurde hervorgehoben, daß Schul­ kinder von weniger als 10 Jahren täglich 5 Stunden die Schule und

Referat.

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7^/2 bis 10^/2 Stunden die Fabrik besuchen mußten und daß sie sogar des Sonntag Morgens in den Fabriken beschäftigt wurden. Aus Olsbrücken wurde berichtet, daß dort u. A. auch ein 12 jähriger Knabe täglich 12 bis 14 Stunden in der Fabrik arbeiten und außerdem einen Weg von 4 Stun­ den zurücklegen mußte. Von den zu Ostern 1871 konfirmirten, aber noch nicht aus der Schule entlassenen Kindern wurden viele sofort in den Fabriken beschäftigt; als hiegegen Einsprache erhoben wurde, half man sich damit, daß man die Kinder Nachts in den Fabriken arbeiten ließ und am Tage zur Schule schickte. Ebensowenig aber wie in der Pfalz, wird wie mir jüngst in Franken mitgetheilt wurde, im rechtsrheinischen Baiern die Fabrikgesetzgebung beachtet. Am zahlreichsten und zuverläßigsten jedoch sind die Angaben über die Nichtbefolgung der Fabrikgesetzgebung im Königreich Sachsen. Nicht nur haben die sächsischen Organe der Socialdemokratie Übertretungen der Fabrikgesetz­ gebung zu Dutzenden registrirt; auch sächsische Handelskammern haben nach eingehenden Enqueten es als wahrscheinlich bezeichnet, „daß die Vorschriften der Gesetzgebung (über Kinderarbeit) im Allgemeinen nur soweit befolgt wor­ den sind, als dies in der Neigung und dem Interesse der betheiligten Arbeit­ geber, Eltern u. s. w. lag, und daß also Kinder unter 12 Jahren nach wie vor beschäftigt werden, wenn man dies sonst für angemessen findet." Die hervorragende Stellung Sachsens unter den deutschen Jndustriegegenden sowie seine Bedeutung für die deutsche Arbeiterbewegung werden es rechtfertigen, wenn ich bei diesen Verhältnissen einen Augenblick länger verweile. Abgesehen von wenigen Bestimmungen des Elementarschulgesetzes von 1835 über den Schulbesuch der in Fabriken beschäftigten Kinder wurden die Verhältnisse der Letztern, so viel ich irgend ermitteln konnte, in Sachsen zuerst durch das sächsische Gewerbegesetz von 1861 geregelt. Durch dieses Gesetz wurde bestimmt, daß vom 1. Januar 1865 an, Kinder unter 12 Jahren außer dem Hause ihrer Eltern und Versorger in Werkstätten, wo mehr als 20 Ar­ beiter vereinigt sind, überhaupt nicht, Kinder von 12 —14 Jahren aber nur in der Tageszeit und nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt werden dürfen. Die sächsische Regierung wollte, als sie ihr Gewerbegesetz den Stän­ den vorlegte, auch die preußische Beschränkung der Arbeit der 14 bis 16jährigen auf 10 Stunden einführen. Allein es ist ihr nicht nur dies nicht gelungen. Auch zur Zeit als das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren wirksam werden sollte, wendeten sich, die Besitzer der Spin­ nereien, Druckereien und Strumpfwaarenfabriken an das sächsische Ministerium mit dem Anträge, es bei der frühern Bestimmung zu belassen, wonach die Beschäftigung von Kindern bereits vom erfüllten 10. Altersjahre an gestattet war. Das Ministerium theilte diesen Antrag den verschiedenen säch­ sischen Handelskammern mit. Die Kammer zu Plauen, die ich hier hervor­ hebe, weil wir uns unten noch mehr mit ihr beschäftigen müssen, sprach sich jedoch gegen eine Abänderung der Gesetzgebung zu Gunsten einzelner In­ dustrien aus. Dagegen befürwortete ihre Commission die Ausdehnung der gesetzlichen Beschränkung auf die Hausindustrie, sowie die Herabsetzung der Altersgrenze auf das elfte Jahr für alle Gewerbe und erklärte sich als Ge­ gengabe für diese Concession zur Herabsetzung der Arbeitszeit der geschützten

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Kinder auf einen halben Tag d. h. von 10 auf 7 Stunden täglich bereit. Mit andern Worten, man wehrte sich gegen jede Begünstigung einzelner In­ dustrien, verlangte dagegen eine gleichmäßige Vergünstigung für alle In­ dustrien und die Ausdehnung der Schranken auf die Coucurrenten in der Hausindustrie, und machte dafür scheinbar ein Gegengeschenk, indem man sich bereit erklärte, rechtlich auf einen Vortheil zu verzichten, den man, wenn man das Gesetz überhaupt beobachten wollte, ohnedies thatsächlich nicht genie­ ßen konnte: denn da der Arbeitstag in Sachsen 14 Stunden beträgt, mußte man, sobald es verboten war, Kinder länger als 10 Stunden täglich zu be­ schäftigen, ohnedies zwei Schichten täglich, jede zu nur 7 Stunden verwenden. Es wurde indeß weder diesen Anträgen Folge geleistet, noch auch wur­ den die Bestimmungen des Gesetzes von 1861 und ebensowenig die weiter­ gehenden der preußischen Fabrikgesetzgebung beobachtet, als diese mit der Ge­ werbeordnung vom 21. Juni 1869 auch für Sachsen Geltung erlangte. Vielmehr gefielen sich zehn Jahre lang, Behörden, Fabrikanten und Arbeiter in einem gesetzwidrigen Stillleben. Da erfolgten plötzlich im Jahre 1871 heftige Denunciationen der Gesetzübertreter seitens der sächsischen Organe der Socialdemokratie. Nach wiederholten Angaben des Leipziger Volksstaats, blie­ ben die Beschränkungen der Kinderarbeit in Fabriken völlig unbeachtet; die Ortspolizeibehörden, statt einzuschreiten, nähmen von den Gesetzverletzungen keine Notiz; in den Fällen aber, in denen sie sich zur Erfüllung ihrer Pflicht wirklich aufgerafft hätten, hätten die Fabrikanten ähnlich wie seiner Zeit in England bei Annäherung der inspicirenden Beamten die Kinder von ihren Plätzen entfernt, und in Räume, wohin die Beamten nicht kamen, versteckt. Ja es wurden mehrere Fabrikanten in Crimmitzschau, Werdau u. a. a. O., welche diese Praxis befolgten mit Namen genannt. Auf diese Denunciationen erließ das sächsische Ministerium, welches durch Zurückweisung aller Dispen­ sationsgesuche wiederholt seinen Willen kund gegeben, daß die Bestimmungen über Kinderarbeit ausnahmelos durchgeführt werden sollten, eine nachdrückliche Aufforderung zur Pflichterfüllung an die.bislang in strafwürdiger Connivenz befindlichen Unterbehörden. Nun kam auf einmal Leben in die Sache. Es wurden wiederholt Gesetzesverletzungen, zum Theil sehr flagranter Art constatirt, wobei, wie die Vertheidiger der Fabrikanten bitter bemerken, die Ortöpolizeibehörden trotz ihrer Jahre langen Connivenz es wirklich fertig brachten, die sittlich Entrüsteten zu spielen. Die sächsischen Fabrikanten fanden sich durch dieses plötzlich so scharfe Vorgehen aufs Empfindlichste berührt und da das sächsische Ministerium seine Aufforderung an seine Unterbehörden den Handelskammern mit der Bitte mitgetheilt hatte, daß auch sie innerhalb ihres Wirkungskreises thun möchten, was in ihren Kräften stehe, um den gesetzlichen Vorschriften Beachtung zu verschaffen, nahmen die sächsischen Handelskammern hieran nicht nur Anlaß eine eingehende Enquete anzustellen, in wie weit die Bestimmungen der Gewerbe­ ordnung über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken in Anwen­ dung kämen, sondern, nachdem sie die allgemeine Übertretung dieser Bestim­ mungen constatirt, warfen einige von ihnen und darunter insbesondere die Plauen'sche Handelskammer die Frage auf, ob man aus dieser Nichtbeobachlung statt auf Mangel an gutem Willen seitens der Betheiligten und an strenger

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Pflichterfüllung seitens der Behörden nicht vielmehr darauf schließen müsse, daß diese Bestimmungen den vorhandenen Verhältnissen einigermaßen Gewalt anthäten. Als Resultat der eingehenden Erörterung dieser wunderlichen Frage hat die Handels- und Gewerbekammer von Plauen dann am 6. Februar d. I. beschlossen, die sächsische Staarsregierung zu ersuchen, dahin zu wirken, daß in der Reichsgewerbeordnung 1. die zulässige Arbeitszeit der Kinder von 12 bis 14 Jahren von 6 auf 7 Stunden täglich erhöht, 2. bei jungen Leuten von 14 bis 16 Jahren die Beschränkung der Ar­ beitszeit auf 10 Stunden aufgehoben, 3. die Vorschrift wegen jedesmaliger Gestattung von Bewegung in freier Luft während der gesetzlichen Arbeitspausen an die Voraussetzung der Mög­ lichkeit einer solchen geknüpft, 4. der zulässige früheste Beginn der Arbeitszeit von 5^ auf 5 Uhr Morgens verlegt, 5. das ausdrückliche und besondere Verbot der Beschäftigung von jugend­ lichen Arbeitern an Sonn- und Feiertagen sowie während der von dem ordent­ lichen Seelsorger für den Katechumenen- und Konfirmandenunterricht bestimm­ ten Stunden in Wegfall gebracht, und noch eine Reihe von weitern Abänderungen getroffen werden, von denen die meisten bezwecken, daß die gesetzlichen Bestimmungen über die Be­ schäftigung von Kindern in Fabriken überall gleichmäßig mit größter Strenge durchgeführt werden. Mehrere von den zu diesem Zwecke vorgeschlagenen Maßregeln verdienen in der That Anerkennung, und ich werde später auf sie zurückkommen. Toch ist es unzulässig, sich, wie dies geschehen, auf diese Vor­ schläge zu berufen, um zu zeigen, daß die Beschlüsse der Plauen'schen Kam­ mer aus humaner Gesinnung entsprungen. Tas Bestehen auf strenger Durch­ führung der Gesetze beweist allein noch keine humane Gesinnung, wenn nicht gleichzeitig darauf bestanden wird, daß die durchzuführenden Gesetze human seien. Tie Anträge der Plauen'schen Kammer, welche eine scharfe Durch­ führung der Gesetze im Auge haben, bezwecken vielmehr, ebenso wie die im Jahre 1867 von derselben Kammer beschlossenen Abänderungsanträge zur sächsischen Gewerbeordnung von 1861, lediglich gegen die Coneurrenz solcher Fabrikanten zu schützen, welche selbst die durch die vorgeschlagenen Abänderun­ gen zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpften Beschränkungen der Kin­ derarbeit nicht zu beachten geneigt sein sollten. Während selbst von einzelnen Anhängern der sogenannten deutschen Freihandelsschule heute eine Weiterbildung der gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit im Interesse der physischen, moralischen und intellectuellen Hebung der Arbeiterklasse als wiinschenswerth bezeichnet wird, werden also, wie aus dem Vorgehenden erhellt, die bestehenden Beschränkungen nicht nur nicht beobachtet, sondern es wird auch in Fabrikantenkreisen ernsthaft an Aenderung und gänzliche Beseitigung der wichtigsten Bestimmungen unserer Fabrikgesetz­ gebung gedacht. Um so mehr ist es an der Zeit, zu fragen, was nöthig ist, um die Erreichung des Ziels, das die Fabrikgesetzgebung im Auge hat, zu sichern. Diese Frage scheint sich mir aber aufzulösen in die Fragen: 1. Nach den Beschäftigungen, welche gesetzlichen Beschränkungen unterworfen, 2. nach

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den Personen, welche durch Beschränkung ihrer Arbeitszeit geschützt, 3. nach der Stundenzahl, auf welche die Arbeitszeit der geschützten Personen be­ schränkt, 4. nach den Arbeitspausen, welche diesen Personen gestattet und 5. nach den Maßregeln, welche ergriffen werden sollen, um die Durch­ führung der Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung zu sichern. 1. Welche Beschäftigungen sollen gesetzlichen Beschränkungen unter­ worfen werden? Die Reichsgewerbeordnung spricht von der Beschäftigung in Fabriken. Allein es ist von mehreren Mitgliedern der Handelskammer von Plauen als drin­ gend wünschenswert) bezeichnet worden, die gesetzlichen Beschränkungen der Kinderarbeit auch auf die Kleingewerbe und Hausindustrien auszudehnen. Die Handelskammer zu Chemnitz hat sogar hierauf bezügliche Anträge an das sächsische Ministerium des Innern beschlossen. Man hat geltend gemacht, daß die Arbeit in den Kleingewerben und den Hausindustrien länger, anstrengender und entsittlichender sei als in den Fabriken, und man hat diese Angaben durch entsetzliche Thatsachen belegt. Ferner hat der pädagogische Verein zu Chemnitz irn Interesse der intellectuellen und sittlichen Bildung der Kinder die Ausdehnung der Fabrikgesetzgebung auf die bezeichneten Industrien drin­ gend befürwortet. Endlich wurde Seitens der genannten Handelskammern darauf hingewiesen, daß ohne solche Ausdehnung die Fabrikgesetzgebung gerade die entgegengesetzten von den beabsichtigten Wirkungen haben würde, indem die Eltern, jemehr die Arbeit ihrer Kinder in den Fabriken beschränkt werde, desto mehr ihre Kinder den Kleingewerben und Hausindustrien zuwendeu würden, in denen sie viel größeren Gefahren ausgesetzt wären. Und diese Angaben sind keineswegs vereinzelt in der Geschichte der In­ dustrie. Als im Jahre 1861 die englischen Kleingewerbe und Hausindustrien einer Enquete unterworfen wurden, fand sich dieselbe physische, moralische und intellectuelle Verkommenheit der darin Beschäftigten wie ehemals bei den Ar­ beitern der Fabriken vor Erlaß der Fabrikgesetze. Dies hatte die Ausdeh­ nung der Fabrikgesetzgebung auf die bezeichneten Industrien durch das Werk­ stättengesetz von 1867 zur Folge. Allein unglücklicher Weise wurde die Durch­ führung dieses Gesetzes den Localbehörden übertragen, und dieser Umstand hatte, ebenso wie bei uns, die Wirkung, daß das Gesetz vollständig unaus­ geführt blieb. 'Nachdem durch das Werkstättengesetz von 1871 dieser Fehler wieder gut gemacht und die Werkstätten ebenso wie die Fabriken den Fabrik­ inspectoren unterworfen worden, hebt der Bericht der Fabrikinspectoren vom Ende April 1872 rühmend hervor, daß die kleinen Unternehmer durch eifrige Befolgung der gesetzlichen Vorschriften sogar Vortheilhaft sich hervorthuu. Nachdem die sächsischen Industriellen also die 'Nothwendigkeit einer Aus­ dehnung der gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit auf die Kleingewerbe und Hausindustrie dargethan haben, haben uns die englischen Erfahrungen die Möglichkeit einer derartigen Ausdehnung gezeigt. Ich befürworte deshalb, daß die gesetzlichen Beschränkungen der Beschäftigung in Fabriken auch auf die Beschäftigung außer dem Hause von Eltern und Vormündern in den Kleingewerben und Hausindustrien ausge­ dehnt werden, und daß da, wo die Eltern oder Vormünder selbst ihre Kinder zu frühzeitig und zu andauernd beschäftigen, durch

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strengste Durchführung der Bestimmungen über den Schulbesuch diesem Mißbrauch ein Damm gesetzt werde. Allein es genügt nicht, die bestehenden gesetzlichen Beschränkungen auf die Kleingewerbe und Hausindustrien auszudehnen, um die Kinder vor allzufrüher Beschäftigung zu schützen. Der K 128 der Reichsgewerbeordnung sagt, daß Kinder unter 12 Jahren in Fabriken zu einer „regelmäßigen Beschäf­ tigung" nicht angenommen werden dürfen, und mit einer Sophistik, dei mir aus der Geschichte der englischen Fabrikgesetzgebung zwar bekannt ist, die ich bei deutschen Fabrikanten jedoch für unmöglich gehalten hätte, haben sich die sächsischen Fabrikanten an das Wort „regelmäßig" gehalten, um sich der ihnen unbequemen Beschränkung theilweise zu entziehen. Wenn nämlich irgend etwas, so heißt das Verbot der „regelmäßigen Beschäftigung" von Kindern, daß es nicht erlaubt sein solle, Kinder zu einer regelmäßig wiederkehrenden Arbeit zu dingen. Statt auf Beschäftigung, wie das Gesetz will, bezogen aber die sächsischen Fabrikanten das Wort „regelmäßig" auf die Zeit der Beschäftigung, verstanden unter einer „regelmäßigen Beschäftigung" nur diejenige, welche zu bestimmten, ein für allemal vorgeschriebenen Tagesstunden vorgenommen wird, und, indem sie Kinder unter dem erlaubten Alter zu verschiedenen Tages­ stunden beschäftigten, glaubten sie dem Wirkungskreis des Gesetzes sich zu ent­ ziehen. Daß der Absicht des Gesetzes damit entsprochen wird, läßt sich jedoch schwerlich behaupten. Und so glaube ich mit Rücksicht auf die Mißbräuche, welche eingestandener Maßen mit dem Worte „regelmäßig" getrieben wurde, befürworten zu sollen, daß künftighin jegliche Beschäftigung von Kindern unter dem gesetzlich bestimmten Alter verboten werde. 2. Die zweite Frage ist: welche Personen sollen durch Beschränkung ihrer Arbeitszeit geschützt werden? Bei Beantwortung dieser Frage ist vor Allem die Freiheit und Selbständig­ keit der Arbeiter als Richtschnur vor Augen zu behalten. Die Wahrung dieses Freiheit kann aber sowohl die Einmischung wie die Enthaltung von Einmischung in die Arbeitszeit seitens des Staates erfordern. Sie erfordert die staatliche Ein­ mischung, wo immer die Arbeiter vermöge ihrer natürlichen Beschaffenheit außer Stande sind, bei Feststellung des Arbeitsvertrags selbst mitzuwirken und Derjenige, der die Bedingungen dieses Vertrags und darunter auch die Arbeitszeit festsetzt, sonnt die unumschränkte Herrschaft über die ganze Dispositionsfreiheit, über das gesammte physische, intellectuelle und moralische Dasein der Arbeiter erhält. Wo aber zweitens die Arbeiter nicht außer Stande sind, sich eine Einwirkung auf die Bedingungen des Arbeitsvertrags zu verschaffen, würde ein Eingreifen der Staatsgewalt ihre Erziehung zur Selbständigkeit und ihre Heranbildung zur völligen Freiheit verhindern. In solchen Fällen ist also die Enthaltung von einer Einmischung seitens des Staates geboten. Oder, um es mit andern Worten auszudrücken, es sollen durch die Beschrän­ kung der Arbeitszeit alle Personen geschützt werden, welche des Schutzes wirk­ lich bedürfen; es sollen aber, zweitens, auch nur. die Personen geschützt werden, welche dieses Schutzes wirklich nicht entbehren können. Stimmt man diesen Anschauungen als richtig zu, so ergiebt sich vor Allem die Nothwendigkeit einer Regelung der Arbeitszeit aller Unerwachsenen, die factisch oder rechtlich nicht im Stande sind, über sich selbst zu disponiren,

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und es handelt sich nur mehr um die Einzelheiten dieser Regelung. Die Nothwendigkeit einer Regelung der Arbeitszeit der Unerwachsenen hat denn auch die Reichsgewerbeordnung anerkannt, indem sie die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren in Fabriken gänzlich verbietet, die Beschäftigung von Kindern von 12 bis 14 Jahren auf 6 und die der 14 bis 16jährigen auf 10 Stunden täglich beschränkt. Allein es wurden Einwendungen gegen diese Regelung erhoben. Mehrere Mitglieder der Plauen'schen Kammer und ebenso die Kammer von Chemnitz haben eine Herabsetzung der Altersgrenze,, unter welcher die Beschäftigung von Kindern verboten sein solle, auf 10 oder wenigstens 11 Jahre befürwortet, da es nicht möglich sei, eine hinreichende Kinderzahl, die das Alter von 12 Jahren überschritten habe, zu erhalten. Aus gleichem Grunde haben sämmtliche Druckereibesitzer in Chemnitz in Ge­ meinschaft mit der dortigen Druckercorporation die gleiche Petition an das sächsische Ministerium des Innern gerichtet. Und würde ich diesen angeführ­ ten ökonomischen Gründen, zumal da von preußischen Fabrikanten deren Stich­ haltigkeit bezweifelt wird, auch wenig Gewicht beizulegen geneigt sein, wenn durch die Beschäftigung von 10 bis 12jährigen Kindern deren Gesundheit oder intellectuelle Entwickelung gefährdet würde, so glaube ich doch diese ökono­ mischen Gründe Ihrer Berücksichtigung empfehlen zu sollen, da gerade das Gegentheil von dieser Gefahr vorliegt. In England, wo es gestattet ist, Kinder vom 9. Jahre an zu beschäftigen, hat das Erziehungssystem, bei dem die Kinder die eine Hälfte des Tages arbeiten, die andere in die Schule gehen, über das System, bei dem sie den ganzen Tag in die Schule gehen,, entschieden triumphirt. „Wo immer gute Fabrikschulen errichtet wurden, hat sich gezeigt", um mich der Worte eines der englischen Commissäre für das Erziehungswesen zu bedienen, „daß die Halbzeitler in drei Stunden so viel Buchgelehrsamkeit erlangten, als Kinder, welche in denselben Schulen 5 bis 6 Stunden zurückbehalten wurden; die gehörig unterrichteten Halbzeitler waren geistig geweckter als die Bollzeitler, wenn sie von denselben Lehrern nach demselben System unterrichtet wurden." Da keine höhern Rücksichten es demnach verbieten, sehe ich nicht ein, warum den deutschen Fabrikanten die von ihnen begehrte ökonomische Erleichterung nicht gewährt werden soll. Gegenüber dieser den Fabrikanten gewährten Vergünstigung ist aber die Beschränkung der Arbeitszeit der 14 bis 16jährigen auf 10 Stunden täglich auf alle Minderjährigen zu erstrecken. Mit erlangtem 16. Lebensjahre ist ein Mensch weder physisch hinreichend entwickelt, um die Arbeilsdauer, die ein erwachsener Mann aushalten kann, ohne Schaden ertragen zu können, noch auch hat alsdann seine intellectuelle Entwickelung die Reife erreicht, daß deren weiterer Steigerung durch eine übermäßige tägliche Arbeitszeit ein Niegel vorgesetzt werden dürste. Zögert der Staat die Sechszehnjährigen schon zur Militärpflicht heranzuziehen, um nicht ihre physische und geistige Entwicklung, zu verkümmern, so läßt sich nicht einsehen, warum dieselbe den Rücksichten des Fabrckbetriebs zum Opfer gebracht werden soll. Da ferner minderjährige Arbeiter noch keineswegs im Stande sind, sich selbständig Einfluß bei Fest­ stellung der Bedingungen ihres Arbeitsertrags zu sichern, scheint es mir dringend nothwendig die gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit auf die Zeit bis zur Erreichung des militärpflichtigen Alters auszudehnen. Ich,

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befürworte deshalb, daß einerseits die Altersgrenze, unter welcher die Beschäftigung von Kindern verboten ist, auf zehn Jahre herabgesetzt, anderseits die Beschränkung der Arbeitszeit der Vierzehn- bis Sechszehnjährigen auf alle Minderjährige ausge­ dehnt werde. Stimmt man der oben ausgesprochenen Grundanschauung, daß der Staat nur da die Arbeitszeit beschränken solle, wo die Arbeiter vermöge ihrer natürlichen Beschaffenheit außer Stande sind bei Feststellung der Bedingungen des Arbeitsvertrags mitzuwirken, als richtig bei, so ergiebt sich auf der andern Seite die Nothwendigkeit einer Enthaltung des Staats von jeglicher Einmischung in die Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Arbeiter. Man muß sich Eines klar machen: es giebt nur zwei Mittel, die von allen Parteien erwünschte Beschränkung des Arbeitstags herbeizuführen: Staatseiumischung und Coalition. Die erwachsenen männlichen Arbeiter haben die Coalition, um sich bei Festsetzung der Bedingungen des Arbeitsvertrags Gehör zu ver­ schaffen, und die englischen Arbeiter haben gezeigt, daß sie im Stande waren, mittelst der Coalition sich eine kürzere Arbeitszeit zu verschaffen, als der Staat selbst den Unerwachsenen und den Frauen gewährt hat. Die Be­ schränkung der Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Arbeiter durch die Coalition erscheint aber viel wünschenswerther wie die durch den Staat, 1. weil die Coalition die Arbeiter zu größerer Selbständigkeit und Freiheit heran­ bildet, 2. weil zu befürchten ist, daß die Beschränkung, welche die Gesetzgebung ihnen zu Theil werden ließe, eine allzu karge sein dürfte; 3. weil es sehr wenig wünschenswert^ ja gefahrdrohend wäre, wenn, um irgend eine Aende­ rung der Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Arbeiter zu erlangen, jedes­ mal durch langdanernde Agitation ein Druck auf die Staatsmaschine aus­ geübt werden müßte; 4. weil die Arbeiter die Vortheile und Pflichten einer Reduction ihrer Arbeitszeit viel mehr würdigen und die erlangte Muße besser benützen werden, wenn sie diese Muße sich Schritt für Schritt erobern müssen, und weil endlich 5. die Thatsache, daß an manchen Orten Deutschlands in Industrien, in Venen lediglich oder hauptsächlich männliche Arbeiter beschäftigt werden, der Arbeitstag bereits 10 Stunden beträgt, zeigt, daß die erwachsenen männlichen Arbeiter des Eingreifens des Staates nicht bedürfen, an den Orten und in den Industrien dagegen, wo dieses noch nicht der Fall ist, wenn nur die Arbeitszeit der Minderjährigen und Frauen (und damit indi­ rect auch der gleichzeitig mit diesen beschäftigten männlichen Arbeiter) beschränkt wird, die Arbeiter hierdurch eine solche moralische Unterstützung erhalten daß sie nothwendig siegreich sein werden in dem Bestreben, die gleiche Kürzung des Arbeitstags zu erlangen. Weniger entschieden scheint, wenigstens beim ersten Anblick, der Grund­ satz, daß bei Beschränkung der Arbeitszeit vor Allem die Freiheit und Selbst­ ständigkeit der Arbeiter als Richtschnur zu beachten sei, die Frage zu lassen, ob die Arbeitszeit von Mädchen und Frauen jeglichen Alters beschränkt wer­ den solle. Gegen diese Beschränkung herrscht nämlich grade seitens mancher moderner Frauenrechtsvertheidiger lebhafter Widerspruch. Allein der Wider­ spruch der letztern scheint mir voller Unvernunft; denn statt ihren Bestre­ bungen zu widersprechen, bezweckt die Beschränkung der Arbeitszeit der Frauen Eisenacher Konferenz. 2

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durch den Staat vielmehr dasselbe wie sie selbst, nämlich die Befreiung der Frau. Unter diesem Schlachtruf verlangen die Frauenemancipatoren die Zu­ lassung der Frauen zu Beschäftigungen, von denen sie behaupten, daß die Frauen dazu durch Natur und Vorbildung ebenso befähigt seien, wie die Männer. Wo eine derartige Gleichbefähigung wirklich stattfindet, läßt sich dieses Streben nicht für unberechtigt erklären. Nicht zu leugnen jedoch bleibt, daß die Frauen vermöge ihrer besondern Organisation in ihrer Mehrheit den Männern weder physisch noch geistig gewachsen sind und daß sie weniger hart sind von Character, wogegen sie anderseits in Folge einer größern Ausbildung ihrer affectiven Anlagen einer Veredlung des Gemüthes viel zu­ gänglicher und recht eigentlich zu Trägerinnen von Zucht und Sitte geschaffen sind. In manchen höhern Beschäftigungen mögen nun die natürlichen Schwächen der Frau im Wettkampf mit dem Manne keinerlei Nachtheile bringen, was hier nicht zu untersuchen. In den hier behandelten Beschäftigun­ gen aber, in den niedern, handelt es sich lediglich um den Kampf um's Da­ sein. In diesem Kampfe aber bereiten die angeborenen Schwächen der Frau solche Nachtheile, daß sie Wolowski zu dem Zeugniß veranlaßten: „Was immer Entgegengesetztes man in England gesagt hat, die Frau ist nicht so frei wie der Mann." Nun erscheint es aber unbarmherzig, Frauen in einem Kampfe, in dem sie vermöge ihrer natürlichen Schwäche, nothwendig unter­ liegen müssen, sich selbst zu überlassen. Es ist eine staatliche Beschränkung der Arbeitszeit der Frauen ^absolut nöthig, nm denselben ihre Dispositions­ freiheit über sich selbst zu wahren. Denn wollte man die Frauen für die Kürzung der Arbeitszeit auf die Coalition als ihr alleiniges Schutzmittel ver­ weisen, so hieße dies nichts Anderes, als es den Fabrikanten zu überlassen diese Arbeitszeit zu dictiren. Die Geschichte weiß nämlich sehr wenig von Coalitionen von Frauen zu erzählen. Wenn aber von entgegengesetzter Seite darauf verwiesen wird, daß sich in der Art und Weise des Auftretens von Arbeiterinnen gegen ihre Arbeitgeber schon Spuren zeigten, daß die Frauen eben durch die Noth zu größerer Härte und Selbständigkeit, und damit zur Coalitionsfähigkeit beranerzogen würden, so würde es mir geradezu beklagenswerth scheinen, wenn diese Erziehung gelänge. Es wäre dies, als würden Statuen des Phidias verbrannt, um daraus Kalk zu gewinnen. Denn was würden die Folgen sein für die Familie, für die Grundlage jeder Gesellschaft? Statt daß die Frau durch ihre natürliche Milde auf den Charakter des Gatten veredelnd und sittigend wirkte, liefert die Geschichte der englischen und belgischen Gruben­ arbeiter leider Proben, wie das durch Ueberarbeit und den Kampf ums Dasein verwilderte Weib des Arbeiters diesen auf eine noch tiefere Stufe des Gebens herabdrückt. Und in welcher Gesinnung würde die Mutter, die un­ mittelbar an den Kämpfen gegen den Arbeitgeber betheiligt wäre, ihre Kinder erziehen? In der That die Frau ihrer eigenen Selbsthülfe zu überlassen, um sich einen kürzern Arbeitstag zu erringen, hieße die Familie und die Gesell­ schaft an der Quelle vergiften. Ich befürworte deshalb, daß die Beschränkungen der Arbeits­ zeit der Minderjährigen auf Mädchen und Frauen jeglichen Alters ausgedehnt werden.

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3. Ich komme zur dritten Frage: Auf wie viel Stunden soll der Arbeitstag von Kindern, jugendlichen Arbeitern und Frauen beschränkt werden? Nach der Reichsgewerbeordnung dürfen 12 bis 14jährige Kinder nur 6, 14 bis 16jährige Arbeiter nur 10 Stunden täglich beschäftigt werden. Diese Zeitbestimmungen sind möglichst ungeschickt. Wenn sie nämlich beobachtet werden sollten, wäre vor Allem nöthig gewesen, daß sie selbst zusammenpaßten, daß sie in einander aufgingen. Es ist unmöglich 14 bis 16 jährige Arbeiter nur 10 Stunden täglich zu beschäftigen, wenn man zwei Schichten von 12 bis 14jährigen Kindern täglich 12 Stunden beschäftigt. Wollte man die Beachtung der Beschränkung der Arbeitszeit der 14 bis 16jährigen auf 10 Stunden täglich bewirken, so mußte man auch die Arbeitszeit der 12 bis 14jährigen Kinder auf 5 Stunden täglich beschränken. Der Umstand, daß man dies versäumte, hat mit dazu beigetragen, daß selbst in Preußen die Beschränkung der Arbeitszeit der 14 bis 16 jährigen nicht beobachtet wurde, und der Arbeitstag daselbst meist noch 12 Stunden beträgt. Zn Sachsen, wo der Arbeitstag, nach dem Zeugnisse der Plauen'schen Kammer, noch 14 Stunden dauert, wurde allerdings keine der beiden gesetzlichen Beschrän­ kungen beobachtet, ja die Plauen'sche Kammer hat an der Thatsache, daß in ihrem Bezirke noch 14 Stunden gearbeitet wird, Anlaß genommen, die Er­ höhung der Arbeitsdauer der 12 bis 14jährigen Kinder im ganzen Reiche auf 7 Stunden täglich zu beantragen. Der Beschränkung der Kinderarbeit auf 6 Stunden täglich, heißt es in ihrem Commissionsberichte, „würden sämmt­ liche Commissionsmitglieder von Herzen zustimmen, wenn sich dieselbe nur einigermaßen mit der bis jetzt bei uns in den Fabriken noch üblichen Arbeits­ zeit vereinigen ließe." Tie strenge Befolgung der gesetzlichen Vorschrift, schreibt der Handelskammersecretär, würde aber die Wirkung gehabt haben auch die Thätigkeit der erwachsenen Arbeiter für zwei Stunden lahm zu legen, und sie indirect zur Annahme einer zwölfstündigen Arbeitszeit zu „nöthigen". Aber in der That, es ist schwer gegenüber solcher Redeweise sich des Unmuths zu enthalten. Man meint, man habe es mit einer unbändigen, naturwüchsigen Arbeitslust der Arbeiter zu thun und das Gesetz thue diesen Unrecht, indem es sie zwinge, dieselbe auf 12 Stunden täglich zu mäßigen. Es erinnert dies in bedenklicher Weise an die englischen Fabrikanten, welche zur Zeit der Rebellion gegen das Zehnstundengesetz behaupteten, die Arbeiter fühlten sich durch dieses Gesetz unterdrückt. „Unterdrückt waren sie freilich", berichteten die Fabrikinspectoren, „aber nicht gerade durch das Zehnstundengesetz!" — Doch steht die Plauen'sche Kammer zum Glück mit diesem ihrem Begehren allein, und viel richtiger hat die Handelskammer zu Chemnitz die Reduction der Arbeitszeit von Kindern unter 14 Zähren auf 5 Stunden täglich beantragt, um sie mit der Beschränkung der Arbeit 14 bis 16jähriger auf 10 Stunden täglich in Einklang zu bringen. Aber gerade gegen die letztere Beschränkung herrscht die lebhafteste Abnei­ gung unter den deutschen Fabrikanten. Nicht nur ist, wie schon erwähnt, die Verletzung dieser Bestimmung ziemlich allgemein. Man schilt auf dieselbe als auf eine gedankenlose Nachahmung fremder Gesetze, und beweist dadurch nur die eigene Unkenntnis^ der Sachlage, denn diese Bestimmung ist. älter als das englische

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Zehnstundengesetz und wurde wörtlich aus der Petition des rheinischen Pro­ vinziallandtags von 1837 in die preußischen Regulative von 1839 und aus diesen in die Reichsgewerbeordnung herübergenommen. Man bezeichnet sie ferner als undurchführbar, zeigt aber wider Willen, indem man beifügt, daß sie nur im Bergbau durchgeführt werde, weil derselbe „einer strengern polizei­ lichen Aufsicht als die übrigen Gewerbe unterliege", daß es nur von der strengen Durchführung abhängt, um die Durchführbarkeit zu beweisen. Aller­ dings aber ist in den Gewerben, in denen die Verwendung jugendlicher Ar­ beiter nothwendig ist, ein zehnstündiger Arbeitstag der letztern mit einem zwölf- und vierzehnstündigen Arbeitstag der Erwachsenen nicht zu vereinen. Aber man hätte denken sollen, daß, sobald es gesetzlich verboten war, die 14 bis 16jährigen Arbeiter länger als 10 Stunden zu beschäftigen, die Achtung vor dem Gesetze in diesen Ge/erben zu einer Reduction der Arbeitszeit auch der erwachsenen Arbeiter au/ zehn Stunden täglich hätte bewegen müssen,

wenn es nur durch solche Reduction möglich gewesen wäre das wohlerworbene Recht der jugendlichen Arbeiter nicht zu verletzen. In England wenigstens war dies der Fall, und so haben die Verhältnisse dort dahin geführt, daß die jugendlichen Arbeiter, wie Wolowski bemerkt, „eine edle Rache nahmen an ihren Eltern, die sie zu früh zur Arbeit gezwungen hatten, indem sie dazu beitrugen, der erschöpfenden Arbeit ihrer Mutter und ihres Vaters eine Schranke zu ziehen." Wird erst die Arbeitszeit aller Minderjährigen sowie die der Frauen jeglichen Alters denselben gesetzlichen Schranken wie die der 14 bis 16 jährigen Arbeiter unterworfen, so wird die gleiche Wirkung auch für Deutschland von selbst sich verstehen. Run werden allerdings die Einwendungen erhoben werden, die schon in England gegen das Zehnstundengesetz geltend gemacht wurden. Aber die Er­ fahrung hat das, was damals schon theoretisch widerlegt wurde, nun auch praktisch als irrig gezeigt. Da ist vor Allem ein aus angeblicher Fürsorge für die Arbeiter ent­ sprungener Einwand. Man sagt nämlich: werde die Arbeitszeit reducirt, so werde um ebensoviel die Production und folglich auch der Verdienst des Ar­ beiters vermindert. Allein dieser Einwand erzeigt sich schon n priori ats irrig. Angenommen nämlich die Production nehme wirklich ab in Folge der Minderung der Arbeitszeit, so bliebe doch die Nachfrage nach Producten un­ verändert; die Nachfrage nach Arbeit wäre also relativ gestiegen, das An­ gebot von Arbeit gefallen, und nach allen Regeln der abstracten National­ ökonomie müßte der Lohnsatz demgemäß steigen. Allein es ist im wirklichen Leben keineswegs richtig, daß die Production um so viel abnimmt, als die Arbeitszeit gemindert wird Die Frage ist keineswegs die arithmetische: Wenn 14 oder 12 Stunden so viel produciren, wie viel produciren 10? Diese Fragestellung wäre richtig, wären die Men­ schen wirklich die Mechanismen, als welche die abstracte Nationalökonomie sie allerdings annimmt. Anders aber ist es mit organischen Wesen, und hat die Erfahrung gezeigt, daß Arbeiter bei intensiverer Arbeit während 10 oder 11 Stunden nicht nur gleichviel sondern sogar mehr als in 12 Stunden früher hervorbrachten. So reducirten unlängst, um mich neuerer Beispiele zu be­ dienen, die Herren Dollfuß in Mühlhausen die Arbeitsstunden von 12 auf

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11 im Tage ohne den Lohn herabzusetzen und fanden am Ende des Monats, daß 50/0 mehr Arbeit in 11 Stunden geleistet worden war, als früher in 12. Bei manchen Arbeiten für Eisenbahnen ist in England das doppelte Schichtsystem eingeführt worden, die Schicht zu 8 Stunden, und es zeigte sich, daß die Arbeiter in 8 Stunden mehr leisteten als in 10. Die Maschinenfabrik des Herrn Ransome beschäftigt 1200 Arbeiter; am 2. Januar dieses Jahres wurden die Arbeitsstunden von 58^ auf 54 die Woche be­ schränkt, und es hat sich gezeigt, daß nun 12 bis 150/0 mehr produeirt wird. Diese Angaben entnehme ich einen: in diesem Jahre erschienenen Buche des englischen Maschinenfabrikanten und Parlamentsmitglieds Thomas Brassey, in welchem dieser auf Grund der angeführten und ähnlicher Erfahrungen die allgemeine Einführung des achtstündigen Arbeitstags für Erwachsene mit mehr­ facher Schicht befürwortet. Nimmt aber die Production nicht ab mit Minderung der Arbeitszeit, so fällt damit nicht nur die Basis, von der aus ein Sinken des Lohns als Folge der Reduction der Arbeitszeit vorhergesagt wurde, sondern es schwindet selbstverständlich damit auch das zweite Schreckmittel, das gegen die Reduction der Arbeitszeit ins Feld geführt wird, die Gefahr einer Ueberflügelung der einheimischen Industrie durch die ausländische Concurrenz. Ja als Folge einer Beschränkung der Arbeitszeit der deutschen Arbeiter würde sogar das Gegentheil solcher Gefahr eintreten. Die Concurrenzfähigkeit der deutschen Industrie würde dadurch erheblich erhöht. Wenn nämlich die englische In­ dustrie trotz der Höhe der Löhne ihrer Arbeiter heute noch die Märkte be­ herrscht, so hat dies keineswegs seinen Hauptgrund in den natürlichen Bor­ zügen Englands oder in seinem größern Kapital, sondern vielmehr in dem Umstande, daß die Arbeitskraft der englischen Arbeiter noch vorzüglicher ist im Vergleiche zu der continentaler Arbeiter, als ihr Lohn mehr als der Lohn continentaler Arbeiter beträgt. Es ist dies eine Thatsache, welche noch alle Vergleiche der Leistungen englischer mit denen continentaler Arbeiter ergaben, und von der Macaulay in seiner vortrefflichen Rede am 22. Mai 1846 zu Gunsten der Zehnstundenbill ausging, als er darlegte, daß die Verkürzung der Arbeitszeit durch die Erhöhung der Arbeitskraft, die sie hervorbringen werde, den englischen Arbeiter sicher stelle gegen jede durch diese Verkürzung etwa drohende Gefährdung durch die ausländische Concurrenz. Und die seit­ herige Erfahrung hat seine Prophezeiung bewahrheitet Der englische Ar­ beiter leistet heute, wie der schon erwöhnte Brassey angiebt, in 10 Stunden die Arbeit von 2 Russen in 16. Und mir persönlich haben englische Fabri­ kanten wiederholt im Gespräche auf die lange Arbeitszeit der deutschen Ar­ beiter als auf eine Hauptursache ihrer geringern Leistung verwiesen. Wenn die deutschen Fabriken im commerciellen Wettkampf den Sieg über England erringen wollen, der ihnen vermöge ihrer wissenschaftlicheren technischen Leitung gebührt, scheint es mir deshalb vor Allem geboten, durch Kürzung der Ar­ beitszeit die Arbeitskraft des deutschen Arbeiters zu erhöhen und ihn concurrenzfähiger mit dem englischen zu machen. Zudem geht England jetzt mit dem Plane um, die Arbeitszeit auch der jugendlichen Arbeiter und der Frauen auf 9 Stunden im Tage zu beschränken. In Frankreich wird, wie die Zeitungen meldeten, die Reduction des Arbeits-

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Fabrikgesetzgebung.

tags von 12 auf 10 Stunden beabsichtigt. Selbst in Belgien und Holland bestehen ähnliche Regungen. Und sollte dort unter dem Borwand, daß der Staat nicht in die Freiheit des Individuums eingreifen dürfe, eine kurzsichtige Habsucht nach wie vor jegliche staatliche Regelung der Kinder- und Frauen­ arbeit verhindern, so wäre es allerdings am Platz den Vorschlag zu berück­ sichtigen, gegen den, als er von Schönberg und Wagner gemacht wurde, unwilliges Geschrei erhoben wurde, während man ihn Wolowski, dessen Name unter deutschen Freihändlern einen guten Klang hat, ohne Einwendung hingehen ließ, nämlich den Vorschlag einer Regelung der Kinder- und Frauen­ arbeit durch internationale Verträge. Die sogenannte deutsche Freihandels­ schule hätte aber um so weniger Grund sich derartigen Verträgen zu wider­ setzen, da gerade die übermäßige Beschäftigung jugendlicher und weiblicher Ar­ beit in vielen Ländern des Continents der Verwirklichung des Freihändlerideals, der allgemeinen Durchführung des Freihandelsprincips in allen Ländern der Erde entgegenwirkt. In Amerika nämlich wird zur Begründung der hohen Schutzzölle gerade auf die übermäßige Beschäftigung jugendlicher und weiblicher Arbeit in Europa und deren Folgen für Gesundheit und Erziehung, für Familie und Gesellschaft verwiesen. „So lange wir können", rufen die Amerikaner, „wollen wir die Entstehung derartiger Zustände bei uns ver­ hindern". Und bedarf die Industrie überhaupt des Schutzes, so ist in der That es besser, daß ein Land die Kosten desselben aus seinem Geldbeutel statt durch Aufopferung seiner Kinder und Frauen bestreite. Indessen ist die Nothwendigkeit derartiger internationaler Verträge keines­ wegs gegeben. Die deutsche Industrie ist kräftig genug, um nicht des Schutz­ zolls einer übermäßigen Arbeitszeit zu bedürfen, eines Schutzzolls, der, statt die deutsche Judustrie zur Concurrenzfähigkeit mit der ausländischen zu er­ ziehen, wie erörtert, sie dauernd in ihrem untergeordneten Verhältnisse lassen würde. Ich hoffe daher Zustimmung zu finden, wenn ich befürworte, daß es verboten werde 10 bis 14jährige Kinder länger als 5 und 14 bis 21jährige Arbeiter männlichen Geschlechts sowie Mädchen und Frauen jeglichen Alters länger als 10 Stunden täglich zu be­ schäftigen. 4. Die vierte zu erörternde Frage betrifft die gesetzlich gebotenen Pausen während der Arbeitszeit und das Verbot der Arbeit der geschützten Personen an Sonn- und Feiertagen. Der Z. 129 der Reichsgewerbeordnung bestimmt, daß den 12 bis 16 jährigen Arbeitern zwischen den Arbeitsstunden Vor- und Nachmittags eine Pause von einer halben Stunde und Mittags eine ganze Freistunde und zwar jedesmal auch Bewegung in freier Luft gewährt werden solle. Die Handels­ und Gewerbekammer zu Plauen hat beantragt, daß die Verpflichtung zur Gewährung jedesmaliger Bewegung in freier Luft an die Möglichkeit solcher Gewährung geknüpft werde. Die Kammer meint nämlich, die genannte Be­ stimmung könne offenbar nur den Sinn haben, daß den jugendlichen Arbeitern nicht verwehrt werden solle, sich während der Pause und Freistunden in freier Luft zu bewegen. Dagegen erlaube namentlich der Bergbau seinen Ar­ beitern offenbar nicht die verlangte Bewegung in freier Luft; wenigstens könnten sie bei demselben von dieser Erlaubniß keinen Gebrauch machen. Es

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sei aber schwerlich die Absicht des Gesetzgebers gewesen, jugendliche Arbeiter durch diese Vorschrift von derartigen Industriezweigen ganz auszuschließen. Allein hiegegen ist einmal einleitend zu bemerken, daß diese Bestimmung aus der Petition der rheinischen Provinzialstände von 1837 in die preußischen Regulative und aus diesen in die Reichsgewerbeordnung wörtlich übergegangen ist. Sodann ist zu entgegnen, daß durch einen preußischen Ministerialerlaß vom 12. August 1854 ausdrücklich bestimmt wurde, daß jugendliche Arbeiter vor dem vollendeten 16. Lebensjahre nicht unter Tage in den Bergwerken beschäftigt werden dürften. Diese Vorschrift wurde allerdings mit der Ein­ führung der Reichsgewerbeordmyrg beseitigt. Dagegen wurde durch einen neuen Ministerialerlaß vom 8. Juli 1870 bestimmt, daß es nicht genüge, daß es den jugendlichen Arbeitern freigestellt werde, das Bergwerk während der Dauer der Pause zu verlassen, sondern daß der Bergwerksbesitzer dafür Sorge tragen müsse, daß denselben während der vorgeschriebenen Zeit wirk­ lich Gelegenheit zur Bewegung in freier Luft gewährt werde und, falls sie unter Tage beschäftigt würden, daß sie zu dem Zwecke aus der Grube aus­ fahren. Die Richtigkeit dieser Auslegung des Z 129 der Reichsgewerbeordnung ist, wie Klostermann in seinem Bergrecht angiebt, unter anderm durch Erkenntniß des Zuchtpolizeigerichts zu Eschweiler vom 6. December 1870 anerkannt worden. Offenbar aber ist nach Entstehung und Entwicklung dieser Bestimmung ihr Zweck gerade der, die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter unter Tage unmöglich zu machen, weil dieselbe, wie Klostermann angiebt, der körperlichen Entwicklung der Arbeiter in den meisten Fällen gefährlich ist. Gerade für die Industrie, zu Gunsten deren die Plauen'sche Kammer die Abänderung des Z. 129 der Reichsgewerbeordnung verlangt, beabsichtigt dem­ nach die Gesetzgebung dessen strengste Durchführung. In Preußen ist er seinem Wortlaut nach durchgeführt worden, und man sieht nicht ein, warum / diese Durchführung in Sachsen unmöglich sein soll. Aber auch für die übrigen Industrien dürfte es gefährlich sein, die Pflicht zur Erfüllung dieser Vor­ schrift an die Möglichkeit solcher Erfüllung zu knüpfen. In solchem Falle würden nur sehr wenige Fabrikanten diese Möglichkeit zugeben. Weiter bestimmt die Reichsgewerbeordnung, daß jugendliche Arbeiter an Sonn- und Feiertagen nicht beschäftigt werden dürfen. Die Plauen'sche Kam­ mer beantragt den Wegfall dieser Bestimmung als überflüssig, da Sonn- und Feiertagsarbeit ohnedies grundsatzmäßig untersagt sei. Allein der K. 105 der Reichsgewerbeordnung sagt nur, an Sonn- und Feiertagen sei Niemand zum Arbeiten verpflichtet, gestattet dagegen ausdrücklich, daß durch freie Vereinbarung anderweitig bestimmt werde. Nun beruht aber die gesammte Regelung der Arbeitszeit der jugendlichen Arbeiter durch die Gesetzgebung auf der Erkenntniß, daß dieselben nicht im Stande sind, bei Feststellung der Bedingungen des Arbeitsvertrags ihre Interessen zu wahren. Ein Ausfluß dieser Erkenntniß ist das ausdrückliche Verbot der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter an Sonn- und Feiertagen. So lange man sich zur Sonn- nnd Feiertagsarbeit durch freie Vereinbarung überhaupt noch verpflichten kann, so lange sie für Alle gleichmäßig noch nicht verboten ist, erscheint das besondere Verbot derselben für die geschützten Personen nur logisch und keineswegs überflüssig.

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Fabrikgesetzgebung.

Ich beantrage deshalb, daß die hier Versammelten sich dafür aussprechen^ die Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung sowohl rücksicht­ der den jugendlichen Arbeitern in den Pausen zu gewähren­ Bewegung in freier Luft als auch rücksichtlich des Verbots Arbeit der geschützten Personen an Sonn- und Feiertagen in Zukunft beibehalten werden. 5. Die letzte, keineswegs jedoch wenigst wichtige Frage ist die, was geschehen muß, um die Durchführung der Bestimmungen der Fabrikgesetz­ gebung zu sichern. Das erste Erforderniß hierzu scheint mir eine Abänderung der Be­ stimmung des § 129 der Reichsgewerbeordnung zu sein, welche sagt: die Ar­ beitsstunden dürfen nicht vor 5^ Uhr Morgens beginnen und nicht über 8^ Uhr Abends dauern. Die Reichsgewerbeordnung hat diese Bestimmung lediglich gegeben, um die Nachtarbeit jugendlicher Arbeiter zu verhindern, keineswegs nm die Beobachtung der Beschränkung des Arbeitstags dieser Ar­ beiter zu sichern. Es ist jedoch nöthig, diesen Zweck mit dem erstern zu ver­ binden. Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, daß so lange die Zeit, innerhalb deren es gestattet ist, die geschützten Personen zu beschäftigen, mehr beträgt als die für diese Personen festgesetzte Zahl der Arbeitsstunden zusammen mit der zu den Pausen nöthigen Zeit, allezeit eine Anzahl gewissenloser Fabrikanten bestrebt ist, die geschützten Personen während der ganzen erlaubten Frist zu beschäftigen. Um die allgemeine Beachtung der gesetzlichen Beschränkung der Arbeitszeit auf 10 Stunden zu erzwingen, ist sonach nöthig die Zeit, in der die geschützten Personen überhaupt beschäftigt werden dürfen, auf 12 Stunden zu beschränken und Anfang und Ende dieser Stunden gesetzlich festzustellen. Ferner ist es nöthig zu bestimmen, daß eine außerhalb der Einwirkungs­ sphäre der Arbeitgeber wie der Arbeiter befindliche Uhr, etwa die nächste Eisenbahnuhr und, wo keine Eisenbahn ist, die nächste Kirchenuhr für die Anfangszeit, die Pausen und das Ende der Arbeitszeit maßgebend sein solle, daß in jedem Arbeitslocal eine Tafel angebracht werde, auf welcher Anfang und Ende der Arbeitszeit, sowie der Pausen genau angegeben sind, und daß in jeder Fabrik oder Werkstätte ein Abdruck des Gesetzes angeschlagen werde. Keine dieser Bestimmungen ist bis jetzt in der Reichsgewerbeordnung enthalten, wohl aber galten einige derselben ehedem in Preußen kraft Ministerialerlaß. Dagegen schreibt die Reichsgewerbeordnung vor, daß wer jugendliche Arbeiter beschäftigen will, zuvor der Lrtspolizeibehörde davon Anzeige zu machen hat. Auch hat er über die von ihm Beschäftigten eine Liste zu führen mit Daten, aus denen sich erkennet! läßt, ob die von ihm beschäftigten Arbeiter den Erfordernissen des Gesetzes genügen, und diese Liste in deut Arbeitslocal auszuhängen und auf Verlangen den Polizei- und Schulbehörden in Abschrift vorzulegen. Ferner soll der Arbeitgeber die Anzahl dieser Arbeiter der Ortspolizeibehörde halbjährlich anzeigen. Gegenüber diesen Bestimmungen wurde von der Plauen'schen Kammer beantragt, daß die Vorschrift, daß alle zu beschäftigenden jugendlichen Arbeiter zuvor der Ortspolizeibehörde angezeigt werden müßten, wegfallen solle, da sie neben der vorgeschriebenen halbjährlichen Anzeige überflüssig erscheine. Indessen diese Bestimmung ist keineswegs ohne Bedeutung. Denn ohne dieselbe wäre

daß lich den der auch

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es bei dem großen Streben vieler Fabrikanten, die Bestimmungen der Reichs­ gewerbeordnung zu umgehen, zu befürchten, daß Manche vor der Woche der halbjährlichen Anzeige alle etwa gesetzwidrig beschäftigten Arbeiter entließen und der Polizeibehörde würde alsdann der Einblick in die wahren Verhältnisse versperrt. Außerdem schreibt die Reichsgewerbeordnung vor, daß die Annahme jugendlicher Arbeiter nicht erfolgen darf, bevor der Vater oder Vormund der­ selben dem Arbeitgeber ein von der Ortspolizeibehörde ausgestelltes Arbeits­ buch eingehändigt hat. In dem Arbeitsbuch sind gleichfalls eine Reihe von Daten enthalten, aus denen erkannt werden soll, ob der zu beschäftigende Ar­ beiter den Erfordernissen des Gesetzes genügt hat. Gegen diese Vorschrift hat die Plauen'sche Kammer eingewendet, daß sie zwecklos sei, da schon aus den Listen des Arbeitgebers erkannt werden könne, ob der Arbeiter den Erfordernissen des Gesetzes genüge. Indeß das Zeugniß, das die Ortspolizeibehörde in dem Arbeitsbuch über die persönlichen Verhält­ nisse des Arbeiters abgibt, wird keineswegs durch das Zeugniß des Arbeit­ gebers in seinen Listen ersetzt. Vielmehr dürfte es zur Controle der Richtig­ keit dieser Listen unentbehrlich sein. Weiter enthält die Reichsgewerbeordnung Strafbestimmungen, um die Beachtung ihrer Vorschriften über die Arbeit geschützter Personen zu sichern. Allein ebensowenig wie die frühere preußische Fabrikgesetzgebung enthält sie Strafbestimmungen gegenüber den Eltern und andern rechtlichen Vertretern von Kindern, mit deren Genehmigung die gesetzwidrige Annahme der letztern erfolgt ist. Mit Recht hat nun die Plauen'sche Kammer beantragt, daß die Strafbestimmungen wegen Annahme von Kindern zur Beschäftigung in Fa­ briken auch auf die rechtlichen Vertreter dieser Kinder, mit deren Genehmigung diese Annahme erfolgt ist, ausgedehnt werden: denn Kurzsichtigkeit und egoistische Habsucht der Eltern und Vormünder gehören zu den Hauptursachen der Uebertretung des Verbots der Kinderarbeit. Die genannten Bestimmungen sind jedoch noch keineswegs genügend, um die Durchführung der Fabrikgesetzgebung zu sichern. Denn wenn Niemand da ist, der die Strafandrohungen verwirklicht, so gleicht, wie sehr richtig be­ merkt wnrde, das Gesetz einer Vogelscheuche, welche die Vögel nur so lange abschreckt, bis sie bemerkt haben, daß die drohende Gestalt unbeweglich bleibt. Daß aber die gewöhnlichen Localbehörden, denen nach der Reichsgewerbeordnung die Durchführung ihrer hierher gehörigen Bestimmungen obliegt, diese Durch­ führung keineswegs sichern, hat die Erfahrung aller Länder gezeigt. In England blieben die Bestimmungen der sieben vor Einführung der Fabrikinspectoren im Jahre 1833 erlassenen Gesetze absolut wirkungslos, weil Niemand auf ihre Durchführung drang. Als dort im Jahre 1867 die Be­ stimmungen der Fabrikgesetze auf die Werkstätten ausgedehnt wurden, blieb diese Ausdehnung, weil ihre Durchführung den Localbehörden anvertraut war, ein todter Buchstabe, bis durch das Werkstättengesetz von 1871 diese Werk­ stätten den Fabrikinspectoren gleichfalls untergeordnet wurden. In Preußen hören wir wiederholte Klagen über die Untauglichkeit der Localbehörden zur Durchführung der Fabrikgesetzgebung in den Berichten der Provinzialregie­ rungen an das Ministerium. In Baden bestimmt die Vollzugsverordnung zur

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Fabrikgesetzgebung.

Reichsgewerbeordnung allerdings, daß die Durchführung der Fabrikgesetzgebung Fabrikinspectoren anvertraut werden solle, allein der Bezirksrath eines jeden Bezirks, in welchem Fabriken vorhanden sind, soll diese Jnspectoren „aus seiner Mitte und aus der Zahl sonstiger ihm befähigt erscheinender Personen" er­ nennen; das Amt des so ernannten Fabrikinspectors ist ferner ein unbesoldetes Ehrenamt, und es werden ernste Zweifel erhoben, ob die Herren Bezirksamt­ männer und Ehrenfabrikinspectoren, die vielleicht allabendlich im sogenannten Honoratiorenstübchen mit den Fabrikanten zusammensitzen, in der Durchführung der Gesetze sehr streng sind. Die sächsische Regierung dagegen hat einen an­ dern Weg versucht und wiederholt die Fabrikanten aufgefordert, selbst Gesell­ schaften zur Durchführung der Fabrikgesetzgebung, ähnlich der zu Mühlhausen bestehenden, zu bilden. Allein abgesehen davon, daß gegen Fabrikinspectionen seitens der Industriellen selbst oder seitens solcher, die von ihnen abhängen und an ihren Unternehmungen direct interessirt sind, dieselben Bedenken wie gegen Localbehörden vorliegen, blieben diese Aufforderungen resultatlos. Die sächsische Regierung hat deshalb in diesem Jahre erst die Dampfkesselrevisions­ beamten zu Fabrikinspectoren ernannt. Da indessen das Interesse der Industriellen innerhalb desselben Zollgebiets es erfordert, daß die Schranken, denen der eine Fabrikant unterworfen ist, für alle seine Concurrenten gleichmäßig bestehen, daß somit die Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung in allen Theilen des Reichs möglichst gleichmäßig zur Ausführung gebracht werden, sollte es auch das Reich sein, welches dafür sorgt, daß seine Autorität zur Geltung gelangt. Am Besten wäre es vielleicht, das Reich würde, auf den Gemeinsinn seiner Bürger vertrauend, einem Jeden derselben das Recht geben, bei Verletzungen der Fabrikgesetzgebung mittelst einer ^etio poMarLs als Kläger aufzutreten. Man würde alsdann die Schaffung eines neuen Beamtenstabs vermeiden, an dem Viele Anstoß nehmen. Da jedoch unser Rechtssystem die ^.etio xopuIarLs nicht kennt, würde die Ein­ führung derselben für unsern Fall speziell Schwierigkeiten bereiten. Das Reich wird demnach das allgemein gefühlte Bedürfniß nach einer kräftigen Durch­ führung der Fabrikgesetzgebung am besten befriedigen, indem es selbst Fabrik­ inspectoren ernennt und sie verpflichtet, periodisch über ihre Wirksamkeit an das Reich zu berichten. Ich befürworte sonach, daß die Zeit, innerhalb der es gestattet sein soll, die geschützten Personen zu beschäftigen, auf zwölf Stun­ den täglich festgesetzt werde, und daß das Gesetz Anfang und Ende derselben feststelle; daß ferner bestimmt werde, daß für Anfang, Ende und Pausen der Arbeitszeit die nächste Eisenbahnuhr des Ortes, oder, wo eine Eisenbahn fehlt, die nächste Kirchenuhr des Ortes maßgebend sein solle; daß in jedem Arbeitslocal eine Ta­ fel angebracht werde, auf welcher Anfang und Ende der Arbeits­ zeit sowie der Pausen genau angegeben sind; und daß in jeder Fabrik oder Werkstätte ein Abdruck der die Arbeit der Minder­ jährigen und der Frauen regelnden gesetzlichen Bestimmungen an einem sichtbaren Orte angeschlagen werde; daß ferner vie Be­ stimmungen der ZZ. 130 und 131 der Reichsgewerbeordnung über die Führung von Listen und Arbeitsbüchern auch in Zukunft bei-

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behalten werden, daß die Strafbestimmungen wegen gesetzwidriger Annahme von Kindern zur Arbeit außer dem Hause von deren El­ tern und Vormündern auf diese ausgedehnt werden, und schließ­ lich daß von Reichswegen geeignete ständige Organe geschaffen werden, um über die Durchführung ver Fabrikgesetzgebung zu wachen und über dieselbe an das Reich zu berichten.

Hiemit bin ich mit den Vorschlägen, die ich in Betreff einer Reform der HZ. 127—133 und 150 der Reichsgewerbeordnung zu machen habe, zu Ende. Ich will nicht behaupten, daß die von mir vorgeschlagenen Maßregeln auf die Dauer genügen werden. Aber vorläufig kommt es vor Allem darauf an, die Durchführung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften zu sichern. Und ich darf beinahe sagen, daß die von mir gemachten Vorschläge lediglich diese Durch­ führung bezwecken. Denn selbst wo meine Anträge, wie z. B. die bezüglich der Beschränkung der Arbeitszeit aller Minderjährigen und der Frauen jeg­ lichen Alters über den jetzigen Stand der deutschen Fabrikgesetzgebung hinaus­ zugehen scheinen, bezwecken sie nur die Herbeiführung des Verhältnisses, welches thatsächlich schon bestehen würde, wenn die vierzehn- bis sechzehnjährigen Arbeiter, wie das Gesetz es verlangt, wirklich zehn Stunden täglich und nicht länger be­ schäftigt würden. Bei der gegenseitigen Abhängigkeit der Arbeit der verschie­ denen in Fabriken Beschäftigten, müßte nämlich die Beobachtung dieser gesetz­ lichen Bestimmung nothwendig die Beschränkung aller in denselben Fabriken wie Jene Beschäftigten, also auch sämmtlicher darin beschäftigten Minderjährigen und Frauen auf zehn Stunden täglich zur Folge haben. Ohne eine ausdrück­ liche gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit der Minderjährigen und der Frauen ist aber umgekehrt die Beachtung jener gesetzlichen Vorschrift auch nicht zu erwarten. Kann ich also sagen, daß meine Anträge nichts Anderes als die wirk­ liche Durchführung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften bezwecken, so müßte ich eigentlich der Zustimmung selbst der Plauen'schen Handels- und Gewerbekammer sicher sein, denn auch diese erkennt an, daß bestehende gesetzliche Vor­ schriften um jeden Preis durchgeführt werden müssen. Allein darin unter­ scheiden wir uns, daß ich, um diese Durchführung zu erreichen, auf die Ein­ führung aller Maßregeln dringe, die nothwendig sind, um Gesetzesübertretungen zu hindern und zu bestrafen, die Handelskammer dagegen, um Gesetzesüber­ tretungen zu verhindern, auf Beseitigung der meisten gesetzlichen Vorschriften dringt, die übertreten werden könnten, und verlangt, daß das Gesetz nichts weiter gebiete, als was bereits thatsächlich besteht. Sie behauptet nämlich, das jetzige Gesetz thue den vorhandenen Verhältnissen einigermaßen Gewalt an. Allein soweit mit dieser Behauptung gesagt wird, das Gesetz verkümmere legi­ time Interessen der Industrie, ist sie im Vorgehenden widerlegt. Soweit da­ mit gesagt wird, das Gesetz" thue bestehenden Mißbräuchen Gewalt an, ist zu erwidern, daß die Abschaffung und nicht die Sanctionirung dieser Mißbräuche gerade der Zweck des Gesetzes ist. In der That, das ganze Verlangen nach Beseitigung gewisser gesetzlicher Vorschriften, weil diese doch nicht durchgeführt würden, und deshalb nur die Beseitigung der Vorschriften des Gesetzes deren Übertretung verhindern könne, ist äußerst naiv. Es erinnert lebhaft an die

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Fabrikgesetzgebung.

Sprache des Musterdemagogen in der Komödie: äes I^ois von Laya, die 1793 erschien: Vom Eigenthum, heißt es darin, kommen alle Schrecken. Wo kein Eigenthum, gibt's keinen Diebstahl. Der Diebstahl ist dort Gerech­ tigkeit. Schaffen wir die Tugend ab, um das Laster sicherer zu todten! Oder sollte es wirklich unter den deutschen Fabrikanten Einige geben,, die da meinen, es bestehe ein Unterschied zwischen dem gesetzlichen Schutze der Person ihrer Fabrikarbeiter und dem gesetzlichen Schutze des Eigenthums? Die Arbeiter und ihre Führer würden diese Unterscheidung jedenfalls nicht machen. Nach Erlaß des englischen Fabrikgesetzes von 1833 entstand ein ähnlicher Widerstand seitens der' englischen Fabrikanten gegen seine Durch­ führung wie heute seitens der sächsischen Fabrikanten gegen die Durchführung der deutschen Fabrikgesetzgebung. Man petitionirte an Regierung und Par­ lamente. Und als diese Petitionen fruchtlos blieben, verweigerten, was in Deutschland unmöglich sein würde, die mit den Fabrikanten zusammenhängenden Friedensrichter die Anwendung der Strafbestimmungen des Gesetzes. Da hielt der Führer der Zehnstundenbewegung außerhalb des Parlaments, Richard Oastler, am 15. September 1836 eine fulminante Rede zu Blackburn. Das Leben der Fabrikkinder, führte er darin aus, könne ebensosehr auf Schutz An­ spruch machen, wie das Eigenthum ihrer Arbeitgeber. Doch ich nehme An­ stand, die Worte, in denen er diesen Gedanken verfolgte, hier weiter anzu­ führen, um nicht durch ihre Heftigkeit Anstoß zu erregen. Genug, daß Oastler schloß: „Wo kein Gesetz ist, ist auch kein Eigenthum!" Und, meine Herren, wenn der loyale, hochkirchliche Tory Oastler dies mit Heftigkeit betonte, so kennen Sie die Sprache der Socialdemokraten hinreichend, um sich die Weise denken zu können, mit der sie den Versuch begrüßen würden, die in Frage stehenden Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung abzuschaffen, aus keinem andern Grunde, als weil dieselben doch nicht ausgeführt werden. In der That ist es eine auffallende Erscheinung, auf die schon mehrfach von anderer Seite hingewiesen wurde, daß gerade in dem industriereichen Sachsen, wo, wie aus dem Vorgeführten hervorgeht, die zur Hebung der materiellen und geistigen Lage nöthigsten gesetzlichen Maßregeln bisher am meisten in Deutschland ver­ nachlässigt wurden, der Hauptheer.d der socialdemokratischen Agitation sich be­ findet. Für diese Agitation wäre der Versuch, jene gesetzlichen Maßregeln abzuschaffen, und sein Gelingen nur Wasser auf die Mühle. Seht, würde man rufen, daß in dem jetzigen Staat kein Heil für die Arbeiterklasse er­ blühen kann; seht, daß lediglich die Besitznahme der Staatsgewalt durch die Arbeiter selbst zur Berücksichtigung ihrer berechtigtsten Ansprüche führen kann. Nur im Volksstaat ist Heil! Ich bitte Sie demnach dringend, meine Herren, sich ebenfalls für den Erlaß der Maßregeln auszusprechen, die dazu dienen, den berechtigten An­ sprüchen der Arbeiterklasse jene Befriedigung zu schaffen, durch deren Vor­ enthaltung die Arbeiter veranlaßt würden, ihre Hoffnung auf den Sturz des heutigen Staates zu bauen!

General-Debatte.

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Borsitzender: Ehe wir in die Discussion eingeheu, muß ich den Willen der Versammlung über eine Vorfrage einholen, von der der Gang der Dis­ cussion abhängt. Soll über die Thesen der für die Leitung der Debatte vor­ gelegten Resolution abgestimmt werden? — Die einladenden Herren haben ausdrücklich zu einer „Besprechung" eingeladen, womit die Frage einer Ab­ stimmung wohl verneinend gestellt ist. Ich glaube aber auch, Sie werden als weitere Gründe anerkennen, daß die Vorlagen der Debatte nicht gedruckt werden konnten, und daß wir überhaupt nicht Zeit genug haben, um die zu einer Abstimmung nöthigen Fassungen und Amendements zu erörtern. Wir würden uns sonst auch die Debatte der nachfolgenden höchst wichtigen Frage verschließen. Wenn die sachlichen Gründe Bedenken erregen, über die Thesen abzustimmen, so sind es wohl auch die persönlichen. Bei allen persönlichen Vorbereitungen dieser Art waltet im hohen Maße der Zufall. Sie wissen, wir haben nur eine verhältnißmäßig kleinere Anzahl von Männern eingeladeu, und haben jedem freigestellt, einen oder zwei Freunde mitzubringen. Auch die zuerst einladenden Herren waren solche, die gerade örtlich und zeitlich bei einander waren. Das Alles sind wohl nicht Elemente einer constituirten Ver­ sammlung, die durch Majoritätsbeschluß etwas Bindendes festsetzen könnte. Ich glaube, Sie werden daher wohl einverstanden sein, daß wir nicht abstimmen. (Bravo!) Ich denke, wir werden das heute Verhandelte uns als Grundlage für eine fortdauernde und engere Vereinigung annehmen! (Bejahender Zuruf.) Weiter die Frage des Zeitmaßes. . Jeder von uns, der die Sache ernst, ihrem Werthe nach behandeln will, hat Veranlassung und das Recht, mindestens eine Stunde zu sprechen, wie der Herr Referent. Nun ist aber unser allgemeines Interesse, möglichst viele Redner zu hören. Ich möchte daher Vorschlägen, daß, nachdem ein Redner zehn Minuten gesprochen hat, ich die Versammlung befragen werde, ob sie einen Wechsel der Redner ein­ treten lassen will! (Ruf „Einverstanden! Ja!") Weiter sind Sie auch wohl einverstanden, daß wir zuerst eine GeneralDebatte über das Princip der Fabrikgesetzgebung eröffnen, und dann, soweit die Zeit es gestattet, eine Specialdebatte über die vom Referenten vorgeschla­ genen Punkte 1—5. (Zustimmung.)

General-Debatte.

Geheim-Nath krok. Dr. Roscher (Leipzig): In Bezug auf das­ jenige, was ich zu sagen habe, ist mir das Meiste schon durch den Beschluß der Versammlung auf den Antrag des Vorsitzenden, daß keine eigentliche Ab­ stimmung stattfinden soll, vorweg genommen worden. Ich werde nämlich — und wahrscheinlich auch viele Andere — gerade der vorliegenden Frage gegen­ über in einer eigenthümlichen Lage sein. Mit dem Grundgedanken des Re­ ferats bin ich durchaus einverstanden, namentlich damit, daß die abhängigen Familienglieder in Bezug auf die Arbeitszeit durch den Staat vor selbst­ süchtiger Ausbeutung durch Andere geschützt werden sollen, die unabhängigen jedoch nicht gegen ihren eigenen Willen bevormundet. Ich bin ferner der An­ sicht, daß das Gesetz wirtlich durch wirksame Maßregeln durchgeführt werden muß, also alle Umgehungen, wie durch falschgehende Uhren und sonstige Be-

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Fabrikgesetzgebung.

trügereien zu verhüten sind, und daß ebenso die Bestimmungen, wonach Eltern und Vormünder, die das Gesetz übertreten, bestraft werden sollen, streng auf­ recht erhalten werden. Dagegen sind einige Vorschläge gemacht worden, die mir durchaus technischer Natur zu sein scheinen. Also wenn man z. B. im Allgemeinen eine Maximalzeit festhält, wie groß diese sein muß, in welchem Lebensalter diese wachsen darf u. s. w.; — dies scheint mir etwas ganz speciell Technisches, worüber die Erfahrungen vielleicht sehr auseinander gehen, und wobei auch die verschiedenen Gewerbe, weil sie doch in sehr verschiedenem Grade anstrengend sind, nicht ganz über Einen Leisten zu schlagen sind. Ich würde jedenfalls in Bezug auf diese technischen Fragen bitten, sie von jenen principiellen Erörterungen, die hier unserer Versammlung viel näher liegen, scharf unterschieden zu halten.

Dr. Max Hirsch (Berlin): Meine Herren! Als ich mich zum Worte meldete, glaubte ich allerdings, daß die Versammlung belieben würde, eine Abstimmung wenigstens über das allgemeine Princip, das in den Vorschlägen des Referenten liegt, eintreten zu lassen. Statt dessen ist eine General-Debatte ohne Abstimmung beliebt worden, ich werde mich daher für jetzt darauf be­ schränken, in Bezug auf das Ganze meine Ansicht auszusprechen. -Ich kann im Wesentlichen vollkommen mit der Ausführung des Referenten übereinstim­ men, auch auf Grund meiner vielfachen praktischen Erfahrungen; nur scheint mir in verschiedenen Punkten der Referent nicht weit genug gegangen zu sein. Er hat wahrscheinlich mit Rücksicht auf die kurz zugemessene Zeit sich wesent­ lich nur auf die Beschränkung ddr Arbeitszeit eingelassen, und hat auch wohl hier und da Concessionen gemacht, die ich nicht für ausreichend begründet halte. Vor allen Dingen muß ich mich erklären gegen jedes Herabsetzen der Altersgrenze, von welcher ab überhaupt die regelmäßige Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter stattfinden darf. Mir scheint das Hauptmotiv der Fabrik­ gesetzgebung außer der Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Kinder und der sugendlichen und weiblichen Personen auch vor allen Dingen ihre geistige und sittliche Ausbildung zu sein, und dem entsprechend halte ich als für das zukünftig zu Erreichende, daß überhaupt schulpflichtige Kinder nicht in Fa­ briken und Werkstätten arbeiten, weil ich glaube, daß das allseitige Wohl der Kinder ein Arbeiten bis zum beginnenden fünfzehnten Lebensjahre nicht zu­ läßt. Wenn mit Rücksicht auf die augenblicklich noch recht traurigen ArbeiterVerhältnisse unsere Gesetzgebung das zwölfte Lebensjahr angenommen hat, so ist das schon eine Concession, über die man auf keinen Fall hinausgehen darf, und der Grund, der angegeben wird, daß man der zehn- und elfjährigen Ar­ beiter bedürfe, ist an sich nicht durchschlagend. Ich glaube, Deutschland hat Arbeitskräfte genug, um seinen Wohlstand zu fördern, ohne auf diese jungen Kinder hinunlergehen zu müssen! — Aus demselben Grunde, daß die geistige Ausbildung gerade in unserer Zeit der Cultur den Menschen immer mehr durchleuchten soll, ist es auch nicht genügend, den Schulbesuch auf das bis­ herige Maß zu beschränken, nämlich auf zwei bis drei Stunden täglich. Ich bin für mindestens vier Stunden Unterricht täglich und auch für eine fernere Ausdehnung. Es ist nämlich jetzt die Bewegung für die obligatorische Fortbildungsschule eine sehr mächtige, die Einsicht hat sich Bahn gebrochen,.

General-Debatte.

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daß ein Unterricht der Kinder des Volts bis zum vierzehnten -Jahre, wo erst das selbständige Nachdenken erwacht, nicht ausreichend ist, daß, um die untern Klassen zum Wettstreit mit den höhern zu befähigen, mehr als die bisherige gesetzliche Regelung, daß dazu erforderlich ist, den jungen Leuten auch die Fortbildung bis zum achtzehnten Jahre zu ermöglichen, ja, sie dazu zu zwingen' — und aus diesem Grunde würde ich dringend wünschen, daß späterhin auch dieser Punkt mit ausgenommen werde, daß die Fabrikgesetzgebung die obliga­ torische Fortbildungsschule gebührend berücksichtige! — Endlich, meine Herren, wollte ich mir gestatten, auf einen Punkt aufmerksam zu machen, wo das sonst von mir vollständig getheilte Princip, die Staatseinmischung auf per­ sönlich abhängige Arbeiter zu beschränken, doch einmal durchbrochen werden muß: Es ist die Sorge des Staates für das Leben und die Gesundheit der Erwachsenen, wogegen heutzutage noch die allergrößten Verletzungen vorkom­ men. Die Bestimmungen unserer Gewerbegesetzgebung auf diesem Gebiete sind zu unbestimmter Natur, und ich glaube, daß diese dringend nothwendige Reform der Gesundheitspflege ein Gegenstand der speciellen Reichsgesetzgebung sein müßte/ wie es in England der Fall ist, wo Nornmtivbestimmungen darüber erlassen sind, und daß dieselben durch geeignete unabhängige Organe aufrecht erhalten werden, für die ich in erster Linie die Klasse der Aerzte bezeich­ nen möchte! — Stadtrath Ludwig Wolf (Meerane): Bei dem Berichte des Herrn Referenten, meine Herren, wurde ich unwillkürlich an das Lessing'sche Wort erinnert: O, wie verfolgt das Glück die Frommen, Hier bin ich garstig weggckommen!

Tenn, meine Herren, zu meiner Legitimation: ich bin sächsischer Ver­ waltungs- und namentlich Polizeibeamter, und während ich jetzt in Meerane, einer Stadt mit sehr entwickelten gewerblichen Verhältnissen, aufhältlich bin, war ich damals, als die vom Herrn Referenten berührte Frage auftauchte, in Plauen bei dem dortigen Magistrate in Function. Ich hätte allerdings gewünscht, die Thesen des Herrn Referenten einige Zeit vorher zu besitzen, um mich einigennaßen in dieselben einarbeiten und vorbereiten zu können, denn die Mittheilungen, meine Herren, die ich Ihnen nun so unvorbereitet machen kann, sind etwas sehr rhapsodischer Natur und werden ziemlich bunt durcheinander laufen. Zunächst, meine Herren, habe ich den besten Gradmesser über die in­ dustrielle Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in der Erörterung der Schul­ versäumnisse gefunden. Da habe ich nun allerdings die Bemerkung machen müssen, daß Kinder, die in Fabriken beschäftigt wurden, fast nie die Schule versäumten! — meine Beobachtungen gründen sich auf einen Zeitraum von vielleicht acht Jahren — dagegen bildete die Unentbehrlichkeit bei häuslicher Arbeit einen stehenden Cntschuldigungsgrund in der Hausindustrie. Bei solcher Erfahrung, die nicht blos ich, sondern auch der Rath zu Plauen, als die Be­ hörde, bei der ich fungirte, gemacht hatte, trat mit dem Erscheinen der Bundesgcwerbcordnung an den Letzteren die Frage heran, wie er in Hinsicht der Kiuderbeschäftigung vorgehen solle? Es traten hier mit Rücksicht auf die

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Fabrikgesetzgebung.

voigtländische Weißwaaren- oder spezieller Stickmaschinen-Jndustrie, denn nur in dieser letzteren wurden Kinder beschäftigt, sehr verschiedene Erwägungen an die competente Behörde heran. Einmal sind die Vocale, in denen Stickmaschinen aufgestellt werden, sehr hohe, gesunde, luftige Räume, so daß man sich fragte: Ist es nicht besser, daß diese Kinder, die den Tag über vielleicht ein bis zwei Stunden nur beschäftigt werden, sich in diesen Vocalen aufhalten, als in den oft ungesunden Wohnungen, aus denen noch vielfach die Aeltern abwesend sind?! Das war eine ethische Erwägung, die aber bei aller ihrer Berechtigung dem klaren Wortlaute des.Gesetzes gegenüber keinen Einfluß haben durfte. Es kamen aber das andere Mal auch noch Bedenken der Interpretation hinzu. Abgesehen einmal von den Bedenken, auf welche schon der Herr Referent auf­ merksam machte, daß der Ausdruck: „regelmäßige Beschäftigung" ein sehr elastischer und relativer Begriff ist, so war noch ein anderes Bedenken da: nämlich daß im Gesetze durchaus kein Anhalt dafür geboten ist, von welchem Punkte an ein Betrieb als Fabrik-Betrieb zu betrachten, welches das entschei­ dende Merkmal dieses Betriebes ist? Die voigtländische Stickmaschinen-Zndustrie wird unter subjectiv ganz gleichen Verhältnissen als Einzelgewerbe und als Fabrikgewerbe betrieben. Insofern ein Einzelner in einem Locale eine Maschine aufstellt, hat man einen Handbetrieb, ein Einzelgewerbe auzunehmen, wenn aber ein Anderer in einem Locale bis zu zwanzig Maschinen aufstellt, so liegt doch ein Fabrikbetrieb vor. Wo beginnt nun für den erkennenden Richter die Grenze, von der ab er den nur numerisch stärkeren Betrieb als fabrikmäßigen zu betrachten hat? Man kam dazu, daß man die Beantwortung dieser Frage lediglich dem subjectiven Ermessen des Polizeirichters überlassen müsse! Das ist aber jedenfalls ein übles Ding! denn in dem einen Falle wird das subjective Ermessen ein anderes sein, als im anderen. Was die einzelnen Thesen des Herrn Referenten anlangt, so werde ich mir erlauben, vielleicht bei dem einen oder anderen Punkte um das Wort zu bitten; hier in der General-Debatte wollte ich nur darauf Hinweisen, daß wir stricte gesetz­ liche Bestimmungen darüber haben müssen, was, beziehungsweise von wo an ein Gewerbebetrieb als fabrikmäßiger zu betrachten ist? In der Ausführungs­ verordnung zu dem früheren sächsischen Gewerbegesetz war z. B. betreffend des Druckereigewerbes ausgesprochen, daß der Betrieb dann als fabrikmäßiger zu betrachten sei, wenn er mit mehr als einer Handpresse betrieben würde. Eine ähnliche natürlich allgemeinere Bestimmung sollte auch iu der Reichsgewerbe­ ordnung einen Platz finden.

Dr. Stolp (Berlin): Ich glaube, meine Herren, daß die von dem Herrn Referenten berührten Gegenstände so umfassende, wichtige und zum großen Theil so schwierige sind, daß, wenn wir auch nur einigermaßen ein­ gehend und gründlich darüber berathen wollten, wir hierzu mindestens acht Tage nöthig hätten. Ebenso glaube ich, daß es besser gewesen wäre, nicht einen, sondern wo möglich zehn Referenten darüber zu hören, um auch nur einigermaßen eingehend, überhaupt nur erschöpfend sachlich uns darüber aus­ lassen zu können. Vor allen Dingen halte ich es für erforderlich, daß wir uns möglichst auf allgemeine Gesichtspunkte beschränken, die wir aussprechen, und daß wir auf einzelne Details gar nicht eingehen.

General-Debatte.

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Es wäre meines Erachtens zunächst wünschenswerth gewesen, festzustellen, was die Gesetzgebung betreffs der angeregten Fragen für Bestimmungen ge­ troffen hat, und welche einschlägigen Vorschriften überhaupt bereits vorhan­ den sind; jedoch ist dies von dem Herrn Referenten keineswegs dargelegt woi»den. Ebenso ist nicht dargelegt worden, welche Institutionen vorhanden sind, um für die Durchführung der bestehenden Gesetzgebung wirksam zu sein. Die Gewerbeordnung vom 21. Zuni 1869 verfügt, in letzterer Beziehung ins­ besondere im 132 die Einsetzung eigener Beamten für die Aufsicht über das Fabrikwesen. Meine Herren, es ist ja doch in der That auch nothwen­ dig, daß Fabrik-Jnspectoren, daß überhaupt Organe da sind, die die Durch­ führung der wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen übernehmen, und außerdem die Regierungen über alle Verhältnisse innerhalb des gewerblichen Lebens in genauer Kenntniß erhalten. Indeß soll dieser tz. 132 keineswegs die Ein­ setzung von Fabrikinspectoren haben anordnen wollen, wenigstens, wie dieser Paragraph Seitens des preußischen Handelsministeriums aufgefaßt wird, son­ dern sich lediglich auf diejenigen Fabrikinspectoren beziehen, die zur Zeit der Einführung der Gewerbe-Ordnung schon bestanden haben, und es der Landes­ gesetzgebung .überlassen, weitere Bestimmungen darüber zu treffen. Da wäre es also wohl gut gewesen, vorher erst zu prüfen: was trifft denn das Gesetz überhaupt in diesem Punkte für Vorschriften. Ich möchte nun aber darauf Hinweisen, daß gerade die Durchführung des tz. 132 der Gewerbe-Ordnung durchaus erforderlich ist und daß in einem Lande dieser Paragraph auch schon in ganz verständiger Weise wirklich durchgeführt ist, und zwar, soweit mir bekannt geworden, in Baden. Dort ist der Paragraph aber nicht so aufgefaßt worden, wie in Preußen, wonach also das Gesetz nur Fabrikinspectionen im Auge haben solle, die früher schon bestanden hätten, sondern man faßte ihn im Gegentheil dahin auf, daß auf Grund desselben neuerdings und dem jetzt obwaltenden Bedürfnisse gemäß die Fabrikinspectoren ernannt werden könnten. Das Bezirksamt zu Lörrach hat nun aber für die Instruction der Fabrik­ inspectoren eine zweckmäßige Verordnung erlassen, die auch gleichzeitig alle ein­ schlägigen, das Fabrikarbeitswesen betreffenden Bestimmungen der GewerbeOrdnung so trefflich zusammenfaßt, daß ein jeder mit dieser Verordnung zu­ gleich auch die sämmtlichen bezüglichen Gewerbe-Ordnungs-Vorschriften in der Hand hat. Daher werde ich mir erlauben, diese aus nur wenigen Paragraphen bestehende Instruction vorzulesen. K. 1. Die durch den Bezirksrath ernannten Fabrikinspectoren üben ihren Beruf auf den Gr^nd des Z. 132 der Gewerbe-Ordnung und §. 43 der badischen Vollzugsverordnung zu derselben aus. Hiernach haben sie das Bezirksamt in der Aufsicht über die Ausführung der in den ZZ. 128—133 der Gewerbe-Ordnung enthaltenen Bestimmungen zu unterstützen und sich von den Zuständen in den Fabriken des Amtsbezirks persönlich zu unter­ richten. tz. 2. Den Fabrikinspectoren bleibt überlassen, die Aufsichtsführung über die einzelnen Fabriken unter sich zu theilen, oder sie gemeinschaftlich und überhaupt nach ihrem Ermessen zu besorgen.^ Die örtliche Visitation derselben muß jedoch jährlich mindestens einmal geschehen. Z. 3. Sie werden ihr Augenmerk besonders auf folgende Verhältnisse Eisenacher Conferenz. 3

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Fabrikgesetzgebung.

richten: Der Fabrikant ist verbunden auf seine Kosten alle diejenigen Ein­ richtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf den Aufenthalt der Arbeiter in den Räumen der Fabrik im Allgemeinen, als auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebs und der Betriebs­ stätte, zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit, nothwendig sind. 8- 4. Einrichtungen, welche die Sittlichkeit gefährden, z. B. in Hinsicht der Aborte, sind unzulässig. tz. 5. Bestehen Fabrikordnungen, so ist von denselben Einsicht zu nehmen und auf Bestimmungen, welche dem Gesetz zuwiderlaufen, aufmerksam zu machen. 8- 6. Bezüglich der jugendlichen Arbeiter von 12 — 16 Jahren ist zu prüfen: 1) ob der Fabrikant für jeden derselben im Besitz eines Arbeitsbuches ist; 2) ob keine Kinder unter 12 Jahren ausgenommen sind; 3) ob die Kinder unter 14 Jahren nicht über 6, und die von 14 — 16 Jahren nicht über 10 Stunden beschäftigt werden; 4) ob die Arbeitsstunden nicht vor 51/2 Uhr Morgens beginnen und nicht über 8^2 Uhr Abends dauern; 5) ob denselben zwischen den Arbeitsstunden Vor- und Nachmittags eine Pause von einer halben Stunde, und Mittags eine ganze Freistunde, und zwar jedesmal auch Bewegung in der freien Luft gewährt wird; 6) ob sie an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden; 7) ob ihre Beschäftigung keine ungesunde ist; 8) ob die schulpflichtigen Kinder, welche die Fabriks­ schule besuchen, den Unterricht nach Maßgabe der Schulordnung und wenigstens während 3 Stunden täglich besuchen; 9) ob die durch den Z 130 der Gewerbe-Ordnung vorgeschriebene Liste, über die in der Fabrik beschäftigten jugendlichen Arbeiter geführt wird und in dem Arbeitslocal auf­ gehängt ist. 8- 7. Die Fabrikinspectoren werden sich auch über Lohn und sonstige Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter, über die Spar-, Kranken-, Hülfsund Sterbekassen derselben, die Beschaffenheit der sogenannten Laboranten­ häuser und Aehnliches unterrichten. 8. 8. Sie haben das Recht, zu jeder Zeit unangemeldet diejenigen Räume der Fabrik zu revidiren, in welche Arbeiter Zutritt haben oder beschäftigt werden. Dasselbe Recht haben sie in den Fabrikschulen. 8- 9. Sie erstatten mindestens einmal im Jahre einen Gesammtbericht an das Bezirksamt, welcher sich in jedem Falle über die in den HZ. 3 — 6 angeführten, wenn immer thunlich aber auch über die in 8 7 gedachten Verhältnisse zu verbreiten hat." Dies wird in der Regel

nach beendigter Ortsvisitation (8 2) geschehen. Übertretungen des Gesetzes sind jeweils sofort, nachdem sie beobachtet werden, in einer Sonderanzeige zur Kenntniß des Bezirksamtes zu bringen. Ich glaube, meine Herren, daß wenn eine ähnliche Einrichtung überall getroffen wird, welche nicht nur die Durchführung der Gewerbeordnung aus­ reichend sichert, sondern auch fortlaufend den Regierungen genaue und voll­ ständige Kenntniß über alle Verhältnisse und Bedürfnisse der Fabrik- und Arbeiterbevölkerung verschafft, mag solche Einrichtung auch auf dem Wege der Landesgesetzgebung geschaffen werden, das von außerordentlichem Werthe

General-Debatte.

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sein würde, und ich möchte deshalb empfehlen, daß die Versammlung beschließt, den Landesregierungen anzurathen, ähnliche Einrichtungen, wie die durch die bezügliche Instruction im Bezirksamt Lörrach geschaffene, überall einzuführen. Schon die entsprechende Anregung dieses einen wichtigen practischen Punktes, den ich jetzt allein hier näher berühren kann, dürfte uns wirksamer zum Ziele führen, als die vom Referenten vorgeschlagenen zahlreichen und zum Theil rein theoretischen Erörterungen.

Dr. Koller (Berlin): Meine Herren! Einigermaßen im /Gegensatz zu dem Vorredner, der die Meinung ausspricht, man würde über die Frage der Kinderarbeit eigentlich wohl 8 Tage debattiren müssen, möchte ich die Ver­ anstalter dieser Versammlung deswegen beglückwünschen, daß sie aus der großen Zahl von Fragen, die zur Debatte gestellt werden konnten, eine herausgegriffen haben, von der ich meine, daß die Ansichten über dieselbe sich leichter vereinigen dürften, als über manche andere. Wenn ich diese Ver­ sammlung betrachte, als aus den verschiedensten politischen Parteien zusammen­ gesetzt, so muß ich mir sagen, daß die Ansichten über den Umfang des staat­ lichen Eingreifens in die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr verschieden sein werden; der Eine wird in dieser Beziehung weiter gehen, der Andere sich mehr beschränken wollen; dasjenige aber, was wir hier mit großer Majorität beschließen, das bildet unsere gemeinsame Basis; für den Einen das Minimum des staatlichen Eingriffs, für den Andern, die den Staatseingriff weiter aus­ gedehnt wissen möchten, das Maximum. Diese Frage der Kinderarbeit, nun hat auch selbst für die Ersteren — ich möchte sagen — etwas Anmuthen­ des, weil es sich hierbei um den Schutz Unmündiger handelt, gerade bei dieser Frage gewinnt sich der Eingriff des Staates am leichtesten Freunde. Nun hat der Herr Referent den Satz an die Spitze gestellt: der Staat hat sich einzumischen in die Frage der Arbeitszeit bei allen Unmündigen, sich zu ent­ halten bei allen Volljährigen, und den Unmündigen werden gleichgestellt alle Mädchen und Frauen. Damit, meine Herren haben Sie gewissermaßen auch gleichzeitig Ihre Ansicht ausgesprochen, wie denn eigentlich der Vertrag über die Arbeitszeit zwischen dem majorennen Arbeiter und dem Arbeitgeber zu Stande kommt. Sie haben damit ausgesprochen, daß der Arbeitsvertrag nicht nur formell, sondern auch materiell ein freier Vertrag ist. Ich theile diese Ansicht nicht: bin vielmehr der Ansicht, daß jeder Fabrikherr in seiner Fabrik die Zeit einseitig festsetzt, und der Arbeiter lediglich der lex der Fabrik sich unterwirft. Aber Sie haben in die vorgeschlagene Resolution gleichzeitig aus­ genommen, daß die Zehnstunden - Arbeit als Maximum für Mädchen und Frauen jeglichen Alters gelten soll. Darf ich nun annehmen, daß in dieser Beziehung dieselben Ursachen dieselben Wirkungen in Deutschland Hervor­ rufen, wie in England, so darf ich annehmen, daß wir durch die Annahme der Zehnstundenarbeit für Frauen und Mädchen thatsächlich zu einem Normal­ arbeitstag auch für die majorennen männlichen Arbeiter gelangen, insofern es durch die Verbindung der Frauen- und Männerarbeit zur Unmöglichkeit wird, die Frauen nur 10 stunden und die Männer über 10 Stunden arbeiten zu lassen. Es wäre das der beste Weg zum Normal-Arbeitstag; erhalten wir diesen als thatsächliche Folge eines Gesetzes, so liegt ein 3*

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geringerer Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit vor, als wenn der NormalArbeitstag direkt durch ein Gesetz eingeführt würde. Deshalb bin ich, ob­ gleich ein Anhänger des Normalarbeilstages, aus praktischen Gründen auchhierin mit dem Herrn Referenten einverstanden; wenngleich ich in manchen Punkten vielleicht Weiler gegangen wäre, und unter der Voraussetzung, daß. durch diese Resolution nicht ausgedrückt werden soll, daß die Reform der Fabrikgesetzgebung auf die Kinderarbeit sich zu beschränken habe. Eines dürste ich mir vielleicht gestatten, schon jetzt in der Generaldiskussion über den 2. Absatz des ersten Punktes der Vorschläge zu bemerken: „daß künftighin jegliche Beschäftigung von Kindern unter dem gesetzlichen Bestimmungsalter verboten werde." Darin könnte eine Beschränkung gefunden werden, die über die gewerbliche Thätigkeit hinausginge, z. B. daß man Kinder zum Gänse­ hüten verwenden dürfe. Ich glaube, das würde zu weit führen.

Rudolph Meyer, Redacteur der Berliner Revue: Meine Herren! Wir haben die Resolution jetzt erst in die Hände bekommen, es hat sich also Niemand darauf vorbereiten können, und es ist mir daher vollständig unmögliche meinen Standpunkt zu Alinea 1 hier zu entwickeln. Ich habe das Wort nur ergriffen, um zu constatiren, daß eine Anzahl von Männern, meine politischen Freunde und ich, auf einem principiell ganz anderen Standpunkte stehen, als die Abfasser der Resolution. Unser Standpunkt ist der, daß wir die gesammte Arbeit unter die Herrschaft des Gesetzes gestellt zu sehen wünschen,, also auch die der majorennen Männer und Frauen. Hierin gehen wir mit vielen Arbeitern Hand in Hand, die den Normal-Arbeitstag wollen und auch mit einer großen Anzahl von Gutsbesitzern, die sich bereits dafür ausgesprochen hat. Im Mai d. I. Hal in Berlin eine Conferenz stattgefunden, die in Bezug auf die gesetzlichen Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit, folgende Resolution angenommen hat: „Eine angemessene Abkürzung der an vielen Orten üblichen Arbeitszeiten ländlicher Tagelöhner ist für deren materielle, geistige und sittliche Hebung, eine Nothwendigkeit. Dieselbe liegt zugleich im Interesse der Arbeitgeber wie der nationalen Production überhaupt. Gesetzliche Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeiten — NormalArbeitstag in diesem Sinne — müßten nach der Natur der Landbaues von gesetzlichen Bestimmungen für industrielle Arbeilszweige sich wesentlich unter­ scheiden, namentlich sich der Landesüblichkeit in den verschiedenen Gegenden möglichst anschließen und für verschiedene Jahreszeiten verschieden sein, kürzer im Winter, länger im Sommer." Indessen soll dieser Normalarbeitstag für die einzelnen Kreise durch irgendwelche Behörden festgestellt werden. Also auch für die ländlichen Arbeiter wünschen wir den Normal-Arbeitstag. Wir wollen eben die ganze Arbeit unter den Schutz gesetzlicher Normen gestellt sehen! — Ich glaube damit den Unterschied zwischen uns und den Verfassern der Resolution bezeichnet zu haben! Auch abgesehen von diesem principiellen Gegensatz zum Geist der Resolutionen, würde ich mich noch gegen Einzelnheiten erklären müssen, so namentlich gegen die Herabsetzung der Altersgrenze für Kinderarbeit in

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Fabriken und gegen die zu unbestimmte Fassung des Passus über das Fabrikinspectorat.

Buchhändler Bertram Halle): Meine Herren'. Es ist gewiß die dankbarste Aufgabe des Staates, Leben und Gesundheit seiner Bürger, zu­ nächst der.Jugend zu schützen, und deshalb bin ich mit dem Referenten und dem Herrn Dr. Max Hirsch darin einverstanden, daß die Kinder, besonders während sie schulpflichtig sind, möglichst von der Fabrikarbeit fern gehalten werden. Auch für die Zeit, die wir zum Besuche der Fortbildungsschule in Aussicht genommen haben, wird es sich ebenso empfehlen, eine möglichste Be­ schränkung der Arbeitszeit für das 14. — 16. Lebensjahr herbei zu führen; über diese Zeit hinaus aber einen Zwang auszuüben, scheint mir doch sehr bedenkliche Folgen nach sich zu ziehen. Es ist sehr verschieden, ob ich einen Lehrling als Maurer, Zimmermann und dgl., oder bei der Textilindustrie Hinterm Webstuhl beschäftige; dies ist meiner Ansicht nach so verschieden, daß sich gar nicht gesetzlich feststellen läßt, ob die Arbeitszeit 8 oder 12 oder 10 Stunden dauern soll! Wir haben aber auch mit dem 16. Jahre völlig ausgebildete und daneben wieder recht schwächliche elende junge Leute. Der Starke, Kräftige wird seine Arbeitskraft besser verwerthen wollen, als der Elende es vermag, und diese beiden können Sie mit dem Gesetze sodann nicht über einen Kamm scheeren! Es ist noch ein Moment, welches mir die Bedenklichkeiten der Consequenz gesetzlicher Bestimmungen über einen Normal­ arbeitstag für die Altersclasse über 16 Jahren besonders auffallend macht. Unsere politische Gesetzgebung hat sich in directen Widerspruch dazu gestellt und hat ja in neuerer Zeit das Recht der Eheschließung auf ein sehr ge­ ringes Alter festgestellt, auf 17 Jahre für das männliche, und 14 Jahre für das weibliche Geschlecht. Wie kommt nun der Arbeiter dazu, der im Stande ist, seinen eigenen Heerd zu gründen, in seiner Arbeitskraft durch den Staat beschränkt zu werden? Jeder, der Arbeitskraft hat und nicht blos für sich selbst sorgt, muß im Stande sein, sie so gut wie möglich zu verwerthen, und daß er also da auf eine gewisse Arbeitszeit eingeengt werden soll, scheint mir doch eine Beschränkung der persönlichen Freiheit umsomehr zu sein, als ja die Menschen überhaupt nach der Qualität so sehr verschieden sind. Ich bitte Sie, darin Resolutionen in der vorliegenden Gestalt nicht zu fassen!

Herr Julius Schulze (Mainz): Meine Herren! Ich möchte mich hauptsächlich gegen denjenigen meiner Herren Vorredner wenden, der die wesentlichen Grundsätze der Anträge des Herrn Referenten für noch so außer­ ordentlich discutirbar hielt, und es als nothwendig hinstellte, daß eine ganze Reihe von Referenten über diese einzelnen Punkte hätten auftreten müssen, sowie er der weiteren Meinung war, es sollten eingehendere Reglements von Staatswegen erlassen und überall zur Pflicht gemacht werden. Gegen diese beiden Gedanken möchte ich mich kurz wenden. — Ich bedaure, daß die An­ träge des Herrn Referenten einestheils eine gewisse Anzahl von Sätzen nicht mit derjenigen Schärfe aussprechen, wie sie es sollten und könnten. Ich bin nämlich allerdings entschieden der'Meinung, daß an einer bestimmten Stelle Eine Grenze gezogen werden muß und daß für diese Grenze allerdings die

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Fabrikgesetzgebung.

öffentliche Meinung hinlänglich vorbereiter sein kann, so daß mir scheint, daft namentlich diejenige Richtung, deren Angehörige hierher eingeladen sind, im Wesentlichen wohl über diesen Punkt einig sein dürfte, namentlich darüber,, daß jenseits einer bestimmten Altersgrenze die ich allerdings mit 10 Jahren schon für sehr weit gegriffen halte, durchaus keine Arbeit stattfinden soll. Ich glaube diese Grenze kann auch noch in einem anderen Sinne gezogen werden, und da muß ich mich gegen Herrn Stadtrath Wolf aus Meerane erklären, der es als zweifelhaft hingestellt hat, ob man nicht unter bestimmten Voraussetzungen auch die Arbeit von Kindern, die noch jünger sind, gestatten sollte. Ich bin der Meinung, daß man die Grenze ganz scharf ziehen muß, sonst ist es nicht möglich, sie festzuhallen! Auf der andern Seite finde ich, daß die einzelnen Sätze des Referenten vielfach zu sehr ins Detail gehen. Es ist schon von einem der Herren Vorredner darauf hingewiesen worden,, wie schwer es ist, durch solche Sätze allen Verhältnissen gerecht zu werden, z. B. in Betreff des Zusammenhanges, den weibliche Arbeit mit der männ­ lichen hat. Ich glaube wohl, daß es noch möglich sein sollte, derartige Be­ stimmungen aus den Anträgen auszuscheiden und nur diejenigen Dinge, in denen die Anwesenden wirklich einig sein können und die wirklich die Richtung, die wir hier vertreten wollen repräsentiren, in einer kurzen Reihe von Sätzen aufzustellen. Ich bin hier als Vertreter des mittelrheinischen FabrikantenVereins, und Sie werden mir zugeben, daß man da vielen Leuten begegnen kann, die mit der Hauptidee des Referenten übereinstimmen mögen, die aber doch mit mancherlei besonderen Verhältnissen zu thun haben und dieselben respektirt sehen möchten, was nur geschehen kann, wenn man sich auf das Nothwendigste beschränkt. Diese Grenze ist nun nicht immer innegehalten worden; es sind hier Dinge ausgesprochen, über die man verschiedener Meinung, sein kann und über die sich discutiren läßt, andere sogar, die dem Einen oder dem Andern als zu weit gehend erscheinen können, während er doch im Wesentlichen vielleicht mit der Ansicht des Referenten einverstanden ist. — Weiter bin ich der Meinung, daß die Gesetzgebung sich nicht damit einlassen darf, allgemeine Reglements abzufassen. Meine Herren, ich selbst kenne die vorhin angeführten Verhältnisse in Lörrach sehr genau und kann Ihnen sagen,, wenn dort gewisse Bestimmungen mit gutem Erfolge durchgeführt werden konnten, so hat dies in ganz bestimmten localen Verhältnissen seinen GrundZch bin der Meinung, daß man diesen Verhältnissen einen weiten Spielraum lassen muß, aber auch, daß andererseits eine gewisse Reihe von Vorschriften unbedingt obligatorisch und scharf abgegrenzt werden muß. Syndicus Dr. Hilse (Berlin): Mit den sehr treffenden Ausführungen des Herrn Geh. Hofrath Dr. Roscher vollständig einverstanden, daß über die rein technischen Fragen, z. B. die Altersgrenze und Stundenzahl hier nicht zu discutiren sei, will ich mich gegen zwei Hauptprincipien wenden, welche der Herr Referent vertreten zu wollen scheint, nämlich, daß staatliche Organe zur Aufsicht der Fabrikordnung eingesetzt und die Arbeilsbeschränkungen der Kinder auch auf die häusliche Industrie ausgedehnt werden. — Wenn der Herr Referent ausführte, daß die Local - Behörden bisher ihre Schuldigkeit, nicht gethan hätten, so liefert er mir damit noch keinen Beweis für die Noth-

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Wendigkeit des Ersatzes durch Staatsorgane. In einem Augenblick, wo man in Preußen bestrebt ist, dem Princip nach örtliche Polizei-Verwaltung durch­ zuführen und sich immer mehr von der Centralisation der Polizeigewalt im Staate abzulösen, scheint es mir nicht rathsam auf einem so weit reichenden Gebiete, wie es die Aufsicht über Handhabung der Arbeitsordnung sein würde das communale Aufsichtsrecht zu beseitigen. Wie gesagt, wenn die bestehenden Organe bisher ihre Schuldigkeit nicht gethan haben, so liegt dies daran, daß sie nicht ordentlich organisirt waren. Dagegen fehlt jeder Anhalt, warum sie, richtig organisirt, ihre Schuldigkeit nicht sollten thun können. Man muß das Princip im Auge behalten, wenn man für Principien kämpft. Ich halte es deshalb im Princip nicht für rathsam, staatliche Organe auf dem Gebiete der Fabrikgesetzgebung einzusetzen! — Ich wende mich zweitens gegen die Ausdehnung der Beschränkung der Kinderbeschäftigung auf die Haus­ industrie. Mir scheint dadurch viel zu tief in das Familienleben hinein­ gegriffen zu werden. Mit demselben Fug und Rechte, wie man die Familien­ vorstände darin beschränken könnte, zu ihren gewerblichen Arbeiten sich der Unterstützung der Kinder zu bedienen, mit demselben Rechte müßten Eltern auch darin beschränkt werden, die Kinder zur Verrichtung anderer häuslicher Arbeiten zu verwenden! Das Warten kleiner Kinder durch Kinder, die mit­ unter oft kaum 1 — 2 Jahr älter sind, scheint mir mindestens ebenso weit­ tragende Folgen für die gesunde Entwickelung der Kinder haben zu können! Ja ich gebe noch weiter, indem ich meine, daß, sobald man sich überhaupt entschließt, in das Familienleben so tief wie vorgeschlagen, einzugreifen, man die Eltern auch würde darin beschränken können und müssen, ihre Kinder mit geistigen Arbeiten allzufrüh und allzuviel zu überbürden und so auf Kosten ihrer körperlichen Entwickelung wissenschaftliche Wunderkinder heranzubilden. Wenn Sie die sehr interessanten Berichte der Irrenärzte über die Ursachen durchlesen, warum eine so große Anzahl jugendlicher Personen in die Irrenanstalten gebracht werden, so werden Sie finden, daß das eine Folge der zu frühen Ueberreizung der Gehirnnerven ist, die notwendigerweise aus dem Einpfropfen zu vieler Kenntnisse und Lehren, die sie noch nicht verdauen können, entstehen muß. Dies meine Herren ist viel trauriger und grausamer und weniger zu verantworten, als wenn Kinder stundenweise zur Arbeit im Gewerbe des Vaters herangezogen werden! Im Großen und Ganzen läßt sich annehmen, daß es nicht so arg ist mit der Beschäftigung der Kinder in der Hausindustrie, als es dargestellt wird. Durch Maßregeln, wie sie der Herr Referent wünscht, würden Sie jedoch bewirken, daß die Kinder gegen die Eltern unfolgsamer werden, als bisher und daß die Innigkeit des Familien­ lebens noch mehr gelockert wird, als es schon der Fall zu sein anfängt.

Herr Gutsbesitzer Knauer (Gröbers): Wir Landwirthe sind zwar bei diesen Fragen direct weniger betheiligt, wir sind es aber indirect in Folge der Strikes, die jetzt auch auf dem Lande schon begonnen haben. - Ich muß doch warnen davor, wenn man glaubt im Allgemeinen hier so weittragende Normativ-Bestimmungen festsetzen zu können, die sich ja kaum werden realisiren lassen. Tas Eine paßt ja nicht für alle, am wenigsten für

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alle Fabrikverhältnisse und es wird vielfach specialisirt werden müssen, denn wenn man z. B. die Arbeit der Kinder unter 10 Jahren in und außer dem Hause einfach verbieten will, so greift man in die Autorität der Eltern und Vormünder auf unverantwortliche und unausführbare Weise ein. Schädigt man aber die Autorität der Familie, so schädigt man den Staat, der seine Grundstütze in der Familie hat. Wenn man nun specialisiren will, so sehen Sie ja nach dem Herrn Vorredner, wohin man kommt, man kommt sogar auf die Normal-FabrikUhr der nächsten Eisenbahn; ich kenne aber Fabrikorte, die heute noch 4 Meilen von der Eisenbahn entfernt liegen. Den Normalsarbeitstag einzuführen, ist sehr erwünscht. Bei mir ist ein solcher schon eingeführt, aber er gestaltet sich doch ein wenig anders, als man im Allgemeinen verlangt. Er besteht in den Sommermonaten aus 13, in den Mittelmonaten aus 12 und in den Wintermonaten aus 10 Stunden incl. der Pausen zum Essen, wir kommen also im Durchschnitt gar nicht auf 10 Stunden Arbeitszeit. Wir Landwirthe haben bereits in der Berliner Conferenz angefangen, für den Normalarbeilstag zu wirken, verwahren uns aber vor der Forderung, daß wie bei der Industrie die Anfangs- und Endzeit des Normalarbeits­ tages festgesetzt werde. Auch ist es zu beklagen, daß Bestrebungen hervortreten, die nicht blos die Arbeit, sondern auch die Wahl des Berufes von Leuten über 14 Jahren unter Aufsicht stellen möchten; denn, meine Herren, die Kohlennoth und die viel zu theuren Kohlenpreise haben wir den gesetzlichen Bestimmungen zu ver­ danken, daß Jünglinge erst vom 16. Jahre ab, in den Bergwerken angestellt werden dürfen! Daraus folgt, daß wir trotz unserer vielfachen Bestrebungen und trotz Aufwandes von vielem Gelde nicht in der Lage gewesen sind, Grubenarbeiter heranzubilden. Ich beweise an der Kohlenindustrie, daß der Mangel an Arbeitern die Kohlen zum Schaden der ganzen Menschheit vertheuert hat. Deßhalb warne ich vor Normativbestimmungen und vor dahin gehenden Beschlüssen der heutigen Versammlung. Staatsrath Dr. Bitzer (Stuttgart): Der Herr Referent hat seinen Vortrag mit großer Gewissenhaftigkeit ausgearbeitet und motivirt, allein seine Anträge gehen so weit über die bestehende Gesetzgebung hinaus, daß es meiner Ansicht nach nothwendig ist, sich sehr vorzusehen, ob die Versammlung sich ihnen anschließen kann. Wir sollen zunächst die Beschränkungen, die für die Fabrik gelten, ausdehnen auf die gesammte Industrie, auf Mädchen und Frauen, auch wenn sie erwachsen sind. Wir sollen dann die ganze Beauf­ sichtigung der Sache an das Reich geben. Wenn wir uns erinnern, wie die Sache bisher in Deutschland war, so müssen wir sagen: Es ist eine sehr kurze Spanne Zeit, seit eine Fabrikgesetzgebung in Deutschland besteht. In Preußen sogar besteht sie noch nicht lange. Welche Erfahrungen dort ge­ macht worden sind, weiß ich nicht. In anderen Staaten ist sie erst' vor Kurzem eingeführt worden, und auch in Sachsen sind die Erfahrungen darüber noch sehr neu, und es liegt eigentlich nur ein Bericht einer Handelskammer

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vor, auf den die Anträge gestützt sind. Im Uebrigen hat der Herr Referent sich der englischen Gesetzgebung angeschlossen; aber meine Herren, es ist Allen bekannt, wie lange es gedauert hat, ehe die englische Gesetzgebung dahin ge­ kommen ist, wo sie sich jetzt befindet. Ich glaube, das Nächste wäre, daß die bestehende Gesetzgebung entschieden durchgeführt wird, und daß man sieht, welche Erfahrungen man mit derselben macht. Die Durchführung desselben aber an das Reich zu ziehen, halte ich für mißlich. Es kann doch nicht von Reichswegen eine Anstellung von Fabrik-Jnspectoren im ganzen Reiche erfolgen; es wird sicher genügen, wenn überhaupt Jnspectionen durch eigene Beamte vorgenommen werden. Wenn dann allgemeine Berichte der Jnspectoren an das Reich gelangen, dann werden wir eine Grundlage bekommen, um in der Reichsgesetzgebung weiter vorzugehen! krok. Dr. Adolf Held (Bonn): Meine Herren! Es ist beschlossen worden, daß wir keine Resolutionen fassen sollen. Daher wird es schwierig, den Ansichten eines Vorredners zu widersprechen, der ja selbst keine bestimmten Anträge gestellt hat. Man muß sich darauf beschränken, wenn ein oder mehrere Redner in einem gewissen Geiste gesprochen haben, darauf zu ant­ worten, indem man seine Uebereinstimmung oder seinen Widerspruch im All­ gemeinen constatirt. Mehrere Herren Vorredner waren nun der Ansicht, daß der Referent in seinen Anträgen zu weit gehe, sie sprachen in dem Sinne, daß man äußerst vorsichtig sein müße und ja nicht zu viel Eingriffe in die persönliche Freiheit des Einzelnen gestatten dürfe. Es ist gewiß äußerst interessant, wenn an diesem Orte, wo so viele Theoretiker vereinigt sind, sich Herren aus der Praxis über die Frage äußern, was möglich und durchführbar ist. Die Praxis muß sozusagen eine Kritik der Theorie üben, und es können uns da­ durch die lehrreichsten Gesichtspunkte geboten werden. Aber wenn die Theorie niemals im Stande ist, eine gute Gesetzgebung im Einzelnen auszuarbeiten, so ist sie doch berechtigt, dazu in ihrer Weise mitzuwirken und ihrerseits gegen­ über der reinen Praxis Kritik zu üben. Ich wollte mich insbesondere gegen die Ausführungen des vorletzten Herrn Redners wenden, der der. Ansicht war, daß die gegenwärtigen hohen Kohlenpreise vorwiegend auf das Verbot, jugendliche Arbeiter in Bergwerken zu beschäftigen, zurückzuführen seien, und der daraus zu folgern schien, daß dieses Verbot der Industrie ungerechtfertigten Schaden zufüge. Ich glaube, wenn man in der Praxis steht, sieht man Einzelnes, das Einen besonders nahe berührt, sehr genau, vergißt aber darüber leicht Anderes, das ebenfalls von Wichtigkeit ist. Namentlich ist der Praktiker manchmal geneigt, eine ihm unangenehme Erscheinung einseitig auf einen Grund zu schieben, nur weil letzterer gerade im Bereiche seiner praktischen Beobach­ tungen liegt. Die Kohlenpreise sind jetzt sehr hoch. Vergessen wir aber dabei nicht, daß sich zur Zeit eine allgemeine (wenn auch schwer meßbare) Preissteigerung aller Waaren gegenüber dem Gelde vollzieht, welche bei den einzelnen Waaren stoßweise, bei den einen schneller, bei den andern langsamer zur Erscheinung ^kommt. Außerdem wirken auf die Warenpreise beständig vorübergehende

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Conjuncturen, welche die Preise abwechselnd drücken oder steigern, und durch Zuzug jugendlicher Arbeiter auf die Dauer gewiß nicht vermieden werden können. — Jedenfalls aber scheint mir Eines unbedingt festzuhalten! Selbst wenn nachzuweisen wäre, daß durch Heranziehung jugendlicher Arbeiter eine Waare billiger gemacht werden kann; selbst wenn es bewiesen wäre, daß dadurch der ganzen gegenwärtigen Bevölkerung ein materieller Vortheil erwächst: — selbst dann ist und bleibt es ungleich wichtiger, daß. durch Schonung der Jugend die körperliche, geistige und sittliche Ausbildung des Menschen gesichert wird (Bravo!). Es kommt nicht soviel darauf an, ob wir die Kohlen einmal ein bischen billiger haben, sondern darauf müssen wir sehen, daß die junge Generation zu einem Geschlecht herangezogen werde, das geistig und körperlich noch tüchtiger ist, als wir es sind!! Dieser Gedanke kann und muß uns über manche Unbequemlichkeiten, der Gegenwart trösten! Ich schließe mit dem Satze, daß man bei Betrachtung, von Fragen, die das Wohl des ganzen Volkes angehen, sich nicht durch einzelne kleine Uebelstände ab und irreleiten lassen darf, das Große zu über­ sehen. (Lebhafter Beifall!)

Herr Buchhändler Franz Duncker (Berlin): Meine Herren! Auch ichwerde mich erinnern, daß wir uns in der General-Diskussion befinden, mich von Specialitäten daher fern halten. Ich freue mich dessen sogar, weil mir dadurch Gelegenheit gegeben wird, am rechten Platze, wie ich glaube, mich über meine Stellung zu dieser Versammlung und zu den Herren, welche zn derselben eingeladen, auszusprechen. Ich habe es mit Freuden begrüßt, daß in den einleitenden Worten des Herrn Professor Schmöller ausdrücklich betont worden ist: „Der Ent­ wickelung der wirtschaftlichen Freiheit solle in keinem Falle ein Halt geboten werden, es solle kein Rückschritt gemacht werden!" Ich meinerseits habe mich von vornherein den Herren, welche die Einladung, erlassen haben, anschließen können, weil ich von früh an in meiner ganzen prccktisch-politischen Wirksamkeit ebenso wie Sie, meine Herren von der Ansicht ausgegangen bin, daß mit der Erringung der wirtschaftlichen Freiheit keines­ wegs Alles abgethan sei. Weder ich noch viele meiner politischen Freunde haben jemals die Meinung getheilt: „Der Einzelne wie der Staat und die Gesellschaft hätten nun die helfenden Hände in den Schooß zu legen und allein die wirtschaftlichen Kräfte in ihrer jetzt entfesselten Freiheit walten zu lassen. Nein, meine Herren. Nun erst recht liegen große Aufgaben für den Einzelnen, für die Gesellschaft, für den Staat vor. Der Einzelne muß sich fähig machen, die wirtschaftliche Freiheit recht anwenden zu lernen,, die Gesellschaft aber muß aus ihrer Mitte die freie Initiative ergreifen^ damit die erlangte wirtschaftliche Freiheit nicht nur zu egoistischen Zwecken ausgenutzt, sondern den schwächeren Reihen der Gesellschaft die Hand geboten werde, damit auch diese die wirtschaftliche Freiheit in rechter Weise gebrauchen lernen. Nun, meine Herren, in dieser Beziehung ist bereits Großes geleistet worden, andererseits sind glücklicherweise noch viele Kräfte in rüstiger Arbeit begriffen. Ich darf hier darauf Hinweisen, was mein Freund und Partei­ genosse, Schulze-Delitzsch, in dieser Beziehung in der Schaffung des

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Genossenschaftswesens geleistet hat. Ta haben Sie die freie -Initiative aus der Gesellschaft selbst heraus, welche den zurückgebliebenen Gesellschafts­ klassen fortwährend Anleitung giebt, wie sie eine höhere wirtschaftliche Stufe erringen können; aus demselben freien Impulse sind ferner auch alle jene Bestrebungen hervorgegangen, welche die durch unsere öffentliche Volksbildung leider *so sehr vernachlässigte Erziehung des Einzelnen fort und fort zu ergänzen und zu vervollkommnen bemüht sind. Aber, meine Herren, es genügt nicht der Gesellschaft aus ihrer Mitte heraus Sittlichkeit und Hingabe an die allgemeinen Interessen zu predigen. Denn nie wird es gelingen, — und hierin gerade liegt meiner Ansicht nach der Kern aller Irrthümer der social-demokratischen Partei, — in die wirthschaftliche Welt ein anderes Princip einzuführen als den für seine Existenz, kämpfenden Egoismus. Einer von diesem Egoismus getragenen Gesellschaft aber Moral predigen, das wird in den meisten Fällen eine vergebliche Mühe sein. Zn diesem Widerstreit der mit ihren Interessen aufeinander platzenden Individuen giebt es nur eine Macht, welche der Selbstsucht gewisse Schranken auferlegen kann, das ist der Staat, welcher — und hierin liegt zugleich das Versöhnende — gegenüber der durch Interessen feindlich zerklüfteten Gesellschaft lediglich beruht auf der sittlichen, selbstlosen Hingabe Aller für den Staatszweck. Darum kann der Staat nicht nur, nein er ist ver­ pflichtet, dem wirtschaftlichen Egoismus der Einzelnen durch seine Gesetz­ gebung diejenigen Grenzen zu ziehen, die zur Sicherung des Staats­ zweckes selbst unumgänglich sind. Und wenn solche gesetzgeberische Maßregeln in der rechten Meise und für alle Glieder einer über ein großes Gebiet verbreiteten Gesellschaft ausgesprochen werden: so hören sie damit zugleich auf, Beschränkungen der Production des Einzelnen zu sein. Darum hob der Herr Referent ganz mit Recht hervor, daß solche Maßnahmen allerdings nur zu treffen innerhalb eines großen, gemeinsamen Zollgebietes, weil sie allein dann alle auf diesem Gebiet wetteifernden Kräfte nöthigen, unter denselben Grundbedingungen zu produciren. Ja ich möchte in dieser Beziehung noch weiter gehen und grade hier eine Aufgabe erblicken, für die uns in Aussicht gestellten internationalen Conferenzen der Regierungen über die sociale Frage. Die Diplomatie muß solche der Industrie aufzuerlegenden Beschränkungen, wie Verbot der Kinderarbeit u. s. w. durch internationale Verträge verein­ baren. (Zustimmung der Versammlung). Dann kann kein Industriezweig, den Einwand erheben, er könne ohne die Kinderarbeit nicht mit anderen Ländern konkurriren, — dann ist die Kinderarbeit in allen civilisirten Staaten gesetzlich ausgeschlossen, dann produciren aber wieder Alle in dieser Beziehung unter gleichen Verhältnissen, und der Wettkampf, die Arbeit möglichst wohlfeil herzustellen, muß sich auf andere, minder gemeingefährliche Gebiete verlegen. Meine Herren! Tas sind die allgemeinen Gesichtspunkte, die mich im Wesentlichen den Ausführungen des Herrn Referenten zustimmen lassen. Ich wünsche solche gesetzliche Beschränkungen der Fabrikthätigkeit im Hinblick auf die Gesundheit und die Bildung, aber ich pflichte dem Herrn Referenten auch darin vollkommen bei, daß wir derartige Beschränkungen mindestens zunächst nur einführen für die wirklich rechtlich und thatsächlich Unmündigen und stehe

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Fabrikgesetzgebung.

in diesem Punkte im Gegensatz zu dem Herrn, welcher hier vorschlug, auch für die vollständig dispositonsfähigen Arbeiter den sogenannten NormalArbeitstag gesetzlich einzuführen. Das erscheint mir wenigstens heute noch als ein zu großer Eingriff in die persönliche Freiheit eines jeden Einzelnen. Denn hat dieser schon in Erfüllung seiner Schul- und Wehrpflicht auf die freie Benutzung seiner wirtschaftlichen Kräfte theilweise verzichten müssen, so ist es dann umsomehr eine Forderung der persönlichen Freiheit, daß er nun, nachdem er diesen Pflichten der Allgemeinheit gegenüber entsprochen, über seine Arbeitskraft so lange verfügen kann, als ihm dies gut dünkt. Auf ver­ änderen Seite glaube ich auch, daß, wenn man es den Arbeitern überläßt, sich durch einen Arbeitskontrakt die Arbeitszeit festzustellen, sie dabei bessere Geschäfte machen werden, als wenn der Staat es versuchen wollte, gesetzlich den Normalarbeitstag festzustellen. Freilich ist meine Voraussetzung dabei, daß die Fähigkeit, einen wirklich freien Arbeitsvertrag abzuschließen, im vollsten Maße dem Arbeiterstande gewahrt werde. Das aber wiederum ist nur dann möglich, wenn Sie gesetzgeberisch solche Organisationen der Arbeiter be­ günstigen, welche den Zweck haben, die kleinen Kräfte zu sammeln, um sie ebenbürtig der großen Kapitalkraft gegenüber zu stellen, damit sie mit dieser als gleichberechtigter Faktor einen wirklich freien Kontrakt schließen kann. In dieser Weise habe ich mit Freuden aus den Anträgen der beiden Herren Referenten die Ueberzeugung von der Uebereinstimmung zwischen Parteien entnommen, die sich bisher fremd, ja manchmal feindlich gegenüber gestanden haben. Gelingt es, solche Grundsätze, wie sie in diesen Anträgen ausgesprochen sind, in die Gesetzgebung zu übertragen, so wird unsere heutige Versammlung keine vergebliche sein, wir vielmehr von ihr mit der Ueberzeu­ gung scheiden, es werde uns Deutschen gelingen, ein auf Freiheit begrün­ detes Staatswesen in einer Weise auszubauen, daß es befähigt werde, die höchsten Culturaufgaben der 'Nation, der Menschheit zu erfüllen. (Beifall). Bankdirektor Thorade (Oldenburg): Auch ich möchte mir erlauben meine abweichenden Ansichten in einzelnen Punkten, die der Herr Referent berübrt hat, darzulegen, aber ich befinde mich in derselben Lage, wie fast alle meine Vorredner. Ich muß nämlich das Resultat meiner Besprechung gipfeln lassen in einem Anträge. Nun ist aber vorhin zur Geschäftsordnung be­ stimmt worden, überhaupt von jeder Abstimmung und somit von jeder Be­ schlußfassung abzusehen; der bisherige Verlauf der Debatte hat mir aber die Ueberzeugung beigebracht, daß jener Beschluß kaum aufrecht zu erhalten sein dürfte. Ich weiß wirklich nicht, wie diese Versammlung, welche weithin ein so großes Aufsehen erregt hat und welche von vorne herein eine gewisse Parteistellung zu anderen volkswirtschaftlichen Richtungen eingenommen hat, es sollte vermeiden können, in diesem und jenem Kernpunkte eine bestimmte Er­ klärung abzugeben. Fast jede These des Herrn Referenten ist von den bisherigen Rednern bemängelt worden. Dem Einen geht er nicht weit genug, dem Anderen zu weit, und wenn nun später gefragt wird, wie sich denn die Versammlung eigentlich zu der Sache gestellt hat, so wird man ganz bestimmt darüber die

General-Debatte.

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widersprechendsten Urtheile zu hören bekommen. Das darf meines Erachtens nicht sein! Wir wünschen doch Alle eine nachhaltige Wirkung von dieser Versamm­ lung und da müssen wir doch den gesetzgebenden Organen genau sagen, wo denn der Staat weiter eingreifen soll. Ich möchte beantragen, daß wir über zwei wesentliche Punkte in den Thesen des Herrn Referenten Beschluß faßten. Der erste liegt darin, daß die schützende Gesetzgebung ausgedehnt wird auf die Hausindustrie. Ueber das Maß des Schutzes, das Sie derselben angedeihen lassen wollen, weiter zu beschließen, scheint mir bei der Fülle der dabei in Betracht kommenden Details in einer solchen ersten Versammlung kaum möglich. Ein neuer Gedanke von eminent praktischer Bedeutung tritt uns ferner in der These 5 am Schluß entgegen, daß nämlich von Reichswegen ständige Organe geschaffen werden sollen. Ich beantrage also: „Die Thesen 1 und das letzte Alinea der These 5 der näheren Beschlußfassung zu unterbreiten." Dann werden auch in dieser Versammlung die Meinungen sich klarstellen, und wir werden eine Parteistellung haben, die für die weitere Entwickelung des heute begonnenen Werkes durchaus nothwendig ist.

Ranisch (Delegirter der Maschinenbau-Arbeiter in Berlin): Meine Herren! Gerade die letzten Ausführungen des Herrn Thorade sind so zu­ treffend, daß ich diese durchaus unterstützen muß. Was nützt es hier zu tagen, wenn die Welt doch nicht klar wird, was Sie gewollt haben. Die Hauptsache ist, durch Abstimmung die Vorschläge anzuerkennen und dadurch zu konstatiren, daß die Mehrheit der hier Anwesenden dafür oder dagegen gewesen. Ich möchte bitten, ohne Scheu festzustellen, ob diese Versammlung Willens ist, einen Mittelweg zu schaffen, die Schroffheiten der extremen so­ zialen Richtung abzuschwächen ernstlich bemüht ist. In weiterer Folge würde es zweckmäßig sein, die von Prof. Schönberg bei einer anderen Gelegenheit angeregten Arbeilskammern zur statistischen Erhebung der Arbeiterverhältnisse in allen Beziehungen, auch hier, entweder heute oder morgen, mit in den Kreis Ihrer Berathungen zu ziehen. Alsdann würde auch bei der Gewerbe­ gesetzgebung darauf einzuwirken nöthig sein, eine bestimmte Zahl von Arbeits­ stunden als Maximalgrenze festzustellen, jedoch glaube ich, daß die organisirten Arbeiter die Arbeitszeit durch die Organisation sich kürzer bemessen werden, als der Gesetzgeber dieses wird thun wollen. krok. Dr. Schmöller (Straßburg): Meine Herren! Ich möchte gegen die beiden letzten Redner mich wenden, die den Wunsch ausgesprochen haben, es müsse abgestimmt werden. Ich glaube gegenüber der Öffentlichkeit wiegt es schwerer, wenn sie erfährt, wer hier gewesen ist und was hier gesprochen wurde, als wenn wir abstimmen. Die Abstimmung ist nach meiner Ansicht in einer solchen Versammlung immer etwas zufälliges und darum bedeutungs­ los! (Beifall).

Der andere Punkt, den ich berühren möchte, schließt sich dem an, was Herr Franz Duncker gesagt hat. Ich gebe ihm unbedingt Recht, daß der Staat dasjenige Organ ist, das sich dem zu weit gehenden Egoismus des

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Fabrikgesetzgebung.

Einzelnen entgegenstellen muß. Wenn er das aber ist, so muß er es thun durch eine Gesetzgebung, die ganze Gebiete, ja — für das deutsche — verschiedene Länder umfaßt; und da komme ich auf das Bedenken, das uns die Praktiker gegen die Verbote der Kinderarbeit und Aehnliches entgegengestellt haben, „daß es ja in jeder Stadt wieder anders sei, 'und daß sich ein Arbeiter vor dem anderen früher entwickelt." Ja, meine Herren! mit solchen Einwen­ dungen kann man die ganze Fabrikgesetzgebung wie überhaupt die meisten Gesetze bekämpfen! Wenn man auf diese Bedenken so großes Gewicht legt, so kann man überhaupt keine Fabrikgesetzgebung zulassen. Will man sie zulassen, so muß man sich sagen: Wir glauben, daß es Durchschnitts­ verhältnisse gibt, die in der Hauptsache so ziemlich überall ähnlich sind, und auf diese bauen wir das Gebäude der Fabrikgesetzgebung auf. — Man kann nicht für jeden Ort und jedes Individuum eine besondere Gesetzgebung erlassen! — Wohl aber kann man für die verschiedenen Gewerbszweige die Gesetzgebung specialisiren. Man kann z. B. wie in England genau be­ stimmen, in dem und dem Gewerbe sind die bestimmten gesundheitspolizei­ lichen Einrichtungen, an den und den Maschinen sind die Schutzvorrichtungen nöthig. Aber das muß dann wieder gleichmäßig im ganzen Staate geschehen ohne Ausnahme für Orte, wo es vielleicht nicht ganz so nöthig wäre. Will man einzelne Punkte der Fabrikgesetzgebung der lokalen Regulirung überlassen, so hat man sich sehr vorzusehen, ob man dadurch nicht einfach die Gesetze aufhebt oder wenigstens durchlöchert. Am ehesten könnte man es vielleicht einer Provinzialvertretung oder einer Provinzialbehörde überlassen, für einzelne Orte Ausnahmen zuzulassen, keinesfalls aber den Ortsbehörden. Und damit komme ich auf die Frage, ob den Lokalbehörden überhaupt eine bedeutsame Rolle bei der Ausführung der Fabrikgesetzgebung zu ertheilen sei, ob das Prinzip des Selfgovernment, dem auch ich huldige, das die Ausführung der Gesetze eben mehr als bisher in die Hand selbständiger lokaler Behörden resp. Ehrenämter legen will, uns nöthige, auch diese Dinge den Ortsbehörden zu überlassen. Zunächst constatire ich, daß, wenn man Ausnahmen füreinzelne Orte und Gegenden wünscht, dies mit dem Princip der Selbstver­ waltung, d. h. mit der Ausführung der Gesetze durch Lokalbehörden nichts zu thun hat. Beschlüsse, die Gesetze nicht anzuwenden, gehen das richtige Princip der Selbstverwaltung gar nichts an. Aber auch, soweit es sich um eine Ausführung allgemeiner Gesetze, um die Ueberwachung der Befolgung derselben handelt, ist die Grenze für das Selfgovernment immer da vorhan­ den, wo der Egoismus der herrschenden Klassen, die die Ehrenämter der Selbstverwaltung stets inne haben, in absoluten Widerspruch kommt mit der betreffenden Gesetzgebung. Was wäre aus unserer Ablösungsgesetzgebung und aus unserer ganzen Separation geworden, wenn man sie ganz den Orts­ behörden überlassen hätte? Und eben so steht es mit der Fabrikinspektion; sie ganz den Ortsbeh'örden überlassen, heißt sie unter den Einstuß und Druck der herrschenden und besitzenden Coterien des Orts stellen. Was man damit will, sehen wir schon daraus, daß diejenigen, welche eigentlich jeder Fabrik­ gesetzgebung abgeneigt sind, so sehr verlangen, die Inspektion müsse den Ge­ meinden übertragen werden. Eine Mitwirkung der Gemeindebehörden will ich damit nicht unbedingt ausschließen; aber jedenfalls müßte diese Mitwir-

Special-Debatte.

kung durch staatliche Organe streng kontrolirt werden. Worte wollte ich gegen vr. Hilse bemerken.

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Nur diese wenigen

Dr. Max Hirsch-Berlin (zur Geschäftsordnung): Ich wollte Sie bitten, dem Anträge des Herrn Director Thorade zuzustimmen. Auch ich bin fest über­ zeugt, daß wenn die heutige Versammlung ohne bestimmte Beschlüsse ausein­ andergeht, nur Zweierlei möglich ist: Entweder ist Jeder, der nicht aus­ drücklich gegen die Worte des Herrn krok. Schmöller protestirt, daran ge­ bunden, oder man betrachtet uns als ein zufällig zusammengelaufenes Conglomerat, und man sagt: Da sind sie zusammengewesen, aber geschehen ist Nichts!" — Ich lege auf die heutige Versammlung eine viel zu hohe Be­ deutung, als daß ich nicht wünschen möchte, daß sie mit einem Resultate aus­ einander ginge. Es ist höchst wichtig, daß hier verschiedene Personen zu­ sammen kommen, um Einigungspunkte zu finden. Meine Herren! wenn Sie nicht einmal im Stande sind, in dieser Arbeiterschutz-Frage einen Beschluß zu fassen, dann erkläre ich die ganze Versammlung für unnütz! — Herr Thorade hat schon den anscheinend praktischen Vorschlag gemacht, einzelne Punkte her­ auszugreifen. Ich möchte aber, daß nach Beendigung der Diskussion eine Commission erwählt wird, die für die Abendsitzung die noch zu complicirte Fassung der Resolutionen modisicirt! —

Vorsitzender: Ich halte dies nur für zulässig, wenn die Herren einen neuen schriftlichen Antrag einbringen. Mitten in der Debatte können wir den Modus der Berathungen nicht umstoßen, den wir einmal beschlossen haben! — Ferner ist es aber wohl nicht richtig, daß diese Debatte sonst nichts zu bedeuten habe. Die bisherige Debatte drückt aus, daß der Fabritschutz in dieser Versammlung keine Gegner, sondern lauter Fürsprecher hat; das Ganze dreht sich nur um Modificationen des Maßes. Wir gehen nunmehr in die Special-Debatte über. Hofrath?rok. I)r.von Held-Würzburg (zurGeschäftsordnung): Es mag E Wagestück sein, daß ich, nachdem die Debatte bereits soweit gegangen, noch das Wort ergreife. Es geschieht lediglich, um eine neulich von mir gemachte Er­ fahrung der hohen Versammlung mitzutheilen. — Es war im vorigen Jahre eine ziemlich zahlreich besuchte Versammlung in einer anderen Angelegenheit, wo im Eingänge beschlossen wurde, Nichts zu beschließen. Die Versammlung ging ihren Gang, und nachdem zwei Tage lang berathen worden war, da war es die Aufgabe der Herren, eben doch etwas zu Stande zu bringen. Man hat so lange mit dem Bureau gearbeitet, bis eben gewisse Dinge angenommen worden sind! Diese Erfahrung ist freilich keine Präcedenz für eine andere Versammlung, aber ich fürchte, es möchte der Moment eintreten, daß wir doch wünschten schließlich etwas beschlossen zu haben. krok. Dr. A. Wagner (Berlin): In dem Referate des Herrn Pro­ fessor Brentano habe ich wie andere Mitglieder dieser Versammlung einige Punkte vermißt, die ich kurz erwähnen möchte. Nach der gestellten Frage

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Fabrikgesetzgebung.

sollte gehandelt werden von der „Durchführung und Weiterbildung der deutschen Fabrikgesetzgebung". Es scheint mir aber, daß die Thesen des Herrn Professor Brentano sowie sein Referat darüber zu ausschließlich von der Weiterbildung und nicht von der Durchführung der Fabrikgesetzgebung han­ deln. Er sprach zwar von Sachsen, wo die geltenden Gesetze nicht gehörig durchgeführt seien; ich weiß aber, daß dies wenigstens für andere deutsche Länder entschieden von anderer Seite bestritten wird. Mir ist z. B. erst neulich von einem preußischen Beamten versichert worden, und zwar wurden speciell Schlesien und die Rheinprovinz genannt, die preußischen Bestimmungen seien überall genau durchgeführt. Wir müssen, wie mir scheint, also vor Allem verlangen, daß zuerst ganz zuverlässig constatirt werde, inwieweit die Fabrikgesetzgebung durchgeführt ist; erst dann können wir in der Praxis wei­ ter gehen. Was aber die Art und Weise der Weiterbildung der Fabrikgesetzgebung betrifft, so müssen wir verlangen, daß auch da erst genaue Enqueten angestellt werden über das, was weiter vermißt wird und was durchführbar ist. Wir können nicht ganz generell Beschlüsse anpreisen über die Stundenzahl u. s. w., das muß sich specialisiren nach den einzelnen Gewerben und Orten. Man stelle also Untersuchungen über diese Punkte an; man frage die Arbeiter und die Arbeitgeber. Bevor wir aber dieses Detailmaterial nicht haben, halte ich es für gewagt, daß man so in's Specielle einen der Anträge formulire und zur Beitrittserklärung unterbreite. Außerdem möchte ich in dem Referat noch einen Punkt hervorheben, der nicht genügend behandelt sein dürfte. Der Herr Referent nennt sein Thema selbst „Fabrikgesetzgebung"; aber was er vorgelegt und vorgetragen hat, bezieht sich nur auf einzelne, freilich sehr wichtige Punkte, auf die Beschränkung der Arbeitszeit der Minorennen, der Frauen, Kinder u. s.w. Außerdem sind jedoch auch noch andere Punkte hervorzuheben, z. B. sanitäre Maßregeln, Maßregeln zum Schutz gegen Maschinenschäden und Entschädigungs­ ansprüche bei Unglücksfällen. Wir müßten also, meine ich, alle diese Punkte ebenso mit in das Thema hineinziehen. Ferner ein Punkt, der jetzt bei der Münzreform unmittelbar praktische Tragweite hat, ist der, in welcher Form die Lohnzahlung geschehen soll? Bestimmungen nicht nur wegen des Truck­ systemes, sondern auch wegen der immer noch vorkommenden Zahlung in schlechter Münze sind erforderlich. Das sind also Punkte, die entschieden geradeso Beachtung verdienen, wie die anderen, die ja freilich an Wichtigkeit voranstehen. Um "also kurz zusammenzufassen: Wir müssen unbedingt ver­ langen, daß das thatsächliche Material zunächst noch genauer erforscht, gesichtet und festgestellt werde, bevor wir so sehr in's Einzelne gehende allgemeine Be­ schlüsse fassen. Im Uebrigen aber möchte ich mich dahin aussprechen, daß ich mit dem Gesammtinhalte der Ausführungen des Herrn Dr. Brentano über­ einstimme, ja, in einigen Punkten, wenn hier der Ort wäre, so in's Detail zu gehen, selbst noch' etwas weiter gehe. Vorsitzender: Schluß ist beantragt von Herrn Anton Niendorf. — Die Generaldebatte ist geschlossen. Referent krok. vr. Brentano (Breslau):

Ich möchte mir nur wenige

General-Debatte.

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Bemerkungen zur General-Debatte erlauben, da viele der Einwendungen der Borredner bereits in das Gebiet der Special-Debatte Hinübergriffen, bei welcher ich sie berücksichtigen werde. — Zu dem, was mir in das Ge­ biet der General-Debatte zu gehören scheint, gehören die letzten Be­ merkungen des Herrn Professor Wagner. Er meint, es sei noch nicht hin­ reichend constatirt, daß die Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung undurchHeführt geblieben seien; ich habe Belege für diese Angabe nur für Sachsen gebracht! Allein ursprünglich lag es nicht in meiner Absicht, Ihnen Belege für die Nichtdurchführung unserer Fabrikgesetzgebung nur aus Sachsen vorzu» führen. Ich habe eine Reihe zuverlässiger Notizen aus allen deutschen Län­ dern zusammengestellt, die ich mit Rücksicht auf die Dauer der Zeit aus meinem Vortrage jedoch weglassen mußte *), die aber fast alle darin überein­ stimmen, daß z. B. die Beschränkung der Arbeitszeit der 14—16jährigen Ar­ beiter auf zehn Stunden täglich nirgends beobachtet werde. Auch sagte der Abgeordnete Stumm bei Berathung der norddeutschen Gewerbeordnung, daß diese Beschränkung in keinem Theile Preußens berücksichtigt werde, gewiß ein competenter Zeuge. Ferner hat die berliner Wochenschrift „Concordia" auf die an viele ihrer Freunde, die in den verschiedensten Theilen Deutschlands leben, gerichtete Anfrage, ob diese Bestimmung bei ihnen beobachtet werde, mit einer einzigen Ausnahme von Allen die Antwort erhalten, daß diese Be­ stimmung der Fabrikgesetzgebung nirgends durchgeführt werde! Ich glaube, daß wir, nachdem die großen Industriellen selbst die Nichtbeob­ achtung einräumen, gar keiner Enquöte mehr bedürfen, um diese Nichtbeobachtung zu constatiren. Uebrigens ist es keineswegs meine Meinung, daß wir über die Lage der deutschen Arbeiter schon hinreichend unterrichtet seien, und ich habe in meinem Referate bereits hervorgehoben, „daß wir uns bei der Frage, ob die Bestimmungen der deutschen Fabrikgesetzgebung durchgeführt werden, in derselben traurigen Lage befinden, wie bei allen Fragen nach den thatsächlichen deutschen Arbeiterverhältnissen, daß uns nämlich jetzt kein Material zu Gebote steht, um eine erschöpfende Antwort geben zu können." — Was sodann einen andern Punkt angeht, den der Herr Vorredner gerügt hat, daß ich bei meinen Vorschlägen zur Reform der Fabrikgesetzgebung lediglich die Beschränkung der Arbeitszeit im Auge gehabt habe, nicht auch die gleich wichtigen und gleich nothwendigen sanitätspolizeilichen Maßregeln, so liegt der Grund hievon darin, daß ich die Bestimmung der preußischen Fabrikgesetzgebung für die richtige halte, wonach es den Durchführungsbehörden vorbehalten ist, diejenigen beson­ dern sanitäts-, bau- und sittenpolizeilichen Anordnungen zu erlassen, welche sie zur Erhaltung der Gesundheit und Moralität der Arbeiter für nothwendig halten. Diese Durchführungsbehördeü können ihre Anordnungen den einzelnen Fällen möglichst genau entsprechend machen. Ich dachte deshalb, wenn die Versammlung sich über die Nothwendigkeit der Creirung besonderer Organe zur Fabrikinspection einigen würde, würde es auch in das Ressort dieser Or­ gane fallen, die nöthigen sanitären rc. Anordnungen zu treffen oder darauf bezügliche Vorschläge zu machen. Uebrigens habe ich in dem Referate bereits meine Ansicht ausgesprochen, daß ich selbst die Vorschläge, die ich gemacht habe, *) Dieselben sind in das oben abgedruckte Referat wieder eingefügt worden.

Eisenacher Conferen;.

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Fabrikgesetzgebung.

für auf die Dauer genügend halte. Alle übrigen gemachten Einwendungen werden sich am besten bei der Special-Debatte berücksichtigen lassen.

Special-Debatte, zunächst über Punkt 1. der Vorschläge des Referenten. Landrath Tiedemann (Mettmann): Meine Herren! ich habe mir zu dem ersten Punkte der vorgeschlagenen Resolutionen das Wort erbeten, weil ich in der Lage bin, ein Zeugniß über den Schulbesuch in den Fabrik-Distritten der Rheinprovinz ablegen zu können. Ich verwalte nämlich einen Kreis in der Rheinprovinz, in welchem die Industrie in hoher Blüthe steht, und da muß ich denn leider constatiren, daß während der letzten Jahre der Schul­ besuch an vielen Orten erschreckend abgenommen hat, und zwar fast ausschließ­ lich deshalb, weil in zahlreichen Familien die Kinder von ihren Eltern syste­ matisch angehalten werden, gegen hohen Lohn in den Fabriken zu arbeiten. Ich bin der Ueberzeugung, meine Herren, daß unsere gegenwärtige Gesetzgebung, in keiner Weise ausreicht, diesem Unwesen zu steuern, und daß es daher nicht genügt, wie in der Resolution vorgeschlagen wird, zu sagen, es müsse auf die strengste Durchführung der Bestimmungen über den Schulbesuch hingearbeitet werden, sondern daß wir eine wesentliche Verschärfung dieser Bestimmungen in's Auge fassen müssen. Eine bloße Durchführung der jetzigen Bestimmungen wird niemals ein wirklich zweckentsprechendes Resultat liefern können. Wenn die Herren mir gestalten wollen, Ihnen das Verfahren bei Bestrafung der Schulversäumnisse, wie es sich in der Praxis gestaltet, mit einigen Worten zu schildern, so werden Sie mir sicherlich Recht geben. Nach den in der Rheinprovinz gellenden Bestimmungen hat jeder Lehrer am Ende des Monats eine Liste derjenigen Kinder, welche die Schule in dem betreffenden Monate versäumt haben, dem Bürgermeister einzureicken; oder richtiger, er hat sie zunächst dem Prediger als Local-Schulinspector einzureichen von diesem geht sie an den Kreis-Schulinspettor und dann von diesem erst an den Bürgermeister. Auf einem solchen Umwege gelangen natürlich die z. B. ultimo September abgesandten Listen nicht vor Mitte October an den Bürgermeister. Der Bürgermeister nun hat die Liste weiter zu geben. Er überreicht sie dem Polizeianwalt, damit dieser bei dem Gerichte einen Straf­ antrag stelle. Das Gericht hat aber nur einmal im Monate, und zwar in der Mitte desselben, Sitzung. Die Vorladung kann den Eltern also erst für Mille November zugehen. Jetzt findet der Termin statt. Der Vater macht Einwendungen, es müssen vielleicht Zeugen verhört werden — genug, ein neuer Termin ist in den meisten Fällen nöthig. Endlich nach Ablauf also von mehreren Monaten erfolgt das Erkenntniß, und dieses lautet auf Zahlung einiger Silbergroschen. Tamil ist die Sache aber keineswegs vorbei. Es muß jetzt das Beitreibungsverfahren eröffnet werden. Es erfolgen die landes­ üblichen Mahnungen, Pfändungsandrohungen u. s. w., und diese nehmen wiederum mindestens zwei bis drei Monate in Anspruch. Bis es wirklich zur Pfändung kommt, bis die Strafe also wirklich vollstreckt wird, vergehen daher

Special-Debatte.

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im günstigsten Falle sieben bis acht Monate: Und nun frage ich Sie, meine Herren: kann das eine Wirkung haben, kann das überhaupt einen anderen wie komischen Eindruck machen, wenn ein Vater, dessen Kind im September die Schule geschwänzt hat, hierfür im März oder April des nächsten Jahres einige Silbergroschen, — und höher kommt die Strafe das erste Mal nicht — zu zahlen hat?! Die Sache gestaltet sich aber noch schlimmer, wenn das Fernbleiben von der Schule auf Antrieb des Vaters systematisch betrieben wird, wenn also das Kind etwa das ganze Jahr hindurch die Schule versäumt. Der Polizeirichter sieht nämlich jede Versäumnißliste als eine einzige Anklage an, und straft da­ her nur dann die Versäumniß als Wiederholung, wenn das betreffende Kind wieder in der nächsten Monatsliste sigurirt. Dabei behandelt er das Kind, welches einmal im Monate gefehlt hat, genau so, wie dasjenige, welches im Monate etwa vierundzwanzigmal gefehlt hat. — Auf diese Weise kann also eine Verschärfung der Strafe wegen wiederholter Uebertretung nur nach langen Intervallen eintreten und die Strafe steigt nicht in einem richtigen Verhält­ nisse zu der Dauer der Zeit, in welcher das Kind fehlt. — Nehmen wir nun an, daß ein Kind fast das ganze Jahr aus der Schule gehalten wird, — wie gestaltet sich da die Strafe? In meinem Kreise kann ein Kind von 12 bis 14 Jahren in den Fabriken mit Leichtigkeit wöchentlich 1 bis l^ Thaler verdienen, der Vater macht also, wenn er das Kind consequent aus der Schule hält, im Jahre einen Profit von mindestens 30 bis 40 Thalern. Und nun kommt der Executor nach Ablauf von so und so viel Monaten und nimmt ihm vielleicht 3 bis 4 Thaler als das Gesammtmaß der Strafen ab! Höher kommt's nicht. Wird sich unter diesen Umständen der Vater veranlaßt finden, das Kind im nächsten Jahre in die Schule zu schicken? — Ich glaube Nein! Ich möchte daher die Herren aus dem Abgeordnetenhause, welche hier gegenwärtig sind, dringend bitten, dahin zu wirken, daß wir mit dem Unterrichtsgesetze zugleich für die ganze Monarchie ein Gesetz erhalten, welches die Schulversäumnisse mit schärferen Strafen und einem prompteren Verfahren, wie bisher, bedroht. Ich möchte hierbei darauf Hinweisen, daß schon früher von dem Abgeordneten v. Ernsthausen der Antrag gestellt worden ist, die Be­ strafung der Schulversäumnisse den Verwaltungsbehörden zu überweisen, oder vielmehr denselben zu belassen, denn früher waren sie, und nicht die Gerichte, competent hierfür in der Rheinprovinz. Eine Erhöhung der Minimalstrafe auf einen Thaler und eine Vollstreckung dieser Strafe im Wege der vorläufigen Straffestsetzung, die wir sonst in der Rheinprovinz nicht kennen, — das wür­ den sicherlich wirksame Mittel zur Förderung des Schulbesuches sein. Ist die Polizeibehörde in der Lage, am Schlüsse jeder Woche die stattgehabten Schul­ versäumnisse festzustellen und durch ein sofort zu erlassendes Strafresolut dem renitenten Vater einen heilsamen Schrecken einzujagen, dann wird das Ver­ fahren seinen Zweck erfüllen, denn dann folgt die Strafe der Uebertretung auf dem Fuße und hält, weil sie zur rechten Zeit und wirksam eingreift, von weiteren Übertretungen ab. Ich erlaube mir daher, zu der vorliegenden ersten Resolution ein kleines Amendement zu stellen folgenden Inhalts: daß nicht nur auf strengste Durch4*

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führung der Bestimmungen über den Schulbesuch, sondern, wo es nöthig, auf wesentliche Verschärfung derselben hingewirkt werde.

Stadtrath Wolf (Meerane): Meine Herren! Ich nehme hier Ge­ legenheit ein Mißverständniß zu berichtigen, welches in der General-Debatte Herrn Schulze bezüglich einer Aeußerung, die ich gethan haben sollte, unter­ gelaufen ist. Ich habe bemerkt, daß als seinerzeit beim Magistrate zu Plauen die Durchführung der Gewerbeordnung bezüglich der Kinderarbeit in Frage gekommen, eine ethische Erwägung in Frage gekommen sei, habe aber nicht gesagt, daß meine Ansicht sei, die Gesetzgebung in Betreff der Kinderarbeit noch unter die jetzt gültigen gesetzlichen Bestimmungen auszudehnen. Ich habe ganz ausdrücklich betont, daß die erwähnte Erwägung auf die Durchfüh­ rung des Gesetzes nicht von Einfluß sein dürfe! Freiherr Nordeck und zur Rabenau (Hessen): Meine Herren! Ich bin der Ueberzeugung, daß es die erste Pflicht des Staates ist, für die Bil­ dung der Bevölkerung zu sorgen, und daß diese Pflicht viel höher steht als alle anderen. Deshalb bin ich auch der Meinung, der Staat habe ein In­ teresse daran, daß die Kinder, so lange sie schulpflichtig sind, überhaupt nicht in Fabriken beschäftigt werden sollen, indem dies ein Raub ist an der Aus­ bildung der Kinder! Im Großherzogthum Hessen kann das überhaupt nicht vorkommen. Es ist dies nämlich eine der guten Einrichtungen, die wir dort haben, daß die Schulordnung vorschreibt, „die Kinder haben bis zum 14. Lebensjahre die Schule Vormittags und Nachmittags regelmäßig zu besuchen", also bleibt für Fabrikarbeit keine Zeit, Fabrikarbeitszeit für Kinder kommt in Hessen nicht vor! Das Gleiche ist, wie mir ein College mittheilt, in Schleswig-Holstein der Fall! Wenn einer der Herren Vorredner — ich glaube es war der zweite vor mir, der Beamte aus dem Rheinlande — uns hier ein Bild vorgeführt hat, wie die Schulversäumuisse im Rheinlande erst nach acht Monaten zur Be­ strafung kommen, so kann ich darin nichts Anderes erblicken, als eine Schil­ derung bnreaukratischer Zustände, die ein trauriges Bild von jener Gegend geben. Die Schulversäumuisse kommen natürlich in Hessen ebensogut vor wie in Rheinpreußen, aber die Bestrafung folgt ihnen viel schneller auf dem Fuße. Der Schullehrer giebt sein Berzeichniß nach Ablauf des Monats an den be­ treffenden Bürgermeister ab; der Bürgermeister läßt die Eltern der darin verzeichneten Kinder, denen Versäumnisse nachzuweisen sind, kommen und fragt sie, ob der Sachverhalt richtig ist oder nicht. Stellen die Eltern es in Abrede, so tritt Untersuchung ein und sie haben die Kosten zu tragen, stellen sie es nicht in Abrede, so schickt ihnen der Bürgermeister mit der Bemerkung, daß sie die Schulversäumnisse anerkannt hätten, das Strafmandat mit dem Executor. Die Geschäfte sind in sechs Wochen längstens beendet; die Strafe folgt also der Uebertretung so zu sagen auf dem Fuße! Wenn einer der Herren Vorredner von Fortbildungsschulen ge­ sprochen hat, so bin ich vollständig damit einverstanden, daß diese nur erwünscht sein können nnd daß man sie daher errichten kann und soll, wo es irgend mög­ lich ist. Aber obligatorisch möchte ich sie nicht haben, denn der Zwang des Staates muß doch auch einmal sein Ende haben und ich glaube, man soll

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nicht die Leute zwingen sich zu bilden, wenn sie einmal die Schule hinter sich haben. Auf die formelle Arbeiterfrage werde ick mir später erlauben zurück­ zukommen! Gutsbesitzer Knauer (Gröbers): Meine Herren! Ich habe das Gefühl, als ob die hohe Versammlung sehr wohl daran gethan hat, zu beschließen, daß sie nicht abstimmen wolle, denn ich habe aus der bisherigen Debatte die Meinung gewonnen, daß vielleicht der § 1 angenommen werden würde, und danach würde, wenn er wörtlich angenommen würde, die ganze Wirksamkeit der hier tagenden Versammlung gleich Null sein, denn der § 1 entzieht die Kinder der Autorität der Familie und meine Herren, greifen sie erst die Familie an, dann untergraben Sie die Zukunft unseres Volkes ganz sicher! Ter Staat soll nur da eingreifen, wo die Autorität der Eltern nicht mehr hinreicht! Ich bin ganz damit einverstanden, daß der Besuch der Volksschule als Bildungsstätte nicht beschränkt, sondern gehoben werden soll; aber wenn der Passus hier so lautet, daß da, „wo die Eltern und Vormünder selbst ihre Kinder zu frühzeitig und andauernd beschäftigen, durch strengste Durchführung der Bestimmungen über den Schulbesuch diesem Mißbrauch ein Damm gesetzt werde", so würde ich -Ihnen doch rathen, das nicht zu beschließen, meine Herren! Sie stellen sonst die Eltern unter permanente Polizei-Aufsicht. Ganz unausführbar ist es, wenn die Eltern die Kinder gar nicht beschäftigen dürfen, wie es in dem Nachsatz heißt: „daß künftighin jegliche Beschäftigung von Kindern unter dem gesetzlich bestimmten Alter verboten werde", das soll doch wohl blos heißen: „jegliche Fabrikbeschäftigung'." Ties ist entweder ein Druckfehler oder ein zu beseitigender Irrthum und deshalb schlage ich -Ihnen vor, das nicht zu beschließen! Der letzte Redner sagte: er wolle die Fortbildungsschule, aber nicht obligatorisch. Nun, meine Herren, wenn wir sie nicht obligatorisch einführen wollen, dann wird sie wohl für immer ein frommer Wunsch bleiben! (Beifall)

Bankdirector Thorade (Oldenburg): Meine Herren! Wenn das, was der Herr Vorredner von der unbedingten Verwerflichkeit des staatlichen Ein­ schreitens in Familienverhältnisse gesagt hat, von einem strengen Manchester­ manne gesagt worden wäre, so würde ich das begreiflich finden. Aber ich meine, wir dürfen von allen Theilnehmern dieser Versammlung voraussetzen, daß sie eben Gegner des Dogmas der absoluten Heilkraft des freiesten Coucurrenzgetriebes sind und vielmehr dem Staate das Recht und die Pflicht zuerkennen, überall da schützend einzugreifen, wo ein Theil der künftigen Staatsbürger in seiner körperlichen und sittlichen Entwicklung ersichtlich durch Mißstände verkümmert wird, deren Abstellung nur in der Macht des Staates liegt. Wenn der Herr Vorredner den Zwang für die Fortbildungsschule nicht scheut, sondern ihn eher fordert, so verstehe ich nicht, wie er es für einen verwerflichen Eingriff in die Familie halten kann, wenn wir den gesetzlichen Schutz jugendlicher Arbeiter auch auf Kleingewerbe und Hausindustrie über­ tragen haben wollen. Ohne eine solche Ergänzung sind die jetzt geltenden Bestimmungen für Vie Beschäftigung der Kinder in Fabriken ziemlich wir­ kungslos.

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?rof. Dr. Const. Rößler (Berlin): Ich möchte mich ebenfalls gegen den vorletzten Herrn Redner wenden, sehe mich aber veranlaßt, ihn vorher gewissermaßen in Schutz zu nehmen gegen den letzten Redner. Ich glaube, mit dem Ausdruck „Manchesterschule" dürfen wir hier nicht auf die Weise um uns werfen, daß wir Ansichten, welche an jene Richtung erinnern, damit un­ widerlegt proscribiren. Vielmehr müssen wir ähnliche Ansichten, wenn sie mit Gründen vorgebracht werden, anhören, und wenn möglich mit besseren Grün­ den widerlegen. Nun wollte ich aber dem vorletzten Redner, welcher von der Befolgung der ersten These die Untergrabung der Familie befürchtet, bemer­ ken, daß der Staat sich längst den Schutz der Kinder angelegen sein läßt vor Mißhandlungen der Eltern, sowohl mittelst des Strafrechtes als mittelst der Polizei. Der Grundsatz, welchen die These aufstellt, ist also nicht neu, er wird nur nach einer gewissen Richtung ausgedehnt. Und da muß ich sagen, daß das Einschreiten des Staates gegen den Mißbrauch der elterlichen Gewalt, weit entfernt, die Familie aufzuheben, vielmehr die Heiligkeit der Familienbande aufrecht hält. Wenn endlich der vorletzte Redner so großen Anstoß an dem Ausdruck nimmt, daß künftighin jegliche Beschäftigung von Kindern unter dem gesetzlich bestimmten Alter verboten werde, so ließe sich darüber streiten, wenn wir hier die Absicht hätten, formale Beschlüsse zu fassen. Da dies aber noch zweifelhaft ist und die These blos zu einem Austausch von Ansichten dienen soll, so wissen wir doch Alle recht gut, daß das Verbot jeglicher Beschäftigung unter einer gewissen Altersgrenze lediglich gerichtet ist gegen die Ausbeutung des zarten Alters in gewinnsüchtiger Absicht. Wir wissen recht gut, daß nicht verboten ist die Beschäftigung zu bildenden Zwecken. Regierungsrath Vischer (Stuttgart): Meine Herren! Erlauben Sie mir bezüglich der mehrmals zur Sprache gebrachten Fortbildungsschulen einige Worte, um Ihnen mitzutheilen, was hierüber in Württemberg zu Recht besteht. In unserem Lande gilt der obligatorische Volksschulunterricht vom 7. bis zum 14. Jahre; von da an bis zum 18. Jahre sind sodann beide Geschlechter gesetzlich verpflichtet, einen Fortbildungsunterricht zu besuchen, welcher theils am Sonntage, theils für die männliche, meist ländliche Jugend an den Winter­ abenden von Volksschullehrern ertheilt wird. Daneben bestehen seit etwa zwanzig Jahren besonders organisirte, freiwillige, gewerbliche Fortbildungs­ schulen, für die gewerbliche Jugend, für die Lehrlinge, Gesellen, Arbeiter u. s. w. und sind diese sodann von dem Besuche der obligatorischen Fortbildungsschule dispensirt. Dieser Unterricht wird in den Feierabendstunden namentlich in den Wintermonaten und am Sonntage vor und nach dem Gottesdienste ertheilt. Es wird in diesen freiwilligen Schulen unterrichtet: im gewerblichen Rechnen, gewerblichem Aufsatz, Buchhaltung, in den Grundsätzen der Volkswirthschast u. s. w. sowie im Freihandzeichnen, geometrischen und Fachzeichnen. Es bestehen solcher Schulen im Lande ca. 150, fast in allen Städten und in manchen Dorfgemeinden, mit über 8000 Besuchern jährlich; die Kosten werden hälftig von den Gemeinden und hälftig vom Staate bestritten; auch wird ein in der Regel kleines Schulgeld auf Rechnung der Gemeinde eingezogen, weil man die Erfahrung gemacht hat, daß ein bezahlter Unterricht höher geschätzt und mit besserem Erfolg genossen wird, als ein unentgeltlicher. Die Leistungen

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dieser Schulen werden allseitig, insbesondere auch vom Auslande als gute anerkannt. — Ich will hiermit nur constatiren, daß dasjenige, was von vielen Borrednern als ein dringendes Bedürfniß für die Jugend in Deutschland be­ zeichnet worden ist, in Württemberg schon seit zwanzig und mehr Jahren in anerkannter Wirksamkeit besieht, und daß diese freiwilligen Schulen viel günstigere Resultate liefern und dem Bedürfnisse der gewerblichen Jugend weit mehr Rechnung tragen, als der bei uns daneben bestehende obligatorische und unentgeltliche Unterricht für die übrige Jugend über 14 Jahren.

Julius Schulze (Mainz): Nur wenige Worte in Bezug auf das, was Herr Knauer vorgebracht hat, in Bezug auf den Eingriff in die Rechte der Familie, der darin liegen soll, daß die Arbeit der Kinder in einem gewissen Alter ganz verboten sein soll. Ich bin auch der Meinung, daß der geehrte Redner diese Ansicht durch die Vertheidigung der obligatorischen Fortbildungs­ schule ganz wieder aufgehoben hat, möchte aber noch darauf Hinweisen, daß von einem gewissen Standpunkte aus für die Fortbildungsschule der obliga­ torische Unterricht sogar allenfalls bestritten werden kann, wenn auch für mich ein Zweifel darüber, daß auch die Fortbildungsschule obligatorisch sein muß, nicht mehr obwaltet. Man kann allerdings sagen: für die älteren Kinder, welche Besucher der Fortbildungsschule sein sollen, erhebt sich wirklich die Erwägung, ob nicht in sehr vielen Fällen die Arbeit derselben einer Fa­ milie mehr vorwärtshelfen würde, als ihre weitere Ausbildung. Aber das muß ich sagen, daß, wenn man die Fortbildungsschule obligatorisch machen will und anerkennt, hier müsse das Recht der Eltern aufhören, dann begreife ich nicht wie man sagen kann, es sei ein Eingriff in die Rechte der Familie, wenn die Kinderunter einem gewissen Alter überhaupt nicht arbeiten dürfen. Ich halte dafür, daß es ein wesentlicher Schritt zur Erhaltung der Familie ist, wenn der Vater nicht das Recht hat, seine Kinder zu mißbrauchen' Ich finde kein anderes Wort dafür!

krok. Dr. von Holtzendorff (Charlottenburg): Meine Herren! Ich glaube, das Princip ist hier in keiner Weise bestritten, daß der Staat in die Familie eingreifen muß, wo diese sich gegen sich selbst kehrt. Das wird wohl Niemand bestreiten. Eigenthümlich ist, daß die Professoren hier ganz ihrem Rufe der „Katheder-Socialisten" untreu geworden sind und practisch gesprochen haben, während die hier anwesenden Practiker die theoretische Frage der Staats­ intervention stellen, die wir gar nicht untersuchen wollen. Die Grenze, wie weit der Staat in die Familie eingreifen darf, ist gar nicht so schwer zu finden. Wollten die Familien sagen: Du Staat hast Dich um die Familie gar nicht zu kümmern, dann würde er dasselbe thun, was er kürzlich auch auf kirchlichem Gebiete gethan hat, als die Kirche gleichfalls sagte: Du darfst Dich bei uns nicht einmischen! Das Kind wird geschützt, soweit es gemißhandelt wird an Körper und Seele von den Eltern selbst. Allerdings giebt es aber auch ein zweifelhaftes Gebiet, wo zu discutiren ist, ob das Kind gegen die Eltern geschützt und ohne Noth die Autorität der Eltern ange­ fochten werden soll. Ein solcher Grenzpunkt kann aufgesucht werden und es wird heute uns nicht in den Sinn kommen, ein Gesetz zu geben, welches durch

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ein unerhörtes System polizeilicher Haussuchung vollstreckt werden müßte. Wir haben beschlossen nicht abzustimmen, weshalb ich der Mühe überhoben bin, etwas gegen die Fassung der Thesen zu sprechen. Wäre aber die Formfrage der Ab­ stimmung zu discutiren, so müßte ich mich gegen den zweiten Satz der Thesen aussprechen, schon weil er nach außen hin zu Verdrehungen Anlaß geben müßte, Man würde sagen: „Die Versammlung hat das Erziehungswesen negirt; eine Beschäftigung der Kinder während der Schulzeit ist nothwendig!" — Ich bin aber auch noch darüber sehr zweifelhaft, ob man sich so unbedingt und ganz im Allgemeinen für den ersten Satz erklären kann. Die Tendenz ist unbedingt gut, aber ich erinnere den Referenten daran, daß er gerade in diesem Punkte die Vorbilder der englischen Fabrikgesetzgebung doch auch würdigen möge, dies nämlich, daß man in England beim Schutze der Kinder niemals ein Princip angenommen hat, sondern von Fabrikationszweig zu Fabrikationszweig langsam vorgeschritten ist, je nachdem man die Wirksamkeit und Schädlichkeit derselben erkannt hat. Ich bekenne mich nicht dagegen, daß unter analogen Verhältnissen auch gegen die Hausindustrie Kinder geschützt werden, aber ich bekenne, daß ich über die Tragweite dieses Vorschlages noch nicht klar bin, sondern sage auch, daß ehe man soweit gehe, erst Ermittlungen angestellt werden müssen. Ich glaube sagen zu können, daß gerade hier im Thüringer Walde einzelne Zweige der Hausindustrie epstiren, in denen Kinder nützlich uud wirtschaftlich beschäftigt werden können, ohne daß ihre Bildung benachtheiligt wird. Solche Haus­ industrien existiren notorisch in der Schweiz, in welcher schulpflichtige Kinder Beschäftigung finden, ohne daß deren Bildung darunter leidet. Ferner giebt es noch eine Nutzbarmachung der Kinder in der ländlichen Arbeit zu gewissen Zeiten, welche man doch dort ganz gewiß nicht verbieten kann! — Ich wieder­ hole: Mit der Richtung des Antrags bin ich einverstanden, aber unter Miß­ billigung der Fassung, die dem zweiten Satze gegeben ist.

Heimendahl (Crefeld): Die Notizen, welche mein Herr Vorredner über die Durchführung des Schulbesuches in der Rheinprovinz gegeben hat, können zu Irrthümern führen. Ich muß im Interesse der großen gewerb­ lichen Districte des linken Rheinufers behaupten, daß solche Zustände doch in dem Maße nicht existiren. Auch wir beklagen, daß die Controle über den Schulbesuch heute noch nicht in dein gewünschten Maße durchgeführt ist. Wir unterschätzen die Verhältnisse nicht, aber wie sie der Herr Vorredner schildert, existiren sie im Großen und Ganzen in der Rheinprovinz nicht. Referent ?rok. Dr. Brentano (zum Schlußwort): Meine Herren! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch für wenige Entgegnungen in Anspruch neh­ men, die ich gegen einige Bemerkungen der Herren Vorredner zu machen habe. Zunächst hat Herr Stadtrath Wolf in meiner ersten These eine Charakteristik des Fabrikbetriebes vermißt. Ich weiß wohl, daß die Reichs­ gewerbeordnung eine Wcke enthält, indem sie eine Definition des Fabrikbetriebs nicht giebt, und daß in Sachsen wegen dieses Punktes Schwierigkeiten gemacht wurden. Die früheren Partikulargesetzgebungen enthielten nicht diese ^ücke. Das sächsische Gewerbegesetz, sich anschließend an das französische Gesetz vom 2?>. März 1841 beschränkte die Kinderarbeit in „Werstätten, wo mebr als

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20 Arbeiter vereinigt sind". Zn Preußen war durch die Ausführungsinstructlon vom 18. August 1853 als charakteristisches Merkmal einer Fabrik bezeichnet worden, daß darin „ein festes, die gesammte Ausbildung der jugend­ lichen Arbeiter zum selbständigen Betrieb eines Geschäftes bezweckendes Lehrverhältniß nicht stattfinde." Das letztere Merkmal scheint mir jedenfalls charakteristischer als das in dem frühern sächsischen Gewerbegesetze gegebene, und sollte die Nichtausdehnung der Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung auf die Kleingewerbe und Hausindustrie beliebt werden, so würde ich für eine Defi­ nition der „Fabrik" ähnlich der preußischen sein. Da ich indeß diese Aus­ dehnung in der ersten These beantragte und mit dieser Ausdehnung die prak­ tische Bedeutung einer besonderen Definition des Fabrikbetriebs wegfallen würde, war es auch nicht nöthig in meiner These eine derartige Definition zu beantragen. Sodann hat Herr krok. Dr. von Holtzendorfs gellend gemacht, daß ich, ob­ wohl ich mich im Uebrigen vielfach an englische Erfahrungen angelehnt habe, dock insofern von der englischen Praxis abgewichen sei, als ich nicht, wie diese, schrittweise eine Ausdehnung der Fabrikgesetze auf die verschiedenen Gewerbe befürworte; in England sei die Fabrikgesetzgebung ausgedehnt worden, je nachdem Mißstände in verschiedenen Industrien entstanden seien. Ich möchte dagegen erwidern, daß die Fabrikgesetzgebung dort ausgedehnt wurde, nicht sobald die Mißstände entstanden, sondern sobald dieselben öffentlich be­ kannt wurden. Die ganze englische Fabrikgesetzgebung entstand aus Petitionen der Arbeiter der einzelnen Industrien und aus Untersuchungen, welche diese Petitionen hervorriefen, und nur im Petitioniren gingen zuerst die in der Baumwollen- und den übrigen Textilindustrien Beschäftigten vor. Die all­ mähliche Ausdehnung der Fabrikgesetzgebung hat dort keine principielle sondern lediglich eine historische Ursache. Bei uns aber ist es bekannt genug, daß dieselben Mißstände, wie in den Fabriken, noch ärger in den Kleingewerben und Hausindustrien bestehen. Wenn nämlich Herr knot'. Dr. Wagner meint, man solle erst untersuchen, ob derartige Mißstände in den genannten Industrien wirklich bestehen, so möchte ich ihn auf den Bericht der Handels- und Gewerbe­ kammer Plauen vom September 1