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German Pages 614 Year 2010
Vergleichendes Sehen
Lena Bader | Martin Gaier | Falk Wolf (Hg.)
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Herausgegeben vom Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik an der Universität Basel
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Schutzumschlag: Franz West, Plural 1995, 2 Sessel: Eisen, Holz, Farbe; 4 Gemälde: Dispersion auf Leinwand; Boden: Linoleum. Museum Ludwig, Köln, © Franz West. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn). Internet: www.fink.de eikones NFS Bildkritik, www.eikones.ch Die Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS) sind ein Förderinstrument des Schweizerischen Nationalfonds. Gestaltungskonzept eikones Publikationsreihe: Michael Renner, Basel Layout und Satz: Lucinda Cameron, Basel Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5015-9 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Inhaltsverzeichnis
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I
Vorwort
Zugänge
Lena Bader 19
Bricolage mit Bildern. Motive und Motivationen vergleichenden Sehens
Peter Geimer 45
Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen
Klaus Niehr 71
Experiment und Imagination – Vergleichendes Sehen als Abenteuer
Mladen Gladić | Falk Wolf 97
Guck doch… Kant zum Beispiel. Ästhetik als Übung im vergleichenden Sehen
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II
Imagination
Martin Gaier 119
Einleitung
Michael Bies 129
Das Widerspiel von Auge und Hand: Fragmente einer Mediengeschichte des vergleichenden Sehens
Frank W. Stahnisch 147
Nosologie der Dritten Dimension: Albert Neissers (1855 – 1916) Stereoscopischer Medicinischer Atlas zwischen Repräsentation, Ikonografie und vergleichender Pathologie
Grischka Petri 171
Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion: eine Fallstudie zu vier Werkverzeichnissen der Radierungen James McNeill Whistlers 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Susanne Müller-Bechtel 195
Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument der Forschungspraxis – Beobachtungen zu Möglichkeiten und Grenzen vergleichenden Sehens im 19. Jahrhundert
Martin Gaier 213
Imagination und Unvergleichbarkeit. Robert Vischer und der »Widerspruch zwischen Bild und Wort«
Marcel Finke 237
Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit. Fotografische Strategien der Visualisierung von Bewegung im 19. Jahrhundert
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III
Demonstration
Falk Wolf 263
Einleitung
Johannes Grave 273
Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens. Zu Goethes Falten-Philologie
Edgar Bierende 293
»von der grossen Welt entfernt« – Die Absenz der Originale und der Beginn einer vergleichenden Kunstgeschichte in der Schweiz
Dorothea Peters 315
Original – Kopie – Fälschung? Kunstkennerschaft und der Diskurs über die Echtheit von Rembrandtwerken um 1900
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Barbara Schellewald 337
Die Domestizierung des Mosaiks. Mosaiken und ihre Abbilder in der Kunstgeschichte
Vera Dünkel 361
Vergleichendes Röntgensehen. Lenkungen und Schulungen des Blicks angesichts einer neuen Art von Bildern
Stefanie Klamm 383
Sammeln – Anordnen – Herrichten: Vergleichendes Sehen in der Klassischen Archäologie
Claus Volkenandt 407
Bildfeld und Feldlinien. Formen des vergleichenden Sehens bei Max Imdahl, Theodor Hetzer und Dagobert Frey 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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IV
Experiment
Lena Bader 435
Einleitung
Ulfert Tschirner 445
Harte Kontraste. Kopienkritische Betrachtung fotografischer Kunstreproduktionen
Thomas Hensel 469
Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform«
Robin Rehm 493
Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«. MerleauPontys Kritik der wissenschaftlichen Untersuchungen geometrisch-optischer Täuschungen
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Christian Spies 513
Das Bild als Tertium Comparationis
Georges Didi-Huberman 537
Was zwischen zwei Bildern passiert. Anachronie, Montage, Allegorie, Pathos
Michael Hagner 575
Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme. Zur historischen Epistemologie von Ludwik Fleck und Michael Polanyi
597
Bibliografie
607
Autorinnen und Autoren
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Vorwort
Vergleichendes Sehen ist eine Routine oder Methode, die in der Kunstgeschichte zum festen Repertoire des wissenschaftlichen Instrumentariums zählt. Die Wichtigkeit, ja Unerlässlichkeit dieser Art des Umgangs mit dem Sehsinn zugänglichen Gegenständen als Erkenntnis- und Darstellungsfunktion ist, auch außerhalb dieser Dispziplin, oft wie selbstverständlich hervorgehoben worden. Ohne den Hinweis auf die Notwendigkeit, sich diese Fertigkeit anzueignen, lässt sich keine Prüfungsordnung, kein Curriculum und keine Einführungsliteratur zur universitären Kunstgeschichte denken. Daher ist es umso verwunderlicher, dass es bis heute keine umfassende Geschichte oder Theorie, geschweige denn eine Kritik des vergleichenden Sehens gibt. Auch dieser Band kann, allein aufgrund seiner Genese, nicht den Anspruch erfüllen solches zu leisten. Aber er möchte dazu beitragen, vergleichendes Sehen als keineswegs nur in der Disziplin Kunstgeschichte praktizierte Kulturtechnik zu begreifen, die stets kritisch befragt und reflektiert werden muss. Wie dies in den Anfängen der Disziplin und in anderen, mit Bildern operierenden Wissenschaften mal mehr, mal weniger getan wurde, zeigen die meisten der hier versammelten Beiträge. Darüber hinaus ging es darum, das Problem in einer möglichst großen Bandbreite von Zugängen, theoretischen Überlegungen und historischen 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Fallbeispielen auch über das Feld der Wissenschaften hinaus vorzustellen und so mögliche Perspektiven weiterer und eingehenderer Forschung erkennbar werden zu lassen. Aufgrund der vielfältigen Zugangsmöglichkeiten ist der vorliegenden Aufsatzsammlung keine übergreifende Einleitung vorangestellt. Vielmehr erschien es zielführend, die verschiedenen Beiträge unter drei Leitbegriffe zu gruppieren, mit denen je eine bestimmte und bisweilen den beiden anderen widersprechende Perspektive auf das vergleichende Sehen verbunden ist. Jeder dieser Leitbegriffe wird in einem kurzen Einleitungstext vorgestellt: Das erste Kapitel »Imagination« bezieht sich auf die teils bewusste, teils unbewusste und daher oft vernachlässigte Beteiligung der Einbildungskraft beim vergleichenden Sehen. Dagegen stellt das Kapitel »Demonstration« Beiträge vor, in denen es um die wissenschaftliche Beweiskraft des vergleichenden Sehens geht, wobei die Fantasietätigkeit vielleicht sogar eher als Störfaktor ausgemacht werden kann. Das dritte Kapitel »Experiment« vereinigt Beiträge, die teils selbst einen experimentellen Zugang zum Thema herstellen, teils aber auch ein Augenmerk darauf legen, inwiefern das vergleichende Sehen im Sinne eines anschaulichen Experiments als kreativer, potentiell ungelenkter Prozess aufgefasst werden kann. Um das Thema in seiner Breite einführend zu eröffnen, sind den drei Kapiteln in einer ersten Sektion unterschiedliche »Zugänge« vorangestellt. Der weitaus größte Teil der Beiträge geht auf Vorträge zurück, die anlässlich eines dreitägigen Workshops gehalten wurden, den die Herausgeber als Kooperation des Graduiertenkollegs »Bild und Wissen« innerhalb des Nationalen Forschungschwerpunktes der Schweiz »Bildkritik« und des Kunsthistorischen Seminars der Universität Basel im Oktober 2007 unter dem Titel »Vergleichendes Sehen in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts« veranstalteten. Aus diesem Grund liegt das chronologische Zentrum des Bandes in einer Zeit, die mit der Einführung zahlreicher neuer Medien exemplarisch vorführen kann, wie Probleme und Grenzen einer solchen Praxis durch ein neues Medium hervortreten können und wieder aus dem Blick geraten, sobald dieses sich etabliert hat. Dies betrifft nicht nur die Kunstgeschichte, sondern beispielsweise auch die Röntgentechnik, deren erste Kontakte mit den vergleichendes Sehen ermöglichenden und herausfordernden neuen Medien äußerst vorsichtig und reflektiert vonstatten gingen. Die außergewöhnlich intensive, produktive und offene Diskussion während dieser Veranstaltung hat uns in dem Vorhaben Vorwort
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bestärkt, nicht nur die meisten der dort gehaltenen Vorträge zu publizieren, sondern gezielt weitere Kolleginnen und Kollegen anzusprechen, von denen andere, auch über das 19. Jahrhundert hinausgehende Impulse zu erwarten waren. Wir danken dem Schweizerischen Nationalfonds und »eikones«, dem NFS »Bildkritik«, die dieses Projekt möglich gemacht haben. Außerdem danken wir Orlando Budelacci, Heike Freiberger und den Mitgliedern des Graduiertenkollegs »Bild und Wissen«, dem Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel und der Hochschule für Gestaltung der Fachhochschule Nordwestschweiz, die in Person von Michael Renner für die Buchgestaltung verantwortlich zeichnet, sowie Franz West für die Genehmigung, sein Werk Plural als Umschlagbild verwenden zu dürfen. Besonderer Dank für Anregung und Unterstützung gilt Barbara Schellewald und Andreas Beyer, die uns zu unserer Kooperation ermutigt haben, sowie allen Autoren dieses Bandes. Basel, im Juni 2009 Lena Bader | Martin Gaier | Falk Wolf (Hg.)
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I Zugänge Lena Bader, Peter Geimer, Klaus Niehr, Mladen Gladić | Falk Wolf
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Bricolage mit Bildern. Motive und Motivationen vergleichenden Sehens Lena Bader
I
Impulse
Vom Paragone über die Kunstkammer und die Querelle des anciens et modernes bis hin zu kennerschaftlichen Kunstbetrachtungen im 18. und 19. Jahrhundert, durchzieht das vergleichende Sehen die Vorgeschichte der akademischen Kunstgeschichte. Im Rahmen stilhistorischer Vergleiche und unterstützt durch die neuen Medien Fotografie und Lichtbildprojektion erfährt das Prinzip spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine methodologische Durchdringung als kunsthistorische Sehtechnik. Auch jenseits der Kunstgeschichte ist vergleichendes Sehen gleichermaßen feststehende Formel und topischer Bezugspunkt (populär)wissenschaftlicher und künstlerischer Praktiken. Wie aufschlussreiche Dokumente einer noch zu rekonstruierenden Bildgeschichte vergleichenden Sehens zeigen, wird das Verfahren hier wie dort als markantes Moment zur Auszeichnung besonderer Bilderfahrungen inszeniert [Abb. 1]. Als ›Königsweg‹ und ›Zauberstab‹ eilt dem Verfahren jedoch ein ambivalenter Ruhm voraus. »Suspicions about comparitism«, die im Rahmen vergleichender Literaturwissenschaft intensiv reflektiert wurden, scheinen in diesem Zusammenhang aktualisiert.1 Unterstützt durch den »schlechte[n] Ruf der Kategorie des 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Burton Holmes, Reisender, Fotograf und Dokumentarfilmer, um 1930.
Vergleichs«,2 der insbesondere von Seiten der Kulturwissenschaften aber auch im Rahmen neuerer Diskussionen über ›Transfer‹ und ›Vergleich‹ markiert wurde, scheint sich die kunsthistorische Kritik am »auktorialen Gestus kunstgeschichtlicher Darstellung«3 in jüngster Zeit umso vehementer gegen die komparatistische Methode gerichtet zu haben. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens hat sich insbesondere Peter Geimer ausgesprochen, um die Frage aufzuwerfen, inwiefern vergleichendes Sehen die Beschäftigung mit Bildern auf den Nachweis von »Kontinuitäten im Bildgebrauch« einengt.4 Im Zuge der Auseinandersetzung mit den medialen Grundlagen des Fachs, die auch die Technik der Dia-Doppelprojektion in den Fokus rückte, haben sich die kritischen Anmerkungen abermals verschärft. André Malraux’ Diktum, die Kunstgeschichte sei, seitdem sie »in den letzten hundert Jahren den Händen der Fachleute immer mehr entgleitet, […] eine Geschichte des Photographierbaren geworden«, 5 wurde auf eine Kunstgeschichte des Vergleichbaren zugespitzt, um die Dia-Doppelprojektion als strenges Dispositiv – oder wie Robert S. Nelson vorschlägt: als »tekmerion« – kritisch zu befragen: »[…] if slides are accepted as paintings, the normal state of affairs, then arguments based upon slides alone are persuasive, even if the evidence only exists within the rhetorical/ technological parameters of the lecture itself. Such is the Lena Bader
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case, for example, when objects of greatly different sizes and from unrelated cultures are regarded as comparable because they appear side by side in the slide lecture.«6
2 Illustration zum Artikel »Zwei Bilder sagen mehr als tausend Worte«, F. A. Z., 13. 06. 2005.
Mit Blick auf die »seit dem 19. Jahrhundert in kunsthistorischen Übungen eingesetzten Verfahren des vergleichenden Sehens mithilfe der Dia-Doppelprojektion, die in visueller Beweisführung Stilvergleiche ermöglichte und Evidenzen provozierte«, wurde auch von kulturwissenschaftlicher Seite das Prinzip als eine »visuelle Überrumpelungskommunikation« der Kunstgeschichte kritisch zur Diskussion gestellt.7 Die verengende Konturierung, die darin zum Ausdruck kommt, konnte durch die Verbreitung populärwissenschaftlicher Formen anschaulicher Gegenüberstellungen bestärkt werden, wenn Bildpaare extremer Polarisierung (Original/Fälschung, richtig/falsch, vorher/nachher) die visuelle Komparatistik vorrangig in den Dienst illustrierender Bildnachweise oder strenger Kausalzusammenhänge stellen [Abb. 2]. Auch Kategorisierungsversuche wurden vorgeschlagen, um beispielsweise Bildvergleich und Einzelbildwahrnehmung zu differenzieren: »Wenn diese [d. h., die Einzelbildwahrnehmung] einen affektiv-personalisierten, bisweilen im engeren Sinne erotischen Charakter hat, so ist das Vergleichen jedweder Gegenstände, auch der visuellen, im Kern eine intellektuelle Bricolage mit Bildern
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Operation. Die Wahrnehmung von Bildzusammenstellungen setzt beim Rezipienten die Fähigkeit zur Kategorienbildung voraus. Sie besteht darin, das Gemeinsame und das jeweils Eigene der zu einem binären hyperimage zusammengestellten Bilder – sei es auf inhaltlich-ikonographischer, sei es auf formal-stilistischer Ebene – begrifflich zu fassen.«8 Ob und inwiefern zwischen Versenkung und Vergleich geschieden werden sollte, wäre näher zu bestimmen und mit Blick auf die Rolle der Imagination zu präzisieren. Auch scheint es geboten, das Zusammenspiel von Bild und Text als eine »Sonderform der ›Bildkritik‹« zu befragen, wenn beispielsweise »in der Ekphrase visuelle Korrespondenzen und Konkurrenzen« erzeugt werden, die Bilder auf unterschiedlichen Ebenen miteinander kommunizieren lassen.9 Zu Recht wurde zudem pointiert, dass Vergleichbarkeit jeweils unterschiedlich motiviert sein kann, so dass »formale Ähnlichkeit nur ein Kriterium neben vielen anderen ist«.10 Vor dem Hintergrund neuerer bildtheoretischer Ansätze erscheint die Engführung des vergleichenden Sehens als »Beleg oder Argument«11 zumindest dann problematisch, wenn sie sich der Unergründlichkeit des Visuellen verschließt: »Wie könnte das, was wir den Bereich des Visuellen nennen, im strengen Wortsinn nachweisbar sein, im Sinne von ›wissenschaftlich‹, da es selber kein Wissensgegenstand oder Wissensakt, kein Thema oder Begriff ist, sondern lediglich Wirkung auf die Blicke?«12 Wie Georges DidiHuberman nahe legt, wäre es angemessen, (die Reflexion über) das vergleichende Sehen aus dem Bann des Sichtbaren zu befreien: »Zwei Perspektiven, die unter dem Blick einer dritten zusammentreffen. Eine Montage herzustellen, meint nicht, Dinge einander anzugleichen, sondern Ähnlichkeiten aufblitzen zu lassen und jede Gleichsetzung unmöglich zu machen. Ähnlich (semblable) zu sein, meint weder scheinbar (semblant) zu sein noch identisch zu sein.«13 Die widersprüchlichen Bestimmungen sind bezeichnend. Sie resultieren aus der Diskrepanz zwischen stärker medientechnisch orientierten und bildtheoretischen Perspektiven, und deuten zugleich auf eine nachhaltige Ausblendung bildkritischer Fragen von Seiten der Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte.14 Ungeachtet der damit einher gehenden Wertungen markieren die Lena Bader
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apodiktischen Beobachtungen indes – teils implizit, teils explizit – die Wirkungsmächtigkeit anschaulicher Gegenüberstellungen. Es wäre lohnenswert, verschiedene Manifestationen vergleichenden Sehens in Wort und Bild aus dieser Perspektive näher zu befragen – von populären und (natur)wissenschaftlichen Formen vergleichenden Sehens über künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema und dessen Bestimmung als kunsthistorische Sehtechnik bis hin zur Affinität bildtheoretischer Ansätze zu polaren Grundbegriffen. Die im Folgenden skizzierten Beobachtungen aus dem Kontext der Kunstgeschichte um 1900 zeigen vor diesem Hintergrund einen vergleichsweise kleinen, aber bedeutenden Ausschnitt einer komplexen Bild- und Problemgeschichte des vergleichenden Sehens. II Visuelle Demonstration
In seiner Schrift Vergleichendes Sehen im Dienste der Augen-, Geistes- und Geschmacksbildung nennt Max Brethfeld drei »Grundformen« zur Charakterisierung der vergleichenden Methode: »a) Schlecht und gut – gut und besser, gut und auchgut. b) Einzelformen in Gegensätzen – Reihen in Entwicklungsstufen oder in Wertreihen der Gestaltung. c) Gegensatz – Vergrößerung – Vereinzelung. Gegensatz: wenn ich Hans Thoma und Käthe Kollwitz gegenüberstelle. Vergrößerung: wenn ich Erscheinungen der Kinderhandschrift an den weißen Wandschirm projiziere. Vereinzelung: wenn ich den Ausdruck des Auges in einem lenbachschen Bismarckbilde oder die Augen der Maria aus Gebhardts Auferweckung des Lazarus zeige.«15 Gezielt befragt Brethfeld das vergleichende Sehen als »Bildungsmittel der Schule«. Seine 1931 veröffentlichte Untersuchung steht im Kontext der Schulreform und huldigt neben Kunstwart und Dürerbund namentlich Ferdinand Avenarius und insbesondere Paul Schultze-Naumburg als Pioniere und Wegbereiter des vergleichenden Sehens.16 Das Verfahren sei dabei vorrangig »in der Form von Beispiel und Gegenbeispiel« appliziert worden, wogegen Brethfeld durch Erörterung der »drei Kunstmittel des vergleichenden Sehens« zeigen möchte, dass die Methode »über ihren ursprünglichen Rahmen hinaus nach verschiedenen Seiten hin erweitert und verfeinert werden« kann.17 Emphatisch unterstreicht er in der Folge von Johann H. Pestalozzis reformpädagogischen Bestrebungen die Bedeutung des Schaumaterials: Neben »Schauschränke[n] und Bricolage mit Bildern
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3 Giovanni Morelli, Kunstkritische Studien über italienische Malerei, 1893.
Schaukästen« sei insbesondere der Projektionsapparat »eines der wirksamsten Hilfsmittel im Dienste des vergleichenden Sehens«.18 Ohne auf die frühen Bestrebungen im Rahmen der akademischen Kunstgeschichte zu verweisen, fügt Brethfeld bedauernd hinzu, er habe »noch niemals erlebt, daß der Apparat in der Schule auch planmäßig in den Dienst des vergleichenden Sehens gestellt worden wäre«. Sein Plädoyer ist eindeutig: Es gelte, das vergleichende Sehen als »ein Bildungsmittel allerersten Ranges« anzuerkennen. Seine Forderung: die »Einschaltung von planmäßigen Übungen im vergleichenden Sehen«.19 Die Ausblendung der Kunstgeschichte ist symptomatisch. Programmatische Abgrenzungen wurden von beiden Seiten markiert. Das gilt auch für vergleichbare Mitteilungen von Seiten namhafter Kunsthistoriker – wenn beispielsweise Karl Woermann daran erinnert, die Formel vom »vergleichenden Bilderstudium« »nach Maßgabe des vergleichenden Sprachstudiums« geprägt zu haben und das Verfahren mit der Arbeit Giovanni Morellis in Verbindung bringt, d. h. in erster Linie mit Fragen der Zuschreibung [Abb. 3]. Das vergleichende Sehen steht hier für »eine neue Methode des Bilderstudiums«, wobei der Fokus explizit auf der »Beglaubigung durch scharfe Beobachtung naturwissenschaftlich greif barer Einzelheiten« liegt.20 Während Brethfeld den Akzent auf die visuelle Demonstration legt, unterstreicht Woermann das Prinzip der visuellen Examination. In diesem Sinne hatte er 1887, im Vorwort zum Lena Bader
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Katalog der Dresdener Gemälde-Galerie, das vergleichende Sehen gegen den »Verdacht willkürlicher Umtaufen« angeführt: »Das vergleichende Bilderstudium ist eine junge Wissenschaft. […] Die allgemein anerkannten Ergebnisse des vergleichenden Bilderstudiums mehren sich von Jahr zu Jahr. Es steht zu hoffen, dass in nicht zu ferner Zeit Meinungsverschiedenheiten über die Urheber aller bedeutenderen Bilder der öffentlichen Galerie kaum noch möglich sein werden.«21
4 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 1915.
Die Methode, von untergeordneten Details auf die Handschrift eines Künstlers zu schließen – auch Heinrich Alfred Schmid nennt sie im Sinne Woermanns eine »rationelle Methode«22 – , sollte Morelli kurz darauf im ersten Band seines Werkes Kunstkritische Studien über italienische Malerei ausführlich erörtern.23 Für Carlo Ginzburg wurde sie zum Indiz für ein Indizienparadigma Ende des 19. Jahrhunderts.24 III Anschauungsunterricht
Jenseits aller Rhetorik bestehen wichtige Berührungen zwischen Universität und Schule bzw. Wissenschaft und Volksbildung, speziell Kunstgeschichte und Pädagogik. Sie begegnen sich insbesondere in ihrem Fokus auf das Bild und dem daraus resultierenden Rekurs auf das vergleichende Sehen. Gelehrte wie Anton Bricolage mit Bildern
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Springer oder Ferdinand Piper fordern bereits Mitte des 19. Jahrhunderts dazu auf, an den Schulen auch Kunstwerke zu berücksichtigen, z. T. auch Kunstgeschichte als Fach einzurichten, während Pädagogik und Schulbildung zunehmend explizit Bilderfragen in den Mittelpunkt ihrer Interessen rücken.25 Möglichkeiten und Grenzen eines ›Anschauungsunterrichts‹ (auch und vor allem in Abgrenzung zu einem ›anschaulichen Unterricht‹), die Bedeutung von Anschauungsmaterial und Anschauungsmittel, Sehen lernen und Sehen lehren, Schulung der Augen etc. gehören zu den wiederkehrenden Topoi in diesem Zusammenhang. Explizit hat u. a. August Schmarsow die »Forderung eines kunsthistorischen Anschauungsunterrichts und geeigneter Seminarübungen im Sinne der ästhetischen Erziehung«26 erhoben und seinen Seminarraum in Leipzig folgerichtig mit zahlreichen Bildflächen ausgestattet, »um möglichst viel Anschauungsmaterial gleichzeitig, für den Gang der Vorlesung oder Seminarübung geordnet, ausstellen zu können«:27 »Das erste Gebot dieser Anleitung zum Sehen der Kunstwerke bleibt aber, daß die sinnliche Erscheinung zu ihrem vollen Recht komme, und Anfang und Ende aller Betrachtung sei, d. h. daß das Bild, so inhaltreich es sein mag, nicht als Zeichen nur des Gedankengehaltes gefaßt werde, sondern um seiner selbst willen, und daß es zu Herz und Sinnen zugleich rede, wie ein Ereignis des Lebens in seiner vollen realen Wirklichkeit. Für den anders gewöhnten Betrachter giebt es allerdings kein besseres Mittel die Kunst des Sehens auszubilden, das Auge für das Bedeutsame in den Erscheinungen zu schärfen, als die Verbindung der Anschauung mit mündlicher Erklärung.«28 Projekte wie Seemanns Kunsthistorische Bilderbogen oder der genannte Kunstwart sind gleichermaßen Spiegel und Vehikel dieser Korrelation. Auch das spätere Engagement Alfred Lichtwarks im Kontext der Kunsterziehungsbewegung ist diesbezüglich symptomatisch. Eine frühe Mittlerfigur ist dagegen Bruno Meyer, der Herbartianer unter den frühen Kunsthistorikern, dem nicht zuletzt das Verdienst zukommt, die Diaprojektion in die (deutschsprachige) Kunstgeschichte eingeführt zu haben.29 Wiederholt wird Meyer im Kontext der Volksbildung als »autorität auf dem gebiet der kunstlehre und der ästhetischen pädagogik«30 gewürdigt. Viel besprochen wurde insbesondere sein Vortrag im Rahmen der 36. Philologenversammlung 1882 zum Thema Die Kunstwissenschaft und Lena Bader
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die Mittelschule, in dem Meyer – aus der Perspektive vom »ehemaligem praktischen Schulmanne« argumentierend – die Möglichkeiten, mittels Bildprojektion, »wissenschaftlich gearbeitetes und leidlich ausreichendes Bildermaterial« bereit zu stellen, ad oculos darlegen sollte.31 Das Vorhaben hatte er bereits anlässlich des ersten kunstwissenschaftlichen Kongresses in Wien 1873 vorgestellt, wie er später im Rahmen der Veröffentlichung seiner Glasphotogramme für den kunstwissenschaftlichen Unterricht im Projectionsapparat zu gebrauchen festhält: »Ich benutzte diese Gelegenheit, um, wie ich hiermit constatiren will, als der Erste in Deutschland, darauf hinzuweisen, welche grosse Wichtigkeit gerade für den kunstgeschichtlichen Unterricht der Projectionsapparat habe.«32 Ungeachtet der in jüngster Zeit entfachten Prioritätenstreite um die Begründung der Dia-Doppelprojektion, 33 wird man festhalten müssen, dass Meyer bereits die Einzelprojektion zu Vergleichszwecken nutzte, indem er sich montierter Gegenüberstellungen bediente. So setzte er unter anderem den zum damaligen Zeitpunkt höchst aktuellen und populären Vergleich von Dresdener und Darmstädter Holbein-Madonna gleich zweimal ins Bild.34 Es ist jedoch frappant, wie vehement im Zusammenhang mit Fragen des vergleichenden Sehens auf die eigene oder fremde Gründungsrolle verwiesen wird (Brethfeld, Woermann, Meyer etc.).35 Die Tendenz scheint sich heute auf einer Ebene zweiter Beobachtung fortzusetzen, wenn im Rahmen wissenschaftshistorischer Retrospektiven das vergleichende Sehen medientechnisch determiniert wird. So erklärte Heinrich Dilly mit Blick auf den Holbein-Streit: »Dass bei solchem vergleichenden Sehen die manuellen Reproduktionen der beiden Madonnen-Gemälde eher hinderlich, die fotografischen dagegen recht hilfreich waren, zählt zur faszinierenden Geschichte des Instrumentariums bzw. zur Geschichte kunsthistorischer Medien.«36 Die Fokussierung auf die neuen Medien ist jedoch bereits mit Blick auf das historische Bildmaterial bedenklich [Abb. 5]. Wie nicht zuletzt die visuellen Argumentationen und Reproduktionen im Rahmen des Holbein-Streits zeigen, begleiten vielschichtige Bilder-Kaskaden und vielfältige mixed-media-Formationen die kunsthistorische Forschung, so dass eine Polarisierung in manuelle und technische Verfahren ebenso problematisch erscheint wie die strikte Trennung künstlerischer und wissenschaftlicher Reproduktion.37 Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch methodologisch erscheint es kontraproduktiv, das vergleichende Sehen an einzelne Bildmedien zu knüpfen. Auch mit Blick auf das Bricolage mit Bildern
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Bricolage mit Bildern
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19. Jahrhundert sind neben der Einführung der neuen Medien Fotografie und Lichtbildprojektion weitere Motivationen zu befragen. IV Vergleichende Gemäldestudien
Um 1900 lassen sich zahlreiche Projekte beobachten, die aus dem Dialog zwischen (akademischer) Kunstgeschichte und (allgemeiner) Pädagogik entstehen. In wenigen Jahren erscheint eine Fülle an reich bebilderten Experimenten im vergleichenden Sehen.38 Vor diesem Hintergrund entstehen auch die Publikationen How to study pictures von Charles H. Caffin (1908) und Vergleichende Gemäldestudien von Karl Voll (1907) sowie das berühmte Überblickswerk Sehen und Erkennen von Paul Brandt, das 1911 erstmals erscheint und bis 1968 in über 150.000 Exemplaren veröffentlicht wird.39 Die von Caffin im Titel aufgeworfene Frage findet im vergleichenden Sehen ihre Antwort: »I propose that we shall study them through a series of comparisons.«40 Präzisierend fügt er hinzu: »I have adopted the parallel method: ›Look on this picture and on this.‹ Not, as a rule, to suggest that one is more admirable than another; but to stimulate interest and the faculty of observation, and to show how various are the motives which have prompted artists and the methods which they have adopted«.41 Caffins Buch war ebenfalls ein Bestseller, bis 1941 erscheint es in elf Auflagen.42 Wie Voll im Vorwort zu seinen eigenen Vergleichsstudien bemerkt, laufen die Untersuchungen Caffins darauf hinaus, »ethische Lena Bader
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und kulturhistorische Betrachtungen vor den Bildern anzustellen«.43 Davon grenzt sich der Münchener Kunsthistoriker erklärtermaßen ab, um – in Anlehnung an Wölfflin – sein Augenmerk auf die »rein künstlerischen Faktoren« zu richten, d. h. Kunst nicht »als ein Mittel zum Zweck, z. B. des Studiums der Kulturgeschichte« zu betrachten. Wie zuvor Schmarsow, spricht Voll sich zugunsten eines kunsthistorischen »Anschauungsunterrichtes« aus: »Die Versuchung liegt ja gerade in der Schule sehr nahe, das Kunstwerk als Illustration des vorgetragenen historischen Stoffes zu verwenden.«44 Wie Caffin arbeitet auch Voll mit anschaulichen Gegenüberstellungen, die Bildpaare aber stellt er explizit in den Dienst einer »Schulung des Auges«: »Das Schwergewicht liegt eben doch auf den Abbildungen, die so herausgesucht wurden, daß das einfache Gegenüberstellen schon genügend Aufklärung bieten muß. Es handelt sich weniger um ein Buch zum Lesen als um eine Gelegenheit, das Auge zu üben.«45 Als ein »Stück angewandter Kunstgeschichte« ergebe die Sammlung »bei richtigem Gebrauch der Tafeln […] einen Leitfaden der Stilgeschichte der letzten Jahrhunderte«.46 Wenn auch Voll in der Folge Wölfflins »die Gleichberechtigung aller Stile« betont, grenzt er sich nicht im gleichen Maße gegen Werturteile ab. Die Darstellung zeigt sich belehrend, stellenweise gar autoritär, zugunsten einer Orientierung im »Widerstreit der Meinungen über das, was in der Kunst gut oder auch schön sei«.47 Das vergleichende Sehen wird dabei zum (vermeintlichen) Garant visueller Evidenz. Bricolage mit Bildern
5 Vorherige Seite: Reproduktionen der Holbein-Madonna, 19. Jahrhundert. 6 Karl Voll, Vergleichende Gemäldestudien, 1907.
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Brandt wiederum sprengt das Format der vergleichenden Bildpaare und kombiniert bis zu acht Darstellungen auf einer Doppelseite, um Bilder nach Maßgabe verschiedener Vergleichsebenen zu kombinieren (nach Gattungen, nach Bildformen und Rahmen, regional und national, nach Motiven und Themen). Auch er betont explizit Erkenntniswert und Wirkungsmächtigkeit anschaulicher Gegenüberstellungen: »Der Vergleich sagt viel ohne Worte, er macht auch den Stummen beredt, mögen die Vergleichspunkte formeller oder gegenständlicher Natur sein, mögen die verglichenen Kunstwerke eine fortlaufende Entwicklungsreihe oder entgegengesetzte Pole bilden, mögen sie gleichen oder verschiedenen Zeiten und Völkern entstammen. Und es braucht sich dabei keineswegs jedes Mal um historische Zusammenhänge zu handeln; gerade wo jeder Zusammenhang ausgeschlossen ist, treten die der Kunst innewohnenden Kräfte um so klarer hervor.«48 Es ist bezeichnend, dass Voll als erstes Beispiel seiner Vergleichende[n] Gemäldestudien das Paar der Holbein-Madonna wählt [Abb. 6]. Auch Brandt verzichtet nicht darauf, wählt dazu aber die (ebenfalls paradigmatische) Gegenüberstellung von HolbeinMadonna und Sixtina. Die Holbein-Ausstellung in Dresden, die 1871 erstmals eine Gegenüberstellung der zwei Gemälde (im Original) ermöglicht hatte, war in vielerlei Hinsicht ein entscheidendes Vorbild. Die Ausstellung, die einen zweitägigen Holbein-Kongress veranlasste, wurde Auftakt zum kunsthistorischen Kongress, auf dem Meyer das Verfahren der Diaprojektion vorstellen sollte. Albert von Zahn, einer der zentralen Initiatoren, resümierte in seinem Ausstellungsbericht: »Vielleicht noch niemals hat in gleicher Weise wie bei der Holbein-Ausstellung sich der Vortheil gemeinsamer Prüfung, gemeinsamer wissenschaftlicher Beobachtung gezeigt.«49 Als der »erste kunstwissenschaftliche Congress« zwei Jahre später in Wien tagte, berief man sich wiederholt auf das Dresdener Vorbild. 50 Nicht nur die Zusammenkunft, sondern die Methode selbst wurde zum Vorbild: »Wie Vieles auch die ›Ergebnisse‹ noch zu wünschen übrig lassen, diejenigen, welche sich in ernsthafter Weise an der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit betheiligten, dürfen sich sagen, dass sie die Erkenntnis von dem Schaffen des grossen Meisters, dem die Ausstellung galt, ein Lena Bader
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gutes Stück gefördert haben und dass mit der gemeinsamen vergleichenden Forschung ein Weg betreten worden ist, auf welchem wir fernere Fortschritte in unserer Wissenschaft mit Zuversicht erhoffen dürfen.«51 Vielfach wurde im Kontext der späteren Forschung auf den »spektakulären Gemäldevergleich«52 verwiesen; inwiefern das vergleichende Sehen selbst zum Streitpunkt wurde, blieb dabei jedoch unberücksichtigt. 53 Weitere Beispiele ließen sich nennen, um die Vielfalt der Variationen, Funktionen und Implikationen vergleichenden Sehens hervorzuheben und das Prinzip infolge der »doppelten Bedeutung des Vergleichs als Analyse- und Argumentationsmittel«54 im Sinne einer komplexen Sehtechnik zu würdigen. Die verbreitete Überzeugung, das »so oft beschworene Vergleichende Sehen«55 gehöre zu den stillschweigenden, stillgeschwiegenen Techniken der Kunstgeschichte könnte vor diesem Hintergrund ebenso in Frage gestellt werden wie damit verbundene Vorurteile, denen man im Kontext der Forschung begegnet.56 V
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Zu den bedeutendsten Etappen einer Bildgeschichte des vergleichenden Sehens gehören insbesondere Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von 1915 [Abb. 4]. Am Beispiel vom »Stilwandel von der Renaissance zum Barock« erläutert Wölfflin – laut Martin Warnke »der unübertroffene Meister des vergleichenden Sehens«57 – anhand anschaulicher Gegenüberstellungen »wie ein neuer Zeitgeist sich eine neue Form erzwingt«.58 Die Bild gewordenen »Prinzipien der vergleichenden Kunstgeschichte«59 treten im Zusammenspiel von Bild und Text markant hervor. Die Wechselwirkung zwischen visueller Inszenierung und Beschreibung macht deutlich, wie sehr Wölfflin, wie Warnke schreibt, »immer wieder auf zwei Gegenbegriffe zusteuert: auf Fläche und Tiefe etwa; auf geschlossene Form und offene Form; auf Vielheit und Einheit; auf Klarheit und Unklarheit«.60 Man muss sich näher mit dem begleitenden Text auseinandersetzen, um Wölfflins Arbeit am »Kontrasteindruck«61 als intensive Durchdringung des vergleichenden Sehens zu erkennen. Seine Beschreibungen sind mehr als paarweise Schilderungen, sie sind wortgewandte und sprachkünstlerische Darstellungen einer Zusammenschau, die in der rhetorischen Komplizität als kunsthistorisch bedeutsames Ereignis hervortritt: Bricolage mit Bildern
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»Um mit einem Vergleiche das Verhältnis klar zu machen: Das unfassbare Strömen der Kraft im Barock verhält sich zu der bestimmt gefassten Kraft der Renaissance wie die Lichtführung Rembrandts zur Lichtführung Lionardos: wo dieser in lauter klaren Formen modelliert, läßt jener das Licht in geheimnisvoll huschenden Massen über das Bild hingehen. Anders ausgedrückt: Klassische Klarheit heißt Darstellung in letzten bleibenden Formen, barocke Unklarheit heißt, die Form als etwas sich Veränderndes, Werdendes erscheinen lassen.«62 Wölfflin hat explizit für und über seine Bilder argumentiert. An deren Bedeutung lässt er keinen Zweifel: Sie seien »immerhin zahlreich genug, um auch für sich allein ein Interesse wecken und über die Andeutungen des Textes hinaus den Leser zu eigenen Betrachtungen anregen zu können«.63 Die Art und Weise, in der Wölfflin den Dialog von Bild und Text arrangiert, ist bemerkenswert: Keine Abbildungsnummern oder in Klammern gesetzten Verweise, auch keine Angaben zu Herkunft oder Format und Medien finden (in der Regel) Eingang in den Haupttext – ausführlichere Informationen werden in das Abbildungsverzeichnis verlagert. Im Text werden die Bilder lediglich mit Nachname des Künstlers (»Tintoretto«, »Bernini«) oder im Falle von Architekturen mit Ort und Name (»Rom, Fontana Trevi«) versehen. Bis auf wenige Ausnahmen wird (ab der zweiten, um einige Bilder bereicherten, Ausgabe von 1917) mit einem Sternchen auf den Bezug aufmerksam gemacht. Ohne Wölfflins aktive Mitgestaltung am Layout würde das ungezwungene Verweissystem nicht funktionieren. Er musste Wert darauf legen, dass die Bilder in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrer Besprechung auftauchen und dass dort, wo die Nähe nicht gewährleistet wurde, entsprechende Anmerkungen hinzugefügt wurden.64 Die spielerische Kombination der Bilder – auch Vergleiche, die »wie eine Blasphemie vorkommen«65 können, werden eingebracht – ist Motor und Vehikel für das Spiel der Formen – eine Formel, auf die Wölfflin wiederholt zurückgreift, um die vergleichende Bilderfahrung in bemerkenswerten Bildbeschreibungen zu konzeptualisieren: »die Form fängt an zu spielen, Lichter und Schatten werden zu einem selbständigen Element, sie suchen sich und binden sich, von Höhe zu Höhe, von Tiefe zu Tiefe; das Ganze gewinnt den Schein einer rastlos quellenden, nie Lena Bader
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endenden Bewegung. Ob die Bewegung flackernd und heftig sei oder nur ein leises Zittern und Flimmern: sie bleibt für die Anschauung ein Unerschöpfliches.«66 Heinrich Alfred Schmid, Wölfflins Nachfolger in Basel, hat diesen Impuls wiederholt unterstrichen und als bedeutende Korrektur zu Morellis Fokussierung auf die Form gewürdigt – »also auch die Bewegung, nicht allein die Form«.67 In dieser Dynamik, die Wölfflin unaufhörlich pointiert, artikuliert sich eine der wohl treffendsten Manifestationen des vergleichenden Sehens: »es ist eine Kraft in der Form, das Sehen aufzuwecken und zu einer einheitlichen Auffassung des Vielen zu zwingen, der sich auch ein stumpfer Betrachter kaum entziehen kann. Er wird munter und fühlt sich plötzlich als ein anderer Kerl.«68 Die Dynamik, die das vergleichende Sehen im Dialog der Bilder entfalten kann – aus einer unaufhaltsamen Eigendynamik der Form begründet und auf diese Art in Wort und Bild zum Ausdruck gebracht –, macht den besonderen Reiz der Kunstgeschichtliche[n] Grundbegriffe aus. VI Visuelle Assoziationen
Es ist insofern bezeichnend, dass Wölfflin später wiederholt gegen die durch das gedruckte Format erzwungene Stillstellung des Vergleichs rebellieren sollte. Aus einer dem vergleichenden Sehen inhärenten Dynamik begründet Wölfflin, 16 Jahre nach Erstveröffentlichung seiner Grundbegriffe, »die Scheu, im starren Zusammenhang eines Buches von diesem Mittel der Verdeutlichung einen allzu ausgedehnten Gebrauch zu machen. Schließlich ist es nicht nur eine Vergewaltigung des Lesers, sondern auch des Kunstwerks, wenn jedem Bild eine bestimmte Kontrastwirkung abgepresst wird«.69 Der Gedanke findet sich in Bruno Latours Theorie der »immutable mobiles« als grundlegendes Denkmodell wieder: »You have to invent objects, which have the properties of being mobile but also immutable, presentable, readable and combinable with one another.«70 Analog dazu, aber mit einem stärkeren Fokus auf Fragen der Bilder, hat Horst Bredekamp am Beispiel der Kunstkammer die Idee von einem »Netz des assoziativen und grenzüberschreitenden visuellen Austausches« entfaltet.71 Einher mit dem Motiv vom »Denken in visuellen Assoziationen«72 – Latour spricht von Kaskadierungseffekten und der »connective quality«73 – geht dabei die These vom »Sehen, Assoziieren und Denken als Spiel«.74 Die Beobachtung ist fundamental für das vergleichende Sehen.75 Bricolage mit Bildern
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Wie Jacques Rancière darlegt, hat Jean-Luc Godard diese assoziative Kraft als »fraternité des métaphores«76 prägnant auf den Punkt gebracht: »la possibilité pour une attitude dessinée par le crayon de Goya de s’associer avec le dessin d’un plan cinématographique ou avec la forme d’un corps supplicié dans les camps nazis saisi par l’objectif photographique; la possibilité d’écrire de multiples façons l’histoire du siècle en vertu du double pouvoir de chaque image: celui de condenser une multiplicité de gestes significatifs d’un temps et celui de s’associer avec toutes les images douées du même pouvoir.«77 Wie nicht zuletzt Wölfflins spätere Anmerkung nahe legt, begründet das vergleichende Sehen aus dem Kontrast von Stillstellung und Oszillation, Antwort und Frage seine spezifische Wirkungsmächtigkeit, die somit in der Dia-Doppelprojektion, prägnanter als im gedruckten Format, als produktive Spannung erfahrbar wird. In Abgrenzung zu Brethfeld, der mit seinem zitierten Klassifizierungsversuch das vergleichende Sehen gegen ein »bloßes Basteln« abzugrenzen versucht, ließe sich hier mit Claude LéviStrauss das Prinzip der »bricolage« als »eine Art intellektueller Bastelei« fruchtbar machen, »um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen«.78 Für das vergleichende Sehen wäre demzufolge mit Lena Bader
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Nachdruck »das Recht zur Folgerung« zu reklamieren: »das Recht nämlich, zu postulieren, daß diese sichtbaren Merkmale auf besondere, doch verborgene Eigenschaften hinweisen«79 – man könnte mit Schmarsow hinzufügen: »solange das Auge allein in seinem Recht ist«.80 Spielerische Variationen anschaulicher Gegenüberstellungen, wie man sie insbesondere auch im Bereich der Unterhaltungsindustrie finden kann, erweisen sich vor diesem Hintergrund als Ausdruck einer wichtigen visuellen Erfahrung, durch die das vergleichende Sehen eigendynamisch und schöpferisch hindurchwirkt. Als abschließendes Beispiel sei dazu auf eine Restaurantwerbung der südamerikanischen Werbeagentur Badillo Nazca Saatchi & Saatchi verwiesen [Abb. 7].81 Sie präsentiert sich – nicht zuletzt durch die Adaption einer Ikonografie stereoskopischer Fotografien des 19. Jahrhunderts – als humoristischer Kommentar auf Beweisführungen mittels anschaulicher Gegenüberstellungen, wie man sie insbesondere aus dem Bereich der Diätindustrie kennt, um diese in einem effektvollen détournement aufs Spiel zu setzen. Die assoziationsreiche Inszenierung ist Teil einer höchst aktuellen Tradition: Sie versteht das vergleichende Sehen als »intuitive Methode«82 – nicht bloß als »rationelle Methode« (Schmid) – und weiß diese im Sinne einer bildschöpferischen »Variation über das Thema des Kausalitätsprinzips«83 zugunsten einer spielerischen bricolage mit Bildern ernst zu nehmen. Bricolage mit Bildern
7 Badillo Nazca Saatchi & Saatchi, Werbung für ein italienisches Restaurant, 2003.
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1996, S. 321– 324, hier S. 323. Siehe dazu Nelson Goodman, Seven strictures on similarity, in: ders., Problems and Projects, New York 1972, S. 437– 446. Zu den Bedenken gegenüber komparatistischen Zugängen aus kunsthistorischer Perspektive zuletzt Marc Bayard, Les enjeux du comparatisme en histoire de l’art, in: ders. (Hg.), L’histoire de l’art et le comparatisme. Les horizons du détour, Rom/Paris 2007, S. 9 – 21. Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder und Tilo Renz, Einleitung: illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, in: dies. (Hg.), Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 7– 20, hier S. 9. Katharina Krause, Argument oder Beleg. Das Bild im Text der Kunstgeschichte, in: dies., Klaus Niehr und Eva-Maria Hanebutt-Benz (Hg.), Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920, Leipzig 2005, S. 27– 43, hier S. 33. Siehe hierzu den Beitrag von Peter Geimer in diesem Band sowie Matthias Bruhn, Das Bild: Theorie – Geschichte – Praxis, Berlin 2009, S. 146, 156. André Malraux, Das imaginäre Museum (Psychologie der Kunst, Bd. 1) [1947], Hamburg 1957, S. 22. Robert S. Nelson, The Slide Lecture, or The Work of Art History in the Age of Mechanical Reproduction, in: Critical Inquiry 3, 2000, S. 414 – 434, hier S. 422. Claus Leggewie und Elke Mühlleitner, Die akademische Hintertreppe. Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens, Frankfurt a. M. 2007, S. 70f. Felix Thürlemann, Bild gegen Bild, in: Aleida Assman, Ulrich Gaier und Gisela Trommsdorff (Hg.), Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S. 163 –174, hier S. 167. In diesem Sinne auch Malraux: »Bilder einander gegenüberzustellen ist ein intellektueller Prozeß und steht als solcher in grundsätzlichem Gegensatz zu jener Hingabe, aus der allein Versenkung möglich wird«. Malraux, Das imaginäre Museum (Anm. 5), S. 9. Andreas Beyer, Die sichtbaren Städte: Architekturgeschichte als Bildwissenschaft, in: Oskar Bätschmann (Hg.), Dienstleistung Kunstgeschichte? Art History on Demand?, Emsdetten 2008, S. 99 –105, hier S. 99 (in Bezug auf die in Italo Calvinos Roman evozierten Bildvergleiche). Horst Bredekamp, Birgit Schneider und Vera Dünkel (Hg.), Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 26; bes. S. 2428 »Vergleich als Methode«. Krause, Argument oder Beleg (Anm. 3), bes. S. 32f. »Der Vergleich – ein Ausweg«. Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, Wien 2000, S. 28. Siehe hierzu die Differenzierung von sichtbarer Information (visible) und phänomenologischem Ereignis (visuel): ders., Bilder trotz allem, München 2007, S. 100 –131. Ebd., S. 8f. Lena Bader, Hat die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte keine Lust am Bild?, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009 –17 (urn:nbn:de:0009-23-17713), unter: http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/discussion/2009/bader [05. 05. 2009]. Max Brethfeld, Vergleichendes Sehen im Dienste der Augen-, Geistes- und Geschmacksbildung, in: Die Arbeitsschule 3, 1931, S. 124 –128, hier S. 125. Die starke Emphase auf Führertum und nationale Volksbildung wird umso deutlicher in: Max Brethfeld, Anschauungs- und Uebungsmittel fuer eine volkstuemliche Formen- und Raumkunde, Leipzig 1934. Für eine Diffamierung missbraucht das vergleichende Sehen insbesondere Paul Schultze-Naumburg, Kunst und Rasse, München 1928. Brethfeld, Vergleichendes Sehen (Anm. 15) 1931, S. 124f. Ebd., S. 126f. Ebd., S. 128. Karl Woermann, Selbstdarstellung, in: Johannes Jahn (Hg.), Die Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 198 – 227, hier S. 210f. Woermann verweist in diesem Zusammenhang zudem auf Heinrich Brunn, von dem er – gemeinsam Lena Bader
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mit Adolf Furtwängler – »erst methodisch sehen und vergleichen« gelernt habe (S. 203). Explizit würdigt er dabei auch die Rolle von »Photographien als Vergleichsmaterial« und damit einhergehenden »Vergleichsreisen« (S. 212, 218). Karl Woermann, Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Dresden, Dresden 1887, S. XII. Heinrich Alfred Schmid, Kunstsammlungen, Kunstwissenschaft und Kunstunterricht, Basel 1935, S. 23. Giovanni Morelli, Kunstkritische Studien über italienische Malerei, Bd. 1: Die Galerien Borghese und Doria Panfili in Rom, Leipzig 1890, bes. S. 1– 78 »Princip und Methode«. Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78 –126. Zu den paradigmatischen Positionen dieser Diskussion gehören u. a. Bernhard Stark, Kunst und Schule: Zur deutschen Schulreform, Jena 1848; Anton Springer, Der Kunstunterricht auf gelehrten Schulen, in: Recensionen und Mittheilungen über bildende Kunst 3, 1864, S. 153 –155, 169 –172; Bruno Meyer, Aus der ästhetischen Pädagogik, Berlin 1873. Siehe hierzu u. a. Rudolf Menge, Kunstunterricht am Gymnasium, in: Wilhelm Rein (Hg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 5, Langensalza 1906, S. 250 – 265; mit einer Übersicht über einzelne Beiträge Franz Müller, Über den sogenannten Kunstunterricht auf Gymnasien, in: Hermann Masius (Hg.), Jahrbücher für Philologie und Paedagogik. Zweite Abtheilung, Leipzig 1883, S. 416 – 425, 472 – 480, 511– 517. August Schmarsow, Die Kunstgeschichte an unsern Hochschulen, Berlin 1891, S. 117. August Schmarsow, Das kunsthistorische Institut, in: Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig, hg. v. Rektor und Senat, Bd. 4, Teil 1, Leipzig 1909, S. 176. Vgl. Abb. 5 im Beitrag von Klaus Niehr in diesem Band. Schmarsow, Die Kunstgeschichte an unsern Hochschulen (Anm. 26), S. 115. Siehe hierzu Meyer, Aus der ästhetischen Pädagogik (Anm. 25). Eine frühe Untersuchung dieser Beziehung bietet Marie Luise Eichelbaum, Die Lehre von der ästhetischen Erziehung bei den Herbartianern und bei Bruno Meyer, Bonn 1922. Zu berücksichtigen wären in diesem Zusammenhang auch zeitgleiche Diskussionen um Déjà-vu-Phänomene und Geisterfotografie. Einführend dazu Günther Oesterle und Lothar Schneider, Einleitung, in: ders. (Hg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 7– 27; Thomas Trummer, Déjà-vu. Menschliche Erinnerung und apparative Speicherungstechnik, in: Déjà-vu. Der Augenblick der Nachträglichkeit in der zeitgenössischen Kunst, Wien 2005, S. 6 –15 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Atelier Augarten. Zentrum für zeitgenössische Kunst der Österreichischen Galerie Belvedere, 2005/06]. Müller, Über den sogenannten Kunstunterricht (Anm. 25), S. 479. Bruno Meyer, Die Kunstwissenschaft und die Mittelschule, Vortrag gehalten am 29. September 1882, in: Verein Deutscher Philologen und Schulmänner, Verhandlungen der 36. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmaenner, Leipzig 1883, S. 204 – 206, hier S. 204f. Bruno Meyer, Glasphotogramme für den kunstwissenschaftlichen Unterricht, im Projectionsapparat zu gebrauchen, Karlsruhe 1883, S. IV. Siehe dazu Erster kunstwissenschaftlicher Congress in Wien, in: Mittheilungen des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie 5, 1874/1875, S. 9 – 22, bes. S. 9 –13; Bruno Meyer, Die Photographie im Dienste der Kunstwissenschaft und des Kunstunterrichtes, in: Westermann’s illustrierte deutsche Monatshefte 47, 1879/1880, S. 196 – 209, 307– 318, bes. S. 310. Siehe dazu Martin Papenbrock, Der Lehrstuhl für Kunstgeschichte in Karlsruhe – ein Rückblick, in: ders. und Katharina Büttner (Hg.), Kunst und Architektur in Karlsruhe. Festschrift für Norbert Schneider, Karlsruhe 2006, S. 181–193. Siehe dazu Heinrich Dilly, Weder Grimm, noch Schmarsow, geschweige denn Wölfflin… Zur jüngsten Diskussion über die Diaprojektion um 1900, in: Costanza Caraffa Bricolage mit Bildern
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(Hg.), Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte, München/Berlin, 2009, S. 91–116. Siehe hierzu im Katalog die Angaben zu den Nummern 3809 und 3810: Meyer, Glasphotogramme (Anm. 32), S. 122. Richard Hamann und Jost Hermand wiederum betonten, Julius Meier-Graefe habe »zum ersten Mal die vergleichende Bildbetrachtung zum obersten Prinzip der kunstwissenschaftlichen Analyse erhoben«. Richard Hamann und Jost Hermand, Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus, Bd. 3: Impressionismus, Berlin 1960, S. 104. Heinrich Dilly, Bildgeschichten und Bildkritik der traditionellen Kunstgeschichte, in: Matthias Bruhn (Hg.), Sichtbarkeit der Geschichte. Beiträge zu einer Historiografie der Bilder, Berlin 2005, S. 15 – 26, hier S. 18f. Noch expliziter an die neuen Medien knüpfen das vergleichende Sehen Wolfgang Ernst und Stefan Heidenreich, Digitale Bildarchivierung. Der Wölfflin-Kalkül, in: Sigrid Schade und Georg C. Tholen (Hg.), Konfigurationen: zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 306 – 320. Siehe hierzu Lena Bader, Kopie und Reproduktion im Holbein-Streit. Eine wissenschaftshistorische Retrospektive aus bildkritischer Perspektive, in: Wojciech Balus und Joanna Wolanska (Hg.), Die Etablierung und Entwicklung des Faches Kunstgeschichte in Deutschland, Polen und Mitteleuropa, (erscheint) Krakau 2009. Siehe hierzu eine bibliografische Auswahl am Ende dieses Bandes. Siehe hierzu Magdalena Bushart, Die Oberfläche der Bilder. Paul Brandts vergleichende Kunstgeschichte, in: Kritische Berichte 37/1, 2009, S. 36 – 54. Charles Henry Caffin, How to study pictures. By means of a series of comparisons of paintings and painters from Cimabue to Monet, with historical and biographical summaries and appreciations of the painter’s motive and methods, New York 1908, S. 6. Ebd., S. XIV. Siehe Astrit Schmidt-Burkhardt, Stammbäume der Kunst: Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005, S. 285. Karl Voll, Vergleichende Gemäldestudien, München/Leipzig 1907, S. 15. Ebd., S. 14f. Voll, Vergleichende Gemäldestudien (Anm. 43), S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 18. Wie Voll explizit markiert, bedeutet seine Abgrenzung gegen ältere kulturhistorische Ansätze nicht eine Verschiebung zugunsten einer »rein formale[n] Behandlung«. Stattdessen sucht er gezielt eine Kombination der »vormals unberücksichtigten technischen Fragen« mit dem »geistigen Inhalt eines Kunstwerkes«. Ebd., S. 18f. Paul Brandt, Sehen und Erkennen. Eine Anleitung zu vergleichender Kunstbetrachtung [1911], Leipzig 1913, S. Vf. Albert von Zahn, Die Ergebnisse der Holbein-Ausstellung zu Dresden. II, in: Jahrbücher für Kunstwissenschaft 3, 1873, S. 193 – 215, hier S. 215. Wie u. a. das Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst am 11. 07. 1873 berichtet, wurde der »improvisierte[ ] Kunstforschertag in Dresden« zum Anlass, »derartige Versammlungen in festerer Gestalt und mit bestimmten Programm zu wiederholen«. Kunstwissenschaftlicher Congreß in Wien, in: Zeitschrift für bildende Kunst. Mit dem Beiblatt Kunst-Chronik 8, 1873, S. 617. Zahn, Die Ergebnisse der Holbein-Ausstellung (Anm. 49), S. 215. Udo Kultermann, Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, München 1990, S. 136. Siehe dazu Lena Bader, »die Form fängt an zu spielen …« Kleines (wildes) Gedankenexperiment zum vergleichenden Sehen, in: Bildwelten des Wissens, hg. v. Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner, Bd. 7, 1: Bildendes Sehen, Berlin 2009, S. 35 – 44. Bredekamp, Schneider und Dünkel, Das Technische Bild (Anm. 10), S. 24. Siehe hierzu eine bibliografische Auswahl am Ende dieses Bandes. Lena Bader
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55 Dilly, Weder Grimm, noch Schmarsow (Anm. 33), S. 107. 56 Exemplarisch dazu: »Ich betreibe also ›vergleichendes Sehen‹ – eine legitime Methode
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der Kunstwissenschaft, die freilich zweifache Gefahren mit sich bringt: einerseits die Gefahr, in die Attitude des ›déjà vu‹ zu fallen, in die blasierte Ablehnung der Gegenwart, weil alles doch schon dagewesen sei; auf der anderen Seite verleitet die Nähe zur Moderne womöglich zu voreiligen Schlüssen auf Sinn und Bedeutung des Alten, zu einem Snobismus der Naseweisheit etwa der Art, als hätten wir – sagen wir mit einer Skulptur von Constantin Brancusi – auch schon das Geheimnis der zykladischen Idole enthüllt«. Eduard Trier, Motivwanderungen aus der Antike ins 20. Jahrhundert, in: Peter Bloch (Hg.), Festschrift für Heinz Ladendorf, Köln/Wien 1970, S. 129 –136, hier S. 129f. Die Verfahren des vergleichenden Sehens als »blinde Flecken der kunstgeschichtlichen Praxis« markiert insbesondere Felix Thürlemann, Vom Einzelbild zum Hyperimage. Eine neue Herausforderung für die Kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Ada Neschke-Hentschke (Hg.), Les Herméneutiques au Seuil du XXIème Siècle – évolution et débat actuel, Löwen/Paris 2004, S. 223 – 248, hier S. 226. Martin Warnke, Warburg und Wölfflin, in: Horst Bredekamp, Michael Diers und Charlotte Schoell-Glass (Hg.), Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 79 – 86, hier S. 83. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], Vierte Auflage, München 1920, S. 9. Heinrich Wölfflin, zit. nach Nikolaus Meier, Heinrich Wölfflin (1864 –1945), in: Heinrich Dilly (Hg.), Altmeister der Kunstgeschichte, Berlin 1999, S. 63 – 79, hier S. 70. Warnke, Warburg und Wölfflin (Anm. 57), S. 83. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (Anm. 58), S. 147. Ebd., S. 238, in Bezug auf Bramante und den Dresdener Zwinger (ohne Abbildungen). Ebd., S. VII. Siehe u. a. die Ausnahmefälle ebd., S. 43 (»Abb. auf S. 1«), S. 47 (»dessen Abbildung wir oben gebracht haben«), S. 73 (»Abb. S. 241 u. S. 242«), S. 158 (»Wir verweisen auf die Illustrationen auf Seite 64/65 zurück«). Ebd., S. 188. Ebd., S. 21. Wie Wölfflin in Vorwort und Einleitung explizit hervorhebt, geht es ihm als »Formpsychologen« (S. 3) – nicht Formhistoriker – nicht allein um die Entwicklung der Formenauffassung und die »Bestimmung individueller Stiltypen«, Volksstile oder Zeitstile. Vielmehr sollen mit den Formvorstellungen auch der »Formenrhythmus«, vor allem aber Bildvorstellungen selbst in den Mittelpunkt rücken: »die veränderte Bildgestaltung im allgemeinen, der Wechsel der Bildvorstellung überhaupt« (S. VII). Am Beispiel der Skulptur markiert er explizit die Verschiebung von der Figur zur Form, von einer Geschichte der objektiven Themen zur Stilentwicklung (S. 113). Schmid, Kunstsammlungen, Kunstwissenschaft und Kunstunterricht (Anm. 22), S. 25. Siehe dazu auch Heinrich Wölfflin, Grundbegriffe, in: ders., Gedanken zur Kunstgeschichte. Gedrucktes und Ungedrucktes, Basel 1941, S. 7– 24. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (Anm. 58), S. 167. In diesem Sinne erklärt Franz Roh, der in München als Wölfflins Assistent tätig war und bei diesem promovierte, es wäre »für die Erkenntnis reiner Formfragen […] reizvoll, eine Kunstgeschichte der sich dauernd wandelnden Ausdruckweisen zu entwickeln […], wobei die Abbildungen à la Leporello angeordnet sein müssten«. Franz Roh, Bildvergleiche, in: Die Kunst und das schöne Heim 48/4, 1950, S. 139 –141, hier S. 139. Heinrich Wölfflin, Die Kunst der Renaissance. Italien und das deutsche Formgefühl, München 1931, S. VI. Bruno Latour, Drawing things together, in: Michael Lynch und Steve Woolgar (Hg.), Representation in scientific practice, Cambridge (Mass.) 1990, S. 19 – 68, hier S. 26. Sein Fazit lautet konsequent: »If you want to understand what draws things together, then look what draws things together«. Ebd., S. 60. Bricolage mit Bildern
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Endnoten/Abbildungsnachweis 71 Horst Bredekamp, Die Kunstkammer als Ort spielerischen Austauschs, in: Thomas W.
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Gaehtgens (Hg.), Künstlerischer Austausch. Artistic Exchange. Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte. Berlin, 15. – 20. Juli 1992, Bd. 1, Berlin 1993, S. 65 –79, hier S. 66. Ebd., S. 72. Ebd., S. 54. Ebd., S. 65. In diesem Sinne mit Blick auf Morelli und Warburg ebd., S. 71. Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma, Bd. 3: La monnaie de l’absolu, une vague nouvelle, Paris 1999, S. 149. Jacques Rancière, L’image pensive, Vortrag gehalten am 08.10. 2007 am NFS Bildkritik, Basel. Unveröffentlichtes Manuskript, S. [15]. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973, S. 29. Ebd., S. 28. Schmarsow, Die Kunstgeschichte an unsern Hochschulen (Anm. 26), S. 61. Badillo Nazca Saatchi & Saatchi, before & after, Da Luigi Ristorante, September 2003. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (Anm. 78), S. 107. Henri Hubert und Marcel Mauss in der Beschreibung des magischen Denkens, zit. ebd., S. 22.
Abbildungsnachweis 1 Burton Holmes um 1930, in: Burton Holmes, Reiseberichte: der größte Reisende seiner
Zeit, 1892 –1952, hg. v. Genoa Caldwell, Köln u. a. 2006, S. 13. 2 Richard Friebe, Zwei Bilder sagen mehr als tausend Worte, in: Frankfurter Allgemeine
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Zeitung, 13. 06. 2005, Abb. 5, unter: http://www.faz.net/s/Rub2542FB5D98194DA3A1 F14B5B01EDB3FB/Doc~E5EF601A2231947B7963DD06789C94C61~ATpl~Eco mmon~Sspezial.html [5. 5.2009]. Giovanni Morelli, Kunstkritische Studien über italienische Malerei, Bd. 3: Die Galerien zu Berlin, hg. v. Gustavo Frizzoni, Leipzig 1893, S. 58. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], München 1920, S. 50 – 51. Reproduktionen der Holbein-Madonna, 1723 –1910 (Montage: Lena Bader). Karl Voll, Vergleichende Gemäldestudien, München/Leipzig 1907, Abb. 1 und Abb. 2, S. [208 – 209]. Badillo Nazca Saatchi & Saatchi, before & after, Da Luigi Ristorante, September 2003. Creators Copywriter: Christine Hasben, Art Director: Mariel Lebron, Creative Director: Juan Carlos Rodriguez, Typographer: Carlos Nieves, Illustrator: Carlos Nieves Advertising Agency.
Lena Bader
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Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen Peter Geimer
I
Typen und Funktionen des Vergleichs
In seiner Einleitung zu dem weit verbreiteten Band Kunstgeschichte. Eine Einführung hat Heinrich Dilly vor zwei Jahrzehnten vom »disziplinären Imperativ des vergleichenden Sehens« gesprochen. »Wie tief verankert diese Form der Bild- und Werkbetrachtung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Kunsthistoriker ist, wird rein äußerlich schon daran deutlich, daß in ausgesprochenen kunsthistorischen Vorträgen und Vorlesungen immer zwei Diapositive vorgeführt werden.«1 Auch wenn das Rauschen der Diaprojektoren in der Zwischenzeit beinahe flächendeckend durch Computer und Beamer abgelöst worden ist, hat Dillys Einschätzung doch weiterhin Bestand. Denn obwohl der Einsatz und die Möglichkeiten von Power Point den Vergleich zwischen jeweils zwei Bildern von sich aus gar nicht nahe legen – ebenso gut und problemlos könnte man drei, vier oder fünf Bilder an die Wand werfen – dominiert die binäre Gegenüberstellung nach wie vor weite Teile der kunsthistorischen Deutungsarbeit. Der Vergleich von Bildpaaren spielt neben der Betrachtung von Einzelbildern eine entscheidende Rolle. Felix Thürlemann hat 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei Einzelbild und Bildpaar nicht nur um zwei verschiedene Klassen von Bildern handelt, sondern dass beide Bildtypen darüber hinaus auch »zwei grundsätzlich verschiedene Verhaltensweisen dem Bild gegenüber« nahelegen. Das Einzelbild, so Thürlemann, ziele eher auf Reflexe wie Verehrung und Bewunderung, auf »Rezeptionsformen, die den Bildgegenstand (oder das Bild selber) personalisieren, es als leibhaftes Gegenüber vermenschlichen und gleichzeitig als ›unberührbar‹ auf Distanz halten«.2 Beispiele dieser Vereinzelung wären die Ikone oder das Gnadenbild, das Bild des verehrten oder geliebten Menschen, das isolierte Meisterwerk oder auch das erotische Bild. Die vergleichende Betrachtung hingegen, schreibt Thürlemann, sei »im Kern eine intellektuelle Operation. Die Wahrnehmung von Bildzusammenstellungen setzt beim Rezipienten die Fähigkeit zur Kategorienbildung voraus. Sie besteht darin, das Gemeinsame und das jeweils Eigene der zu einem binären hyperimage zusammengestellten Bilder – sei es auf inhaltlich-ikonographischer, sei es auf formal-stilistischer Ebene – begrifflich zu fassen.«3 Ich möchte diesen Gedanken im folgenden aufgreifen und genauer nach den verschiedenen Spielarten, den Funktionen und Motiven dieser ›intellektuellen Operation‹ fragen. Ihre Leistungen sind allgegenwärtig, unbestreitbar, vielleicht sogar unhintergehbar. Niemand kann ein Bild anschauen, ohne dass sich unverzüglich andere Bilder einstellten – sei es beim Blick auf benachbarte Exponate an der Museumswand oder Nachbarbilder im Layout einer Buchseite; sei es, dass sich im Anblick des einen, vor Augen stehenden Bildes zahllose andere, zuvor gesehene in Erinnerung rufen. Insofern gibt es kein Bild, das im strengen Sinne autonom wäre: Andere Bilder blenden sich unabwendbar ein, und offenbar ist es gar nicht möglich, zu sehen, ohne zu vergleichen. Wenn also die Wirkungsmacht des vergleichenden Sehens als solche kaum befragt werden kann, so lässt sich aber doch darüber nachdenken, unter welchen Voraussetzungen man es betreibt, zu welcher Erkenntnis es führen soll und wo der kunsthistorische Vergleich möglicherweise auch an seine Grenzen stößt. Die Kunstgeschichte kennt sehr unterschiedliche Funktionen und Typen des Bildvergleichs. Zu den ältesten gehören die Typologien der mittelalterlichen Kunst, der wechselseitige Vergleich von Szenen des Alten und des Neuen Testaments. Peter Geimer
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»Der regelmäßige Umgang mit typologischen Bildpaaren förderte bei den Rezipienten die Fähigkeit, zwei Darstellungen, die optisch zum Teil bloß durch einzelne Motivwiederholungen oder analoge kompositorische Elemente miteinander verwandt waren, auf ihren gemeinsamen ›tieferen‹ Sinn hin zu befragen.«4 Solche Übungen im vergleichenden Betrachten liegen auch der Unterscheidung von Original und Kopie zugrunde, dem Nachweis ikonografischer Vorbilder und Einflüsse oder der narrativen Struktur von Vorher/Nachher-Darstellungen. Wohl niemand, der vergleichendes Sehen als Methode eingesetzt hat, ist jemals davon ausgegangen, dass alles mit allem zu vergleichen wäre. Immer gab es bestimmte Regeln, Funktionen, aber auch Geltungsgrenzen des Vergleichs. In seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen etwa hat Heinrich Wölfflin 1915 je ein Werk des 15. bzw. 16. Jahrhunderts je einem Werk des 17. Jahrhunderts gegenübergestellt, um in der vergleichenden Betrachtung stilistische Unterschiede herauszuarbeiten. In seiner Beschreibung von Bronzinos Bildnis der Eleonore von Toledo etwa spricht Wölfflin sehr plastisch von »der metallischen Bestimmtheit von Linien und Flächen«. Kein menschliches Auge könne die Dinge so sehen. »Es ist, als ob man bei der Darstellung einer Bücherwand Buch um Buch und jedes gleich klar umrandet malen wollte [...].«5 Wenn hingegen Velázquez die Infantin Margaretha Theresia zeigt, erkennt Wölfflin eine ganz andere Darstellungskonvention: »Das Kleidchen seiner kleinen Prinzessin war mit Zickzackmustern bestickt, aber was er uns gibt, ist nicht das Ornament an sich, sondern das flimmernde Bild des Ganzen.«6 Wölfflins Vergleiche zielen auf die »Verschiedenheit der Erscheinungen«, die »Verschiedenartigkeit der Form«.7 Damit ist bereits ein sehr grundlegendes Motiv dieser stilgeschichtlichen Spielart des vergleichenden Sehens formuliert: Sie sucht in erster Linie nach Kontrasten und stilistischen Differenzen, während die bisher genannten Formen – wie etwa die Typologie – gerade im Gegenteil am visuellen Nachweis von Gemeinsamkeiten, Analogien und Übergängen arbeiten. Der visuelle Vergleich schließt also nicht zwangsläufig die Behauptung ein, dass die verglichenen Exponate sich ähneln, sondern kann im Gegenteil auch der Herausarbeitung von Differenzen gelten. Eine erste, grobe Beschreibung verschiedener Formen des vergleichenden Sehens könnte also zwischen solchen Vergleichen, die vornehmlich nach Differenzen suchen, und solchen, 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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die auf Analogie und Ähnlichkeit zielen, unterscheiden. Zu dieser zweiten Gruppe gehört beispielsweise Aby Warburgs MnemosyneAtlas oder das Imaginäre Museum von André Malraux. Malraux’ Argument war es bekanntlich, dass mit der fotografischen Reproduktion von Kunstwerken ein unauslotbares Reservoir an Vergleichbarem bereitgestellt wurde, das nun auf seine bis dahin verborgenen Gemeinsamkeiten hin befragt werden konnte. Während im gewöhnlichen Museum nur verglichen werden konnte, was tatsächlich physisch dort anwesend ist, standen im imaginären Museum der Fotografie plötzlich alle Gattungen aller Zeiten potentiell nebeneinander und wurden prinzipiell vergleichbar: ein Gemälde van Goghs mit einem aus dem Bildzusammenhang isolierten Detail eines Bildes von Manet, die Kunst der Steppe mit einem romanischen Relief. »Mittelalterliche Werke, die unter sich so verschieden sind wie Wandteppich, Glasfenster, Miniatur, Tafelbild und Statue, schließen sich zu einer Familie zusammen, reproduziert man sie auf einer Seite. […] Damit verlieren sie alles Spezifische zugunsten einer Stilgemeinsamkeit.«8 Malraux’ ikonografischer overkill ist auf ein sehr geteiltes Echo gestoßen. Während die amerikanische Kunsthistorikerin Mary Bergstein Malraux’ visuelle Methode 1992 als wegweisend beschreibt – »it determines our classroom practice today«9 –, hatte sich Ernst Gombrich wenige Jahre nach Erscheinen des Musée imaginaire eher verhalten und nicht ganz frei von Hochmut geäußert: Das Buch sei in Teilen brilliant, doch gebe es keine Belege dafür, dass der Autor auch nur einen einzigen Tag in der Bibliothek zugebracht habe.10 Selbst Malraux’ wilde Ikonografie wollte aber nicht alles mit allem vergleichen. Bilder der Printmedien und des Films, Werbeaufnahmen oder naturwissenschaftliche Illustrationen kommen selbst in dem von ihm definierten, scheinbar uferlosen Bilderkosmos nicht vor. Anders geht es auch nicht, denn jedes visuelle System, das auf solche Ausschlüsse verzichten wollte, würde in kürzester Zeit unter der Last seiner Bildermengen kollabieren. Man bestimmt, wählt aus, definiert, was verglichen werden soll und was nicht. Das vergleichende Sehen ist mittlerweile – über die akademische Praxis der Kunstgeschichte hinaus – längst zu einer allgemeinen Kulturtechnik geworden. Zwei beliebig herausgegriffene Beispiele können das zeigen. Im März 2004 startete in Deutschland Peter Geimer
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eine Kampagne der Tierrechtsorganisation Peta. Auf den Plakaten wurde Bildern der Massentierhaltung jeweils eine Aufnahme von Häftlingen deutscher Konzentrationslager gegenüber gestellt. »Für die Mitglieder von Peta«, so kommentierte der Redakteur der Tageszeitung, »gibt es keine Unterschiede zwischen Mensch und Tier. Wer ein Steak isst oder Lederschuhe trägt, ist ein Mörder«.11 Diese Unterschiedslosigkeit sollten auch die Bilder demonstrieren. Zwar spielte auch die Sprache für die suggestive Botschaft der Kampagne eine Rolle – die Plakate trugen Titel wie Walking skeletons oder To animals all people are nazis – doch die entscheidende Botschaft leistete vor allem die stumme Nachbarschaft der Bilder. Schon ihr Nebeneinander als solches, so musste und sollte man voraussetzen, manifestierte die beabsichtigte Analogie. Dass hier eine Gleichsetzung vorgenommen werden sollte, war auf den ersten Blick offensichtlich. Niemand wäre etwa auf den Gedanken gekommen, die Gegenüberstellung für einen bildlichen Hinweis auf Unterschiede zwischen Massentierhaltung und Völkermord zu halten. Ein unsichtbares Gleichheitszeichen vermittelte zwischen den Bildern, und die Betreiber der Kampagne konnten sich auf die Eindeutigkeit ihrer dubiosen Botschaft verlassen. Dieser Vorgang ist ein Beispiel für eine Verwendungsweise des vergleichenden Sehens, bei der die bloße Parallelität und Nachbarschaft von Bildern bereits als Argument und Aussage aufgefasst wird. Im vorliegenden Fall ›besagte‹ der visuelle Vergleich: Tiere werden gequält so wie in den Konzentrationslagern Menschen gequält worden sind. Beides ist – so die visuelle Suggestion – im Grunde genommen dasselbe. Das zweite Beispiel verweist auf eine ganz andere, nämlich ironische Anwendung des vergleichenden Sehens in den Medien. In seiner Ausgabe vom 4. April 2008 stellte das Magazin der Süddeutschen Zeitung Aufnahmen des dramatisch gestikulierenden Fußballers Luca Toni Meisterwerken der italienischen Kunstgeschichte gegenüber. Insgesamt sechs Bildpaare sollten die bislang übersehene Beziehung zwischen dem Spieler von Bayern München und Figuren der europäischen Kunstgeschichte unter Beweis stellen [Abb. 1]. Der knappe Kommentar besagte: »Luca Toni hat Bayern München nicht nur fußballerisch nach vorn gebracht. Diese Bilder beweisen: Der italienische Stürmerstar versucht – bisher unbemerkt – in seinem Verein die Hochkultur einzuführen«.12 Dass hier – im Unterschied zur suggestiven Bildpaarung der Tierschützer – keine wirkliche Analogie behauptet werden soll, ist offensichtlich. Die formale Übereinstimmung ist verblüffend, führt aber unmittelbar zur Einsicht, dass 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Jesus Christus (Michelangelo) und Luca Toni (Bayern München), 2008.
dieser Vergleich offenbar nicht als sonderlich ›tiefgründig‹ gewertet werden kann. Schnell wird deutlich, dass mit den Bildpaaren wohl kaum die These vertreten werden soll, Luca Toni bewege sich im Vollbewusstsein der europäischen Kunstgeschichte über den Rasen und sei sich selbst noch auf dem Boden vor dem gegnerischen Tor liegend seiner frappanten Ähnlichkeit mit dem Sturz des Hl. Paulus von Niccolò dell’Abbate (um 1552) bewusst. Vielmehr wird die visuelle Analogie genutzt, um sie als bloßen Oberflächeneffekt und Spiel der Formen und Gesten auszuweisen, das aber keinerlei (kunst)historische Tiefe besitzt. Diese Montage weist insofern bereits auf einen interessanten Grenzfall des bildlichen Vergleichens hin: den Fall, dass zwei Bildmotive sich ähneln, ohne dass diese Ähnlichkeit jedoch auf eine tatsächlich existierende historische oder systematische Verbindung verweist. Gemeint ist der Punkt, an dem ›vergleichendes Sehen‹ in ›Gleichheit aus Versehen‹ übergeht. Ich komme am Ende des Beitrags darauf zurück. Das Verfahren des vergleichenden Sehens hat offenbar seinerseits eine Geschichte, die freilich erst in Ansätzen geschrieben ist. Nicht nur die Objekte des Vergleichs sind – wie Malraux betont hat – historisch variabel, sondern auch das Vergleichen selbst kann als ein historisch sich wandelndes Unterfangen gelten. In Abwandlung einer berühmten Formulierung Heinrich Wölfflins lässt sich sagen: Nicht alles ist zu allen Zeiten vergleichbar. »Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich«, so hatte Wölfflin geschrieben. »Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ›optischen Schichten‹ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden.«13 Wenn es eine solche Geschichtlichkeit Peter Geimer
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des Sehens gibt, dann unterstehen ihr aber nicht nur die Hervorbringungen der Kunst, sondern auch die Blicke ihrer Deuter – nicht nur die Künstler, sondern auch die Kunsthistoriker. Es wäre wohl lohnenswert, die Methode des vergleichenden Sehens selbst einmal einem vergleichenden Sehen zu unterziehen und danach zu fragen, was zu verschiedenen Zeiten jeweils als vergleichbar und unvergleichbar angesehen wurde und welche Prämissen hier zugrunde lagen. Diese Aufgabe wird sich hier nicht einlösen lassen, anhand einer konkreten Fallstudie soll aber doch ein Fragment dieser Geschichte diskutiert werden. Der Fall – die Fälschung von Werken Vermeers durch den niederländischen Maler Han van Meegeren – ist bekannt, wurde aber soweit ich sehe bislang noch nicht in seiner eigentümlichen Bedeutung als Idealfall einer Geschichte des kunsthistorischen Vergleichs erörtert. Die Darstellung wird zeigen, dass zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen einige Bilder als vergleichbar gelten konnten, die man schon wenige Jahrzehnte später als Inbegriff des Unvergleichbaren sehen wollte. Dieser Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Bildvergleichs folgt ein abschließender Teil, der die oben bereits angedeutete Frage nach dem Verhältnis von Vergleich und Unvergleichbarkeit berührt. Was geschieht, wenn zwei Bilder sich formal oder ikonografisch ähneln, man aber weiß, dass sie im Hinblick auf ihren Kontext, ihre Funktion, die Technik ihrer Herstellung oder die Art ihrer Rezipienten unvergleichbar sind? Es wird hier also um die Frage gehen, ob alles, was sich formal oder stilistisch ähnelt, deshalb auch automatisch schon sinnvoll vergleichbar sein muss. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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2 Han van Meegeren, Christus in Emmaus, 1937.
II
Geschichte der Vergleichbarkeit
1937 wurde in Rotterdam ein bedeutendes Gemälde erworben, Die Emmaus-Jünger von Jan Vermeer van Delft [Abb. 2]. Das Bild zeigt jene häufig dargestellte Szene des Lukas-Evangeliums, das Erscheinen Christi im Dorfe Emmaus, wo er drei Tage nach seiner Auferstehung unerkannt im Kreis seiner Jünger sitzt und von diesen erst erkannt wird, als er ihnen das Brot reicht. Das Bild, so hieß es, stamme aus italienischem Privatbesitz, war in Paris aufgetaucht und wurde schließlich von einer niederländischen Stiftung gekauft. Als man es 1938 in Rotterdam erstmals öffentlich ausstellte, waren die Reaktionen überwältigend. In der Zeitschrift für Kunstgeschichte schrieb Adolf Feulner: »Durch alle Säle verfolgte einen das lebhafte Geplauder, aber in dem Raum, in dem das Vermeerbild ziemlich isoliert hing, war es still wie in einer Kapelle.«14 Der Rezensent der Weltkunst schrieb: »Ein ergreifenderes Bild hat auch Rembrandt nicht gemalt, und wie er mit sattem Rot und reifem Gold erreichte Vermeer mit an kostbares Limoges-Emaille gemahnendem Blau und mit Zitronengrün und Grau eine Wirkung, die selbst ein nichtreligiöses Gemüt bezwingen muß«.15 Der niederländische Kunsthistoriker Abraham Bredius, ausgewiesener Kenner Peter Geimer
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der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts und Verfasser eines Rembrandt-Werkverzeichnisses hatte die Echtheit des Gemäldes attestiert und im September 1937 im Burlington Magazine folgende Zeilen geschrieben: »Wir brauchen weder die prächtige Signatur ›I. V. Meer‹, noch die ›pointillés‹ auf dem Brot, das Christus segnet, um überzeugt zu sein, daß wir es hier mit einem – um nicht zu sagen Dem Meisterwerk von Johannes Vermeer zu tun haben. […] Die Farben sind großartig – und charakteristisch: Christus in strahlendem Blau; der Jünger links […] in feinem Grau; der andere Jünger in Gelb – jenem Gelb des berühmten Vermeer in Dresden, aber zurückhaltend, so daß es in vollkommener Harmonie mit den übrigen Farben bleibt«.16
3 Jan Vermeer van Delft, Christus bei Maria und Martha, um 1654.
Das Bild wurde für 650.000 Gulden gekauft und fortan im Museum Boymans in Rotterdam ausgestellt. Im Mai 1945 wurde ein weiteres Gemälde Vermeers gesichtet – Christus und Ehebrecherin. Das Bild wurde aus einem Salzstollen bei Alt-Aussee in Österreich geborgen, wo Hermann Göring 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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es zusammen mit andern Werken seiner Sammlung hatte zwischenlagern lassen. Göring hatte das Bild im Tausch gegen zweihundert andere Gemälde aus seiner Privatsammlung erworben. Eine Kommission der Alliierten zur Wiederbeschaffung der von den Nazis geraubten Kunstschätze hatte den Christus im Salzstollen geborgen. Bei den Nachforschungen nach seiner Herkunft stieß man in Den Haag auf Han van Meegeren, einen Maler, der in den Handel verwickelt war. Van Meegeren, der die Herkunft des Bildes nicht angeben konnte, wurde der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt und verhaftet. Vor die Wahl gestellt, als Kollaborateur verurteilt zu werden oder sein Wissen preiszugeben, gab van Meegeren an, dass nicht Jan Vermeer van Delft, sondern er selbst das Bild gemalt habe – ebenso wie sieben weitere Vermeers, darunter auch die Emmausjünger im Museum Boymans in Rotterdam, das Letzte Abendmahl in der Sammlung van Beuningen oder die vom holländischen Staat für über eine Million Gulden erworbene Fußwaschung Christi. Während all dieser Ereignisse hatte das Bild mit den Jüngern von Emmaus [Abb. 2] unverwandt im Museum Boymans in Rotterdam gehangen. Es wusste nichts von der Selbstbezichtigung van Meegerens, nichts von Göring oder dem Salzstollen in Alt-Aussee. Auf der Leinwand hatte sich nichts verändert. Noch immer hob Christus seine rechte Hand; im Trinkglas vor ihm spiegelte sich das Tageslicht wie immer schon, noch immer ruhte die Hand eines der Jünger auf der Tischkante, ein silberner Teller ließ wie seit jeher seinen Schatten auf das weiße Leinentuch fallen, die Gewänder waren grau, blau, braun und gelb – wie immer schon. Doch irgendwo im Umfeld der Leinwand war jenes kunsthistorische Desaster eingetreten, das man als den Sturz des Originals beschrieben hatte. Von einem schwer bestimmbaren Ort aus war jetzt eine andere Stimme zu vernehmen: Die da um den Tisch saßen, waren Parasiten. Sie aßen fremdes Brot, trugen geliehene Gewänder, und der scheinheilige Christus segnete das Brot nur zum Hohn. Selbst die Gegenstände auf dem Tisch – der silberne Teller und der weiße, bauchige Krug – hatten plötzlich ihre Unschuld verloren. Sie tauchten im Bericht einer Untersuchungskommission wieder auf, die mit der Aufklärung der Fälschung betraut worden war. Teller und Krug waren jetzt gesichertes Beweismaterial geworden. Gleichwohl schien es vielen unmöglich, dass ein mittelmäßiger Maler wie van Meegeren solche Meisterwerke hervorgebracht haben sollte. Erst als er unter polizeilicher Aufsicht ein weiteres Bild im Stile Vermeers fälschte, war jeder Zweifel ausgeschlossen, dass er selbst der Urheber der fraglichen Bilder war. Peter Geimer
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Mit der Enttarnung des Gemäldes änderte sich schlagartig auch die Sprache und der Blick seiner Deuter. Mit der gerichtlich gesicherten Abwertung ließ sich jetzt leicht auf Distanz zu dem Bild gehen und das Urteil der Vorgänger mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. So notierte der niederländische Publizist Ronald Jonkers 1988, d. h. aus der sicheren Distanz von vier Jahrzehnten: »Im Nachhinein bleibt es eine erstaunliche Sache, daß ein so häßliches Gemälde wie die Emmausjünger soviel Rührung und ästhetische Anerkennung hat finden können. Jeder, der auch nur einmal einen Vermeer im Original oder einen gutgedruckten Bildband mit seinen Arbeiten gesehen hat, muß beim Betrachten der schwülstigen Köpfe van Meegerens stellvertretend vor Scham erröten. Da sieht man stereotypes Leiden, gespenstische Gesichter, Augenlider als halbe Eierbecher, Ärmel mit unlogischen Falten, sinnentleerte grandiose Gebärden«.17 Solche nachträgliche Gewissheit ist möglicherweise ein wenig zu einfach und vorschnell. Tatsächlich aber bewirkt die zeitliche Distanz, die uns von den Fälschungen van Meegerens trennt, einen eigentümlichen Effekt. Es ist heute kaum mehr zu begreifen, dass die Experten hier überhaupt eine Ähnlichkeit mit den echten Gemälden Vermeers [Abb. 3] erblicken konnten. Bei einer Übung in vergleichendem Sehen fallen für heutige, geschulte Betrachter die beiden Werkgruppen – Vermeers Originale und van Meegerens Fälschungen – auseinander. Umgekehrt sehen heutige Betrachter eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den vermeintlichen Originalen Vermeers und jenen tatsächlichen Originalen, die van Meegeren als seine eigene Kunstproduktion und unter eigenem Namen in Umlauf brachte. Die Vermutung liegt nahe, dass der vergleichende Blick der Experten, welche die Echtheit der falschen Vermeers nicht nur attestiert, sondern gewissermaßen auch gesehen haben, nicht neutral, sondern mit bestimmten Vorannahmen gesättigt war. Offenbar gab es im vergleichenden Blick auf die Bilder einen blinden Fleck. Das bekannte Œuvre Vermeers war und ist, gemessen an anderen Malern des 17. Jahrhunderts, relativ klein. Neben den bekannten Genreszenen kannte man zwei religiöse Werke Vermeers, darunter eben das Bild Christus bei Maria und Martha [Abb. 3]. Man vermutete, dass es im Frühwerk Vermeers weitere religiöse Themen gab, die man aber nicht – oder noch nicht – kannte. Mit den Emmausjüngern wählte van Meegeren ein Sujet, das zielsicher in diese Lücke 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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vorstieß. Das Bild mußte den Erwartungen der Kunsthistoriker in hohem Maße entgegenkommen. Tatsächlich schrieb Bredius in seiner Expertise: »Was die Periode betrifft, in der Vermeer dieses Meisterwerk gemalt hat, so vermute ich, daß es zu seiner früheren Periode gehört – etwa die Zeit (vielleicht ein wenig später) wie der bekannte Christus im Haus von Martha und Maria in Edinburgh (früher in der Coats collection).«18 So hatte sich hier also jene Strategie bewährt, die der englische Kunstfälscher Eric Hebborn noch 1999 in seinem Handbuch für Kunstfälscher beschrieb: »Wie alle Historiker versucht der Kunsthistoriker, Ordnung zu schaffen, wo es nie welche gegeben hat. [...] Wenn wir erreichen wollen, daß der Experte zu einem möglichst günstigen Urteil über unser Werk gelangt, müssen wir wissen, wie er denkt. […] Wir müssen lernen, wie er zu denken, und müssen uns bemühen, ihm Werke zu präsentieren, die seinen Ideen entsprechen, nicht unseren«.19 Hebborn hatte begriffen, dass die Fälschung in das System der Kunsthistoriker eindringen musste, um es von innen her auszuhöhlen. Das gelang am besten, wenn man den Kennern Artefakte präsentierte, die ihren Erwartungen, ihren Kenntnissen und methodischen Prämissen entsprachen. Man kann also vermuten, dass in das vergleichende Sehen, das den Experten Bredius eine Ähnlichkeit zwischen van Meegerens und Vermeers erkennen ließ, auch bestimmte Erwartungen, Wünsche und Vorannahmen eingegangen sind. Bredius sah nicht nur, was er sah; er sah auch, was er wusste, und er sah vermutlich auch, was er sehen wollte. Sobald es aber dem Fälscher gelungen war, eine erste Fälschung zu etablieren, war der Weg für weitere Fälschungen desselben Meisters geöffnet. Das Virus war jetzt in das System Jan Vermeer van Delft eingedrungen und fortan wurden alle Werke Vermeers – echte wie unechte – auch an ihm gemessen. Tauchte nun ein weiterer van Meegeren auf dem Markt auf, so erkannte man in der vergleichenden Betrachtung mit dem kürzlich gerade erst entdeckten Vermeer van Meegerens sofort eine auffällige Ähnlichkeit und integrierte auch ihn in das auf diese Weise stetig anwachsende Œuvre. Das einmal als Vermeer-ähnlich erkannte Werk van Meegerens ließ nun auch alle anderen Fälschungen Vermeer-ähnlich erscheinen. Wie sich die Fälschungen allmählich in die Originale einhaken, zeigt ebenfalls die Expertise von Bredius. Das Gelb im Gewand des Apostels glich in seinen Augen »jenem Gelb des berühmten Vermeer Peter Geimer
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in Dresden«. So hatte das falsche Gelb der Emmausjünger unversehens auf das Bild im fernen Dresden abgefärbt. Es hat den Anschein, dass ein Fälscher, der den Stil eines vergangenen Malers imaginiert, weniger dessen existierende Bilder kopiert als vielmehr jenen Blick, den seine Zeit auf die Werke der Vergangenheit warf. Wie die Originale, so sind auch ihre Fälschungen äußerst zeitgebunden. Dieser Umstand führt zurück auf eine Beobachtung, die Hans Tietze 1933 in seiner Ästhetik und Psychologie der Kunstfälschung angeführt hat: »Sie – die Fälschung – interpretiert das Vorbild vom speziellen Standpunkt ihrer Zeit, d. h. sie fügt zu den Zügen, die dessen Eigenschaften reproduzieren, solche Züge, die einer eben gültigen Idealvorstellung der nachgeahmten Zeit entgegenkommen. Das Ergebnis ist ein Ganzes, in dem die für das Vorbild postulierten Züge eindringlicher vorhanden sind als in dem Original selbst, dessen objektive Merkmale der subjektiven Unterstreichung entbehren; die gelungene Fälschung ist also in gewissem Sinne echter als ein echtes Werk, jedenfalls – wie eine Karikatur – zu intensiverer Wirkung fähig. […] Wenn aber Fälschungen solcher Art die zeitgebundene Individualität, die ihr Erzeuger in die Waagschale wirft, zu einem Triumph verhilft, so wird der gleiche Umstand, sobald die Stunde ihrer Aktualität verrauscht ist, automatisch zu ihrer Entlarvung. Denn jene völlige und zwingende Übereinstimmung mit dem intimsten Bedürfnis ihrer Entstehungszeit wird einer späteren Zeit, deren Bedürfnisse wieder andere geworden sind, als ein störender Widerspruch zu dem, was das Werk zu sein vorgibt, erscheinen; was ihm die zauberhafte Wirkung verlieh, wird zur grinsenden Maske, die es verrät […].«20 Die grinsende Maske wäre dann aber zumindest auch ein bemerkenswertes Dokument einer Geschichte des Sehens. Die Fälschungen wären gleichsam Wahrnehmungs-Ruinen, Artefakte, in denen sich der Blick einer Zeit auf ihre eigene Vergangenheit konserviert hat. III
Grenzen der Gleichsetzbarkeit
Am Beispiel eines kolorierten Stichs, auf dem die englische Malerin Maria Cosway 1802 eine Bilderwand des im Louvre eingerichteten Musée Central dokumentierte, hat Thürlemann einen Aspekt des vergleichendes Sehens angedeutet, dem dieser 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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4 Uwe Barschel, 1987.
abschließende Teil gewidmet sein soll. Der Stich zeigt fünfundzwanzig Gemälde, die nach Schulen geordnet sind, zugleich aber auch auf figürliche Analogien zwischen den Bildern setzen. »Es ist gerade die anscheinende Disparität der Bildercollage, die die Sinnsuche für den Betrachter zu einer so befriedigenden Erfahrung macht, da ihm das Raffiniert-Konstruierte einer Entdeckung als besonderer Beweis seiner Ingeniosität vorkommen kann. Das Spiel gereicht den Bildern, so ausgefallen und willkürlich die hergestellten Sinnbezüge auch sein mögen, aber auch nicht zum Nachteil.«21 Ich hebe diese Passage hervor, weil sie eine Spezifik des Bildvergleichs erwähnt, die Thürlemann hier zwar als positiv beschreibt, die aber auch an die Grenzen seiner Tragfähigkeit rührt – seine potentielle Künstlichkeit. Denn mit der möglichen Arbitrarität stellt sich die Frage, ob die im Vergleich hergestellte Analogie tatsächlich in den Bildern angelegt ist oder möglicherweise eine nachträgliche und beliebige Zutat, ein freies Assoziieren des Rezipienten, darstellt. Meine Ausgangsbeispiele für diesen abschließenden Teil sind auf der einen Seite Pressefotografien bestimmter aktueller Ereignisse, auf der anderen Seite Bilder aus dem großen Reservoir der Kunstgeschichte, mit denen man diese Fotografien in Zusammenhang gebracht hat. Die wissenschaftliche Absicht solcher Peter Geimer
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Gegenüberstellungen ist es zumeist, auf formale, ikonografische oder sozialhistorische Kontinuitäten im Bildgebrauch einer Gesellschaft hinzuweisen. Sind die aktuellen und aus ihrer Gegenwart heraus wirkungsmächtigen Bilder aber damit schon zureichend beschrieben? Reicht es, darauf hinzuweisen, dass es ähnliche Bildkonventionen schon einmal gab? Wie geht man vor, wenn zwei solcher Bilder sich zwar formal oder ikonografisch ähneln, im Hinblick auf ihren Erscheinungsort, ihre Funktion und ihre Rezeption aber zwei völlig getrennten Welten angehören? Im Oktober 1987 ging eine Fotografie durch die Presse, die sofort Anlass zu zahlreichen Spekulationen, Mutmaßungen und Verschwörungstheorien bot: die Aufnahme des toten Ministerpräsidenten Uwe Barschel in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers [Abb. 4]. Es dauerte nicht lange und das verstörende Bild wurde gewissermaßen kulturhistorisch domestiziert, indem man es durch einen Bildvergleich in den Kanon der klassischen Kunstgeschichte hereinholte und es einer Inkunabel der Historienmalerei an die Seite stellte: Jacques Louis Davids Tod des Marat von 1793 [Abb. 5]. Hans Volker Findeisen schrieb 1989: »Die Bilder gleichen sich, obwohl fast zwei volle Jahrhunderte zwischen ihnen liegen. Der tote Uwe Barschel, so wie ihn an jenem Sonntag, den 11. Oktober 1987, ein Illustriertenreporter in der Badewanne eines Genfer Hotels
5 Jacques-Louis David, Der Tod des Marat, 1793.
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gefunden hatte […], und der 1793 ermordete Jean Paul Marat, so wie ihn Jacques Louis David im Auftrag des Pariser Konvents auf einem Gemälde der Nachwelt festhielt«.22 Neben dem Hinweis auf die formale Gleichheit der Bilder wurde aber zugleich auch hervorgehoben, dass die Veröffentlichung der Fotografie des toten Barschel einen radikalen Bruch in der Ikonografie des Totenbildes bedeutete. »In der Tat ist zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte unserer ›Illustriertenrepublik‹ […] Vergleichbares veröffentlicht worden. Das Barschelfoto war ein Peter Geimer
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Bruch.«23 Laut Text-Kommentar stellt das politische Totenfoto also einen nie dagewesenen Bruch in der Bildgeschichte dar, die grafische Gegenüberstellung der Bilder scheint indessen eine eigene und ganz andere Botschaft zu entfalten. Barschels Tod in der Badewanne erscheint in ihr als die Wiederkehr eines Motivs, das aus der Kunstgeschichte bereits bekannt ist. Während der Autor also einerseits zu Recht die Brüche und Differenzen hervorhebt, sagt seine Politik des Bildvergleichs etwas ganz anderes: Im zeitlosen Jenseits der Bildgeschichte schlummern Jean-Paul Marat und der tote Ministerpräsident aus Kiel einträchtig nebeneinander. Es stellt sich aber die
6 Miki Kratzman, Ohne Titel, 1996. 7 Nächste Seite: Thomas Demand, Badezimmer, 1997.
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Frage, ob man Fotos wie den Bildern des toten Barschel gerecht wird, wenn man in ihrem Anblick immer schon bei anderen bekannten Bildern ist, statt nach ihrer Spezifik und vielleicht sogar nach ihrer partiellen Unvergleichbarkeit zu fragen. Zudem hat Findeisen diese Gleichheit ja nicht einfach vorgefunden, sondern sie gezielt gesucht und inszeniert. Um sie hervorzubringen, musste er Davids Marat seiner Farbigkeit berauben, das Bild auf einen kleinen Bildausschnitt herunterzoomen und diesen Ausschnitt dann in gleicher Größe neben das Illustriertenfoto setzen. Die Gegenüberstellung war also hochgradig suggestiv. Der Aufweis kunsthistorischer Vorbilder scheint hier zum Selbstzweck geworden zu sein. Jedenfalls bleibt ungeklärt, welche Aussage mit der formalen Analogie getroffen werden soll, und diese Praxis erinnert an die Bemerkung des Literaturwissenschaftler Niels Werber, der in Texte zur Kunst notiert, die Kunstgeschichte erinnere ihn mitunter »an eine gutmütige, naive Großmutter, die die Besonderheiten ihrer Enkel aus dem zu verstehen glaubt, was einst bei ihren Kindern auch so gewesen sei und sich bei ihren Urenkeln schon andeute«.24 Ein zweites Beispiel [Abb. 6]: Das Bild wurde 2003 in einer Ausstellung über Christusbilder in der Fotografie des 20. Jahrhunderts gezeigt, die vom Israel Museum in Jerusalem konzipiert wurde und später in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen war. Der Katalog und die Bildlegende erteilen keine Auskunft darüber, was genau der Fotograf Miki Kratzman hier aufgenommen hat. Ein schwer verletzter Mann wird geborgen, die arabischen Schriftzüge weisen darauf hin, dass man hier offenbar eine Szene aus den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern sieht. Im Kontext der Ausstellung hat sich das vergleichende Sehen offenbar verselbständigt: Die Analogie zur Grablegung Christi scheint den Kuratoren der Ausstellung so selbstverständlich zu sein, dass ein konkretes Vergleichsbild hier gar nicht mehr gezeigt werden muss – für den in der westlichen Kunstgeschichte Bewanderten ist es gleichsam immer schon da und muss nicht mehr eigens konkretisiert werden. Auch hier lässt sich fragen: Gehen die Kuratoren davon aus, dass diese Gruppe gerade damit beschäftigt ist, eine kunsthistorische Christus-Ikonografie nachzustellen? Wohl kaum. Wovon gehen sie aber dann aus? Dass es einen Kanon allgemein-menschlicher Gesten gibt, der an allen Orten und zu allen Zeiten am Werk ist? Der Umstand, dass eine Fotografie sich – bei aller ernst zu nehmenden Ambivalenz dieses Mediums – auf etwas bezieht, das tatsächlich irgendwo stattgefunden hat, dass die Peter Geimer
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Personen, die sie zeigt, einen Namen tragen – alle diese Signaturen des Realen scheinen den Kuratoren nicht mehr nennenswert zu sein, so dass man sich stattdessen auf die Suche nach Referenzgrößen in der Kunstgeschichte macht. Genau hier liegt aber ein Problem dieser Form der kunsthistorischen Verselbständigung des vergleichenden Sehens. Der Vergleich schluckt das Spezifische. Die routinierte Suche nach Vorbildern wird dem konkreten Einzelbild nicht unbedingt gerecht. Sie kann es im Gegenteil sogar verstellen, wenn sie nämlich, statt seine Besonderheit aufzuzeigen, sofort das Vergleichbare, Ähnliche und Analoge im Auge hat. Nachtrag
Zwanzig Jahre nach Barschels Tod hat der Künstler Thomas Demand dem letzten Bildnis des Politikers eine Arbeit gewidmet, die den ambivalenten Status dieses Bildes weitaus subtiler und eindringlicher vor Augen führt als der kunsthistorische Vergleich [Abb. 7]. Wie immer hat Demand den Schauplatz in einem dreidimensionalen Pappmodell nachgebaut und dann in einer großformatigen Farbfotografie abgelichtet. Das Bild trägt den lakonischen Titel Badezimmer, und tatsächlich ist es einzig der verlassene Ort des Geschehens, den man zu sehen bekommt. Wie alle Fotografien Demands, so spielt auch dieses Bild in einer beunruhigenden Nachwelt, aus der die menschlichen Akteure abgezogen wurden. Nur die Dinge bleiben in ihr zurück. Der Tote ist verschwunden, das trübe Wasser steht unbewegt, die weiße Badematte lässt ihr Spiegelbild auf die blitzblanken Kacheln fallen, die Dinge sind unter sich. Einzig die Falte in der Badematte und die halb geöffnete Tür, aus der eine ungute Dunkelheit starrt, erzeugen ein Vorstellungsbild von jemandem, der sich hier aufgehalten hat und vielleicht noch einmal zurückkehrt. Alles ist hier überdeutlich zu sehen, die Szenerie ist glasklar und blitzblank, aber zugleich auch vollkommen seelenlos, artifiziell und instabil. Der Journalist des Stern, der im Oktober 1987 ein Hotelzimmer in Genf betrat, hatte eine farbige, dreidimensionale Szene vor Augen, die er in ein zweidimensionales Schwarz-Weiß-Foto bannte. Demand überführt das flache Foto des Journalisten wieder in ein räumliches Gebilde aus Papier und Pappe, eine Art gebaute Fotografie und überträgt die fragile Pappkulisse dann wiederum in ein flaches Bild. Demands Vorgehen erweist sich als eine Serie von Übersetzungen und Verfremdungen, ein Bild, das auf ein anderes anspielt, ohne es aber einfach zu verdoppeln oder zu erklären. Im Unterschied zur Suche nach Vorbildern in der 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? 1: G F: : 79: HB . 8B
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Malereigeschichte setzt Demand nicht – oder nicht nur – auf formale Analogien, sondern führt entscheidende Verfremdungen ein. Das Setting kommt einem merkwürdig bekannt vor, aber gerade das spektakuläre Detail, der Tote im Wasser, ist abgezogen. Während Findeisen das Foto des toten Barschel gewissermaßen kunsthistorisch verstellt und überfrachtet, arbeitet Demand an der systematischen Erzeugung einer Leerstelle. Badezimmer ist ein Bild über ein Bild, eine Fotografie, die ihr Vorbild, ein berühmtes Totenfoto, nicht erklärt, sondern es im Gegenteil in seiner Ambivalenz belässt. Demand reagiert auf die Zumutung des letzten Bildes gerade nicht, indem er nach dessen ikonografischen Vorbildern sucht, sondern indem er ein Nachbild entwirft, das die Uneindeutigkeit des Ausgangsbildes reflektiert. Dem Pressefoto wird eine zweite Fotografie zur Seite gestellt, die letztlich aber nichts erklärt und ikonografisch in Ordnung bringt, sondern das eine beunruhigende Bild, durch ein weiteres Bild in der Schwebe hält.
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Endnoten/Abbildungsnachweis 1 Heinrich Dilly, Einführung, in: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte: eine Einfüh-
rung, Berlin 1986, S. 12. 2 Felix Thürlemann, Bild gegen Bild, in: Aleida Assmann, Ulrich Gaier und Gisela
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Trommsdorff (Hg.), Zwischen Literatur und Anthropologie – Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S. 163 –174, hier S. 166f. Ebd., S. 167. Zur Unterscheidung dieser »zwei Formen des Sehens«, aber auch zu ihrer möglichen Synthese etwa im Triptychon s. auch Felix Thürlemann, Vom Einzelbild zum Hyperimage. Eine neue Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Ada Neschke-Hentschke (Hg.), Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle – évolution et débat actuel, Löwen/Paris 2004, S. 223 – 247, hier S. 230f. Thürlemann, Bild gegen Bild (Anm. 2), S. 164. Zur Typologie siehe auch Thürlemann, Vom Einzelbild zum Hyperimage (Anm. 3), S. 230; Wolfgang Kemp, Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987, S. 56 –116; Bernd Mohnhaupt, Beziehungsgeflechte. Typologische Kunst des Mittelalters, Bern 2000. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], Basel/Stuttgart 1984, S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 23 bzw. 24. André Malraux, Das imaginäre Museum, Baden-Baden 1947, S. 16. Mary Bergstein, Lonely Aphrodites: On the Documentary Photography of Sculpture, in: The Art Bulletin 74/3, 1992, S. 475 – 498, hier S. 476. Ernst Gombrich, André Malraux and the Crisis of Expressionism, in: The Burlington Magazine 96, 1954, S. 374 – 378, hier S. 374. Daniel Schulz, Der Jude, das Grillhähnchen, in: Die Tageszeitung, 03.12. 2003, S. 3. Marc Baumann, Die bayerische Renaissance, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 14, 04. 04. 2008, S. 19. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (Anm. 5), S. 24. Adolf Feulner, Das Emmausbild von Vermeer, zit. n. Ronald Jonkers, Ein Kampfhahn mit falschen Federn. Der Fall van Meegeren, in: Karl Corino (Hg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 390 – 400, hier S. 391. Weltkunst, 31. 07.1938, zit. n. Jonkers, Ein Kampfhahn mit falschen Federn (Anm. 14), S. 391. Zit. n. Denis Dutton (Hg.), The Forger’s Art, Berkeley 1983, S. 31 (Übersetzung PG). Jonkers, Ein Kampfhahn mit falschen Federn (Anm. 14), S. 398. Zit. n. Dutton (Hg.), The Forger’s Art (Anm. 16), S. 31 (Übersetzung PG). Eric Hebborn, Kunstfälschers Handbuch, Köln 1999, S. 170. Hans Tietze, Zur Psychologie und Ästhetik der Kunstfälschung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 27, 1933, S. 209 – 240, hier S. 233f. Thürlemann, Vom Einzelbild zum Hyperimage (Anm. 3), S. 237. Hans V. Findeisen, Der Tote in der Wanne. Überlegungen zur Ästhetik des politischen Totenfotos, in: Kritische Berichte 17/1, 1989, S. 78 – 81, hier S. 78. Ebd., S. 79. Niels Werber, Lacan und die Kunst, in: Texte zur Kunst 4, 1991, S. 109 –119, hier S. 109.
Abbildungsnachweis 1 Jesus Christus (Michelangelo) und Luca Toni (Bayern München), in: Süddeutsche Zei-
tung Magazin, Nr. 14, 04. 04. 2008, S. 22. 2 Han van Meegeren, Christus in Emmaus, 1937, in: Georg Kretschmann, Faszination Fälschung. Kunst-, Geld-, und andere Fälscher und ihre Schicksale, Berlin 2001, S. 66. 3 Jan Vermeer van Delft, Christus bei Maria und Martha, um 1654, in: Ernst Günther Grimme, Jan Vermeer van Delft, Köln 1977, S. 19. Peter Geimer
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4 Uwe Barschel, 1987, in: Stern, Heft 43, 1987 (Foto: Sebastian Knauer). 5 Jacques-Louis David, Der Tod des Marat, 1793, in: Antoine Schnapper, Jacques-Louis
David und seine Zeit, Würzburg 1982, S. 161. 6 Miki Kratzman, Ohne Titel, 1996, in: Corpus Christi. Christusdarstellungen in der Fo-
tografie, Heidelberg 2003, S. 178. 7 Thomas Demand, Badezimmer, 1997, in: Roxana Marcoci, Thomas Demand, New York
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Experiment und Imagination – Vergleichendes Sehen als Abenteuer Klaus Niehr »Wie viele Seiten hat ein jedes Ding? – So viele, wie wir Blicke für sie haben [...]«. (Ulla Hahn, Das verborgene Wort, 2001)
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»Daß eigentlich alle, alle, alle unsre Urtheile nichts als Vergleichungen, nichts als Klassificationen, nichts als Zusammenhaltung und Vorweisung der Ähnlichkeiten einer unbekanntern Sache mit einer bekanntern sind«, wer wollte das gegen Johann Caspar Lavater ernsthaft bestreiten?1 Und damit könnten unsere Überlegungen auch schon abgeschlossen sein. Denn ganz offensichtlich eignet Vergleichen etwas Automatisches. Ohne dass dies ins Bewusstsein gelangen muss, gehören sie zum alltäglichen Geschäft; permanent angewandt, bedeuten sie Routine, können sie zum quasi natürlichen Instrument des Umgangs mit einer vor allem visuell wirkenden Welt werden. Erfahrung ist kaum vonnöten. Und für Experiment, also eine Situation, in der platziert, justiert, probiert wird, bleibt anscheinend nur wenig Raum. Aber auch das freie Spiel der Gedanken, das phantasiegenerierte Bilder und Konstellationen vor Augen stellt, findet hier, wenn überhaupt, höchstens in sehr eng gezogenen Grenzen statt. Demgegenüber beruht das Vergleichen, so wie Lavater es vertritt, auf festen Einstellungen, die sich eigenverantwortlicher Vorbereitung ebenso entziehen wie sie planerischer Energie unzugänglich sind. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Doch selbst wenn die bei Lavater zu findende Vorstellung vom Vergleich zahlreiche Forscher seiner und nachfolgender Generationen teilen mochten, für andere zumindest Anregung bot, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln,2 so kommt in ihr nur eine Variante des Verfahrens der Konfrontation zum Ausdruck. Denn außer dem quasi automatischen, in der Natur eines jeden Wißbegierigen begründeten Nebeneinanderstellen existieren wenigstens noch eine zweite und eine dritte Form des Vergleichs, beide der ersten geradezu diametral entgegengesetzt anmutend: zunächst die – übrigens ja auch von Lavater betriebene und durch Illustrationen unterstützte – hinsichtlich einer bestimmten Absicht herbeigeführte Juxtaposition mit dem erklärten Ziel, daraus Erkenntnisgewinn zu schlagen. Eine solche Position konnte sich auf die Erfahrungen von Zeitgenossen berufen, die den Vergleich als zentrales Instrument rationaler Wissenschaft verstanden. Da innerhalb dieses Verfahrens mit Quantitäten gearbeitet wurde – Lavaters Leidenschaft, die Physiognomik, hat schließlich mit Messen, also mit exakter Abnahme von Daten zu tun – bleibt das Zusammenhalten solcher Daten oder daraus gewonnener Bilder stets im Bereich genauen und nachprüfbaren Forschens. Daneben existiert der plötzlich und ungeplant in die Gedankenwelt einbrechende, sich aufdrängende Vergleich, welcher niemals auch nur geahnte Zusammenhänge deutlich macht oder zum Aufleuchten bringt. 1913, also knapp 140 Jahre nach den Physiognomischen Fragmenten schildert Marcel Proust im ersten Teil seines Romanzyklus À la recherche du temps perdu mehrfach Erfahrungen gerade der zweiten Art: Der Erinnerung auslösende Genuss des im Tee sich zersetzenden Gebäcks stellt Gegenwart und Vergangenheit ebenso unvermittelt nebeneinander wie die unansehnliche Apsis einer Provinzkirche augenblicklich den seit der Jugend im Gedächtnis gespeicherten hässlichen Chorschluss des Gotteshauses aus dem Heimatort Combray heraufbeschwört und so in Sekundenschnelle zwei Bilder unterschiedlicher Zeiten zur Deckung bringt: »Et certes plus tard, quand je me rappelais toutes les glorieuses absides que j’ai vues, il ne me serait jamais venu à la pensée de rapprocher d’elles l’abside de Combray. Seulement, un jour, au détour d’une petite rue provinciale, j’aperçus, en face du croisement de trois ruelles, une muraille fruste et surélevée, avec des verrières percées en haut et offrant le même aspect asymétrique que l’abside de Combray. Alors je ne me suis pas demandé comme à Chartres ou à Reims avec quelle puissance y était exprimé Klaus Niehr
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le sentiment religieux, mais je me suis involontairement écrié: ›L’Église!‹«3 »Rapprocher«, die der Erkenntnis zugrunde liegende Inbezugsetzung zweier oder mehrerer Objekte aus einer großen Zahl zur Verfügung stehender Dinge, ist demnach die eigentliche Handlung, welche dem Vergleichen als Basis dient. Bei Proust bedeutet dies ausdrücklich keine von der ratio verantwortete Tätigkeit, sondern eine spontane, fast möchte man sagen, körperliche, vom Augeneindruck ausgehende Reaktion auf ein unerwartetes Erlebnis. Infolgedessen findet auch hier nicht etwa Experiment statt; es wurde keine Versuchsanordnung aufgebaut, innerhalb derer eine bestimmte, vorab geplante und danach durchgeführte Aktion in Gang kam, die ein erwartetes, erhofftes oder befürchtetes, Ergebnis zeitigte.4 Vielmehr wird von Beginn an dem Zufall die entscheidende Rolle als Auslöser des Handelns überlassen, so dass das Resultat, wie aus dem Nichts auftauchend, vor Augen steht. Zudem ist deutlich: In den beiden von Proust geschilderten Fällen werden über die plötzlich sich konkretisierenden Beziehungen kaum kontrollierbare Gedanken freigesetzt. Die anarchische Potenz des Vergleichs, der alle Grenzen überwindet, unvermittelt Eindrücke schenkt oder zerstört, eingefahrenes Denken konterkariert oder bestätigt, deutet sich an. Zwischen den von Lavater und Proust aufgezeigten Positionen lassen sich wesentliche Einstellungen des Vergleichens im Allgemeinen, des vergleichenden Sehens im Besonderen ansiedeln. Scharfe Abgrenzungen dieser Positionen voneinander sind kaum möglich. Die durch Gewohnheit in einen festen Rahmen eingebundene Vergleichskonstruktion, der kaum jemand entrinnen kann, auf der einen, die sowohl durch überlegte Anordnung ins Leben gerufene oder aber völlig unvermittelt aufblitzende Kombination, die zwei oder mehrere Gegenstände zu Verwandten macht bzw. sie voneinander trennt, auf der anderen Seite, mögen Prägung und Starre, Beweglichkeit und Selbstbestimmung signalisieren, einen eher wissenschaftlichen und einen eher spielerischen Umgang mit dem Vergleich andeuten. Derartige polare Klassifikationen verlieren allerdings aus dem Blick, dass selbst, ja vielleicht gerade der spielerischen, leicht der Verfügbarkeit entgleitenden Variante des Vergleichs eine überaus wichtige Funktion auch in der Wissenschaft zukommt, weil zuallererst diese Variante das Potenzial zu grenzüberschreitender Erkenntnis in sich trägt. Und deshalb soll das Augenmerk in den folgenden Zeilen den experimentell produzierten Experiment und Imagination
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wie den eher zufällig auftretenden Situationen gelten, die vergleichendes Sehen animieren und daraus ein spezifisches Verstehen befördern, um es für eine Konstruktion von Beziehungsgeflechten, nicht zuletzt von Geschichte zu nutzen.5 II
Das 17. und 18. Jahrhundert hatte die Konfrontation von Objekten zur wohl wichtigsten wissenschaftlichen Methode erhoben. Damit wurde dem vergleichenden Denken und Sehen ein kaum zu überschätzender Status verliehen. Die in immer neuen Kombinationen nebeneinander gestellten oder in Kontakt zueinander gesetzten Dinge enthüllten im Idealfall quasi wie von selbst Gemeinsamkeiten und Differenzen, gaben auf diese Weise etwas von ihrem Wesen preis, ermöglichten die Entscheidung über älter oder jünger, besser oder schlechter, wahr oder falsch.6 Um nicht mehr und nicht weniger ging es ja gerade für Denkmäler der Vergangenheit. Darauf jedenfalls hatte die aus der Diplomatik erwachsene, während des späten 17. Jahrhunderts sich etablierende historisch-kritische Betrachtung der Geschichte und ihrer Relikte abgehoben. Jean Mabillon, der hierfür die direkte oder durch verlässliche Quellen vermittelte Augenzeugenschaft als wesentliche Grundlage bestimmte, konnte deshalb in seinen Brièves reflexions wie in der Abhandlung De re diplomatica die Konfrontation von Urkunden, Schriften und Kunstwerken als adäquate Methode chronologischer Bestimmung und des discrimen veri et falsi propagieren.7 Ganz in diesem Sinne hatte wenige Jahre zuvor schon Karl Eusebius von Liechtenstein die vergleichende Autopsie zum herausragenden Instrumentarium des Kunstkenners erklärt, wenn dieser Originale von Kopien scheiden wollte.8 Bernard de Montfaucon wird das so etablierte Vorgehen weiter entwickeln, indem er auf der Grundlage skrupulöser Betrachtung historische Abfolge und damit Geschichte rekonstruiert.9 »Collation« und »reunion« sind die Begriffe Montfaucons, die das Verfahren kritischer Begutachtung charakterisieren. Doch mit einer solchen Zusammenschau überlieferter Monumente und ihrer Details war das Potenzial der Methode noch keineswegs erschöpft. Nicht erst durch die wissenschaftliche Analyse materieller Relikte aus der Geschichte wurde die für Erkenntnis überaus vorteilhafte Visualität zusammengerückter Dinge demonstriert. Schon als Instrument der Sprache beanspruchte der Vergleich einen wichtigen Platz; in der metaphorischen Umschreibung eines Sachverhalts fand er seine Konkretisierung. Hier schien er notwendig, um Klaus Niehr
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die Eigenschaften von Vorgängen und Dingen, die sich schlichter Deskription entzogen, angemessen zu vermitteln. Dabei musste in Kauf genommen werden, dass jeder Versuch sprachlicher Bewältigung notgedrungen individuell blieb und das Urbild der auf diese Weise charakterisierten Begebenheiten oder Gegenstände dementsprechend eigenständig, ja eigenwillig veränderte. Die antike Rhetorik hatte sich dem Problem unter den Stichworten similitudo und exemplum zugewandt,10 und von diesen Vorgaben zehrte auch noch die Theorie des 18. Jahrhunderts. Natürlich weiß ein Johann Martin Chladenius, dass alles seinen eigenen Namen und seine eigene Bezeichnung hat, »allein diese Worte wollen doch nicht allemahl, die Eigenschaften der Dinge, die wir im Sinne haben, klar und vollständig genug ausdrucken, so daß wir zu Gleichnissen unsere Zuflucht zu nehmen uns genöthiget sehen, die theils unter dem Nahmen der Metaphern, theils unter dem Nahmen der Vergleichungen bekannt sind«.11 Genau dies wird die reflektierte Praxis des Schreibens immer wieder zum Gegenstand machen: Jean Pauls oder E.T.A. Hoffmanns physiognomische Evokationen haben die dem unkonventionellen Denken leichte Vereinigung landläufig unvereinbar erscheinender Teile auf virtuose Weise demonstriert und den Leser so in sonst nicht erfahrbare Welten geführt.12 Und noch Theodor Fontanes Überlegungen zur Vermittlung ungewohnter Begebenheiten aus einer fremden Stadt lieferten eindrückliche Beispiele für ein derartiges Vorgehen. »Womit«, fragt der Dichter, als er im Bericht über seine erste Englandreise 1844 den Verkehr in den Straßen Londons beschreiben will, »womit vergleich’ ich jenes Treiben? Mit einem geschäftigen Bienenschwarm, der dichtgedrängt nach Nahrung ausfliegt, eine untätige, puppenartige Bienenkönigin an der Spitze? Nenn’ ich diese zerrinnenden und rastlos neugestalteten Menschenwogen ein Meer, darin der einzelne als Tropfen verschwimmt? Am anschaulichsten mach’ ich dies Drängen und Treiben vielleicht, wenn ich jede Straße mit einem schmalen Theaterkorridor vergleiche, der nach beendigter Vorstellung die Hindurchströmenden kaum zu fassen vermag.«13 Die aufgerufenen Angebote, so verschieden sie auch sein mögen, geben jedes für sich eine mehr oder minder adäquate Umschreibung des beobachteten Phänomens; sie lassen eng mit ihm verbundene Bilder entstehen, die dem Leser vertraut sind und ihm Experiment und Imagination
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die Einstellung für ein Erleben erleichtern, das indirekt vermittelt wird und von daher besonderer Präsentation bedarf. Auf nachgerade klassische Weise demonstriert Fontane die für den Nachvollzug einer konfrontativen Beschreibung oder Deutung wichtige Bildhaftigkeit. Denn gerade in der Sprache arbeitet die Kombinatorik mit ad hoc entworfenen Bildern, die eine spezifische Semantik besitzen, sich gegenseitig erklären und stützen. Ob alle auf diese Weise zustande gekommenen Imaginationen unmittelbar einsichtig waren, sei dahingestellt. Dies gilt schon für das weite Feld der an Varianten reichen Buch- und Kathedralmetaphorik und ihre Verschmelzung: Adolphe-Napoléon Didrons und John Ruskins Propagierung des illustrierten Codex als mittelalterliche Kirche mit farbigen Glasfenstern mochte noch verhältnismäßig eingängig sein.14 Victor Hugos Gleichsetzung der angeblich tabulosen Bildwelt einer mittelalterlichen Kathedrale mit der Freiheit der Presse im 19. Jahrhundert bedurfte schon einer gewissen intellektuellen Anstrengung, um verstanden zu werden.15 Demgegenüber bewegten sich Émile Mâles Charakterisierung der Kathedrale als enzyklopädisches Buch, das zum Lesen einlade,16 und Marcel Prousts Weiterführung dieser Idee, wenn er vom Bauen des Buchs spricht, eher wieder auf einem rasch zu konsumierenden Normalniveau.17 Alle diese mehr oder minder eleganten Umschreibungen dürfen als typisch für eine neuzeitliche Tendenz gelten, visuelle Semantik auf die Kommunikation von genuin Unsichtbarem hin zu öffnen. Eine entsprechende Bildlichkeit ergreift seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Lebenswissenschaften ebenso wie Malerei und Grafik. Sie nähren die Hoffnung, komplexe Zusammenhänge und Abstrakta in eine adäquate Sprache übersetzen und dem Betrachter optisch angemessen präsentieren zu können.18 Lag beim imaginativ angereicherten sprachlichen Ausdruck wie bei dessen bildkünstlerischer Variante das Vergleichsmoment in einer ad hoc gefundenen oder zumindest spontan wirkenden Kombination teilweise weit entfernt voneinander abgespeicherter Elemente, die in der präsentierten Zusammenstellung anfangs schockierend wirken mochten, sich vermittels eines geschickt gewählten Tertium Comparationis aber unzweifelhaft um die Produktion von Angemessenheit bemühten, fungierte auch hier wiederum die Tätigkeit des »rapprocher« als die entscheidende Operation. Sie sorgte für eine anschauliche Simultaneität der Dinge und Ideen, die sich in begrifflicher Fassung oder in Bildern konzentriert darbot.19 Auf diese Fähigkeit des frei assoziierenden Denkens hatte bereits um die Mitte Klaus Niehr
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des 18. Jahrhunderts der Chevalier de Jaucourt in seinem Encyclopédie-Artikel Comparaison hingewiesen, um darin eine Vorstufe der Konstruktion von Beziehungen zu erkennen.20 Voltaire wird das wenige Jahre später an gleicher Stelle ergänzen, wenn er die Vorstellungskraft beschreibt. Für ihn ist es die »imagination active«, »qui arrange ces images reçues, & les combine en mille manières«. Und noch genauer: »[…] elle rapproche plusieurs objets distans, elle sépare ceux qui se mêlent, les compose et les change, elle semble créer quand elle ne fait qu’arranger […]«.21 Von nun an ist die Vokabel »rapprocher« das Zauberwort für einen gelungenen Vergleich und daraus entstehende neue Erkenntnis. Dass es sich bei dieser Aktion allerdings keineswegs nur oder in erster Linie um ein Spiel lebendiger Phantasie ohne ernsthaften Hintergrund handelte, sondern um eine zentrale wissenschaftliche Verfahrensweise, konnte man bereits in Buffons Histoire naturelle nachlesen.22 Auch der Comte de Caylus weist auf diesen Sachverhalt hin, wobei er nicht müde wird, Anwendung und Nutzen vergleichenden Sehens vorzuführen. In seinem großen Überblickswerk zu den Altertümern der Antike erklärt er »l’inspection de plusieurs monumens rapprochés avec soin« zur grundlegenden Methode, die dem Vorgehen des Forschers in naturwissenschaftlichen Disziplinen gleichberechtigt zur Seite stehe: »[…] la voie de comparaison […] est pour l’Antiquaire ce que les observations et les expériences sont pour le Physicien«.23 Und weil »rapprocher« ein mit Bedacht organisiertes Tun darstellt, kommen Zeitaufwand und Geduld als entscheidende Faktoren ins Spiel. Nicht nur für Caylus bürgt deshalb die Wiederholung des Sehens als Grundlage des Vergleichens für Sorgfalt und Genauigkeit. Wieder war es Buffon, der hier den bis ins 19. Jahrhundert geltenden Standard setzte: »Pour décrire exactement, il faut avoir vû, revû, examiné, comparé la chose qu’on veut décrire, et tout cela sans préjugé.«24 Um dies auch Lesern zu ermöglichen, geben Buffon und Caylus ihren Texten Abbildungen bei, welche zum Vergleichen animieren sollen. Es sind Dokumente des durch die Antiquare im 16. und 17. Jahrhundert vorbereiteten, seit dem frühen 18. Jahrhundert endgültig etablierten visual turn in den Wissenschaften, der, ausgehend vom Glauben an die Evidenz des Sichtbaren, auf die Überzeugungskraft des Bildes setzt, um mit ihm nicht zuletzt ungewöhnliche Dinge und neue Erkenntnisse als Tatsachen zu propagieren.25 Denn ähnlich wie es evidentia in der klassischen Rhetorik versprach, gelingt es dem Bild Augenschein zu fingieren und so gegenüber dem gesprochenen oder dem geschriebenen Wort ›Wahrheit‹ zu transportieren.26 Experiment und Imagination
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»Rapprocher«, »combiner« und »composer« als Umschreibung der notwendigen Aktivitäten beim Vergleichen, »collation«, »réunion« und »construction« als Resultat vergleichenden Denkens und Sehens dürften den Zeitgenossen demnach vertraut gewesen sein. Nirgends allerdings wurde die damit erreichbare Qualität der Erkenntnis deutlicher als in Biologie und Zoologie. Carl von Linnés Prüfung der Fruchtstände von Pflanzen und die daraus erwachsende Neuordnung der Botanik führte zu einer Klassifikation der Flora in Gruppen, die auf beeindruckende Weise die Fähigkeit zum Bau von Theorien und künstlichen Systemen mit Hilfe kritischer Juxtaposition demonstrierte.27 Nach dieser Operation präsentierte sich zumindest das Pflanzenreich in einer nie geahnten Struktur, die allerdings zugleich den Beleg lieferte, dass für jedes vergleichende Arbeiten eine Vorabentscheidung über die Art und den Zuschnitt des Sehens getroffen werden musste, dem ein Objekt unterworfen werden sollte.28 Denn je nach Wahl der Rahmenbedingungen zeigten sich »differences« und »ressemblances« sehr unterschiedlich, wechselte also das Ergebnis.29 III
Obwohl sich das im Vergleichen abspielende Tun durch Bildhaftigkeit und Imagination auszeichnet, stellten sich einer Übertragung derartiger Tätigkeit auf die Evaluierung von Architektur oder bildender Kunst, also ausgerechnet dort, wo es um Dinge ging, die ihrer Natur und ihrem Anspruch nach auf visuelle Wirkung setzten, zunächst schwerwiegende Hindernisse in den Weg. Denn was in der Literatur oder in den Naturwissenschaften aufgrund allgemein zur Verfügung stehender und oftmals ohne Beschränkung zugänglicher materieller Vergleichselemente verhältnismäßig einfach zu organisieren war – eine praktische Annäherung der Fakten –, machte auf dem Gebiet der Kunst erhebliche Schwierigkeiten. Konkret: Handelte es sich bei den Gegenständen, zum Beispiel der Biologie, häufig um Vertreter einzelner Gattungen, die in großer Zahl vorhanden und damit in ihren einzelnen Exemplaren überall zu nutzen waren, hatte man es bei Architektur oder Bildkünsten – die Grafik ausgenommen –, aber auch sonst bei historischen Relikten jeglicher Art, grundsätzlich mit Unikaten zu tun, die Konfrontationen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich machten. Eine Folge rascher Besichtigungen mochte diesen Nachteil ausgleichen, vollends kompensieren konnte sie ihn nicht, denn man stieß hier schnell an die Grenzen des Realisierbaren.30 So wird für eine Klaus Niehr
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Zusammenschau die Übertragung der Objekte in Abbildungen zur fast unabdingbaren Voraussetzung. Doch dies zog gravierende Probleme nach sich. Denn Abbildung bedeutete Veränderung: eine bestimmte Perspektive wurde vorgegeben, die Entscheidung über Ausschnitte getroffen, Darstellungsmodi wurden festgelegt, 31 ganz zu schweigen von der durch Zeichner und Stecher in die Reproduktion gelangten Ungenauigkeit. Dem standen allerdings erhebliche Vorteile gegenüber. Die Verfügbarkeit der Gegenstände war dabei noch das geringste. Gerade das mit Hilfe des Abbilds mögliche, über ›normale Wahrnehmung‹ hinausführende Sehen, das Informationen komprimieren und in didaktisch sinnvoller Weise bereitstellen konnte, ließ über derartige Einschränkungen großzügig hinwegblicken. Angesichts medialer Herausforderungen dieser Art konnte man leicht vergessen, dass ein vergleichendes Sehen besonders im Hinblick auf die Entschlüsselung des Inhalts von Bildern längst etabliert und bestens eingespielt war. Nicht erst seit den Publikationen von Mabillon und Montfaucon bediente man sich der Suggestivität visueller Konfrontationen im Buch und zog Nutzen daraus. Nachdem Pierre Belon schon 1555 das Bild eines menschlichen Skeletts neben das eines Vogels gestellt hatte,32 war Giambattista della Porta einer der ersten, der ausführlich Gebrauch von einer solchen Methode der Bildkomparatistik machte. Explizit lud er die Benutzer seines Werks über die menschliche Physiognomie zur Entdeckung äußerer Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier ein. Dazu platzierte er Holzschnitte in den Text, die das Gesagte unmittelbar illustrierten: »Diese nächstfolgende Figur«, heißt es zum Beispiel in der Erklärung einer frühen Gegenüberstellung der zahlreichen enface präsentierten Köpfe, »stellt uns für ein MenschenHaupt mit einer übermäßigen großen Stirn. Wie gleichfals auch einen OchsenKopff mit seiner Stirn damit man beyder Größe mit einander vergleichen könne: Wie denn auch in den anderen folgenden Figuren allwegen zwey Bilder gegen einander gesetzt vnd eine Vergleichung der Stirnen fürgestellet wird« [Abb. 1]. 33 Im Grunde genommen wird damit das bis in die Dia-Projektion des 20. Jahrhunderts wirksame Prinzip der selbstreferentiellen Konfrontation etabliert, welches den Betrachter in historische oder ästhetische Zusammenhänge einweist.34 Belon wie Della Porta hatten jedoch lediglich ausgeschrieben und in Materialität überführt, was zu ihrer Zeit als wichtige intellektuelle Fertigkeit existierte. Schließlich war der Vergleich ein Experiment und Imagination
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1 Vergleich zwischen Mensch und Rind, in: Giambattista della Porta, Menschliche Physiognomy […], 1601.
notwendiges wie probates Mittel, Unbekanntes und Irritierendes in die eigene Lebenswelt zu integrieren. Und die Vermittlung des Fremden wurde durch die geschickte Wahl von Referenzen nur anschaulicher. 35 Auch für den Umgang mit christlicher Ikonografie war diese Fähigkeit von Nutzen. Auf ein Denken in Analogien gebaut, ging es ihr doch immer wieder um die Formulierung von Heiligen nach dem Modell Christi, Mariens oder anderer Heiliger. Der mit Malerei oder Skulptur vertraute Betrachter wurde, ob er es wollte oder nicht, vor jedem Bildwerk zum Mittäter, der sich zum Abgleich und zum Erkennen von Ähnlichkeiten gezwungen sah, um dadurch Aussagen über neu in den Blick getretene Personen oder Ereignisse zu verstehen.36 So selbstverständlich eine derartige Vermittlung von Heiligkeit schien, so selbstverständlich liess sich das auf den profanen Bereich übertragen, und seit der frühen Neuzeit kennen wir zahlreiche Beispiele dafür, wie der aus der christlichen Ikonografie bekannte implizite und explizite Vergleich über Grenzen von Weltanschauungen hinweg gesucht wird. Conrad Celtis etwa hatte seiner Ausgabe der Werke Hroswithas von Gandersheim am Anfang des Buchs zwei Holzschnitte programmatischen Charakters hinzufügen lassen: Auf dem einen ist die Autorin zu sehen, die Kaiser Otto dem Großen den Codex mit ihren Schriften übergibt; der zweite zeigt den modernen Entdecker und Herausgeber dieser Schriften, der die neu gedruckte Edition Kurfürst Friedrich dem Weisen dediziert [Abb. 2 und 3].37 Die bereits beim flüchtigen Klaus Niehr
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Anblättern erkennbare, jeweils gleiche Bildkomposition parallelisiert die Handelnden und inszeniert über eine derartige optische Verbindung die Ereignisse aus Geschichte und Gegenwart als eng verwandt. Kenner der Ikonografie mochten darüber hinaus in dem benutzten Schema das Modell sehen, welches oftmals für die Szene der Königin von Saba vor Salomo Verwendung gefunden hatte. Das in den Holzschnitten regierende Prinzip ist einfach: Mit der Übernahme einer existierenden Komposition wird eine Aussage formuliert, um vermittels Bestätigung oder Brechung des alten Inhalts den neuen zu nobilitieren. Zahlreiche Entlehnungen aus etablierter Ikonografie im 18. oder 19. Jahrhundert setzen auf dieses Prinzip. Sie führen tief eingeprägte Sehkonventionen vor und oftmals ad absurdum.38 IV
Wenn das 19. Jahrhundert sich weitgehend auf die hier lediglich kursorisch skizzierten Überlegungen und Vorarbeiten zum Vergleich aus älterer Zeit stützte, so erfahren derartige anregende Gedanken oder Handlungen nun insofern eine qualitative Vertiefung, als man jetzt rigoros eine dezidiert historisch-kritische Perspektive anvisiert. Das Interesse an Konfrontationen kapriziert sich zunehmend auf Geschichte und Entwicklung, die sich in Bilderreihen, das heißt in einer Kombination von Ansichten einzelner, historisch mehr oder minder fixierbarer Zustände präsentieren ließen.39 Daneben geht es um die Herstellung von ursprünglicher, Experiment und Imagination
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2 Hroswitha übergibt Kaiser Otto I. ihre Werke, 1501.
um Rekonstruktionen authentischer Gestalt, speziell auch um Händescheidung und das Herausarbeiten individueller Handschriften innerhalb der historischen Kunst. Zu alledem schien ein vergleichendes Sehen erheblich beitragen zu können, ließ sich mit diesem Sehen doch dem seit dem späten 18. Jahrhundert nachhaltig spürbaren »Erfahrungsdruck« und »Empirisierungszwang« wirksam begegnen.40 Und damit wirft es den letzten vielleicht noch existierenden Verdacht von Unwissenschaftlichkeit ab, um ein rational Klaus Niehr
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eingesetztes Werkzeug zu werden. Auf »pensée« und »expérience« sei das Vergleichen gegründet, so jedenfalls hält es der Paläontologe Georges Cuvier ausdrücklich fest.41 Für ihn war damit nicht zuletzt die Möglichkeit angedeutet, Lücken in den vor Augen liegenden Fakten zu überspringen, um einen vollständigen Organismus oder ein bruchloses System zu rekonstruieren. Hierbei rückt – wie schon von Mabillon und Montfaucon gewünscht – das Bild als Vermittler von Evidenz zunehmend in den Mittelpunkt; nicht zuletzt angesichts Experiment und Imagination
3 Conrad Celtis übergibt Friedrich dem Weisen seine Hroswitha, 1501. 4 Nächste Seite: Giovanni Morelli, Kunstkritische Studien, 1890.
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einer ausufernden Fabrikation von Reproduktionen gewinnt es ständig an Gewicht,42 so dass das »rapprocher« statt hauptsächlich virtuell zu existieren nun über Nachbildungen immer stärker dinglich greif bar, zum selbstverständlichen Instrument wissenschaftlicher Praxis mutiert und wie ein natürliches Element in Publikationen integriert wird. Wenn diese Nachbildungen – beispielsweise in Morellis Arbeiten – sich sogar anschicken, Text zu ersetzen [Abb. 4],43 dann ist damit noch einmal und auch für die moderne Wissenschaft der von d’Alembert im Vorwort der Encyclopédie behauptete Vorzug des Bildes gegenüber der Beschreibung unterstrichen.44 Mehr als zuvor firmiert die Geschichte des vergleichenden Sehens im 19. Jahrhundert als eine Geschichte des Sichtbarmachens. Die hierfür in großer Zahl zur Verfügung stehenden technischen Mittel lassen zugleich eine intensive Diskussion über Vor- und Nachteile der Abbildung allgemein, einzelner Abbildungsmethoden im Besonderen aufkommen.45 Kritik am Bild und der Vergleich einzelner Reproduktionsformen führen das vergleichende Sehen auf eine neue Ebene, die die Konkurrenz der Medien einbezieht. Kupferstich oder Fotografie, Umrisszeichnung oder ausgemaltes Bild: die Angebote sind vielfältig und erfordern eine Entscheidung, da sich sehr schnell herausstellt, dass es eine für alle Bedürfnisse gleichermaßen geeignete Form der Reproduktion nicht gibt. Die Notwendigkeit intensiver Nutzung visueller Medien und deren schon lange vorher zu konstatierende Emanzipation von schriftlich gefasster Erkenntnis, macht sich jetzt vor allem an den Stellen geltend, wo ohne solche Hilfsmittel erhebliche Vermittlungsprobleme einträten: dort also, wo es um Perspektiven ging, die dem leiblichen Auge verschlossen waren, um Einsichten in Konstruktions- und Bauschemata etwa, um Visionen, die Ursprüngliches und Geplantes ansichtig machen sollten. Viollet-le-Ducs Präsentationen verschiedener historischer Zustände mittelalterlicher Kirchen Frankreichs demonstrieren die Überzeugungskraft des Vergleichs im Medium Bild, das – weil es erstens Anschaulichkeit bot sowie zweitens in der Lage war, die Oberfläche der Dinge zu durchstoßen und Unsichtbares visibel zu machen – unverzichtbar war und deshalb besondere Autorität beanspruchen durfte. Noch einmal wird hier aber deutlich, mit welch gefährlichem Instrument man es zu tun hatte. Denn – wie bereits angedeutet – die Übertragung der Denkmäler in ein Abbild, das die Grundlage für den Vergleich lieferte, beschwor automatisch die drohende Modellierung, ja Verfälschung dieser Denkmäler durch Klaus Niehr
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eben dieses Abbild herauf. Viollet-le-Duc hatte die Monumente in Zeichnung übertragen, also stark vereinfacht. Gerade die Reduktion ursprünglich komplexer Visualität aber war – das ließ sich bereits bei Lavater studieren – für das Vergleichen und die daraus zu ziehenden Folgerungen überaus günstig. Dennoch, erst wenn die Reproduktion die Qualitäten einer in möglichst vielen Details perfekten Kopie des Originals trug, war der Vorwurf des Fälschens aus der Welt geschafft. Am nächsten gekommen ist man diesem Ideal für die Skulptur. Das ebenfalls von Viollet-le-Duc gedanklich vorbereitete, nach seinem Tod unter anderer Zielsetzung und mit anderem Inhalt realisierte Musée de sculpture comparée setzte auf engste Bindung des Abbilds an das Original und auf dadurch mögliche Vergleiche unter hervorragenden Bedingungen.46 Ungeahnte, ja unerhörte Konfrontationen ließen sich konkret darstellen, so etwa die von Viollet-le-Duc behauptete Nähe von griechischer und gotischer Skulptur.47 Aber es standen auch neue Einsichten aufgrund von Untersuchungen zu erwarten, die an und mit den Originalen nur schwer oder gar nicht denkbar waren. Die von Jean Laran an den Objekten des Musée betriebenen Studien über Proportionen mittelalterlicher Plastik überführten vergleichendes Sehen in eine auf Zahlen gestützte Evidenz, machten aus Kunstgeschichte eine exakte Wissenschaft.48 Zur selben Zeit, in der hier vergleichendes Sehen in vergleichendes Messen als neuem Ideal eines technisierten Zeitalters mündet, feiert die Universität Leipzig ihren 500. Geburtstag. Die zu diesem Anlass herausgegebene Festschrift stellt auch den Hörsaal des Kunsthistorischen Instituts vor, ähnlich wie das Museum ebenfalls ein Experimentierfeld für die Konfrontation von Kunstwerken [Abb. 5]. Neben einem Projektor für Lichtbilder gab es eine Tafel zum Aufzeichnen von Grundrissen, vor allem aber große Vorrichtungen für das Befestigen von Reproduktionen in mehreren Reihen über- und nebeneinander: zwei dieser Vorrichtungen waren neben dem Katheder angebracht, eine mobile an der Eingangswand zwischen den Türen, eine weitere neben der Reproduktionsfläche für Diapositive. Die Seminarbesucher sahen sich von Bildern umgeben. Auf ihren Drehstühlen konnten sie die auf unterschiedlichen technischen Wegen in den Raum geholten Kunstwerke von einem Punkt aus betrachten.49 Der Vergleich, das wichtigste Instrument der Forschung, präsentierte sich nicht nur in einer ungewöhnlichen Reichhaltigkeit, er drängte sich wie wohl niemals zuvor auf, und das in einer aussagekräftigen Konstellation: Der Betrachter steht im Zentrum, ihm ist die Position des Überblicks garantiert. Experiment und Imagination
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5 Hörsaal des Kunsthistorischen Instituts der Universität Leipzig, 1909.
Laran und Leipzig mochten den Zeitgenossen etwas von den Möglichkeiten andeuten, vergleichendes Sehen zu betreiben, und vor Augen führen, wie Nutzen daraus zu ziehen sei. Was beide aber nicht vermittelten oder vergessen machten, war die dem Vergleich innewohnende Sprengkraft, welche in der Lage war, die Dinge durcheinander zu wirbeln, auf den Kopf zu stellen, sie zu verändern, um dadurch sichtbar werden zu lassen, was noch niemand gesehen hatte. Bemühungen, dies zu zeigen, sind gleichwohl auch im 20. Jahrhundert nicht verschwunden. Als André Malraux in seinen Voix du Silence die Malerei Giottos bespricht und deren plastische Wirkung demonstrieren will, fordert er seine Leser auf, eine Reproduktion in seinem Buch umzudrehen: »Il suffit d’en regarder à l’envers la reproduction pour retrouver la sculpture.«50 Die Aufkündigung des Gewohnten, die Aushebelung des normalen Blicks, um unter der von der Ikonografie bestimmten Oberfläche eine formale Qualität zu entdecken, mutet revolutionär an. Sie ermutigt, Klaus Niehr
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nicht etwa nur die Dinge, sondern auch die Perspektiven auf diese Dinge zu vergleichen, um den unvergleichlichen Eigenwert der dabei gewonnenen Erkenntnisse zu erleben. Bei Malraux bleibt das keineswegs die Ausnahme. Beleg dafür mag das berühmte Foto sein, welches den Autor in seinem Arbeitszimmer inmitten ausgelegter Reproduktionen von Kunstwerken zeigt [Abb. 6]. Während der Betrachter der Szene die Bilder im Bild ›richtig‹ sieht und damit konventionelle Vergleiche anstellen kann, stehen diese Bilder für Malraux allesamt auf dem Kopf. Allein er ist somit in der Lage, über die Faktizität der Werke und daraus erwachsende Konfrontationen hinaus wahrzunehmen. Vergleichendes Sehen ändert sich mit jedem neuen Blickwinkel auf die Objekte und hält insofern immer neue Einsichten bereit. Wer sich aber darauf einlässt und sich kopfüber in ein solches Abenteuer stürzt, dem verschwimmen schließlich die Ebenen. Denn wer oder was steht hier eigentlich Kopf? Experiment und Imagination
6 André Malraux im Studierzimmer, 1950.
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Endnoten 1 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschen-
kenntnis und Menschenliebe. Erster Versuch, Leipzig/Winterthur 1775, S. 149. 2 Besonders deutlich erscheint dies für Jean Paul, der mit seinem kritischen Eingehen
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auf die klassische Physiognomik letztlich deren Auflösung betreibt. Vgl. Gunnar Och, Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimetisch-gestischen und physiognomischen Ausdrucks im Werk Jean Pauls, Erlangen 1985, sowie Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, Heidelberg 2007, bes. S. 168 – 228. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Teil 1: Du côté de chez Swann, hg. v. Jean-Yves Tadié, Paris 1987, S. 61. – An anderer Stelle gibt der Autor 1920 selbst den Hinweis auf die literarischen Vorbilder für dieses Verfahren, Geschichte und Gegenwart vermittels von außen angeregter Imagination zu verknüpfen, und verweist auf François-René de Chateaubriands Mémoires d‘Outre-Tombe und Gérard de Nervals Filles du Feu, wo ebenfalls durch scheinbar nebensächliche Vorkommnisse Erinnerung, nach Nerval ein »souvenir […] depuis longtemps oublié«, ausgelöst wird. Marcel Proust, À propos du »style« de Flaubert, in: ders., Sur Baudelaire, Flaubert et Morand. Édition établie par Antoine Compagnon, Brüssel 1987, S. 61– 87, hier S. 85 – 87. Aber auch eine solche Konstellation wird von Proust beschrieben, wobei ausgerechnet der Kirchturm von Combray Instrument einer Zusammenschau sonst nicht vereint zu sehender Elemente wird. Denn von diesem Turm aus »on embrasse à la fois des choses que l’on ne peut voir habituellement que l’une sans l’autre«. Proust, À la recherche du temps perdu (Anm. 3), S. 105. Dabei gehe ich von wiederholten Überlegungen aus, in denen ich Aspekte einer Geschichte des Vergleichs und die daraus sich ergebenden Folgen für die Kunstgeschichte skizziert habe: Klaus Niehr, Vom Traum zur Inszenierung. Materialien zu einer Archäologie des kunstgeschichtlichen Vergleichs, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45, 2000, S. 273 – 292; ders., Die perfekte Kathedrale. Imaginationen des monumentalen Mittelalters im französischen 19. Jahrhundert, in: Otto G. Oexle u. a. (Hg.), Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne, 1. Teilbd., Göttingen 2004, S. 163 – 221; ders., Dem Blick aussetzen. Das exponierte Kunstwerk, in: Bernd Carqué u. a. (Hg.), Visualisierung und Imagination. Mittelalterliche Artefakte in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und Moderne, 1. Teilbd., Göttingen 2006, S. 51–102. Vgl. außerdem die Beiträge in: Katharina Krause, Klaus Niehr und Eva-Maria Hanebutt-Benz (Hg.), Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920, Leipzig 2005. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 676 – 680, s. v. Vergleich (G. Schenk/A. Krause). Jean Mabillon, Brièves reflexions sur les Règles de l’histoire. Préface et notes de Blandine Barret-Kriegel, Paris 1990; ders., De re diplomatica libri VI [1681], Paris 1709. Vgl. Gabriele Bickendorf, Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1998, bes. S. 123 –158, sowie jetzt die gegenüber kunsthistorischer Forschung allerdings eigenartig resistente Arbeit von Christian Zwink, Imagination und Repräsentation. Die theoretische Formierung der Historiographie im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich, Tübingen 2006, S. 101–124. Des Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein Werk von der Architektur, in: Victor Fleischer, Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein als Bauherr und Kunstsammler (16111684), Wien/Leipzig 1910, S. 87– 209, hier S. 197ff. Vgl. Thomas Ketelsen, Künstlerviten, Inventare, Kataloge. Drei Studien zur Geschichte der kunsthistorischen Praxis, Ammersbek bei Hamburg 1990, S. 146f. – Vergleiche anzuregen und Kennerschaft zu befördern sollte später dann für die neue Hängung der Gemälde in den Sammlungen von Dresden und Wien ausschlaggebend werden: Gregor J. M. Weber, 1798 in der Königlichen Gemäldegalerie zu Dresden, in: Dresdner Hefte 58, 1999, S. 8 –15; Debora J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780, Mailand 1995. Klaus Niehr
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9 Bernard de Montfaucon, L’Antiquité expliquée et représentée en figures, 10 Bde., Pa-
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ris 1719; ders., Les Monuments de la Monarchie françoise, 6 Bde., Paris 1729. Vgl. Bickendorf, Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung (Anm. 7), bes. S. 159 –178; Zwink, Imagination und Repräsentation (Anm. 7), S. 125 –193. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Zweite, durch einen Nachtrag vermehrte Auflage, München 1973, Bd. 1, S. 218 – 224, § 395 – 404 u. S. 232 – 234, § 422 – 425. Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit geleget wird, Leipzig 1752, S. 127/128. Im weiteren sprachphilosophischen Kontext dann auch J. H. Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Beziehung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein, 2. Bd., Leipzig 1764, S. 201– 214. Vgl. Luigi Cataldi Madonna, Die Sprachauffassung Lamberts: Zwischen Charakteristik und Metaphorisierung, in: Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik und der Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin/New York 2005, S. 221– 242. Vgl. Pabst, Fiktionen des inneren Menschen (Anm. 2). Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 17, hg. v. Charlotte Jolles, München 1963, S. 473. Zu diesen und ähnlichen Vergleichen in neuzeitlichen Reiseberichten: Tilmann Fischer, Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830 –1870), Berlin 2004, S. 290 – 293. Vgl. Enrico Castelnuovo, La »cathédrale de poche«: enluminure et vitrail à la lumière de l’historiographie du 19e siècle, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 40, 1983, S. 91– 93. Victor Hugo, Notre-Dame de Paris 1482. Les Travailleurs de la mer. Textes établis, présentés et annotés par Jacques Seebacher et Yves Gohin, Paris 1975, S. 174 –188. Vgl. Ségolène Le Men, La Cathédrale illustrée de Hugo à Monet. Regard romantique et modernité, Paris 1998, hier bes. S. 19 – 32. Émile Mâle, L’art religieux du XIIIe siècle en France. Étude sur l’iconographie du moyen âge et sur ses sources d’inspiration. Nouvelle édition, revue et corrigée, Paris 1902, S. 433. Vgl. Stephanie A. Moore, »Bâtir un livre«. The Architectural Poetics of À la recherche du temps perdu, in: Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans (Hg.), Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999, S. 188 – 203. Vgl. Sergio Moravia, The Capture of the Invisible. For a (Pre)History of Psychology in Eighteenth-Century France, in: Journal of the History of Behavioral Sciences 19, 1983, S. 370 – 378; Barbara Maria Stafford, From »Brilliant Ideas« to »Fitfull Thoughts«: Conjecturing the Unseen in Late Eighteenth-Century Art, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 48, 1985, S. 329 – 363, sowie dies., Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge (Mass.)/London 1991. Vgl. Eric Rothstein, »Ideal Presence« and the »Non-Finito« in Eighteenth-Century Aesthetics, in: Eighteenth-Century Studies 9, 1976, S. 207– 332. Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 3, Paris 1753, S. 744 –749. Ebd., Bd. 8, 1761, S. 560 – 564, s. v. Imagination, Imaginer, hier S. 561. Vgl. Zwink, Imagination und Repräsentation (Anm. 7), S. 71–74. Georges-Louis Leclerc de Buffon, De la manière d’étudier et de traiter l’histoire naturelle, in: ders., Histoire naturelle générale et particulière […], Bd. 1, Paris 1749, S. 51. Die Schlüsselbegriffe heißen hier »combiner«, »généraliser«, »saisir les rapports éloignés« und »rassembler«. Anne-Claude-Philippe Comte de Caylus, Recueil d’antiquités Égyptiennes, Étrusques, Grecques et Romaines, 7 Bde., Paris 1752 –1767, hier Bd. 1, Avertissement, S. III. Buffon, Histoire naturelle (Anm. 22), S. 25; dann auch Georges Cuvier, Discours sur les révolutions de la surface du globe et sur les changemens qu’elles ont produits dans le règne animal, Paris 1826, S. 51: »[…] nous devons suppléer au défaut de la théorie par Experiment und Imagination
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le moyen de l’observation; elle nous sert à établir des lois empyriques qui deviennent presque aussi certaines que les lois rationelles, quand elles reposent sur des observations assez répétées […]«. Vgl. Arnaldo Momigliano, Ancient History and the Antiquarian, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13, 1950, S. 285 – 315; Peter Burke, Images as Evidence in Seventeenth-Century Europe, in: Journal of the History of Ideas 64, 2003, S. 273 – 296; Francis Haskell, History and Its Images. Art and the Interpretation of the Past, New Haven/London 1993, passim, bes. S. 131–144. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 33 – 47, s. v. Evidentia, Evidenz (A. Kemmann). – Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass die seit alters her behauptete Überlegenheit des Sehens und das Einsetzen von Augenzeugenschaft als neue wissenschaftliche Qualität sich weniger als Beschreibung von Realität denn als rhetorisches Mittel herausstellt, mit dem Abgrenzung gesucht und Autorität behauptet wird. Vgl. Lutz Danneberg, Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität, in: ders. u. a. (Hg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800, Berlin/New York 2002, S. 19 – 66, hier bes. S. 22 – 28. Vgl. Caroli Linnæi Genera Plantarum […]. Editio quinta ab auctore reformata et aucta, Stockholm 1754, sowie ders., Philosophia Botanica […], Stockholm/Amsterdam 1751. Buffon hatte die neue Einteilung der Pflanzen kritisiert, weil sie nur mit Hilfe eines Mikroskops zu leisten, eine problemlose Vergleichung und deshalb die kritische Nachprüfbarkeit des Systems unmöglich gemacht würden: Buffon, Histoire naturelle (Anm. 22), Bd. 1, S. 19f. Johann Friedrich Blumenbach stellt dagegen Vor- und Nachteile unterschiedlicher Systeme und damit die individuellen Sehweisen der Dinge nebeneinander, ohne eines gegen das andere auszuspielen. Johann F. Blumenbach, Handbuch der Naturgeschichte, 2. Theil, Göttingen 1780, S. 472. Buffon, Histoire naturelle (Anm. 22), Bd. 2, S. 1–17 (Comparaison des Animaux et des Végétaux). Vgl. Thierry Hoquet, Logique de la comparaison et physique de la génération chez Buffon, in: Dix-huitième Siècle 39, 2007, S. 595 – 612. Dennoch gab es wenigstens ein Unternehmen, das mit Hilfe einer Serie von Autopsien den historischen Stellenwert von Kunstwerken bestimmte. Auf Geheiß Colberts besuchen zwischen Juli und September 1678 Mitglieder der Académie royale d’architecture Gebäude im Umkreis von Paris, um über deren Steinmaterial und Zustand zu berichten. Dabei geben sie anhand einer einfachen Begriffsskala auch Urteile über das Alter der in Relation zueinander gesetzten Bauten ab: Léon de Laborde, Rapport de l’Académie royale d’architecture sur la provenance et la qualité des pierres employées dans les anciens édifices de Paris et de ses environs, demandé en l’année 1678 par Colbert surintendant des bâtiments, in: Revue générale de l’architecture et des travaux publiques 10, 1852, Sp. 194 – 242, 273 – 293 u. 321– 344. Vgl. Stefan Germer, Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV, München 1997, S. 403 – 410. Für derartige Bedingtheiten der Abbildungen im Werk Buffons jetzt Benoît de Baere, Représentation et visualisation dans l’Histoire naturelle de Buffon, in: Dix-huitième Siècle 39, 2007, S. 613 – 638, hier bes. S. 617f. Pierre Belon, L’histoire de la nature des oyseaux, Paris 1555, S. 40 u. 41. Giambattista della Porta, Menschliche Physiognomy […], Frankfurt a. M. 1601, S. 125; entsprechend in der lateinischen Ausgabe: De humana physiognomonia Ioannis Baptistae Portae Neapolitani libri IIII […], Hannover 1593, S. 110. Vgl. jetzt Dietmar Schmidt, Die Physiognomie der Tiere. Animalische Gestalt und Menschenkenntnis bei Giambattista della Porta, Johann Caspar Lavater und Daniel Lee, in: Norbert O. Eke und Eva Geulen (Hg.), Tiere, Texte, Spuren (Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zu Bd. 126), Berlin 2007, S. 273 – 303, hier S. 286 – 291.
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34 Vgl. Heinrich Dilly, Lichtbildprojektion – Prothese der Kunstbetrachtung, in: Irene Be-
low (Hg.), Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 153 –172. 35 Arnold Esch, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch
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den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 253, 1991, S. 281– 312. Für ein in dieser Hinsicht prominentes und aussagekräftiges Beispiel der abendländischen Kunst siehe Klaus Niehr, Mode und Vorbild. Die heilige Elisabeth im Bild, in: Gerhard Aumüller u. a. (Hg.), Der Dienst am Kranken. Krankenversorgung zwischen Caritas, Medizin und Ökonomie vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Geschichte und Entwicklung der Krankenversorgung im sozioökonomischen Wandel, Marburg 2007, S. 1– 52. Opera Hrosvite illustris virginis et monialis germane gente Saxonica orte nuper a Conrade Celte inventa, Nürnberg 1501. Vgl. Heinrich Grimm, Des Conradus Celtis editio princeps der »Opera Hrosvite« von 1501 und Albrecht Dürers Anteil daran, in: Philobiblon 18, 1974, S. 3 – 25, sowie auch Ruth Finckh und Gerhard Diehl, Monialis nostra. Hrosvit von Gandersheim als kulturelle Leitfigur in der Frühen Neuzeit, in: Nine Miedema und Rudolf Suntrup (Hg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 53 –72, hier S. 57f. Renate Liebenwein-Krämer, Säkularisierung und Sakralisierung. Studien zur Metamorphose christlicher Bildformen im 19. Jahrhundert, Diss. Frankfurt a. M. 1974; Donat de Chapeaurouge, Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive, Wiesbaden 1974; Werner Busch, Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfolge, Hildesheim u. a. 1977. Daniela Mondini, Mittelalter im Bild. Séroux d’Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800, Zürich 2005, S. 261– 298. Zur Vorgeschichte solcher Reihen und ihrer Bedeutung in naturwissenschaftlichen Illustrationen des 19. Jahrhunderts jetzt auch Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874, Frankfurt a. M. 2007, S. 175 – 239. Vgl. hierzu Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1978, S. 16 – 20. Georges Léopold Cuvier, Le Règne animal distribué d’après son organisation pour servir de base à l’histoire naturelle des animaux et d’introduction à l’anatomie comparée, Bd. 1, Paris 1817, S. 3 u. 7. Vgl. Philippe Hamon, Imageries. Littérature et image au XIXe siècle, Paris 2001, sowie zuletzt: Gestochen scharf! Die Kunst zu reproduzieren, Heidelberg 2007 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Zeppelin-Museum Friedrichshafen 2007/2008]. Ivan Lermolieff, Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien Borghese und Doria Pamphili in Rom, Leipzig 1890, S. 97 –104 (hier speziell zur individuellen Gestaltung von Händen und Ohren bei einzelnen Künstlern). Encyclopédie (Anm. 20), Bd. 1 (1751), S. XXXIXf. Vgl. Anthony J. Hamber, The photography of the visual arts, 1839 –1880, in: Visual resources 5, 1988/89, S. 289 – 319; 6, 1989/90, S. 19 – 41, 165 –179 u. 219 – 241; ders., »A higher branch of the art«: Photographing the fine arts in England, 1839 –1880, London/Amsterdam 1996. Zur daraus sich ergebenden Praxis siehe nur die beiden paradigmatischen Studien: Lauren M. O’Connell, Viollet-le-Duc on Drawing, Photography and the ›Space Outside the Frame‹, in: History of Photography 22, 1998, S. 139 –146; Stefanie Klamm, Bilder im Wandel. Der Berliner Archäologe Reinhard Kekulé von Stradonitz und die Konkurrenz von Zeichnung und Fotografie, in: Jahrbuch der Berliner Museen N. F. 49, 2007, S. 115 –126, sowie jetzt die Beiträge in: Katharina Krause und Klaus Niehr (Hg.), Kunstwerk – Abbild – Buch. Das illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, München/Berlin 2007.
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Endnoten/Abbildungsnachweis 46 Vgl. Le Musée de sculpture comparée. Naissance de l’histoire de l’art moderne, Paris
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2001; Françoise Bercé, Le musée de sculpture comparée de Viollet-le-Duc à Enlart, in: Le musée des monuments français. Cité de l’architecture et du Patrimoine, Paris 2007, S. 57– 89 u. 186 –189. Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle, Bd. 8, 1866, S. 152f. – Derartige, auf den ersten Blick Erstaunen auslösende Gegenüberstellungen, hatten sich in der Wissenschaft gleichwohl längst als geeignetes Mittel erwiesen, sehr dezidierte Stellungnahmen abzugeben. Erinnert sei nur an Leopoldo Cicognara, der auf diese Weise die Kunst Berninis zu charakterisieren suchte. Indem er unter anderem dessen Cathedra Petri mit dem Jupiter des Phidias aus Olympia nach der Beschreibung des Pausanias verglich, konnte er die grandiose Erfindung des 17. Jahrhunderts würdigen, der es allerdings – das würde dabei ebenfalls deutlich – an grazia und gusto fehle. Vgl. Leopoldo Cicognara, Storia della scultura dal suo Risorgimento in Italia fino al secolo di Canova [2. Aufl., Prato 1824], Bassano del Grappa 2007, Bd. 6, S. 139 –141 mit Taf. 48. Jean Laran, Recherches sur les proportions dans la statuaire française au XIIe siècle d’après les moulages du Musée de sculpture comparée, in: Revue archéologique 9, 1907 (I), S. 436 – 459; 11, 1908 (I), S. 331– 358; 14, 1909, S. 75 – 93 u. 216 – 249. Die in diesen Artikeln zitierte Literatur macht deutlich, dass Laran sich für seine Forschungen unter anderem durch die sog. Bertillonage, die in der Verbrechensbekämpfung eingesetzte anthropometrische Bestimmung von Individuen, anregen ließ. Festschrift zur Feier des 500 jährigen Bestehens der Universität Leipzig, hg. v. Rektor und Senat, Bd. 4, Teil 1, Leipzig 1909, S. 172 –176. Vgl. Robert Trautwein, Geschichte der Kunstbetrachtung. Von der Norm zur Freiheit des Blicks, Köln 1997, S. 313 – 317. André Malraux, Écrits sur l’art, Bd. 1 (Œuvres complètes, 4), hg. v. Jean-Yves Tadié, Paris 2004, S. 465.
Abbildungsnachweis 1 Giacomo della Porta, Menschliche Physiognomy […], Frankfurt a. M. 1601. 2 Opera Hrosvite illustris virginis et monialis germane gente Saxonica orte nuper a Con-
rade Celte inventa, Nürnberg 1501: Hroswitha übergibt Kaiser Otto I. ihre Werke. 3 Opera Hrosvite illustris virginis et monialis germane gente Saxonica orte nuper a Con-
rade Celte inventa, Nürnberg 1501: Conrad Celtis übergibt Friedrich dem Weisen seine Hroswitha-Ausgabe. 4 Ivan Lermollieff [Giovanni Morelli], Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien Borghese und Doria Pamphili in Rom, Leipzig 1890, S. 98/99. 5 Hörsaal des Kunsthistorischen Instituts der Universität Leipzig, 1909. Aus: Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig, hg. v. Rektor und Senat, Bd. 4, 1. Teil, Leipzig 1909, Taf. X. 6 André Malraux bei der Vorbereitung zu seinem Buch Les Voix du Silence, 1950 (Foto: Mediathek Kunstgeschichte an der Universität Osnabrück).
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Guck doch… Kant zum Beispiel. Ästhetik als Übung im vergleichenden Sehen Mladen Gladić | Falk Wolf »Übung im vergleichenden Sehen: […] Die Übung dient der Schulung des visuellen Wahrnehmungsvermögens […]. Aus den Eindrücken des Sehens werden die kunsthistorischen Kriterien entwickelt.«1 »Kunsthistorische Begriffe werden am konkreten Beispiel vorgestellt, Techniken der Beschreibung und Analyse (vergleichendes Sehen!) werden eingeübt.«2 »Die Fähigkeit zum vergleichenden Sehen ist ebenso wie eine möglichst große Denkmälerkenntnis Grundvoraussetzung für die Arbeit des Kunsthistorikers. Während Denkmälerkenntnis praktisch nur im engagierten Selbststudium erworben wird, ist der Königsweg des Vergleichens auch eine Frage der Übung im sprachlichen Umgang mit dem Gesehenen. Dies wirkt sich wiederum auf das visuelle Gedächtnis aus.«3 »Wahlweise durch eine mündliche oder schriftliche Prüfung sind außerdem (im Haupt- und Nebenfach gleichermaßen) ein Überblick über die nachantike Kunstgeschichte, Kenntnisse über Aufbau und Methodik des Faches sowie Vertrautheit mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln (Bibliographien), vor allem auch die Fähigkeit zum vergleichenden Sehen, Beschreiben und Analysieren von Kunstwerken nachzuweisen.«4 I
Einige Beispiele für den Ort des vergleichenden Sehens in den Vorlesungsverzeichnissen, Curricula und Studienordnungen deutscher Hochschulen um 2000: »Schulung des visuellen Wahrnehmungsvermögens«, der »Königsweg« der Kunstgeschichte, denn: Übung macht den Meister. Auch eine Frage der Übung ist der »sprachliche Umgang mit dem Gesehenen«: Aus den im geschulten Wahrnehmen gewonnenen Eindrücken des Sehens sind Kriterien zu entwickeln, kunsthistorische Begriffe, Techniken der Beschreibung und der Analyse, deren Beherrschung gleichsam immer »am konkreten Beispiel« vorzuführen ist. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Ein Ort, und vielleicht der privilegierte Ort des Vergleichs kann im Seminar- und Übungsraum der Hochschule lokalisiert werden, dort wo eben jene ›Übungen im vergleichenden Sehen‹ stattfinden. Diesen Ort hat zu passieren, wer Meisterschaft in der Disziplin erlangen will, zumindest auf dem Papier, in Form eines Abschlusszeugnisses. So schreiben es die Prüfungsordnungen vor, jene internen Regulierungen und das a priori, nach welchen »Studenten-, Dozenten- und Professorenreden Gültigkeit erlangen, konzipiert, verwaltet und angewandt« werden.5 Das Erlernen und Nachweisen der eigenen Diskursfähigkeit, d. h. der Möglichkeit, selbst einmal vergleichendes Sehen zu lehren und Studierende hierin zu schulen, muss vor Ort vonstatten gehen, womit der wesentliche Unterschied zur »Denkmälerkenntnis« benannt ist, die Sache eines »engagierten Selbststudiums« ist. Da es sich bei den Elementen des Wissenschaftssystems um Publikationen handelt,6 ist es aber auch die kunsthistorische Fach- und Paraliteratur, die sich des Themas des Vergleichs annimmt, als Methode sowohl angewandt wie auch reflektiert und der Leserin bzw. Betrachterin zur eigenen Übung anempfohlen. Dies gilt nicht nur für Heinrich Wölfflins berühmte Kunstgeschichtliche Grundbegriffe,7 sondern auch für Popularisierungen des Themas, wie Paul Brandts einige Jahre früher mit explizitem Dank an Wölfflin erschienenes Sehen und Erkennen, das eine Anleitung zu vergleichender Kunstbetrachtung verspricht und bis 1968 in 13 Auflagen und über 150.000 Exemplaren veröffentlicht wurde.8 Vergleichbar an Wölfflins Stilanalyse auf der Suche nach »allgemeinsten Darstellungsformen« und Brandts Anleitung ist dabei das Vertrauen in die Kraft des Vergleichs als Übung und Ausübung, wie auch in seine Vermittelbarkeit in Buchform. Der »disziplinäre[ ] Imperativ des vergleichenden Sehens«9 ist deshalb auch außerhalb des Übungsraums zu vernehmen und wird somit auch jenseits seiner ›Urszene‹ beobachtbar.10 Brandt knüpft den kunsthistorischen Vergleich an ein Versprechen von Unmittelbarkeit: »Der Vergleich sagt viel ohne Worte, er macht auch den Stummen beredt.«11 Er bewegt sich demnach auf einer rein visuellen Ebene: In der bloßen Kombination der richtigen Bilder stellt sich etwas ein, das die paradoxe Qualität einer stummen Rede hat und somit das diskursive Phantasma unmittelbarer Kommunikation beerbt.12 Doch Brandt nimmt eben jenes Unmittelbarkeitsversprechen im gleichen Zuge wieder zurück und markiert damit diejenigen medialen Voraussetzungen, Mladen Gladić | Falk Wolf
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die sonst nur an der Kontingenz der jeweiligen Formbildungen erahnbar wären:13 Obwohl der Vergleich immer nur dann, »wenn er unmittelbar aus dem Bilde zu Auge und Herzen spricht, […] seine volle Wirkung zu entfalten« vermag, ist es eine mediale Herrichtung,14 Buchtechnik als Dispositiv der Sichtbarmachung, die hier entscheidend ist: »Daher die freilich mühevolle Anordnung, dass das zu Vergleichende mit einem Blick zu überschauen ist«.15 Unmittelbarkeit der visuellen Ansprache ist hier (nachträglicher) Effekt von ›Mühe‹, die Adressierung von ›Auge und Herz‹ Ergebnis einer ursprünglicheren Vermittlung des Gesehenen.16 Schon Heinrich Merz, Autor des Vorworts zum ersten auf eine Universalkunstgeschichte angelegten Bilderatlas, der Denkmäler der Kunst, sieht 1845 im Vergleich den Kern jedes kunsthistorischen Urteilens und macht deshalb auf die dem Vergleich eigene Rationalität aufmerksam: »Die Vergleichung aber ist die Mutter des Urtheils«.17 Der Vergleich ist nur der erste Anfang eines ›Königswegs‹, auf den ein Urteil erst noch zu folgen hat. Zugleich ist aber das Urteil ohne den Vergleich nicht zu haben, denn dieser ›gebiert‹ das Urteil. Die Spur, die Merz damit, lange vor der disziplinären Ausdifferenzierung der Kunstgeschichte, in Bezug auf das vergleichende Sehen verfolgt, führt daher auch zur Frage nach den medialen Voraussetzungen des kunsthistorischen Urteils. Kann der Vergleich als Medium eines solchen Urteils gedacht werden? Sollte diese Frage positiv beantwortet werden und dem Vergleich somit ein epistemologischer Wert zuerkannt werden, der grundlegend für eine Bildkritik wäre, so bedeutet dies zugleich auch eine Absage an einen »Mythos vom sprechenden Blick«,18 denn Bilder im Vergleich sprechen zu lassen, erfordert eben besagte Mühe der Auswahl von Beispielen und ihrer dem jeweiligen Medium entsprechenden »Anordnung«. Bildkritik bedeutet aber auch die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Urteilen, und somit auch der Bedingung der Möglichkeit von Vergleichen. Die wechselseitige Angewiesenheit von Urteil und vergleichendem Sehen verweist dabei auf die in der philosophischen Ästhetik diskutierte Problematik der Angewiesenheit des Denkens auf sinnliche Anschauung. II
Ästhetik, als diejenige moderne Disziplin, die mit Alexander Gottlieb Baumgartens um die Mitte des 18. Jahrhunderts vollzogener Wende zur sinnlichen Wahrnehmung als analogon rationis19 Guck doch… Kant zum Beispiel
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ihren Anfang nimmt, gerät nicht nur deshalb in den Blick, weil die Rede von einer cognitio sensitiva fortan zur wichtigsten Perspektive der Kunstphilosophie avancieren wird.20 Der Begriff der evidentia, welcher hier zentral ist, ist darüber hinaus Teil einer Tradition, die zwischen resistance to theory und poetologischer Selbstreflexion oszilliert21 und daher genau ins Herz der angesprochenen Problemlage zu führen verspricht. Indem Ästhetik die nun auch sinnlich gewordene Erkenntnis, die aisthesis, mit ihrer jetzt auch begrifflich fassbar gewordenen Qualität ästhetischer Klarheit qua analogia der logischen annähert (bzw. diese auf jene überträgt), stellt sich die Frage nach dem Zusammenspiel von Denken und Anschauung bzw. ihrer gegenseitigen Angewiesenheit aufeinander erstmals als Leitfrage einer philosophischen Disziplin. Wo davon ausgegangen wird, dass nur beide gemeinsam Erkenntnisse versprechen und Denken deshalb immer auf Anschauung angewiesen ist, stellt sich auch die Frage, wie diese auf das Denken bezogen werden kann. Kants erste Ästhetik z. B. stellt diese Frage auch als eine nach der Übung solcher Anwendung: »Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist die Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel […] stehe, oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft, und kann sie auch nicht enthalten.«22 Weil die Logik formal operiert und damit »von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert«, ist sie einerseits auf die Urteilskraft angewiesen, die erst eine Anwendung der allgemeinen Regeln auf das Wahrgenommene leistet. Dies heißt andererseits aber auch, dass die Anwendung der Regel auf einen Gegenstand der Erkenntnis nicht selbst wieder regelhaft vonstatten gehen kann, was für Kant dazu führt, »daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will«.23 Regeln können also gelernt werden, ihre rechtmäßige Anwendung jedoch nicht. So kann z. B. ein Arzt jegliche ›Regel‹ seines Handwerks beherrschen, »in dem Grade«, wie Kant sagt, »daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann«, der aber sein Handwerk zugleich nicht beherrscht, wenn unfähig, angesichts eines gegebenen Symptoms die richtige Diagnose zu stellen und somit sein Wissen auch anzuwenden. Solches Versagen kann Kant Mladen Gladić | Falk Wolf
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zufolge zweierlei Gründe haben: Entweder mangelt es an »natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande)«, so dass, dem Kantschen Beispiel folgend, der Arzt »zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann«. Oder aber, er ist »nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteil abgerichtet worden«, was anders ausgedrückt bedeutet, dass ihm schlicht Praxis oder ›Übung‹ fehlt.24 Üben aber kann sich bzw. abgerichtet werden kann auch der Dumme, und Kant ist hier sehr deutlich, wenn er sagt, dass es Dummheit ist, die sich im »Mangel an Urteilskraft« eigentlich zeige. Sie ist somit weniger Defizienz abstrakten Wissens als fehlende Sicherheit in der konkreten Anwendung des Wissens: Deshalb ist es auch »nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissenschaft, jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen«.25 Allerdings muss man die Rede von einem »nie zu bessernden Mangel« an dieser Stelle einschränken, da es gerade Beispiele richtiger Anwendung einer Regel auf einen Gegenstand sind, die auch demjenigen, dem es an natürlichem Talent mangelt, die Übung oder Abrichtung zukommen lassen können, im rechten Moment richtig zu unter- bzw. zu entscheiden. Als Mittel hierzu ist Übung anhand von Beispielen jedoch ein zweischneidiges Instrument, denn einerseits schärft sie die Urteilskraft: Da sich auch ein talentierter Lehrer nie sicher sein kann, ob der Schüler mehr versteht bzw. mehr verstanden hat als das nur ›Allgemeine‹, ist es ratsam, die richtige Anwendung des Allgemeinen anhand von Beispielen in concreto einzuüben. Andererseits, so Kant, können Beispiele auch beträchtlichen Schaden anrichten, »[d]enn was die Richtigkeit und Präzision der Verstandeseinsicht betrifft, so tun sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen […] und überdem diejenige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln im allgemeinen, und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung […] einzusehen, und sie daher zuletzt mehr wie Formeln, als Grundsätze, zu gebrauchen angewöhnen«.25 Beispiele sind daher nur »der Gängelwagen der Urteilskraft«, eine Gehhilfe, die »derjenige, dem es an natürlichem Talent Guck doch… Kant zum Beispiel
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derselben mangelt, niemals entbehren kann«.26 Zugleich aber, und dies ist der eigentümliche double bind im Gebrauch von Beispielen, schwächen sie jederzeit den Verstand, da man sich mit ihnen auf empirisches Anschauungsmaterial verlässt, welches jedoch in und trotz seiner Beispielhaftigkeit niemals die Allgemeinheit der Regel erreichen kann. Das Verhältnis von anschaulichem Beispiel und allgemeiner Regel spielt somit auf einer Ebene eine Rolle, die nicht nur für Kants kritisches Projekt, sondern auch für eine Bildkritik zentral ist. »Unsere Natur bringt es so mit sich«, schreibt Kant, »daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann […]. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand.«27 Zur Erkenntnis sind nun beide notwendig, denn ohne Sinnlichkeit könnte kein Gegenstand wahrgenommen, ohne Verstand jedoch keiner gedacht werden: »Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«28 Diese Schlussfolgerung – aus der Ablehnung der zeitgenössischen Positionen sowohl des Empirismus als auch des Rationalismus gezogen und Konsequenz aus Baumgartens ›Entdeckung‹ der Rolle der aisthesis – führt zum Postulat der doppelten Notwendigkeit, »seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen)« und »seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)«.29 Da die Sinnlichkeit nicht denken, der Verstand aber nicht anschauen kann, müssen sie sich »vereinigen«, denn nur daraus kann Erkenntnis »entspringen«: 30 »In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letzteren gleichartig sein«. Nur wenn der Begriff auch das enthält, »was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird«, ist die Bedingung der Subsumtion gegeben – und somit auch die Bedingung einer richtigen ›Anwendung‹ von Begriffen selbst.31 Begriffe und die sinnlichen Anschauungen, die diesen korrespondieren, sind aber »ganz ungleichartig«, so dass erstere »niemals in einer Anschauung angetroffen werden« können. Da aber beide wechselseitig bei Strafe von ›Blindheit‹ bzw. ›Leere‹ aufeinander angewiesen sind und Erkenntnis demnach erst durch ihre Inklusion möglich wird, muss nach Kant ein Drittes existieren, eine »vermittelnde Vorstellung«, die gleichzeitig »rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein« soll. Dieses ›Dritte‹ stellt das »transzendentale Schema« dar, welches Mladen Gladić | Falk Wolf
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ein Produkt der Einbildungskraft ist. Es ist dieses Schema, das die Anwendung von Begriffen auf Anschauungen erst möglich macht und damit »einem Begriff sein Bild zu verschaffen« erlaubt.32 So kann beispielsweise dem »Begriffe von einem Triangel überhaupt gar kein Bild desselben jemals adäquat sein«. Wie das Beispiel nicht die Allgemeinheit der Regel, so kann auch das Bild »die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche bewirkt, dass dieser für alle, recht- und schiefwinklichte etc. gilt«. Beispiel wie Bild sind demzufolge »immer nur auf einen Teil der Sphäre eingeschränkt«, die der Begriff in seiner Allgemeinheit bezeichnet: 33 Da es eine potentiell unendliche Zahl von Dreiecken gibt, welche alle unter den Begriff und somit die allgemeine Konstruktionsregel des Dreiecks fallen, kann das Bild, die gegenständliche geometrische Konstruktion eines Dreiecks, eigentlich nie mehr sein als ein Beispiel für die regelgerechte Konstruktion eines Dreiecks. Was aber für den Fall mathematischer Konstruktion gilt, gilt in noch stärkerem Maße für einen Gegenstand der Erfahrung oder dessen Bild, denn dieser erreicht noch »viel weniger«, so Kant, »jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft, als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung, gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe«. Das Beispiel hier ist ein Hund, dessen Begriff diejenige Regel bedeutet, »nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine besondere Gestalt, die mir die Erfahrung bietet, eingeschränkt zu sein«.34 Das Schema des Hundes »verzeichnet« eine beliebig große Zahl von Hunden allgemein, was es insofern vom Bild unterscheidet, als dass dieses, wie es Martin Heidegger ausdrückt, gerade »die Beliebigkeit verabschiedet« hat, die dem Schema eigen ist. Auf diese Weise ist das Bild jedoch »ein mögliches Beispiel für das Eine, das die vielgültige Beliebigkeit als solche regelt«, 35 d. h. für den Begriff geworden. Das so verstandene Bild hält demnach die Regel bzw. den Begriff »in die Sphäre möglicher Anschaulichkeit«36 hinein. Erst dieser Möglichkeitscharakter bzw. diese Beispielhaftigkeit des Bildes verhindert seine Verwechslung mit dem eigentlichen Begriff und somit ein vitium subreptionis. Dass das Schema vom Bild unterschieden ist, bedeutet jedoch nicht, dass es jeglicher Anschaulichkeit entbehren würde. Vielmehr ist ihm ein poetischer, oder besser poietischer Zug eigen, denn, so Kant, wir »können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben«.37 Guck doch… Kant zum Beispiel
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Als »Vollzugsform der beschreibenden Bewegung«38 jedoch ist Schematisieren ein ›Ausüben‹, welches sich, als richtige Anwendung eines Begriffs auf eine Anschauung (und vice versa), genauso wenig beobachten lässt, wie es zu entscheiden ist, ob in der richtigen Anwendung einer Regel Übung am Werke ist oder Talent. Schematisieren hat, wie Friedrich Kaulbach bemerkt, »den Charakter der ›Energeia‹ (Aristoteles), des Verwirklichens«,39 und muss damit am durch seinen Vollzug erst aktualisierten Bild bemessen werden, welches es »vorzeichnet« (Heidegger). Das Bild erhält damit einen doppelten Beispielcharakter, nämlich als Beispiel für die Regel und als Beispiel eines Vollzugs dieser Regel. III
Kants zweite Ästhetik nimmt die geschilderte Argumentation bezüglich der Frage der Darstellung wieder auf, führt aber neben den Darstellungsformen des ›Beispiels‹, wie es nun im Bezug auf empirische Begriffe heißt, und des ›Schemas‹, für den Fall der Kategorien den Sonderfall der symbolischen Darstellung oder Hypotypose an. Damit auch sie nicht »leer« bleiben, müssen »Ideen«, die nur die Vernunft denken kann und denen »schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann«,40 auf symbolische Art und Weise versinnlicht werden. So wird nach Kant etwa »ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch« dargestellt, »denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren«.41 Die Urteilskraft, so beschreibt Kant hier das Verfahren, verrichtet dabei »ein doppeltes Geschäft«, nämlich erstens »den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden«.42 Anders als mit bloßen Charakterismen – mit denen das Symbol nach Kant aufgrund neuerer Sprachregelungen fälschlich verwechselt wird, denn diese enthalten als »begleitende sinnliche Zeichen […] gar nichts zu der Anschauung des Objekts Gehöriges« –, teilt das Symbol mit Beispiel und Schema die Qualität des »Intuitiven der Erkenntnis«.43 Alle drei sind durch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von ihnen – im Vollzug des Schematisierens – Mladen Gladić | Falk Wolf
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Dargestellten verbunden, wobei sich eine scheinbar absteigende Skala solcher Ähnlichkeit vom bloßen Beispiel über das Schema hin zum Symbol ergibt. Die Ähnlichkeit des Symbols mit dem von ihm Vorgestellten ist dabei nicht mimetisch gewährleistet, sondern durch eine Analogie. Die »bloße Regel der Reflexion« ist dabei einer anderen Anschauung gewissermaßen abgeschaut. Wenn es diesem »radikal antimimetischen Zug in der Dar44 stellung« geschuldet ist, dass Beispiel und Symbol45 diametral entgegengesetzte Pole besetzen, so ist es gerade die analogische Struktur des Symbols, die beide wieder beträchtlich annähert. Die symbolische Hypotypose nämlich ist, »rhetorisch gelesen, der metapherntheoretische Fall des Vor-Augen-Stellens«.46 Als solcher ›Fall‹ beerbt Kants Konzeption symbolischer Darstellung die Aristotelische Konzeption der energeia, der lebhaften Darstellung von Unbelebtem oder Abwesendem durch die Metapher.47 War schon ›einfaches‹ Schematisieren, das »vorzeichnende« bild- und beispielgebende Verfahren der Einbildungskraft, als energetische Verwirklichung, als Evidenzrhetorik reformulierbar, ist Symbolisierung als ›Nachleben‹ der aristotelischen funktionalen Bestimmung der Analogmetapher noch deutlicher als rhetorische Operation markiert. Weder das Symbol, das einen Begriff, dem definitionsgemäß keine Anschauung beigegeben werden kann, »indirekt«48 versinnlicht, noch seine rhetorikgeschichtliche Quelle nun passen sich aber ohne weiteres in die Problematik einer Subsumtion eines Besonderen unter ein Allgemeines ein, wie sie von Anfang an Kants Rede von Regel und Beispiel, Begriff und Anschauung beherrscht. Auch wenn das Symbol vom Schema abhängt, da es auf dem Ergebnis eines vormaligen Schematisierens aufbaut,49 das nur übertragen wird, ist zu betonen, dass hier eine »indirekte« Anschauung im ›Vergleich‹ mit einer anderen Anschauung gewonnen wird, und nicht etwa mit einem Begriff. Dies gilt jedoch nach dem bis hierhin gesagten wider Erwarten allerdings auch vom Beispiel in seiner rhetorikgeschichtlichen Konzeption bei Aristoteles als parádeigma, 50 welches »sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie das Ganze zu einem Teil, oder das Ganze zum Ganzen, sondern wie ein Teil zu einem Teil, Ähnliches zu Ähnlichem«51 verhält. Das Beispiel auf diese Weise zu definieren, heißt auch, nicht von der Vorgängigkeit einer Gattung auszugehen, auf die es sich wie eine Art bezöge, sondern jedes Beispiel immer nur an anderen Beispielen zu messen. Gattungszugehörigkeit, und auch -identität, werden zu einer Frage derjenigen Operationen, nach denen sich Guck doch… Kant zum Beispiel
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Ähnliches an Ähnliches anschließen lässt, oder anders gesagt: Die Frage des Beispiels als Frage danach, ob das jeweilige Beispiel unter die gleiche Gattung oder Regel ›fällt‹, bzw. subsumiert werden kann, ist eine Frage der Verknüpfungsregel von Beispielen selbst und nicht auf eine vorgängig gegebene Regel bezogen, da erst das Beispiel die Gattung bzw. den Begriff ›aktualisiert‹ (actualitas ist die lateinische Übersetzung des griechischen energeia52). Aktualisiert werden kann jedoch auch der regelgeleitete Vollzug des Schemas nur im Beispiel. Dass etwas als Beispiel für etwas anderes gelten kann, ist daher als (rhetorische) Operation oder Praxis der Übertragung, des metaphorein, zu verstehen, die zwar die Inklusion des jeweiligen Beispiels unter eine »Gattung« bzw. Menge leistet – so ist Aristoteles’ Versuch einer Kontrolle des jeweils adäquaten Beispielgebens (»wenn beides unter eine Gattung fällt«53) wohl zu verstehen –, gleichzeitig die Gattung aber erst operativ aktualisiert. Die analoge Funktion von Beispiel und Symbol bei Kant besteht darin, dass hier eine Ähnlichkeit auf phänomenaler Ebene, dort aber eine Ähnlichkeit qua Analogie, die erst »unterlegt«54 werden muss, ›behauptet‹ wird. In beiden Fällen geht es jedoch keinesfalls um die Beziehung einer Anschauung zu einem Begriff. Vielmehr ist entscheidend, dass die richtigen Kriterien der Vergleichbarkeit mit anderen Beispielen formuliert werden, hier im Rückgriff auf phänomenale, dort auf analoge und das heißt in beiden Fällen eminent ›vergleichbare‹ Eigenschaften. IV
Die Frage, wie das richtige Beispiel zu finden ist, wie der richtige Vergleich anzustellen ist, stellt sich, wie gesagt, als Frage nach dem metaphorein, der Übertragungsleistung im Vergleichen. Üblicherweise werden Metapher und Vergleich zwar derart in Beziehung gesetzt, dass die Metapher als verkürzter Vergleich gesehen wird,55 der Mehrwert oder die größere Klarheit des Vergleichs erschöpft sich jedoch meist in der schieren Behauptung eines ›wie‹, einer Vergleichbarkeit. Das tertium, das in der Metapher »programmatisch ungesagt bleibt«, 56 scheint auch hier meist nicht offen zutage zu liegen. Auch die Operation des Schematisierens, die Kant nicht umsonst als »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele« bezeichnet, »deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden,«57 ist gerade in ihrer betont hermetischen Charakterisierung Mladen Gladić | Falk Wolf
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als ›verborgene Kunst‹ dadurch markiert, dass eine letzte Klarheit, eine letzte Evidenz hier nicht zu erreichen ist. Metapher, Vergleich und Schema sind so gesehen Übertragungsleistungen, wobei in allen Fällen der Vollzug dieser Übertragung dunkel, wenn nicht unbeobachtbar bleibt. So wie sich bereits das Schematisieren nur im Vollzug, in der konkreten Operation des Beispielgebens, manifestiert und daher nur über Bilder adressierbar wird (s. o. Teil II), manifestiert sich auch das vergleichende Sehen nur als Beispiel des vergleichenden Sehens. Beispiele gelungener Übung und Schulung im vergleichenden Sehen sind also gefordert, ›Erzählungen‹ solcher gelungener Schulung, die als Beispiele evident machen können, woraus eine solche bestehen könnte: Erzählungen auch deshalb, weil das Beispiel zwar mit dem Begriff des Paradigmas den metonymischen Charakter des ›daneben‹ oder ›bei‹ und mit dem des Exemplums die Qualität eines ›Heraus-Genommenen‹ teilt, also Qualitäten, die das Vorangegangene zumindest angeschnitten hat. Das Wort verweist in der zweiten Silbe jedoch keineswegs auf Deixis – und noch weniger auf unseren Begriff des Spiels – sondern vielmehr auf das mittelhochdeutsche ›spel‹, also Erzählung.58 Die Annahme von Talent, das sich dort zeige, wo unmittelbar zu ›Auge und Herz‹ gesprochen wird, kann hier nicht befriedigen, denn damit wird zwar der Geheimnischarakter des Vollzugs dahingehend negiert, dass eine problemlose Evidenz behauptet wird, über den Vergleich jedoch nichts ausgesagt, zumal Kants Antinomie von Dummheit und Talent angesichts der Notwendigkeit des Beispielgebens als gleichzeitiges Üben und Ausüben hier nicht mehr in Frage kommt. Ein zweiter Unsagbarkeitstopos59 jedoch, die Rede von einer ›verborgenen Kunst‹, wäre nur die Kehrseite, die den Vergleich als wissenschaftsförmige Version ästhetischer Ideologie zementieren würde. Man muss sich mehr Mühe geben, darauf verweist schon Brandts Einschränkung des Postulats reibungsloser Kommunikabilität. Wenn man das ›Geheimnis‹ von Schematismus und Vergleich ernst nimmt, muss man ›gucken‹, Ausschau halten nach anderen vergleichbar geheimnisvollen Figuren. Vielleicht kann man so, qua Analogie, Licht ins Dunkle des Vergleichs bringen. Eine solche Figur ist z. B. die Hieroglyphe, deren Faszinationsgeschichte von den Polen Hermetik und Unmittelbarkeit ähnlich heimgesucht wird, wie die jüngere Geschichte des nicht nur kunsthistorischen Vergleichs. Interessanterweise verbindet Carl Schnaase, einer der Guck doch… Kant zum Beispiel
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Gründerväter der modernen Kunstgeschichte, seine Interpretation der Hieroglyphe mit einem phylogenetisch gewendeten Bildungsnarrativ, das vielleicht Aufschluss auch über das Bildungsprogramm ›Übung im vergleichenden Sehen‹ geben könnte: »Die Neigung, ein Bild an die Stelle der Sache zu setzen, lieber zu sehen als zu denken, abstracte Begriffe mit sinnlichen Vorstellungen zu vertauschen, verräth eine jugendliche frische Phantasie. Wir finden sie daher auch meist bei jungen Menschen und bei Völkern in der frühen Zeit ihrer Bildung. Dieselbe Beweglichkeit der Phantasie aber, welche ihr das Bild an die Stelle des Begriffes zuführte, wird auch in der Regel die Ursache sein, dass es bald wieder verschwindet. Das Bild erinnert uns an den Gegenstand, an seine Eigenschaften und Beziehungen, und führt uns daher auf Vergleichungen und Beobachtungen, die uns zu neuen Bildern hinziehen. Es entsteht der Prozess der Anreihung metaphorischer Vorstellungen […].«60 Nach Schnaase löst die Betrachtung von Bildern – vor allem bei jungen Menschen und im Anfangsstadium von Nationenbildung – unabweislich einen Prozess von Vergleichen und Assoziationen aus. Die Beweglichkeit solcher jugendlicher Fantasie ist es, die das eine Bild, das man ursprünglich für einen Begriff bzw. an dessen Stelle ›hält‹, immer wieder zum Verschwinden bringt, da jedes Bild Vergleiche mit anderen nach sich zieht, Assoziationen auslöst und solche auf andere Bilder bezieht, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Für Schnaase kann es daher, zumindest in diesem sowohl onto- als auch phylogenetisch verstandenen Stadium, nicht das eine Bild geben, denn irgendetwas an diesem wird letztendlich als Beispiel für ein anderes fungieren, dem sich die Aufmerksamkeit zuwendet und letzteres damit – als Bild – sekundär werden. Der in Gang gesetzte Assoziationsprozess läuft hier gänzlich ungeregelt ab. Interessant an Schnaases Rekonstruktion der Schriftgenese der Ägypter – und das heißt: der Entwicklung vom Bild zum Schriftzeichen – ist dabei die Vorstellung, dass dieser Assoziationsprozess gewissermaßen angehalten, sistiert werden muss, ein Vorgang, der letztendlich aber weder zu einer näheren Beschäftigung mit dem Bild noch mit dem bildlichen Ursprung des Zeichens, geschweige denn seiner Beziehung zu einem allgemeinen Begriff führt, sondern ebenfalls zur Negation seines Charakters als Bild: Mladen Gladić | Falk Wolf
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»Soll nun aber das Bild fixirt, ein bleibendes, schriftliches Symbol für einen Gedanken werden, so setzt dies eine zweite Kraft voraus, welche der vorstellenden Phantasie gleichsam Einhalt thut, ihr nur das erste Bild gestattet. Jede Bilderschrift zeigt daher schon eine eigenthümliche Verbindung von Beweglichkeit und Ruhe. Noch viel auffallender wird aber diese Verbindung, wenn das Bild nur die Stelle eines Buchstabens vertreten soll.«61 Schnaase argumentiert mehr oder weniger auf der Basis der zu seiner Zeit aktuellen ägyptologischen Forschungen. Die Bilder, die viele Hieroglyphen auch sind, oder als die sie zumindest auch ›gesehen‹ werden könnten, müssen demnach nicht nur als Zeichen für Begriffe, sondern eher – wenn nicht für Buchstaben – für Silben angesehen werden. In dieser Phase der als Entwicklungsgeschichte umgedeuteten Faszinations- und Forschungsgeschichte der altägyptischen Schrift, so kann man Schnaases Bemühungen hier wohl verstehen, hat sich der Ägypter soweit entwickelt, d. h. seine Einbildungskraft bzw. Fantasie dermaßen diszipliniert, dass er nicht nur der freien Assoziation Einhalt geboten, sondern schlichtweg dessen Quelle dahingehend unschädlich gemacht hätte, dass er sie gar nicht mehr wahrnimmt: »Aller Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, ja der Vorstellung des Gegenstandes selbst sollen wir uns entschlagen, um nur den Buchstaben festzuhalten, und ein anderes gleichgültiges Wort daraus zu bilden.«62 In Schnaases Rekonstruktion der »Schriftwerdung« der Bilder erkauft sich der Ägypter diese nicht nur mit einer Gleichgültigkeit gegenüber der Ikonizität der Hieroglyphen, sondern auch gegenüber der Welt, und das heißt: ihren Gegenständen selbst. Die »folgsame Verzichtleistung auf alle Regungen der Phantasie«, die Schnaase dem Ägypter hier andichtet, um die Entstehung der Hieroglyphen als Schriftsystem aus dem Erkalten einer ursprünglicheren »Wärme« der jugendlichen Fantasie zu ›erzählen‹, will natürlich nichts von der »dem Signifikanten eigenen Überfülle«63 wissen, doch dies soll hier nicht Schnaases, und auch nicht unser Problem sein. Der zumindest latente Bildcharakter der Hieroglyphen, so wie Schnaase ihn konzipiert, ist den Schrift gewordenen Bildern allerdings grundsätzlich äußerlich, »gleichgültig«, denn als Elemente eines Schriftsystems haben solche Bilder allerhöchstens Anteil an einer grundlegenden Arbitrarität, in der Signifikat und Signifikant unverbunden verbunden sind. Guck doch… Kant zum Beispiel
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Schnaases Ägypter, und die Formulierungen, die hier zu lesen sind, lassen darauf schließen, dass damit auch wir gemeint sind, haben aber nicht nur Anteil an einer allgemeinen Erstarrung oder vielmehr ›Erkaltung‹ der Einbildungskraft. ›Ägyptischer‹ Umgang mit Bildern nach Schnaase impliziert auch, nicht den grundsätzlichen Vergleichscharakter der Bilder als Beispiele zu sehen, sondern diese, in Kants Terminologie, wie pure Charakterismen zu betrachten, d. h. eigentlich: nicht zu betrachten. Schnaases Ägypter hat somit, am Ende seines Bildungswegs, den Anteil der Bilder am ›Intuitiven der Erkenntnis‹ vollends vergessen. Ein solches Vergessen jedoch gefährdet auch den disziplinären, d. h. kunstgeschichtlichen Umgang mit Bildern. Eine bildkritische Perspektive auf den Vergleich müsste gegen ein solches Vergessen anführen, dass auch das Heranziehen eines Beispiels aus dem Fundus der Denkmälerkenntnis eine immer aufs Neue sich beweisende Ausübung des aktiven Vergleichens, ein Beispiel des Vergleichs im strengen Sinne, darstellt. Das Finden des richtigen Beispiels ist so gesehen schon eine Hypotypose, eine auf einem Vergleich basierende Verbindung von Beispielen. So werden im vergleichenden Sehen weder Bilder mit Bildern noch Begriffe mit Begriffen, sondern Vergleiche mit Vergleichen verglichen. Was beim vergleichenden Sehen verglichen wird, sind die Entscheidungen und Assoziationen, die unterschiedlichen Vollzüge der Einbildungskraft, die zur Wahl dieses und nicht jenes Beispiels geführt haben, die theoretischen Annahmen, ideologischen Festlegungen und persönlichen Vorlieben, die Hintergründe, vor denen das Auffinden des Beispiels sich vollzieht. Der Ägypter ist dann auch als Beispiel zu sehen für eine Kunstgeschichte, die ihre Fantasie, ihre Einbildungskraft als Vermögen des Bild- und damit auch Beispielgebens, dahingehend diszipliniert hat, dass sie Bilder nur als Zeichen gebraucht, Zeichen, die sich einer übergeordneten Referenz, sei es nun ein Epochenstil oder die Zuordnung zu einem Autor, einer Schule oder auch einer Technik, unmittelbar, und das heißt auch routinemäßig, unterwerfen.64 Eine solche Kunstgeschichte, so kann man mit Heinz von Foersters Kybernetik zweiter Ordnung behaupten, würde sowohl die Bilder, die sie wissenschaftlich zu untersuchen behauptet, als auch die Studierenden, denen sie pädagogisch Schulung zuteil werden lässt, als Trivialmaschinen65 verstehen und behandeln. Dabei würde sie, wie gesagt, die Tatsache verkennen, dass etwa die Anwendung von Kenntnissen wie der Denkmälerkenntnis eine immer aufs Neue sich beweisende Ausübung Mladen Gladić | Falk Wolf
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des aktiven Vergleichens, ein Beispiel des Vergleichs im strengen Sinne, darstellt. Schnaases emphatische Betonung einer energetischen ›Wärme‹ des Gemüts im Betrachten und Erzeugen von Bildlichkeit allerdings, muss ernst genommen werden, nicht nur weil sie einer anderen Unmittelbarkeitsfiktion zuarbeitet. Denn hier wird gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass es diese ›Wärme‹ ist, die das Bild in seiner Bedeutung auf ganz ähnliche Weise gefährdet, wie Schnaases Ägypter oder derjenige Kunsthistoriker, der letztendlich glaubt, Bilder ließen sich zwanglos unter die – auch historisch jeweils divergierenden – Begriffe der Kunstgeschichte subsumieren. Die Einzigartigkeit eines Bildes zu behaupten, hieße dann auch, sein Potential, mehr zu zeigen als es ist und was es zeigt, gleichsam anderweitig zu disziplinieren und abzurichten. Giorgio Agamben hat in diesem Sinn auf den prekären, aber mächtigen Status des Beispiels aufmerksam gemacht, der auch für das Bild oder, wie Heidegger schreibt, als »Schema-Bild«, im Vergleich gilt: Es entgeht der »Antinomie« von Allgemeinem und Besonderem, denn »einerseits behandelt man jedes Beispiel als Einzelfall, andererseits geht man davon aus, dass es als Besonderes seine Gültigkeit verliert«.66 An Schnaases Ägypter als Beispiel einer Schulung im Umgang mit Bildern, die eine Erfolg versprechende Praxis des vergleichenden Sehens verfehlt, lässt sich zeigen, dass das auch für das vergleichende Sehen gelten sollte: Der Vergleich kann weder Einzelfall sein noch einfach erlernbare allgemeine Regel, weshalb er eigentlich nicht theoretisierbar ist. Eine Theorie des vergleichenden Sehens aus bildkritischer Perspektive aber, verstanden als disziplinäre Selbstreflexion und als praktische Übung im Umgang mit Bildern, kann nicht anders, als Vergleiche zu vergleichen, ihre visuellen Argumentationen genauso wie ihre medialen Voraussetzungen, denn beide sind Teil eben jener ›mühevollen Anordnung‹, die den Vergleich ausmachen. Die Frage also, ob wir den Operationen des Vergleichens z. B. in Form der Dia-Doppelprojektion im Übungsraum, in der kunstgeschichtlichen Anleitung in Buchform oder in der Hängung im Museum begegnen, ist damit eine der Leitfragen einer bildkritischen Theorie und Praxis des Vergleichs. Bildkritik muss – und das ist der ›disziplinäre Imperativ des vergleichenden Sehens‹ – auch diese Fragen vergleichend zu beantworten suchen, indem sie Beispiele für das Vergleichen heranzieht, sich an ihnen übt und somit das Vergleichen selbst übt und ausübt. Guck doch… Kant zum Beispiel
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gische Wissenschaften: Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 2006/07 für das B. A.-Studium Archäologische Wissenschaften sowie für die Master- und Magisterstudiengänge Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte, Bochum 2006, S. 20. Homepage der Strv. IG Kunstgeschichte der Universität Wien. Informationen zum Ablauf der Proseminare 1– 4, unter: http://www.kunstgeschichten.at/index.php? option = com_content&task=view&id=2036&Itemid=33 [09. 08. 2008]. Kunstgeschichtliches Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg: Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 2000, S. 4, unter: http://www.kunstgeschichte. uni-freiburg.de/lehrveranstaltungen/archiv/archiv_vlvz_lang/ss00/view [10. 09. 2007]. Kunsthistorisches Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen: Magister-Studiengang Kunstgeschichte, unter: http://www.uni-tuebingen.de/Kunstgeschichte/html/ Magister%20Studiengang%20Allg%20Informationen.htm [10. 09. 2007]. Friedrich Kittler und Manfred Schneider, Editorial, in: dies. und Samuel Weber, Diskursanalysen, Bd. 2: Institution Universität, Opladen 1990, S. 7–11, hier S. 8. Siehe hierzu Niklas Luhmann, Europäische Rationalität, in: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 51– 92. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915. Paul Brandt, Sehen und Erkennen. Eine Anleitung zu vergleichender Kunstbetrachtung, Leipzig 1911; Magdalena Bushart, Die Oberfläche der Bilder. Paul Brandts vergleichende Kunstgeschichte, in: Kritische Berichte 37/1, 2009, S. 36 – 54. Heinrich Dilly, Einleitung, in: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, S. 7–16, hier S. 12. Wölfflin selbst ist sich der Diskrepanz von Buch und Übungsraum durchaus bewusst: »Man pflegt die ›kunstgeschichtlichen Grundbegriffe‹ als meine originellste Leistung zu betrachten. Ohne Projektion kann ich darüber nicht gut reden.« Heinrich Wölfflin, Rückblick [1944], in: ders., Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Dresden 1983, S. 304 – 314, hier S. 313. Bei aller Differenz zwischen Interaktion unter Anwesenden und ›zerdehnter‹ Kommunikationssituation lassen sich Operationen in den genannten Texten beobachten, die zur Schärfung der Frage nach dem diskursiven Ort des Vergleichs in der Kunstgeschichte als Disziplin beitragen könnten. Für eine medienhistorisch- und theoretisch informierte Wissenschaftsgeschichte lassen sich vielleicht sogar in der buchförmigen Version des Vergleichs auf besserem Wege Aufschlüsse hierzu erzielen. So wenig auch die Rolle des Skioptikons nämlich für die Szene des Vergleichens unter Unterrichtsbedingungen unterschätzt werden darf, so wenig darf von vornherein angenommen werden, dass es allein die Projektion ist, die diese Szene ausmacht. Vielmehr noch wird jede konkrete Unterrichtssituation immer unterschiedlich ausfallen, woraus bereits hervorgeht, dass es den einen Vergleich gar nicht gibt. Brandt, Sehen und Erkennen (Anm. 8), S. V. Siehe hierzu Manfred Schneider, Kommunikationsideale und ihr Recycling, in: Sigrid Weigel (Hg.), Flaschenpost und Postkarte, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 195 – 221. Siehe hierzu Dirk Baecker, Kommunikation im Medium der Information, in: Rudolf Maresch und Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt a. M. 1999, S. 174 –191, hier S. 175. Siehe auch den Beitrag von Stefanie Klamm in diesem Band. Brandt, Sehen und Erkennen (Anm. 8), S. VI. Siehe allgemein hierzu auch Volker Wortmann, Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln 2003. August Voit (Hg.), Denkmäler der Kunst. Zur Übersicht ihres Entwickelungs-Ganges von den ersten künstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart, Erster Abschnitt: Die Kunst auf ihren früheren Entwickelungsstufen, Stuttgart 1845, S. III. Mladen Gladić | Falk Wolf
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18 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frank-
furt a. M 1996, S. 128. 19 Alexander Gottlieb Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Stuttgart 1983, 20
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S. 79. Vgl. zu Baumgarten Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1999; Rüdiger Campe, Bella Evidentia. Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhetik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/2, 2001, S. 243 – 255. Ästhetik als Theorie sinnlicher Wahrnehmung tendiert somit auch meist zu ihrer eigenen Ideologie. Siehe hierzu Campe, Bella Evidentia (Anm. 20), hier S. 243, im Anschluß an Paul de Man: »What we call ideology is precisely the confusion of linguistic with natural reality, of reference with phenomenalism.« Paul de Man, Resistance to Theory, Minneapolis, MN 1986, S. 11. Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, Bd. 2: Kritik der reinen Vernunft, B 172f./A 133f. (im Folgenden zitiert als KrV, B/A.). Ebd., B 173/A 134. Ebd. Dass »Abrichtung« eine Pointe schon der »Disziplin der Ästhetik« bei Baumgarten darstellt, macht Christoph Menkes Parallellektüre mit Foucaults Überwachen und Strafen deutlich. Vgl. Christoph Menke, Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von ›Überwachen und Strafen‹, in: Gertrud Koch, Sylvia Sasse und Ludger Schwarte (Hg.), Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München 2003, S. 109 –121. Kant, KrV (Anm. 22), B 173/A 134. Ebd. Ebd., B 173f./A 134. Ebd., B 75/A 51. Ebd. Ebd., B 75/A 134f. Ebd., B 176/A 137. Ebd., B 179f./A 140. Ebd., B 180/A 141. Ebd. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929, S. 98. Ebd., S. 99. Nach Heidegger kann deshalb etwa »eine Photographie nicht nur das Photographierte« zeigen, sondern auch, »wie eine Photographie überhaupt aussieht«. Ebd., S. 94. Kant, KrV (Anm. 22), B 154. Friedrich Kaulbach, Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des Kantischen Denkens, in: Studium Generale 18, 1965, S. 464 – 479, hier S. 465. Ebd. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, Bd. V: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, S. 237– 607, B 254/A 251. (im Folgenden zitiert als KdU, A/B). Ebd., B 256/A 253. Ebd. Ebd., B 256/A 252. Rüdiger Campe, Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, Stuttgart/Weimar 1997, S. 208 – 225, hier S. 212. Schon Baumgarten jedoch definiert das Beispiel als »die Vorstellung von etwas stärker Bestimmten, die zur Erklärung einer Vorstellung von weniger Bestimmten beigebracht wird«. Alexander Gottlieb Baumgarten, Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, Hamburg 1983, § XXI. Siehe hierzu und insgesamt zur Frage
Guck doch… Kant zum Beispiel
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von Beispiel und Symbolisierung Leander Scholz, Das Symbol als Medium der Einheitsbildung, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/1, 2004, S. 3 –18. Campe, Vor Augen stellen (Anm. 44), S. 211. Der Metapher, die Aristoteles als »Übertragung eines fremden Wortes, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von Art auf Art oder gemäß der Analogie« gleichzeitig definiert und typologisiert, kommt hier vor allem in Form des vierten Typus, der Analogmetapher, die entscheidende Rolle des Vor-AugenStellens zu. Aristoteles, Rhetorik, Stuttgart 1999, 1457b 6; Vgl. Stefan Willer u. a., Zur Systematik des Beispiels, in: Jens Ruchatz u. a. (Hg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007, S. 7– 59. Kant, KdU (Anm. 40), B 256/A 252. Bezeichnenderweise nennt Kant an derselben Stelle »Wörter« wie »Grund (Stütze, Basis), abhängen (von oben gehalten werden)« und einige mehr als symbolische Hypotyposen im Bereich der Sprache, was das hier angesprochene Verhältnis von Rhetorik bzw. Tropologie, Bildlichkeit und Vergleich zu einem allgemeineren Problem ausweitet, und im gleichen Zug jegliche Verwechslung des Gegensatzpaares Begriff/Anschauung mit einem Gegensatz von Sprache und Bild als eindeutig verfehlt markiert. Vgl. ebd., B 257/A 254; s. hierzu auch Paul de Man, The Epistemology of Metaphor, in: Critical Inquiry 5, 1978, S. 12 – 30, hier S. 27f. Vgl. Willer, Beispiel (Anm. 47), S. 9. Aristoteles, Rhetorik (Anm. 47), 1357b. Siehe Campe, Vor Augen stellen (Anm. 44), S. 208. Aristoteles, Rhetorik (Anm. 47), 1357b. Campe, Vor Augen stellen (Anm. 44), S. 212. »Es ist aber auch das Gleichnis eine Metapher; denn der Unterschied zwischen beiden ist nur gering. Wenn man nämlich […] sagt: ›Wie ein Löwe stürzte er auf ihn‹, so ist es ein Gleichnis; sagt man aber: ›Ein Löwe stürzte auf ihn‹, dann ist es eine Metapher, weil beide nämlich tapfer sind, nannte man den Achilleus in übertragenem Sinne einen Löwen.« Aristoteles, Rhetorik (Anm. 47), 1410b 18. Willer, Beispiel (Anm. 47), S. 17. Kant, KrV (Anm. 22), B 181/A 145. Siehe Stefan Willer, Was ist ein Beispiel? Versuch über das Exemplarische, in: Gisela Fehrmann u. a. (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S. 51– 65, hier S. 53. Siehe Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 1993, S. 168 –171. Carl Schnaase, Geschichte der bildenden Künste bei den Alten, 2 Bde., Düsseldorf 1843, Bd. 1: Die Völker des Orients, S. 317f. Ebd. Ebd. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik (Anm. 18), S. 14. Vgl. hierzu jedoch auch Anm. 53. So ist denn auch der wesentliche Unterschied hervorgehoben worden zwischen einem »affektiven« Wahrnehmen des Einzelbildes, das vorwissenschaftlich ist, und einem intellektuellen Wahrnehmen im Vergleichs, das darauf ausgerichtet ist, Bilder »begrifflich zu fassen«.Vgl. Felix Thürlemann, Bild gegen Bild, in: Aleida Assmann, Ulrich Gaier und Gisela Trommsdorff (Hg.), Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S. 163 –174, hier S. 167. Vgl. Heinz von Foerster, Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a. M. 1997, S. 206f. Siehe Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 15.
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II Imagination Michael Bies, Frank W. Stahnisch, Grischka Petri, Susanne Müller-Bechtel, Martin Gaier, Marcel Finke
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Einleitung Martin Gaier
Was mit der Kraft der Einbildung an die Oberfläche unseres Bewusstseins tritt, hat vielfältige Ursachen.1 Wenn die visuelle Wahrnehmung mit im Spiel ist, handelt es sich, bei »gewissen Gegenständen« zumindest, um ein inneres Vergleichen. Goethe beschreibt Schiller am 16. August 1797, wie auf dem »ruhigen kalten Weg des Beobachtens, ja des bloßen Sehens« bei ihm gewisse Gegenstände »eine Art von Sentimentalität« hervorrufen, die diese als »eigentlich symbolisch« ausweisen, indem sie »als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen«.2 Neben der von Kant unterschiedenen reproduktiven und produktiven Einbildungskraft (imaginatio associans bzw. plastica) führt die reflexiv-ästhetische Beziehung der Einbildungskraft auf einen Gegenstand stets zur Auffassung desselben als ›Symbol‹, d. h. zu einer Vergleichung.3 Es ist also nicht zwingend die Sprache, die zwischen Subjekt und Objekt tritt. Ernst Cassirer spricht von einem »Grundphänomen«, »daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.«4 Spricht man von ›vergleichendem Sehen‹, bei dem zwei oder mehrere Bilder in ein Verhältnis zueinander gesetzt und auf Ähnliches und Unähnliches hin betrachtet werden, denkt man zwar zunächst an den Vergleich zwischen materialen, nicht mentalen Bildern.5 Doch selbst beim ›klassischen‹ Bildvergleich, sei er nun ›vor Originalen‹ oder im Hörsaal durch Reproduktionsmedien vermittelt, spielt die Einbildungskraft eine zentrale Rolle. Sie löst, bewusst oder unbewusst, einen Vergleich zwischen Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem aus. Ohne Einbildungskraft keine Urteilskraft.6 Da das Tertium Comparationis immer ein Imaginiertes ist, erscheint auch die vermeintlich größere Objektivität eines illustrierten Werkverzeichnisses gegenüber einem beschreibenden Verzeichnis als Illusion.7 Und auch bei der Betrachtung einer Folge von Bildern wird das jeweilige Spatium zwischen zwei Bildern unwillkürlich mit einer mehr oder weniger bewussten Vorstellung ausgefüllt. Obwohl die Kamera dem Auge Verborgenes sichtbar macht, sieht das Auge dennoch mehr als sie, denn es wird von der Einbildungskraft ergriffen.8 Als ob die vielbeschworene Bilderflut der digitalen Revolution alle inneren Bilder fortspülen würde, meint die gegenwärtige Diskussion über Bilder wie selbstverständlich meist ausschließlich das Visuelle. Das Unkontrollierte, Nichtsichtbare scheint wieder, wie bei Kant, als Unbequemes oder gar als Störfaktor in einem Objektivierungsprozess wahrgenommen zu werden.9 In den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts spielte die Einbildungskraft nicht nur eine immense Rolle, man war sich dessen auch weitgehend bewusst. Für den großen Zweig der eher literarisch orientierten Kunstgeschichte ist zu konstatieren, dass sich Aneignung und Abhandlung von Kunst weitgehend durch ›Ein-bildung‹ vollzog, die zwar im vergleichenden Sehen einen Prozess der ständigen Korrektur anvisierte, dabei aber das Problem unterschiedlicher Medien weitgehend nivellierte. Es ging um die Verortung des Gesehenen in einem System. Herman Grimm beispielsweise stellte 1865 fest: »Ich habe es an mir erlebt, wie oft ich die Bilder Raphaels und Michelangelos in den Stanzen und der Sistina vor Augen gehabt Martin Gaier
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haben mußte, nur um sie im Gröbsten zu übersehen, und kannte sie doch schon von Jugend auf im Kupferstich.«10 Über den Nutzen des Vergleichens und die Kraft der dazu notwendigen Imagination schieden sich aber bereits in den 1820er Jahren bei der Konzeption der Berliner Gemäldegalerie durch Gustav Friedrich Waagen die Geister – jene, die das Bilderstudium als Wissenschaft voranbringen wollten, von jenen, die den Kunstgenuss suchten. Als ein halbes Jahrhundert später Waagens Hängung als epochale, »sonst nirgend versuchte, streng systematische Anordnung nach Perioden und Schulen« gewürdigt wurde, »und zwar in so glücklicher Weise, dass dadurch die Berliner Galerie einen eigenthümlichen Werth erhielt, wie sie ihn durch ihren Inhalt allein nicht gehabt haben würde«,11 war kaum mehr verständlich, was Wilhelm von Humboldt daran kritisiert hatte: »Die ganze Aufstellung scheint hauptsächlich auf die Vergleichung berechnet, und ich weiß nicht, ob dies zu billigen ist.« Waagens Absicht, »zum Nachtheil der Wirkung der einzelnen Bilder« »das ganze Museum in einer gewissen Folge zu besehen«, versetze Humboldt zufolge »das Auge, das unmittelbar auf die Vergleichung hingewiesen wird, in eine unruhige Spannung«.12 Die Aneignung eines Bilderschatzes in der Imagination stand hier gegen die Konzentration auf das Einzelwerk, der intellektuell fruchtbare visuelle Konflikt gegen den harmonischen Eindruck, den ein künstlerisch »gefälliges Ganzes« bildete. Ein Vergleich sollte höchstens eine Empfindung unterstützen, nicht aber in Frage stellen. Auch die Imagination hatte dieser Einheit zu dienen: »Es muß daher dem Bilde nichts Störendes, noch auf irgend eine Weise die Aufmerksamkeit Abziehendes zur Seite hängen; ja es muß, wo möglich, der Eindruck des Bildes durch das, was man zugleich sieht, oder eben gesehen und noch in der Erinnerung hat, verstärkt werden.«13 Diese frische und unmittelbare Imagination wurde Humboldt zufolge durch Schinkels Architektur ausreichend unterstützt, »ohne daß man noch, was man jedoch auch kann, darauf zu rechnen braucht, daß der geübte Kenner, auf den es hierbei doch am meisten ankommt, schon die Fertigkeit besitzt, die Eigenthümlichkeiten eines Bildes in der Einbildungskraft festzuhalten«.14 Wie weit diese Fertigkeit tatsächlich ging, wurde in der psycho-physiologischen Forschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark differenziert. Gustav Theodor Fechner publizierte 1860 in Elemente der Psychophysik seine empirischen Untersuchungen, mit Imagination: Einleitung
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denen er zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Imaginationsleistung des Menschen, je nach Konditionierung, stärker und schwächer ausgeprägt sei.15 Er unterschied nicht nur zwischen ›Nachbildern‹ und ›Erinnerungsbildern‹, von denen jene einem mehr oder weniger unmittelbaren ›Eindruck‹ auf der Retina zu verdanken und in der Rezeptivität dadurch wesentlich schärfer seien als diese, die, länger zurückliegend, auf einer unschärferen Vorstellungsassoziation aufbauten. Fechner konstatierte auch, dass Professoren der Philosophie und Naturwissenschaftler wie er selbst, Erinnerungsbilder meist nur verschwommen und ohne Farben sähen.16 All jene, die jedoch aufgrund ihres Berufes – Maler und Reisejournalisten beispielsweise – die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke geschult hätten, wären dagegen mit erstaunlich weitgehenden Fähigkeiten ausgestattet.17 Man erkannte, unterstützt durch die Stereoskopie, dass das Sehen rein physiologisch auf einer evolutionären Anpassung beruhte, welche die »Doppelbilder«, also gewissermaßen den Vergleich dessen, was beide Augen getrennt sahen, »zweckgemäss« ausschaltete.18 Nur ein bewusstes Getrenntsehen führte zu einer Differenzwahrnehmung, die über das Physiologische hinaus in der Temporalität einen ästhetischen Wert gewinnen konnte.19 Hermann von Helmholtz stellte bei Versuchen mit Farben-Sehen fest »dass hier also wirklich eine grosse individuelle Verschiedenheit« in der Wahrnehmung bestehe. Wie war sonst zu erklären, dass einige Probanden »bei binocularer Combination zweier Farben deren Mischfarbe gesehen zu haben« behaupteten? 20 Helmholtz schloss daraus: »Wahrnehmungen äusserer Objecte sind aber jedenfalls Acte unseres Vorstellungsvermögens, die von Bewusstsein begleitet sind; es sind psychische Thätigkeiten.«21 Die »fundamentale Wichtigkeit« dieser Erkenntnis auch »für fast alle anderen Zweige der Wissenschaft«22 wurde aber jeweils dann vernachlässigt, wenn Medialität und Subjektivität der Wahrnehmung hinter Argument und Demonstration zurücktraten. Selbst im eigenen Fach führte die technische Errungenschaft der Stereoskopie zu einer ›blinden‹ Anwendung ohne erkennbare Vorteile. Nicht eine virtuelle Tiefendimension, sondern medizinisches Grundwissen stand als eigentliche Erkenntnis ›zwischen‹ den Bildern.23 Prinzipiell war man sich aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dieser Problematik soweit bewusst, dass man nicht nur die Unvergleichbarkeit von Sichtbarem und Sagbarem als grundsätzlich unhintergehbares Problem thematisierte, 24 sondern auch Martin Gaier
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in Hinsicht auf die Techniken des Sehens dem Auge selbst die Fähigkeit absprach, als unmittelbares Vehikel des Vergleichs zu funktionieren. Theodor von Frimmel, Doktor der Medizin und als Musik- und Kunstwissenschaftler in Wien tätig, kam mit empirischen Untersuchungen zur Psychophysiologie des vergleichenden Sehens zu einer so lapidaren wie bemerkenswerten Erkenntnis: »Ein Ding der Unmöglichkeit ist es, Gegenstände unmittelbar mit einander zu vergleichen.«25 Nach einem Experiment mit zwei auf einer Staffelei nebeneinandergestellten Bildern stellte Frimmel fest: »Wir können sie beide wohl aus einiger Entfernung anschauen und zu gleicher Zeit auf der Netzhaut abbilden, aber das Centrum des Sehfeldes ebenso wie das Centrum der Aufmerksamkeit kann nicht zugleich auf beiden ruhen, sondern schwankt mehr oder weniger zwischen beiden Bildern. Ich habe mich bei solchem Schauen beobachten lassen u. z. von unbefangenen Beobachtern, die nichts wussten, als dass sie die Bewegungen anzuzeigen hätten, die ich mit den Augäpfeln ausführte. Hatte ich beide zu vergleichende Bilder gleich stark im ruhig stehenden Auge, so konnte ich nicht vergleichen; wollte ich aber vergleichen, so wurde sofort eine Bewegung des Augapfels, meist her und hin, signalisirt. Eine kurze Zeit liegt also doch immer zwischen dem ersten und zweiten Eindruck.«26 Somit sei nicht nur jener Normalfall, bei dem mindestens eines der Vergleichsobjekte nicht gegenwärtig sei, sondern schlichtweg jede Vergleichskonstellation prinzipiell als »ein Vergleichen in der Erinnerung« zu bezeichnen.27 Wenn nun eines der Vergleichsobjekte fehle, bleibe das beste Gedächtnis »hinter dem Eindruck zurück, der aus der unmittelbaren Gegenwart stammt«. Es bleibe nur die Übung, das eben Gesehene »etwas ausklingen« und das Erinnerte mehr ins Bewusstsein treten zu lassen.28 Abbildungen seien für das Vergleichen wichtig, doch wenn es beispielsweise um Farbe ginge, werde durch das Betrachten einer violettgrau gefärbten Fotografie »die Erinnerung an das farbige Original viel eher verwischt als aufgefrischt«.29 Dagegen seien »beschreibende Notizen« äußerst wertvoll, wenn sich daran »lebhafte und bestimmte Erinnerungen« knüpften. Beim Nachlesen der Notizen »in der ursprünglichen Niederschrift« werde die Erinnerung »im Gedächtniss unmittelbar mit dem Anschauen des Imagination: Einleitung
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Bildes […] verknüpft«.30 Dasselbe galt für die zeichnerische ›Beschreibung‹ vor dem Original. Der Gewinn, der im Unterschied zu ›Nachzeichnungen‹ mit technischen Hilfsmitteln oder gar der Fotografie bestand, liegt auf der Hand. Denn der Akt der Abbreviaturzeichnung diente als besondere Einprägungsmethode, bei der die vor dem Objekt vorgenommenen Eintragungen im Sinne eines re-imaginierten vergleichenden Sehens, als Wiederaufrufung des vergangenen Wahrnehmungsprozesses vor dem Bild fungierten.31 Hat der Begriff des ›vergleichenden Sehens‹ immer den Anschein starker Intentionalität in sich getragen, so ist also zu berücksichtigen, dass die Einbildungskraft als geistiges Vermögen, innere Bilder zu produzieren oder wiederaufzurufen – vom Unbewussten bis zum unwillkürlich Bewusstwerdenden –, sich zu einem guten Teil unseren lenkenden Blicken entzieht.
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Endnoten 1 Aus der reichen Literatur vgl. Jochen Schulte-Sasse, Einbildungskraft/Imagination, in:
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Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 88 –120; die Einleitung von Bernd Hüppauf und Christoph Wulf in: dies (Hg.), Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 9 – 44, mit ausführlicher Bibliografie; und den Aufsatz von Gert Mattenklott, Einbildungskraft, ebd., S. 47 – 64, ebf. mit weiterführender Bibliografie. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, 3 Bde., Leipzig 1984, Bd. 1, S. 383f., Nr. 357. Zum ›Symbolbrief‹ Goethes vgl. Heinz Hamm, Symbol, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 2003, S. 805 – 839, hier S. 814ff. Zu Kants Auffassung von Einbildungskraft vgl. zusammenfassend Schulte-Sasse, Einbildungskraft (Anm. 1), S. 114f. Zum Symbolbegriff vgl. Hamm, Symbol (Anm. 2), bes. S. 812ff. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1921–1922, hg. v. Fritz Saxl, Leipzig/Berlin 1923, S. 11– 39, hier S. 15. Zu Definition und Geschichte des Begriffs ›Vergleich‹ s. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 676 – 680, s. v. Vergleich (G. Schenk/A. Krause). – Der Begriff ›Bild‹ ist hier zunächst im weitesten Sinne aufgefaßt, die folgende Konzentration auf Bildprodukte der Kunst, Kunst- und Naturwissenschaften ist dem Rahmen der Untersuchung geschuldet. Zu mentalen und materialen Bildern vgl. Hüppauf und Wulf, Bild und Einbildungskraft (Anm. 1), S. 23 – 27. Das Problem des Vergleichens findet allerdings in dieser und anderen Untersuchungen wenig bis gar keine Beachtung. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], in: ders., Werkausgabe, 12 Bde., hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1976ff., Bd. 10, 1992, S. 100. Siehe hierzu den Beitrag von Grischka Petri. Siehe hierzu den Beitrag von Marcel Finke. So das Fazit von Hüppauf und Wulf, Bild und Einbildungskraft (Anm. 1), S. 11f. Herman Grimm, Berlin und Peter von Cornelius, in: ders., Neue Essays über Kunst und Literatur, Berlin 1865, S. 70 –104, hier S. 84. Alfred Woltmann, Eine biographische Skizze, in: Gustav F. Waagen, Kleine Schriften, Stuttgart 1875, S. 1– 52, hier S. 8. Zit. nach Christoph M. Vogtherr, Zwischen Norm und Kunstgeschichte. Wilhelm von Humboldts Denkschrift von 1829 zur Hängung in der Berliner Gemäldegalerie, in: Jahrbuch der Berliner Museen 34, 1992, S. 53 – 64, hier S. 62. Ebd. Ebd. Gustav Th. Fechner, Elemente der Psychophysik [1860], 2 Bde., Leipzig 1907, S. 462ff. Ebd., S. 464, 472ff. Ebd., S. 476 – 480. Emil du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft, Leipzig 1878, S. 14: »Dass Sehen gelernt werden müsse, lehrt freilich die Physiologie. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen ahnt nicht, dass wir fortwährend Doppelbilder sehen, aber zweckgemäss vernachlässigen.« Siehe hierzu den Beitrag von Michael Bies. Hermann von Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens [1868], in: ders., Vorträge und Reden, 2 Bde., Braunschweig 1884, Bd. 1, S. 233 – 331, hier S. 315. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Siehe hierzu den Beitrag von Frank W. Stahnisch. Siehe hierzu den Beitrag von Martin Gaier. Theodor von Frimmel, Zur Methodik und Psychologie des Gemäldebestimmens, Leipzig 1897, S. 13. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 15 (Hervorhebung im Original). Martin Gaier
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28 Ebd., S. 16. 29 Ebd., S. 17f., Zitat S. 18. 30 Ebd., S. 20. Vgl. auch ders., Vom Sehen in der Kunstwissenschaft. Eine kunstphiloso-
phische Studie, Leipzig/Wien 1897. 31 Siehe den Beitrag von Susanne Müller-Bechtel.
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Das Widerspiel von Auge und Hand: Fragmente einer Mediengeschichte des vergleichenden Sehens Michael Bies
I
In der Einleitung der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe, in denen er aus Bildvergleichen allgemeine historische Darstellungsformen von Renaissance und Barock zu entwickeln sucht, bemerkt Heinrich Wölfflin: »Jeder Künstler findet bestimmte ›optische‹ Möglichkeiten vor, an die er gebunden ist. Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ›optischen Schichten‹ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden.«1 So bezeichnend Wölfflins Fokussierung auf »das Sehen an sich« auch ist – sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte eines Sinnes nie ganz von der Geschichte anderer Sinne gelöst werden kann. In den folgenden Fragmenten einer Geschichte des vergleichenden Sehens wird deshalb zunächst versucht, das besonders bemerkenswerte, da im 18. und 19. Jahrhundert jeweils verschieden bestimmte Widerspiel von Auge und Hand zu rekonstruieren. Dazu wird betrachtet, wie Sehprozesse nach Maßgabe 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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technischer Medien konzipiert wurden, um schließlich einen Ausblick auf die Aufhebung technisch bestimmter Sinneskonzeptionen in der Kunsttheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu wagen. Insofern sie Medien als historisch variable Metaphern begreifen, die den Bereich jenes Wissens abstecken, das über Sinne und ihre Wahrnehmungen erlangt werden kann, folgen diese Ausführungen einem metaphorologischen Ansatz.2 Angewandt auf die hier behandelte Problematik, hat Friedrich Kittler diesen auf die prägnante, doch allzu einseitige Formel gebracht: »Man weiß nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen.«3 II
Kulturhistorische Untersuchungen sind sich einig darüber, dass das Sehen der Sinn der ›Neuzeit‹ ist. Zwar bestreiten sie nicht, dass das Auge schon in der klassischen griechischen Antike als wichtigstes Sinnesorgan galt. Eine grundlegende Heraushebung aus der Ordnung der Sinne habe es aber erst in der von Heidegger als ›Zeit des Weltbildes‹ beschriebenen Neuzeit erfahren, in der vor allem der Einsatz der Linearperspektive eine Geometrisierung und Rationalisierung des Sichtfeldes erlaubte.4 Als technische Grundlage dieses scheinbar rationalen, der Vernunft angepassten Sehens fungierte jedoch nicht nur die Linearperspektive. Für das 17. und 18. Jahrhundert weitreichender erwies sich, wie vor allem Jonathan Crary betont, die Camera obscura.5 Sie ist das Modell, mittels dessen die Möglichkeiten des Auges beschrieben wurden: »Elle jette de grandes lumieres sur la nature de la vision«, heißt es denn auch in einer eigenartigen Bemerkung der Encyclopédie.6 Im Anschein dieser Aufklärung des Sehens sei es, so Crary, von untergeordneter Bedeutung gewesen, dass die Camera obscura bloß zweidimensionale Repräsentationen dreidimensionaler Sachverhalte liefert, da das bereits die Linearperspektive vermochte. Wichtiger sei, dass sie überhaupt erst eine klare, räumliche Trennung von Beobachter und Beobachtetem eingeführt und diese Trennung innerhalb des betrachtenden Subjekts, in der Unterscheidung von Sehen und Körper, wiederholt habe. Mit ihr sei es möglich geworden, »den Akt des Sehens vom Körper des Betrachters zu lösen, das Sehen zu entkörperlichen«.7 Dem »monadischen Blickwinkel des Individuums« habe das, so schließt Crary, »Authentizität und Legitimität« verliehen.8 Die Texte des 18. Jahrhunderts setzen etwas andere Akzente. Ob das Sehen ihnen im Licht der Camera obscura als ›authentisch‹ und ›legitim‹ erschien, ist schwer zu sagen; die Untersuchungen von Michael Bies
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Lorraine Daston und Peter Galison legen nahe, dass sich dafür eher das 19. Jahrhundert interessierte.9 Deutlicher ist, dass die sinnestheoretischen Untersuchungen der Aufklärung die optischen Wahrnehmungen als zweidimensional erkannten: »I neither see distance itself, nor anything that I take to be at a distance«, erklärte 1709 George Berkeley in seinem berühmten Essay towards a new Theory of Vision.10 Er behauptete damit eine Unsichtbarkeit von Räumlichkeit, die nur konsequent ist, wenn man das Auge nach den Vorbildern der Linearperspektive und Camera obscura modelliert – nach Vorbildern, die Dreidimensionales bloß zweidimensional abbilden. Schließlich wird auch das Sehen dann bloß über ein Auge vorgestellt: über ein unbewegliches Auge, auf dessen Netzhaut die räumlichen Daten nur perspektivisch verkürzt eingetragen werden können. Die Grenzen der Camera obscura-Metapher, die von ihr unbeleuchteten Eigenheiten menschlichen Sehens, sind damit markiert. Nicht nur liegt es außerhalb des von ihr erhellten Bereichs, dass Bilder sich im Auge selbst einzuprägen scheinen, während die ›dunkle Kammer‹ einen das einfallende Bild aufzeichnenden Betrachter fordert, dessen Auge ebenfalls als Camera obscura vorgestellt werden müsste. Undenkbar bleiben auch die Krümmung der Netzhaut, die Beweglichkeit des Auges und die Binokularität des Sehens. Solange diese die visuelle Raumwahrnehmung großenteils bestimmenden Charakteristika im Schatten der Camera obscura standen, musste aber nicht nur räumliches Sehen als Ding der Unmöglichkeit erscheinen, sondern auch die Zweiheit der Augen rätselhaft, ja sinnlos bleiben. Nur typisch ist es daher, wenn Georges Buffon in der Histoire naturelle bemerkt, dass der Mensch eigentlich alles doppelt sehen müsse, da er zwei Augen habe: »tous les hommes voient les objets doubles, puisqu’ils ont deux yeux«; der Tastsinn sowie die Erfahrung und Gewöhnung, erklärt er, würden diesen Sehfehler, »cette erreur de la vue«, berichtigen.11 Der Sinn, dem das 18. Jahrhundert die räumliche Wahrnehmung meist auftrug, ist damit benannt: der Tastsinn. In der Debatte um das »für das Denken des 18. Jahrhunderts zentrale Molyneux-Problem«12 hat Johann Gottfried Herder dessen Rolle noch einmal zusammenfasst und kunsttheoretisch exponiert. Wie er im Vierten Kritischen Wäldchen und in der 1778 veröffentlichten Plastik im Anschluss an John Locke, George Berkeley, Étienne Bonnot de Condillac und Denis Diderot erklärt, vermag Raum nicht gesehen, sondern nur ertastet zu werden. Weil das Auge einer »dunklen Kammer« gleiche, könnten wir »täglich erfahren […], wenn wir Das Widerspiel von Auge und Hand
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aufmerkten, daß das Gesicht uns nur Gestalten, das Gefühl allein, Körper zeige«.13 Zwar konzediert Herder, wie seine Vorgänger auch, dass man Räumlichkeit zunächst visuell wahrzunehmen glaube. Tatsächlich aber sehe man nur Zweidimensionales, in das die ertastete dritte Dimension nachträglich eingeblendet werde. Die Gewöhnung, als deren Gegensatz die Aufklärung die Figur des sehend gewordenen Blindgeborenen und mit ihm die Fiktion eines unschuldigen Sehens gebiert, habe das nur vergessen lassen. Wie Herder weiter erläutert, sei das Fühlen dem Sehen zudem überlegen, weil es sich nicht täuschen lasse. Mittels des auf die Wahrnehmung von Flächen verkürzten Camera obscura-Auges könne nie ausgeschlossen werden, dass man nicht bloß Repräsentationen von Objekten sehe. Der Tastsinn dagegen, der stets auch fühlt, dass er fühlt, erspüre nur Anwesendes. Er vermöge deshalb als »die Grundfeste und der Gewährsmann«14 des Auges zu fungieren. Die das 18. Jahrhundert kennzeichnende Ordnung der Sinne ist damit in ihren Extremen umrissen. In ihr wird das Sehen einerseits, wie Herder sagt, als »künstlichster, philosophischter Sinn«15 aufgefasst. Andererseits wird es als der Sinn verstanden, der der Täuschung ausgeliefert, der Wahrnehmung von Raum und Anwesenheit unfähig ist. Dem Tastsinn obliegt es, das auszugleichen und das Auge zu berichtigen. Wenn Alfred North Whitehead 1925 die Aufklärung als »Zeitalter der Vernunft« charakterisiert, »der kräftigen, männlichen, gestandenen Vernunft; aber auch der einäugigen Vernunft, der es an Tiefenvision fehlte«,16 ist zumindest seine Einschränkung schlüssig: Denn auch das Sehen wurde im 18. Jahrhundert nur als einäugig begriffen. Die Tiefenvision blieb schlicht ein Rätsel. Im Unterschied dazu zeigt sich das 19. Jahrhundert einsinniger strukturiert. Die durch Sehen und Tasten bestimmte Ordnung der Sinne scheint hier zerbrochen. Nicht nur wird das Gefühl nun vom Tasten getrennt. Auch das Sehen wird neu konzipiert. Obwohl sie praktisch weiter benutzt wurde – wenn auch zunehmend weniger –, hat die Camera obscura theoretisch weitgehend ausgedient. Sie taugt nurmehr als Sinnbild des Trugs, als Modell einer verkehrten Welt. Karl Marx kann deshalb erklären, dass »in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen«.17 III
Den Schleier, mit dem die Camera obscura das Phänomen der Tiefenvision bedeckte, scheint das Stereoskop im 19. Jahrhundert Michael Bies
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zu lüften. Hermann von Helmholtz erläutert 1862 in der Lehre von den Tonempfindungen: »Die Erfindung des Stereoskops hat gelehrt, daß die Anschauung der Tiefendimension des Gesichtsfeldes, d. h. der verschiedenen Entfernung, in der die Objekte und ihre Teile sich vom Auge des Beschauers befinden, wesentlich beruht auf der gleichzeitigen Perzeption zweier etwas verschiedener perspektivischer Bilder derselben in den beiden Augen des Betrachters. Bei hinreichend großer Verschiedenheit der genannten Bilder ist es auch nicht schwer, beide als getrennt wahrzunehmen.«18 Diese Erfindung des Stereoskops, die das Sehen unter Einbeziehung der Tiefendimension des Gesichtsfeldes zu modellieren erlaubt, liegt wie fast aller Anfang im Dunkeln. In der Regel wird sie dem britischen Physiker Charles Wheatstone zuerkannt und auf die frühen 1830er Jahre datiert. Angestoßen wurde sie durch Untersuchungen zur Physiologie der Augen, besonders zur Binokularität des Sehens. Im 1838 veröffentlichten ersten Teil seiner Contributions to the Physiology of Vision erklärt Wheatstone, dass die Parallaxe beider Augen räumliches Sehen ermögliche: »the mind perceives an object of three dimensions by means of the two dissimilar pictures projected by it on the two retinæ«.19 Zu belegen versucht er das, indem er zwischen Auge und Gegenstand ein Medium – das Spiegelstereoskop – einschaltet, auf das das Phänomen der Binokularität übertragen, mittels dessen es objektiviert und simuliert werden kann. Das Experiment übertrifft das gewünschte Ergebnis. Indem das Stereoskop den Augen leicht verschiedene perspektivische Ansichten desselben Gegenstandes vorstellt, bringt es nicht nur den Eindruck scheinbarer Räumlichkeit hervor. Wie Wheatstone erklärt, erzeugt es zudem »the most vivid belief of the solidity of an object of three dimensions«.20 Ähnlich äußert sich später Oliver Wendell Holmes. In dem berühmten Artikel The Stereoscope and the Stereograph beschreibt er 1859 – nun nicht mehr in Anbetracht geometrischer Konstruktionen, sondern von Stereofotografien –, wie diese die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem, die die Camera obscura kennzeichnete, auf überwältigende und geradezu gewaltsame Weise aufheben: »Der erste Eindruck, den die Betrachtung einer guten Fotografie im Stereoskop vermittelt, ist eine Überraschung, die kein Werk der Malerei jemals in uns auslösen kann. Das Widerspiel von Auge und Hand
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Wir fühlen uns in die Tiefe des Bildes hineingezogen. Die dürren Äste eines Baumes im Vordergrund kommen auf uns zu, als wollten sie uns die Augen auskratzen.«21 Mit der essayistischen Aufarbeitung dieser unheimlichen Seherfahrung – das Bild scheint seine Voraussetzung, den Blick, auslöschen zu wollen – reagiert Holmes auf die ungemeine Popularität des Stereoskops in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ermöglicht wurde diese durch die technischen Innovationen David Brewsters, eines schottischen Physikers, der 1816 bereits das Kaleidoskop entwickelt hatte. In gleich mehrfacher Hinsicht gelang es ihm, »Mr. Wheatstone’s beautiful discovery«22 zu verbessern. Nicht nur ließ Brewster 1849 ein vom Raumeffekt her überzeugenderes Linsenstereoskop bauen, das auf der Londoner Weltausstellung zwei Jahre später für Furore sorgte. Er konstruierte auch eine Stereokamera, die die Aufnahme von Stereofotografien entscheidend vereinfachte. Das Stereoskop wurde damit zum Massenmedium. Wie Baudelaire bald darauf bemerkt, »beugten sich Tausende begieriger Augen über die Öffnungen der Stereoskope, als seien sie die Dachfenster zur Unendlichkeit«.23 Indes geht auch Brewster zunächst nicht von technischen, sondern von sinnesphysiologischen Überlegungen aus. Anders als Wheatstone, dem er zunehmend kritisch gegenüberstand, bemüht er sich hierbei zwar, die Rolle der Binokularität des Sehens für die Raumwahrnehmung herunterzuspielen.24 Leugnen kann er sie aber nicht. Zudem erstreckt Brewster seine sinnesphysiologischen Untersuchungen auch auf das Verhältnis von Augen und Hand. Gegen Berkeley und die anderen Forscher des 18. Jahrhunderts, die das Sehen dem Tasten unterordnen wollten, wendet er ein, dass es sich umgekehrt verhalte als am Beispiel Herders gezeigt: Nicht das Auge müsse der Hand, sondern die Hand müsse den Augen untergeordnet werden, da sie durch diese getäuscht werden könne. Denn wenn man, wie Brewster ausführt, ein Stereobild betaste, während man es im Linsenstereoskop als dreidimensional sehe, seien die erblickten Vertiefungen und Erhöhungen eigenartigerweise auch zu fühlen; wenn man dann die Augen schließe, erscheine das Bild der Hand wieder als flach: »The sense of sight«, folgert er daraus, »instead of being the pupil of the sense of touch, as Berkeley and others have believed, is, in this as in other cases, its teacher and its guide.«25 Doch obgleich das Stereoskop mit dem Geschenk der Tiefenvision dazu beiträgt, das Sehen von der Diktatur des Fühlens Michael Bies
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und Tastens zu befreien, sind die von ihm erzeugten räumlichen Bilder nur scheinbar ›realistisch‹. Nicht bloß kann es die Krümmung der Netzhaut nicht modellieren. Auch das binokulare Sehen vermag es nur über zwei unbewegliche, voneinander isolierte Camera obscura-Augen vorzustellen, die auf zwei Abbilder eines Gegenstandes blicken. Das bewegliche, direkt auf einen Gegenstand gerichtete Zusammenspiel der Augen erfasst es nicht. Somit erzeugt das Stereoskop, indem es die Differenz zwischen Betrachter und Betrachtetem auf zuweilen unheimliche Weise verwischt, auch kein Bild eines kontinuierlichen, homogenen, sondern eines eigentümlich verformten Raumes. »Das Faszinierende dieser Bilder«, erklärt Crary, »beruht teilweise auf der ihnen immanenten Unordnung, auf den ihre Kohärenz sprengenden Rissen.«26 Gerade diese Unordnung und Inkohärenz scheint das Stereoskop aber zum Medium eines vergleichenden Sehens zu empfehlen. Denn erst indem es die Augen auf befremdende Weise voneinander trennt, um ihr Zusammenspiel erforschbar zu machen, erschafft es ein so nicht gegebenes Sehen in Vergleichen. Entscheidend für dieses Sehen ist die Gleichheit wie auch die minimale Differenz, die mit bloßen Augen kaum wahrnehmbare perspektivische Nichtidentität der vorgestellten Bilder. Allein dieser vermag, wenn sie richtig erzeugt und betrachtet wird, eine meist nicht weiter reflektierte, scheinbar ›realistische‹ Raumsicht zu entspringen. Indes erschöpft sich das Stereoskop darin nicht. Wie Holmes’ Essay zeigt, vermögen Stereofotografien zudem ein besonders detailversessenes, auf Abseitiges gerichtetes Sehen zu erwecken. Als Voraussetzung dieses oft noch mikroskopisch verstärkten Sehens fungiert zunächst der »unendliche Reiz fotografischer Abbildung«, der in Absetzung von der Malerei so häufig beschrieben wurde: der dem unumgänglichen Einbruch des Zufalls in die Bilder entspringende Reiz, der die »vollkommene Fotografie […] – theoretisch gesprochen – absolut unerschöpflich« werden lässt.27 Dieser Reiz wird in der Stereofotografie dadurch noch erhöht, dass bei der sukzessiven Aufnahme der Teile von Stereobildern – dann, wenn nicht zwei Apparate oder eine Stereokamera benutzt werden – neben der räumlichen eine zeitliche Differenz verzeichnet wird. Diese ermöglicht es, »daß wir auf dem einen der Zwillingsbilder Gegenstände entdecken, die das andere nicht zeigt: die Person oder das Fahrzeug haben sich in der Zeit, bevor die zweite Aufnahme zustande kam, entfernt oder ins Bild bewegt.«28 Unabhängig von dem sich unmittelbar einstellenden, zuweilen befremdlich realen Raumeindruck Das Widerspiel von Auge und Hand
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zeigen solche Zwillingsbilder somit einen Riss in der Zeit, der – als Spur eigentlich eines Versehens beim Aufnahmeprozess29 – sich erst einem wiederum zeitlich ausgedehnten, vergleichenden Hinsehen entdeckt. Der Vergleich des linken und rechten Bildes, die Enthüllung ihrer zeitbedingten Differenzen, erschafft somit einen Zwischenraum, der »von der Vorstellungskraft Besitz« ergreift und die »Phantasie« zu seiner narrativen Schließung, zur Produktion von »Hunderte[n] von Lebensläufen« anregt: »Ja, ungezählte Bücher der Dichtung horte ich in dieser kleinen Bibliothek aus Glas und Pappe«, kann Holmes daher schreiben.30 In diesem zunächst rein differentiell bestimmten, ganze Bibliotheken eröffnenden Zwischenraum gibt sich eine andere, geradezu metaphysisch zu bezeichnende Tiefenvision zu erkennen. Gleichsam zwischen den Bildern entdeckt die Einbildungskraft die »Schlaglichter auf Leben und Tod«, die die ergreifende und bezaubernde Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens erahnen lassen: »Auf dem schönen Glasbild des Sees von Brienz steht eine vage umrissene Frauengestalt am Rande des klaren Wassers; das andere Bild zeigt sie nicht«, beschreibt Holmes und kommentiert lakonisch: »So ist das Leben, wir sehen sie kommen und gehen. All die Sehnsüchte, Leidenschaften, Erfahrungen, Möglichkeiten der weiblichen Existenz erfüllen diesen vorübergehenden Schatten mit Leben, der unser Bewußtsein, zeitlos, gestaltlos durchzieht, doch um vieles realer ist als das schärfste Porträt, das eine menschliche Hand gemalt hat.«31 IV
Holmes’ Ausführungen zufolge verdanken Stereobilder ihre Faszination somit großenteils dem sich direkt einstellenden, durch perspektivische Unterschiede erzeugten Raumeffekt. Mehr und andauernder scheinen ihn aber die aufnahmebedingten Zeitdifferenzen zu beeindrucken, die durch ein bewusstes Vergleichen entdeckt und von der Einbildungskraft unwillkürlich narrativ geschlossen werden müssen. Außerdem ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass Holmes die unbekannte, nur »vage umrissene Frauengestalt« »um vieles realer« erscheint, »als das schärfste Porträt, das eine menschliche Hand gemalt hat«. Dadurch gerät eine weitere Befreiung der Augen von der Hand in den Blick, die nicht mehr der Stereoskopie, sondern den Debatten um die 1839 öffentlich vorgestellte Daguerrotypie geschuldet ist. Löste das Stereoskop, überspitzt gesagt, die Augen von der berichtigend eingreifenden Hand, Michael Bies
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indem es dem Rätsel der Tiefenvision eine Erklärung gab, so wurde das Sehen durch die überaus detailgenaue Daguerrotypie – doch auch durch andere fotografische Verfahren – metaphorisch von der zeichnenden Hand entbunden. Der »Versuch, die fotografische Metaphorik auf das menschliche Sehen auszurichten«, ist insofern »mit der Trennung von Auge und Hand erkauft«.32 Durchkreuzt wird diese Herausstellung der Augen von der – weiterhin zumeist im Singular gedachten – Hand durch die Debatten über die Schärfe oder Unschärfe und den künstlerischen Status der Fotografie. Wie gesehen, betont Holmes die zu Erzählungen anregenden Unschärfen von Fotografien gegenüber dem ›schärfsten‹ Porträtgemälde – und feiert sie gleichzeitig als »Triumph menschlichen Scharfsinns«.33 Edgar Allen Poe hatte sich in dieser Hinsicht weniger poetisch gezeigt. Schon 1840 erwog er in einem frühen Artikel zur Daguerrotypie, angesichts ihrer ›Wahrheit‹ zu verstummen: »All language must fall short of conveying any just idea of the truth […]. Perhaps, if we imagine the distinctness with which an object is reflected in a positively perfect mirror, we come as near the reality as by any other means. For, in truth, the Daguerreotyped plate is infinitely (we use the term advisedly) is infinitely more accurate in its representation than any painting by human hands.«34 In ähnlicher Hinsicht, nur zu einem anderen Schluss, hatte auch der Illustrator John Leighton 1853 vor der Photographic Society of London erklärt: »Die wunderbaren Details mikroskopischer Fotografien überfordern die Nachahmung durch Menschenhand, aber sie sind keine Kunstwerke.«35 Als Kunst, so die von Leighton angedeutete und damals häufig vertretene Position, können Fotografien nur anerkannt werden, wenn sie auf übermäßige, unmenschliche Schärfe verzichten, um durch Unschärfen und manuelle Korrekturen Raum für ›innere‹, ›poetische‹ Wahrheiten zu lassen. Die Kunst wird damit erneut auf den Bereich des instrumentell nicht entfremdeten, den unbewaffneten Sinnen Angemessenen festgelegt – gemäß der bekannten Auffassung Goethes: »Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.«36 Der überwiegende Bereich der angewandten, vor allem der wissenschaftlichen Fotografie, der es auch nicht um die Bewahrung eines ›ganzen Menschen‹ ging, zeigte sich dagegen weitgehend frei von solchen Ängsten. Obgleich in Anbetracht vor allem von Mikrofotografien durchaus deren Das Widerspiel von Auge und Hand
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»unerbittliche[]Treue« diskutiert und bemerkt wurde, dass diese »durch die Brutalität der Töne und die Unsauberkeit der Umrisse das Auge des Beschauers« verletzen könnten, 37 wurde eine manuell unerreichbare Schärfe und Präzision hier meist und zumindest theoretisch als Vorzug erkannt. Wie Daston und Galison in ihrer Aufarbeitung des Objektivitätsbegriffs gezeigt haben, ist das jedoch zu kurz gegriffen. In der Praxis bedurften Daguerrotypien schon deswegen einer aufzeichnenden Hand, weil sie als Unikate nur mithilfe manueller Eingriffe, in der Regel nur durch Holzschnitte, Lithografien oder Kupferstiche vervielfältigt werden konnten. Zudem erwies sich in der Mikrofotografie, dass Zeichnungen räumliche Tiefe viel besser und schärfer als Fotografien wiedergeben konnten.38 Insofern kann tatsächlich nur scheinbar davon die Rede sein, dass die Fotografie das Auge von der als allzu grob verstandenen Hand löst. V
Die Kunsttheorie Konrad Fiedlers lässt sich als philosophisch inspirierte Antwort auf diese wissenschaftliche und vor allem in den Wissenschaften tradierte Auseinandersetzung von Auge und Hand verstehen – und das, obwohl Fiedler die metaphorische Orientierung des Sehens an der Fotografie streng zurückweist.39 So erklärt er die völlige Trennung der Sinne in seiner 1887 publizierten Abhandlung Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit – eine Untersuchung, die Herders Plastik auf vielfältige, hier nicht ausführbare Weise korrespondiert – ohne die argumentative Hilfe optischer Medien. Da die Sinne, wie er im Blick auf das ihn allein interessierende Verhältnis von Sehen und Tasten bemerkt, jeweils verschiedene, aufeinander nicht beziehbare Bereiche der Wirklichkeit erschließen, »besteht gar keine Ähnlichkeit zwischen der Formvorstellung, die in das Gebiet des Gesichtssinnes, und derjenigen, die in das Gebiet des Tastsinnes gehört«.40 Von der jeweils verschieden ausgeprägten Abhängigkeit beider Sinne, wie sie etwa Herder und Brewster behauptet haben, kann hier also keine Rede sein. Aufgrund der Flüchtigkeit unserer Wahrnehmungen jedoch, die die Welt als ein fortwährendes, vielgestaltiges und verworrenes Werden erscheinen lasse, sehe sich das Auge letztlich wieder auf die Hand verwiesen. Schließlich, erklärt Fiedler, gebe es nur zwei Mittel, kraft derer der Mensch sich den vom Auge wahrgenommenen Fluss der Phänomene aneignen, ihn verdeutlichen und für sich verwirklichen könne: indem er den Wahrnehmungen Michael Bies
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sprachlich oder künstlerisch Ausdruck verleihe. Der Unterschied der Mittel liegt in ihrem Verhältnis zur Sichtbarkeit. Wird eine Wahrnehmung sprachlich begriffen, »vernichtet« man »die Sichtbarkeit der Erscheinung und setzt eine andere Form des Seins an ihre Stelle«; gelingt es dagegen, die Wahrnehmung anschaulich, künstlerisch darzustellen, werde »die Sichtbarkeit eines Dinges im selbständigen Ausdruck« bewahrt.41 Da der Künstler zur darstellenden Gestaltung wiederum der Hand bedarf, verknüpft Fiedler beide Sinne in der ›Ausdrucksbewegung‹, die er als konsequente »Entwickelung des Sehprozeßes«,42 als dessen Ausführung und Klärung begreift. Gleichwohl betrifft diese Verknüpfung nur die künstlerisch gestaltende Hand, die sich in den Dienst der künstlerisch sehenden Augen stellt, nicht aber den eigentlichen Tastsinn. Dieser bleibt vom Sehen weiterhin gelöst und ihm schon deshalb unterlegen, weil er »über keinerlei Mittel« verfügt, »durch die in einem Produkt ein Seiendes als ein Tastbares gestaltet, eine Tastvorstellung als solche realisiert werden könnte«.43 Ein ebensolches Speichermedium hat das künstlerische Sehen in der gestaltenden Hand gefunden. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, die Beschränkungen eines durch geometrische Konstruktionen und optische Medien modellierten Sichtfeldes abzustreifen. Fiedlers Ablehnung des Vergleichs von Auge und optischen Medien gewinnt genau hier ihren Sinn. Dadurch werden nicht zuletzt Korrespondenzen zu Herders Entwurf eines von der Camera obscura befreiten, tastenden Sehens44 deutlich, auch wenn Herder von der Rezeption und nicht von der künstlerischen Produktion handelt. VI
Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe schließlich geben dem Verhältnis von Tasten und Sehen eine weitere Wendung.45 Indem sie es in eine Geschichte des Sehens fügen, die vor allem durch den Gegensatz des Linearen und Malerischen bestimmt ist – durch den Gegensatz zwischen dem »Tastbild« des 16. Jahrhunderts und dem »Sehbild« des Camera obscura-Zeitalters, des 17. und 18. Jahrhunderts –, begründet und prägt das Verhältnis beider Sinne die Beschreibung der »kapitalste[n] Umorientierung, die die Kunstgeschichte kennt«.46 Diese Umorientierung erarbeitet Wölfflin durch eine intensive Arbeit an anschaulichen Gegenüberstellungen – und damit durch den wiederholten Rekurs auf ein vergleichenden Sehen, das an die von Stereofotografien erregten Blicke erinnert. Gemeint ist Das Widerspiel von Auge und Hand
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damit nicht das unwillkürliche, simultane Zusammensehen der ›Zwillingsbilder‹, das diese zu einem raumhaften Dritten verschmelzen ließ, sondern das zeitintensive Beschauen zeitverschiedener Stereobilder und die akribische Aufdeckung ihrer Differenzen, die nach Holmes die Einbildungskraft zur Produktion von ›Hunderten von Lebensläufen‹ anzuregen vermag. An die Stelle solcher Stereobilder rücken bei Wölfflin indes die jahrhundertverschiedenen Bilder Dürers und Rembrandts, Holbeins und Metsus: Ihre Differenz ist es, die der Text der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe im vergleichenden Sehen entdeckt und (er-)schließt. Ihr Vergleich ist es, der die Einbildungskraft des Kunsthistorikers zur Lösung der ›elementarsten Aufgabe‹ seines Faches anregt.
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Endnoten 1 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicke-
lung in der neueren Kunst, München 1915, S. 11f. 2 Vgl. etwa Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: ders.,
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Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 193 – 209. Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 28. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, hg. v. Friedrich W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 2003, S. 75 –113. Für einen jüngeren Ansatz vgl. Sybille Krämer, Über die Rationalisierung der Visualität und die Visualisierung der Ratio. Zentralperspektive und Kalkül als Kulturtechniken des ›geistigen Auges‹, in: Helmar Schramm (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 50 – 67. Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996, S. 37–73. Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert (Hg.), Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, 35 Bde., Paris/Amsterdam 1751–1780, Bd. 3, 1753, Stichwort: Chambre obscure, S. 62; vgl. auch Bd. 11, 1765, Stichwort: Œil, S. 388. Crary, Techniken des Betrachters (Anm. 5), S. 49f. Ebd., S. 50. Vgl. zuletzt Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 121 – 200. George Berkeley, Philosophical Works. Including the Works on Vision, hg. v. Michael R. Ayers, London/Totowa 1975, S. 20. Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, Histoire naturelle, générale et particulière, hg. v. Bernard Lacépède, Bd. 5, Paris 1817, S. 144 u. 169. Der Zweck zweier Ohren dagegen war erklärbar. Vgl. Diderot und d’Alembert (Hg.), Encyclopédie (Anm. 6), Bd. 11, 1765, Stichwort: Oreille, S. 614. Crary, Techniken des Betrachters (Anm. 5), S. 66. Vgl. William R. Paulson, Enlightenment, Romanticism, and the Blind in France, Princeton 1987; Marjolein Degenaar, Molyneux’s Problem. Three Centuries of Discussion on the Perception of Forms, Dordrecht/Boston/London 1996. Johann Gottfried Herder, Plastik, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold u. a., Frankfurt a. M. 1985 – 2000, Bd. 4, 1994, S. 247f. Ebd., S. 250. Ebd., S. 252. Alfred North Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a. M. 1984, S. 75. Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: ders. und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1957ff., Bd. 3, 1962, S. 26. Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik [1863], Braunschweig 1913, S. 109. Zum Stereoskop vgl. Crary, Techniken des Betrachters (Anm. 5), S. 122 –140; zur Einführung auch Pierre-Marc Richard, Das Leben als Relief. Der Reiz der Stereoskopie, in: Michel Frizot (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 174 –183. Vgl. auch die Textsammlung von Moritz von Rohr (Hg.), Abhandlungen zur Geschichte des Stereoskops von Wheatstone, Brewster, Riddell, Helmholtz, Wenham, d’Almeida und Harmer, Leipzig 1908. Charles Wheatstone, Contributions to the physiology of vision […], in: Nicolas J. Wade (Hg.), Brewster and Wheatstone on Vision, London/New York 1983, S. 67. Gleichwohl erklärt Wheatstone die Raumwahrnehmung nicht ausschließlich durch die Binokularität des Sehens. Auch ein Einäugiger könne räumlich sehen: »The motion of the head is the principal means he employs.« (ebd., S. 77). Ebd., S. 77. Michael Bies
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21 Oliver Wendell Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph, in: Wolfgang Kemp
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(Hg.), Theorie der Fotografie. Eine Anthologie, 4 Bde., München 1979 – 2000, Bd. 1, 1980, S. 116. David Brewster, On the knowledge of distance given by binocular vision, in: Wade (Hg.), Brewster and Wheatstone on Vision (Anm. 19), S. 121. Charles Baudelaire, Die Fotografie und das moderne Publikum, in: Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie (Anm. 21), Bd. 1, S. 110. Hierzu wurde dann meist die Krümmung der Netzhaut hervorgehoben. Dem entsprechend erklärte der Prager Physiologe Ewald Hering, »dass eine befriedigende Auslegung des Netzhautbildes eine gekrümmte Fläche fordert, womit schon die dritte Dimension des Raumes, die Tiefe in gewissem Grade gesetzt ist«. Ewald Hering, Von der einäugigen Stereoskopie, in: ders., Beiträge zur Physiologie, 5 Bde., Leipzig 1861–1864, Heft 1: Vom Ortsinne der Netzhaut, S. 65 – 80, hier S. 66. Interessanterweise richtet Hering diese Erklärung aber am Maßstab des Stereoskops aus, wenn er sie als Beleg dafür nimmt, dass Dinge »schon für ein Auge bis zu einem gewissen Grade zu stereoskopischen Bildern« werden können (ebd., S. 79). Für den Hinweis danke ich Robin Rehm. David Brewster, Description of several new and simple stereoscopes […], in: Wade (Hg.), Brewster and Wheatstone on Vision (Anm. 19), S. 141. Crary, Techniken des Betrachters (Anm. 5), S. 130. Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph (Anm. 21), S. 117. Ebd., S. 118. Zur Problematisierung der Rede von Fotografie und Spur vgl. Peter Geimer, Das Bild als Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma, in: Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 95 –120. Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph (Anm. 21), S. 118. Ebd. Vgl. Rosalind Krauss, Photography’s Discursive Spaces, in: Richard Bolton (Hg.), The Contest of Meaning. Critical Histories of Photography, Cambridge, Mass./London 1992, S. 286 – 301, hier S. 290f. Joel Snyder, Sichtbarmachung und Sichtbarkeit, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 142 –167, hier S. 161. Am Beispiel von William Henry Fox Talbot vgl. auch Peter Geimer, Photographie und was sie nicht gewesen ist. Photogenic Drawings 1834 –1844, in: Gabriele Dürbeck u. a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Amsterdam/Dresden 2001, S. 135 –149. Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph (Anm. 21), S. 115. Edgar Allen Poe, The Daguerreotype, in: Alexander’s Weekly Messenger, 15. 01.1840, wiederabgedruckt in: Journal of the Association for Historical & Fine Art Photography 15, 2005, S. 19. John Leighton, Über Fotografie als Mittel und Selbstzweck, in: Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie (Anm. 21), Bd. 1, S. 92. William John Newton, Maler und Vorsitzender der Photographic Society, hatte zuvor vorgeschlagen, dass die Kamera für einen ›malerischen Effekt‹ »leicht unscharf eingestellt wird – man erreicht so eine breitere Wirkung und kommt so dem Suggestiven der Naturdinge näher«. William John Newton, Fotografie in künstlerischer Hinsicht betrachtet, in: Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie (Anm. 21), Bd. 1, S. 89. Zu Unschärfe und Fotografie als Kunst vgl. Wolfgang Ullrich, Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde, in: Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit (Anm. 32), S. 381– 412. Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 469, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, München 1998, Bd. 12, S. 430. Gustav Fritsch, Anatomie, in: Karl Wolf-Czapek (Hg.), Angewandte Photographie in Wissenschaft und Technik, Berlin 1911, Teil II, S. 67 u. 72. Zit. n. Michael Hagner, MikroAnthropologie und Fotografie. Gustav Fritschs Haarspaltereien und die Klassifizierung Das Widerspiel von Auge und Hand
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der Rassen, in: Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit (Anm. 32), S. 252 – 284, hier S. 255f. Vgl. Daston und Galison, Objektivität (Anm. 9), S. 133 –183. Konrad Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, in: ders., Schriften zur Kunst, hg. v. Gottfried Boehm, 2 Bde., München 1971, Bd. 1, S. 183 – 367, hier S. 249. Ebd., S. 248. Denis Diderot hatte im 18. Jahrhundert bereits die Unvereinbarkeit der Sinne behauptet und 1751 in der Lettre sur les sourds et muets eine Gesellschaft aus fünf Personen entworfen, »dont chacune n’aurait qu’un sens; il n’y a pas de doute que ces gens-là ne se traitassent tous d’insensés«. Denis Diderot, Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient; Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui entendent et qui parlent, hg. v. Marian Hobson und Simon Harvey, Paris 2000, S. 95. Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (Anm. 39), S. 316. Ebd., S. 281. Ebd., S. 264. Vgl. Herder, Plastik (Anm. 13), S. 254. Zu Fiedler und Wölfflin vgl. Lambert Wiesing, Die Zustände des Auges. Konrad Fiedler und Heinrich Wölfflin, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 189 – 208. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (Anm. 1), S. 24.
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Nosologie der Dritten Dimension: Albert Neissers (1855 – 1916) Stereoscopischer Medicinischer Atlas zwischen Repräsentation, Ikonografie und vergleichender Pathologie Frank W. Stahnisch
Die Frage nach dem ›komparativen Sehen‹ und die Thematisierung des insbesondere aus dem ›diagnostischen Vergleich‹ resultierenden Wissens (griech. dia-gnosis, explizit ein ›Dazwischen-Wissen‹, beispielsweise aus der Differenz resultierende Erkenntnis)1 ist in der Medizin so alt wie der Einsatz von Visualisierungsformen in der ärztlichen Heilkunde selbst:2 Hiervon geben die vergleichende Pulslehre der hippokratischen Schriften des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, die komparative Anatomie des römischen Arztes Galen (129 – ca. 200/216 n. Chr.) mit ihrer organbezogenen Annahme von Funktionsähnlichkeit zwischen menschlichen und tierischen Körpern oder die vergleichende Ausrichtung der auf Naturbeobachtung fußenden Physiologie des Renaissance-Gelehrten Jean Fernel (1497–1558) einen guten Eindruck.3 Dennoch ist auffallend, wie selten sich tätige Ärzte und theoretisch interessierte Lebenswissenschaftler an einer konzeptuellen Bestimmung des ›vergleichenden Sehens‹ in der langen Geschichte der westlichen Heilkunde versucht haben.4 Die Situation ist frappant wie verworren: Die als Handlungswissenschaft agierende Medizin, mit ihrem je dominierenden Problem der Übertragung wie der Übertragbarkeit eines vermeintlich universalen, generellen Wissens, das auf Regeln, Prinzipien oder 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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später Naturgesetzen gegründet wurde und dabei auch die Lebenstätigkeiten wie pathophysiologischen Phänomene des kranken Körpers erklären soll, wendete und wendet komparative Methoden geradezu ›blind‹ an, ohne dass sie sich bislang ähnlich ihren Nachbardisziplinen einer eingehenden theoretischen Reflexion dieser Problemlage unterzogen hätte.5 Hinsichtlich des historischen Fallmaterials werde ich im vorliegenden Beitrag also eher auf die ›subkutanen‹ Äußerungen und die Performanz zeitgenössischer Ärzte und Wissenschaftler in Bezug auf ihren Gegenstand – die kranken Patienten bzw. deren pathologisch veränderte Organe – eingehen und mich entsprechend beschränken müssen.6 Natürlich ist der Iconic Turn nicht an rezenten Forschungsbemühungen der Medizinhistoriografie vorbeigegangen, die seither versucht, den großen Schatz ärztlicher und lebenswissenschaftlicher Visualisierungspraktiken zu heben und die hierin auch und gerade methodische Überlegungen, Ansätze und Versatzstücke von Anatomien medizinischen Wissens herausarbeiten will.7 Wie dabei etwa die orientierenden Arbeiten von Sander L. Gilman, Stanley Joel Reiser oder Olaf Breidbach für die modernen Biowissenschaften insgesamt zeigen,8 ist davon auszugehen, dass die ›Evidenzen‹, die wissenschaftliche Kommunikationsmedien transportieren, zunehmend in visueller Form präsentiert werden und die Bedeutung von Repräsentationsstrategien und Visualisierungsformen in epistemischer Hinsicht insgesamt in den Vordergrund rücken. Doch lässt sich bereits für das 19. Jahrhundert ein gesteigertes Interesse an und eine Thematisierung von Bildhaftigkeit des Wahrgenommenen auf mehreren Gebieten der Medizin erkennen, und entsprechend aufschlussreich sind diese frühen klinischen und laborfotografischen Ansätze auch: In immer neuen technischen Zurichtungen wurde intendiert, die Präzision, den Wiedergabeeffekt und die Reliabilität vor allem fotografischer Aufzeichnungspraktiken weiter zu verbessern. Im vorliegenden Beitrag soll nun der Entstehungszusammenhang, die Verwendungspraxis sowie die erkenntniskritische Diskussion um den von dem Breslauer Ordinarius der Medizin Albert Neisser (1855 –1916)9 herausgegebenen Stereoscopischen Medicinischen Atlas (aus dem Gebiet der Augenheilkunde) verdeutlicht und dessen Stellenwert zwischen Repräsentation, Ikonografie und vergleichender Pathologie thematisiert werden. Diese Perspektive vermag eine interessante Kontrastfolie zu bilden, um interdisziplinäre Ansätze im Umgang mit Bildern und Fragen des ›vergleichenden Sehens‹ in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts weiter diskutieren Frank W. Stahnisch
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zu können. Die klinischen wie grundlagenmedizinischen Einzelfolgen des Neisser’schen Atlasses lassen in ihrem zeitlichen Verlauf die Argumentationsfiguren, Widersprüche aber auch Vermittlungspositionen der individuellen Autoren gut nachvollziehen, welche über die lange Zeitperiode von elf Jahren hinweg (1895 –1906) den Stereoscopischen Medicinischen Atlas als ein Multiautorenunternehmen getragen haben.10 Mit dem historiografischen Blick besonders auf die dargestellten augenheilkundlichen und neuroanatomischen Abbildungen sollen hier insbesondere zwei Diskussionskerne der medizinischen Ikonografie des 19. Jahrhunderts näher untersucht werden, die für die Einordnung dieses und vergleichbarer medizinischer Visualisierungsprojekte von essentieller Bedeutung gewesen sind: zum einen die wahrnehmungstheoretische Frage, ob durch die technologische Innovation der dreidimensionalen Fotografie und die damit verbundene Notwendigkeit eines ›vergleichenden Einsehens‹ (die Übertragung vom zweidimensionalen Bild) bei den Betrachtenden tatsächlich eine Verbesserung der Repräsentationskraft des medizinischen Bildes erreicht werden konnte; und zum anderen die epistemologische Frage, wie die beteiligten Ophthalmologen, Fotografen und Laborwissenschaftler das Problem des Analogievergleichs in den Wissenstransformationen des Atlasses von individuellen Patienten hin zum kranken Kollektiv für die Verwendungspraxis im klinischen Alltag berücksichtigt haben. In den Jahren nach Erscheinen der ersten Folgen des Neisser’schen Atlasses (1895) hatte in erster Linie die weite Verbreitung der Radiofotogramme, auf die Entdeckung der berühmten ›XStrahlen‹ durch den Würzburger Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845 –1923) hin, die Visualisierungsformen der Medizin als normalisierende Kraft bestimmt. Atlanten vergleichbarer Art fanden in Deutschland schnell fachliche Differenzierung, wie dies etwa in dem 1901 in Wiesbaden erschienenen radiologisch-anatomischen Atlas des Arteriensystems des Menschen oder in einem 1906 in Würzburg publizierten Anatomischen Atlas in stereoskopischen Röntgenbildern zum Ausdruck kommt.11 Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Medizin selbst standen dabei die Röntgenstrahlen stellvertretend für die Entwicklung der neuen naturwissenschaftlichen Sicht auf den menschlichen Körper ein;12 und mit den Mitteln der zeitgenössischen Naturwissenschaft ließen sich nun sogar unsichtbare physikalische Vorgänge nutzen, die gegenüber den Beschränkungen der menschlichen Sehkraft einen enorm geweiteten Blick auf die klinischen Krankheitsphänomene des Menschen verhießen. Nosologie der Dritten Dimension
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Tatsächlich kam es in der Folge von Röntgens Publikationen zu einer fieberhaften Geschäftigkeit in der Scientific Community, seine Versuche zu reproduzieren und so den lange gehegten Wunschtraum der Medizin wahr werden zu lassen, in das Innere des Körpers hineinzusehen, ohne diesen eröffnen zu müssen. Dies schlug sich prägnant in dem zeitgenössischen Slogan nieder: »Diagnostizieren ohne zu operieren!« – zugleich ein Kampf- wie ein Weckruf, der sich in vielen Atlasprojekten in der klinischen Medizin des Fin de Siècle abzubilden begann.13 Um den bislang genannten Fragekomplexen im Kontext der Visualisierungspraktiken der zeitgenössischen Medizin und ihren Erkenntnisdiskussionen weiter nachgehen zu können, sollen imFolgenden drei methodische Einzelvergleiche durchgeführt werden: Zunächst werden der Entstehungskontext, das Layout und die Zusammenstellung des Neisser’schen Atlasses in den ophthalmologischen Folgen aus der Gesamtausgabe untersucht. Anschließend wird die Entwicklung des Atlasses im Kontext vergleichbarer Visualisierungsmethoden – etwa des Chirurgen Theodor Billroth (1826 –1894) in Zürich oder Heinrich Curschmanns (1846 –1910) aus Hamburg, später Leipzig14 – verortet, wodurch Hintergrundkenntnisse über seine Rezipienten und Anhaltspunkte über die Verwendungspraxis möglich werden. Am Ende dieses Beitrags sollen einige epistemologische Überlegungen zum ›Vergleich‹ zwischen den ›visuellen Repräsentationen‹ und dem dinglichen Gegenstand (dem kranken Patientenkörper sowie dem pathologisch-anatomischen Präparat) in den Atlasfolgen aus dem Gebiet der Augenheilkunde angestellt werden. I
Der Entstehungskontext des Neisser’schen
Stereoscopischen Medicinischen Atlasses
Die früheste technische Apparatur, mit der eine stereoskopische Betrachtung wissenschaftlicher Gegenstände (Pflanzen, Mineralien, kleine Tiere, etc.) möglich wurde,15 war der 1838 von dem britischen Physiker Charles Wheatstone (1802 – 1875) fast zeitgleich mit der Entstehung der Mikrofotografie entwickelte Stereoviewer. Die Apparatur selbst war jedoch kein Gerät für fotografische Aufnahmen, sondern bot dem Betrachtenden lediglich über eine optische Prismenzurichtung zwei parallel angeordnete Zeichnungen in dreidimensionaler Form dar. Für medizinische Anwendungen wurde erst 1857 eine Kamera konstruiert, mit der nun auch Stereofotografien von Patienten, Befunden oder Präparaten angefertigt Frank W. Stahnisch
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werden konnten. Sie fand ihren Eingang zunächst in die chirurgischen Kliniken Frankreichs, etwa an der Pariser Clinique de l’École de Medicine, wo sie insbesondere für die Fotodokumentation von Operationsbefunden und Gewebematerial angewendet wurde.16 Auch der Fotograf Albert Londe (1858 –1917), dessen Aufnahme- und Darstellungspraxis Georges Didi-Huberman in seinen Arbeiten untersucht hat, beteiligte sich im Fotolabor der Pariser Salpêtrière an der Weiterentwicklung der stereooptischen Abbildungspraktiken.17 So präsentierte Londe im Dezember 1882 vor der Société Française de Photographie einen selbst entworfenen stereofotografischen Apparat, der im Wesentlichen aus einer Platte mit zwei Objektiven bestand. Der Clou dieser Kamera bestand insbesondere darin, dass Londe diese Objektivplatte in Rotation um einen Zylinder versetzen konnte, so dass Drehmodus und -geschwindigkeit seines Apparats erstmals exakte Zeiteinteilungen für die Belichtungsfolge garantierten und damit die besonderen Anforderungen an Reliefaufnahmen oberflächlicher Veränderungen der Haut, des Auges, sowie von Substanzverlusten bei Patienten mit degenerativen Nervenerkrankungen erfüllen konnten.18 Wenn man nun aber den Neisser’schen Atlas insbesondere mit den anderen zeitgenössischen Werken von Theodor Billroth oder Heinrich Curschmann vergleicht, so springt zunächst die schiere Vielzahl der angewendeten fotografischen Praktiken sowie der aufgenommenen Gegenstände ins Auge: Billroths Sammlung in der Zürcher Chirurgischen Universitätsklinik bildet im deutschen Sprachraum wohl den ersten systematischen Versuch, mit Hilfe der Stereofotografie Operationsbefunde und die Entwicklung von Patienten im zeitlichen Therapieverlauf visuell festzuhalten.19 Die 1867 veröffentlichten Stereofotografien stellen die verschiedenen Krankheitsbilder meist im Zustand vor und nach einem erfolgten chirurgischen Eingriff dar; einige Fotos zeigen Fälle sehr eindrucksvoller Phosphornekrosen des Ober- und Unterkiefers, wie sie sich Minenarbeiter nach langjähriger Einatmung von Phosphor zuzogen [Abb. 1]. Billroths Stereofotografien veranschaulichen nicht zuletzt relativ gelungene Korrekturen von Extremitätenfehlstellungen und -missbildungen und stellen somit rhetorisch aufbereitete Bildzeugnisse in wissenschaftlichen Publikationen dar.20 Die Fotodokumentation von Behandlungserfolgen entfaltete darüber hinaus gerade dort ihre volle Stärke, wo sie seltene Krankheitsbilder und besonders kurzlebige Krankheitsphänomene darstellen half. Ähnlich wie in den Werken Billroths oder Nosologie der Dritten Dimension
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1 Theodor Billroth, Männlicher Patient nach chirurgischer Behandlung einer Phosphornekrose, 1867.
Curschmanns zuvor, entschieden sich auch die meisten Autoren des Neisser’schen Atlasses für einen makrofotografischen Ansatz und eine vergleichbare Präsentationsweise: Die Serienanordnung der Bilder war hierbei im Sinne einer begleitenden Gegenüberstellung zu einzelnen Entwicklungsstadien sowie den Therapieschritten der Erkrankungen realisiert. Außerdem wurden in der dritten und sechsten Folge in Form von ergänzenden Reihen von Fotografien visuelle Entsprechungen der humanen Morphologie mit anatomischen und pathologischen Präparaten etwa des Karpfens, der Taube oder des Meerschweinchens bemüht. Durch diese Anordnungspraxis liessen sich die Abbildungen des Neisser’schen Atlasses in den gegenwärtigen Traditionskontext der vergleichenden Anatomie rücken und gingen aus einer explizit entwicklungshistorischen Logik hervor. Diese Repräsentationspraxis, die die genealogischen Beziehungen von Human- und Tieranatomie postulierte, lässt sich noch auf eine Darstellungstradition in den Werken des deutschen Sprachraums zurückführen, von den anatomischen Atlanten des Göttinger Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752 –1840) und des Mainzer Anatomen Samuel Thomas Sömmerring (1755 –1830) im 18. Jahrhundert bis hin zu dem komparativen Morphologen Carl Gegenbaur (1826 –1903) in Heidelberg oder dem Zoologen Ernst Haeckel (1834 –1919) in Jena. Ein wichtiges Anliegen dieser vergleichend-anatomischen Repräsentationspraxis war nicht zuletzt, eine auch in den morphologischen Bildtafeln des Neisser’schen Atlasses wieder zum Tragen kommende »Herstellung eines allgemeinen Bildes der Entwicklungsreihe« von Organen oder Individuen zu leisten, die die biologischen Stufenfolgen oder als fortschreitend gedachten phylogenetischen Prozesse festhalten sollte.21 Frank W. Stahnisch
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Der Stereoscopische Medicinische Atlas, dessen Jahresbände in diskontinuierlicher Folge von 1895 bis 1906 erschienen, markiert den Einzug der Stereofotografie in die Augenheilkunde gerade in dem Moment, als die Blütezeit dieser fotografischen Technik angebrochen war. Zugleich muss Neissers indirekter Weg zur ophthalmologischen Fotografie als eine Auswirkung seines neoenzyklopädischen Verlangens gesehen werden,22 selbst alle verfügbaren Informationen über Krankheitsausprägungen zusammenzutragen und in den jeweiligen Folgen der verschiedenen Themengebiete kompilatorisch aufzubereiten. Bei diesem weitreichenden Unterfangen war es Neisser außerdem gelungen, eine stattliche Gruppe von Augenärzten im deutschsprachigen Raum zu gewinnen, die mit ihren Textbeiträgen, Fotografien und einzelnen Herausgebertätigkeiten wesentlich zum Erfolg des Atlasprojekts beigetragen haben. In epistemischer Hinsicht knüpfte Neisser also gewissermaßen an frühere klassifikatorische Ansätze der klinischen Medizin23 an und brachte diese mit der Stereofotografie medientechnisch auf den neuesten Stand. In Bezug auf die historische Dimension des ›vergleichenden Sehens‹ ist hier tentativ festzuhalten, dass trotz seines Einsatzes der neuen Stereofotografie das zwischen Nosologie und vergleichender Pathologie angesiedelte Programm Neissers konzeptionell noch tief im ausgehenden 18. Jahrhundert verwurzelt war. Folgerichtig beschwor die nosografische Leitabsicht des Gesamtbestands von nahezu dreißig Einzelbänden, die einzelnen Krankheitsphänomene im zeitlichen und räumlichen Vergleich einzuteilen und zu verorten, vergangene diagnostische Taxonomien von Herman Boerhaave (1668 –1738) bis Carl Reinhold Wunderlich (1816 –1877) im ausgehenden 19. Jahrhundert wieder herauf. Dessen ungeachtet blieb Nosologie der Dritten Dimension
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Neissers Projekt aber außerordentlich erfolgreich, insbesondere nachdem der Breslauer Ophthalmologe Wilhelm Uhthoff (1853 –1927) die Teilherausgeberschaft der augenheilkundlichen Folgen übernommen hatte und mit dem Leipziger Barth-Verlag einer der wichtigsten und innovativen Medizinverlage in das Projekt eingestiegen war. Semiotischer Anspruch und ophthalmologischer Bildwert verliefen also gewissermaßen in getrennten Bahnen. Der Stereoscopische Medicinische Atlas aus dem Gebiet der Augenheilkunde sollte ein besseres Erkenntnis- und Deutungsinstrument (»zu ernsten Zwecken«) sein, wobei er gegenüber der zweidimensionalen medizinischen Abbildung oder der dreidimensionalen Patientenbeobachtung als Medium des adäquateren diagnostischen und klinischen Wissens fungierte – und zwar gleichermaßen als Referenz für die klinische und poliklinische Diagnostik wie auch als Lehrmittel für den medizinischen Unterricht. So wurde etwa in der Beischrift zu Tafel 390 Lymphomatoese Wucherung der Conjunctiva bulbi et palpebrarum des linken Auges [Abb. 2] nicht nur die Möglichkeit eines Vergleichs beider Augen des Patienten, sondern ebenso die Bedeutung der visuellen Tiefenschärfe – mit dem Hinweis: »Rechts analoger Befund, aber viel geringer« – gegenüber der zweidimensionalen Papierfotografie hervorgehoben. Der vierzigjährige Bahnwärter J. Ch. aus L. in Oberschlesien war am 10. Juli 1899 mit einer »starken blassröthlichen Verdickung der Bindehaut« in die Universitätsaugenklinik aufgenommen worden. Bei Untersuchung der rechten Augenlider sah man auch hier im Bereich der oberen Übergangsfalte eine pathologische Veränderung, die offenbar, wenn auch geringfügig, einer entsprechenden Veränderung des linken Auges glich. Die erste Verdachtsdiagnose wurde auf eine »amyloide respektive hyaline Degeneration der Conjunctiva« gestellt, wobei diese Veränderungen denjenigen ähnelten, wie sie als »lymphomatoese Neubildungen in der Bindehaut« ebenfalls häufig beobachtet werden konnten. Das Krankheits-Bild des Patienten wurde also zwischen zwei möglichen Diagnosen verortet, und die stereoskopische Aufnahme trat so gesehen zur besseren Veranschaulichung der in der Patientenuntersuchung gemachten Befunde auf den Plan: Sie beanspruchte einen besseren Seitenvergleich im Stereobild und intendierte, die fluiden Krankheitserscheinungen im vermeintlich detailreicheren dreidimensionalen Bild über ihren Zeitverlauf festzuhalten. Was das allgemeine fotografische Layout und die individuellen Arrangements der von Neisser und seinen Mitarbeitern herausgegebenen Bände betrifft, so werden Frank W. Stahnisch
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darin überwiegend Brustbilder von Patienten in rechteckigem Format dargeboten [vgl. Abb. 3]. Die eigentlichen Detailansichten von Augen und Gesicht sowie anatomische Aufnahmen von Kopf und Gehirn kommen dagegen nur in geringer Zahl vor; die Einzelfotografien des Neisser’schen Atlasses beschränkten sich also nicht auf die isolierte Darstellung des Auges oder benachbarter Gesichtspartien, sondern lichteten die Patienten geradezu in Porträt-Manier ab. Damit folgten sie ebenfalls der charakteristischen Abbildungsform der Atelierfotografie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und machten den Visualisierungsstil anschlussfähig an kurrente Sehgewohnheiten.24 II
Neissers Atlas im Kontext anderer Visualisie-
rungsmethoden in der zeitgenössischen Medizin
In der Folge der Arbeiten des französischen Anatomen Alfred Donné (1801–1878) hatten sich die medizinischen Mikrofotografen zur Vorreitergruppe entwickelt, die das neue Abbildungsverfahren der Fotoplatte auch für Forschungszwecke und zur Demonstration von anatomischen, dermatologischen und später mikrobiologischen Gegenständen einsetzten.25 Der mikroskopische Nachweis von Körperstrukturen oder Bakterien stand dabei selbst in einer ikonografischen Tradition des ›vergleichenden Sehens‹, die der fotografischen Aufnahme vorausging. Dies wird am Beispiel des Berliner Mikrobiologen Robert Koch (1843 –1910), einem der führenden Lebenswissenschaftler seiner Zeit, besonders deutlich. Denn Koch akzeptierte allein das »Bakterienfotogramm« als Nachweis der im Labor produzierten Dinge und Phänomene, welches für ihn, bezogen auf den 1882 entdeckten Tuberkelbazillus, »wichtiger als der Gegenstand selbst« geworden war. 26 Diese grundlegende Betonung einer ›Selbstabbildung‹ der Gegenstände in der Krankenfotografie sollte auch bald für die medizinische Klinik gelten, wie dies Albert Londe 1896 ebenso prägnant formuliert hat: »Die photographische Platte ist die wahre Netzhaut des Gelehrten.«27 Der medizinische Befund und dessen fotografische Repräsentation waren jetzt in eins gesetzt.28 Doch obwohl sich auch die Kliniker der neuen Technik umfassend zuzuwenden begannen und individuelle Erkrankungsfälle jetzt selbst mit fotografischen Abbildungen dokumentierten, blieb der phänomenologische Blick des erfahrenen Arztes weiterhin Hauptkonkurrent der medizinischen Fotoplatte. Unabhängig vom schriftlichen oder visuellen Medium nahm er den Körper Nosologie der Dritten Dimension
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2 Wilhelm Uhthoff, Lymphomatoese Wucherung der Conjunctiva bulbi, 1900.
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3 Tafel aus Neissers Stereoscopischer Medicinischer Atlas, 1905.
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gleichfalls in der dritten Dimension wahr, wies dem Krankheitsfall seinen Platz in den gültigen nosologischen Taxonomien zu und formulierte abschließend eine Prognose. Die Fotografie selbst wurde damit jedoch des Öfteren lediglich als Hilfswerkzeug ein- und zurückgestuft und dies insbesondere auch aus der Einsicht heraus, dass die Fotografie keineswegs ein automatischer Vorgang und die Kamera nicht ›als Kopiermaschine der Natur‹ anzusehen war. In der historischen Einordnung und im Vergleich des Neisser’schen Atlasses mit anderen medizinischen Visualisierungsmethoden wird somit auch eine methodologische Entwicklung deutlich, in der das Versprechen auf die dreidimensionale Visualisierung von pathologischen Phänomenen als ›naturgetreue Abbildung‹ der Krankheitsbilder in der Ophthalmologie emanierte: Üblicherweise wurden die Aufnahmen der Patienten in so genannten ›typischen Voll-Bildern‹ von Pathologien dargeboten, also Aufnahmen, die auf dem Höhepunkt eines Krankheitsverlaufs gemacht worden sind, z. B. der maximalen Ausprägung einer Hautverfärbung oder von dem größten Wachstumsgrad eines Tumors – teilweise kurz for dem Tod der Patienten fotografiert. Diese Aufnahmeform sollte gewissermaßen den ärztlichen Blick in vergleichender Weise vorwegnehmen und ein frühzeitiges Handeln ermöglichen, da angenommen wurde, dass die Imaginierung des pathologischen ›Vollbildes‹ die klinische Früherkennung erleichtert. Darstellungspraktisch war dies im Atlas eng an serielle Abfolgen von Patientenfotografien mit ähnlichen Krankheitsbildern, eine Differenzsetzung von Krankheiten aus verschiedenen Formenkreisen oder die entwicklungshistorische Einpassung menschlicher Morphologie in vergleichend anatomische Reihenaufnahmen geknüpft. So gesehen konnte das ›vergleichende Einsehen‹ der Ärzte, worunter hier ein wiederholter Abgleich des dreidimensionalen Seheindrucks mit der zweidimensionalen Fotografie verstanden werden soll, tatsächlich als Technik der Sichtbarmachung und Erkenntnisinstrument zur Geltung kommen. Der sich darin widerspiegelnde medienhistorische Übergang in der Mitte des 19. Jahrhunderts von den früheren mikro- und makroskopischen Zeichnungen auf die vermeintlich ›objektive Fotografie‹, und dann von der zweidimensionalen Darstellungspraxis auf stereooptische Repräsentationsformen am Ende des 19. Jahrhunderts, macht die Einführung und Rezeption des Atlasses von Neisser analytisch interessant. Denn die von ihm ausgemachten Differenzen erzeugten selbst eine Vielschichtigkeit des Vergleichs. Frank W. Stahnisch
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Damit nun auf einzelne Schwierigkeiten in der Visualisierungspraxis dieses medizinischen Fallbeispiels näher eingegangen werden kann, soll hier ein Zitat des amerikanischen Philosophen Nelson Goodman (1906 –1998) herangezogen werden: »[…] um als eine Variation zu funktionieren, muss eine in Frage kommende Passage die erforderlichen gemeinsamen Merkmale des Themas buchstäblich und die erforderlichen kontrastierenden Merkmale des Themas metaphorisch exemplifizieren und auf es über diese Merkmale Bezug nehmen«.29 Zur ›Exemplifikation‹ ihres Themas haben mehrere Einzelautoren des Neisser’schen Atlasses aus den Folgen drei und sechs überdies anatomische und pathologische Präparate des Auges sowie des Gehirns ergänzend präsentiert. Als Erklärung für das Erscheinen solcher neuroanatomischer Präparatabbildungen in einem ophthalmologischen Atlas gab etwa der Kieler Ophthalmologe Leopold Heine (1870 –1940) an, letztlich eine angemessene Vermittlung der Lagebeziehung unterschiedlicher Bereiche im Zentralen Nervensystem gewährleisten zu wollen. Die Veränderungen von Augen und Gesichtspartien sollten sich hierbei auf die Tiefenstruktur der pathologisch-anatomischen Präparatdarstellungen rückführen lassen.30 Wie Heine weiter ausführt, sollte nun mit seinen stereooptischen Präparataufnahmen die »[…] Methode der stereoskopischen Photographie für die naturwissenschaftliche Forschung nutzbar [gemacht werden], welche bisher […] fast nur in Dilettantenkreisen mehr zum Scherz als zu ernsten Zwecken benutzt wurde […]. Wenn wir einen Kopf bzw. Schädel und das dazu gehörige Gehirn auf eine Platte stereoscopisch photographieren, so sehen wir im stereoscopischen Sammelbild anscheinend ein Hirn in einem gläsernen Kopfe. Wir können also sehr schön das Lageverhältniss der einzelnen Hirnteile zur Kopf- bzw. Schädeloberfläche sehen. Vorbedingung ist natürlich, dass Kopf und Hirn ihre normale Form behalten haben und dass wir sie bei den Aufnahmen zu einander richtig orientiert haben.«31 Als Heine diese programmatische Forderung aufstellte, wie er seine Forschungspraxis über die als unvollkommen und »in Dilettantenkreisen« entwickelten Ansätze traditioneller stereoskopischer Nosologie der Dritten Dimension
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4 Leopold Heine, Ein seltenes Bild des Sarkoms, 1901.
Fotografie hinaus zu erweitern gedachte, musste er sich doch selbst auf eine technisch versierte Tradition der fotografischen Kunst rückbeziehen, die in der Parallelaufnahme mit Überblendung zu diesem Zeitpunkt bereits vielfältigen Einsatz gefunden hatte.32 Nimmt man den Entstehungskontext seiner anatomischpathologischen Abbildungen [Abb. 4] näher in den Blick, so machte er sich ähnliche ›Kompositbilder‹ zunutze, um Strukturunterschiede wie die Organbeziehungen in seinen Darstellungen erst herausarbeiten zu können. Entsprechend nüchtern gibt sich der Stil, in dem Heines einleitende Bemerkungen verfasst sind, welche die labormäßige Aufbereitung, technische Zurichtung und die anschließende Zerteilung der Augen- und Hirnpräparate beschreiben. Durch den Vergleich einer Vielzahl verwendeter Methoden suchte Heine seine topografischen Lageaufnahmen weiter abzusichern – doch kann von einem Hinausgehen über die traditionell künstlerischen Techniken bis an »die Grenzen individueller Verschiedenheiten«33 hier kaum die Rede sein. III Epistemologische Bestimmungsversuche über das vergleichende Sehen in der stereoskopischen Praxis
Wie überbrückten die beteiligten Ophthalmologen im Gegensatz zu erfahrenen Fotografen unzureichendes praktisches Wissen, um Vergleiche überhaupt entstehen zu lassen? Und welche Erkenntnislast wurde somit den Augen der zeitgenössischen Ärzte und Studierenden aufgebürdet, die ihrerseits Vergleiche mit den althergebrachten Repräsentationsformen erkennen sollten, aber den Vorteil des Vergleichs in der dritten Dimension überhaupt erst erfahren mussten? Wie bereits die Einleitung zum vorliegenden Band zum Ausdruck bringt, kann das ›vergleichende Sehen‹ sowohl Frank W. Stahnisch
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als Erkenntnis- und Darstellungsmoment als auch als eine ordnende Technik der Sichtbarmachung verstanden werden, 34 so dass es für die Bildkritik jenseits disziplinärer Grenzen einen besonders interessanten Fall darstellt. Da in historiografischer Hinsicht beim ›Bild der Objektivität‹ kaum allein nach den ›Ordnungen der Sichtbarkeit‹, sondern insbesondere nach den Herstellungskontexten des Visuellen gefragt werden muss, ergeben sich hier fruchtbare Anschlussfragestellungen, die sich etwa mit Friedrich Kittler auf das Verhältnis von Interesse und Wissen, mit Peter Galison auf die technischen Möglichkeitsräume der Wissensproduktion oder mit Lorraine Daston auf die mediale Verfasstheit unterschiedlicher Quellengattungen richten.35 Im Rahmen des hier beschriebenen Fallbeispiels geraten insbesondere die Analogbeziehungen zwischen dinglichem Gegenstand (der Relation zum kranken Körper oder zum pathologischanatomischen Präparat) und der visuellen ›Repräsentation‹ (der erzeugten Stereofotografie) auf mehrfache Weise epistemologisch in den Blick: So sollten die Abbildungen des Neisser’schen Atlasses zunächst a) etwas ›Naturähnliches‹ wiedergeben, b) Krankheitsphänomene den Betrachtenden auf ›unmittelbare Weise‹ verdeutlichen, c) sodann das Spezifische einer Erkrankung erkennen lassen und dies d) sogar besser als vergleichbare Visualisierungstechniken gewährleisten. Es lohnt sich hier, die kontingenten Herstellungsbedingungen neben die rhetorischen Argumentationsformen zur Objektivität des stereofotografischen Bildes zu stellen, wobei die Einschätzungen von einer Kontrastierung des klinischen Blicks bis zu dessen Ablösung im typologisch scharf gestellten Stereobild reichen: »Die Vortheile, welche die stereoskopische Darstellung für die bildliche Wiedergabe pathologisch-anatomischer Nosologie der Dritten Dimension
5 Leopold Heine, Kopf mit Hirn eines menschlichen Foetus aus dem 7.– 8. Graviditaetsmonat.
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Präparate hat, sind bisher recht wenig gewürdigt. Zumal muss überraschen, dass auf einem Gebiete, wo die Unterscheidung feinster Tiefendifferenzen eine unerlässliche Forderung ist – in der Augenheilkunde – noch sehr wenig von dieser Art der Abbildung Gebrauch gemacht ist.«36 Der Absicht, ›natürliche Tiefenverhältnisse‹ in der dreidimensionalen Betrachtung wieder entstehen zu lassen, sind letztlich auch diejenigen vergleichend-anatomischen Tafeln in Neissers Atlas verpflichtet, die wie die Abbildung Kopf mit Hirn eines menschlichen Foetus aus dem 7.– 8. Graviditaetsmonat insbesondere die ›Projektionsmasse‹, durch Überblendungstechnik vermittelt, in den Lagebeziehungen zu Orbita, Ohr und Hinterhaut, wiedergeben [Abb. 5]. Zugehörigkeit, ikonografischer Charakter und Platzanweisung in der vergleichenden Pathologie werden hier also aus der vergleichenden Einordnungspraxis in andere Bildfolgen mit Patienten und Präparaten erzeugt und in bekannte klinisch-pathologische bzw. komparativ morphologische Kontexte eingestellt. Mit dem polnischen Medizintheoretiker Ludwik Fleck (1896 –1961) lässt sich dies auch als »Beharrungstendenz« oder im Sinne von »Harmonien der Täuschung«37 interpretieren, die als Orientierungsmarken bei der Entwicklung des Neuen in der Wissenschaft – hier in der Ophthalmologie – fungieren: »Der Gegenstand ärztlicher Erkenntnis selbst unterscheidet sich im Grundsatz vom Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Während der Naturwissenschaftler typische, normale Phänomene sucht, studiert der Arzt gerade die nicht typischen, nicht normalen, krankhaften Phänomene. Und dabei trifft er auf diesem Weg sofort auf einen gewaltigen Reichtum und Individualität dieser Phänomene, die die Vielheit ohne klare, abgegrenzte Einheiten begleiten, voller Übergangs- und Grenzzustände.«38 In Flecks Darstellung wird die fundamentale Spannung deutlich, die zwischen der klinischen Didaktik, welche sich wie in Neissers Atlas an den statischen, ›typischen Vollbildern‹ einer Erkrankung orientiert, und der medizinischen Forschung besteht, nämlich dem wissenschaftlichen Interesse auch am zeitlichen Verlauf derjenigen Phänomene, die letztlich zur Entwicklung einer Krankheit führen. Das Vollbild der vergleichenden Pathologie Frank W. Stahnisch
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nimmt so gesehen auch die ordnenden, taxonomischen Konventionen aus den Naturwissenschaften auf und integriert sie in die theoretische Krankheitslehre – die Nosologie. In der Rückwendung auf den ophthalmologischen ›Vergleich in der dritten Dimension‹ im Kontext von Ikonografie und Pathologie, lässt sich also insgesamt von einer medientechnologischen Schleifenbewegung seit den ähnlich gelagerten Problemen der medizinischen Nosologie und Semiotik im 18. Jahrhundert sprechen: a) das die Krankheit kennzeichnende Signum lässt sich erst aus der Betrachtungs- und Anamnesepraxis selbst heraus erkennen, b) die so genannten ›Vollbilder‹ einer Erkrankung geben im Regelfall nicht den ›Normalzustand‹ ärztlicher Praxis wieder, sondern verweisen ostentativ auf einen unvergleichbaren Zustand, c) der komparative Akt des Sehens ist auch und gerade in der Medizin ein zutiefst erfahrungsabhängiger Vorgang. So gesehen erscheint die Suche nach einer allgemein ›besseren Visualisierungstechnik‹ also deutlich kontextrelativ, was im Zusammenhang mit Neissers Atlas besonders stark ins Auge springt. IV Schluss
In den Bildwelten der Augenheilkunde des 19. Jahrhunderts zirkulieren Wissensbestände, Forschungspraktiken und Sehmodelle, die trotz der Verwendung neuester Medientechnologien in den älteren Traditionen des 18. Jahrhunderts – insbesondere der vergleichenden Naturgeschichte und den nosologischen Klassifikationssystemen – stehen. In mehrerer Hinsicht scheint hier Ludwik Flecks Diktum zu gelten: »›Sehen‹ heisst: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört.«39 Fleck hat die sozialwissenschaftliche Analyse des wissenschaftlichen Denkens und Sehens als in einem unauflöslichen Spannungsfeld stehend begriffen, wie dies auch am Beispiel der beteiligten Ophthalmologen im Neisser’schen Atlas deutlich wird. Sie waren nicht nur den neoenzyklopädischen Ansichten ihres Hauptherausgebers verpflichtet, sondern passten die morphologischen Reihen oder Serienbilder der Patienten in vorher bestehende biologische Taxonomien ein. Bei der Rekonstruktion einiger der Herstellungsbedingungen sowie der Anwendungsmodi der stereofotografischen Abbildungen ist ferner deutlich geworden, dass sich die Weisen des ›vergleichenden (Ein-)Sehens‹ faktisch unwesentlich von der zweidimensionalen Papierfotografie unterschieden. Der Erkenntnisgewinn Nosologie der Dritten Dimension
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selbst hielt sich gegenüber dem Überraschungseffekt einer ›Nosologie der dritten Dimension‹ begrenzt und war nur im Zusammenhang mit der den damals gängigen Aufnahmetechniken kaum zugänglichen Augenhintergrundsbetrachtung von signifikantem Vorteil. Nach heutigen Gesichtspunkten ist vielmehr festzustellen, dass sich die medizinisch interessanten pathologischen Augenbefunde in den Abbildungen des Neisser’schen Atlasses oft gar nicht in den Details ausmachen lassen. Dies widersprach bei der gegebenen unzureichenden Vergrößerung letztlich den Intentionen der jeweiligen Einzelautoren deutlich. Aus dem hier präsentierten Fallbeispiel ist ferner zu erkennen, wie stark aus einem rekurrenten Prozess heraus nicht nur die erzeugten Objekte selbst (wie Augenkrankheit, gewebspathologische Veränderung, allgemeiner Patienteneindruck), sondern auch die evozierte stereoskopische Nosologie – trotz medienpraktischer Neuerungen – frühen Blickweisen des Vergleichs in der Medizin verschrieben geblieben sind.
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Endnoten 1 Heiner Fangerau, Thorsten Noack und Anja Schonlau, Diagnose, in: Bettina von Ja-
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gow und Florian Steger (Hg.), Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, S. 176 –179. Ein interessanter Nebenbefund aus der Themenstellung dieses Aufsatzes ergibt sich terminologisch in Hinblick auf die multiplen Bedeutungen des griechischen Präfixes ›dia‹, welches sich etwa auch als ›durch, hindurch‹ im Deutschen übersetzen lässt. Während in der heutigen medizinischen Fachsprache die gesamte Wortbedeutung fast ausnahmslos auf die Differenzlogik des ›Dazwischen-Wissens‹ gerichtet ist und auf eine Kritik im Sinne der unterscheidenden Betrachtung hinausläuft, ist zumindest etymologisch eine weitere Bedeutung herzuleiten. Sie erscheint als ausgesprochene Transparenz, die offensichtlich auch das Bild wie die sichtbaren Symptome durchsichtig – im Sinne einer ›Durchforschung‹ der Krankheit – werden lässt. In der medizinischen Terminologie hat sich diese Bedeutung des ›diagnostischen Vergleichs‹ mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts aber fast vollständig verloren. Hans-Peter Kröner, Äußere Form und innere Krankheit. Zur klinischen Fotografie im späten 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28/2, 2005, S. 123 –134, bes. S. 123 –126. Frank Stahnisch, Ideas in Action. Der Funktionsbegriff und seine methodologische Rolle im Forschungsprogramm des Experimentalphysiologen François Magendie (1783 – 1833), Münster/Hamburg/London 2003, bes. S. 17– 25. Zum ähnlichen Ergebnis kommt Andreas-Holger Maehle, Zielsetzungen und erste Anwendungsbereiche der medizinischen Photographie im 19. Jahrhundert, in: Photomed 2/1, 1989, S. 137–148, bes. S. 137–140. Vgl. Rudolf Kötter, Abbildung, Verbildlichung und Veranschaulichung: zu Grundfunktionen des Bildes in den Wissenschaften, in: Frank Stahnisch und Heijko Bauer (Hg.), Bild und Gestalt. Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften?, Hamburg/Münster 2007, S. 161–178. Weiterführend zu Fragen der Bildverwendung in der Mikrobiologie: Thomas Schlich, »Wichtiger als der Gegenstand selbst« – Die Bedeutung des fotografischen Bildes in der Begründung der bakteriologischen Krankheitsauffasssung durch Robert Koch, in: Martin Dinges und Thomas Schlich (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stuttgart 1995, S. 143 –174; in der Neurophysiologie: Cornelius Borck, Die Unhintergehbarkeit des Bildschirms. Beobachtungen zur Rolle von Bildtechniken in den präsentierten Wissenschaften, in: Bettina Heintz und Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge Denken. Repräsentationsformen in Wissenschaft und Kunst, Zürich 2001, S. 383 – 394; sowie in der Radiologie: Markus Buschhaus, ›Bilderflut‹ – ›Bilderrausch‹ – ›Bildermedizin‹: Anmerkungen zum medizinischen Bildhaushalt, in: Stahnisch und Bauer, Bild und Gestalt (Anm. 5), S. 57–74. Cornelius Borck (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens, Frankfurt a. M. 1996. Sander L. Gilman, Disease and Representation. Images of Illness from Madness to Aids, Ithaca 1988; Stanley Joel Reiser, The science of diagnosis: diagnostic technology, in: William F. Bynum und Roy Porter (Hg.), Companion Encyclopedia of the History of Medicine, 2 Bde., London/New York 1993, Bd. 2, S. 826 – 851; Olaf Breidbach, Bilder des Wissens, München 2005. Für eine Biografie Neissers s. Sigrid Schmitz, Albert Neisser. Leben und Werk auf Grund neuer, unveröffentlichter Quellen, Düsseldorf 1967. Zum Entstehungszusammenhang siehe: Frank Stahnisch und Antonio Bergua, Historische Einleitung, in: Frank Stahnisch, Antonio Bergua und Ulrich Schönherr (Hg.), Albert Neissers (1855 –1916) »Stereoscopischer Medicinischer Atlas« – Eine außergewöhnliche fotografische Sammlung aus dem Gebiet der Augenheilkunde, Würzburg 2006, S. 1– 83, bes. S. 15 –19. Heinrich Hildebrand, Edgar Scholz und Julius Wieting (Hg.), Das Arteriensystem des Menschen im stereoskopischen Röntgenbild, Wiesbaden 1901; Ernst Sommer, Anatomischer Atlas in stereoskopischen Röntgenbildern, Würzburg 1906. Frank W. Stahnisch
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12 Zur ikonografischen Bedeutung der Röntgenfotografie im Analogievergleich zum ma-
krofotografischen Bild siehe den Beitrag von Vera Dünkel in diesem Band. 13 Siehe Bernhard Kathan, Objekt, Objektiv und Abbildung, Medizin und Fotografie, in: 14 15 16 17 18 19
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Fotogeschichte 21/80, 2001, S. 3 –16. Vgl. Renata Taureck, Die Bedeutung der Photographie für die medizinische Abbildung im 19. Jahrhundert, Köln 1980, S. 22 – 25. Siehe auch den Beitrag von Michael Bies in diesem Band. Vgl. Jörg Christiansen (Hg.), Das verführte Auge. Wege in die 3. Dimension, Bremen 2001, S. 39 – 41. Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997, S. 251– 258. André Gunthert, Klinik des Sehens. Albert Londe, Wegbereiter der medizinischen Fotografie, in: Fotogeschichte 21/80, 2001, S. 27– 40, hier S. 33f. Theodor Billroth, Stereoskopische Photographien chirurgisch Kranker, Erlangen 1867; Heinrich Curschmann, Klinische Abbildungen. Sammlungen von Darstellungen der Veränderungen der äußeren Körperformen bei inneren Krankheiten, Berlin 1894. Vgl. Martin Kemp, Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2001, S. 144. Carl Gegenbaur, Grundzüge der vergleichenden Anatomie, Leipzig 1859, S. 265. Mit dieser Ausrichtung steht Neisser nicht allein, sondern vielmehr am Ende einer Tradition die Sammeln selbst als Erkenntnisgewinn verstanden hat. Siehe Anke te Heesen und Emma C. Spary, Sammeln als Wissen, in: dies. (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2002, S. 7–12. Vgl. Volker Hess, Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin. Die Entstehung der klinischen Methoden zwischen 1750 und 1850, Husum 1993. Vgl. Eva Brinkschulte und Yara Lemke Muniz de Faria, Patienten im Atelier. Die Fotografien des Orthopäden Heiman Wolff Berend (1859 –1865), in: Fotogeschichte 21/80, 2001, S. 17– 26. Jutta Schickore, Fixierung mikroskopischer Beobachtungen: Zeichnung, Dauerpräparat, Mikrofotografie, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 285 – 310. Schlich, »Wichtiger als der Gegenstand selbst« (Anm. 6), S. 149 –154. Albert Londe, La photographie moderne. Traité pratique de la photographie et de ses applications à l’industrie et à la science, Paris 1896, S. 546 (Übersetzung FS). Vgl. Erin O’Connor, Camera Medica. Towards a Morbid History of Photography, in: History of Photography 23/3, 1999, S. 232 – 244. Nelson Goodman und Catherine Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1989, S. 100. Vgl. Leopold Heine, Aus der Universitätsklinik zu Breslau. Beiträge zur vergleichenden und entwicklungsgeschichtlichen Hirntopographie, in: Stahnisch, Bergua und Schönherr, »Stereoscopischer Medicinischer Atlas« (Anm. 10), S. 183 –199, bes. S. 185f. Heine, Aus der Universitätsklinik zu Breslau (Anm. 30), S. 184ff. Vgl. Clément Chéroux, Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Andreas Fischer und Veit Loers (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Ostfildern-Ruit 1997, S. 11– 22. Heine, Aus der Universitätsklinik zu Breslau (Anm. 30), S. 187. Ähnlich auch Peter Geimer, Einleitung, in: ders., Ordnungen der Sichtbarkeit (Anm. 25), S. 7– 25. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985; Peter Galison und Caroline E. Jones (Hg.), Picturing Science, Producing Art, London 1998; Lorraine Daston und Katherine Park, Wonders and the Order of Nature, 1150 –1750, New York 1998. Heine, Aus der Universitätsklinik zu Breslau (Anm. 30), S. 141–155, hier S. 142.
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Endnoten/Abbildungsnachweis 37 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einfüh-
rung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], Frankfurt a. M. 1993, S. 40ff. 38 Ludwik Fleck, Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens [1927], in:
ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung, hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1983, S. 37– 45, hier S. 37. 39 Ludwik Fleck, Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen [1935], in: ders., Erfahrung und Tatsache (Anm. 38), S. 59 – 83, hier S. 82.
Abbildungsnachweis 1 Männlicher Patient nach chirurgischer Behandlung einer Phosphornekrose, in: Theo-
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dor Billroth, Chirurgische Klinik in Zürich. Stereoskopische Photographien chirurgisch Kranker, Erlangen 1867, Lief. 1, Fig. 3. Wilhelm Uhthoff, Lymphomatoese Wucherung der Conjunctiva bulbi, in: A. Neisser (Hg.), Stereoscopischer Medicinischer Atlas, Leipzig 1900, 2. Folge, Taf. 390. Ernst Wanner, Colomboma palpebrae inferioris duplex congenitum, in: Albert Neisser (Hg.), Stereoscopischer Medicinischer Atlas, Leipzig 1905, 9. Folge, Taf. 642. Leopold Heine, Ein seltenes Bild des Sarkoms, in: Albert Neisser (Hg.), Stereoscopischer Medicinischer Atlas, Leipzig 1901, 4. Folge, Taf. 524. Leopold Heine, Kopf mit Hirn eines menschlichen Foetus aus dem 7.– 8. Graviditaetsmonat, in: Albert Neisser (Hg.), Stereoscopischer Medicinischer Atlas, Leipzig 1902, 6. Folge, Taf. 544.
Frank W. Stahnisch
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Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion: eine Fallstudie zu vier Werkverzeichnissen der Radierungen James McNeill Whistlers Grischka Petri
I Sammler der Druckgrafik im Etching Revival: vergleichendes Sehen im Dienste der Distinktion
1. Das Etching Revival und die Mechanismen der Distinktion Das Sammeln von Druckgrafik fand im 19. Jahrhundert während des Etching Revival in Großbritannien immer mehr Anhänger. Besonders die durch die Industrialisierung reich gewordene obere Mittelklasse, die nun auch politisch an Einfluss gewann, kaufte zeitgenössische Kunst.1 Ihre Sammler residierten nicht nur in London, sondern auch in Manchester, Liverpool, Newcastle und Birmingham. Dort wurden seit Mitte der 1870er Jahre druckgrafische Ausstellungen ausgerichtet. Der Boom setzte sich in die USA fort. In der 1880 erschienenen amerikanischen Neuauflage des 1844 von Joseph Maberly in London publizierten Handbuchs The Print Collector konstatierte der Herausgeber Robert Hoe Jr., es gebe in den USA einen großen Bedarf an vertrauenswürdigen Informationen über das Sammeln von Druckgrafik.2 Die soziologischen Implikationen dieser Entwicklungen lassen sich mit Hilfe der Distinktionstheorien Pierre Bourdieus besser verstehen. Sammler benutzen ihre Kunstobjekte als Statussymbol. Sie häufen dadurch soziales Kapital an. Künstler produzieren 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Werke, die diesen Bedarf bzw. dieses Bedürfnis befriedigen. Über die Instanzen der Händler und Kritiker entfaltet sich dann eine Homologie zwischen Produzenten und Käufern, Künstlern und Sammlern; das künstlerische Feld organisiert sich.3 Die Sammler von Radierungen im Etching Revival sahen in ihrem Interesse für die Radierung einen Beweis ihrer eigenen Kultiviertheit. Philip G. Hamerton fand dafür 1868 folgende Worte: »indifference to etching is wholly incompatible with high culture«.4 Es galt der von Bourdieu beobachtete Zusammenhang: Man unterscheidet sich von anderen sozialen Gruppen, indem man selbst gewisse Unterschiede macht. Durch ein spezifisches Distinktionsvermögen versichert sich der Angehörige einer Gruppe deren Zugehörigkeit. Dieses Distinktionspotential wird für die Sammler von Druckgrafik mit den Mitteln des vergleichenden Sehens aktiviert. Der Sammler trifft unterscheidende Entscheidungen in seinem Kauf- und Sammelverhalten und reproduziert auf diese Weise soziale Unterschiede. Die materielle Aneignung eines Kunstwerkes durch einen Ankauf wirft einen symbolischen Gewinn ab, der vom Distinktionspotential des Werkes abhängt. Dieses beruht seinerseits auf dem Grad an kultureller Kompetenz, die notwendig ist, um das Werk zu verstehen – eine Interdependenz, die zur Regulierung des sozialen Kontextes eines Kunstwerkes beiträgt.5 In diesem Sinne zeigt sich der ästhetische Geschmack, den Thorstein Veblens leisure class zur Schau stellt, im Erwerb der ›richtigen‹ Art von Objekten.6 2. Der Bildvergleich als Demonstration von Kennerschaft Joseph Maberly führte in seinem Sammler-Ratgeber von 1844 drei Kriterien für das richtige Sammlungsobjekt an: Ein Druck sollte ein früher Abzug sein, von guter Qualität und in gutem Erhaltungszustand. Insbesondere die Probeabzüge (proofs) seien begehrt, da sie von einer noch neuen Platte stammten. Deshalb würden sie auch im Kunsthandel beworben, wenngleich es bedauerlich sei, dass ein Verfahren, das ursprünglich ausschließlich die künstlerische Qualität sichern sollte, nun zu einer Verkehrseigenschaft herabgesunken sei. Nicht ohne Grund benutzt Maberly an dieser Stelle den Begriff der »distinction«, die sich der Handel zu Nutze mache.7 Die Qualität der erworbenen Drucke und der Sammlung färbt auf die Qualität des Sammlers ab, der sich auf diese Weise als kompetent erweist: als Kenner (connoisseur). Die im späteren 19. Jahrhundert wachsende Zahl und die zahlreichen Auflagen von Ratgebern für Sammler und solche, die Grischka Petri
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es werden wollten, sprechen für sich: Sie behandeln sämtlich die Kunst des vergleichenden Sehens bei der Bewertung von Druckgrafik. Neben Maberlys Ratgeber ist der von J. Herbert Slater ein weiteres, stark nachgefragtes Beispiel. Erstmalig 1891 erschienen, 1929 in der sechsten Auflage auf dem Markt, unterschied dieses Handbuch für den Begriff proof ein gutes halbes Dutzend unterschiedlicher Varianten je nach verwendetem Papier, vorhandener Bleistift-Signatur und schon oder noch nicht angebrachtem Drucker- und Verlegernamen.8 Der Variantenreichtum gilt noch mehr für die verschiedenen Zustände, welche die Kupferplatte während der Bearbeitung durch den Künstler durchläuft. Zur Kontrolle der fortschreitenden Arbeiten druckt der Painter-Etcher, also der Original-Radierungen herstellende Künstler, von der Platte immer wieder Abzüge. Die Differenzierung dieser states verlangt große Sorgfalt in der Benennung und demonstriert mithin noch größeres Expertenwissen. Der Sammler sieht, was andere nicht sehen: »When a collector, eminent for a nearly complete collection of Rembrandt’s works, opens his folio, he discloses, on sheet after sheet, four, five, six, or more, and it may be ten, as we have just seen, prints, all, to a common eye, and at first sight, the same thing so many times repeated. The eye of the cognoscenti fixes at once upon the one rare state, whichever it may be, and regards no other; the eye of the uninitiated wanders about, uncertain where to fix, and feels as if looking through a multiplying glass.«9 Wie Chambers festgestellt hat, entwickelt sich ein solches Wissensgefälle innerhalb einer Hierarchie der Fähigkeit, Bildvergleiche anzustellen, zum kennerschaftlichen Topos.10 Whitman und Salaman empfohlen in ihrem Ratgeber dem angehenden Sammler, in ein öffentlich zugängliches Kupferstichkabinett zu gehen und dort sorgfältig Bildvergleiche anzustellen, um auf diese Weise sein Auge zu erziehen und zu Qualitätsurteilen zu befähigen. Die verschiedenen states erkenne man mit Hilfe von »comparison and general knowledge«.11 3. Die Generierung von Distinktion durch das Sammeln von Raritäten und ihre Grenzen Die bildvergleichende Distinktion wirkt indes nicht nur als Demonstrationsvehikel für Kennerschaft und Wissen, sondern ist auch an das Konzept der Rarität gekoppelt. So teilte Maxime 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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Lalanne in seinem 1866 veröffentlichten Buch über die Technik der Radierung in nüchternen Worten mit: »On recherche également les épreuves de remarque, celles des divers états d’une planche, pour se rendre compte des modifications qu’elle a subies. Leur rareté en augment le prix.«12 Die unterschiedenen Zustände und Spielarten der proofs/ épreuves können so in eine Hierarchie der Seltenheit gebracht werden, die sich auf den (Geld-)Wert der Grafik unmittelbar auswirkt.13 Wenn der Sammler John Sheepshanks (1787 –1863) sich damit brüstet, er besitze eine berühmte Radierung Isaak Ostades, in welcher das dargestellte Schwein drei Striche mehr auf seinem Rücken zeige als auf jedem anderen bekannten Abzug dieser Platte, geht es nur scheinbar ausschließlich um die Präzision des Kennerblicks. Vielmehr ist die Rarität des mit diesem Blick erkannten Sammlungsobjektes der eigentliche Grund des zur Schau gestellten Stolzes.14 Der seltene Druck ist teuer; sein Besitz zeugt vom Reichtum des Sammlers. Roger Fry hat hierzu bemerkt: »[…] an opifact that anyone can possess does not confer prestige, and is therefore useless. Rarity, and the fact that other people want and cannot have the rare object that you possess, is essential to the whole business.«15 Seltenheit wandelt somit finanzielle in soziale Distinktion um.16 Der Besitz seltener proofs und states treibt diesen Prozess für die Sammler von Radierungen an, wie auch die Londoner Pall Mall Gazette 1890 erkannte: »The collector hates the common crowd, and will only have etchings that are scarce.«17 Der Erstdruck eines Künstlers funktioniert als Statussymbol, das nur die Eingeweihten erkennen. In diesem Exklusivzugang zum vergleichenden Sehen generieren sich soziales Kapital, Prestige und Status. Schon Maberly nahm durchaus den sozialen Druck der kennerschaftlichen Kreise, der »coterie of connoisseurship« wahr, die um Seltenheit und Vollständigkeit ihrer Sammlungen wetteiferten. Der Kunst liebende Sammler solle sich aber um »common-sense« bemühen und nicht um jeden Preis und nur der Vollständigkeit der Sammlung willen seltenen Zuständen hinterherjagen.18 Ist diese Einschränkung des Strebens nach Raritäten eher ökonomischen Zwängen geschuldet und bleibt also innerhalb der wirtschaftlichen Erwägungen, ergibt sich eine weitere Beschränkung der Raritäten-Logik daraus, dass der künstlerische durch den Seltenheitswert in den Schatten gestellt werden könnte. Hier muss eine Balance eingehalten werden, wie der Bericht eines anderen Memoirenschreibers über Sheepshanks nahelegt: Grischka Petri
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»He seemed to me to value them more for their rarity than for their merit; e. g., an early impression which was scarce was to him worth much more than the finished production, and on my venturing one evening to say so, he was disconcerted; and to show me how wrong I was, he made me count, with a magnifier, the number of dots on a sheep’s tail; and the impression with twenty dots he considered much better than that with fifty. ›Why, then,‹ I asked, ›did the artist who did the etching add more than twenty? Was it not that, by so doing, he represented the form more perfectly, and was not he the best judge?‹ After this, he shut up the book, and would show me no more […].«19 An dieser Stelle bricht das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Intention und ökonomischem Interesse an Raritäten auf. Beide müssen zumindest den Anschein einer klaren Trennung voneinander wahren. Um die marktunabhängige künstlerische Integrität aufrecht zu erhalten, soll die Entscheidung des Künstlers für oder gegen weitere Punkte und Linien in der Grafik von wirtschaftlichen Erwägungen frei bleiben. In der Ratgeberliteratur für Sammler wurde (teilweise zweifelnd) Rembrandt als tradiertes Beispiel für den Verstoß gegen diese Trennung genannt.20 Hamerton unterstellte Whistler 1868 ähnliche Motive.21 Über die Definition der proofs entbrannte ein Streit zwischen Künstlern und Händlern.22 Das vergleichende Sehen des Künstlers ist demzufolge ein anderes als das des Sammlers: Beide identifizieren physiologisch zwar den gleichen Unterschied zwischen den Plattenzuständen, interpretieren dieses Zeichen indes nach unterschiedlichen, dem jeweiligen Habitus entsprechenden Zwecken.23 Während der Sammler-Kenner tatsächlich vergleicht, um sein Eigentum im Wert wachsen zu lassen, resultieren die vom Künstler getroffenen Veränderungen aus dessen Streben nach Vollendung des Kunstwerks. Auch wenn letzterer möglicherweise nicht ganz frei von kommerziellen Absichten handelt, kommt er in dem herrschenden Rollenmodell in den Genuss einer Art Unschuldsvermutung, auf die sich der Sammler, der die Kunstwerke kaufen muss, nicht berufen kann. Im Gegenteil hat sich der Sammler gegen dieses Korruptionspotential mit reinem Herzen aktiv zu wehren: »Yet, for the true connoisseur, enjoyment rather than property is always the desideratum […].«24 In dem Moment, in welchem Eigentum und Besitz der Raritäten 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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als Zweck des Bildvergleichs in den Vordergrund gestellt werden, fällt beim Kenner die Maske des Kunstliebhabers, und er wird zum Investor. Entsprechend wird die Übung im vergleichenden Sehen bei Sheepshanks abgebrochen, als der Besucher die habituell notwendige Trennlinie zwischen freier Kunst und ökonomisch geprägter Hierarchie der Rarität einreißt. Es ergibt sich daraus die Frage, ob das Werkverzeichnis als Medium des Bildvergleichs diese Trennlinie beachtet und aufrecht erhält. Es würde dadurch sowohl dem wirtschaftlichen Nutzen der Distinktion dienen als auch den kennerschaftlichen Status mitgenerieren, der das reine Interesse an der Kunst verkörpern soll. II Das Werkverzeichnis als Medium des Bildvergleichs
Der Nutzen des Werkverzeichnisses für Händler und Sammler wurde gemeinhin anerkannt. Ein Sammler von Radierungen musste, um sein soziales Kapital effizient anzureichern, möglichst schnell bildvergleichendes Wissen erwerben. Nur so konnte er die richtigen Unterscheidungsmerkmale erkennen, die ihm und seiner Sammlung einen höheren sozialen Status gaben. Hierzu empfahl beispielsweise Frederick Wedmore die Konsultation von Werkverzeichnissen, um die durch Bildvergleiche gesammelten kennerschaftlichen Erfahrungen zu ergänzen.25 Ähnlich äußerten sich Whitman und Salaman: »Before deciding upon a purchase, it is always well, where convenient, to consult a catalogue in which the print is described and the ›states‹ are set forth; and it is also a good plan, where possible, to compare the print under consideration with another impression.«26 Slater stellte die Frage, »how the various states, which mean so much when a question of value is involved, are to be distinguished one from another. The reply to this is […] Books of reference are essential.«27 In diesen Passagen werden bemerkenswerterweise der Bildvergleich, die entsprechenden Preise beim Erwerb und die Bedeutung von Werkverzeichnissen miteinander verknüpft. Tatsächlich bilden Händlerkataloge frühe Beispiele für Werkverzeichnisse, wie etwa das 1751 in Paris publizierte Verzeichnis der Rembrandt-Drucke von Edmé-François Gersaint, das kurz darauf in englischer Übersetzung in London erschien.28 Im Einklang mit der Sammlerkongruenz von optischer und sozialer Distinktion wies Grischka Petri
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auch Gersaint auf bekannte Varianten hin, insbesondere wenn sie »extremely scarce« waren, und beschrieb diese.29 Ebenso erkannte Maberly dem Katalog, der die Varianten einzelner Drucke verzeichnet und auf diese Weise das Ergebnis sorgfältiger Bildvergleiche speichert, als Medium für den Sammler große Bedeutung zu, insbesondere dem von Adam Bartsch begründeten Le peintre-graveur: 30 »There is a book […], the ›Peintre-Graveur‹, by Bartsch, in which the author has, for the benefit of future collectors, given the result of a most laborious examination of all the prints by the artists of whose works he treats, with the copies which exist of them; all of which copies he enumerates and describes; and he has taken the pains to compare, minutely and accurately, every line of the original with every line of the copy, and has noted down the deviations so far as is sufficient to discover, and proclaim some characteristic token of recognition and detection. In many cases, the difference detected and thus proclaimed is so exceedingly slight as not to be discernible, even when pointed out, unless by a very sharp sight or with a glass. He has not only noted these down, but has also, in his book, given prints on an enlarged scale of the parts wherein the variation is, showing precisely in what it consists.«31 Die erwähnten Illustrationen bildeten freilich die Ausnahme in den Katalogen Bartschs. Nur in einigen Bänden finden sich illustrierende planches explicatives zu seinen Beschreibungen [Abb. 1]: Nachstiche von Details, welche, wie hier im Falle Dürers, die Unterschiede von Original und Kopie verdeutlichen sollten. Abbildungen der gesamten Blätter waren bei Bartsch ebensowenig enthalten wie in den bald darauf erscheinenden, das Werk Bartschs fortführenden Katalogen von Johann David Passavant und Alexandre-Pierre Robert-Dumesnil.32 Es gab noch keine Reproduktionsverfahren, die für die erforderliche hohe Zahl an Illustrationen in Frage kamen, weder technisch noch wirtschaftlich. Gersaints und Bartschs Kataloge gehen in ihrem Anspruch über einen Händlerkatalog lieferbarer Blätter oder das Inventar einer Sammlung hinaus. Sie verlassen dadurch die Sphäre von Eigentum und Sammlerleidenschaft in Richtung eines Wissens um künstlerisch begründete Entwicklungen, das von der Kennerschaft in eine Kunstwissenschaft führen wird. Gleichwohl diente insbesondere Bartschs Peintre-graveur dem vergleichenden Sehen, 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Adam Bartsch, Le peintre graveur, 1876, Anhang, Taf. III und IV. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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wie es Sammler und Händler praktizierten und brauchten, mit der Unterscheidung verschiedener proofs und states.33 III Die vier Werkverzeichnisse der Radierungen Whistlers 1874 –1910
Die Werkverzeichnisse der Radierungen Whistlers bilden in ihrer Entwicklung Fallbeispiele für den Balanceakt zwischen dem Status eines Hilfsmittels für Handel und Sammler und demjenigen eines Instruments, um die Entwicklung der Zustände unter künstlerischen Aspekten zu verzeichnen. Sie nehmen dabei verschiedene Positionen ein. Prominente Sammler von Whistlers Radierungen waren seit Ende der 1880er Jahre der Detroiter Eisenbahnindustrielle Charles L. Freer (1856 –1919) und der New Yorker Rechtsanwalt Howard Mansfield (1849 –1938). Beide waren darauf aus, proofs und early states zu erwerben, am liebsten, unter Umgehung des Handels, von Whistler selbst. Freer besuchte Whistler in dessen Ateliers in Paris und London.34 Auch Mansfield trat an den Künstler persönlich heran: »The impression you showed me of ›Pierrot‹ is so fine – finer decidedly than the one I have – I feel that I must have it.«35 Wieder stehen der Bildvergleich, das kennerschaftliche Kriterium der fine impression und der Besitz als Ausdruck des Distinktionswillens in einem engen Zusammenhang. Der Besitz erscheint als umso stärkere Triebfeder, als Mansfield zum Zeitpunkt des Schreibens kaum einen unmittelbaren Vergleich zwischen dem ihm vom Künstler gezeigten und dem bereits in seiner Sammlung befindlichen Abzug vorgenommen haben kann. Bei anderer Gelegenheit freilich zeigt Mansfield, dass er zu Hause verschiedene Blätter vergleicht, bewertet und auch eventuell zurückgibt: »The impression of ›The Long House‹ on the Japanese paper confirms my opinion, formed from hasty comparison when Mr. Freer brought here the first impressions, that such an one would be preferable [to] the impression first sent me. So I return that – or will by an early mail. The second impression of the Zaandam is so different from the first, and both are so interesting, that I have decided to keep both.«36 Das umständliche Verfahren, Radierungen per Post zu versenden, um den kennerschaftlichen Bildvergleich zu ermöglichen, belegt auch für Whistlers Blätter das Bedürfnis nach einem Übersicht verschaffenden Werkverzeichnis, zumal der Künstler im Grischka Petri
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Ruf stand, seine Radierungen von Anfang an durch Manipulationen des Plattentons und zahlreiche Probeabzüge auf Seltenheit zu trimmen. Der erste Katalog erschien 1874, weitere folgten. Diese Werkverzeichnisse sollen einer näheren Betrachtung unterzogen werden. 1. Ralph Thomas 1874 Laut Vorwort hatte Ralph Thomas den Katalog zu seiner eigenen Nutzung angelegt und auf Wunsch einiger Freunde, die wie er selbst Bewunderer Whistlers waren, in einer Auflage von 50 Exemplaren drucken lassen. Er führte 86 Radierungen auf. 37 Nur 25 Exemplare des Kataloges gingen in den freien Verkauf. Thomas repräsentiert damit den amateur, den Kunstliebhaber, der mit dem Katalog in erster Linie seinen Schritt in Richtung Kennerschaft dokumentiert. Auf unterschiedliche Zustände und deren Beschreibung ging Thomas in seinem Vorwort indes nicht ein. Edward Kennedy bemerkte später: »It is a list of subjects only, but slight attempt at the description of states being made […]«.38 Vereinzelt notierte Thomas aber Unterschiede, so etwa bei dem Blatt Nursemaid and Child [Abb. 2 und 3]: »Sitting on the right in a landscape. A cow and two figures indicated in the distance; to the left ›Whistler‹. First state very rare; in the second state the nurse’s face is entirely altered, the nose being straight in the first state, and round in the second.«39 Thomas bemerkt hier die Seltenheit des ersten Zustands 40 und nennt damit sogleich eines der zentralen Kriterien, weshalb Zustände überhaupt unterschieden werden. Bei fünf weiteren Platten unterscheidet er zwischen zwei und einer unspezifizierten Anzahl »früher Zustände«. Während Thomas’ Katalog vorgeblich derjenige eines Kunstliebhabers war, stand er doch zumindest mittelbar im Kontext des Kunsthandels, da sein Vater und Bruder mit Whistlers Radierungen handelten. View up the River from Rotherhithe, in den anderen Katalogen unter dem heute bekannteren Titel The Little Pool aufgenommen, verrät diese Verbindung in einigen Zuständen mit der Inschrift »The Works of James Whistler: Etchings and Dry Points, are on view at E. Thomas’ Publisher, 39, Old Bond Street.«41 2. Frederick Wedmore 1886/1899 Thomas’ Katalog wurde schnell inaktuell, da Whistler zahlreiche weitere Radierungen produzierte, etwa die Venedig-Serien von 1880 und 1886. Damit wuchs auch neuer Informationsbedarf bei Händlern und Sammlern nach, dem 1886 vorläufig abgeholfen 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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2 James McNeill Whistler, Nursemaid and Child, 1859, Radierung, erster Zustand.
werden konnte, als der Kunsthändler Alphonse W. Thibaudeau das nächste Werkverzeichnis von Whistlers Radierungen veröffentlichte, Whistler’s Etchings: A Study and a Catalogue, das, von Frederick Wedmore bearbeitet, in einer Auflage von 140 Exemplaren 214 Radierungen verzeichnete.42 Die Rolle des Kataloges als ein Hilfsmittel, das Verlässlichkeit und Informationstransparenz herstellen soll, impliziert eingehendere Nachforschungen seines Autors. Wedmore berief sich im Vorwort auf die zahlreichen Helfer, die ihm Einblick in ihre Sammlungen verschafft oder mit ihrem Wissen zum Verzeichnis beigetragen hatten. Hier wird deutlich, dass ein Werkverzeichnis die vorher verstreute und nur schwer erreichbare kennerschaftliche Information bündelt, ordnet und – unter Vorbehalt – objektiviert dem gesamten Feld verfügbar macht. Die Bedeutung der gesammelten Fakten wird zu Lasten des Autor-Kenners nach vorn gerückt. Hierin liegt zum einen ein Schritt in Richtung auf eine faktenbasierte Kunstwissenschaft, zum anderen wird das vormalige Insider-Wissen – im Einklang mit der zeitgemäßen Propagierung von Kunst für die middle classes – durch die Veröffentlichung tendenziell demokratisiert. In einer zweiten Auflage seines Kataloges versuchte Wedmore 1899, mit der künstlerischen Produktion Whistlers Schritt zu halten. Nachdem Thibaudeau Mitte der 1880er Jahre aufgrund von Spielschulden das Land verlassen hatte, wurde diese Ausgabe von der Londoner Galerie P. and D. Colnaghi & Co. besorgt. Der Grischka Petri
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Katalog wurde in einer Auflage von 135 Exemplaren gedruckt und umfasste 268 Einträge.43 Wedmore benannte in seinen Katalogen auch verschiedene Zustände, wenngleich nicht sehr vollständig, wie Mansfield kritisierte: »In each of these editions the record is meagre in specifications of states, and in neither is it exhaustive as regards the number of plates that had been completed.«44 Auch in seiner Einleitung ging Wedmore nicht auf Zustände und deren Beschreibung ein – angesichts ihrer Bedeutung für Sammler und Händler ein beinahe ›anti-kapitalistischer‹ Gestus zur Betonung seines eigenen Abstandes zum Kunsthandel. Wedmore benötigte diesen zur Legitimation seiner Position als Kunstkritiker und Buchautor, der aktiv am Etching Revival teilnahm. In seinem Vorwort machte Wedmore deshalb eine ähnliche kennerschaftliche Genese geltend wie sein Vorgänger Thomas: »I began this Catalogue for my own use, and finished it for my brother-collectors; and for Mr. Thibaudeau, its first publisher […].«45 Der Händler erscheint in dieser Reihe zuletzt und wird nicht einmal als Händler gekennzeichnet. Trotzdem weist Wedmore hier – wohl unbewusst – auf die Rolle des Werkverzeichnisses als wert-bildenden Faktor hin. Der mit seiner Hilfe angestellte Bildvergleich findet unter Sammlern stets in einer ökonomisch imprägnierten Sphäre statt. So gibt Wedmore auch den Hinweis Thomas’ weiter, dass der erste Zustand von Nursemaid and Child [Abb. 2] selten sei:
3 James McNeill Whistler, Nursemaid and Child, 1859, Radierung, zweiter Zustand.
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»They sit on the right, in a landscape of suburban field, which Whistler told Mr. Avery was ›near Holloway.‹ It is not beautiful, and may very well be there. At the left ›Whistler.‹ First State. Before the alterations in the nursemaid’s face. Rare. Second State. The straight nose of the nursemaid becomes a nez retroussé – somehow she is a pleasanter young woman, – the line of the mouth is less austere, and several strokes from ear to chin indicate the curves of the cheek.«46 3. Howard Mansfield 1909 Nach dem Tode Whistlers 1903 bestand nicht mehr das Problem, dass der Künstler durch neue Radierungen Neuauflagen der Kataloge notwendig machte. In mehreren Gedächtnisausstellungen in Boston (1904), London und Paris (1905) wurde das Werk Whistlers kanonisiert; große Retrospektiven der Druckgrafik organisierten ferner 1904 der Caxton Club in Chicago und der Grolier Club in New York, letzterer mit einem ausführlichen Katalog.47 Entsprechend gab es auch Bestrebungen, einen ›definitiven‹ Katalog der Radierungen herauszugeben. Mansfields Katalogprojekt entwickelte sich aus den Aktivitäten des Caxton Clubs in Chicago, der bereits 1900 eine große Ausstellung von Whistlers Radierungen im Gebäude des Art Institute durchgeführt hatte. Diese sollte von einem illustrierten Katalog begleitet werden, doch sperrte sich Whistler gegen Abbildungen in einer kleinen Einheitsgröße. Hingegen befürwortete er die Erstellung eines »full descriptive catalogue«.48 Mansfield unternahm es demzufolge in seinem Katalog, die unterschiedlichen Zustände in außerordentlich genauen Beschreibungen festzuhalten: »The aim has been to include descriptions of all plates known to have been the work of Whistler, and of all ascertainable states of these plates.«49 Mansfields Katalog ist dadurch zu einem beeindruckenden Dokument seines vergleichenden Sehens als Sammler und Kenner geworden. Die Beschreibungen der 443 aufgeführten Radierungen und ihrer einzelnen Zustände sind in Präzision und Detailreichtum bis heute unerreicht. Auch in unserem Beispiel der Nursemaid and Child ist seine Beschreibung detaillierter als die seiner beiden Vorgänger: »At the right, in an open field, a woman wearing a striped dress and a bonnet with strings is seated near a child wearing a hat and a velvet cape. An open parasol is propped up between them. A paling on an embankment across the Grischka Petri
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field extends toward the left, to a corner at which are two large trees. Beyond, a man and a woman are walking. Near the left lower corner: ›Whistler.‹ First state: The woman has a straight nose and her hair is combed over her ears. On the impression of this state in the Avery Collection Whistler wrote: ›Near Holloway‹ and ›1st State.‹ Second state: The woman’s features are entirely changed. Her nose is retroussé and her hair is combed back.«50 Es fällt auf, dass Mansfield im Gegensatz zu Thomas und Wedmore nicht verrät, dass der erste Zustand selten ist. Er neutralisiert dadurch die Nähe des Sammlers zum Markt und verschafft der Kennerschaft ein Mehr an Glaubwürdigkeit im Sinne der oben beschriebenen habituellen Trennlinie zwischen dem Raritätensammler und der Apperzeption jener künstlerischen Intentionen, die durch die Folge von Zuständen sichtbar werden.51 Als einzigem der Whistler-Kataloge bestanden bei Mansfields Katalogprojekt keine Verbindungen zum Kunsthandel. Mansfield war selbst kein Händler, sondern Sammler, und der Caxton Club in Chicago keine Galerie, sondern eine Versammlung von druckgrafischen Aficionados. Ganz im Sinne der Ratgeberliteratur seiner Zeit unterstreicht Mansfield in seinem Katalog die eigene Position als marktferner amateur, der seine Sammlung nicht ausschließlich nach dem Seltenheitswert der Objekte ausgerichtet habe, sondern nur nach dem »artistic merit«.52 Bei Mansfield wird das vergleichende Sehen also ausschließlich in den Dienst des Erkennens künstlerischer Qualität gestellt. Das Wort »rare« kommt in seinen Beschreibungen nicht vor, während es bei Thomas fünf und bei Wedmore 39 mal verwendet wird. Mansfield präsentiert seinen Katalog mithin als den eines – gewissermaßen politisch korrekten – true connoisseurs im Sinne des Print Collector’s Handbook. 4. Edward Kennedy 1910 Etwa zeitgleich wie Mansfield unternahm es auch der New Yorker Händler Edward G. Kennedy (1849 –1932), Whistlers Radierungen in einem definitiven Katalog zusammenzutragen. Kennedy war zu diesem Zeitpunkt Inhaber der Galerie Hermann Wunderlich & Co., deren Mitarbeiter und Teilhaber er schon seit den 1880er Jahren war. Zu Lebzeiten Whistlers etablierte Kennedy sich als Brückenkopf des Künstlers in den USA und erreichte eine 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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hervorgehobene Stellung, die einem Exklusivvertrieb für die Druckgrafik Whistlers zeitweise nahe kam. Wunderlich & Co. gaben 1902 einen Ergänzungsband zum Katalog Wedmores in einer Auflage von 135 Exemplaren heraus. Im Titel bezog sich Kennedy wieder auf die Kennerschaft als publizistischen Impuls: Catalogue of Etchings by J. McN. Whistler, Compiled by an Amateur, Supplementary to that Compiled by F. Wedmore. Der Band bestätigte auf diese Weise erneut das Band zwischen Kennern und Händlern. Der Verfasser sollte möglichst ein amateur sein, der Verleger und damit Geldgeber konnte dann ein Händler sein. Wedmores Katalog war in derselben Konstellation publiziert worden. Edward Kennedy plante indes zusammen mit dem New Yorker Grolier Club ein Verzeichnis mit Illustrationen – eine Neuheit für die Radierungen Whistlers. Whistler stand dem Unternehmen, als Kennedy ihn 1901 darauf ansprach, skeptisch gegenüber. Er berichtete von einem Amerikaner, der einen ähnlichen Vorschlag gemacht habe, aber ihm seien die Illustrationen zu klein gewesen.53 Kennedy versicherte ihm, dass sein Projekt exklusiv sei und keinesfalls mit seinem »great work« interferieren würde. Sein Vorbild sei Rovinskis Katalog der Rembrandt-Radierungen.54 Angesichts einer Ausgabe dieses Kataloges, zu der Kennedy auch einige RembrandtOriginale zum Vergleich daneben legte, gab Whistler zu: »This is quite another kind of thing, this is very swell.«55 Von Whistler gefragt, wie er sich denn die Durchführung eines so ambitionierten Projekts vorstelle, legte Kennedy den seiner Ansicht nach entscheidenden Vorzug dar, der mitten in das Problem der angemessenen Wiedergabe der Zustände und der Umsetzung gemachter Erfahrungen des vergleichenden Sehens führt: »I pointed out that it would take time and patience, but that a descriptive catalogue could never be so satisfactory as one in which all the variations of his work could be seen together […].«56 Statt minutiöser Beschreibungen der Zustände sollten nun Abbildungen den Vergleich durch den Katalogbenutzer selbst vereinfachen. Der Bildvergleich wird nicht mehr umschrieben, wie bei Mansfield, sondern kann unmittelbar geleistet werden. Seit 1903 fotografierte Kennedy sämtliche Whistler-Radierungen, die den Weg in seine Galerie fanden.57 Der Zweck, dem vergleichenden Sehen ein adäquates Medium zu verschaffen, die »purposes of comparison«,58 bilden den Maßstab des Kataloges, der 448 Radierungen Whistlers in insgesamt über 1000 Varianten aufführte. Nur in Ausnahmefällen wurde auf die Abbildung eines Zustands verzichtet, Grischka Petri
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wenn keine Vorlage erreichbar war oder die Zustandsänderungen nur die Inschriften betrafen. Kennedy stand mit seinem Ansinnen mitten im zeitgemäßen Vormarsch der Fotografie als populärem Reproduktionsmedium, das Sammlern von (Druck-)Grafik größere Möglichkeiten gab, ihr Wissen zu vertiefen. 59 William Ivins unterstreicht die Bedeutung der Technik für den Bildvergleich: »Previous to the invention of photography it was impossible to make comparisons between objects situated in two different places. The photograph made it possible for a man in New York to have side by side upon his desk absolutely reliable reproductions of a series of drawings in London, Paris, Berlin, Vienna, and Florence, and to draw from them conclusions concerning the originals which scholarship would accept.«60 Die Fähigkeit, durch gute Reproduktionen die Entfernungen zu überwinden, die einem Bildvergleich (»side by side«) entgegenstehen, verkörpert ein illustriertes Werkverzeichnis vortrefflich. Andere gingen um die gleiche Zeit einen ähnlichen Weg und nahmen Illustrationen auf, z. B. Delteil 1906 in Le Peintre-Graveur Illustré. Kennedy nutzte die Fotografien bereits bei der Erstellung seines Katalogs: »Wherever I sought a print, I carried with me such reproductions of it as I had already made from other impressions, so that the identification of variations was facilitated.«61 Gerade im Vergleich zu Mansfields aufwendigem Vorgehen bei den Bildvergleichen für seine eigene Sammlung zeigt sich die praktische Überlegenheit der Methode Kennedys. Dennoch scheint dieser einen Rest Skepsis besessen zu haben, denn er führte eine Art salvatorische Klausel bezüglich der Beschreibungen in seinem Katalog an: »While, with the illustrations before the reader, it is not necessary to be microscopic in describing the variations between different states, in nearly all cases the descriptions will be found sufficiently precise, and full enough practically to stand by themselves.«62 Ob die Beschreibungen für sich stehen könnten, mag angezweifelt werden. Wieder kann Nursemaid and Child [Abb. 2 und 3] als Beispiel dienen. Die Beschreibung Kennedys ist merklich kürzer als diejenige Mansfields: »I. The nose of the nursemaid is straight. II. The nursemaid’s nose is retroussé; the face and hair are redrawn, and straggling hairs fall over her temple and cheek.«63 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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Kennedy beschränkt sich auf Veränderungen zwischen den Zuständen, statt eine vollständige Beschreibung der Bildmotive zu leisten. Bei den 146 Radierungen, die er nur in einem Zustand katalogisiert, hat Kennedy sogar gänzlich auf Beschreibungen verzichtet. In Schlagworten ausgedrückt, ist Mansfields Katalog deskriptiv, Kennedys illustrativ. Der Bildvergleich ist bei Kennedy unmittelbar und ohne den Umweg über die sprachliche Vermittlung möglich, die sich auf eine Funktion der Fokussierhilfe beschränkt. Für einen identifizierenden Bildvergleich, den ein illustriertes Werkverzeichnis ermöglicht, ist in der Tat keine Beschreibung notwendig. Zur Erschließung von Hintergrundinformationen über das Sujet ist sie hingegen unerlässlich, weshalb Mansfields Katalog seine kunsthistorische Berechtigung behalten wird – für Insider. Er führt in der Literatur über Whistlers Radierungen ein Schattendasein, während Kennedys Verzeichnis zum wiederholt neu aufgelegten Standardwerk geworden ist. IV Schlussbetrachtung
Die Frage stellt sich, wieso Mansfield und Kennedy ihre Kräfte nicht in einem einzigen Katalog bündelten, anstatt im Abstand von nur einem Jahr ihre eigenen Verzeichnisse auf den Markt zu bringen. Howard Mansfield war in New York ansässig und von 1900 bis 1904 Präsident des Grolier Club, Edward Kennedy von 1912 bis 1916. Mansfield hatte Zugang zu den Fotografien Kennedys; Kennedy reproduzierte Blätter aus Mansfields Sammlung in seinem Katalog. Beide Autoren tauschten sich aus.64 Mansfield gibt den Erfahrungsschatz seines vergleichenden Kennerblickes auf Whistlers Radierungen sprachlich wieder, so wie es schon Adam Bartsch getan hatte. Der Katalog vermittelt sprachlich zwischen den Bildvergleichen, die der Autor angestellt hat, und denen, die der Benutzer anstellen wird. Der direkte Bildvergleich mit dem Katalog stellt hingegen die besondere – neue, von moderner Reproduktionstechnik profitierende – Qualität von Kennedys Verzeichnis dar. Sie drückt sich schon im Titel aus, der nicht mehr von einem Katalog spricht, sondern unmittelbar »The Etched Work« präsentieren will. Hier geht es nicht um Beschreibungen, hier zeigt sich das katalogisierte Bildmaterial selbst und ermöglicht das vergleichende Studium von Whistlers states und proofs, ohne in das Kupferstichkabinett gehen zu müssen. In welchem Verhältnis steht das Verzeichnis Kennedys zur vom künstlerischen Feld verlangten Trennlinie zwischen Grischka Petri
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ökonomischem Seltenheitskalkül und kennerschaftlicher Integrität? Kennedy selbst war der wichtigste Händler für Radierungen Whistlers in den USA. Dennoch finden sich handelstypische Informationen über die Seltenheit eines Zustands bei ihm nur selten; das Wort »rare« kommt nur einmal vor. Der Katalog präsentiert sich als auf der Evidenz der Bilder basierende Errungenschaft an der Grenze von connoisseurship und scholarship, indem sie die – von Mansfield noch befürchtete – Gefahr subjektiver sprachlicher Voreingenommenheit durch das Faktum der Abbildung ausräumt. Die Verbindungen in das Tagesgeschäft sind versteckter. So verschweigt Kennedy im Werkverzeichnis, dass seine Galerie die Platten von The Storm und Whistler with the White Lock besaß und von ihnen Abzüge druckte und vertrieb.65 Anscheinend war es mittlerweile so wichtig für ein Werkverzeichnis geworden, die Distanz zum Kunstmarkt zu wahren, dass dies auch auf Kosten relevanter Informationen ging. Die technische Entwicklung der Reproduktionstechnik und die balancierende Stellung der Werkverzeichnisse zwischen Sammlerdistinktion und kennerschaftlicher Integrität lassen sich somit in keinen unmittelbaren Zusammenhang bringen. Kennedy und Mansfield postulieren beide eine marktunabhängige Position; ohne Bedeutung bleibt die Sprachbezogenheit des einen oder der Bildeinsatz des anderen. So stellt der Schritt zum reproduzierten Bild eine technische Optimierung des vergleichenden Sehens dar – Werkverzeichnisse fixieren die angestellten Bildvergleiche besonders effizient mittels der Bildreproduktion; an ihrer hybriden Stellung im künstlerischen Feld ändert dies indes zunächst nichts. Hier kommt es eher auf die Verstrickungen des Autors an, wie das Beispiel Kennedy nahelegt. Tritt wegen des Verzichts auf die Sprache zugunsten des Bildes der Kenner als Autor des Katalogs in den Hintergrund, muss dies noch nicht dessen Verzicht auf die ökonomische Dimension des vergleichenden Sehens bedeuten. Die Disposition, für Mechanismen der Distinktion unter dem Deckmantel des Kunstverständnisses ausgenutzt zu werden, sofern eine gewisse Balance eingehalten wird, ist ein Charakteristikum des Mediums Werkverzeichnis. Diese Ambivalenz indes bleibt besser verborgen, wenn das vergleichende Sehen nicht über die sprachliche Vermittlung stattfindet.
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Endnoten 1 Zum Etching Revival grundlegend Emma Chambers, An Indolent and Blundering Art?
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The Etching Revival and the Redefinition of Etching in England 1838 –1892, Aldershot 1999; ferner Martha Tedeschi, How Prints Work. Reproductions, Originals and their Markets in England 1840 –1900, Diss. Northwestern University 1994. Zu den viktorianischen Sammlungen: Dianne Sachko Macleod, Art and the Victorian Middle-Class: Money and the making of cultural Identity, Cambridge/New York 1996. J[oseph] Maberly, The Print Collector: An Introduction to the Knowledge Necessary for Forming a Collection of Ancient Prints, hg. v. Robert Hoe Jr., New York 1880, S. 3. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979], Frankfurt a. M. 1987, zur Distinktion passim, zur Homologie S. 362ff. Philip G. Hamerton, Etching and Etchers [1868], 2. Aufl., London 1876, S. 28. Bourdieu, Die feinen Unterschiede (Anm. 3), S. 503ff., 535ff. Vgl. Thorstein Veblen, Theory of the Leisure Class, London 1899, S. 73ff. J[oseph] Maberly, The Print Collector: An Introduction to the Knowledge Necessary for Forming a Collection of Ancient Prints, London 1844, S. 31ff., die Erwähnung der »distinction« S. 32. J[ohn] Herbert Slater, Engravings and their Value. A Complete Guide to the Collection and Prices of all Classes of Prints [1891], 6. Aufl., bearb. v. F. W. Maxwell-Barbour, London 1929, S. 48. Maberly, Print Collector (Anm. 7), S. 103. Chambers, Indolent and Blundering Art (Anm. 1), S. 63ff., 69. Alfred Whitman, Print Collector’s Handbook [1901], hg. und überarb. v. Malcolm C. Salaman, London 1912, S. 11f. Maxime Lalanne, Traité de la gravure, Paris 1866, S. 91. Beispiele bei Chambers, Indolent and Blundering Art (Anm. 1), S. 75f., 84f. Die Anekdote findet sich bei John Callcott Horsley, Recollections of a Royal Academician, hg. v. Alice Helps, London 1903, S. 49. Roger Fry, Art and Commerce [1926], in: ders., Art and the Market: Roger Fry on Commerce in Art, hg. v. Craufurd D. Goodwin, Ann Arbor 1998, S. 111–123, hier S. 119. Veblen, Leisure Class (Anm. 6), S. 164, spricht von »pecuniary distinction«. Mr Whistler’s New Etchings: A Chat with the Master, in: The Pall Mall Gazette, 4. März 1890, S. 2. Maberly, Print Collector (Anm. 7), S. 92; vgl. auch Hamerton, Etching and Etchers (Anm. 4), S. 31f.; Whitman/Salaman, Print Collector’s Handbook (Anm. 11), S. 261. Charles West Cope, Reminiscences, London 1891, S. 120f. Maberly, Print Collector (Anm. 7), S. 94ff.; Slater, Engravings and their Value (Anm. 8), S. 47. Die Unterstellung kommerzieller Motive für Rembrandts oft hohe Zahl an Plattenzuständen war ein schon traditioneller Vorwurf. Siehe etwa Arnold Houbraken, De groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, 3 Bde., Amsterdam 1718 –1721, Bd. 1, S. 271. Philip G. Hamerton, Etching and Etchers, 1. Aufl., London 1868, S. 114 (nicht in späteren Auflagen). Zumindest für Whistlers spätere Karriere trifft dies durchaus zu; Whistler druckte als painter-etcher selbst und schuf durch den kreativen Einsatz des Plattentons Drucke, die als Unikate bezeichnet werden können. Siehe Chambers (Anm. 1), S. 78 – 84. Zu Inkompatibilitäten zwischen den an der Technik ausgerichteten Begriffen der Künstler und den am Marketing ausgerichteten Begriffen der Händler siehe Howard Mansfield, Whistler as a Critic of his own Prints, in: The Print Collector’s Quarterly 3, 1913, S. 366 – 393, hier S. 368f. Vgl. zur Zeichenhaftigkeit der Druckgrafik den Beitrag von Johannes Grave in diesem Band. Whitman/Salaman, Print Collector’s Handbook (Anm. 11), Vorwort zur Neuausgabe von M. C. Salaman, S. IX. Frederick Wedmore, Fine Prints, London 1897, S. 24. Grischka Petri
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26 Whitman/Salaman, Print Collector’s Handbook (Anm. 11), S. 11. 27 Slater, Engravings and their Value (Anm. 8), S. 49. 28 Edmé-François Gersaint, Catalogue raisonné de toutes les pièces qui forment l’œuvre
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de Rembrandt, hg. v. [P. C. A.] Helle und [Jean-Baptiste] Glomy, Paris 1751; ders., A Catalogue and Description of the Etchings of Rembrandt Van-Rhyn, with some Account of his Life, London 1752. Gersaint, A Catalogue and Description (Anm. 28), Nr. 27. Adam Bartsch, Le peintre-graveur, 21 Bde., Wien 1803 –1821, Neuaufl. Leipzig 1866 –1877. Maberly, Print Collector (Anm. 7), S. 47. Johann David Passavant, Le peintre-graveur, 6 Bde., Leipzig 1860 –1864; AlexandrePierre Robert-Dumesnil, Le peintre-graveur français, 11 Bde., Paris 1835 –1871. Das von Bartsch eingeführte System bildete im Etching Revival die Grundlage für die Beschäftigung mit Radierungen. Siehe Chambers, Indolent and Blundering Art (Anm. 1), S. 21, 65ff. Zu Freer und Whistler siehe Linda Merrill, With Kindest Regards. The Correspondence of Charles Lang Freer and James McNeill Whistler, Washington D. C. 1995. Howard Mansfield an Whistler, 20. November 1891, Glasgow University Library, MS Whistler M. 266, The Correspondence of James McNeill Whistler, 1855 –1903, hg. v. Margaret F. MacDonald, Patricia de Montfort und Nigel Thorp, [GUW], Online-Ausgabe http://www.whistler.arts.gla.ac.uk/correspondence, Brief Nr. 03995 (Stand: 28. 03. 2008). Howard Mansfield an Whistler, 12. Juli 1890, Glasgow University Library, MS Whistler M.261, GUW 03990 (Stand 28. 03. 2008). Ralph Thomas, A Catalogue of the Etchings and Drypoints of James Abbott MacNeil[l] Whistler, London 1874, S. III. Exemplare des Katalogs befinden sich u. a. in der British Library und der Glasgow University Library. Edward G. Kennedy, The Etched Work of Whistler, New York 1910, S. XX. Thomas, A Catalogue (Anm. 37), Nr. 21. Es sind zur Zeit zehn Blätter dieses Zustands bekannt. Abb. in Kennedy (Anm. 38), Nr. 74. Frederick Wedmore, Whistler’s Etchings: A Study and a Catalogue, London 1882. Frederick Wedmore, Whistler’s Etchings: A Study and a Catalogue, 2. Aufl., London 1899. Howard Mansfield, A Descriptive Catalogue of the Etchings and Dry-Points of James Abbott McNeill Whistler, Chicago 1909, S. LVIII. Wedmore, Whistler’s Etchings (Anm. 43), S. 9. Ebd., Nr. 34. Catalogue of etchings and dry-points by James McNeill Whistler exhibited by the Grolier Club, New York 1904. Mansfield, A Descriptive Catalogue (Anm. 44), S. LIX–LX. Whistlers Nachlassverwalterin, seine Schwägerin Rosalind Birnie Philip, bekräftigte gegenüber Mansfield, dass Abbildungen nicht erwünscht seien: Rosalind Birnie Philip an Howard Mansfield, 11. Oktober 1904, Howard Mansfield Papers, New York Public Library, zit. in Natalie Reid, Purchasing, Praising and Promoting Whistler’s Etchings: The American Collector Howard Mansfield, (1849 –1938), MLitt Thesis, University of Glasgow 2007, S. 67. Mansfield, A Descriptive Catalogue (Anm. 44), S. LX. Ebd., Nr. 36. Vgl. auch ebd., S. LVIII, wo Mansfield die kritische Neutralität eines Kataloges als Notwendigkeit unterstreicht. Ebd., S. LXIVf. Vgl. auch Reid, Purchasing (Anm. 48), S. 77f. Hier handelte es sich möglicherweise um die erwähnte Initiative des Caxton Clubs von 1900. Dimitri Rovinski, L’œuvre gravé de Rembrandt: Reproduction des planches originales dans tous leurs états successifs; 1000 phototypies sans retouches avec catalogue raisonné, St. Petersburg 1890. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Vergleichendes Sehen, Kennerschaft und Distinktion 1: G F: : 79: HB . 8B
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Endnoten/Abbildungsnachweis 55 Kennedy, Etched Work (Anm. 38), S. XXIV. 56 Ebd. 57 Ebd., S. XXIII. 58 Ebd., S. XXVI. 59 Tedeschi, How Prints Work (Anm. 1), S. 154. 60 William M. Ivins Jr., Photography and the »Modern« Point of View: A Speculation in
the History of Taste, in: Metropolitan Museum Studies 1, 1928, S. 16 – 24, hier S. 20. 61 Kennedy, Etched Work (Anm. 38), S. XXVI. 62 Ebd., S. XXVIII. 63 Ebd., Nr. 37. 64 Mansfield, A Descriptive Catalogue (Anm. 45), S. LXVI. Zur Kooperation zwischen bei-
den Autoren vgl. Reid, Purchasing (Anm. 48), S. 68 –70. 65 Dies geht aus den in den Archives of American Art, Washington D. C., erhaltenen Inventarbänden der Galerie H. Wunderlich & Co. hervor. Vgl. Kennedy, Etched Work (Anm. 38), Nr. 81 u. 172.
Abbildungsnachweis 1 Planches explicatives pour le septième volume du peintre graveur, III und IV, aus: Adam
Bartsch, Le peintre graveur, Bd. 7, Leipzig 1876, Anhang. 2 James McNeill Whistler, Nursemaid and Child, 1859, 9,6 × 13,1 cm, Radierung, erster
Zustand (Foto: Autor). 3 James McNeill Whistler, Nursemaid and Child, 1859, 9,6 × 13,1 cm, Radierung, zweiter Zustand (Foto: Autor).
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Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument der Forschungspraxis – Beobachtungen zu Möglichkeiten und Grenzen vergleichenden Sehens im 19. Jahrhundert Susanne Müller-Bechtel
Wie ging ein Kunstforscher des 19. Jahrhunderts bei der Autopsie seiner Gegenstände vor? Der vorliegende Beitrag1 sucht nach Anzeichen in persönlichen, nicht für die Publikation gedachten Arbeitspapieren, die Aussagen zur Praxis des vergleichenden Sehens ermöglichen. Die Einsichtnahme in privates Recherchematerial ergänzt die bis dato vorwiegend auf Theorie und Präsentationsmechanismen konzentrierten Studien zur Wissenschaftsgeschichte um den Blick ›hinter die Kulissen‹ der Kunstforschung. 2 Als Beispiel dient der italienische Pionier der formanalytischen und stilgeschichtlichen Forschung Giovanni Battista Cavalcaselle (1819 –1897), der zu einer Zeit arbeitete, in der die Fotografie noch in den Kinderschuhen steckte und an moderne Bildarchive und -präsentationen noch nicht zu denken war. I
Giovanni Battista Cavalcaselle machte sich einen Namen vor allem mit Forschungen zur italienischen Malerei von der Spätantike bis ins Cinquecento. Seine Erkenntnisse publizierte er zusammen mit dem englischen Kunstschriftsteller Joseph Archer Crowe (1825 –1896) in einer mehrteiligen Geschichte der italienischen 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Malerei.3 Die enge Zusammenarbeit zwischen beiden beruht auf einer grundsätzlichen Trennung der Aufgabenbereiche, bei der vorwiegend Cavalcaselle die Autopsie des Objektes übernahm und Crowe die Verschriftlichung der Erkenntnisse verantwortete; konzeptionelle Entscheidungen entstammen gemeinsamen Diskussionen.4 Cavalcaselle erfüllte damit den Auftrag des Londoner Verlegers John Murray, eine Revision der Viten von Giorgio Vasari vorzulegen.5 Cavalcaselle überprüfte die Richtigkeit und Aktualität von Vasaris Angaben, indem er die damals noch großenteils unerforschten oder nur in der Lokalforschung fassbaren Objekte aufsuchte. Zur Bewältigung dieser Aufgabe nutzte er ein bei zeitgenössischen Wissenschaftlern zahlreicher Disziplinen verbreitetes Hilfsmittel: die Zeichnung.6 Trotz seiner künstlerischen Ausbildung gilt als Beweggrund für den durchaus professionellen Einsatz der Zeichnung bei Cavalcaselle ein wissenschaftliches Interesse. Auf seinen Studienreisen, vorwiegend zwischen 1857 und 1867, entstanden in verschiedenen europäischen Sammlungen zahllose Skizzen nach Gemälden ebenso wie ganze Zeichnungsfolgen nach italienischer Wandmalerei.7 Dieses Studienmaterial ist – in 32 Skizzenbüchern und als Sammlung hunderter loser Blätter in mehr als hundert Faszikeln – im Fondo Cavalcaselle in der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig erhalten.8 Die meist in Feder oder Grafit angelegten Aufzeichnungen, deren Charakteristikum nicht nur die figürliche Notiz, sondern auch die Beschriftung ist, können als Relikte seiner Auseinandersetzung mit den Originalen nach seiner Vorgehensweise befragt werden. Wie zu zeigen ist, lässt sich vergleichendes Sehen in Cavalcaselles Forschungspraxis unter unterschiedlichen Blickwinkeln fassen. Das Spektrum der aus seinen Notaten ablesbaren Spuren des Einsatzes von Vergleichen als methodischem Instrument reicht von einer kreativ-kritischen Annäherung über Symptome einer durch das Zeichnen intensivierten Seherfahrung, die den Kunstforscher zu inneren Vergleichen befähigte, bis zu Indizien für Einschränkungen und Grenzen der Anwendbarkeit der Methode. II
Cavalcaselle erstellte sich mithilfe der Zeichnung vor dem Objekt einen Bildfundus von zahlreichen bekannten sowie vor allem von weniger bekannten Kunstwerken – ›Abbildungen‹, die er sich ansonsten nur schwerlich hätte besorgen können. Die Fotografie war zur Zeit seiner Recherchen wegen der schwierigen Lichtverhältnisse Susanne Müller-Bechtel
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nur selten im Stande, akzeptable Innenraumaufnahmen zu liefern.9 Damals bereits gut publizierte Werke sind dementsprechend in Cavalcaselles Nachlass weniger durch eigenhändiges Bildmaterial, sondern vielmehr durch Pausen nach Kupferstichen oder die Reproduktionen selbst vertreten.10 Aus heutiger Sicht ist es schwer vorstellbar, dass Cavalcaselle nur bedingt auf einen vorhandenen Bildfundus zurückgreifen konnte, sondern sich diesen erst selbst schaffen musste. Mit dem Akt des eigenhändigen Erstellens von ›Abbildungen‹ ist jedoch mehr verbunden als das Fertigen und Ablegen eines Bildes. Die kreativ-kritische Annäherung in der selbständigen Verbildlichung entspricht einem intensivierten Kennenlernen des Werkes und seiner charakteristischen Gestaltungsprinzipien. Mit der Zeichnung wählte Cavalcaselle ein Instrument, das den Beobachtungen zu seinen Forschungsgegenständen als Nachschöpfung im bildlichen Medium vielseitig einsetzbar Gestalt verleihen konnte. Zum besseren Verständnis seiner Arbeitsweise seien zunächst einige seiner zeichnerischen Notizen exemplarisch unter die Lupe genommen. Cavalcaselle nutzte unter anderem den Vorteil des Zeichners, bestimmte Aspekte herauszuarbeiten oder zu nivellieren. Derartige Abweichungen vom Vorbild beinhalten zumeist den Schlüssel für die Dechiffrierung seiner in der Zeichnung nonverbal formulierten Interessen. In einer Skizze nach der Mystischen Vermählung der heiligen Katharina von Lorenzo Lotto [Abb. 1], entstanden bei einem Besuch Cavalcaselles in der Alten Pinakothek in München,11 stören drei horizontale Striche die flüchtig angedeutete Komposition, die geradezu durchgestrichen scheint. Erst auf den zweiten Blick klärt sich, dass diese Striche Risse in der Holztafel markieren, die Erhaltungszustand und Seheindruck beeinträchtigen. Cavalcaselle nutzte also offensichtlich die Möglichkeit, der vereinfachenden Kompositionsaufnahme ergänzende Beobachtungen aus der Autopsie hinzuzufügen. Das ›Durchstreichen‹ seiner Kompositionsskizze nahm er zu Gunsten der höheren Informationsdichte in Kauf. Als wesentlicher Teil der kreativ-kritischen Annäherung an das Werk muss die Kontrolle der eigenen Notate gelten, mit dem Ziel, sich der Richtigkeit der getroffenen Aussagen zu vergewissern. Dass Cavalcaselle sie während des Zeichnens mit dem Vorbild verglich, offenbaren bestimmte Anzeichen, wie beispielsweise pentimenti-artige Korrekturen. Derartige Indizien finden sich unter anderem auf einem Blatt des Zeichnungssatzes zum Passionszyklus von Pietro Lorenzetti in San Francesco in Assisi.12 Die Figur Christi am Kreuz aus der Szene der Kreuzigung [Abb. 4] ›beschrieb‹ 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument 1: G F: : 79: HB . 8B der Forschungspraxis
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1 Vorherige Seite: Giovanni B. Cavalcaselle, Kompositionszeichnung nach Lorenzo Lotto, Mystische Vermählung der heiligen Katharina. 2 Giovanni B. Cavalcaselle, Aufnahme der rechten Seitenwand des Passionszyklus’ von Pietro Lorenzetti in San Francesco, Assisi. 3 Giovanni B. Cavalcaselle, Hauptmann aus der Kreuzigung Christi im Passionszyklus von Pietro Lorenzetti in San Francesco, Assisi.
Cavalcaselle im Medium des Federstriches, indem er einerseits die Konturen der sich deutlich in ihrem Umriss vom blauen Grund abhebenden Gestalt des Gekreuzigten nachvollzog und andererseits die verschiedenen Binnenstrukturen mit einzelnen Strichen markierte. Den Kontur setzte er aus mehreren geradezu ineinander verflochtenen Linien zusammen. Die verwirrende Häufung von Linien im Bereich der linken Schulter und des Oberarms spricht dafür, dass Cavalcaselle sich hier zunächst verzeichnete und sich dann mit weiteren Strichen korrigierte, um die wulstig modellierte Auswölbung präzise aufzunehmen und zu verstehen. III
Cavalcaselle konnte sodann mithilfe der Zeichnung – neben der bildlichen Dokumentation von Kunstwerken, der Aufnahme ihrer Form und ihres Erhaltungszustandes – eine weitere Ebene erreichen: Er erwarb sich eine solide Grundlage, um die Entwicklungsstufe, auf dem sich das Werk hinsichtlich des Œuvres eines Künstlers sowie in Hinblick auf Region und Epoche befand, einschätzen zu können. Somit machte er die Zeichnung zum wissenschaftlichen Instrument seiner kunsthistorischen Forschung. Häufig ersetzte sie als anschaulicher Niederschlag seiner Untersuchungen vor dem Objekt ausformulierte Beschreibungen. Ablesen lässt sich aus seinen Susanne Müller-Bechtel
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Forschungszeichnungen, dass (und gelegentlich auch wie) Cavalcaselle bei seiner Arbeit die Methode des Vergleichs anwandte und so wichtige Ergebnisse, die zum Teil bis heute gelten, entwickelte. Prominenter Beweis von Cavalcaselles Fähigkeiten des ›Händescheidens‹ ist seine Zuschreibung des Passionszyklus’ im Querhaus der Unterkirche von San Francesco in Assisi (um 1315/ 1320).13 Jacob Burckhardt (1818 –1897) hatte noch 1860 im dritten Band seines Cicerone Vasaris Zuschreibung der Fresken an Giotto und Puccio Capanna repetiert und die Attribution an Pietro Cavallini in Frage gestellt.14 Wie aber erarbeitete sich Cavalcaselle seine bis heute unangezweifelte Zuschreibung des ganzen Zyklus’ an den Sienesen Pietro Lorenzetti? In seinen Nachzeichnungen15 klingen Aussagen an, die mit den in der Publikation ausformulierten Argumenten korrespondieren und sein Vorgehen offenlegen: Er ›befragte‹ an allen drei Wänden die Gesichter im unteren Register nach ihrem Urheber, das heißt, er studierte sie im Detail, indem er sie nachzeichnete. Mehrere großformatige Blätter füllte er mit Köpfen, Händen und Füßen sowie weiteren Details [Abb. 3 und 5]. Die Resultate dokumentieren sein Interesse an der genauen Form und Machart der Gesichter und anderer Einzelheiten. Mit der Feder nahm er den Verlauf der Konturen auf und ergänzte diese mit Schraffuren, um die besondere Eigenart der mit malerischen Mitteln plastisch
4 Giovanni B. Cavalcaselle, Aufnahme der linken Seitenwand des Passionszyklus’ von Pietro Lorenzetti in San Francesco, Assisi. 5 Giovanni B. Cavalcaselle, Details der Kreuzabnahme im Passionszyklus von Pietro Lorenzetti in San Francesco, Assisi.
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gestalteten Gesichter zu erfassen. Sein Einsatz von Detailstudien ähnelt dem morphologischen Attributionsverfahren von Giovanni Morelli (1816 –1891), der berühmten ›Ohrläppchenmethode‹.16 Die Aufnahme von Details als »Stilproben«17 konnte damals bereits auf eine gewisse Tradition in der Kunstforschung zurückblicken: Schon Jean Baptiste Séroux d’Agincourt (1730 –1814) arbeitete in seiner 1778 begonnenen und 1810 –1823 erschienenen Histoire de l’Art mit Detailaufnahmen. Wiederholt konzipierte er die Bildtafeln zur Malerei nach dem Prinzip der »doppelten Dokumentation«, bei dem zusätzlich zur Gesamtkomposition ein ausgewähltes Detail reproduziert ist.18 Mit seinen Detailstudien zu Pietro Lorenzettis Passionszyklus in Assisi schuf sich Cavalcaselle die (visuelle) Grundlage für einen Vergleich der Physiognomien der Figuren – oder vollzog diesen bereits während der Autopsie –, um schließlich eine »einzige Hand«19 als Urheber der Fresken zu identifizieren. Methodisch gesehen gewann er diese Erkenntnis werkimmanent: Die Indizien für sein Urteil entstammen einzig den Passionsszenen in Assisi. Für seine Zuschreibung der Szenen an Pietro Lorenzetti aus Siena brauchte Cavalcaselle jedoch mindestens noch ein weiteres Argument. Dieses gewann er, indem er die Fresken, wie der Zeichnungssatz von 1859 zeigt, aus einem anderen ›Blickwinkel‹ betrachtete: Am Dekorationssystem – festgehalten in den zeichnerischen Aufnahmen der Wände [Abb. 2 und 4] – konnte er eine spezielle Art der Szenenanordnung beobachten. Bei dieser im Raum Siena verbreiteten Disposition der Bildfelder, so die Beweisführung im Text von 1864, wird der Kreuzigung Christi im Gegensatz zu dem florentinischen System ein deutlich größeres Bildfeld gegeben als den übrigen Szenen der Passionsgeschichte.20 Offen bleibt, zu welchem Zeitpunkt der Forschungsarbeit von Cavalcaselle und Crowe die Erkenntnis entsprechend ausdifferenziert wurde. Die im Text festgeschriebene Erkenntnis scheint jedoch in der Disposition der Zeichnungen als Gesamtaufnahme der Seitenwände unter Berücksichtigung des Dekorationssystems, der relativen Größe der Bildfelder zueinander und ihrem Verhältnis zum Ganzen vorbereitet. Die Anwendung des vergleichenden Sehens beruht im ›Fall Lorenzetti‹ auf zwei voneinander zu trennenden Strategien, die jeweils zu einem eigenen, unabhängigen Ergebnis führten. Für beide sind bereits die vor Ort gefertigten Zeichnungen als aussagekräftig zu bewerten. Bei dem Vergleich ausgewählter Details im Prozess der Zuschreibung waren die Vergleichsbeispiele zugegen, denn sie gehören mit zum Zyklus. Bei dem Argumentationspunkt der Susanne Müller-Bechtel
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sienesischen Systematisierung der Szenen musste Cavalcaselle, da die entsprechenden vergleichbaren Werke im Moment der Aufnahme nicht vor Ort waren, auf angeeignete Kenntnisse (oder mitgeführte Abbildungen?) zurückgreifen beziehungsweise die Zeichnungen entsprechend reichhaltig mit für seine Interessen bedeutsamen Informationen und Beobachtungen versehen. Cavalcaselles Studienmaterial zeichnet sich durch bei der Autopsie differenziert eingesetzte Aufnahmemodi aus, kraft deren Vielzahl an Implikationen eine hohe Informationsdichte gewährleistet war. Dies war aus forschungspraktischen Gründen vorteilhaft, da die eigenhändige zeichnerische Aufnahme für ihn in der Regel auf längere Zeit die einzige Bezugsquelle für Beobachtungen darstellte. IV
Cavalcaselle war auf seinen Studienreisen, die ihn durch ganz Italien sowie quer durch zahllose europäische Sammlungen führten, regelmäßig mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass geeignete Vergleichsobjekte nicht zur Hand waren. Besonders gravierend wirkte sich diese Einschränkung bei der kunsthistorischen Einordnung ortsfester Wandmalerei aus. Wir können leider nur Vermutungen darüber anstellen, ob Cavalcaselle eine Auswahl seiner Zeichnungen als Vergleichsbeispiele auf seinen Reisen mit sich führte. Gelegentlich verweisen mehrere Datumsangaben aus unterschiedlichen Jahren in einem Zeichnungssatz sowie eine veränderte Handschrift darauf hin, dass er zumindest mit seinen Papieren weiterarbeitete. Setzt man jedoch voraus, dass für die erfolgreiche Durchführung des Vergleiches die Präsenz der Originalobjekte notwendig ist, muss eine Verhinderung des vergleichenden Seh-Erlebnisses als eine grundsätzliche Komponente der Kunstforschung angenommen werden. Denn nur in Sonderfällen, beispielsweise im oben diskutierten Wandmalereizyklus in Assisi oder im nach eigenen Regeln funktionierenden Kosmos der Gemäldegalerie, ist durch die räumliche Nähe ein direkter, ungehinderter Vergleich der Originalobjekte möglich. Dass die fehlende Präsenz des Vergleichsgegenstandes aufgrund der einzigartigen (und durch das Surrogat einer Abbildung nicht ersetzbaren) Gestalt des Originals als eine gravierende Behinderung in der Erkenntnisarbeit der damaligen Kunstforschung empfunden wurde, formulierte Joseph Archer Crowe 1869 im Vorfeld des Dresdner Holbeinstreites: »Instructiver freilich wäre es für das vergleichende Studium, wenn das Dresdener Gegenstück an der Seite des Darmstädter stünde; dann würden die kritischen Streitpunkte 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument 1: G F: : 79: HB . 8B der Forschungspraxis
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6 Giovanni B. Cavalcaselle, Studie zu Raffaels Die heilige Familie aus dem Hause Canigiani.
[…] eher ins Reine zu bringen sein […]«, 21 und an anderer Stelle: »Wir erklärten bereits, dass wir die Entscheidung der Frage, ob das Dresdener Bild Copie oder Original sei, bis zu einer Confrontation desselben mit dem Darmstädter vertagen möchten […]«.22 Da Cavalcaselle eine stete und konsequente Anwendung des vergleichenden Studiums auch ohne substantielle Präsenz der Originalobjekte ausübte, ist die Beobachtung, dass er mittels der Zeichnung seine Werkbetrachtungen außerordentlich intensivierte, von besonderem Belang. Denn beim Studium neuer, ihm bis dato unbekannter Objekte konnte er so Informationen zum Erscheinungsbild anderer, in seiner Erinnerung gespeicherter Werke besser aufrufen. Dieses Phänomen, bei dem das Vergleichsobjekt dem Forscher weder real noch durch ein Surrogat ersetzt vor Augen steht, ein Bezug aber dennoch hergestellt wird, lässt sich, um es von inszenierten visuellen Gegenüberstellungen abzugrenzen, als ›innerer Vergleich‹ umschreiben.23 Ein derartiges Zurückgreifen auf innere Vergleiche belegen verbale Notizen in Cavalcaselles Studienmaterial. Als Beispiel dafür sei erneut der Besuch der Münchner Pinakothek herangezogen. Raffaels Gemälde Die heilige Familie aus dem Hause Canigiani (um 1505/07) skizzierte Cavalcaselle mit wenigen Strichen [Abb. 6].24 Er reduzierte seine Angaben auf einige flüchtig gesetzte Umrisslinien der Figuren, ihre Köpfe, Arme, Beine und Rücken. Kreuz und quer geschriebene Beobachtungen legen eine zweite Schicht über die pyramidal gebaute Anlage der Figurenkomposition. Susanne Müller-Bechtel
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Zum Gewand Mariens vermerkte er: »rosso piombo come da Borghese con ombre ricevute carattere di Borghese«. Das Münchner Bild erinnerte ihn also an Raffaels Grablegung in der Galleria Borghese; das Tertium Comparationis ist ein bestimmter Farbton. In der Publikation ist dieser Vergleich mit den knappen Worten »ihr Gewand von jenem stumpfen Roth, welches gewisse Figuren in der Grablegung kennzeichnet« vollzogen.25 Cavalcaselle schloss also in seine inneren Vergleiche nicht nur Gestaltungsprinzipien des Dekorationssystems oder andere charakteristische formale Stilkennzeichen ein, sondern memorierte auch Farbtöne.
7 Giovanni B. Cavalcaselle, Aufzeichnungen zur Cappella dell’Assunta im Dom zu Prato.
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Das folgende Beispiel dokumentiert, dass Cavalcaselle seinen inneren Vergleichen auch misstrauen konnte. Teil der Blattfolge zu verschiedenen Kapellenausstattungen im Dom zu Prato26 sind Aufzeichnungen zur Cappella dell’Assunta (1435/36).27 In »miniaturisierter« Form 28 vermerkte Cavalcaselle Gewölbe und Seitenwände [Abb. 7]. Während des Zeichnens drehte er das Blatt: Die beiden Seitenwände stehen sich in der Zeichnung wie in der Kapelle gegenüber. Ergänzende Detailstudien (Kopf und Ornamentstreifen) machen bereits dieses eine Blatt aus dem Jahr 1858 zu einer umfassenden Aufnahme der Kapelle. In unserem Kontext genügt es, den Blick auf die rechte Seitenwand mit Szenen aus dem Marienleben und deren Notation 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument 1: G F: : 79: HB . 8B der Forschungspraxis
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durch Cavalcaselle zu richten: Er erfasste die Wand mit wenigen Strichen als ganzes System mit ihren drei Registern (von oben nach unten Mariengeburt, Tempelgang Mariens und Sposalizio) und setzte in die Felder kleine Strichmännchen und -architekturen ein. In seinen sehr ausführlichen Notizen springen immer wieder zwei Namen ins Auge: »Masolino« und »Paolo«. Die wiederholten Verweise auf die Ähnlichkeit der Fresken mit Werken von Paolo Uccello und Masolino da Panicale finden sich ebenso auf einem anderen Blatt, auf dem Cavalcaselle die beiden Lünettenbilder präziser studierte.29 Im Buchtext von 1864 loben Crowe und Cavalcaselle die Fresken bezüglich ihrer künstlerischen Errungenschaften der Frührenaissance, wie Anatomie und Perspektive, und verweisen auf Paolo Uccello und Piero della Francesca als wichtige Protagonisten. Gleichzeitig nennen sie jedoch – unverständlicherweise – den um das Jahr 1400 im Florentiner Umland tätigen Meister Antonio Vite als ausführenden Künstler.30 In der Forschung streitet man noch heute um die Zuschreibung an Paolo Uccello. In seinen Notizen hatte Cavalcaselle dessen mögliche Autorschaft in Erwägung gezogen, offenbar konnte er jedoch seine Meinung in den Diskussionen mit Crowe nicht durchsetzen. Festzustellen ist jedenfalls, dass er letztendlich von seiner Intuition abwich und an der Überzeugungskraft seiner inneren Vergleiche, die sich ihm während der Autopsie aufgedrängt hatten, zweifelte. Die Forschung des 19. Jahrhunderts, die im Vergleich zu heute unter erschwerten Bedingungen praktizierte, stieß hier an eine Grenze der Möglichkeiten des vergleichenden Sehens. VI
Im letzten Beispiel wurde bereits auf eine Störung der inneren Vergleiche Cavalcaselles, vermutlich durch seinen Co-Autor Crowe, hingewiesen. Nun soll auch dieses besondere Verhältnis in den Blick gerückt werden. Aus der Art seiner Zusammenarbeit mit Crowe, deren Ineinandergreifen den Zeitgenossen rätselhaft blieb, ist zu schließen, dass beide mit Cavalcaselles gesammelten Papieren weiterarbeiteten. Ihre Geschichte der italienischen Malerei entstand in einem Prozess mehrfacher medialer Transformationen, in dem (mehrsprachiger) Text und Bild komplex zusammen wirken. Die Revision der Viten Vasaris leistete Cavalcaselle im Wesentlichen mit der Zeichnung als Hilfsmittel bei der Autopsie der Originalobjekte, die er zu Beginn seiner Forschungen großenteils wohl nur aus Vasaris Beschreibungen kannte. Für die gemeinsame Arbeit an der Publikation erstellte Susanne Müller-Bechtel
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Cavalcaselle anhand seiner zeichnerischen Aufnahmen stichwortartige Manuskripte, die er mit schnell niedergelegten, systematisierten Kopien der vor Ort gefertigten Zeichnungen illustrierte.31 Auf dieser Basis schuf Crowe den Text – vermutlich bei gleichzeitiger Relektüre Vasaris. Dank der beigefügten Illustrationen konnte er zahlreiche Objekte wenigstens in stark stilisierter Form ebenfalls vor Augen haben; die flüchtigen Kopien mussten das ihm unbekannte Original ersetzen, um dessen ›Bild‹ in seiner Imagination erstehen zu lassen. Resultat dieses diffizilen Prozesses ist eine Publikation, die ihren Wert als Referenzwerk bis heute nicht verloren hat. Die Bedeutung dieser Teamarbeit gründet sich neben den als Quellen einzigartigen Zeichnungen in besonderem Maße auf die Fähigkeit Crowes, die in den Kopien der Skizzen Cavalcaselles niedergelegten Ergebnisse der Autopsie in Worte und Argumentationen zu übersetzen. VII
Die komplexen Zeichnungen Cavalcaselles, die als Hilfsmittel auf seinen Studienreisen entstanden, verraten Möglichkeiten und Grenzen des vergleichenden Sehens in der Kunstforschung des 19. Jahrhunderts. Als einzigartige Dokumente der Wissenschaftspraxis um 1860 offenbaren sie unterschiedliche Wirkungsweisen und Tragweiten des vergleichenden Sehens für die Erkenntnisarbeit: Indizien hierfür finden sich, wie gezeigt werden konnte, erstens in dem verschiedene Anprüche befriedigenden Facettenreichtum der vor den Originalen angefertigten Zeichnungen, zweitens in den Kontroll- und Korrekturmechanismen während der Aufnahme, drittens in verbalen Notizen aufgrund innerer Vergleiche in Anlehnung an früher gesehene Originale sowie viertens in den eigenhändigen Zeichnungskopien, die als Illustrationen der Arbeitsmanuskripte dienten. Waren die Grenzen des Vergleiches in Cavalcaselles Fall dort erreicht, wo der Leser seiner kaum illustrierten Publikationen mangels Bildmaterial weder Objekte noch Vergleiche mit dem Gelesenen visuell zu einer Einheit verknüpfen konnte? Historisch gesehen entsprach die ursprünglich sogar bilderlose Konzeption der Bücher aufgrund ihrer »Distanzierung von der bildlichen Repräsentation ihrer Objekte« dem gewünschten wissenschaftlich-objektiven Anspruch.32 Ihren Lesern boten Crowe und Cavalcaselle die im Text verarbeitete bisherige Leistung im vergleichenden Sehen als Grundlage zur Imagination – möglicherweise begleitet von der vergleichenden ›Lektüre‹ geeigneter Bildbände.33 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument 1: G F: : 79: HB . 8B der Forschungspraxis
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Endnoten 1 Der Text geht auf Ergebnisse meiner Dissertation zurück und verknüpft diese mit
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Überlegungen zum vergleichenden Sehen: Susanne Müller-Bechtel, Die Zeichnung als Forschungsinstrument – Giovanni Battista Cavalcaselle (1819 –1897) und seine Zeichnungen zur Wandmalerei in Italien vor 1550, München/Berlin 2009. Für alle weiterführenden Nachweise bzgl. Cavalcaselle sei auf diese Arbeit verwiesen. Vgl. Friedrich Steinle, The Practice of Studying Practice: Analyzing Research Records of Ampère and Faraday, in: Frederic L. Holmes, Jürgen Renn und Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science, Dordrecht/ Boston 2003, S. 93 –117. Zu Notizbüchern in der Kunstforschung vgl. Johannes Rößler, Das Notizbuch als Werkzeug des Kunsthistorikers. Schrift und Zeichnung in den Forschungen von Wilhelm Bode und Carl Justi, in: Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008, S. 73 –102. Joseph A. Crowe und Giovanni B. Cavalcaselle, A new History of Painting in Italy from the second to the sixteenth century […], 3 Bde., London 1864 –1866. Weitere Publikationen zur italienischen Malerei folgten. Zu der Teamarbeit s. Donata Levi, Crowe e Cavalcaselle: analisi di una collaborazione, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia, serie III, 12, 1982, Heft 3, S. 1131 – 1171. Vgl. Lino Moretti, G. B. Cavalcaselle, Disegni da antichi maestri, Vicenza 1973, S. 18f; Donata Levi, Cavalcaselle. Il pioniere della conservazione dell’arte italiana, Turin 1988, S. 77, 101. Cavalcaselles Ansatz unterschied sich grundlegend von demjenigen Gaetano Milanesis, der eine quellenkundliche Edition der Viten Vasaris projektierte. Zur Bedeutung der Zeichnung für die Ausübung von wissenschaftlicher Tätigkeit im 19. Jahrhundert vgl. Elke Schulze, Nulla dies sine linea. Universitärer Zeichenunterricht – eine problemgeschichtliche Studie, Stuttgart 2004. Zu zeichnenden Kunsthistorikern vgl. außerdem dies., Il disegno: strumento e linguaggio della visione scientifica, in: Annali della Fondazione Europea del Disegno 3, 2007, S. 165 –198. Die Rolle der Zeichnung in den Naturwissenschaften thematisiert u. a. Horst Bredekamp, Die zeichnende Denkkraft. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: Jörg Huber (Hg.), Einbildungen, Zürich 2005, S. 155 –171. Zu Cavalcaselle in München vgl. Susanne Müller-Bechtel, »Italienersehnsucht«. Giovanni Battista Cavalcaselle und seine Zeichnungen nach italienischen Gemälden in Münchner Sammlungen, in: Hildegard Wiegel (Hg.), Italiensehnsucht. Kunsthistorische Aspekte eines Topos, München/Berlin 2004, S. 161–173. Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana (im Folgenden: BNMV), Cod. It. IV. 2024 (= 12265) – 2041 (=12282). Die Biblioteca Marciana bereitet unter der Leitung von Susy Marcon eine Internetpublikation des Fondo Cavalcaselle vor. Der Gemäldekopist August Wolf hebt 1876 in seinem Tätigkeitsbericht immer wieder hervor, dass aufgrund der Lichtsituation noch keine fotografische Reproduktion des jeweiligen Werkes vorläge. August Wolf, Kopien venezianischer Meisterwerke in der Schackschen Galerie zu München, in: Kunst-Chronik 11, 1876, Sp. 313 – 318, 329 – 334 u. 393 – 398 (Ich danke Dorothea Peters für diesen Hinweis). Aufwendige ›Umwege‹ und Hilfskonstruktionen waren nötig, um qualitätvolle fotografische Gemäldereproduktionen zu erhalten. Vgl. Helmut Heß »Unnachahmlich treu, aber leicht vergänglich.« Zur frühen Reproduktionsfotografie, in: Robert Stalla (Hg.), Druckgraphik. Funktion und Form, München/Berlin 2001, S. 137–144. Für das vielfältige Material zur Cappella Brancacci in Santa Maria Novella, Florenz (1423 –1428, 1481–1485), s. Ornella Casazza und Paola Cassinelli Lazzeri, La Cappella Brancacci. Conservazione e restauro nei documenti della grafica antica, Modena 1989. Zur Zeichnung (BNMV, Cod. It. IV. 2033 (= 12274), fasc. 2, fol. 42r) vgl. Müller-Bechtel, Italienersehnsucht (Anm. 7), S. 165f.; zum Gemälde (München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Inv. Nr. 32, Öl/Holz, 71,3 × 91,2 cm, datierbar um 1505/08) Rolf Susanne Müller-Bechtel
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Kultzen und Peter Eikemeier, Venezianische Gemälde des 15. und 16. Jahrhunderts (Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Bd. 9), 2 Bde., München 1971, Bd. 1, S. 91– 93. BNMV, Cod. It. IV. 2040 (=12281), fasc. 5/3, fol. 92 – 97, hier fol. 95v. Crowe und Cavalcaselle, A new History of Painting in Italy (Anm. 3), Bd. 2, 1864, S. 125 –131. Vgl. Giorgio Bonsanti (Hg.), La Basilica di San Francesco ad Assisi. Basilica inferiore – The Basilica of St Francis in Assisi. Lower Basilica, Modena 2002. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, Bd. 3: Malerei, Basel 1860, S. 755: »Im südlichen Querschiff Reste einer grossen und sehr reichen Kreuzigung (angeblich von Pietro Cavallini […]); ferner Kreuzabnahme, Grablegung und S. Franz die Wundmale empfangend (angeblich von Giotto); am Tonnengewölbe kleine Passionsbilder (vielleicht von Puccio Capanna).« Vgl. Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori […], hg. v. Gaetano Milanesi, 9 Bde., Florenz 1906, Bd. 1, S. 379, 403 u. 540. BNMV, Cod. It. IV. 2040 (=12281), fasc. 5/3, fol. 92 – 97. Vgl. Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff), Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch von Ivan Lermolieff. Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Johannes Schwarze, Leipzig 1880. Eine neue knappe Einschätzung Morellis und seiner Methode bei Ulrich Pfisterer, Giovanni Morelli (1816-1891), in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Klassiker der Kunstgeschichte, 2 Bde., München 2007, Bd. 1, S. 92 –109. Begriff übernommen von Daniela Mondini, Mittelalter im Bild. Séroux d’Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800, Zürich 2005, S. 90, 135. Vgl. Mondini, Mittelalter im Bild (Anm. 17), zum Begriff der »doppelten Dokumentation« S. 87 u. S. 235 – 240. Joseph A. Crowe und Giovanni B. Cavalcaselle, Geschichte der italienischen Malerei. Deutsche Original-Ausgabe besorgt von Max Jordan, 6 Bde., Leipzig 1869 –1876, Bd. 2, 1869, S. 297. Crowe und Cavalcaselle, A new History of Painting in Italy (Anm. 3), Bd. 2, 1864, S. 125f.: »The Siennese school was characterized from the first by a peculiar mode of distributing the subjects of the Passion. Duccio and Barna, preserved it alike, commencing with the entrance into Jerusalem, to which they gave a double space, and closing with the crucifixion to which a fourfold area was devoted. The last scene of the mournful drama thus received additional importance, and was intended in every sense to possess overwhelming interest. The Florentines, it is hardly necessary to say, devoted to each incident an equal space, and their simplicity in this respect may be studied not only in Florence and Padua but in Assisi, by the side of these Siennese frescos which have so long been assigned to a Roman painter.« (Hervorhebung SMB). Joseph A. Crowe, Die Ausstellung von Gemälden älterer Meister in München, in: Die Grenzboten 28/2 – 2, 1869, S. 16 – 26 u. S. 54 – 64, hier S. 17. Levi, Cavalcaselle (Anm. 5), S. 326 u. S. 359, Anm. 84, nimmt an, dass Cavalcaselle die Ausstellung besuchte, vgl. den Brief vom 10. August 1869 die Genehmigung des Zuschusses betreffend (Rom, Archivio Centrale dello Stato, Ministero della Pubblica Istruzione, Direzione Generale Antichità e Belle Arti, Personale, I versamento, busta 7). Crowe, Ausstellung von Gemälden älterer Meister (Anm. 21), S. 22. Es ist nicht bekannt, ob Cavalcaselle in seinen Zeichnungen Vergleiche absichtlich arrangierte. Allerdings sind die Blätter in Faszikeln abgelegt, die einen Kontext (eine Region und ihre Schule, eine Sammlung etc.) darstellen. Zur Zeichnung (BNMV, Cod. It. IV. 2033 (=12274), fasc. 2, fol. 27v) vgl. Müller-Bechtel, Italienersehnsucht (Anm. 7), S. 167f.; zum Gemälde (München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, Inv. Nr. 476, Lindenholz, 131 x 107 cm) Rolf Kultzen, Italienische Malerei (Alte Pinakothek München, Katalog 5), München 1975, S. 91f. Joseph A. Crowe und Giovanni B. Cavalcaselle, Raphael. Sein Leben und seine Werke, aus dem Englischen übersetzt von Carl Aldenhoven, 2 Bde., Leipzig 1883 –1885, Bd. 1, S. 232. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Die kunstwissenschaftliche Zeichnung als Dokument 1: G F: : 79: HB . 8B der Forschungspraxis
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Endnoten/Abbildungsnachweis 26 BNMV, Cod. It. IV. 2032 (=12273), fasc. 4, fol. 46 – 57. 27 Zuschreibung an Paolo Uccello umstritten, vollendet von Andrea di Giusto Manzani.
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Vgl. Eve Borsook, The mural painters of Tuscany: from Cimabue to Andrea del Sarto, 2. Aufl. Oxford 1980, S. 79 – 84 (Zuschreibung an »the Prato Master«); Anna Padoa Rizzi, La Cappella dell’Assunta nel Duomo di Prato, Prato 1997. Begriff in Anlehnung an Peter Jenny, Notizen zur Figuration. 22 Übungen zur archetypischen Darstellung des Menschen, Mainz 2001, Punkt 12. BNMV, Cod. It. IV. 2032 (=12273), fasc. 4, fol. 54v: Aufzeichnungen zum Bildfeld Geburt Mariens. Crowe und Cavalcaselle, A new History of Painting in Italy (Anm. 3), Bd. 1, 1864, S. 495 – 498. Ausgewählte Beispiele bei Denys Sutton, Aspects of British collecting, part IV: Crowe and Cavalcaselle, in: Apollo 122/282, 1985, S. 111 – 117. Hubert Locher, »Musée imaginaire« und historische Narration. Zur Differenzierung visueller und verbaler Darstellung von Geschichte, in: Katharina Krause und Klaus Niehr (Hg.), Kunstwerk – Abbild – Buch: Das illustrierte Kunstbuch von 1730 –1930, München/Berlin 2007, S. 53 –75, hier S. 59. In London gründeten John Ruskin, Lord Lindsay, Charles Eastlake u. a. 1849 die Arundel Society mit dem Ziel, italienische Wandmalerei bildlich zu erschließen und dem englischen Publikum vertraut zu machen. Beispielsweise ließen sie Umrisslinienillustrationen nach den Fresken Fra Angelicos im Vatikanischen Palast (1849 –1852) publizieren. Vgl. Robyn Cooper, The Popularization of Renaissance Art in England. The Arundel Society, in: Art History 1, 1978, S. 263 – 292.
Abbildungsnachweis 1 Giovanni B. Cavalcaselle, Kompositionszeichnung nach Lorenzo Lotto, Mystische Ver-
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mählung der heiligen Katharina (Alte Pinakothek, München). Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana (BNMV), Cod. It. IV. 2033 (=12274), fasc. 2, fol. 42r. Giovanni B. Cavalcaselle, Aufnahme der rechten Seitenwand des Passionszyklus’ von Pietro Lorenzetti (Westliches Querhaus der Unterkirche von San Francesco, Assisi). BNMV, Cod. It. IV. 2040 (=12281), fasc. 5/3, fol. 95r. Giovanni B. Cavalcaselle, Detailstudie zum Passionszyklus von Pietro Lorenzetti (Westliches Querhaus der Unterkirche von San Francesco, Assisi). BNMV, Cod. It. IV. 2040 (=12281), fasc. 5/3, fol. 93v: Hauptmann aus der Kreuzigung Christi. Giovanni B. Cavalcaselle, Aufnahme der linken Seitenwand des Passionszyklus’ von Pietro Lorenzetti (Westliches Querhaus der Unterkirche von San Francesco, Assisi). BNMV, Cod. It. IV. 2040 (=12281), fasc. 5/3, fol. 95v. Giovanni B. Cavalcaselle, Detailstudie zum Passionszyklus von Pietro Lorenzetti (Westliches Querhaus der Unterkirche von San Francesco, Assisi). BNMV, Cod. It. IV. 2040 (=12281), fasc. 5/3, fol. 97r: Details der Kreuzabnahme. Giovanni B. Cavalcaselle, Studie zu Raffaels Die heilige Familie aus dem Hause Canigiani (Alte Pinakothek, München). BNMV, Cod. It. IV. 2033 (=12274), fasc. 2, fol. 27v. Giovanni B. Cavalcaselle, Aufzeichnungen zur Cappella dell’Assunta im Dom zu Prato. BNMV, Cod. It. IV. 2032 (=12273), fasc. 4, Ausschnitt aus fol. 50v/51r.
Susanne Müller-Bechtel
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Imagination und Unvergleichbarkeit. Robert Vischer und der »Widerspruch zwischen Bild und Wort« Martin Gaier »[…] und möchte behaupten, daß es kein Gefäß gibt, die Werke der Einbildungskraft zu fassen, als eben diese Einbildungskraft selbst«. Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, Jena, 27. 06.17981
Ob Kunsthistoriker im 19. Jahrhundert über die Auswirkungen von sogenannten Reproduktionen auf ihre Arbeits- und Argumentationsweise nachdachten, wird in den letzten Jahren kontrovers diskutiert.2 Sieht man ihre medienkritische Sensibilisierung heute nicht mehr ganz so negativ, so ist man in einer anderen Frage nach wie vor skeptisch. Bei einer umfassenden Analyse illustrierter Kunstbücher kam man jüngst zum Schluss, dass »die Kunstgeschichte als junge Disziplin Fragen, die die Relation von Text und Bild in der Argumentation hätte aufwerfen können, nicht stellte«.3 Es ist unwahrscheinlich, dass die Habilitationsschrift des Ästhetikers und Kunsthistorikers Robert Vischer über Luca Signorelli und die italienische Renaissance (1879) das einzige Buch bleibt, das diese Feststellungen widerlegt [Abb. 1].4 Denn es ist auch nicht die einzige kunsthistorische Publikation, die heute nahezu unbekannt ist. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Vischer immer Außenseiter im Fach blieb und alles, was er publizierte, äußerst methodenreflektierten und programmatischen Charakter hatte. Tatsächlich wurde das Buch unmittelbar nach Erscheinen breit rezipiert, von vielen aber als reine Provokation aufgenommen. Vischer hatte dies geahnt und sowohl den Untertitel – Eine 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Robert Vischer, Luca Signorelli […], 1879, Frontispiz und Titel. Imagination und Unvergleichbarkeit
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kunsthistorische Monographie – als auch das Vorwort seines Buches daraufhin angelegt: »[…] dies war durch das Wesen meiner Arbeit und durch die Stellung bedingt, die ich gegenüber der Partei einnehme, welche jetzt in der Wissenschaft der Kunstgeschichte eine so breite Rolle spielt«, schrieb er ein Jahr später in einer über vierzig Seiten langen Apologie.5 Eine der Provokationen war – und diese soll hier im Zusammenhang mit dem Problem des vergleichenden Sehens besonders thematisiert werden –, dass Vischer dem Leser nicht nur die Anschaulichkeit des Werks Signorellis durch eine der modernen Visualisierungstechniken verweigerte, sondern auch die durch Beschreibungen ermöglichte Imagination desselben bis zum Schluss vorenthielt. Die ausführliche Begründung brachte er mit dem lapidaren Satz auf den Punkt: »Entweder concentrire ich meinen Geist auf ein Bild oder ich bedenke eine Kunst, eine Persönlichkeit. – Eines schliesst das Andere relativ aus, geht ihm voraus, folgt ihm nach.«6 Vischers Anliegen war keineswegs, der Kunstgeschichte als solcher den Kampf anzusagen. Im Gegenteil: Es war das Problem zweier auseinanderdriftender Disziplinen, das ihn zeitlebens beschäftigen sollte.7 Vielmehr scheint er den aufkommenden Einfluss des Herbartianismus, seinerzeit besonders in der Person Robert Zimmermanns, auf einige mit dem Bildvergleich auch form- und motivgeschichtliche Methoden in den Mittelpunkt rückende Kunsthistoriker als drohende Gefahr gesehen zu haben.8 Allerdings machte er sich die Kunsthistoriker grundsätzlich zum Feind, da er an der Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Objektivität zweifelte: »Man könnte sagen: Die Bewusstheit der Wissenschaft ist eben doch ziemlich imaginär, ist eben höchst relativ; sie unterliegt denselben Gesetzen, wie die Kunst, demselben zwingenden Widerspiel von Idealismus und Wirklichkeitssinn.«9 Aus dieser Überzeugung heraus war es Vischers Anliegen, die Macht der subjektiven Einbildungskraft zu begreifen und zu instrumentalisieren, während man zur Etablierung des Fachs als ›exakte‹ Wissenschaft bestrebt war, sie als unkontrollierbares Element zu zähmen. Vischer zufolge war dies vergeblich: Die Imagination machte jeder objektiven Anschauung, auch dem Bildvergleich, einen unhintergehbaren Strich durch die Rechnung. Auch wenn in der stets »latenten Spannung« zwischen wissenschaftlicher Argumentation und bildlicher Repräsentation zunächst dem Wort mehr Vertrauen geschenkt worden zu sein scheint,10 so erkannten Kunsthistoriker wie Anton Springer, dessen Martin Gaier
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Wurzeln im übrigen tief in der Vischerschen Ästhetik steckten, doch bereits um 1860 in »Illustrationen« geradezu eine Waffe gegen den ästhetisch-spekulativen Zweig der Kunstgeschichte. In einem Werbeschreiben für die englische Arundel-Gesellschaft, die sich der Verbreitung von Kunstreproduktionen verschrieben hatte, erklärte er unmissverständlich: »Dem verworrenen, unklaren Durcheinander ästhetischer Meinungen, die sich allein auf das subjektive Belieben stützen, kann nur durch eine auf geschichtlicher Grundlage ruhende Anschauung ein Gegengewicht gestellt werden.«11 Dieses Gegengewicht, ein neuer, bisher kaum gangbarer Weg der Kunstgeschichte, sei die in der vergleichenden Anschauung liegende visuelle Persuasion, die »unmittelbar zwingende, schon dem blossen Auge zugängliche Beweiskraft« des Kupferstichs oder der Fotografie:12 »Das Bild ist zum Worte als dessen nothwendige Ergänzung hinzugetreten […]. Den kunsthistorischen Werken werden die Illustrationen nicht als äusserlicher Schmuck angefügt; sie gehören zu ihrem wesentlichen Inhalte. Bilderbücher, vom kunstgeschichtlichen Standpunkte geordnet, bieten nicht allein Unterhaltung, sondern die nachhaltigste und beste Belehrung. Welchen Gewinn die Wissenschaft der Kunstgeschichte aus dieser Erweiterung ihres Inhaltes gezogen, lebt in Jedermanns Erinnerung. Ihre Beschreibungen wurden kräftig und lebendig, ihre Erörterungen eingehend und auf das Einzelne gerichtet, ihre Behauptungen, weil das Bild dem Worte bestätigend zur Seite trat, überzeugend.«13 Bislang, so Springer, habe die historisch-kritische Methode gegenüber der ästhetischen einen entscheidenden Nachteil gehabt, da sie sich auf die Einbildungskraft des Lesers stützen musste. Jetzt könne »zur Bekräftigung des Urtheiles das Bild unmittelbar aufgerufen werden«, »die abgeblasste Erinnerung« habe »das lebendige Auge« zur Konkurrentin, und was bisher »mit Worten matt umschrieben« worden sei, könne nun »an den Zügen und Linien selbst nachgewiesen« werden.14 1878 liess sich Springer gar zu der Prognose hinreissen, vielleicht schon die nächste Generation werde bei einer Monografie über Künstler wie Raffael das Feld gänzlich dem Bilde überlassen: »Nicht das Wort wie jetzt, sondern das Bild wird bei seiner Schilderung die Hauptrolle spielen, den illustrirten Text ein Bilderatlas mit begleitendem Texte ersetzen.«15 Imagination und Unvergleichbarkeit
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Vischers ›ikonoklastischer‹ Signorelli erschien also in einer Zeit, die man als erste Klimax des Illustrationsenthusiasmus bezeichnen könnte.16 Für seine anachronistische Haltung gegenüber der modernen Kunstbuchproduktion lassen sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, drei Hauptbeweggründe feststellen: 1. Das ›Instrumentarium‹ der Kunstgeschichte ist zu verbergendes Handwerkszeug. 2. Bild und Wort sind prinzipiell unvereinbar. 3. Getreue Reproduktionen sind tote Bilder und künstlerische Werke nur im Original »eigentlich da«. I Robert Vischer
Als Sohn des Philosophen Friedrich Theodor Vischer 1847 in Tübingen geboren, blieb Robert Vischer zeitlebens der Ästhetik seines Vaters verpflichtet und baute diese in gegenseitigem Einvernehmen in eine den Begriff der Einfühlung ins Zentrum stellende wahrnehmungspsychologische Richtung aus. Erste Frucht war die 1872 in seiner Geburtsstadt abgeschlossene Dissertation Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik.17 Nach langen Reisen durch Italien und einer kurzen Anstellung als Sekretär der Wiener Akademie wurde Vischer 1879 in München mit seiner kunsthistorischen Arbeit zu Signorelli habilitiert. 1885 wurde er als ordentlicher Professor für Kunstgeschichte nach Aachen berufen, von 1892 bis 1911 war er Ordinarius in Göttingen.18 Robert Vischers Einfühlungsästhetik hat in verschiedenen Disziplinen tiefe Spuren hinterlassen. In der Kunstgeschichte trafen ihre Impulse – um nur Einige zu nennen – Aby Warburg, Wilhelm Vöge, Heinrich Wölfflin und Wilhelm Worringer. Erst in jüngster Zeit aber hat man begonnen, die Problematik dieses Einflusses zu thematisieren.19 Die Einfühlungslehre geht von einer totalen Subjektivität der Wahrnehmung und damit einer Phantasieleistung aus, die je individuell erst das Schöne schafft. Bereits Friedrich Theodor Vischer wandte sich in der Kritik seiner Ästhetik (1866) gänzlich von der romantischen Vorstellung beseelter Materie in der Natur und von einer gegebenen Existenz des Naturschönen ab.20 Sein Sohn Robert definierte nach Fichte die »ganze Welt der Erscheinung« als »Projektion des menschlichen Ich«, rückte das Phänomen des Irrationalen ins Zentrum seiner Theorie und versuchte, diese wahrnehmungspsychologisch auf die Kunst anzuwenden.21 Da Kunstwerke objektiver Ausdruck subjektiver »innere[r] Bildthätigkeit« seien, galt Vischer als wichtigstes Forschungsfeld die Künstlerphantasie: Martin Gaier
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»Ihre Tendenz ist Vollkommenheit, Vergeistigung. Ihr Tummelfeld liegt in ihr selbst, sie arbeitet in sich selbst, und sie fixiert das Resultat ihres Processes gestaltend im objektiven Kunstwerk. Der Bildhauer meisselt dem Marmorblock sich selbst, seine Individualität, seinen inneren Menschen an, er haut sie ihm hinauf.«22 Das längste Kapitel seines Signorelli befasst sich mit der Phantasie des Malers.23 Damit wird bereits deutlich, warum ein anschaulicher Bildvergleich dem Verständnis im Sinne Vischers nicht weiterhelfen konnte. Er stand der Einfühlung als einem Akt des inneren Vergleichs zwischen subjektivem und objektivem Resultat des Phantasieprozesses diametral entgegen: »Erscheinung und ideale Persönlichkeit, Abbild und Urbild, dies sind die Begriffe, welche nicht genug beherzigt, nicht treu genug festgehalten werden können. Eigentlich sehen die Dinge erst völlig aus, werden erst ganz evident, wenn sie uns als Spiegelungen unseres Innenlebens entgegentreten. In der bildenden Kunst handelt es sich weder um Inhalt noch um Form, sondern um Bildmässigkeit, um Phänomenalität.«24 Die Einfühlung, das weitestgehende ästhetische Verhalten im Sinne einer ›reinen‹ Anschauung, 25 ist Vischer zufolge ein reziproker Akt seelisch bewegter Selbstversetzung in die Objektform: »Ich balle mich grollend in einer Wolke, rage stolz in einer Tanne, brüste und bäume mich frohlockend in den Wogen. […] Eine stachelige Pflanze sieht mich an, wie ein rauhborstiger Charakter. Ich habe mich in diesen Kaktus so versetzt und umgewandelt, daß diese meine versetzte Persönlichkeit mich, der ich gleichwohl noch bei mir selber bin, als ein widerspenstiger Kaktus ansieht.«26 Es ist somit ein Vergleichen zwischen Gesehenem und Gefühltem oder, wie Vischer sagt, ein Akt der »Symbolisierung«, der »Vergleichung des nächsten Besten mit dem nächsten Besten«.27 Wir vergleichen einen »objektiv gegebenen Inhalt«, z. B. einen gekreuzigten Christus, mit dem »subjektiven Inhalt, d. h. unser[em] Seelenleben, das wir als die Betrachtenden mit jeder Erscheinung, welche ästhetisch aufgefasst werden kann, in Kontakt bringen«.28 Die »Ideenassoziation« dagegen, die Kants ›reproduktiver Einbildungskraft‹ entsprechend »andere, nicht gegenwärtige Imagination und Unvergleichbarkeit
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Bildvorstellungen« hinzuzieht, ist ein bewusster »sekundärer, nachträglicher Akt«.29 Sie interessiert den Ästhetiker nicht mehr, ist dafür um so mehr Instrument des Kunsthistorikers geworden. II Das ›Instrumentarium‹ der Kunstgeschichte
»Es ist wohl kein Zweifel, dass die Verschmelzung des Charakterisirens mit der Darstellung des geschichtlichen Herganges für das biographische Einzelbild gleichermassen wie für das Gemälde ganzer Epochen Ideal des Schriftstellers sein muss. Doch gibt es Fälle, wo dasselbe schwer befolgbar ist, ja wo sich die entgegengesetzte, nach Gesichtspunkten, Begriffen trennende Methode empfiehlt. […] Und so entschloss ich mich in der Hoffnung, dass meine Arbeit, wenn nicht ein harmonisches, künstlerisches, so doch ein wissenschaftliches Resultat ergeben möge, zu der scharfen, mehrfachen Section und Scheidung.«30 So beginnt Robert Vischer das lange und programmatische Vorwort seines Signorelli-Buches. Mit der Charakteristik und dem historischen Kontext benennt er zwei konstitutive Elemente der Künstler-Biografie.31 Was er aber nicht erwähnt, ist das Werk. Die »Section« in zwei Teile könnte schärfer nicht sein: Der erste Teil befasst sich mit den Schauplätzen, den Lehrern und Vorbildern, einem Lebensabriss und drei Analysen, die philosophisch, kulturhistorisch und psychologisch das Wesen des Künstlers untersuchen. Nur einmal, beim zentralen Werk des Jüngsten Gerichtes in Orvieto, öffnet Vischer, wie er sagt, »die geheime Thüre in sein Studio«, um »seine Monologe belauschen«, »ihm in’s Herz sehen« zu können.32 Der Rest ist Dokumentation: ein ausführlicher, alphabetisch nach Orten geordneter Werkkatalog – der erste zu Signorellis Œuvre überhaupt –, dann knappe Notizen zur Nachfolge und schließlich eine Sammlung relevanter Quellen. Es komme, so erläutert Vischer im Vorwort, dem »Factischen, Urkundlichen, dem Bilderstudium, der historischen Kritik«33 als wissenschaftlichem und erkenntnissuchendem, aber nur vorgängigen und nicht vorzuführenden Arbeitsinstrument ein nachgeordneter Rang zu. Mit den einleitenden Kapiteln, ja sogar mit der Entscheidung, die kunsthistorischen Objektivierungsverfahren in den Anhang zu verbannen, scheint Vischer auf den ersten Blick durchaus dem zu entsprechen, was Kunsthistoriker wie Anton Springer als Martin Gaier
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Ideal der Künstlermonografie herausstellten: die »Phantasie der Künstler« in einer »psychologischen Charakteristik« zu erfassen und zugleich »den culturhistorischen Hintergrund« zu schildern.34 Doch die Welt, in die Vischer seinen Leser entführte, war den meisten seiner Kollegen zu abstrakt und zu wenig fundiert. Diese, bestrebt, der Kunstgeschichte den Ruch des Irrationalen zu nehmen und sie den Naturwissenschaften vergleichbar als exakte Wissenschaft darzustellen, geißelten Vischers Buch als »Versuch, die kunsthistorische Forschung wieder in die ästhetische Behandlungsweise hineinzutreiben, von der sie sich nach und nach glücklich emanzipiert hatte«.35 Stein des Anstoßes war aber vor allem, dass sich das Buch mit seiner strengen und programmatischen »Section« allen Regeln der Biografik seiner Zeit widersetzte. Denn das Ideal der ›Leben-und-Werk‹-Darstellung war nun gerade, Künstlervita und Werkanalyse enger zu verschmelzen und die Werke »der biographischen Schilderung eingeflochten« darzustellen.36 Dem Kunsthistoriker ginge es, so Springer, um die »Abspiegelung der Natur des Meisters in seinem Werke«.37 Alfred Woltmann übte nicht nur Kritik an der »zu langen und anspruchsvollen Vorrede«,38 sondern entsetzte sich geradezu über »die eigentliche Biographie« auf »nur 38 Seiten«: »Sie ist ein bloßes Gerippe, es fehlt Alles, was ihr Fleisch und Leben verleihen könnte; von den Werken des Künstlers ist in ihr nichts Anderes gemeldet als die Thatsache ihres Entstehens.«39 Robert Vischer ging es aber um »die Erkenntniss des inneren Kunstwerkes« als Synthese der eigenen Bildbetrachtungen und -vergleiche. Daher musste das Werk im Anhang Platz finden. Dies war das Mittel, das andere der Zweck.40 Vischer hatte jedoch noch gravierendere Gründe für diese konsequente, ein Vergleichen von Bild und Wort oder gar Bildern untereinander verunmöglichende ekphrastische und illustratorische Enthaltsamkeit. III Bild und Wort
Im Vorwort seines Signorelli erklärt Vischer: »Zugleich gestehe ich, dass ich – und zwar mit vollster Ueberzeugung – die Bilderbeschreiberei als ein grosses Uebel der Kunstgeschichte betrachte, als eine unvermeidliche Aufgabe, die nicht recht erfüllt werden kann.«41 Er nennt dafür zwei Gründe: zum einen den »Conflict zwischen Hauptbetrachtung und Nebenbetrachtung, zwischen der concreten Concentration auf das Einzelne und der historisch-philosophischen Abstraction«; zum andern den »Widerspruch zwischen Bild und Wort«.42 Das erste Problem führt er folgendermaßen aus: »Wenn ich Imagination und Unvergleichbarkeit
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das Wesen eines Künstlers abstrahiren will, so darf ich die Phantasie nicht mit Schilderungen seiner Werke belasten, welche ich entweder gar nicht oder nur in mangelhaften Reproductionen illustriren kann.«43 Es ist also zunächst nichts anderes als die Sorge, den Leser mit Beschreibungen oder Abbildungen in einen unkontrollierbaren Zwischenraum zu entlassen, der sich mit der Einbildungskraft des Anderen auftut. Unsere Worte – so Vischer – können für künstlerische Formen keinen Ersatz bieten, »versuchen wir es dennoch, so geht im Handumdrehen die Phantasie des Zuhörers über Berg und Thal«.44 Beschreibung ist Erzeugung eines je individuell neuen Bildes.45 Um aber den Leser in den Bann der subjektiven Imagination einer Künstlerpersönlichkeit schlagen zu können, verzichtet Vischer auf den Bann der Beschreibung. Lieber entführt er ihn stattdessen gleich zu Anfang mit suggestiver Macht in ein begehbares Bild, ein Haus, in dem nur er sich auskennt.46 Bezeichnend ist seine Verteidigung dieses »harmlosen Tropus« als »eine Vergleichung, wie ich sie eben gerade brauchte«. Das »tertium comparationis« ist nicht ein Werk Signorellis, sondern ein imaginäres Gebäude.47 »Die Hauptschwierigkeit« – so führt Vischer nun jedoch weiter aus – »liegt aber im Unterschied des bildmässigen, malerischen Vehikels und des sprachlichen. Jenes ist raumgebunden, simultan, aufeinmal, ruhig, spannungslos, wesentlich sinnlich und erscheinend; dieses successiv, zeitlich, nacheinander, hüpfend, drängend, dramatisch und wesentlich geistig.«48 Die Lessingsche Dichotomie von Raum- und Zeitsinn hatte Vischer bereits allgemein in seiner Dissertation angesprochen.49 Nun kam er für die Behandlung von Kunstwerken zum Schluss: »Das Lessing’sche Gesetz, das Naturgesetz, welches einen solchen Wetteifer zwischen Wort und Bild verbietet, steht unerbittlich einer stylvollen Repräsentation der Kunstgeschichte im Wege.«50 Im Begriff des »Stylvollen« steckte das Problem. Denn eigentlich war es nicht prinzipiell die Unterordnung des bildlichen unter das sprachliche Medium, die Vischer störte – Sprache bedeutete Vischer sehr viel –, sondern die Art der Sprache: das vernunftmäßige Zergliedern dessen, was sich in einer ästhetischen Form auf einmal zeigt.51 So schreibt auch Lessing in einer zentralen Passage des Laokoon: »[…] ich spreche nicht der Rede überhaupt das Vermögen ab, ein körperliches Ganze nach seinen Teilen zu schildern; Martin Gaier
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sie kann es, weil ihre Zeichen, ob sie schon aufeinander folgen, dennoch willkürliche Zeichen sind: sondern ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich gehet; und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.«52 Auch für Robert Vischer ist das »Täuschende«, die Illusion der Unmittelbarkeit des Bildes in der sukzessiven Bildbeschreibung nicht zu erlangen, ja sie negiert diese: »Und hätte ich auch die Originale selbst zur Hand, so würden die gegenständlichen und kunstkritischen Betrachtungen derselben im Zusammenhange und Flusse der historisch-ästhetischen Analyse des Künstlers überhaupt doch immer selbständige, nie völlig auflösbare Bestandtheile bleiben.«53 Das Konsekutive der Sprache und das simultan SinnlichErscheinende des Bildes wird nach Vischer somit niemals eine Lösung finden können, auch nicht mit Hilfe der neuen Errungenschaft Reproduktionsfotografie. Denn: »Trotz allen Reproductionen, ob sie nun genaues oder ungenaues Gepräge haben, sind eben doch die vielen Gegenstände, worüber der letztere [i. e., der Kunsthistoriker] schreibt und worauf er sich theils ausdrücklich, theils stillschweigend bezieht, nicht alle und nicht eigentlich da«.54 Vischer sieht als einzige Umgehung des Problems, für den Diskurs eine andere Ebene zu suchen – er spricht von der »historisch-philosophischen Abstraction«55 – und für die unvermeidliche Präsentation des Œuvres einen anderen Ort und eine andere Sprache. Er will »das Beschwerende gewissermassen isoliren«.56 Dahinter steht aber noch eine andere Überzeugung: Es ist nur möglich an Bildern etwas zu erkennen, was man schon weiss. Dies zeigt sich Imagination und Unvergleichbarkeit
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in einem interessanten Vergleich: »Ich berufe mich auf den guten Brauch bei kunsthistorischen Collegien, wo immer erst nach der Vorlesung Stiche und Photographien vorgezeigt und parlando besprochen werden.«57 Die Betonung dieses ›guten Brauches‹ ist vor dem Hintergrund der zeitgleichen Propagierung von neuen Präsentationsmedien in der Kunstgeschichte zu sehen, vor allem der Anpreisung des Skioptikons durch den Herbartianer Bruno Meyer im nämlichen Jahr 1879, in der dieser den Vorteil herausstellte, dass mit Hilfe des Projektors die Bilder »dann vor Aller Augen stehen, wenn von ihnen gesprochen wird«.58 Die Forschung hat dem bis dahin virulenten Problem der Unvergleichbarkeit von Werk und Wort im Hörsaal weniger Beachtung geschenkt als dem technischen Erfolg des Präsentationsmediums auf der Rezeptionsebene: Die Bilder waren nun für alle gleichzeitig sichtbar.59 Doch entscheidend für den Vermittlungsanspruch war die Frage, wann die Bilder den Zuhörern präsentiert wurden, auch für Meyer. Silke Wenk, die sich wohl am ausführlichsten dieser Frage gewidmet hat, spricht den von ihr angeführten Zitaten zum Trotz gar von einer »Nachträglichkeit des Kommentars«, die mit den neuen technischen Möglichkeiten aufgehoben worden sei.60 Dabei ging, wie Herman Grimm 1892 ausführte, der Kommentar tatsächlich »der Anschauung voraus, die photographischen oder anderen, von Hand zu Hand wandernden Reproduktionen kamen immer erst nach dem Kommentar zur Anschauung der zu Belehrenden«.61 Franz Landsberger schreibt 1924 in seinen Erinnerungen an Heinrich Wölfflin: »Vorher [i. e., vor der Einführung der Lichtbildprojektion] wanderten ein paar Abbildungen von Hand zu Hand, und es war die ewige Qual, daß man die Bilder erst empfing, wenn das Wort längst verflogen war. Erst das Skioptikon ermöglichte die Gleichzeitigkeit von Werk und Wort«.62 Dass aber eine synchrone Beanspruchung der Sinne Vischer ganz und gar nicht gelegen kam, ist vor dem Hintergrund seiner Einfühlungstheorie einleuchtend. Er selbst zeichnet das Bild, mit dem er beabsichtigt, den Leser, ohne diesem ein gleichzeitiges Selbsturteil zu ermöglichen, von vornherein in seinen Bann zu ziehen. Dieses Bild wird den imaginierten Eindruck des Lesers bestimmen und prägen. Dann erst wird dieser vor das eigentliche Werk geführt. An einer Stelle sagt Vischer ganz deutlich: »Ich habe bisher von dem Style seiner bedeutendsten Gemälde gesprochen, ohne diese selbst zu zeigen, ich erzählte sein Leben, ohne die urkundlichen Quellen in ihrem Martin Gaier
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vollen und originalen Wortlaute vorzulegen. Nun möge man die Probe machen, ob meine Behauptungen im eigentlichen Sachverhalt wurzeln.«63 Dennoch kann man Vischer mitnichten vorwerfen, er sei fern vom Bild oder bediene sich keiner kunsthistorischen Methodik. Im Gegenteil: Der Werkkatalog beweist, dass er sich länger und gründlicher mit den Originalen befasst hatte als die meisten seiner Biografen-Kollegen. Dort finden sich Farb- und Zustandsangaben, kennerschaftliche Bildvergleiche sowie Literatur- und Bildnachweise. Nicht aber um diesbezüglich zu erwartende Kritik abzuwehren, sondern mit der Überzeugung, dass jede Reproduktion eine Einfühlung in den Künstler verunmöglichte, jede Konfrontation mit einem originalen Werk aber zu einem ›nachfühlenden‹ Ereignis wurde, verfolgte er den Anspruch, jedes einzelne Bild selbst zu sehen. So teilt er dies im Katalog, oft sogar unter Angabe von Datum und Wetterlage, genauestens mit. Wenn es ihm nicht gelang, notierte er: »Vom Verfasser nicht gesehen«.64 Zugleich verfolgte Vischer mit seinem Werkkatalog eine sprachliche Modernisierung. Weder eine »schwere schriftstellerische Arbeit«, wie sie Woltmann 1873 auf dem Wiener Kunsthistorikerkongress für Einträge in Bestandskataloge gefordert hatte,65 noch der Versuch, das ohnehin Unsagbare mit einem ekphrastischen Äquivalent zu konfrontieren, konnte für seine Zwecke sinnvoll sein. Gegen die Mehrheit der ›exakten‹ Kunsthistoriker, die hier das Ästhetisieren »beinahe für unentbehrlich« hielten,66 polemisierte Vischer: »Nichts Leidigeres als schöne Bilderbeschreibungen, welche mit einem versprechenden Reize, der nicht Wort hält, an uns herantreten; nichts Trostloseres als süssliche, polirte Langeweile.« Eine »kurze, knappe Charakteristik, welche aus herzlicher Anschauung und Intuition« entstanden sei, werde »die Phantasie des Lesers viel heller entzünden, wird eine viel lebhaftere Vorstellung in ihm erwecken als eine Walter-Scott’sche Schilderung«.67 Da Vischer auch sprachlich »der Phantasieleistung auf der Spur zu folgen« beabsichtigte,68 wählte er eine »fast notizenhafte Behandlung (oft ohne Verbalconstruction)«, wie er im Vorwort erläutert,69 eine assoziativ-sprunghafte und mit zahllosen Abkürzungen den in eine Werkimagination abzuschweifen drohenden Lesefluss absichtlich störende Charakterisierung. Diese syntaktisch bewusst unschöne, auf Vollständigkeit zielende Bestandsaufnahme ist jedoch durchsetzt mit anziehenden Metaphern und überraschend subjektiven Beobachtungen, die Imagination und Unvergleichbarkeit
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wiederum eine plötzliche Nähe zum Werk suggerieren. Damit richtete er sich nach Burckhardtschen Grundsätzen, der seine lakonische Kürze in der Vorrede des Cicerone damit begründet hatte, dass er mit seinen Beschreibungen nur auf Wesentliches aufmerksam machen wolle und dass er damit rechne, »dass der Leser das in Rede Stehende gesehen habe oder sehen werde«.70 So wie Vischer wünschte, man möge »die verschiedenen Bedingungen berücksichtigen, unter welchen solche Aufzeichnungen entstehen«, so wünschte er auch einen leibhaften Nachvollzug durch den Leser: »Allein ich wollte an den Notizen, welche ich alle an Ort und Stelle vor dem Gegenstande machte, nicht allzuviel ändern. Vielleicht, dachte ich sanguinisch, wirken sie so in dem rudimentären, fragmentarischen Tone eines Reisetagebuches lebhafter als in glättender Verarbeitung«.71 IV
Frontispiz
Das Wort-Bild-Prinzip Vischers ist bis in die Ausstattung seines Buches nachvollziehbar. Der Rezensent Hubert Janitschek bemerkte als negativen Punkt: »Die Form des Buches ist eine ganz unkünstlerische«.72 Tatsächlich bietet es weder reproduktionstechnisch noch typografisch besonders Anziehendes, vom Eigentlichen Ablenkendes. Mit einer Ausnahme verzichtet Vischer gänzlich auf Abbildungen, zumal auf den ›seelenlosen‹ Abdruck der Fotografie.73 Künstlerische Werke sind in Reproduktionen eben »nicht eigentlich da«.74 In der zeitgleichen Debatte um die Verwendung von Reproduktionsfotografie wurde die »fühllose Jodsilberplatte« von den einen positiv als objektives Medium angesehen und befürwortet,75 von den anderen dagegen als totes, seelenloses Instrument abgelehnt: »es fehlt die Spur des warmen Lebens«, schreibt Moriz Thausing 1866.76 Vischer hängt der zweiten, gewissermaßen vitalistischen Fraktion an. In seiner Dissertation unterscheidet er zwischen dem verhältnismäßig unbewussten Akt des Sehens, bei dem es sich »um das einfache Aufnehmen des sich darstellenden Bildes […]; objektiv gesprochen, um den ruhigen Abdruck, um die Photographie des Gegenstandes in unserem Auge« handle.77 Erst das bewusstere Schauen, das »die Formen dialektisch (d. h. in auflösender und wieder zusammenfassender Weise) untersuchen und in einen mechanischen Zusammenhang bringen« wolle, ermögliche »eine volle künstlerische Darstellung; denn mit dieser Bewegung geht […] Hand in Hand Martin Gaier
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ein antreibendes Beleben der toten Erscheinung«.78 Schon hier, in dieser psycho-physiologischen Erklärung der Wahrnehmung lässt sich Vischers Haltung in der zeitgenössischen Diskussion um Reproduktion und Nachschöpfung erahnen. Später dann vergleicht er »ein rein mechanisches Bilden seelenloser, abgestumpfter Künstlerhände« mit der fotografischen Technik.79 Wie erklärt sich aber, dass der Leser von Vischers Signorelli zunächst – vor jedem Wort – mit einem Bild konfrontiert wird? Das Frontispiz, traditioneller Bildort in ansonsten bildfreien Büchern,80 präsentiert geradezu emblematisch als ›Gegenstück‹ zu den Titelworten eine dialektische Reflexion des Problems in künstlerischer Form [Abb. 1]. Denn es zeigt nicht in einer Reproduktionsfotografie, sondern in einer zeitgenössischen künstlerischen Nachschöpfung des linken Brustbildes im freskierten Doppelporträt der Opera des Doms von Orvieto bereits eine subjektive Imagination des Charakters Signorellis: »Der dem Buche beigefügte Lichtdruck ist die Wiedergabe einer trefflichen Copie von Charles Fairfax Murray nach dem Selbstportrait des Meisters«, schreibt Vischer im Vorwort.81 Ironie der (Kunst-)Geschichte: Seit einer Autopsie Roberto Longhis wird das Fresko als Fälschung des 19. Jahrhunderts nach dem (wesentlich freundlicher dreinblickenden) Selbstporträt im Dom betrachtet – »une témoignage du culte que les Romantiques vouèrent au peintre de la Fin du Monde«.82 Ein Vergleich des ›Originals‹ (das hier freilich nicht beigebracht werden kann) mit der Nachschöpfung des englischen Grafikers würde zudem zeigen, dass Murray der wesentlich schlankeren Figur ›Signorellis‹ gedrungenere Proportionen gab und seine Gesichtszüge besonders um die Augen und um den Mund subtil veränderte. Ein solcher Vergleich und auch eine solche Zurechtweisung wäre aber nach Vischer unsinnig und schulmeisterlich. Denn der subjektive Blick auf das Objekt erschafft erst das Bild: »Es gibt kein Gefäss, die Werke der Einbildungskraft zu fassen, als die Einbildungskraft selbst«, zitiert er Schiller.83 Damit aber war Murrays Bild weder autonom noch dem Text äquivalent. Es hatte, auch wenn Vischers Ziel alles andere war als eine bildgestützte Argumentation, sondern vielmehr die Vergegenwärtigung des Künstlers in einem großen, ›selbstgemalten‹ Bild, eine klare Funktion. Der Leser sollte das Bild, da Vischer es eingehend ›durchfühlt‹ hatte, mit seinen Augen sehen. Er selbst erkannte in Murrays »Copie« nämlich »die sonderbare, halb widerspenstige, halb bescheidene und schier wehmüthige Miene, die sinnigen Augen« Signorellis, mehr noch – eine Seelenverwandtschaft: »Sieht der Imagination und Unvergleichbarkeit
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Mensch nicht wie ein deutscher Landsmann aus und erweckt er nicht Zuneigung, Vertrauen, Ehrfurcht?«84 Hier ist im Vorwort bereits angedeutet, was als das eigentliche Ziel von Vischers Buch zu bezeichnen ist: eine religions-, völker- und schließlich rassenpsychologische Erklärung für die Antinomie von Kunstblüte und sittlich verkommenem Zustand der italienischen Renaissancegesellschaft zu geben.85 In dieser konstatierten Antinomie aber ist vermutlich auch der eigentliche Grund für Vischers scharfe Trennung von Bild und Beschreibung auf der einen Seite, Künstlerpersönlichkeit und Kulturgeschichte auf der anderen zu finden.
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Imagination und Unvergleichbarkeit
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Endnoten 1 Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt. Mit einer Vorerinnerung
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über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung von Wilhelm von Humboldt, Stuttgart/Tübingen 1830, S. 438f. Ingeborg Reichle, Medienbrüche, in: Kritische Berichte 30/1, 2002, S. 40 – 56, hier S. 42: »Inwiefern die technische Reproduktion jedoch die Gewohnheiten und Methoden der Bildbetrachtung allein quantitativ, aber auch qualitativ veränderte, wurde seinerzeit nicht realisiert.« Vgl. dagegen jetzt Angela Matyssek, Kunstgeschichte als fotografische Praxis: Richard Hamann und Foto Marburg, Berlin 2009, bes. S. 123 –169. Katharina Krause, Argument oder Beleg. Das Bild im Text der Kunstgeschichte, in: Katharina Krause, Klaus Niehr und Eva-Maria Hanebutt-Benz (Hg.), Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920, Leipzig 2005, S. 27– 42, hier S. 33; ähnlich Hubert Locher, »Musée imaginaire« und historische Narration. Zur Differenzierung visueller und verbaler Darstellung von Geschichte, in: Katharina Krause und Klaus Niehr (Hg.), Kunstwerk – Abbild – Buch: Das illustrierte Kunstbuch von 1730 – 1930, München/Berlin 2007, S. 53 –75, hier S. 53. Robert Vischer, Luca Signorelli und die italienische Renaissance. Eine kunsthistorische Monographie. Mit Signorelli’s Bildniss, Leipzig 1879. Robert Vischer, Pro domo, in: ders., Kunstgeschichte und Humanismus. Beiträge zur Klärung, Stuttgart 1880, S. 26 – 67, hier S. 32. Eine Auflistung der Rezensionen ebd., S. 27, Anm. * und auf den folgenden Seiten. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VII. Vgl. Vischers Vorwort in: ders., Kunstgeschichte und Humanismus (Anm. 5), S. 3. Er halte es für notwenig, »die falsche Scheidewand niederzulegen, welche von nicht wenigen Händen zwischen Kunstgeschichte und Aesthetik jetzt aufgerichtet ist oder scheint«. Vgl. Robert Vischer, Der ästhetische Akt und die reine Form [1874], in: ders., Drei Schriften zum ästhetischen Formproblem, Halle 1927, S. 45 – 54, hier S. 45f. und S. 54: »Der Inhalt eines Kunstwerks ist eben der Künstler.« Robert Vischer, Ueber das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Aesthetik, in: ders., Kunstgeschichte und Humanismus (Anm. 5), S. 5 – 25, hier S. 18. Zum Begriff der wissenschaftlichen Objektivität im 19. Jahrhundert, allerdings vor allem in bezug auf die Naturwissenschaften, vgl. zuletzt Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007. Locher, »Musée imaginaire« (Anm. 3), S. 55. Anton Springer, Die Arundel-Gesellschaft zur Förderung höherer Kunstkenntniss, Bonn 1860, S. 4. Gerade weil in dieser Werbeschrift Invektiven gegen die Ästhetik nicht notwendig erscheinen, sind diese Äußerungen Springers um so aufschlussreicher. Anders Johannes Rößler, Poetik der Kunstgeschichte: Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft, Berlin 2009, S. 19, der das hier Zitierte allerdings nicht berücksichtigt. Zu Springers Abhängigkeit von des älteren Vischers Ästhetik jetzt umfassend ebd., bes. S. 32 – 50. Springer, Arundel-Gesellschaft (Anm. 11), S. 4. Ebd., S. 3f. Ebd., S. 4. Anton Springer, Raffael und Michelangelo, 2. Auflage, 2 Bde., Leipzig 1883, Bd. 1, S. II (Vorwort zur 1. Auflage 1878). Vgl. Anthony Hamber, Photography in nineteenth-century art publications, in: Rodney Palmer und Thomas Frangenberg (Hg.), The rise of the image: Essays on the history of the illustrated art book, Aldershot u. a. 2003, S. 215 – 244, hier bes. S. 215. Robert Vischer, Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik, Leipzig 1873; wiederabgedruckt in: Vischer, Drei Schriften (Anm. 8), S. 1-44 (nach dieser Ausgabe zitiert), und neuerdings in Thomas Friedrich und Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Münster 2007, S. 37– 70. Martin Gaier
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18 Zur Biografie: Harry Francis Malgrave und Eleftherios Ikonomou (Hg.), Empathy, Form
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and Space: problems in German aesthetics, 1873 –1893, Santa Monica 1994, bes. S. 17– 29; Metzler Kunsthistoriker Lexikon: zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart 1999, S. 423 – 425 (P. Betthausen). Grundlegend für eine philosophiehistorische Einordung: Hermann Glockner, Robert Vischer und die Krisis der Geisteswissenschaften im letzten Drittel des Neunzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Irrationalitätsproblems, in: Logos 14, 1925, S. 297– 343; 15, 1926, S. 47–102. Vgl. u. a. Kathryn Brush, The shaping of art history: Wilhelm Vöge, Adolph Goldschmidt, and the study of medieval art, Cambridge 1996, S. 29f., 78 – 82; Georges Didi-Huberman, L’image survivante: histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 391– 417; Frank Büttner, Das Paradigma »Einfühlung« bei Robert Vischer, Heinrich Wölfflin und Wilhelm Worringer: die problematische Karriere einer kunsttheoretischen Fragestellung, in: Christian Drude u. a. (Hg.), 200 Jahre Kunstgeschichte in München: Positionen, Perspektiven, Polemik, München 2003, S. 82 – 93; Jutta MüllerTamm, Abstraktion als Einfühlung: zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005, bes. S. 214 – 237. Zu Vischers Einfluss auf Warburg vgl. auch Martin Gaier, Terribilità, in: Kritische Berichte 35/3, 2007, S. 18 – 22. Zum Begriff der Einfühlung vgl. allg. Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2001, s. v. Einfühlung/Empathie/Identifikation, S. 121–142 (M. Fontius), und zuletzt Robin Curtis und Gertrud Koch (Hg.), Einfühlung: Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, Paderborn 2008. Vgl. Friedrich Theodor Vischer, Kritik meiner Ästhetik [1866], in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, hg. v. Robert Vischer, München 1922, S. 224. Vischer, Der ästhetische Akt (Anm. 8), S. 54. Vgl. die ausgezeichnete Synthese bei Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung (Anm. 18), S. 218f. Vischer, Pro Domo (Anm. 5), S. 47f. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. 121–162. Vischer, Der ästhetische Akt (Anm. 8), S. 53. Vgl. Vischer, Formgefühl (Anm. 17), S. 14. Die »reine Anschauung« ist hier im kantschen Sinne als »Sehen ganz in seiner Reinheit als Selbstzweck« verstanden, ohne »alle stofflichen Kränkungen und Erhitzungen« (ebd.). Vischer, Der ästhetische Akt (Anm. 8), S. 48. Ebd., S. 47. Auch dies in der Ästhetik seines Vaters angelegt. Vgl. Vischer, Kritik meiner Ästhetik (Anm. 20), S. 319f. Vischer, Der ästhetische Akt (Anm. 8), S. 46. Ebd., S. 50. Vgl. auch Vischer, Formgefühl (Anm. 17), S. 26f. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. III. Zum Genre der Künstlermonografie vgl. Catherine M. Soussloff, The absolute artist: the historiography of a concept, Minneapolis 1997; zuletzt Karin Hellwig, Von der Vita zur Künstlerbiographie, Berlin 2005; Rößler, Poetik der Kunstgeschichte (Anm. 11), S. 125ff. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. V. Ebd., S. XVI. Anton Springer, Kunstkenner und Kunsthistoriker [1881], in: Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, 2 Bde., Bonn 1886, Bd. 2, S. 379 – 404, hier S. 399; einfühlungsästhetische Ansätze ebd., S. 387. – 1878 erschienen bereits zwei als psychologisierende Parallelbiografie angelegte monografische Beiträge Vischers unter dem Titel »Luca Signorelli« bzw. »Giovanni Antonio de’ Bazzi, genannt il Sodoma« in: Kunst und Künstler Italiens, hg. v. Robert Dohme, Leipzig 1878, Bd. 1, Nr. 54, S. 2 –19 und Nr. 55, S. 20 – 38. Zum Typus der Parallelbiografie vgl. Rößler, Poetik der Kunstgeschichte (Anm. 11), S. 130ff. Alfred Woltmann, Rez. von: Robert Vischer, Luca Signorelli […], in: Literarisches Zentralblatt 1878 (Nr. 51, 21. Dezember), Sp. 1674 –1676, hier Sp. 1676. Vgl. dazu die Antwort Vischers: Ueber das Verhältniss der Kunstgeschichte zur Aesthetik, in: Vischer, Kunstgeschichte und Humanismus (Anm. 5), S. 5 – 25. Imagination und Unvergleichbarkeit
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Endnoten 36 Springer, Kunstkenner und Kunsthistoriker (Anm. 34), S. 398. Vgl. hierzu Hellwig, Vita
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(Anm. 31), S. 163 –172, bes. S. 170f. Dass Springers Rezension von Vischers Signorelli (in: Im neuen Reich 17/1, 1879, S. 270 – 272), so milde ausfiel, lag wohl hauptsächlich an seiner Ergebenheit gegenüber Roberts Vater. Vgl. Rößler, Poetik der Kunstgeschichte (Anm. 11), S. 19. Anton Springer, Ueber das Gesetzmäßige in der Entwicklung der bildenden Künste. Vortrag beim Antritt der kunstgeschichtlichen Professur an der Universität Leipzig den 26. April 1873, Leipzig 1873, S. 14. Woltmann, Rez. Vischer (Anm. 35), Sp. 1675f. Ebd., Sp. 1675. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. XVI. Ebd., S. VI. Ebd. Ebd., S. VIf. Ebd., S. VII. Vgl. bereits Karl Philipp Moritz, Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik, hg v. Hans J. Schrimpf, Tübingen 1962, S. 95: »Worte können daher das Schöne nicht eher beschreiben, als bis sie in der bleibenden Spur, die ihr vorübergehender Hauch auf dem Grunde der Einbildungskraft zurücklässt, selbst wieder zum Schönen werden.« Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. IVff., vermutlich inspiriert von Karl A. Scherner, Das Leben des Traums, Berlin 1861, S. 116. Vischer weist selbst auf diese Quelle hin: Vischer, Formgefühl (Anm. 17), S. 15. Vischer, Pro Domo (Anm. 5), S. 33. Zum Bild als Tertium Comparationis vgl. den Beitrag von Christian Spies in diesem Band. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VII. Vischer, Formgefühl (Anm. 17), S. 6ff. – Bereits 1866 schreibt Friedrich Th. Vischer kategorisch: »In der Tat: es gibt zwei Arten zu denken, eine in Worten und Begriffen und eine in Formen; es gibt zwei Arten, die Welt zu lesen, eine in Buchstaben, eine in Bildern.« Vischer, Kritik meiner Ästhetik (Anm. 20), S. 237. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VII. Vgl. Gottfried Boehm, Bild versus Wort, in: Günther Hauff, Hans R. Schweizer und Armin Wildermuth (Hg.), In Erscheinung treten. Heinrich Barths Philosophie des Ästhetischen, Basel 1990, S. 261– 273, der auf das Problem verweist, dass das Bild »unter ›Fremdherrschaft‹, weniger des Wortes als der Vernunft« geriet (S. 265), allerdings ohne den hier aufgezeigten Kontext zu berühren. Ähnlich ders., Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: ders. und Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 23 – 40. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie […], Stuttgart 1990, S. 125f. (Kap. XVII). Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VII. Ebd. – Zu Goethes Auffassung, dass es nur in Gegenwart des Werkes sinnvoll sei, über Kunst zu sprechen, und zu seiner sprachlichen Meisterung des Problems vgl. ausführlich Ernst Osterkamp, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, bes. S. 224ff. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VI. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VIII, Anm. 1 (Hervorhebung MG). Bruno Meyer, Die Photographie im Dienste der Kunstwissenschaft und des Kunstunterrichtes, in: Westermann’s illustrierte deutsche Monatshefte 47, 1879/1880, S. 196 – 209, 307– 318, hier S. 310. Zu Meyer vgl. den Aufsatz von Lena Bader in diesem Band.
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59 Vgl. Reichle, Medienbrüche (Anm. 2), S. 43f., zuletzt Heinrich Dilly, Weder Grimm, noch
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Schmarsow, geschweige denn Wölfflin… Zur jüngsten Diskussion über die Diaprojektion um 1900, in: Costanza Caraffa (Hg.), Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte, München/Berlin, 2009, S. 91–116, der vor allem auf die kontinuierliche Verwendung eines »Reproduktionsmixes« hinweist (S. 101). Wider Erwarten findet sich keine Diskussion des Problems der Zeitlichkeit bei Robert Stalla, »…wird die schöne Kupferstichsammlung zweckmässig benutzt werden…«: die Funktion der Druckgraphik im universitären Kunstunterricht des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Druckgraphik: Funktion und Form, München 2001, S. 37– 47. Differenzierter Susanne Neubauer, Sehen im Dunkeln – Diaprojektion und Kunstgeschichte, in: GeorgesBloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich 9/10, 2002/03, S. 177 –189, hier S. 178 –180, und jetzt Matyssek, Kunstgeschichte als fotografische Praxis (Anm. 2), S. 162ff. Silke Wenk, Zeigen und Schweigen. Der kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion, in: Sigrid Schade und Georg Chr. Tholen (Hg.), Konfigurationen: zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292 – 305, hier S. 300f. Herman Grimm, Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons, in: ders., Beiträge zur deutschen Culturgeschichte, Berlin 1897, S. 276 – 395, hier S. 278. Franz Landsberger, Heinrich Wölfflin, Berlin 1924, S. 92f. Vgl. Wenk, Zeigen und Schweigen (Anm. 60), S. 301. Meyer selbst wies ausführlich auf die Probleme der Ungleichzeitigkeit von Bild und Wort im Hörsaal hin. Meyer (Anm. 58), S. 308ff. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. V – VI. Vgl. als Beispiele Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. 235, Anm. 1 und 2 bzw. S. 251, Anm. 1, 3, 4 und 5. Erster kunstwissenschaftlicher Congress in Wien, 1. bis 4. September 1873, in: Mittheilungen des k. k. Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie 8, 1873, S. 458f. Glockner, Robert Vischer (Anm. 18), S. 85f. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VIII. Glockner, Robert Vischer (Anm. 18), S. 85. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VIII. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, hg. v. Bernd Roeck, Christine Tauber und Martin Warnke, München/Basel 2001, S. VI. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VIII. Hubert Janitschek, Rez. von Robert Vischer, Luca Signorelli […], in: Repertorium für Kunstwissenschaft 2, 1879, S. 396 – 399, hier S. 396. Außer dem Frontispiz finden sich sechs der Orientierung dienende Schemazeichnungen im Katalog. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. VII. Hermann Vogel, Die gegenwärtigen Leistungen der Photographie, in: ders., Lichtbilder nach der Natur. Studien und Skizzen, Berlin 1879, S. 129. Moriz Thausing, Kupferstich und Photographie, in: Zeitschrift für bildende Kunst 1, 1866, S. 291. Vgl. zusammenfassend Wiebke Ratzeburg, Mediendiskussion im 19. Jahrhundert. Wie die Kunstgeschichte ihre wissenschaftliche Grundlage in der Fotografie fand, in: Kritische Berichte 30/1, 2002, S. 22 – 39; zuletzt Matyssek, Kunstgeschichte als fotografische Praxis (Anm. 2), bes. S. 146ff. Vischer, Formgefühl (Anm. 17), S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 39. Reflexionen über Frontispize in Büchern des 19. Jahrhunderts bei Philippe Hamon, L’image-seuil: Frontispices, in: ders., Imageries: littérature et image au XIXe siècle, Paris 2001, S. 245 – 269. Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. V, Anm. 1. Imagination und Unvergleichbarkeit
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Endnoten/Abbildungsnachweis 82 Marie G. de La Coste Messelière, Luca Signorelli, Brüssel 1975, S. VIf. (Abb. und Zitat
S. VII). Zum Forschungsstand vgl. Laurence B. Kanter und Tom Henry, Luca Signorelli: Leben und Werk, München 2002, S. 260, Kat.-Nr. 47. 83 Vischer, Pro Domo (Anm. 5), S. 22. Zum Originalzitat vgl. Anm. 1. 84 Vischer, Signorelli (Anm. 4), S. V. 85 Vgl. dazu Gaier, Terribilità (Anm. 19).
Abbildungsnachweis 1 Robert Vischer, Luca Signorelli und die italienische Renaissance, Leipzig 1879, Fron-
tispiz und Titel.
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Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit. Fotografische Strategien der Visualisierung von Bewegung im 19. Jahrhundert Marcel Finke
I
Bewegung, Wahrnehmung, Sichtbarmachung
»Motion is the most apparent of the characteristics of life; it manifests itself in all the functions; it is even the essence of several of them«1 – kurzum: Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten von Bewegungen versprechen Einsichten in die Strukturiertheit des Lebens selbst. Die kurze Formulierung des Physiologen Etienne-Jules Marey deutet an, weshalb der Analyse von Veränderungen, Übergängen und Umwandlungen im 19. Jahrhundert eine so enorme wissenschaftliche Relevanz zuwuchs. Die Erforschung von Bewegung blieb jedoch stets auf die Grenzen der Wahrnehmung verwiesen, insofern sie des Öfteren die Defizite der visuellen Perzeption deutlich werden ließ. In der relativen Unfähigkeit des Gesichtssinns, den sehr schnellen oder sehr langsamen Wandel von Objektkonfigurationen zu sehen, wurde ein solcher Mangel erkannt. Deutlich zeigte sich dies auch in Studien, die sich mit bewegten Objekten befassten und Gestaltwechsel in ihrem Verlauf nachzuvollziehen suchten. In Forschungen zur Biomechanik wurde dieser Problematik deshalb bereits früh im 19. Jahrhundert Ausdruck verliehen.2 Zumeist wiesen die Wissenschaftler jedoch im gleichen Atemzug darauf hin, dass 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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die Defizite menschlicher Wahrnehmung durch die Hinzuziehung von Apparaturen ausgeglichen werden könnten. Den Problemen bei der Beobachtung und Speicherung von Bewegungsabläufen, so das wirkmächtige Argument, lasse sich mit Hilfsmitteln begegnen, welche es zudem ermöglichten, »die zusammengesetzten Erscheinungen zu zerlegen und ihre einzelnen Theile und deren Zusammenhang zu erforschen«.3 Der dabei zur Sprache kommende Konnex von Registrierung, Notation, Isolierung von Phänomenen sowie die Differenzierung ihrer Bestandteile und deren Vergleich ist charakteristisch für die Erforschung von Bewegung, insbesondere jener von lokomotorischen Abläufen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Studien zur Fortbewegung belebter Körper, die im Zeitraum von etwa 1876 bis 1895 entstanden. Es wird jedoch nicht der Versuch unternommen, eine Chronologie der Bewegungsdarstellungen oder der Techniken ihrer Erzeugung zu rekonstruieren. Und obschon die Erörterungen an konkreten Darstellungen entlang geführt werden, geht es um mehr als faktische Bilder. Im Mittelpunkt stehen komplexe Strategien der Visualisierung von Bewegung, die sich verschiedener medialer Verfahren bedienen und auch unterschiedliche Bildformen erzeugen konnten. Für die Herausarbeitung der Taktiken war maßgeblich, auf welche Weise sich diese dem Wechselverhältnis von bewegtem Körper, durchschrittenem Raum und zeitlichem Vollzug näherten und versuchten, dieses in Bildern darstellbar zu machen. Anhand von Aufnahmen des Fotografen Eadweard Muybridge, des Malers Thomas Eakins, des Physiologen Marey sowie der Anatomen Christian Braune und Otto Fischer werden Visualisierungsstrategien diskutiert, aus denen epistemische Bilder hervorgingen, die nicht illustrierten, sondern aus denen Wissen über Bewegung allererst gewonnen werden konnte. Bei allen Beispielen handelt es sich um fotografische Verfahren zur Erzeugung von Sichtbarkeit, die Phänomene mediatisierten, welche sich jenseits ihrer Visualisierung dem menschlichen Sehen entziehen. Die Herstellung von Sichtbarkeit bedeutete darüber hinaus immer auch die mediale Ermöglichung von Vergleichbarkeit und forderte auf unterschiedliche Weise ein vergleichendes Sehen. Eine Erörterung jener Visualisierungsstrategien könnte demzufolge dazu beitragen, die Erkenntnistechnik des vergleichenden Sehens genauer zu bestimmen. Besonders im Hinblick auf die Rede von der Evidenz des visuellen Vergleichs werden sich von den fotografischen Bewegungsstudien ausgehend Antworten finden Marcel Finke
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lassen, wie und weshalb diese Evidenz stets in ein Verhältnis von Sichtbarkeit und Nichtsichtbarkeit verwickelt bleibt. Es ist damit allerdings noch keine Kritik des vergleichenden Sehens formuliert. Es wird vielmehr darauf gezielt, zunächst die eigentlichen Potenziale eines vergleichenden Sehens anzudeuten. II
Bewegungsvisualisierung –
Versuch einer Typologie
Nicht allein die optische Analyse der Bewegung zeichnete sich durch Schwierigkeiten aus. Gerade die Motorikstudien zeigen, dass auch deren bildhafte Darstellung problematisch war, insofern nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Verhältnisse in die Abbildungen Eingang finden mussten. Die Auseinandersetzungen mit der Darstellbarkeit von Zeit waren wiederum nicht auf die Erforschung von Bewegung beschränkt. Sie waren vielmehr eingebettet in von Ambivalenzen geprägte Diskussionen über Temporalität, welche die Moderne generell kennzeichneten.4 In diesem Zusammenhang hat Stephen Kern für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts festgehalten, dass bereits hinsichtlich der Textur der Zeit zwei konkurrierende Modelle existierten. Zeit konnte demnach entweder als kontinuierlich, d. h. als unteilbare Dauer gedacht werden oder aber als diskontinuierlich, d. h. als Abfolge diskreter Einheiten. 5 Diese fundamentale Unterscheidung eignet sich auch dafür, eine grundlegende Differenzierung der Erfassung temporaler Ereignisse in den Bewegungsstudien vorzunehmen. 1. Strategien kontinuierlicher Erfassung Die Linie ist das prototypische Darstellungsmittel einer Konzeption von Zeit als Kontinuum. Die Physiologie des 19. Jahrhunderts hat für ihre Erforschung der Lebensvorgänge und Körperfunktionen davon regen Gebrauch gemacht. So wird beispielsweise in den Diagrammen der »grafischen Methode« Etienne-Jules Mareys die beständige und lückenlose Aufzeichnung zeitlicher Vorgänge durch kontinuierliche Kurven angezeigt.6 Während die ununterbrochene Notation von Prozessen den grafischen Aufschreibeapparaturen zumeist wesentlich war, lassen sich nur wenige fotografische Strategien zur kontinuierlichen Erfassung von Bewegung finden. In den Experimenten Mareys sind kontinuierliche Visualisierungen bereits seit etwa 1876 anzutreffen, also geraume Zeit vor den berühmten Motorikstudien der 1880er Jahre.7 In seiner umfassenden Abhandlung La méthode graphique (1878) erörterte er die Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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Möglichkeiten des fotografischen Mediums und betonte, dass sich auch damit grafische Verlaufsbahnen aufzeichnen lassen. Seine Erläuterungen zur Logik dieses Verfahrens sind sehr einfach und stellen einen metaphorischen Bezug zwischen der fotosensiblen Platte der Kamera und der Retina des menschlichen Auges her.8 Noch Jahre später schreibt Marey: »[So] thut es [das Auge] in Wirklichkeit nichts anderes, als auf seiner Netzhaut die Bahnlinie eines leuchtenden Punktes zu photographiren; diese Bahnlinie fällt freilich nicht sehr lang aus, weil die Netzhaut nicht im Stande ist, den empfangenen Eindruck lange Zeit zu bewahren; die photographische Platte würde im gleichen Falle das vollständige und dauerhafte Abbild des gesammten Weges liefern, den der Lichtpunkt durchlaufen hat.«9 Erzeugt werden können derartige Aufnahmen dadurch, dass der Verschluss der Kamera über die gesamte Dauer der Erfassung eines Phänomens geöffnet bleibt, d. h. dass eine Belichtung der Fotoplatte über einen längeren Zeitraum ohne Unterbrechung stattfindet. Infolgedessen entstehen Bilder durchgängiger Bewegungsbahnen, in denen der räumliche Verlauf als kontinuierliche Spur auf die fotosensible Platte projiziert wird. Die Dauer des Phänomens bleibt dabei intakt, ist aber in Form einer Linie oder eines Bandes verräumlicht. Marcel Finke
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Marey nutzte kontinuierliche Visualisierungen für seine biomechanischen Forschungen, in denen er unter anderem den Vogelflug oder den menschlichen Gang analysierte [Abb. 1]. Um beispielsweise den Weg aufzuzeichnen, den die Flügelspitze einer Krähe während des Fliegens zurücklegt, versah er deren Schwungfedern mit einem lichtreflektierenden Metallflitter und ließ den Vogel vor schwarzem Hintergrund mit einer langen Belichtungszeit fotografieren. Von der Platte wurde dabei allein die »seltsame Curve« des leuchtenden Punktes registriert, die im Bild als gewundene Linie auf dunklem Grund zu erkennen war.10 In seinen fotografischen Experimenten zur Motorik des Menschen verwendete er eine ähnliche Strategie, um die Oszillationen der Hüfte während des Gehens abzubilden. Zu diesem Zweck wurde das Modell schwarz eingekleidet und ein heller Knopf an jener Stelle angebracht, deren Bewegungsbahn später in der Fotografie deutlich werden sollte. Mit einer stereoskopischen Kamera wurde die Versuchsperson dann für die Dauer einiger Schritte aufgenommen [Abb. 1]. Es entstanden dadurch zwei Aufnahmen ein und derselben kompletten Verlaufsspur einer Markierung, jedoch keine Fotografien des bewegten Körpers selbst. Beide Beispiele zeigen, dass fotografische Strategien kontinuierlicher Erfassung stets äußerst limitierte Abbilder von Bewegung hervorbrachten, die zumeist nur einen Aspekt des Verlaufs darstellen konnten: So geben die Fotografien zwar das Heben und Senken der Flügelspitze wieder, nicht aber die leichte Drehung des Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
1 Etienne-Jules Marey, Stereoskopische Aufnahme der Bewegungsbahn eines Punktes der Hüfte, 1885.
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Flügels geschweige denn dessen Verhältnis zum Rest des Körpers oder das Tempo, mit dem bestimmte Phasen eines Flügelschlags durchgeführt werden. Gleiches gilt für die Aufnahmen der Hüfte, die schon deshalb nicht umfassend über eine bestimmte Fortbewegung aufklären können, weil auf ihnen die Zusammenhänge zwischen den Gliedern nicht einsehbar sind. Sie liefern keine vollständige äußere Ansicht eines komplexen Bewegungsablaufs. Fotografische Verfahren, die auf der durchgängigen Einschreibung temporal ausgedehnter Phänomene basierten, erzeugten demnach differenzarme Darstellungen. Aufgrund ihres Mangels an innerer Gliederung bleiben einem vergleichenden Sehen bei der Betrachtung der kontinuierlichen Visualisierungen Grenzen gesetzt. Dies schon deshalb, weil sich darin zumeist nur wenig vergleichen lässt. In ihnen kann mitunter allein das Mäandern einer Linie verfolgt werden. Zur Erzeugung ihrer Sichtbarkeit war es dennoch häufig notwendig, das gesamte Aufzeichnungsfeld auf verschiedene Weise bis auf jenen Punkt zu bereinigen, dessen Bahn es zu fotografieren galt. Die kontinuierliche Aufzeichnung von Bewegung brachte nämlich zwei Probleme mit sich, die im fotografischen Medium selbst wurzelten. Durch die Dauerbelichtung des Negativs konnte vom bewegten Objekt entweder nur eine unscharfe Verwischung gespeichert werden oder aber das Objekt erschien aufgrund der Zügigkeit seiner Bewegung überhaupt nicht in der Abbildung. Im letzten Fall zeigte der Abzug nur die unbeweglichen Elemente des Aufnahmeraumes, jedoch keinen Vogel oder Läufer – in etwa so, wie Daguerres Boulevard du Temple einen Straßenzug ohne Spaziergänger vorführt. Um detailliertere Bilder von lokomotorischen Akten zu erzeugen, mussten Verfahren konzipiert werden, die in die Indifferenz des Bewegungsflusses eine medial organisierte Ordnung brachten. 2. Strategien diskontinuierlicher Erfassung Demgegenüber besteht die Möglichkeit, Zeit als Abfolge diskreter Einheiten bzw. Aneinanderreihung von Momenten aufzufassen. Zeit ist demnach unendlich teilbar und mit dieser die Vorgänge, welche sich in ihr vollziehen. Bewegungsphänomene beispielsweise lassen sich von diesem Standpunkt aus in temporale Abschnitte untergliedern, die sich als differenzierbare Phasen aneinanderordnen. Auf dieser Idee beruhen die fotografischen Strategien diskontinuierlicher Erfassung. Erneut war es Marey, der diese Konzeption zusammenfasste: Marcel Finke
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»Und in der That, ein jedes Phänomen, was ist es anderes als eine Reihenfolge von Zustandsänderungen, die ein Körper durchläuft? Ein Phänomen erforschen, was heisst es also anders als diese Veränderungen der Reihe nach beobachten und mit einander vergleichen?«11 Um eine solche Vergleichung zu ermöglichen, wurden seit den 1870er Jahren zahlreiche fotografische Dispositive entwickelt, die auf verschiedenen medialen Taktiken beruhten. Für die Visualisierung motorischer Akte erwiesen sich diese als äußerst fruchtbar, insofern sie eine Vielzahl an Bildern hervorbrachten, in denen Bewegung mitunter höchst unterschiedlich dargestellt wurde. Es lassen sich dennoch drei grundlegende Strategien feststellen, die als analytisch, synthetisch respektive diagrammatisch bezeichnet werden können. Diese Begriffe legen allerdings eine Trennschärfe der zu beschreibenden Phänomene nahe, die den Phänomenen selbst in dieser Form nicht eigen ist. Die Bildbeispiele werden wiederholt zeigen, dass zwischen den Darstellungsformen in medialer Hinsicht zahlreiche Überschneidungen und Übergänge existieren. Die terminologische Differenzierung wird gleichwohl vorgenommen, um das Charakteristische der jeweiligen Visualisierungen herauszustellen. a. Analytische Darstellungen: Eadweard Muybridges synoptische Tableaus Diskontinuierliche Verfahren arbeiten mit der Zerlegung von Bewegungsabläufen in Phasen. Ein solches Vorgehen ist zunächst nicht auf das Medium der Fotografie beschränkt, sondern findet sich bereits in Dürers Fechtbuch oder den Bildreihen für Zootrope.12 Es war jedoch Eadweard Muybridge, der in seinen ab 1878 entstandenen seriellen Momentfotografien erstmals Bildsequenzen herstellte, die sich als analytisch kennzeichnen lassen. Zur vollen Ausbildung seines Verfahrens kam es um 1885 an der Universität von Pennsylvania. Die Ergebnisse dieses fotografischen Großunternehmens wurden 1887 in den elf Bänden von Animal Locomotion in Form synoptischer Bildtafeln veröffentlicht [Abb. 2].13 Für die Erzeugung der Aufnahmen verwendete Muybridge mehrere, nebeneinander angeordnete Apparate, die in kurzen zeitlichen Abständen jeweils eine Haltung des Körpers innerhalb einer Aktion aufzeichneten.14 Infolgedessen zerlegte er den motorischen Ablauf in eine Serie distinkter Momente. Analytisch sind diese Aufnahmen deshalb, weil die Bewegung in gleichwertige Einheiten Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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2 Eadweard Muybridge, Analytische Aufnahmen eines Sprinters, 1885.
segmentiert wurde, die in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen und in jeweils separaten Fotografien gespeichert wurden. Jedes einzelne Bild der fotografischen Reihe repräsentierte eine beliebige Position des bewegten Körpers, die als logisches Glied einer in ihre Bestandteile aufgelösten Bewegung erschien. Zudem sind diese Bilderfolgen weitestgehend temporal homogen, insofern sowohl die Belichtungszeiten für die einzelnen Aufnahmen von gleicher Dauer waren als auch die Intervalle zwischen diesen. Muybridges synoptische Fototafeln verlangten nach einer spezifischen Form der Rezeption. Seine Tableaus waren nämlich zunächst nichts weiter als Sammlungen variierender Körperhaltungen. Die analytischen Aufnahmen gewährleisteten eine Verbildlichung von Bewegung nur dadurch, dass sie den bewegten Körper an jeweils einer Raum-Zeit-Stelle fotografisch fixierten. Da das bewegte Objekt in der Einzelaufnahme somit von jedweder Bewegung abstrahiert wurde, war jede singuläre Fotografie für sich genommen ohne Erkenntniswert. Der Bewegungseindruck resultierte letztlich daraus, dass sich die Positionen des Körpers innerhalb der Serie sukzessive verändern. Erst die editorische Aneinanderreihung der Bilder in der Tafel erlaubte die Registrierung von Differenzen in den Körperhaltungen. Der temporale Aspekt der Bewegung aber wurde im Einzelkader getilgt und in die Zäsuren zwischen den Aufnahmen verlagert. Demnach war ein vergleichendes Sehen notwendig, das sowohl die Veränderungen räumlicher Verhältnisse von Aufnahme zu Marcel Finke
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Aufnahme erkannte als auch die Lücken zwischen den Einzelbildern als zeitliche Einschnitte zu lesen wusste: ein vergleichendes Sehen also, das die analytischen Aufzeichnungen rückwirkend als Kontinuum zu imaginieren vermochte. Trotz allem generierte auch die serielle Anordnung der Momentaufnahmen bei Muybridge nur bedingt exakte Informationen über die Entfaltung eines Bewegungsablaufs. Dies lag darin begründet, dass durch die totale Isolierung einzelner Haltungen die Verhältnisse zwischen den Phasen schlecht nachvollzogen werden konnten. Um dies zu ermöglichen, war es wiederum nötig, alle erfassten Phasen in einem Bild zu integrieren. b. Synthetische Darstellungen: Unterbrochene Spuren bei Eakins und Marey Muybridges momentfotografische Reihen stießen um das Jahr 1880 international auf breites sowohl künstlerisches als auch wissenschaftliches Interesse. Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt setzte sich auch der Maler Thomas Eakins mit diesen Aufnahmen auseinander: 1878 wertete er die Tableaus zeichnerisch aus, kommunizierte im Frühjahr 1879 in Briefen mit Muybridge über deren Wert und deren Mängel, verwendete die Bildtafeln im selben Jahr als Referenzmaterial zur Herstellung eines Gemäldes und nutzte sie zu Lehrzwecken in seinen Vorlesungen an der Academy of Fine Arts in Philadelphia.15 Eakins’ eigene Beschäftigung mit dem Medium der Fotografie datiert wahrscheinlich bis in die Mitte der Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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3 Thomas Eakins, Synthetische Aufnahme eines Läufers, 1884.
1870er Jahre zurück. Ab 1880 avancierte es zu einem integralen Teil seiner Kunst- und Forschungspraxis sowie seiner pädagogischen Bemühungen.16 In diesem Zusammenhang entstanden ab 1884 auch solche Aufnahmen, in denen motorische Abläufe synthetisch erfasst wurden [Abb. 3]. Für die Herstellung seiner Bewegungsstudien griff Eakins auf eine fotografische Strategie zurück, die maßgeblich von Marey entwickelt worden war. Im Gegensatz zu Muybridges komplizierter Einrichtung mit mehreren Kameras setzte diese auf die Verwendung eines einzelnen Apparates. Von einer normalen Kamera unterschied sich dieser hauptsächlich darin, dass der Lichteinfall auf die feststehende Fotoplatte anders reguliert wurde. Zu diesem Zweck fügte man eine rotierende Verschlussscheibe ein, in die in gleichen Abständen Öffnungen eingeschnitten waren. Infolge der Drehbewegung wurde die Belichtung innerhalb minimaler Zeitintervalle wiederholt unterbrochen. Die intermittierende Aufzeichnung erzeugte synthetische Darstellungen von Bewegungsabläufen, in denen sich mehrere, zeitlich nacheinander folgende Eindrücke einer Aktion auf einem fotografischen Negativ eintrugen.17 Auch diese Aufnahmen basierten demnach auf einer diskontinuierlichen Erfassung, die Bewegung in eine Abfolge von Momenten zerlegte. Im Unterschied zu Muybridges Tafeln wurden hier allerdings alle aufgezeichneten Einzelphasen eines motorischen Ablaufs zugleich in einem einzigen statischen Bild synthetisiert. Marcel Finke
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Dadurch werden sowohl die räumlichen Beziehungen zwischen den Körperteilen als auch die temporalen Relationen zwischen den jeweiligen Positionen feststellbar. Da die zeitlichen Abstände der einzelnen Belichtungen von gleicher Dauer waren, konnte anhand der Abbildung zudem auf die Beschleunigung einer Bewegung geschlossen werden. Je größer die zurückgelegte Distanz zwischen zwei Phasen auf dem Foto ist, desto höher war das Tempo in diesem Abschnitt des Aktes. Synthetische Visualisierungen hatten gegenüber den analytischen den Vorteil, dass sie den Faktor Zeit besser in das Bild integrierten. Aus der spezifischen Form ihrer Darstellung resultierten jedoch ihrerseits Probleme, die vorrangig die Erkennbarkeit des Abgebildeten betrafen. Die charakteristische Mehrfachbelichtung des Fotonegativs führte nämlich zu einer Multiplizierung des aufgezeichneten Modells, das sich im Bild scheinbar selbst verfolgte [Abb. 3]. Während sich der Betrachter in die Logik dieser Doppelgänger einsehen konnte, ergaben sich durch die Vervielfältigung aber Überlagerungen, die das bewegte Objekt verundeutlichten. Die Überblendung erzeugte Transparenzeffekte, durch die der fotografierte Körper seine Konsistenz und distinkte Kontur einbüßte. Der Versuch, durch den Zusammenschluss einer möglichst großen Anzahl an Phasen in einem Bild, eine bessere Sichtbarmachung von Bewegung zu gewährleisten, mündete mitunter in den visuellen Entzug jenes Körpers, deren leiblicher Ausdruck diese Bewegung war. Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
4 Etienne-Jules Marey, Bewegung eines Pferdes mit markierten Gelenkpunkten, 1886.
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Die Bilder synthetischer Erfassung räumten demzufolge einerseits neue Möglichkeiten des Vergleichs ein, wie sie andererseits aber gerade wegen ihrer medialen Eigenart Zonen der Unvergleichbarkeit erzeugten. Neben den Unschärfen durch die Simultaneität der Ansichten des fotografierten Körpers stellten nämlich die Intervalle zwischen den Einzelaufnahmen ein Problem dar. Der Registrierung durch die Apparatur drohten dadurch wichtige Informationen zu entgehen. Die Intervalle, die überhaupt erst diskontinuierliche Aufzeichnungen ermöglichten, waren gewissermaßen der inhärente Mangel dieser Visualisierungsstrategie. Durch die Isolierung von Momenten erzeugten sie Sichtbarkeit nur um den Preis einer Reduzierung oder Ausdünnung der Fülle eines zusammenhängenden Ablaufs.18 Besonders am Beispiel der synthetischen Darstellung lässt sich aber erkennen, dass diese in gewisser Weise zu einem kontinuierlichen Ideal tendierten und versuchten, wenn schon nicht alle, dann doch so viele Phasen wie möglich in einem Abzug zu integrieren. Stets waren sie um ein Gleichgewicht zwischen der Vergleichbarkeit von Einzelhaltungen einer Bewegung und der Vollständigkeit ihrer Aufzeichnung bemüht. Um ein Maximum an Information zu erhalten und dabei zugleich ein Optimum an Sichtbarkeit zu bewahren, musste notwendigerweise auf die »Anwendung gewisser Kunstgriffe«19 zurückgekommen werden. Entscheidend ist hier, dass dazu nicht die chronofotografische Apparatur verändert wurde, sondern allein die Erscheinung des aufzuzeichnenden Objekts. Ausgehend von der Neigung des Mediums, bestimmte Beleuchtungsverhältnisse besonders gut oder aber besonders schlecht auf der fotosensiblen Platte zu speichern, wurde die Erkennbarkeit des bewegten Körpers entsprechend der Zielsetzung einer Aufnahme variiert. Ein solcher Eingriff ist deutlich in Eakins’ synthetischer Darstellung eines Läufers auszumachen [Abb. 3]. Um klar erkennbare Referenzpunkte im Bild zu erhalten, wurden von Eakins an signifikanten Körperstellen Materialien angebracht, Marcel Finke
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die das Licht reflektierten und deshalb im Fotoabzug prägnant hervortraten. Dass diese Taktik der Bildung von Prägnanz nur teilweise erfolgreich war, zeigt eine chronofotografische Studie Mareys, in welcher der Gang eines Pferdes festgehalten wurde [Abb. 4]. Zwar zeichnen sich auch hier die Reflektoren als Leuchtpunkte im Bild ab, doch scheitert die Aufnahme beinahe an einem Zuviel an Information: An manchen Stellen ist sie bis zur Unkenntlichkeit verrauscht, und zwar vorrangig in jenen Bereichen, in denen sich der Körper des Tieres mehrfach überlagert. Konsequenterweise ging die Hervorhebung relevanter Körperzonen in synthetischen Visualisierungen häufig mit der Reduktion der Sichtbarkeit des Körpers einher. Zumeist wurden dazu jene Glieder, die nicht in der fotografischen Aufnahme erscheinen sollten, abgedunkelt, so dass sie für die Kamera vor einem schwarzen Hintergrund kaum registrierbar waren. Auf diese Art wurde es zum Beispiel möglich, nur eine Seite des Körpers oder gar nur ein einzelnes Bein in Bewegung abzubilden [Abb. 5].20 In den Bildern der synthetischen Repräsentationsstrategie zeichnet sich ein Wandel in der Konzeption des Verhältnisses von bewegtem Objekt und Bewegung ab. Einerseits ermöglichte die typische Vervielfältigung des Modells in einer einzigen Fotografie den direkten Vergleich von sukzessiven Positionen innerhalb eines motorischen Aktes und infolgedessen auch Einsichten in die Relationen zwischen diesen Haltungen. Andererseits legte die Gleichzeitigkeit der Positionen in der Abbildung nahe, dass sich die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung vor allem aus Darstellungen ableiten lassen, die von der natürlichen, sichtbaren Erscheinung des bewegten Objekts abstrahierten. Zudem führten die Erzeugung von Prägnanz durch die Einführung bedeutsamer Punkte oder Linien sowie die Einschränkung der Sichtbarkeit des Körpers verstärkt zu schematischen Darstellungen. Letztlich eignet der synthetischen Visualisierung von Anbeginn eine Tendenz zur Diagrammatisierung. Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
5 Etienne-Jules Marey, Chronofotografie der rechten Körperhälfte eines rennenden Mannes, 1883.
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6 Etienne-Jules Marey, Diagrammatische Aufnahme eines laufenden Mannes, 1883.
Marcel Finke
7 Christian W. Braune und Otto Fischer, Das Versuchsindividuum in voller Ausrüstung, 1891. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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8 Christian W. Braune und Otto Fischer, Diagrammatische Aufnahme eines laufenden Mannes, 1891.
Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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c. Diagrammatische Darstellungen: Dynamische Muster bei Marey und Braune Die Herstellung von diagrammatischen Visualisierungen von Bewegung ist weder auf die chronofotografische Methode, noch auf synthetische Darstellungen angewiesen. Ihre Produktion ist von der fotografischen Technik generell unabhängig, und erste Beispiele finden sich schon zu Zeiten, in denen das Medium der Fotografie noch längst nicht erfunden war.21 Es ist also nur teilweise die Darstellungsform, die Aufnahmen wie Mareys Wiedergabe eines laufenden Mannes von älteren Bewegungsdiagrammen unterscheidet [Abb. 6]. Bemerkenswert ist hier vor allem, dass sie ein eigenartiger Realismus charakterisiert: Denn gerade aufgrund der mechanischen Aufzeichnung sind diese Diagramme mimetische Abbilder von rein virtuellen Mustern. Während für ihre Vorgänger typisch war, dass sie die Nachahmung des Sichtbaren zugunsten einer dichten visuellen Rekonstruktion von Funktionen und Beziehungen aufgaben, verhält es sich bei den vorliegenden Beispielen genau andersherum. Erst deren fotografisch garantierter mimetischer Nachvollzug von zeitlich generierten Strukturen aus Linien und Punkten ermöglichte es, Einsichten in die Regularität motorischer Aktionen zu gewinnen. Um Abstraktionen des sichtbaren Körpers in Bewegung handelte es sich aber in jedem Fall.22 Der entscheidende Vorteil des diagrammatischen Verfahrens wiederum war die Erfassung einer besonders großen Anzahl von Phasen auf einem Fotonegativ. Marey beispielsweise hob als die Qualität seiner diagrammatischen Visualisierung die hohe Dichte der Aufzeichnung hervor, die die Fülle eines Bewegungsablaufes nahezu intakt lasse und dennoch Rückschlüsse auf den vom Objekt zurückgelegten Raum sowie die zeitlichen Verhältnisse zwischen den Phasen gewähre.23 Allerdings zeichnete seine Fotografie ein Mangel aus, der allen bisher diskutierten Bildbeispielen eigen war: Sie erlaubten die Analyse von Ortsveränderungen nur in zwei Richtungen. Aus ihnen sind ausschließlich die horizontale Progression sowie das vertikale Auf- und Absinken von Markierungen einsehbar, weil die Optik der Kamera räumliche Verhältnisse auf die plane Fläche der Fotoplatte projiziert [Abb. 6]. Alle Bewegungen in die Tiefe sind nicht sichtbar, sie erscheinen entweder als Verkürzungen von Linien oder sind gar falsch als Hebung bzw. Senkung im Bild dargestellt. Ein äußerst interessanter Versuch, diesem Missstand zu begegnen, waren die biomechanischen Experimente der Leipziger Anatomen Christian Wilhelm Braune und Otto Fischer. Seit Beginn Marcel Finke
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der 1890er Jahre entwickelten sie ein komplexes fotografisches Dispositiv, das zwar von Mareys Methoden maßgeblich beeinflusst wurde, aber dennoch einer anderen Logik folgte.24 Braune und Fischer griffen darin zunächst sowohl auf Mareys Taktik der Verhüllung des Körpers zurück, als auch auf die Hervorhebung signifikanter Körperbereiche [Abb. 7]. Der Unterschied lag allerdings darin, dass sie keine reflektierenden Materialien einsetzten, um die Hüfte, die Gelenke oder die Gliedmaßen zu markieren, sondern elektrische Leuchtmittel. Der in Schwarz gekleidete Proband wurde mit einer Korsage aus Drähten und stickstoffgefüllten Glasröhren versehen, die intermittierend aufglühten und dadurch ein grelles Flackerlicht erzeugten. Während der fotografischen Aufnahme bewegte sich das Modell auf einer festgelegten Strecke durch einen dunklen Raum. Anders als Marey zeichneten Braune und Fischer die Aktion kontinuierlich auf, d. h. der Verschluss der Kamera blieb während ihrer gesamten Dauer geöffnet. Das daraus resultierende fotografische Bewegungsdiagramm ähnelte aber dennoch der Aufnahme des Läufers, die Marey mit seiner Apparatur hergestellt hatte [vgl. Abb. 6 und 8]. Dies liegt darin begründet, dass Braune und Fischer das chronofotografische Verfahren gewissermaßen auf den Kopf stellten: Bei Marey war das bewegte Objekt permanent zu sehen, die Kameratechnik zeichnete dessen Bewegung aber diskontinuierlich auf. Im Gegensatz dazu nahmen Braune und Fischer den motorischen Akt ohne Unterbrechung auf, manipulierten das Modell jedoch so, dass dessen Haltungen abwechselnd sichtbar oder nicht sichtbar waren. Die Diskontinuität wurde in diesem Fall nicht durch die Einrichtung des fotografischen Apparats erzeugt, sondern durch die zeitliche Regulierung des Flackerns der Lichtquelle. Braune und Fischer waren sich allerdings bewusst, dass eine einzelne Aufnahme, die nur eine Ansicht des Geschehens vor der Kamera wiedergibt, nicht genügte, um »zu einer exacten Feststellung des Bewegungsgesetzes« zu kommen.25 Die diagrammatischen Fotografien waren gewissermaßen wertlos, weil die Abzüge durch die Gesetze der Optik verfälschte Muster zu Tage förderten. Um dies zu beheben, verwendeten sie insgesamt vier Kameras, von denen je zwei eine Körperhälfte aus standardisierten Winkeln aufzeichneten. Pro Körperseite erhielten sie dadurch jeweils zwei diagrammatische Darstellungen, die anschließend miteinander verbunden werden mussten, um eine dreidimensionale Idee der Bewegung zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurde über alle Aufnahmen ein rechtwinkliges Koordinatensystem gelegt, das in der jeweiligen Fotografie Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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als Rahmung in der Mitte des Abzugs zu sehen ist [Abb. 8]. Von da an diente das Bild als Ausgangspunkt für einen komplizierten mathematischen Prozess zur Auswertung der visuellen Daten: Im Diagramm mussten zuerst die Meßwerte Punkt für Punkt abgelesen werden, um diese danach in Algorithmen einfügen zu können, die es wiederum ermöglichten, die optisch bedingten Verzerrungen aus den Darstellungen herauszurechnen. Die dadurch erhaltenen Ergebnisse wurden dann mit den Werten der zweiten, simultan erzeugten Aufnahme korreliert und auf ein dreidimensionales Raster projiziert. Braune und Fischer überführten die so gewonnenen Koordinaten zunächst aber nicht in eine visuelle Form. Vielmehr trugen sie die Messungen in Tabellen ein, wobei sie keinen Zweifel daran ließen, dass nur diese »die Unterlage für die Lösung aller Probleme bilden können, welche sich in irgend welcher Hinsicht auf das beim Gang des Menschen befolgte Bewegungsgesetz beziehen«.26 Erst auf der Grundlage der Tabellen generierten sie auf zeichnerischem Weg erneut Bewegungsdiagramme. Diese basierten dann aber nicht auf sichtbaren Verhältnissen, sondern auf errechneten Werten. Fotografisch erzeugte diagrammatische Darstellungen teilen bestimmte Eigenschaften der synthetischen Repräsentation von motorischen Abläufen. Auch in ihnen werden alle aufgezeichneten Phasen einer Aktion in einem Bild zusammengefasst [vgl. Abb. 3 bis 8]. Noch stärker als die synthetischen Darstellungen abstrahieren sie das Bewegungsphänomen aber vom bewegten Objekt. Anhand der Fotografien von Marey, Braune und Fischer wird deutlich, dass die diagrammatischen Visualisierungen von Bewegung gewissermaßen auf einem medialen Paradox basieren: Um mehr Informationen über die Bewegung eines Körpers zu gewinnen, bedienen sich jene Verfahren gerade der Tilgung des plastischen Volumens dieses Körpers. Die Anschaulichkeit der Physis wird zugunsten der Freilegung von Kinesis aufgegeben. Es ging vermehrt um die Entbergung eines dynamischen Musters, das losgelöst vom tatsächlichen Aussehen des bewegten Körpers betrachtet werden konnte. Insofern handelte es sich aber auch um die Erschließung neuer Möglichkeiten der Vergleichbarkeit, da jene Verhältnisse, die nun in fotografischen Bildern sichtbar wurden, zuvor schlichtweg keine visuellen Phänomene waren. Besonders im Fall der Aufnahmen von Braune und Fischer zeigte sich darüber hinaus, dass die in den Diagrammen wiedergegebenen Muster nur insofern als visuelle Sachverhalte von Interesse waren, als sie die Basis für die Auswertung bewegungsinterner Relationen lieferten. Sichtbarkeit wurde hier nicht um ihrer selbst Willen Marcel Finke
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erzeugt, sondern um sie zum Ausgangspunkt minutiöser Vergleiche zu machen, anhand derer die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung entdeckt werden konnten. III
Zusammenfassung: Bewegungsvisualisierung
und Praxis des vergleichenden Sehens
Das Ziel aller hier vorgestellten Visualisierungsstrategien war es, Wissen über Lokomotion zu generieren. Gemeinsam war ihnen zudem, dass sie Phänomene des Wandels in statischen Bildern zu speichern suchten. Anders als kinematografische Verfahren verzichteten sie somit auf die Nachahmung des optischen Bewegungseindrucks und stellten mitunter Darstellungen zur Verfügung, welche die gewöhnliche Erfahrung konterkarierten. In allen Beispielen handelte es sich um komplexe Verfahren der Sichtbarmachung, die maßgeblich die mediale Einschränkung von Sichtbarkeit nutzten. Um fotografische Bilder von Bewegung herzustellen, mussten sie im Feld ihrer Aufzeichnung auf unterschiedliche Weise Bereiche der Nichtsichtbarkeit einräumen. So erzeugten sie beispielsweise Intervalle, in denen Teile eines motorischen Ablaufs verschwanden, oder arbeiteten mit der Ausblendung von scheinbar unwesentlichen visuellen Informationen, indem sie künstliche Aufnahmesituationen schufen, die an den Eigenarten des fotografischen Mediums ausgerichtet waren. Als die entscheidenden Kunstgriffe können Isolierung, Multiplizierung und Tilgung genannt werden. In den Bewegungskurven der kontinuierlichen Erfassung mussten einzelne, signifikante Körperstellen isoliert werden, um eine informative Fotografie zu erhalten, die nicht vollständig verrauscht war. Auch die synthetischen und vor allen Dingen die diagrammatischen Darstellungen teilten diese Form der Prägnanzbildung. Die analytischen Aufzeichnungen hingegen basierten auf der totalen Isolierung von Körperhaltungen in einzelnen fotografischen Aufnahmen. Der serielle Charakter dieser Bildfolgen resultierte dann aber in einer Vervielfältigung des Körpers, dessen Bewegung sich in die Statik einer Reihe von sukzessiven Haltungen verwandelte. In synthetischen und diagrammatischen Darstellungen war es möglich, die isolierten Haltungen zumindest in einer einzigen Abbildung zu vereinen. Die optische Multiplizierung des Akteurs im Einzelbild führte allerdings zum Verlust der Konsistenz des Körpers. Während also die analytischen Aufnahmen dazu neigten, den Körper aus der Bewegung herauszulösen, tendierten die kontinuierlichen, die Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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synthetischen und die diagrammatischen Visualisierungen dazu, das Bewegungsphänomen vom Körper abzulösen. Vor allen Dingen in den kontinuierlichen und den diagrammatischen Darstellungen resultierte dies letztlich in der vollständigen Tilgung des Körpers im Bild. Die fotografischen Strategien machten somit auf verschiedene Weise je spezifische Aspekte des erfassten Phänomens anschaulich. Die Resultate jener Taktiken waren Visualisierungen, die nicht nur gesehen werden wollten, sondern ihre Funktion allein dann ausfüllten und ihren Erkenntniswert erst dann freisetzten, wenn sie sehend zum Objekt von Vergleichen gemacht wurden. Die Praxis des vergleichenden Sehens kam aber auf jeweils unterschiedlichen Ebenen zum Tragen. In den kontinuierlichen Darstellungen beschränkte sie sich weitestgehend auf die Analyse der Beziehung zwischen Figur und Grund, d. h. auf den Nachvollzug der mäandernden Spur einer bewegten Markierung, die als gewundene Linie auf dem Foto erschien. Die analytischen Reihenbilder hingegen erforderten den Vergleich geradezu. Die fixierten Positionen in den seriellen Einzelbildern erschienen als Referenzpunkte eines Kontinuums, das nur dann rekonstruiert werden konnte, wenn die Aufnahmen sukzessive miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Ähnliches galt für die synthetischen und diagrammatischen Darstellungen, nur dass sich die Vorstellung eines motorischen Ablaufs durch den Vergleich der Körperhaltungen hier bereits im Einzelbild einstellte. Bewegung wurde in diesen Bildern demnach stets in spatiale Differenzen übersetzt, die sich nur dann feststellen ließen, wenn mindestens zwei Punkte mit einander verglichen wurden. Kurzum: Der epistemische Wert dieser Darstellungen erschloss sich nicht dadurch, dass man sie lediglich ansah. Erst dann, wenn man sie in einen Prozess des aktiven Vergleichens einband, konnten aus ihnen elementare Kenntnisse bezüglich der Dynamik einer Bewegung und deren Verkörperung gewonnen werden. Die Beschreibungen der komplexen fotografischen Apparaturen, der diversen Eingriffe in die aufzuzeichnenden Objekte sowie der Zurichtungen der Aufnahmeräume, aus denen die besprochenen Darstellungen hervorgingen, deuten an, dass Vergleichbarkeit nicht einfach vorhanden ist. Sie muss mitunter höchst kompliziert erzeugt werden, vor allen Dingen dann, wenn Methoden der mechanischen Registrierung zum Einsatz kommen.27 Ebenso wie die fotografischen Bewegungsvisualisierungen scheint aber auch die Praxis des vergleichenden Sehens generell auf die Etablierung Marcel Finke
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von umgrenzten Einheiten angewiesen zu sein. Zu Recht kann an einem solchen Vorgehen Kritik geübt werden, besonders dann, wenn es in einer durchgehenden Semiotisierung des Bildes erstarrt. Vergleichendes Sehen sollte aber nicht ausschließlich als Rezeptionsform eines ängstlichen Blicks begriffen werden, der sich stets auf Stabilität zu gründen und die ikonischen Vermögen des Bildes zu bändigen hofft.28 Der epistemische Wert eines vergleichenden Sehens liegt nachgerade darin, Einsichten in Sachverhalte zu ermöglichen, die sich aus der simplen Ansicht von Einzelheiten allein nicht gewinnen ließen. Es ist schon deshalb potentiell offen, weil es zwar von isolierten und fixierten Einheiten ausgeht, sein eigentlicher Erkenntnisgewinn jedoch aus jenem Wechsel resultiert, der zwischen diesen Einheiten stattfindet und im Bild selbst nicht dargestellt ist. Die Evidenz des visuellen Vergleichs setzt zwar am Sichtbaren an, erschöpft sich aber darin nicht. Hierin ist dann auch der Grund dafür zu sehen, dass sich für die statischen Bilder von Bewegung die Wahrnehmungspraxis des vergleichenden Sehens besonders eignete, da sie selbst auf der Beweglichkeit des Blicks beruht. Ein vergleichendes Auge ist stets auch ein wanderndes Auge, welches die Stabilität diskreter Elemente übersteigt und dadurch die Starre des Bildes mit einer neuen, perzeptiven Dynamik investiert.
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Endnoten 1 Etienne-Jules Marey, Animal Mechanism. A Treatise on Terrestrial and Aerial Locomo-
tion [1873], London 1874, S. 27. 2 Vgl. Wilhelm Weber und Eduard Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. 3 4 5
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Eine anatomisch-physiologische Untersuchung, Göttingen 1836, S. 6. Ebd., S. 421. Vgl. Mary A. Doane, The Representability of Time, in: dies., The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, the Archive, Cambridge 2002, S. 1– 32. Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880 –1918, Cambridge 2003, S. 11. Kern verwendet statt des Begriffspaars ›kontinuierlich/diskontinuierlich‹ die Termini »fließend« und »atomistisch«. Zur Bedeutung der Linie in der Physiologie s. Soraya de Chadarevian, Die »Methode der Kurven« in der Physiologie zwischen 1850 und 1900, in: Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, S. 28 – 49. Erstmalig setzte Marey kontinuierliche Verfahren der fotografischen Aufzeichnung in physiologischen Studien mit dem Lippmannschen Elektrometer ein, um Schwankungen elektrischer Spannung zu notieren. Etienne-Jules Marey, Inscription photographique des indications de l’électromètre de Lippmann, in: Comptes rendus de l’Association française pour l’advancement des sciences 83, 1876, S. 278 – 280. Etienne-Jules Marey, La méthode graphique dans les sciences expérimentales […], Paris 1878, S. 451. Etienne-Jules Marey, Die Chronophotographie [1891], übers. v. A. von Heydebreck, Berlin 1893, S. 4. Siehe auch ders., Movement [1894], hg. v. Eric Pritchard, London 1895, S. 20 – 22. Marey, Chronophotographie (Anm. 9), S. 71. Ebenso ders., Le vol des oiseaux, Paris 1890, S. 140f.; ders., Movement (Anm. 9), S. 247f. Marey, Chronophotographie (Anm. 9), S. 37. Vgl. Jörg J. Berns, Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000. Eadweard Muybridge, Animal Locomotion. An Electro-Photographical Investigation of Consecutive Phases of Animal Movement, Philadelphia 1887. Es muss hervorgehoben werden, dass Muybridges Verfahren keinesfalls die einzige Möglichkeit darstellte, um analytische Bewegungsbilder aufzunehmen. Andere Beispiele sind Eakins’ und Mareys chronofotografische Aufnahmen mit rotierender Fotoplatte oder generell jede kinematografische Aufzeichnung auf beweglichen Filmstreifen. Vgl. Marta Braun, Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey, Chicago 1992, S. 42 –149. Kathleen A. Foster (Hg.), Thomas Eakins Rediscovered. Charles Bregler’s Eakins Collection at the Pennsylvania Academy of Fine Arts, New Haven 1997; William I. Homer, Eakins, Muybridge, and the Motion Picture Process, in: The Art Quarterly 26/2, 1963, S. 194 – 216. Zur Stellung der Fotografie bei Eakins siehe Susan Danly und Cheryl Leibold (Hg.), Eakins and the Photograph. Works by Thomas Eakins and His Circle in the Collection of the Pennsylvania Academy of Fine Arts, London 1994; Gordon Hendricks, The Photographs of Thomas Eakins, New York 1972. Auch hier muss betont werden, dass weder Eakins der einzige ist, der Bewegung synthetisch erfasste, noch seine Methode die einzige war, mit der sich solche Aufnahmen erzeugen ließen. So hatte beispielsweise Muybridge noch vor Eakins ein eigenes Verfahren entwickelt. Siehe Ruth Bowman, Nature, the Photograph, and Thomas Anshutz, in: Art Journal 33/1, 1973, S. 32 – 40. Vgl. Marey, Movement (Anm. 9), S. 287. Zum Intervall als virulenter Störung diskontinuierlicher Verfahren s. Marcel Finke, Tableaus des Vergessens. Temporalität und produktive Krise bei Muybridge und Butler, in: Sabine L. Müller und Anja Schwarz (Hg.), Engendering the Past. Zur Perfomativität von Gedächtnis und Geschlecht, Berlin 2008, S. 49 – 72. Marcel Finke
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Endnoten/Abbildungsnachweis 19 Marey, Chronophotographie (Anm. 9), S. 9. 20 Die »Kunstgriffe« Mareys waren verschieden: Im Fall menschlicher Modelle kleidete er
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diese zumeist in eng anliegende Anzüge aus schwarzem Samt; gelegentlich ließ er aber auch Pferde mit dunkler Farbe bemalen. Siehe Marey, Chronophotographie (Anm. 9), S. 10; ders., Movement (Anm. 9), S. 60. Siehe Steffen Bogen, Schattenriss und Sonnenuhr. Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68, 2005, S. 153 – 176; Andreas Gormans, Imaginationen des Unsichtbaren. Zur Gattungstheorie des wissenschaftlichen Diagramms, in: Hans Holländer (Hg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 51–71. Vgl. Steffen Siegel, Vom Bild zum Diagramm. Bildmediale Differenzen in Heinrich Lautensacks »Gründlicher Unterweisung«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln 2006, S. 115 –131. Vgl. Marey, Movement (Anm. 9), S. 145. Christian W. Braune und Otto Fischer, Die Bewegung des Kniegelenks nach einer neuen Methode am lebenden Menschen gemessen, in: Abhandlungen der mathematischphysischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 17, 1891, S. 73 –147; dies., Der Gang des Menschen, 1. Teil, ebd. 21, 1895, S. 151 – 322. Braune und Fischer, Gang des Menschen (Anm. 24), S. 176. Ebd., S. 322. In den drei Experimenten zur Gehbewegung, d. h. an den insgesamt zwölf diagrammatischen Darstellungen, wurden mit Hilfe eines Präzisionsinstruments 6696 Einzelmessungen vorgenommen. Zur Messung und Interpretation der Werte s. ebd., S. 200 – 233. Zum schwierigen Verhältnis von Visualisierung und »mechanischer Objektivität« im ausgehenden 19. Jahrhundert siehe Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 121– 200. Vgl. den Beitrag von Johannes Grave in diesem Band.
Abbildungsnachweis 1 Etienne-Jules Marey, Stereoskopische Aufnahme der Bewegungsbahn eines Punktes der 2
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Hüfte, 1885, in: ders., Movement [1894], hg. v. Eric Pritchard, London 1895, S. 23. Eadweard Muybridge, Analytische Aufnahmen eines Sprinters, 1885, in: ders., Animal Locomotion. An Electro-Photographical Investigation of Consecutive Phases of Animal Movement, Philadelphia 1887, Taf. 62. Thomas Eakins, Synthetische Aufnahme eines Läufers, 1884, in: Gordon Hendricks, The Photographs of Thomas Eakins, New York 1972, S. 76, Abb. 103. Etienne-Jules Marey, Bewegung eines Pferdes mit markierten Gelenkpunkten, 1886, in: Marta Braun, Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey, Chicago 1992, S. 123, Abb. 68D. Etienne-Jules Marey, Chronofotografie der rechten Körperhälfte eines rennenden Mannes, 1883, Collège de France, in: Marta Braun, Picturing Time. The Work of EtienneJules Marey, Chicago 1992, S. 82, Abb. 44b. Etienne-Jules Marey, Diagrammatische Aufnahme eines laufenden Mannes, 1883, in: Phillip Prodger (Hg.), Time Stands Still. Muybridge and the Instantaneous Photography Movement, New York 2003, S. 174, Abb. 3/48. Christian W. Braune und Otto Fischer, Das Versuchsindividuum in voller Ausrüstung, 1891, in: dies., Der Gang des Menschen, 1. Teil, Leipzig 1895, Taf. 1. Christian W. Braune und Otto Fischer, Diagrammatische Aufnahme eines laufenden Mannes, 1891, in: dies., Der Gang des Menschen, 1. Teil, Leipzig 1895, Taf. 4.
Bild, Differenz und (Un-)Vergleichbarkeit
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III Demonstration Johannes Grave, Edgar Bierende, Dorothea Peters, Barbara Schellewald, Vera Dünkel, Stefanie Klamm, Claus Volkenandt
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Einleitung Falk Wolf
Nicht zufällig wird vergleichendes Sehen zuallererst in der wissenschaftlichen und parawissenschaftlichen Literatur, vor allem der Kunstgeschichte, thematisiert.1 Die Rede von disziplinären Imperativen und Königswegen verbindet den Begriff des vergleichenden Sehens mit einer bestimmten wissenschaftlichen Methodik, oder besser: einem Dispositiv, das in jenen Wissenschaften fest verankert ist, die ihre Erkenntnisse in besonderem Maße aus dem Sichtbaren abzuleiten geneigt sind. Nicht nur die Kunstgeschichte, auch eine ganze Reihe weiterer Disziplinen praktizieren – wenngleich unter anderem Namen – ähnliche Strategien. Hierzu gehören nicht nur Schwesterdisziplinen der Kunstgeschichte, wie die klassische und die christliche Archäologie, auch die Medizin mit ihren bildgebenden Verfahren und die Biologie, insbesondere die (vergleichende) Anatomie und die Botanik, sind auf ein vergleichendes Sehen angewiesen. Grundlegend scheint bei dieser vielfältigen Anwendung das Vertrauen auf eine erkenntnisstiftende Kraft des Vergleichs, die Annahme, dass sich aus der Betrachtung zweier oder mehrerer Bilder wissenschaftliche Aussagen generieren lassen. Das, was dabei als Generierung von Erkenntnis ausgegeben wird, lässt sich nachträglich allerdings als eine Darstellung 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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von Erkenntnis lesen; was den Weg zur Erkenntnis gewiesen hat, ist umgekehrt zugleich das Medium, in dem sich Forschungsergebnisse demonstrieren lassen. Mögen durch die anschauliche Gegenüberstellung allererst Erkenntnisse entstehen, mögen sie gar in einem ungerichteten, experimentellen Hantieren mit Bildern plötzlich aufblitzen, oder die Imagination nicht nur der Künstler, sondern auch der Wissenschaftler anregen, in den Ordnungen der Darstellung kippen die Bilder um. Sie werden vom Forschungsobjekt umgedeutet zum Beispiel, an dem etwas demonstriert wird.2 Um es auf den Punkt zu bringen: Vergleichendes Sehen changiert zwischen einem Erkenntnismedium und einem Darstellungsmedium in den Wissenschaften. Hierin spiegelt sich die Doppelbedeutung des Wortes Demonstration, einerseits als wissenschaftlicher Beweis, also als eine performative Form wissenschaftlicher Erkenntnisleistung, und andererseits als die Vorführung der Richtigkeit ebendieser Leistung. Wo immer aber vergleichendes Sehen als Erkenntnismedium stark gemacht wird, lässt sich diese metaleptische Struktur erkennen: 3 Was sich als Ergebnis vergleichenden Sehens präsentiert, erscheint nachträglich als das, was den Vergleich im Vorhinein geleitet hat. Es liegt nahe, nach dem Status jenes ›Etwas‹ zu fragen, danach, was denn an den Bildern demonstriert werden kann oder soll, und danach, was in einer solchen Demonstration mit den Bildern geschieht. »Die Grundstruktur des Vergleichs besteht aus den Falk Wolf
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verglichenen Entitäten (›comparata‹) und einem Vergleichs-Bezug, dem Dritten der Vergleichung (›tertium comparationis‹).«4 Dieses tertium wird häufig als eine Eigenschaft oder eine Hinsicht verstanden, die den zu vergleichenden bzw. verglichenen Gegenständen gemeinsam ist.5 Wo aber wäre in dieser dreigliedrigen Grundstruktur des Vergleichs der Ort des demonstratum? – beispielsweise in einem in mehrerlei Hinsicht klassischen kunsthistorischen Vergleich: Heinrich Wölfflins Vergleich der Taufe Christi von Andrea del Verrocchio 6 und desselben Themas von Andrea Sansovino [Abb. 1].7 Das tertium dieses Vergleichs ist leicht auszumachen, stellen sie doch beide dasselbe Thema, die Taufe Christi im Jordan, dar und bedienen sich dabei der gleichen Ikonografie. Zugleich aber wird durch die Zusammenstellung vieles sichtbar, was die Annahme stützt, die beiden Werke könnten vor allem unvergleichbar sein, handelt es sich doch bei Verrocchio um ein Tafelbild, bei Sansovino dagegen um eine Marmorgruppe. Aber als demonstratum geht es Wölfflin hier weder um das eine noch um das andere, sondern um ein Drittes: Der Vergleich bildet den Auftakt zum Kapitel »Die neue Gesinnung«, in dem es Wölfflin um eine gänzlich umgewälzte Mentalität des Cinquecento gegenüber dem Quattrocento geht: »Das Cinquecento setzt ein mit einer ganz neuen Vorstellung von menschlicher Grösse und Würde. Alle Bewegung wird mächtiger, die Empfindung hat einen tiefern leidenschaftlicheren Atemzug. Man beobachtet eine allgemeine Demonstration: Einleitung
1 Heinrich Wölfflin, Die Klassische Kunst, 1899.
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Steigerung der menschlichen Natur. Es bildet sich ein Gefühl aus für das Bedeutende, für das Feierliche und Grossartige, dem gegenüber das 15. Jahrhundert in seiner Gebärde ängstlich und befangen erscheinen musste. Und so wird denn aller Ausdruck umgesetzt in eine neue Sprache. Die kurzen hellen Töne werden tief und rauschend und die Welt vernimmt wieder einmal das prachtvolle Rollen eines hochpathetischen Stiles.«8 Im Vergleich der beiden Bilder werden diese nun als Konkretionen, als Symptome eben dieser neuen Gesinnung diskutiert. Vor allem aber werden sie als Beispiele eingeführt, an denen diese neue Gesinnung sichtbar und (für den Leser) erfahrbar werden soll: »Wenn Christus getauft wird – sagen wir: bei Verrocchio – so geschieht es mit einer dringlichen Hast, mit einer ängstlichen Biederkeit, die sehr ehrlich empfunden sein mochte, die aber dem neuen Geschlecht als gemein vorkam.«9 Was das Bild für Wölfflin ausmacht, ist nun nicht wirklich im Bilde zu sehen: ängstliche Biederkeit und dringliche Hast. Es sind metaphernreiche Beschreibungen eben der »Gesinnung« des Quattrocento, die Wölfflin in der Bewegung des Täufers bei Verrocchio zu sehen meint. Erst im Vergleich mit Sansovinos Darstellung geht er auf die im Bild auch sichtbaren Kriterien ein, die eine solche Interpretation rechtfertigen sollen: »Man vergleiche mit dem Taufbild Verrocchios die Gruppe des A. Sansovino am Baptisterium. Er hat etwas ganz Neues daraus gemacht. Der Täufer tritt nicht erst hinzu, er steht da, ganz ruhig. […] lässig zurückhaltend wird die Handlung vorgenommen, eine symbolische Handlung, deren Wert nicht in der peinlich exakten Ausführung besteht. Der Johannes des Verrocchio beugt sich vor wie ein Apotheker, der ein Tränklein in die Flasche gießt, ängstlich besorgt, dass kein Tropfen daneben gehe; das Auge folgt hier dem Wasser: bei Sansovino ruht sein Blick auf dem Antlitz Christi.«10 In den gekreuzt vor der Brust liegenden Armen der Christusfigur schließlich erkennt Wölfflin eine »natürliche Steigerung des herkömmlichen Motivs der betend aneinandergelegten Hände«. Es geht also um einen Steigerungsimperativ: »Das ist die grosse Gebärde des 16. Jahrhunderts«, schreibt Wölfflin weiter.11 Falk Wolf
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In Wölfflins Vergleich der beiden Taufdarstellungen geschieht also weit mehr als dass zwei Bilder auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin überprüft werden. So wie Wölfflins Text die Reproduktionen, die er dem Leser auf dieser Doppelseite präsentiert, und die er sicherlich bei der Niederschrift so oder ähnlich vor Augen gehabt haben dürfte, transparent macht für die originalen Werke, so macht er die originalen Werke transparent für die Mentalitäten der Jahrhunderte, in denen sie entstanden sind.12 Die Gebärde Christi ist bei Sansovino nicht mehr die Gebärde Christi, sie ist die große Gebärde des 16. Jahrhunderts. – Es ist also im Besonderen der Christus auf S. 189 in Heinrich Wölfflins Buch Die Klassische Kunst, der mit seinen gekreuzt vor der Brust liegenden Armen die Gesinnung des 16. Jahrhunderts demonstriert. Und diese Demonstration bezieht ihre visuell begründete Evidenz aus dem Kontrast mit Verrocchios Bild mit seiner »eckigen zerhackten Bewegung«.13 Mit einiger Berechtigung lässt sich damit argumentieren, dass das vergleichende Sehen Unsichtbares sichtbar zu machen in der Lage ist, dass zwischen den Bildern ein Drittes, ein Unsichtbares aufscheint, das sich der Fantasie und Imagination, der Einbildungskraft des Betrachters verdankt. Es bietet sich aber gleichermaßen an, nach der Kehrseite dieser Visualisierung des Unsichtbaren zu fragen: Könnte umgekehrt nämlich auch Sichtbares unsichtbar gemacht werden? Vermag die Kunstgeschichte nicht hier, in den Worten Wölfflins, das Bild der Taufe Christi gänzlich unsichtbar zu machen, zugunsten einer neuen Gesinnung des Cinquecento? Das demonstratum tritt, in der Weise wie Wölfflin den Vergleich aufbaut, an die Stelle des Tertium Comparationis: Erst in dem, was durch den Vergleich bewiesen werden soll, werden die Bilder in der Art vergleichbar wie Wölfflin sie vergleicht. Alle anderen möglichen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede treten demgegenüber zurück. Das vergleichende Sehen beherrschen, bedeutet in diesem Sinne auch, einen Großteil dessen, was darüber hinaus noch sichtbar werden mag, nicht zu sehen. Es ist dieser Abblendeffekt des vergleichenden Sehens, der einen grundlegenden und unhintergehbaren ikonoklastischen Zug dieser für die Kunstgeschichte so wichtigen Analysetechnik ausmacht. Man könnte vor diesem Hintergrund eine Kunstgeschichte des Unsichtbaren begründet sehen, die lehrt, vor allem das zu sehen, was nicht zu sehen ist, und umgekehrt sogar das nicht zu sehen, was zu sehen ist. So wie die Kopienkritik der klassischen Archäologie die römischen Kopien, die sichtbar waren, zugunsten Demonstration: Einleitung
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eines unsichtbaren – weil verlorenen – griechischen Originals unsichtbar werden ließ,14 konnte in kennerschaftlichen Debatten über den Kupferstich das unsichtbare Original zum eigentlichen Thema der Vergleichung verschiedener Kupferstiche werden.15 Was sich an diesem Beispiel zeigt, ist auch, dass zwei Bilder nicht unschuldig zusammentreten. Die wenigsten kunsthistorischen Thesen verdanken sich dem zufälligen Zusammentreffen zweier Dias auf dem Leuchttisch, und wenn, dann verdankt sich auch dieses Zusammentreffen den Regeln und Dispositiven einer disziplinär geordneten und durch Diatheken und Bildarchive institutionalisierten Wissenschaft. Die Kombination zweier oder mehrerer Bilder ist zumindest im Kontext der Wissenschaften wenn nicht das Ergebnis einer bewussten Wahl, so doch eines Experimentalsystems16 oder einer sonstwie geregelten Systematik.17 Und: Sie schweben nicht im luftleeren Raum, sondern finden sich zusammen vor einem Hintergrund, einer gemeinsamen Buchseite oder der Wand eines Hörsaals oder Übungsraums. Nicht zuletzt dieser Hintergrund gibt vor, dass und wie verglichen wird, und welche Bestandteile dessen, was in den Bildern sichtbar ist, für den Vergleich herangezogen werden. Mit dem Verdikt der Unvergleichbarkeit oder des illegitimen Vergleichs18 wird häufig der Behauptung entgegengegangen, alles sei grundsätzlich mit allem vergleichbar. Für die Frage des vergleichenden Sehens als Demonstration, wäre dem entgegenzuhalten, dass die Entscheidung über Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit nicht von der Art oder dem Sosein der Objekte abhängt, die verglichen werden. Vielmehr ist es die Frage, auf welche Weise, mit welchen Techniken, Argumentationen und theoretischen Annahmen, kurz: vor welchem Hintergrund verglichen wird.19 Grundsätzlich zielt die Frage des vergleichenden Sehens als Demonstration aber darauf, dass das, was demonstriert werden soll, zuungunsten dessen, was sichtbar ist, in den Vordergrund rückt.20 Es ist in diesem Zusammenhang von einiger Bedeutung, dass vergleichendes Sehen in beinahe allen Wissenschaften verknüpft ist mit der Verwendung von Medien. Wenn die Kunstgeschichte sich nicht nur auf das beschränken will, was durch künstlerische Gestaltungskraft, auftraggeberischen Willen oder politischen Einfluss, Raubzüge, Sammelwut oder sonst eine Art von Zufall ohnehin nebeneinandersteht, dann kann sie vergleichendes Sehen nicht anders realisieren als in Büchern oder im Hörsaal, also vermittelst Fotografie, Diaprojektion und Druck- und Buchtechnik Falk Wolf
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oder, wenn auch zu selten, vermittelst eines Präsenzmediums wie dem Museum.21 Auch diese Medien selbst wurden vergleichenden Analysen unterzogen, die als vergleichendes Sehen angesprochen werden können. Dabei geht es im Wesentlichen darum, den Blick für die Formen dieser Medien zu schulen,22 um sie für die jeweilige Wissenschaft fruchtbar zu machen. Die Bedeutung von Demonstration als das, was gezeigt wird, oder das, was sich zeigt, tritt hierbei in den Vordergrund, denn die Schulung und Lenkung des Blicks zielt nun besonders darauf, dass sich in den verschiedenen Medien auch das Richtige zeigt und dass sich in multimedialen Arrangements etwas zeigt, das sich so in keinem Medium allein und außerhalb ihrer gar nicht zu zeigen vermag, wobei zugleich der Versuch unternommen wird, die visuelle Vielfalt dieser verschiedenartigen Bilder zugunsten einer amalgamierten Evidenz zu beschränken.23 Die in dieser Sektion versammelten Beiträge beschäftigen sich alle mit verschiedenen Aspekten und Hinsichten, durch die vergleichendes Sehen nicht in erster Linie als Anreiz zur Imagination oder zum experimentellen Umgang mit Bildern und Medien dient, sondern vielmehr als »resultative Aktionsart, […] die auf ein Ergebnis ausgerichtet ist«, wie die Vorsilbe ›ver‹ im Wort Vergleich anzeigt.24
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Endnoten 1 Siehe die von Lena Bader zusammengestellte Bibliografie am Schluss dieses Bandes. 2 Siehe ausführlich hierzu den Beitrag von Mladen Gladić und Falk Wolf in diesem Band. 3 Vgl. ebd.; s. auch Paul de Man, Rhetorik der Tropen (Nietzsche), in: ders., Allegorien 4 5 6 7 8 9 10 11 12
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des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 146 –163, bes. S. 150ff. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 677– 680, s. v. Vergleich (G. Schenk/A. Krause), hier Sp. 677. Ebd. Andrea del Verrocchio (unter Mitarbeit von Leonardo da Vinci), Taufe Christi, Tempera und Öl auf Holz, um 1475, Florenz, Galleria degli Uffizi. Heinrich Wölfflin, Die Klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance, München 1899, S. 192f. Ebd., S. 192. Ebd., S. 192f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Man könnte dies als eine semiotisierende Deutung verstehen, in der die Bilder oder bestimmte Bildbestandteile zu Zeichen eines kulturhistorischen Epochenparadigmas werden. In der Kleinform des einzelnen Strichs in der Druckgrafik spürt Johannes Grave in seinem Beitrag ähnlichen Semiotisierungstendenzen in der Folge des vergleichenden Sehens nach. Wölfflin, Klassische Kunst (Anm. 7), S. 193. Vgl. den Beitrag von Stefanie Klamm. Vgl. den Beitrag von Edgar Bierende. Siehe Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a. M. 2006. Zu diesen Problembereichen s. auch Lena Baders Einleitung zur Sektion Experiment in diesem Band. Vgl. auch den Beitrag von Claus Volkenandt, der zeigt, wie Theodor Hetzer, Dagobert Frey und Max Imdahl in bildinternen Vergleichen und Experimenten mit Schemazeichnungen einer Sinnselbstbegründung des Bildes auf die Spur zu kommen versuchen. Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder und Tilo Renz (Hg.), Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006. Vgl. den Beitrag von Dorothea Peters, der eine Demokratisierung der Kennerschaft durch die Publikationstätigkeit Wilhelm Bodes beschreibt. Hier wird deutlich, wie die Hintergründe vor denen verglichen wird, gewissermaßen in einer Beobachtung zweiter Ordnung angehoben werden und sich einer Kritik öffnen können. Vgl. z. B. den Beitrag von Vera Dünkel. Siehe den Beitrag von Barbara Schellewald, der zeigt, wie verschiedene Reproduktionsmittel immer wieder daran scheiterten, die besondere, streng genommen nur vor Ort wahrnehmbare Qualität mosaizierter Räume einzufangen. Um Mosaiken für den wissenschaftlichen Diskurs - d. h. für Publikationen - verfügbar zu machen, mussten sie domestiziert werden. Zu Präsenzmedien s. Jürgen Fohrmann, Andrea Schütte und Wilhelm Voßkamp (Hg.), Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001. Siehe hierzu Jürgen Fohrmann, Der Unterschied der Medien, in: Transkriptionen. Newsletter des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation 1, 2003, S. 2 – 6. Vgl. die Beiträge von Stefanie Klamm und Vera Dünkel. Historisches Wörterbuch der Philosophie (Anm. 4), Sp. 677.
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sance. München 1899, S. 192f.
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Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens. Zu Goethes Falten-Philologie Johannes Grave
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Goethes langjährige, intensive Beschäftigung mit den grafischen Künsten ist ohne den ständigen Rückgriff auf das vergleichende Sehen kaum denkbar. Bereits um 1780, zeitgleich mit den Anfängen seiner grafischen Sammlung, hat sich Goethe mit Enthusiasmus kennerschaftliche Praktiken angeeignet, zu denen insbesondere der Vergleich zählt. Später band er das vergleichende Sehen als Schlüsselmethode in eine Form der Kunstbetrachtung ein, die sich als Analogon zu seinen morphologischen Naturstudien verstehen lässt.1 Während dem vergleichenden Sehen für den Sammler Goethe mithin eine entscheidende Bedeutung zukam, finden sich in seinen Schriften zur bildenden Kunst nur wenige explizit durchgeführte Bildvergleiche. Unter diesen Texten verdient insbesondere eine Rezension Aufmerksamkeit, die 1789 im Teutschen Merkur erschien: Über Christus und die zwölf Apostel, nach Raphael von MarkAnton gestochen, und von Herrn Prof. Langer in Düsseldorf kopiert.2 Die Besprechung zeugt von dem Ernst, mit dem sich Goethe am Grafikdiskurs seiner Zeit beteiligte, und gewährt exemplarische Einblicke in seine Methode der Bildbeschreibung. Eine genauere Lektüre vermag aber darüber hinaus Implikationen des Vergleichs 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Johann Peter Langer nach Marcantonio Raimondi, Der heilige Thomas, um 1789.
aufzudecken, die vom Autor vermutlich weder reflektiert noch gar beabsichtigt worden waren. Die kurze Grafikrezension kann daher einen Anlass bieten, um über grundlegende Probleme des vergleichenden Sehens nachzudenken. Der komplizierte Titel der kurzen Besprechung deutet bereits an, dass Goethe sich einer verwickelten Aufgabe gegenübersah. Anlass und eigentlicher Gegenstand der Rezension waren Kupferstiche von Johann Peter Langer [Abb. 1]. Langers Druckgrafiken jedoch reproduzierten Kupferstiche Marcantonio Raimondis [Abb. 2], die wiederum mit Fresken in der römischen Kirche SS. Vincenzo ed Anastasio in Verbindung gebracht wurden, in denen man Werke Raffaels zu erkennen glaubte.3 Goethe dürfte dem Angebot Christoph Johannes Grave
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Martin Wielands, Langers Stichfolge zu rezensieren, auch deswegen gefolgt sein, weil er die Fresken im Dezember 1787 selbst hatte sehen können. Zentrales Anliegen seiner Rezension musste aber ein detaillierter kritischer Vergleich der Stichserien Raimondis und Langers sein. Gemäß den Konventionen der damals verbreiteten Grafikrezensionen durfte der Leser eine begründete Antwort auf die Frage erwarten, ob sich der Kauf von Langers Kupferstichen lohne. Der weitaus längere, erste Teil von Goethes Text ignoriert diese Frage gänzlich. Die Filiation Raffael – Raimondi – Langer wird einleitend zwar kurz erwähnt, doch statt die Werke der drei Künstler voneinander zu differenzieren, verwischt Goethe die zeitlichen, medialen und stilistischen Unterschiede, so dass die Werke der drei
2 Marcantonio Raimondi, Der heilige Thomas, um 1520.
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Künstler gewissermaßen als eine dreifaltige Einheit erscheinen. Goethes Strategie der Verunklärung zeigt sich nicht zuletzt auf sprachlicher Ebene, wenn er die Bezüge von Personal- und Demonstrativpronomina bewusst mehrdeutig anlegt. Nachdem er kurz die »Meisterwerke Raphaels«, die Stichserie Raimondis und die Kopien Langers erwähnt hat, fährt er fort: »Die Aufgabe, einen verklärten Lehrer, mit seinen zwölf ersten und vornehmsten Schülern, welche ganz an seinen Worten und an seinem Dasein hingen, und größtenteils ihren einfachen Wandel, mit einem Märtyrer Tode krönten, gebührend vorzustellen, hat er mit einer solchen Einfalt, Mannigfaltigkeit, Herzlichkeit, und mit so einem reichen Kunstverständnis aufgelöst, daß wir diese Blätter für eins der schönsten Monumente seines glücklichen Daseins halten können.«4 Während das Pronomen »er« auf Raimondi und Langer, am ehesten aber auf Raffael selbst verweisen kann, können sich »diese Blätter« nicht mehr auf die vermeintlichen Originale Raffaels, sondern nur auf die Stichfolgen Raimondis oder Langers beziehen. Das »glückliche Dasein« jedoch, von dem am Ende des Zitats die Rede ist und von dem die »Blätter« zeugen sollen, meint wiederum Raffaels Leben. Die Strategie dieser Mehrdeutigkeiten ist klar: Goethe rückt die drei unterschiedlichen Zyklen so nah und ununterscheidbar aneinander, dass er, die Stiche Langers vor Augen, problemlos über die »Meisterwerke« Raffaels sprechen kann. Folgerichtig verzichtet Goethe bei seinem Durchgang durch die Folge der Figurendarstellungen auf jede Unterscheidung zwischen den Blättern Raimondis, den Stichen Langers und den Fresken in SS. Vincenzo ed Anastasio.5 Figur für Figur wird zwar knapp, aber mit treffenden Details charakterisiert, wobei weniger die Attribute der Apostel, als vor allem die unterschiedlichen Faltenwürfe analysiert werden. Ernst Osterkamp hat in einer ausführlichen Studie das von Goethe zugrunde gelegte Beschreibungsverfahren untersucht und hervorgehoben, dass der Text beinahe völlig vom religiösen Kontext absieht, um sich statt dessen auf die statuenhaft aufgefassten Figuren und die sie charakterisierenden »bedeutenden Falten« zu konzentrieren. Auf diese Weise konnte Osterkamp zeigen, dass Goethes Art der Falten-Philologie an die Beschreibungen antiker Kunstwerke durch Johann Joachim Winckelmann anknüpft.6 Johannes Grave
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Kenner und Liebhaber von Druckgrafiken kamen erst in den letzten Absätzen des Aufsatzes auf ihre Kosten. Ziemlich unvermittelt schließt Goethe an die Beschreibung der einzelnen Figuren eine kritische Würdigung der Kopien Langers an. Die Perspektive, so scheint es, hat sich radikal gewandelt. Im Zentrum stehen nicht mehr die Figurenschöpfungen Raffaels, sondern die Genauigkeit der Reproduktionen Langers. Goethe blickt nun auf die »Conture«, würdigt die Ausarbeitung von »Licht und Schatten« und beurteilt den Effekt des »lichtgraue[n] Papier[s]«: »Diese Blätter gewähren also unstreitig einen Begriff von dem Wert der Originale in Absicht auf Erfindung, Stellung, Wurf der Falten, Charakter der Haare und der Gesichter, und wir dürfen wohl sagen, daß kein Liebhaber der Künste versäumen sollte, sich diese Langerischen Kopien anzuschaffen, selbst in dem seltenen Falle wenn er die Originale besäße; denn auch alsdann würden ihm diese Kopien, wie eine gute Übersetzung noch manchen Stoff zum Nachdenken geben.«7 Der überwiegend positive Gesamteindruck wird in Goethes weiteren Überlegungen ein wenig relativiert, wenn er an einzelnen Beispielen auf Abweichungen im Detail und auf Schwankungen in der Genauigkeit des Kopisten hinweist. Doch auch ohne diese Präzisierungen ist Goethes Kaufempfehlung provokanter, als sie zunächst anmuten mag. Ein Blick in zeitgenössische Handbücher für Grafiksammler – William Gilpins Abhandlung von Kupferstichen (1768), Johann Caspar Füsslis Raisonirendes Verzeichniß der vornehmsten Kupferstecher und ihrer Werke (1771) oder auch noch Michael Hubers Handbuch für Kunstliebhaber (1796 – 1808) – lässt keinen Zweifel daran, dass dem Besitzer guter Originalgrafiken vom Erwerb späterer Kopien kategorisch abgeraten wurde. 8 Wer über das Original verfügte, sollte seine Mappen nicht noch mit Derivaten belasten. Die von Goethe angedeutete Begründung, Langers Stiche vermöchten ebenso »wie eine gute Übersetzung« die Wahrnehmung des Originals zu schärfen, dürfte den zeitgenössischen Leser eher noch zusätzlich irritiert haben. Der Vergleich von grafischen Reproduktionen mit literarischen Übersetzungen war zwar im Grafikdiskurs des 18. Jahrhunderts verbreitet und geradezu zu einem Topos der entsprechenden Literatur geworden,9 doch verstieß Goethes Begriffsgebrauch gegen das etablierte Verständnis. Als Übersetzungen 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens 1: G F: : 79: HB . 8B
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wurden vor allem Reproduktionen nach Gemälden oder Skulpturen gewürdigt, um der Transferleistung des Stechers gerecht zu werden, der unter gänzlich anderen materiellen und medialen Voraussetzungen ein Bild wiederzugeben hatte. Langers Vorhaben jedoch unterlag nicht solchen Schwierigkeiten; seine Reproduktionen nach Stichen Raimondis wären als Kopien oder allenfalls Faksimiles, nicht aber als Übersetzungen zu charakterisieren gewesen. Einiges spricht dafür, dass Goethe mit seiner Rezension bewusst und gezielt gegen etablierte Sammlerkonventionen verstieß. Zumindest weiß er in den letzten Absätzen seines Textes die Kaufempfehlung und die ungewöhnliche Adaption des Topos von der Reproduktion als Übersetzung gerade durch einen kritischen Blick auf Details von Langers Stichen zu rechtfertigen. Auffällig ist, dass sein Augenmerk auch bei der Kritik der Reproduktionen den Falten gilt: »Da alle Figuren bekleidet sind, und der größte Kunstwert in den harmonischen, zu jedem Charakter, zu jeder Stellung passenden Gewändern liegt: so geht freilich die höchste Blüte dieser Werke verloren, wenn der Kopierende nicht überall die Falten auf das zarteste behandelt. Nicht allein die Hauptfalten der Originale sind meisterhaft gedacht, sondern von den schärfsten und kleinsten Brüchen, bis zu den breitesten Verflächungen ist alles überlegt, und mit dem verständigsten Grabstichel jeder Teil nach seiner Eigenschaft ausgedruckt.«10 Wenn Goethe daher die »verschiedenen Abschattungen, kleine[n] Vertiefungen, Erhöhungen, Ränder, Brüche, Säume«11 verfolgt, um ihre Umsetzung in Langers Kopien zu prüfen, werden nicht ohne Grund die grafischen Spuren des Grabstichels und die dargestellten Falten bis zur Ununterscheidbarkeit verschmolzen. Goethes Postulat, dass bis ins kleinste Detail »alles überlegt« sei, lädt jede Spur, jeden Strich mit einer bestimmten Bedeutung auf: »In den Originalen ist keine Falte, von der wir uns nicht Rechenschaft zu geben getrauen; keine, die nicht, selbst in den schwächern Abdrücken welche wir vor uns haben, bis zu ihrer letzten Abstufung zu verfolgen wäre. Bei den Kopien ist das nicht immer der Fall […].«12 Gerade indem Goethe auf die Schwachstellen von Langers Stichen hinweist, demonstriert er, worin der besondere Wert der Kopien für Besitzer der Originale liegt. Der Vergleich beider Johannes Grave
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Serien macht auf Differenzen aufmerksam, die zu einer Kritik der Reproduktionen Anlass geben, darüber hinaus aber wesentliche Qualitäten der Originalstiche Raimondis bewusst werden lassen. Die gewissenhafte Gegenüberstellung der Stichserien ermöglicht eine Schärfung der Wahrnehmung, die aber nicht bei der Differenzierung von Original und Kopie stehen bleibt, sondern das richtige Verständnis der Originale grundlegend befördern soll. Damit legt Goethe eine Voraussetzung seiner deutenden Faltenanalysen im ersten, längeren Teil seines Aufsatzes frei: Der Vergleich mit den Kopien schärfte seine Einsicht in die Bedeutung der Falten in Raimondis Stichen und bahnte so den Weg, um die Figuren aus ihren Gewändern und Falten heraus zu charakterisieren. Mit seiner Fokussierung scheinbar marginaler Details und dem differenzierten Vergleich der Blätter radikalisierte Goethe Praktiken in der Beschäftigung mit Druckgrafiken, die andere Kenner weniger konsequent und reflektiert, dafür aber umso selbstverständlicher pflegten. Möglicherweise dachte Goethe bei der Arbeit an seiner Rezension an ein bestimmtes Vorbild, an Johann Heinrich Merck, mit dem er vor allem vor der Reise nach Italien eng befreundet gewesen war.13 Für Wielands Teutschen Merkur schrieb Merck regelmäßig Beiträge, von denen sich nicht wenige mit Fragen des Grafiksammelns befassten. Sowohl in seiner 1778 erschienenen Antwort auf die Frage, »wie eine Kupferstichsammlung anzulegen sey«,14 als auch in seinem Beitrag Einige Rettungen für das Andenken Albrecht Dürers (1780)15 betonte er die Bedeutung einer Übung und Schärfung des Blicks durch systematisches vergleichendes Sehen. Seine 1787, zwei Jahre vor Goethes Rezension, ebenfalls im Teutschen Merkur erschienenen Anmerkungen über einige der betrüglichsten Copien von den Kupferstichen Albrecht Dürers können exemplarisch vor Augen führen, wie der kennerschaftliche Diskurs über Echtheit und Qualität nahezu bruchlos mit einer Bedeutungsaufladung kleinster grafischer Details einhergehen konnte.16 Mercks Anliegen, neue und bessere Kriterien zur Identifizierung von Fälschungen an die Hand zu geben, veranlasste ihn dazu, nicht mehr nur auf Signaturen oder den seitenrichtigen Abdruck zu achten, sondern eine Fülle von Einzelheiten in den Blick zu nehmen. Wollte er die gefundenen Indizien jedoch anderen Kennern und Liebhabern mitteilen, so mussten die entsprechenden signifikanten Details namhaft gemacht werden. Unter diesen Umständen ließ sich nicht mehr nur von Strichen, deren Verlauf und Länge reden, sondern Merck musste dargestellte Gegenstände benennen. Liest man seine Überlegungen mit einer 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens 1: G F: : 79: HB . 8B
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besonderen Aufmerksamkeit für diese identifizierende Arbeit, so zeigt sich, dass Mercks Suche nach Abweichungen geradezu zum Einfallstor für Deutungsfragen wurde. Immer wieder verweist er zum Beispiel auf physiognomische Details und ihre falsche Wiedergabe in den »betrüglichen Copien«, so etwa bei der Zeichnung von Mundwinkeln,17 bei geschlossenen oder halboffenen Augen18 oder beim Verlauf von Augenbrauen.19 In Passagen, die Merck besonders anschaulich formulieren wollte, wird deutlich, wie die falsch kopierten, scheinbar nebensächlichen Details mit Bedeutungen aufgeladen werden konnten. Zur Darstellung des Kindes in Dürers Stich Maria an der Mauer (1514) etwa schreibt er: »In dem neuen Abdrucke […] ist das untere Augenlied zur linken ganz beschattet, und der Schlafmuskel und Stirnmuskel so stark angegeben, daß das Kind ganz grimassirt, und Bauchgrimmen zu haben scheint.«20 Die Verknüpfung zweier Vorgehensweisen, des vergleichenden Sehens und der begrifflichen Fixierung der beobachteten Abweichungen, führte dazu, dass zuvor marginal anmutende, unscheinbare grafische Spuren plötzlich zu Symptomen wurden, die auch die Deutung des Dargestellten betreffen konnten. II
Goethe verschärfte in seiner Rezension der Reproduktionen Johann Peter Langers nur eine Tendenz zur Bedeutungsaufladung, die sich auch sonst beim Einsatz des Vergleichs im Diskurs der Kenner und Liebhaber abzeichnete. Diese Tendenz lässt sich jedoch keineswegs als mehr oder weniger zufällige historische Erscheinung des 18. Jahrhunderts erklären, sondern charakterisiert zumindest den kennerschaftlich motivierten Einsatz des vergleichenden Betrachtens von Bildern in grundlegender Weise. Das in kennerschaftlicher Absicht vollzogene vergleichende Sehen impliziert einen auf zwei oder mehrere Objekte bezogenen Wahrnehmungsprozess, der durch das Ziel des Vergleichs koordiniert wird. Die Suche nach Unterschieden (beim Vergleich einander sehr ähnlicher Objekte) oder nach Ähnlichkeiten (bei der Gegenüberstellung weitgehend verschiedener Objekte) dient beim kennerschaftlichen Vergleich einem spezifischen Zweck: der Bestimmung des Künstlers, der Differenzierung von Original und Kopie oder der Unterscheidung verschiedener Druckzustände. Analysiert man den Einsatz und die Koordinierung des Sehens im kennerschaftlichen Vergleich etwas genauer, so fallen jedoch jenseits solcher expliziten Funktionen des vergleichenden Sehens Effekte dieser Wahrnehmungsform auf, die Johannes Grave
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einem zeichenhaften Verständnis des Bildes und einzelner Bildelemente Vorschub leisten.21 Dem in der sinnlichen Wahrnehmung vollzogenen Vergleich geht zunächst die Isolierung einzelner Erscheinungen aus ihrem Kontext voraus, denn ohne die Etablierung klar umgrenzter Einheiten lässt sich nicht festlegen, was womit verglichen wird. Oftmals erhalten Elemente im Bild erst mit dieser Definition von Einheiten eine Bestimmtheit, die es erlaubt, Übereinstimmungen und Abweichungen auszumachen. Werden aber Striche, Schraffuren oder andere Spuren als distinkte Einheiten innerhalb eines auf Referentialität hin angelegten, bedeutungsvermittelnden Zusammenhangs aufgefasst, so erlangen sie eine entscheidende Eigenschaft, die sie Signifikanten vergleichbar werden lässt.22 Da jedes Element einer Signifikation seinen Wert nur über die Differenz zu anderen Elementen des Systems erhalten kann, Zeichen also nur als von anderen Zeichen abgegrenzte Einheiten funktionieren, stellt im Umkehrschluss die Distinktion von Elementen im Bild einen ersten Schritt zum Verständnis dieser Elemente als Zeichen dar. Mit der Bestimmung derartiger Einheiten ist zumindest eine notwendige Voraussetzung für die Semiose gegeben. Insbesondere wenn die bildliche Darstellung als ganze etwas Gegenständliches repräsentiert, scheint es daher nur folgerichtig zu sein, eine als selbständige Einheit begriffene grafische Spur als bedeutungstragendes Zeichen oder bedeutungsdifferenzierendes Element zu verstehen.23 Die Tendenz zu einer zeichenhaften Auffassung der dem Vergleich zugrunde liegenden Einheiten verstärkt sich zusätzlich dadurch, dass die Gegenüberstellung zweier Bilder die Wahrnehmung visueller Spuren und ihrer Relationen untereinander in erheblichem Maße konditioniert. Während Betrachter, die sich allein auf ein Bild konzentrieren, in den Nachvollzug einzelner Spuren verstrickt werden können, ohne dass sie den Wahrnehmungsprozess gänzlich bewusst steuern würden, unterbindet der stetige Blickwechsel des vergleichenden Sehens eine solche Versenkung des Blicks. Der kennerschaftliche Vergleich ignoriert damit ein Potential, durch das sich beispielsweise Linienzüge einer vollständigen Ausdeutung als Zeichen widersetzen könnten. Gerade das Bemühen, jeder grafischen Spur einen klaren Sinn abzugewinnen, kann den Betrachter eines einzelnen Bildes so sehr in diese Spuren verstricken, dass sein Blick vom Dargestellten weg hin zu den Darstellungsmitteln gelenkt wird. Je genauer und nahsichtiger der Betrachter einzelnen Linien folgt, desto stärker wird deren Kontext ausgeblendet, so dass er 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens 1: G F: : 79: HB . 8B
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schließlich nur mit einem abstrakten Liniengeflecht konfrontiert ist. Was zunächst etwa als Falte seine Aufmerksamkeit weckte, erscheint dann als opaker Strich, der ein visuelles Eigengewicht annimmt. Wahrnehmungsprozesse dieser Art werden jedoch im kennerschaftlich funktionalisierten vergleichenden Sehen tendenziell unterbunden, weil das Betrachten dem äußeren Regulativ des Blickwechsels unterworfen wird. Der Vorgang des Vergleichens muss, da er einer bestimmten Intention folgt, möglichst weitgehend der Kontrolle des Betrachters unterliegen. Indem der kennerschaftliche Vergleich das Gefüge der grafischen Spuren in eine Ordnung distinkter Einheiten gliedert, beschränkt er überdies die Fülle der Möglichkeiten, wie sich verschiedene Striche, Flecken, Punkte, Flächen und Abstände zueinander verhalten können. Der vergleichende Betrachter muss bestimmte Spuren gegenüber ihrem Kontext privilegieren, obwohl diese Spuren selbst unendlich viele Relationierungen zulassen. Durch diese Vorentscheidung wird eine das Bild auszeichnende Unbestimmtheit ausgeblendet und damit zugleich ein Widerlager gegen Versuche einer erschöpfenden, zeichenhaften Ausdeutung geschwächt.24 Das kennerschaftlich motivierte vergleichende Sehen gibt dem Prozess der Betrachtung eine rigide, primär durch das spezifische Erkenntnisinteresse begründete Rhythmik vor, die die Möglichkeit verschiedenartiger Zeiterfahrungen während der Wahrnehmung in erheblichem Maße einschränkt. Regelmäßig muss der Blick zwischen den distinkten Einheiten wechseln, um die Übereinstimmungen und Abweichungen taxieren zu können. Damit unterbindet der kennerschaftliche Vergleich jedoch andere Erfahrungen von Zeit, die gerade im Prozess der Bildwahrnehmung evoziert werden könnten: Striche und Schraffuren beispielsweise verweisen immer auch auf die Zeit ihrer Entstehung; im Linienzug erhält sich gewissermaßen eine Resonanz jener Zeit, die während des Ziehens der Linie verstrich. Der Betrachter kann diese Zeit zwar keineswegs problemlos nachempfinden, da sein Rückschluss von der gezogenen Linie auf den Zeichenakt immer nachträglich und in einem anderen Zeitmaß erfolgt. Doch, obwohl er nicht an den Ursprung, den Moment des Ziehens der Linie, zurückgelangen kann, wird er unvermeidlich in einen Nachvollzug verwickelt.25 Die Eigenart der grafischen Spur, den Gedanken an ihre Emergenz zu evozieren und sich der Reaktualisierung dieser Entstehung zugleich zu entziehen, gerät freilich beim vergleichenden Sehen aus dem Blick. Hier wird jede detailliert betrachtete Linie spätestens durch den Wechsel Johannes Grave
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zum Vergleichsobjekt still gestellt, um die Vergleichbarkeit nicht zu gefährden. Die skizzierten Implikationen des kennerschaftlichen vergleichenden Sehens mögen andeuten, dass die Operation des Vergleichs genau die ikonischen Phänomene zu bändigen vermag, die ein semiotisches Verständnis des Bildes stören könnten. Zugleich generiert der Vergleich jene distinkten Einheiten, die in der Deutung des Bildes als Signifikanten fungieren können. Die Tendenz, Bildelemente und grafische Spuren als Zeichen zu verstehen, erweist sich damit als naheliegende, wenn auch vielleicht nicht unvermeidliche Implikation des vergleichenden Sehens. Dass aber bei einer zeichenhaften Auffassung von Strichen, Punkten, Flächen und anderen Bildelementen bestimmte ikonische Phänomene ausgeblendet werden müssen, hat James Elkins in seiner Auseinandersetzung mit dem semiotischen Bildbegriff von Mieke Bal und Norman Bryson zu zeigen versucht. Elkins hat dabei auf grafische Spuren, Flecken und Züge aufmerksam gemacht, die quer zu einer semiotischen Analyse stehen und sich nicht darin erschöpfen »subsemiotic elements«26, also potentiell bedeutungstragende Elemente, zu sein.27 Semiotische Ansätze können zwar Prozesse der Bedeutungsproduktion, etwa die Genese eines Flecks zum bedeutungstragenden Bildzeichen, subtil und differenziert beschreiben, 28 sie müssen dazu aber die Wahrnehmung grafischer Spuren und ihrer Konstellationen zumindest vorübergehend und partiell fixieren. Wenn eine visuelle Semiotik Konstellationen erschließt, in denen etwa ein Fleck zur Bedeutungsproduktion beiträgt, setzt sie die Auswahl dieses Details voraus. Sie definiert damit im Zweifelsfall überhaupt erst, was zu einem Fleck gehört, was in den Blick genommen und als Figur gewürdigt wird. Zeichnungen, aber auch Bilder im allgemeinen lassen sich jedoch nicht erschöpfend als Gefüge stabiler grafischer Einheiten begreifen, vielmehr sind diese Einheiten im Prozess der Rezeption beständig im Fluss, ja, sie werden immer wieder neu generiert, voneinander abgegrenzt und zueinander konstelliert. Spuren, Striche, Schraffuren etc. zeichnen sich – um eine Formulierung von Elkins aufzugreifen – durch eine »ontological instability«29 aus, die ihre Zwischenstellung »between linguistic sign and painterly babble«30 begründet. Goethes Vergleich von Kupferstichen Johann Peter Langers und Marcantonio Raimondis kann exemplarisch vor Augen führen, dass auch das kennerschaftlich instrumentalisierte vergleichende Sehen die von Elkins angesprochene Instabilität grafischer 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens 1: G F: : 79: HB . 8B
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Spuren nicht in den Blick zu nehmen vermag. Durch die Konditionierung des Blicks fördert das vergleichende Sehen in Goethes Fall die zeichenhafte Ausdeutung von Bildern. Dass diese latente Zurichtung des Bildes zum zeichenhaft strukturierten visuellen Feld nicht zufällig erfolgt, hat sich bei der genaueren Analyse des Vergleichsprozesses gezeigt. Eine unerwartete Nähe zur Bildsemiotik begleitet daher die Methode des vergleichenden Sehens wie ein Schatten. Sie ist nicht Bestandteil der Methode selbst, kann aber maßgeblich durch den Vergleich angeregt werden. Vor diesem Hintergrund erweist es sich auch als überraschend folgerichtig, dass Goethe – gegen den konventionellen Begriffsgebrauch – den Topos von der Reproduktion als Übersetzung auf einen Fall übertrug, der gar keinen Transfer der Darstellung von einem medialen System in ein anderes erforderlich machte. Indem Goethe Langers Kopien mit einer Übersetzung verglich, statt sie als Faksimiles zu bezeichnen, charakterisierte er sie sogleich als Zeichensystem. Stephen Bann hat auf die »linguistische Analogie«31 hingewiesen, die diesen Topos begründet; sie impliziert, »dass der Kupferstich, um sich als ›Übersetzung‹ zu legitimieren, eine Vorstellung von seiner Sprache entwickeln muß«.32 Und tatsächlich lassen sich die Diskussionen über die richtigen grafischen Verfahren und über Muster zur Wiedergabe bestimmter stofflicher Qualitäten, die den Grafikdiskurs des 18. Jahrhunderts immer wieder beschäftigten, als Arbeit an einem Zeichensystem verstehen. III
Das vergleichende Sehen wurde verschiedentlich als genuin kunsthistorische Methode oder gar als Königsweg zur Vermeidung problematischer theoretischer Vorannahmen propagiert.33 Das Beispiel von Goethes Rezension gibt Anlass, dieses disziplinäre Credo zu hinterfragen. Zu den Implikationen eines vergleichenden Sehens, das kennerschaftlich funktionalisiert wird, zählt eine latente Beförderung semiotischer ›Lesarten‹ des Bildes. Durch das Herauspräparieren distinkter grafischer Einheiten und die Koordinierung der Blickbewegung begünstigt der Bildvergleich eine Wahrnehmung, die grafische Spuren mit zeichenhafter Bedeutung auflädt. Damit ist jedoch nicht bereits zwangsläufig das vergleichende Sehen im allgemeinen und der Vergleich als kunsthistorische Methode charakterisiert. Ausgehend von Goethes Grafik-Rezension, konnte hier zunächst nur ein spezifisch kennerschaftlicher Einsatz des Vergleichs in den Blick genommen werden. Johannes Grave
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Umso dringlicher stellt sich die Aufgabe einer genuinen Kritik des vergleichenden Sehens, einer Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen dieser Form des Betrachtens, die deren Potentiale und Leistungen, aber auch deren Grenzen aufzuweisen hätte. Eine solche grundlegende Kritik des visuellen Vergleichs überschreitet notwendig das Feld historischer Studien und verlangt nach theoretischen Klärungen. Sie hat sich elementaren wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Fragen zu stellen, die bei der Koordination der visuellen Wahrnehmung mit dem Akt des Vergleichs berührt werden. In welcher Weise finden Sehen und Vergleichen, die sinnliche Wahrnehmung und ein Erkenntnisakt des Verstandes zueinander?34 So wenig die genauere Betrachtung eines exemplarischen Fallbeispiels diese Frage zu klären vermag, weist die genauere Lektüre von Goethes Grafik-Rezension doch auf Aspekte hin, die für eine Theorie des vergleichenden Sehens von besonderer Relevanz sein dürften. Jenseits der Absicht, mit der das vergleichende Sehen methodisch eingesetzt wird, impliziert der visuelle Vergleich weit reichende Vorentscheidungen, die in der Regel unreflektiert bleiben. Er erfordert zum einen eine Hinsicht, auf die er ausgerichtet ist; zum anderen aber rekurriert er – darauf weist bereits der Stamm des Wortes ›Vergleich‹ hin – auf eine Logik von Identität und Unterscheidung. Folgt man dem in der Philosophie etablierten Begriffsverständnis,35 so ist das Vergleichen den Verstandesakten zuzurechnen, durch die – mit den Worten von Immanuel Kants Logik – »Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden«.36 Der Vergleich bildet mithin Begriffe oder setzt sie zueinander in Beziehung. Ein Sehen, das vergleichend verfährt, birgt daher unvermeidlich ein Moment der Spannung in sich. Während die ästhetische Wahrnehmung des Kunstwerks die Ebene des begrifflich operierenden Verstandes überschreitet, muss sich das vergleichende Sehen auf diese Ebene beschränken. Die Bestimmung, vergleichend zu verfahren, impliziert die Konzentration auf einen spezifischen Modus des Sehens, schließt aber andere Potentiale visueller Wahrnehmung aus. Die Lenkung des Wahrnehmungsprozesses im vergleichenden Sehen, die hier am Beispiel von Goethes Rezension skizzierte wurde, ist daher vielleicht nur die äußerliche Erscheinungsform einer Tendenz, die bereits in der Inanspruchnahme des Sehens für das Vergleichen enthalten ist.37 Versteht man das vergleichende Sehen in diesem Sinne, so können bestimmte Dimensionen von Bildern oder Kunstwerken erst im Scheitern des Vergleichs hervortreten. Erst wenn das Sehen das Vergleichen an Grenzen führt, werden Phänomene von 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens 1: G F: : 79: HB . 8B
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Unbestimmtheit oder Überdetermination erfahrbar. Dass das vergleichende Sehen Einschränkungen unterliegt bzw. sein Erkenntnispotential gerade aus selbst gesetzten Grenzen bezieht, stellt es jedoch keineswegs grundsätzlich in Frage, wäre es doch irreführend, nach dem Phantom eines unschuldigen und voraussetzungsfreien Sehens zu suchen.38 Der von anderen Wahrnehmungsformen flankierte Vergleich, der im Wissen um seine Grenzen angewandt wird, vermag zweifellos zu einer erheblichen Schärfung des Blicks beizutragen. Jedem schärferen Sehen ist jedoch immer auch die Gefahr inhärent, in ein Übersehen umzuschlagen.
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Endnoten 1 Vgl. Johannes Grave, Der »ideale Kunstkörper«. Johann Wolfgang Goethe als Sammler
von Druckgraphiken und Zeichnungen, Göttingen 2006. 2 Vgl. Ernst Osterkamp, Bedeutende Falten. Goethes Winckelmann-Rezeption am Bei-
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spiel seiner Beschreibung von Marcantonio Raimondis Apostelzyklus, in: Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Johann Joachim Winckelmann, 1717–1768, Hamburg 1986, S. 265288; Ernst Osterkamp, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 54 –71; ferner den Katalogbeitrag von Anja Petz in Sabine Schulze (Hg.), Goethe und die Kunst, Ostfildern 1994, S. 77– 81 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Frankfurt a. M. 1994]; sowie Grave, Der »ideale Kunstkörper« (Anm. 1), S. 239 – 243. Heute gelten die Stiche Raimondis als Kopien nach Grafiken Marco Dentes, die mit verlorenen Zeichnungen Raffaels in Verbindung gebracht werden. Zum Stand der kunsthistorischen Forschung vgl. Corinna Höper (Hg.), Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner graphischen Reproduzierbarkeit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 172, Nr. A 26 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Stuttgart 2001]. Johann Wolfgang Goethe, Über Christus und die zwölf Apostel, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert u. a., Bd. 3. 2: Italien und Weimar, 1786 –1790, München 1990, S. 275 – 279, hier S. 275 (Hervorhebungen JG). Es bereitete Goethe daher 1829, bei der Redaktion der Italienischen Reise, auch keine Probleme, diese Passagen aus dem Kontext der Grafikrezension herauszulösen und anlässlich des Besuchs von SS. Vincenzo ed Anastasio als Beschreibung von »Nachbildungen der Originalzeichnungen von der treuen Hand Marc Antons« in den »Zweiten römischen Aufenthalt« einzufügen; vgl. Goethe, Sämtliche Werke (Anm. 4), Bd. 15: Italienische Reise, München 1992, S. 533 – 538. Vgl. Osterkamp, Im Buchstabenbilde (Anm. 2), bes. S. 62 – 64. Goethe, Über Christus und die zwölf Apostel (Anm. 4), S. 278. Vgl. [William Gilpin], Abhandlung von Kupferstichen, worinn die allgemeinen Grundsätze von den Regeln der Malerey, in so weit sie die Kupferstiche betreffen, abgehandelt […]. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Jakob Volkmann], Frankfurt a. M. 1768, S. 191f.; Johann Caspar Füssli, Raisonirendes Verzeichniß der vornehmsten Kupferstecher und ihrer Werke. Zum Gebrauche der Sammler und Liebhaber, Zürich 1771, S. 65f.; Michael Huber, Handbuch für Kunstliebhaber und Sammler über die vornehmsten Kupferstecher und ihre Werke. Vom Anfange dieser Kunst bis auf gegenwärtige Zeit. Chronologisch und nach Schulen geordnet. Nach der französischen Handschrift des Herrn M[ichael] Huber bearbeitet von C[arl] C[hristian] H[einrich] Rost [ab Bd. 6: bearbeitet von Christian Gottfried Martini], 9 Bde., Zürich 1796 –1808, Bd. 1, S. 71f. Vgl. Véronique Meyer, Gravure d’interprétation ou de reproduction? Invention, traduction et copie: Réalités historiques et techniques, in: Travaux de l’Institut d’Histoire de l’Art de l’Université de Lyon 12, 1989, S. 41– 46; Caroline Karpinski, The Print in Thrall to its Original. A Historiographic Perspective, in: Kathleen Preciado (Hg.), Retaining the Original. Multiple Originals, Copies, and Reproductions, Washington 1989, S. 101–109, bes. S. 106; Ségolène le Men, Printmaking as Metaphor for Translation. Philippe Burty and the Gazette des Beaux-Arts in the Second Empire, in: Michael R. Orwicz (Hg.), Art Criticism and its Institutions in Nineteenth-Century France, Manchester 1994, S. 88 –108; Norberto Gramaccini, Theorie der französischen Druckgraphik im 18. Jahrhundert. Eine Quellenanthologie, Bern 1997, bes. S. 100; Christian Rümelin, Stichtheorie und Graphikverständnis im 18. Jahrhundert, in: Artibus et historiae 44, 2001, S. 187– 200, bes. S. 187f.; Stephen Bann, Der Reproduktionsstich als Übersetzung, in: Wolfgang Kemp u. a. (Hg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 6, Berlin 2002, S. 41–76. Goethe dürfte der Topos aus der ihm vertrauten Handbuchliteratur bekannt gewesen sein: Gilpin, Abhandlung von Kupferstichen (Anm. 8), S. 192; Füssli, Raisonirendes Verzeichniß (Anm. 8), S. 65. Johannes Grave
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10 Goethe, Über Christus und die zwölf Apostel (Anm. 4), S. 278f. 11 Ebd., S. 279. 12 Ebd. 13 Zu Mercks Bedeutung für die Entwicklung des Grafiksammelns in Weimar vgl. Mar-
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kus Bertsch, Johann Heinrich Merck und die Anfänge der Graphiksammlung von Herzog Carl August, in: Markus Bertsch und Johannes Grave (Hg.), Räume der Kunst. Blicke auf Goethes Sammlungen, Göttingen 2005, S. 47 –75; Grave, Der »ideale Kunstkörper« (Anm. 1), bes. S. 58 –74; Markus Bertsch und Johannes Grave, »Deine Albrecht Dürer sind nunmehr schön geordnet.« Lavaters Dürer-Sammlung in Goethes Händen, in: Benno Schubiger (Hg.), Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz, Genf 2007, S. 291– 313. Johann Heinrich Merck, Aus einem Schreiben an den H. über die Frage: wie eine Kupferstichsammlung anzulegen sey?, in: Der Teutsche Merkur 1778, Bd. 2, S. 170 –175. Johann Heinrich Merck, Einige Rettungen für das Andenken Albrecht Dürers gegen die Sage der Kunst-Literatur, in: Der Teutsche Merkur 1780, Bd. 3, S. 3 –14. Zu Mercks Aufsätzen über Dürer vgl. Jan Białostocki, Dürer and His Critics 1500 –1971. Chapters in the History of Ideas, Baden-Baden 1986, S. 147–160; sowie Astrid Grieger, »Sie freuen sich über das, was sie verstehen«. Kriterien bürgerlicher Kunstanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel Johann Heinrich Mercks, in: LenzJahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 3, 1993, S. 163 –182, bes. S. 171f. Johann Heinrich Merck, Bemerkungen über einige der betrüglichsten Copien von den Kupferstichen Albrecht Dürers, in: Der Teutsche Merkur 1787, Bd. 2, S. 158 –166. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 160. Die Nähe des vergleichenden Sehens zu einer semiotischen Kunstbetrachtung äußert sich auch in zwei Beiträgen von Felix Thürlemann, der den Unterschied zwischen der auf ein einzelnes Bild konzentrierten Betrachtung und dem vergleichenden Sehen jedoch eher pauschal als eine Differenz zwischen einem »identifizierend-einfühlenden« und einem »distanziert-reflektierenden« Wahrnehmen charakterisiert: Felix Thürlemann, Bild gegen Bild, in: Aleida Assmann, Ulrich Gaier und Gisela Trommsdorff (Hg.), Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S. 163 –174, hier S. 173; ders., Vom einzelnen Bild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Ada Neschke-Hentschke (Hg.), Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle – évolution et débat actuel, Löwen 2004, S. 223 – 248. Vgl. Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 167: »Ein Zeichen ist die Korrelation eines Signifikanten mit einer Einheit (oder einer Hierarchie von Einheiten), die wir als Signifikat definieren.« Vgl. auch Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, S. 76. Daraus folgt allerdings nicht zwangsläufig, dass jede Semiotik des Bildes von distinkten, invarianten semiotischen Einheiten ausgeht, aus denen das Bild konstelliert würde. Die Frage, ob Bilder über eine eigene Grammatik verfügen, die – in Analogie zu den Phonemen – auf Minimaleinheiten mit bedeutungsdifferenzierender Funktion aufbaut, ist unter Bildsemiotikern vielmehr umstritten. Für eine erste Orientierung vgl. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. erw. Aufl., Stuttgart 2000, bes. S. 477– 480; Göran Sonesson, Die Semiotik des Bildes. Zum Forschungsstand am Anfang der 90er Jahre, in: Zeitschrift für Semiotik 15, 1993, S. 127–160, bes. S. 142 –145; und Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, 2. überarb. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, bes. S. 102 –136. Vgl. Gottfried Boehm, Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 199 – 212. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Der semiotische Schatten des vergleichenden Sehens 1: G F: : 79: HB . 8B
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Endnoten 25 Vgl. Johannes Grave, Zeichnung ohne Zug. Über das Unzeichnerische in der deutschen
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Kunst um 1800, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 53/2, 2008, S. 233 – 260. Mieke Bal, Reading »Rembrandt«. Beyond the Word-Image Opposition, Cambridge 1991, S. 400f., Anm. 16. Vgl. James Elkins, Marks, Traces, »Traits«, Contours, »Orli«, and »Splendores«. Nonsemiotic Elements in Pictures, in: Critical Inquiry 21/4, 1995, S. 822 – 860. Elkins reagierte u. a. auf Bal, Reading »Rembrandt« (Anm. 26), sowie auf Mieke Bal und Norman Bryson, Semiotics and Art History, in: Art Bulletin 73/2, 1991, S. 174 – 208. Vgl. ferner Bals Replik auf Elkins und dessen Erwiderung: Mieke Bal, Semiotic Elements in Academic Practices, in: Critical Inquiry 22/3, 1996, S. 573 – 589; sowie James Elkins, What Do We Want Pictures to Be? Reply to Mieke Bal, in: Critical Inquiry 22/3, 1996, S. 590 – 602. Gerade in der Analyse der Modi und Prozesse der Bedeutungsproduktion, der unabschließbaren Semiose, gehen poststrukturalistische bildsemiotische Ansätze weit über ikonografisch-ikonologische Studien hinaus. Elkins, Marks, Traces, »Traits« (Anm. 27), S. 841 u. S. 858. Ebd., S. 824. Bann, Der Reproduktionsstich als Übersetzung (Anm. 9), S. 52. Ebd., S. 51. Geradezu programmatisch bei Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, Hamburg 1958, S. 59f.; ausführlich und zustimmend zitiert bei Hermann Bauer, Kunsthistorik. Eine kritische Einführung in das Studium der Kunstgeschichte, München 1976, S. 104f. Fachvertreter, die sich auf gänzlich andere kunsthistorische Traditionslinien zurückführen, haben einen vergleichbar emphatischen Begriff vom vergleichenden Sehen. So hat z. B. Heinrich Dilly von einem »disziplinären Imperativ des vergleichenden Sehens« gesprochen; Heinrich Dilly, Einleitung, in: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, S. 7–16, hier S. 12. Auch gegenwärtig gilt das vergleichende Sehen als »Zentrum jeder kunsthistorischen Methode«; vgl. Jörg Trempler, Vom Terror zum Bild – von der Authentizität zum Stil. Gedanken zur historischen Begründung authentischer Bilder, in: Wilhelm Hofmann, Bildpolitik – Sprachpolitik. Untersuchungen zur politischen Kommunikation in der entwickelten Demokratie, Münster 2006, S. 117 –136, hier S. 120. Zu dieser Frage vgl. auch den Beitrag von Mladen Gladić und Falk Wolf in diesem Band. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, s. v. Vergleich, Sp. 676 – 680 (G. Schenk/A. Krause). Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. v. Gottlob B. Jäsche, Berlin 1923, S. 94 (§ 6). Den hier skizzierten Überlegungen liegt ein bewusst enger Begriff des vergleichenden Sehens zugrunde. Sie verstehen sich daher auch als Plädoyer, das vergleichende Sehen stärker von anderen Formen der Zusammenschau, Überblendung und Kombination verschiedener Bilder abzugrenzen. Für eine andere, in sich durchaus produktive Situierung des vergleichenden Sehens vgl. Klaus Niehr, Vom Traum zur Inszenierung. Materialien zu einer Archäologie des kunstgeschichtlichen Vergleichs, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45/2, 2001, S. 273 – 292. Zu diesem Problem vgl. etwa Stefan Majetschak, Bild und Sichtbarkeit. Überlegungen zu einem transdisziplinären Bildbegriff, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 48/1, 2003, S. 27– 45, bes. S. 39f.; sowie Olaf Breidbach, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005.
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Abbildungsnachweis 1 Johann Peter Langer nach Marcantonio Raimondi, Der heilige Thomas, um 1789,
20,9 × 13,6 cm, Kupferstich, Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Nationalmuseum. Foto: Archiv des Verfassers. 2 Marcantonio Raimondi, Der heilige Thomas, um 1520, 20,7 × 13,5 cm, Kupferstich, Wien, Albertina. Foto: Archiv des Verfassers.
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»von der grossen Welt entfernt« – Die Absenz der Originale und der Beginn einer vergleichenden Kunstgeschichte in der Schweiz Edgar Bierende
I
Künstler und Kunstliebhaber lernen über Vergleiche, über das Studium von vorbildlichen Werken der bildenden Kunst. Doch wo lernte ein Maler im 18. Jahrhundert, wenn keine Akademie am Ort vorhanden war? Woran schulte sich ein Kunstliebhaber, wenn keine großen Sammlungen am Ort waren, wenn die großen Meister, wie Dürer, Raffael und Tizian, fehlten? Genau in dieser schwierigen Situation befanden sich Künstler und Kunstliebhaber in Zürich bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts. Johann Rudolf Füssli d. J. (1709 – 1793) benennt diese schwierigen Zustände 1767 in seinem Allgemeinen Künstlerlexicon. Gleich im Vorwort, wenn auch in einem Nebensatz, klingt die besondere Situation seiner Heimat an: »in der eingeschränkten Sphäre einer kleinen, freyen, von der grossen Welt entfernten, und aus verschiedenen Gründen, für die schönen Künste unzugänglichen Republick, worinne ich zu leben das Glück habe«.1 Schweizer Künstler und Kunstliebhaber waren gezwungen, das Fehlen von Akademien oder umfangreichen Sammlungen in ihren Städten und Kantonen durch Reisen ins Ausland zu kompensieren. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchte 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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man diese Missstände, beflügelt durch didaktische sowie patriotische Ideen, zu beheben, wie das Beispiel Zürich zeigt. So gründete man dort 1773 eine Kunstschule. Doch war diese Institution nur zur künstlerischen Grundausbildung der Jugend ersonnen.2 Und auch die 1775 gegründete Gesellschaft auf dem Kunstsaal, die die erste öffentliche Kunstsammlung Zürichs unterhielt, sowie die 1787 ins Leben gerufene Künstlergesellschaft boten keinen vollwertigen Ersatz für die im Ausland befindlichen Sozietäten, Sammlungen und Bildungsstätten.3 Ringsum in den benachbarten Ländern waren sowohl Akademien als auch große fürstliche Sammlungen in den jeweiligen Residenzstädten, den höfischen Zentren und Kapitalen gewachsen. Dagegen gab es weder in Zürich noch andernorts in der Schweiz, wenn man von der Kunstsammlung Amerbach in Basel absieht, Akademien oder Sammlungen, in denen die großen Namen der Kunstgeschichte vertreten gewesen wären.4 Zwei historische Prozesse wirkten in den reformierten Kantonen der Eidgenossenschaft zusammen: die republikanische Gesellschaftsstruktur, die von einer antifeudalen Grundhaltung durchdrungen war, sowie die normative Kraft der Reformation. Seit dem Wirken von Huldrych Zwingli (1484 –1531) und Heinrich Bullinger (1504 –1575) war der Besitz und die Produktion von religiösen Bildern und figürlichen Skulpturen untersagt. 5 Ausgenommen vom städtisch verordneten Bildersturm waren lediglich Schlusssteine und Glasfenster. Toleriert wurden zudem Grafiken zu profanen Themen sowie Bildnisse. Dieses strenge, bilderfeindliche und soziale Unterschiede nivellierende Klima der Reformationszeit blieb in Zürich bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts dominant. II
Um 1800 avancierte Zürich zu einem Verlagszentrum der deutschsprachigen Kunstgeschichte. Fast zeitgleich wurden zwei große Buchprojekte zum selben Themenkreis der Reproduktionsgrafik herausgegeben. Seit 1796 erschien Michael Hubers (1727 – 1804) Handbuch für Kunstliebhaber und Sammler über die vornehmsten Kupferstecher und ihre Werke. Jedoch beinhaltet dieses Werk nur Titel- und Größenangaben und keine wertenden Beschreibungen der Stiche.6 Zwei Jahre später begann Hans Rudolph Füssli d. J. (1737 –1806) sein Kritisches Verzeichnis der beßten nach den berühmtesten Mahlern aller Schulen vorhandenen Kupferstiche mit vielen Bildbeschreibungen und Vergleichen zu publizieren. Da er bereits 1806 verstarb, kamen lediglich vier Bände dieses ambitionierten Edgar Bierende
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Buchprojektes heraus. Hierin werden die wichtigsten und besten Kupferstiche, von Marcantonio Raimondi bis etwa 1725, vorgestellt. Pro Band wird eine Schule bzw. eine Kunstlandschaft mit ihren wichtigsten Protagonisten und Werken beschrieben. Der erste Band beginnt mit den berühmtesten Werken der florentinischen und römischen Schule, der zweite beinhaltet die lombardische und bolognesische Malerei, der dritte die venezianische Kunst und der vierte vereint Kupferstiche nach den besten Gemälden der Niederlande. Sowohl England und Frankreich als auch Deutschland fehlen. Für ein solches Projekt bedurfte es der Autopsie der besten und umfangreichsten grafischen Sammlungen Europas. Hierzu zählte Füssli Dresden, Wien und Paris.7 Er selber nennt einige große fürstliche und königliche Gemäldesammlungen, deren Bilder mittels Kupferstichen veröffentlicht wurden. In adäquater Weise, in Form von wahren »Meisterstücken« wurde für ihn jedoch nur die Gemäldesammlung Ludwigs XIV. nachgestochen. Zu oft würde – so bedauert er – ökonomischen Gründen und einem modischen Zeitgeschmack gefolgt, statt die wahren ästhetischen Grundsätze zum Maßstab zu nehmen.8 III
Füsslis Kritisches Verzeichnis ist explizit für Kunstliebhaber und Sammler sowie implizit für junge Künstler geschrieben.9 Diese gilt es zu schulen, da er einen Verfall des zeitgenössischen Kunstgeschmacks zu erkennen glaubt. Den Niedergang sieht er vor allem im Bereich der Malerei und weniger im Medium des Kupferstichs. Zudem lasse sich der kulturelle Verfall je nach Nation unterschiedlich beschreiben.10 Um den kulturellen Niedergang aufzuhalten, übt er den dezidierten Schulterschluss mit den neuen Vertretern des deutschen Klassizismus, den Wiederherstellern des guten Geschmacks. Diese waren der Maler Anton Raffael Mengs (1728 – 1779) und der Gelehrte Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768).11 Beide wurden im Kreis der Familie Füssli als Autoritäten hoch verehrt und geschätzt. Für die von Hans Rudolph Füssli gewählte Terminologie und Theorie stellten Mengs und Winckelmann die Grundlagen bereit.12 Die Gefahr des Verfalls eines deutsch-schweizerischen Kunstgeschmacks rührte nach Füsslis Erachten zum einen aus der unbedachten Übernahme einer französischen Kunst und zum anderen aus der hierarchischen Abstufung der Gesellschaft, in der nur der Adel bestimmend sei und Bürger wie Künstler, da der unteren »von der grossen Welt entfernt«
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Klasse angehörend, ohne jede Stimme seien.13 Hier wird die republikanische Haltung des eidgenössischen Bürgers Füssli deutlich. Wie viele seiner Zürcher Zeitgenossen sagte auch Füssli dem zeitgenössischen Luxus – vor allem dem französischen Geschmack – den Kampf an. Wohingegen er einer Kunst, die sowohl Sinne als auch Verstand zugleich anspricht, unter den Parametern von Moral und Pädagogik das Wort redet. Eingelöst sieht er diese beispielhaft in der Zeit der Antike, unter den Medici und während der Regierungszeit Ludwigs XIV.14 Füssli war es in seinem Buch vor allem um die Darlegung der »wahren ästhetischen Grundsätze[ ]« unter Berücksichtigung wissenschaftlicher, also argumentativ nachvollziehbarer Kriterien zu tun.15 Ästhetische Grundsätze werden für ihn erst anhand guter Kupferstiche beschreibbar. Das wohl wichtigste Qualitätskriterium für gute Nachstiche sieht er dann gegeben, wenn der Kupferstich bzw. die dafür notwendige Vorzeichnung vor dem Originalwerk entstanden.16 Jedoch lässt sich in der Regel gerade dieses Qualitätskriterium am Nachstich nicht nachvollziehen, da ja die Grafik das Original vertritt, es als Abwesendes definiert, weshalb erst über einen begleitenden Text, der in der Regel Entstehungsort und Titel des Originals nennt, dieser Zusammenhang ablesbar wird. Hieraus ergibt sich, dass der Reproduktionsstich des erklärenden Textes bedarf, also ein hybrides Medium darstellt, welches erst durch die mediale Kombination und durch den gegenseitigen Verweis Evidenz erzeugt: Wahr ist das Bild, weil der Text es bezeugt, und echt ist der Text, da das Bild dies zeigt. Diese chiastische Struktur bedarf des lesenden und sehenden Betrachters, nicht jedoch des Originals, da diese Referenzebene aufgrund der Inhärenz der Text-Bild-Struktur, auch wenn sie eine tautologische ist, verzichtbar wird. Um es noch deutlicher zu sagen: An die Stelle des Originals tritt in der Regel der Text, denn nicht der Vergleich mit dem Original führt zu einem fortschreitenden Erkenntnisprozess, sondern der intermediale Vergleich zwischen Bild und Text, vor allem in Form von Beschreibungen und Interpretationen, schult und entwickelt die empirische Wahrnehmung. Folgt man Füsslis Ausführungen weiter, dann lässt sich nur an solchen Nachstichen, die nach einem Original entstanden, der dominierende Geist und das Charakteristische eines Originals eines Künstlers oder einer Malerschule deutlich nachvollziehen.17 Es geht ihm vor allem um den »dominierenden Kunstcharakter«, das »mahlerische Gefühl« und den »wahren Ausdruck« eines Gemäldes Edgar Bierende
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im Kupferstich.18 Kunstcharakter, malerisches Gefühl und wahrer Ausdruck seien nur dann zu erzielen, wenn der Stecher über ein »feines Kunstgefühl« verfüge.19 Genau hierfür müsse dieser gleich mehrere Begabungen besitzen. Er müsse ein Meister der Zeichnungskunst sein, die Regeln der Kupferstecherkunst genauso wie der Malerei und der Anatomie beherrschen und ein Abstraktionsvermögen besitzen, um von der Farbe der Malerei abzusehen. 20 Doch nicht allein die meisterliche Beherrschung des Grabstichels, sondern auch der Radiernadel wird von Füssli in Hinblick auf einen qualitätvollen Nachstich eingefordert.21 Es gelte, diese zwei »Manieren« miteinander zu verbinden, um sowohl das zeichnerische als auch das malerische Element eines Bildes festzuhalten. Die eigentliche Qualität eines Stiches liegt für Füssli weniger in den Wirkungen von Licht und Schatten als vielmehr in »alle[n] Theile[n], [die] ein mehr für den Verstand als für das Auge zusammengesetztes Ganzes darstellen«.22 Die betonte Herausstellung des Verstandes im Gegensatz zur einfachen Sinnlichkeit des Auges steht in seiner Argumentation im Vordergrund. Hiermit wird die doppelte Leistung des Betrachters herausgestellt, der über den bloßen Akt des Sehens hinaus durch die kritische Verstandesleistung, also über den bewussten Akt des analytischen Vergleichs sinnliche Qualitäten benennen und bewerten kann. Durch Vergleiche unterschiedlicher Kupferstiche lassen sich zudem Aussagen und Erkenntnisse in Hinblick auf Nationalität und Qualität gewinnen. Gilt es doch, »verschiedene Wirkungen des Genies verschiedener Nationen« zu unterscheiden und »das Schönste von dem minder Schönen [zu] abstrahiren«.23 Den längsten Abschnitt innerhalb seines Vorwortes bzw. Kapitels »Betrachtung über den Kunstgeschmack in diesem Jahrhundert« widmet er den europäischen Nationen, die sich Verdienste im Bereich des Kupferstichs erworben haben.24 Beginnend mit Frankreich und Italien, dann mit Deutschland und Holland fortfahrend, kommt er zur englischen Kupferstichproduktion, die er im Gegensatz zur französischen im Aufschwung sieht.25 Die rühmende Feststellung Füsslis, dass die Engländer alle anderen Nationen in Hinblick auf einen guten und wahren Geschmack weit hinter sich zurückgelassen hätten, sieht er in dem Umstand begründet, dass diese Nation eine natürliche Neigung zum »Einfachen in der Natur und zur Ernsthaftigkeit im Denken« ihr eigen nenne, und dies, obgleich sie selbst keine Maler und Kupferstecher in der Gattung der Historie aufzuweisen hätten.26 Ein Vergleich mit der Situation in der Eidgenossenschaft drängt sich bei dieser Beschreibung »von der grossen Welt entfernt«
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Füsslis geradezu auf, da auch der Schweizer Mentalität in jener Zeit sowohl Einfachheit als auch Ernsthaftigkeit zugesprochen worden waren und eigenständige Leistungen im Bereich der Historienmalerei und Reproduktionsgrafiken weitgehend fehlten. England konnte aus dieser Perspektive für die Schweiz gleich in doppelter Weise zum Vorbild werden. IV
Die wichtigste Gattung der Malerei ist die Historienmalerei. Meisterstücke dieser Gattung sind rar, da nur wenige Werke Edgar Bierende
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ihre volle Bedeutung sowohl im Ganzen, wie auch in den einzelnen Teilen zeigen. Als Historienmaler müsse man – laut Füssli – mehrere Eigenschaften in sich vereinen: »Tiefsinn«, »Überlegung«, »Kenntniß der Geschichte und des Kostüms« sowie »dichterische[s] Genie«.27 Der wohl wichtigste Künstler, der all diese Eigenschaften in sich vereint, war Raffael. Bereits in der Einleitung wird dieser Maler mehrmals genannt, seine Bilder vielfach gelobt.28 Das unbestreitbare Hauptwerk Raffaels war für Füssli, wie für viele andere, die Verklärung Christi [Abb. 1].29 Um dieses Altarblatt rankten sich bereits zu Vasaris Zeiten Legenden. So behauptet »von der grossen Welt entfernt«
1 Raffael, Verklärung Christi, um 1518 –1520.
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jener, dass dies das letzte Werk Raffaels gewesen sei, über das der Maler, noch bevor er es vollenden konnte, verschied.30 Mit dieser Künstlerlegende wurden der Höhe- und der Endpunkt im Schaffen Raffaels in mythischer Weise verklärt, als nahezu unerreichbares Ziel aller nachfolgenden Künstlergenerationen entrückt. Das Bild des toten Raffael, der in seiner Werkstatt unter seinem letzten großen Werk aufgebahrt liegt, wurde zum Synonym der wahren Kunst, wurde zum Bild der Apotheose der Kunst schlechthin. Doch zurück zur Verklärung Christi von Raffael: Füssli beschreibt – anhand von Reproduktionen – ausführlich das Meisterwerk in allen seinen Teilen, um das Ganze, den »dominierenden Kunstcharakter«, den »wahren Ausdruck« zu würdigen. Diese scheinbare Paradoxie, das Wahre anhand von Stichen beschreiben zu wollen, löst sich in dem Augenblick auf, wenn man sich bewusst macht, dass nicht das Original, sondern Texte und Nachstiche als Referenzsysteme für den intellektuellen Vergleichs- und Erkenntnisprozess dienen. Vor diesem Hintergrund gewinnen Autoritäten, wie Winckelmann, Mengs und Johann Caspar Lavater (1741–1801), an Bedeutung, auch wenn diese bei Füssli im Zusammenhang mit seiner Beschreibung und Bewertung der Verklärung Christi nicht explizit genannt werden. Bei seiner Beschreibung spart Füssli weder mit Lob noch mit Tadel. Gilt es doch in wissenschaftlicher Weise das Schöne durch Subtraktion des Schlechten herauszuarbeiten. Besonders in zwei sich im Vergleich kontrastierenden Figuren sieht er den Maßstab der Kunst verbildlicht: Christus in der oberen Bildmitte und der besessene Knabe am rechten unteren Bildrand. Das Gesicht Christi ist für ihn, wie zuvor bei Lavater und in Analogie zu einer Denkfigur von Mengs, Inkarnation und göttliche Offenbarung der wahren Schönheit: »[…] das Gesicht ist ein wahres Ideal von körperlicher und geistiger Schönheit; die Augen sind scharf aufwärts gerichtet, und verrathen, so wie der Mund und alle wirkenden Theile des Gesichts, ein wonnevolles Gefühl ernsten Vergnügens und höchster Seligkeit«.31 Dem Grundsatz seiner ›wahren Ästhetik‹ folgend sieht er in den Teilen und im Ganzen des Gesichtes sowohl sinnlich körperliche Qualitäten gegeben als auch abstrakte Prinzipien verbildlicht, die sich mit der geistigen Bedeutung der göttlichen Darstellung zur wahren Schönheit verbinden. Edgar Bierende
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Quasi als Gegenstück zum schönen Christus beschreibt Füssli den besessenen Knaben. In seiner Figur sieht er die »Bedeutung«, die erhabene Idee des bemitleidenswerten Menschen gegeben. Raffael stellte diesen mit höchster Kunstfertigkeit im Sinne des »wahren Ausdrucks« dar, da hier Anatomie und Natur richtig wiedergegeben seien. Und obgleich hier Besessenheit, Zuckungen und Krämpfe zu sehen sind, empfinde man keinen Ekel oder Widerwillen, sondern – dank Raffaels Kunstfertigkeit – Mitleid mit dem tragischen Knaben. Raffael habe es verstanden, dieser Figur etwas »feines und anzügliches zu geben, [so] daß man sich innigst für sie interessiren muß«.32 Füssli beschreibt den besessenen, tragischen Knaben ausführlich: »Die Mutter, eine elegante weibliche Figur, deutet einem nahe sitzenden Jünger auf den Knaben, in dessen Figur, nach meinem Erachten, die Kunst gleichsam erschöpft ist. Er ist eben in dem höchsten Paroxismus convulsivischer Zuckungen vorgestellt; das Haupt rückwärts gegen den ihn haltenden Vater gedrückt, die Augensterne in verschiedener Richtung aufwärts gedrehet; der Mund schief aufgespannt; die Gesichts-Muskeln aufgetrieben, erscheinet ein nicht wildes oder wüthendes, sondern ein geplagtes, gemartertes und wider eigenen Willen aus den gewöhnlichen Verhältnissen gezogenes, wehmüthiges Gesicht, dessen Anblick nicht Entsetzen und Eckel, sondern wahres Mitleiden und Bedauern erweckt.«33 Dass sich Füssli vor allem für die Wiedergabe der einzelnen Charaktere in den Bildern Raffaels interessierte, wird verständlich vor dem Hintergrund der durch Lavater in Zürich geleisteten physiognomischen Forschungen und Studien. Lavater bevorzugte das Abbild und nicht das Gesicht eines lebendigen Menschen für seine Analysen.34 Das detaillierte Hinsehen und vergleichende Sehen an Bildern stand bei ihm im Zentrum. 35 Dieses empirische Verfahren – geschult und entwickelt an der bildenden Kunst – fand bei ihm in allen Bereichen Anwendung. Sowohl exemplarisch als auch ironisch wird dies am Titelkupfer des vierten Bandes seiner Physiognomische[n] Fragmente vorgeführt [Abb. 2]. Hier haben sich einige Bürger vor einem Gemälde versammelt, um sich in der kritischen Betrachtung desselben zu üben. Erst durch das vergleichende Sehen, also durch den Prozess der komparativen Beschreibung und der kritischen Analyse, erhielten Bilder einen neuen quasi »von der grossen Welt entfernt«
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2 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, 1778, Titel. 3 Nächste Seite links: Cornelis Cort nach Raffael, Verklärung Christi, 1573. 4 Nächste Seite rechts: Simon Thomassin nach Raffael, Verklärung Christi, 1680.
wissenschaftlichen Stellenwert, da sie für nachvollziehbare Aussagen, für Falsifizierung und Verifizierung die Grundlage bildeten. Mit solchen skriptiven Diskursen und oralen Streitgesprächen stieg die gesellschaftliche Bedeutung der Bilder im aufstrebenden Bildungsbürgertum. Bilder wurden zum Ausgangspunkt von philosophischen Betrachtungen und Experimenten, in denen das Zusammenwirken von Sinnlichkeit und Logik erprobt werden konnte. Hierfür benötigte man herausragendes Bildmaterial, weshalb es nicht nur gut ausgebildeter Künstler, sondern auch eines detaillierten Kriterienkataloges bedurfte, auf dessen Grundlage die Werke der Künstler beschrieben, verglichen und beurteilt werden konnten. Je weiter die Anzahl der Kriterien wuchs, desto umfangreicher und detaillierter wurden die Bildbeschreibungen und -bewertungen. In diesem Zusammenhang ist dann auch Füsslis Kritisches Verzeichnis zu sehen. Kunstliebhaber und Künstler sollten zu Kennern ihrer Materie werden. Schulung und Bildung der angehenden Kunstkenner und Künstler bedurften eines Austausches, der mittels theoretischer Schriften nur im Sinne von flankierenden Maßnahmen zu betreiben war. Texte allein boten keinen Ersatz für das intensive Studium der Bilder. In diesem Kontext und in Anbetracht der Absenz der Originale erlangten grafische Sammlungen einen hohen Stellenwert, da nur dort in idealer Weise Schulung und Vergleich zu betreiben war.36 Für derartige didaktische Ziele boten sich Reproduktionsstiche nach berühmten Kunstwerken besonders an, da sich Edgar Bierende
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hier Seh- und Geschmacksschulung auf höchstem Niveau, strukturiert und vorformuliert durch die Kunsttheorie, betreiben ließ. Füssli schließt an seine ausführliche Bildbeschreibung von Raffaels Verklärung Christi, die er selber nie im Original gesehen hatte, drei weitere Beschreibungen von Kupferstichen an, die dasselbe Motiv wiedergeben. Diese hat er unter den zahlreichen Nachstichen ausgewählt, da sie sich durch eine hohe Qualität besonders auszeichnen. Bei der Vorstellung der Blätter geht er chronologisch vor und stellt dabei den Aspekt einer Steigerung der Bildwiedergabe heraus. Zudem bezieht er die einzelnen Bildbeschreibungen durch komparative Formulierungen im Text wiederholt aufeinander. Als Grundlage für Auswahl, Beschreibung und Beurteilung der Qualität der Nachstiche dient ihm sowohl seine vorangestellte Beschreibung als auch die in der Kunsttheorie und speziell an Raffaels Kunst entwickelten Kriterien, wie Erfindung und Komposition, Draperie, Licht und Schatten sowie Darstellung von Leidenschaften und Grazie. Diese zentralen Begriffe werden in eigenständigen Abschnitten vor den wertenden Beschreibungen der Nachstiche verhandelt und gehen in dieser Zusammenstellung auf Mengs zurück.37 Für Füssli ist also nicht das Original in Rom der Maßstab des Vergleichs, sondern es sind Begriffe der Kunsttheorie und der direkte Vergleich der Nachstiche untereinander. Aus diesen medialen Nachschöpfungen entsteht ein imaginäres Bild, ein begriffliches Gemälde im Geiste Füsslis. »von der grossen Welt entfernt«
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Zuerst nennt er den Zeichner und Kupferstecher Cornelius Cort (1533 –1578), der, wie er herausstellt, in Rom lebte und seine Arbeit daher vor dem Original ausführen konnte [Abb. 3]. Zwar vermochte der Niederländer »eine richtige Idee von der Erfindung, der Anordnung der Figuren, dem großen Styl der Zeichnung und Drapperien« in der Verklärung Christi zu geben, jedoch mangelte es ihm an einer detaillierten und genauen Wiedergabe der »individuellen Schönheit«.38 So sieht Füssli, worauf er in seiner Beschreibung besonderen Wert legt, den Charakter der Köpfe nur mittelmäßig bis gar nicht getroffen: Dem Gesicht Christi fehle das Erhabene und dem besessenen Knaben mangele es am Feinen und Edlen. Der zweite Kupferstecher, den Füssli vorstellt, ist Simon Thomassin (1655 – 1733). Auch er lebte wie Cort in Rom und zeichnete nach dem Original [Abb. 4]. An Thomassins Arbeit hebt Füssli positiv hervor, dass dieser im Gegensatz zu Cort, ein Mehr an »Gefühl für das Feine des Ausdrucks, und mehr Abwechslung in der Behandlung des Grabstichels« zeige.39 Darunter verstand Füssli Edgar Bierende
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wohl, dass Thomassin die malerischen Details der Oberflächen, wie Haut und Stoff, besser als Cort darzustellen verstand.40 Thomassins genauere Zeichnung und sein besseres Einfühlungsvermögen befähigten ihn dazu, Charakter und Ausdruck der Gesichter näher dem Original verpflichtet wiederzugeben. Jedoch fehle auch hier, wie Füssli vermerkt, immer noch »das hoch Erhabene in dem Gesicht Christi, und das ausserordentlich Feine und Bedeutende in der Figur des besessenen Knaben«.41 Zum besten Kupferstecher kürt Füssli den Franzosen Nikolaus Dorigny (1658 –1746). Auch dieser lebte und schuf seinen Kupferstich nach der Verklärung Christi in Rom [Abb. 5]. An ihm rühmt Füssli den meisterlichen Einsatz und die gleichzeitige Beherrschung von Grabstichel und Radiernadel, da sich hierüber sowohl Zeichnung als auch Malerei in adäquater Weise wiedergeben ließen. Besonders bewundert Füssli an Dorigny dessen »ästhetisches Gefühl«, das ihn dazu befähigte, das Ganze wie die Teile eines Bildes und somit den »wahren Ausdruck«, den »dominierenden »von der grossen Welt entfernt«
5 Nicolas Dorigny nach Raffael, Verklärung Christi, 1705.
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Kunstcharakter«, die für Raffael so bedeutsame »Idealschönheit« zu erfassen.42 Unter dem Begriff der Idealschönheit, den Füssli der Kunsttheorie seiner Zeit entnommen hat,43 versammelt der Zürcher die besten Qualitäten: Anmut, Eleganz, Grazie, Leichtigkeit, Erhabenheit und Wahrheit. Nach seiner Auffassung war Dorigny zudem in der Lage, einen Mittelweg in seinem Kunstschaffen zu wählen, der zum Ausgleich zwischen der eigenständigen kraftvollen Einbildungskraft und der besonders feinen und detailreichen Schraffierung in der Reproduktion führte. Füssli feiert Dorignys Nachstich in doppelter Weise, da er das vollkommenste Werk des Kupferstichs nach dem schönsten Gemälde der Welt sei. Am Ende macht Füssli noch eine Anmerkung, in der er auf einen vierten Stich nach der Verklärung Christi hinweist. Dabei handelt es sich um das Werk von Pierre Drevet (1663 –1738), welches in Füsslis Augen alle zuvor genannten Blätter in »Feinheit und Zierlichkeit« übertrifft.44 Doch genau diese Sorgfalt in der Ausführung nimmt den Gesichtern die für Raffael so bedeutsame »Energie«, unterläuft das »Geistige« des Ausdrucks, so dass der für die französische Kunst schon zuvor konstatierte Niedergang hier exemplarisch festzumachen ist. Eine solche überfeinerte Manier, gekoppelt mit dem Umstand, dass der französische Stecher niemals in Rom war und daher seinen Nachstich, wie Füssli mutmaßt, auf der Grundlage einer fremden Zeichnung erstellte, diskreditiert das Blatt zusätzlich. V
Zum Abschluss lässt sich die provokante Frage formulieren, ob nicht die Absenz des Originals in der Schweiz den produktiven Prozess des Vergleichs zwischen den Nachstichen und damit den Beginn der Kunstgeschichte maßgeblich befördert hat. Daran lässt sich die These knüpfen, dass das Original-Gemälde, welches per se einzigartig ist, gerade mit dieser Qualität der Unvergleichbarkeit eine kritische Analyse und Beschreibung erschwert. Solch ein Hemmnis wurde schon im 18. Jahrhundert gesehen.45 – Wie an Füsslis Publikation gezeigt werden konnte, eröffnet der direkte Vergleich von verschiedenen Stichen zum selben Original unter den Parametern der Kunsttheorie die Möglichkeit einer wertenden Beschreibung, eines begründeten Urteils. Erst über die Analyse unterschiedlicher Nachstiche treten die jeweiligen Qualitäten und Mängel der Reproduktionen sichtbar hervor, die im Umkehrschluss auf das Original jenes in neuer Weise sichtbar und beschreibbar werden lassen. Genau dieses Potential machte den Kupferstich für die Edgar Bierende
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Beurteilung des abwesenden Originals und für eine vergleichende Kunstgeschichte so wertvoll, da Gegenüberstellungen die Grundlage für eine nachvollziehbare, wissenschaftliche Deskription bilden. Hier beginnt die eigentliche kunsthistorische Analyse. Vergleiche öffnen die Augen.
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Endnoten 1 Johann Rudolf Füssli, Allgemeines Künstlerlexicon, oder: Kurze Nachricht von dem
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Leben und den Werken der Mahler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Kunstgiesser, Stahlschneider […], 2 Bde. mit 2 Supplementen, Zürich 1763 –1771, Suppl. 1, 1767, S. VI. Rudolf Schnyder, Zürich im Blick auf die bildende Kunst, in: Helmut Holzhey und Simone Zubuchen (Hg.), Alte Löcher – neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Aussenund Innenperspektiven, Zürich 1997, S. 101–111, hier S. 108. Verzeichniß der Kunstwerke, die den 17. May 1824 auf Veranlassung der Künstler-Gesellschaft in Zürich öffentlich ausgestellt worden, Zürich 1824. In diesem Verzeichnis finden sich viele Bilder, die nach berühmten Werken gemalt waren. Vgl. Florens Deuchler, Kunstbetrieb, Disentis 1987, S. 100; Schnyder, Zürich im Blick (Anm. 2), S. 108. Füssli, Allgemeines Künstlerlexicon (Anm. 1), Bd. 1, 1763, S. [III]: »Es ist zwar gewiss; vor dreissig und mehr Jahren waren wenige Cabinette von Mahlereyen bey Privat-Personen meiner Nation zu sehen […]«. Vgl. Paul Ganz, Zürcher Kunstsinn und Kunstsammeln, Zürich 1943; Schnyder, Zürich im Blick (Anm. 2), S. 101–111; zuletzt: Benno Schubiger, Dorothea Schwinn Schürmann und Cecilia Hurley (Hg.), Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz, Genf 2007. Peter Jezler, Der Bildersturm in Zürich 1523 –1530, in: Cécile Dupeux, Peter Jezler und Jean Wirth (Hg.), Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? Zürich 2000, S. 75 – 83 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Bern und Straßburg 2000/01]. Michael Huber, Handbuch für Kunstliebhaber und Sammler über die vornehmsten Kupferstecher und ihre Werke. Vom Anfange dieser Kunst bis auf gegenwärtige Zeit, chronologisch und in Schulen geordnet, nach der französischen Handschrift des Herrn M[ichael] Huber bearbeitet von C[arl] C[hristian] H[einrich] Rost, 9 Bde., Zürich 1796 –1808; als Fortsetzung und Verbesserung von: Johann Caspar Füssli, Raisonirendes Verzeichniß der vornehmsten Kupferstecher und ihrer Werke. Zum Gebrauche der Sammler und Liebhaber, Zürich 1771. Hans Rudolf Füssli, Kritisches Verzeichnis der besten, nach den berühmtesten Mahlern aller Schulen vorhandenen Kupferstiche, 4 Bde., Zürich 1798 –1806, Bd. 1, S. 5f. Bereits 1772 schrieb Füssli sein erstes Verzeichnis in Wien. Ein fünfzehnjähriger Aufenthalt in Ungarn unterbrach diese Studien und führte daher erst 1798 zur Publikation. Ebd., S. 22 – 25. Ebd., S. 36. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37, 44f.; vgl. auch: Johann Caspar Füssli, Geschichte von Winckelmanns Briefen an seine Freunde in der Schweiz, Zürich 1778; Johann Joachim Winckelmann, Winckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz, hg. v. Leonhard Usteri, Zürich 1778; Johann Joachim Winckelmann, Winckelmanns Briefe an seine Züricher Freunde. Nach den auf der Züricher Stadtbibliothek aufbewahrten Originalen […], hg. v. Hugo Blümmer, Freiburg i. Br./Tübingen 1882. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 35. Ebd., S. 46; vgl. auch Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, Die Kunst der Interpretation. Französische Reproduktionsgraphik 1648 –1792, München/Berlin 2003, S. 57. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 47. Füssli nennt zwar nicht die Schriften von Winckelmann, Vasari und Voltaire, die diese drei Zeiten besonders rühmten und wegen der damaligen glorreichen Kunstproduktion in ein strahlendes Licht tauchten, aber seine Übernahme der Bewertung dieser drei Glanzzeiten ist ein beredtes Zeichen für die Kenntnis der Schriften dieser Autoren. Die drei Publikationen sind: Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst [1755], in: ders., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v.Walther Rehm, Berlin/New York 2002, S. 28 – 59, hier S. 29; Giorgio Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567, übers. v. Ludwig Schorn und Ernst Förster, Stuttgart/Tübingen 1832,
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neu hg. v. Julian Kliemann, Worms 1983, Bd. 1, S. 2 –10; François-Marie Voltaire, Das Zeitalter Ludwigs XIV. [Le siècle de Louis XIV., 1751], München [1975 – 1982]. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 3. Ebd., S. 16f.; Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 38f., 48, 51; vgl. auch Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 1, 1796, S. 1– 29. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 4; vgl. auch Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 1, 1796, S. 62f.; Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 55f. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 3, 7f., 10f., 15, 17, 21. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9 –11; Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 48f. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 12; Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 57. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 14, 30; vgl. auch Anton Raphael Mengs, Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack der Malerey [1762], [hg. v. Johann Caspar Füssli], Zürich 1774, S. 17f., und S. 73: »Die Ursache aber, warum Raphaels Werke nicht einem jeden, sobald wie andre Werke gefallen, ist, daß seine Schönheiten, Schönheiten der Vernunft und nicht der Augen sind […].« Vgl. Steffi Roettgen, Anton Raphael Mengs: 1728 –1779, München 2003, Bd. 2: Leben und Werk, S. 193 –201. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 4; vgl. auch Mengs, Gedanken über die Schönheit (Anm. 22), S. 19: »Alle menschlichen Werke sind unvollkommen, und wenn wir etwas vor vollkommen preisen, so ist es, daß wir die Fehler nicht erkennen.« Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 49 – 67. Ebd., S. 58f. Ebd., S. 67. Vgl. auch Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 9, 1808, S. 25f. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 30. Ebd., S. 18, 30 – 32; vgl. auch: Mengs, Gedanken über die Schönheit (Anm. 22), S. 124. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 115 –125; vgl. auch Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Leipzig/Winterthur 1778, Bd. 4, S. 447f.; Manfred Ebhardt, Die Deutung der Werke Raffaels in der deutschen Kunstliteratur von Klassizismus und Romantik, Diss. Göttingen 1969, Baden-Baden 1972, S. 27f., 55f. Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler (Anm. 14), Bd. 3. 1, S. 237 –239. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 118; Mengs, Gedanken über die Schönheit (Anm. 22), S. 27: »Da Gott allein die Vollkommenheit zur Eigenschaft hat, so ist die Schönheit ein göttliches Wesen: Je mehr Schönheit in einer Sache ist, je mehr ist sie geistig«. Lavater, Physiognomische Fragmente (Anm. 29), Bd. 4, 1778, S. 447: »Aus der berühmten Verklärung, […] ein erhabenes Gesicht [von Christus]. Groß durch Einfachheit und Unverworrenheit aller Theile; besonders auch durch die Augenbogen, und den breiten parallelen Rücken der Nase.« Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 121. Ebd., S. 120f. Lavater, Physiognomische Fragmente (Anm. 29), Bd. 2, 1776, S. 90. Dieses Grundprinzip findet sich in allen Bänden und an vielen Beispielen vorgeführt, wie etwa ebd., S. 83. Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 1, 1796, S. 50f.; vgl. auch Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 56 – 58. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 91–108; vgl. auch dieselben Kategorien bzw. ähnlichen Kapitelüberschriften bei Mengs, Gedanken über die Schönheit (Anm. 22), S. 75 –119. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 122; vgl. auch Füssli, Raisonirendes Verzeichniß (Anm. 6), S. 111; Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 5, 1801, S. 126f.; Raphael: Reproduktionsgraphik aus vier Jahrhunderten. Kataloge der »von der grossen Welt entfernt«
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Kunstsammlungen der Veste Coburg, Coburg [1984], S. 55, Nr. 167; Corinna Höper (Hg.), Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk in Zeitaltern seiner graphischen Reproduzierbarkeit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 273, Nr. C 22.3 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Stuttgart 2001]. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 123. Ebd., S. 123; vgl. auch Füssli, Raisonirendes Verzeichniß (Anm. 6), S. 316; Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 7, 1804, S. 316 – 318; Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 101f., Nr. 47; Raphael: Reproduktionsgraphik (Anm. 38), S. 55; Raffael und die Folgen (Anm. 38), S. 274, Nr. C 22.6. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 123. Ebd., S. 85; vgl. auch Mengs, Gedanken über die Schönheit (Anm. 22), S. 25; Füssli, Raisonirendes Verzeichniß (Anm. 6), S. 305f.; Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 7, 1804, S. 364f.; Raphael: Reproduktionsgraphik (Anm. 38), S. 55; Raffael und die Folgen (Anm. 38), S. 274, Nr. C 22.7; Gramaccini und Meier, Die Kunst der Interpretation (Anm. 13), S. 106f., Nr. 59. Vgl. Mengs, Gedanken über die Schönheit (Anm. 22), S. 77, der zwar nicht den Begriff der »Idealschönheit« verwendet, doch in Bezug auf Raffael und dessen Suche nach der Schönheit in der antiken Kunst von »Idealische[n] Bilder[n]« spricht; Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Wien 1776, S. 267: »idealische Schönheit«. Zur Einführung und Verwendung des Begriffs ›Ideal‹ bzw. ›Idealschönheit‹ als wissenschaftlicher Terminus in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin/New York 2000, Bd. 2, S. 113 – 118. Füssli, Kritisches Verzeichnis (Anm. 7), Bd. 1, 1798, S. 125. Huber, Handbuch für Kunstliebhaber (Anm. 6), Bd. 1, 1796, S. 57: »Die Art von kritischer Untersuchung ist die beßte, wenn man sich bemüht die Blätter der berühmtesten Kupferstecher zu studieren, ihre verschiedenen Manieren gegeneinander zu halten, daraus zu sehen auf wie mancherley Arten verschiedene Wirkungen hervorgebracht werden, und aus allem diesem das Beßte kennen zu lernen; denn, wie wir schon gesagt haben, so ist es weit leichter, die Kenntniß der Kupferstiche als die der Gemählde zu erlangen.«
Abbildungsnachweis 1 Raffael, Verklärung Christi, um 1518 –1520, 405 × 278 cm, Öl auf Holz, Pinacoteca Va-
ticana, Rom. Foto: Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern. 2 Daniel Chodowiecki und Johann Heinrich Lips, Titelkupfer (Betrachtung des Gemäl-
des Der Abschied des Calas von seiner Familie), in: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Leipzig und Winterthur 1778, Bd. 4. Foto: Universitätsbibliothek der Universität Bern. 3 Cornelis Cort, nach Raffael, Verklärung Christi, 1573, 540 × 377 mm, Kupferstich. Foto: Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern. 4 Simon Thomassin, nach Raffael, Verklärung Christi, 1680, 75 × 461 mm, Radierung und Kupferstich. Foto: Archiv des Autors. 5 Nicolas Dorigny, nach Raffael, Verklärung Christi, 1705, 786 × 511 mm, Radierung und Kupferstich. Foto: Archiv des Autors.
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Original – Kopie – Fälschung? Kunstkennerschaft und der Diskurs über die Echtheit von Rembrandtwerken um 1900 Dorothea Peters
Im Jahr als Giovanni Morelli starb, begann Wilhelm Bode die Arbeit an einem Projekt, das die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung kunstwissenschaftlicher Methoden evident werden ließ und damit Probleme und Aufgaben einer zukünftigen Kunstwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, gleichsam wie in einem Brennglas, zusammenfassend bündelte. Nichts allerdings konnte Bode weniger gewollt haben als dieses, bedeutete eine Methodendiskussion doch die Fortsetzung jenes – durch Morellis Tod imaginär gewordenen – Wettstreits der beiden Protagonisten um die Krone der ›Kunstkennerschaft‹, der den internationalen kunstwissenschaftlichen Diskurs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts über weite Strecken dominiert hatte. Wilhelm Bode (1845 –1929), der seit Anfang der 1870er Jahre durch Europa reiste, um Kunstwerke für die noch junge Berliner Gemäldegalerie zu erwerben, wie auch Giovanni Morelli (1816 – 1891), der seit den 1850er Jahren als Kunstsammler und marchand amateur in Italien ein gefragter Ansprechpartner ausländischer Kunstkäufer geworden war, waren gleichermaßen angewiesen auf eine genaue Bilderkenntnis: Jeder Irrtum, jeder Fehlkauf hatte unmittelbare finanzielle Verluste und politische Angriffe zur Folge. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Wie aber konstituierte sich Bilderkenntnis, wie konstituierte sich Kunstkennerschaft? Hatte sich das Wissen über Kunst jahrhundertelang hauptsächlich aus archivalischen Dokumenten, aus tradierten, kaum hinterfragten Künstlerviten und den Inventaren der Galerien mit oft zweifelhaften Zuschreibungen gespeist, so war im 19. Jahrhundert mit der Einrichtung öffentlicher Museen, mit Eisenbahn und Fotografie das Kunstwerk selbst immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. Hand in Hand mit der Verallgemeinerung der Bilderkenntnis professionalisierte sich auch die Kunstwissenschaft. Parallel zu den grundlegenden kunstgeschichtlichen Handbüchern von Franz Kugler und Karl Schnaase entstanden Künstlermonografien und kritische Galeriekataloge, die auf gründlicher Autopsie, auf dem direkten Augenschein der Bilder beruhten und damit auch in der Kunstwissenschaft jene neue epistemische Orientierung markierten, die von der literarischen, archivalischen Quelle hin zum Kunstwerk selbst führte. Die Konzentration auf das einzelne Kunstwerk rückte Fragen seiner Zuschreibung in den Vordergrund und ließ den ›Kunstkenner‹ zum Hauptakteur kunstwissenschaftlicher Forschung werden, der in der Lage war, »ausschließlich durch eigenes Sehen, Beobachten, Studieren ein Kunstwerk einzuordnen in die Kunst eines bestimmten Landes, einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Künstlers«.1 Wichtigstes Instrument der Kunstkennerschaft war das vergleichende Sehen, das freilich auf sehr unterschiedliche Weise praktiziert wurde: Für ›orthodoxe‹ Kunstkenner war der ›Totaleindruck‹ eines Gemäldes entscheidend, der blitzschnell mit bereits gespeicherten Bildern von Bildern abgeglichen wurde; Urteile über die Zuschreibung eines Kunstwerks, über Kopie oder Fälschung wurden also auf der Basis umfassender individueller Bilderkenntnis und eines hervorragenden Bildgedächtnisses in einer Geschwindigkeit gefällt, »wie das Niesen auf die Prise folgt«.2 Diese ganz von der Intuition lebende, letztlich spekulative Methode, deren berühmteste Vertreter Giovanni Battista Cavalcaselle (1819 –1897) und – später – Wilhelm Bode waren, wurde seit den 1870er Jahren von Giovanni Morelli heftig angegriffen, einem promovierten Mediziner, der aus genauester Beobachtung, aus dem naturwissenschaftlich-exakten Vergleich der Formen bis in kleinste Details die Stilcharakteristika einzelner Künstler herauszuarbeiten suchte und auf diese Art eine Schule des Sehens, eine Objektivierung und Überprüfbarkeit der Kunsturteile, kurz: eine Verwissenschaftlichung der Kunstgeschichte anstrebte.3 Dorothea Peters
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Ging es Wilhelm Bode und Giovanni Morelli gleichermaßen um die ›Reinigung‹ von Bildbeständen und Zuschreibungen, d. h. um die Scheidung von Original, Kopie und Fälschung, so lag – bezogen auf ihre Publikationen – das Hauptverdienst von Morellis Untersuchungen zur italienischen Malerei der Renaissance in der kritischen Revision von Galeriekatalogen,4 während Bode in seinen Darstellungen zur holländischen Malerei einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung der Künstlermonografie leistete. Die langjährige Arbeit Wilhelm Bodes an einer umfangreichen Rembrandtmonografie machte nach einem über mehr als zwanzig Jahre von beiden Seiten mehr oder weniger polemisch geführten, 5 aber ungemein fruchtbaren wissenschaftlichen Diskurs zwischen den verschiedenen Fraktionen der ›Kunstkenner‹ deutlich, wie elaboriert die Methoden der Kunstgeschichte an der Wende zum 20. Jahrhundert waren, welche Autonomie diese sich als eigenständige Wissenschaftsdisziplin bereits erkämpft hatte, und welche Rolle der Fotografie und dem durch sie forcierten vergleichenden Sehen sowohl in der kunsthistorischen Forschung als auch im wissenschaftlichen Diskurs zukam. Auf die gut dokumentierte Entstehungsgeschichte der zwischen 1897 und 1905 im Verlag von Charles Sedelmeyer in Paris durch Wilhelm Bode herausgegebenen achtbändigen Rembrandtmonografie soll im Folgenden fokussiert werden.6 Während die durch Giovanni Morellis Kunstkritische Studien angestoßenen Debatten zu einem vergleichsweise avancierten Diskussionsstand über die italienische Malerei der Renaissance im Allgemeinen und – im Verein mit den Veröffentlichungen Johann David Passavants, Herman Grimms oder Anton Springers – zu einer weit verbreiteten Kenntnis über Raffael und sein Werk im Besonderen geführt hatten, ergab sich in Bezug auf Rembrandt und die holländische Malerei ein sehr viel nüchterneres Bild. Wegen seiner unorthodoxen Malweise und seiner oft als banal angesehenen, alltäglichen Sujets im 18. Jahrhundert wenig gemocht, wurde Rembrandt erst im 19. Jahrhundert durch Künstler wie Eugène Delacroix und John Constable neu entdeckt. 1836 hatte der Kunsthistoriker John Smith eine Monografie über Rembrandt mit einem Katalog von 636 Gemälden veröffentlicht. Um 1850 folgten durch Charles Blanc erste fotografische Publikationen der Radierungen, sowie Quellenforschungen und monografische Darstellungen von Pieter Scheltema (1853), Eduard Kolloff (1854), Théophile Thoré (›Wilhelm Bürger‹, 1858) und Carel Vosmaer (1863 bzw. 1868).7 Entwarfen insbesondere Bürger und Vosmaer ein eher romantisch Original – Kopie – Fälschung?
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geprägtes Bild von Rembrandt als »Maler des Lebens und der menschlichen Seele« (Vosmaer), das jenem Raffaels konkurrieren konnte, so konzentrierte sich Wilhelm Bode – wie zuvor schon Kolloff – in einer 1883 innerhalb der Studien zur Geschichte der holländischen Malerei erschienenen Abhandlung über Rembrandt auf die Darstellung der künstlerischen Entwicklung, die er ganz aus Rembrandts – in einem kritischen Verzeichnis ergänzend zusammengefassten – Werken entfaltete, und die ganz vom Bildersehen, vom Erlebnis der Bilder lebte.8 Wie Giovanni Morelli, sah Wilhelm Bode die eigene Anschauung als wichtigstes Instrument moderner Kunstgeschichtsforschung an und nahm, wie er schrieb, in das – nach den Auf bewahrungsorten geordnete – Werkverzeichnis, das 377 Gemälde umfasste, nur solche Bilder auf, die er »selbst gesehen und geprüft« hatte.9 Schon damals hatte Wilhelm Bode die Idee einer illustrierten Fortschreibung seiner Rembrandt-Studien, die – wie auch Giovanni Morellis kunsthistorische Studien über italienische Malerei von 1880 – keine Abbildungen der besprochenen Gemälde enthielten. Lebten die Publikationen Bodes und Morellis in ihrer wissenschaftlichen Argumentation zwar ganz vom Bildervergleich, so blieb dieser doch nur verbal, auf Bilder lediglich verweisend; die Kunsturteile ließen sich allenfalls auf dem Umweg über die Fotografienlager der Kunsthändler am (Ab-)Bild nachvollziehen und überprüfen.10 Der Mangel an Bildern in frühen kunsthistorischen Publikationen rührte daher, dass Fotografien vor 1880 kaum authentisch gedruckt werden konnten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts ließen sich Fotografien mit Hilfe der Autotypie preiswert, schnell und in guter Qualität auch im Text wiedergeben, erst dann also konnte ein Autor mit einer anonymen, über alle Welt verstreuten Forschergemeinde anhand von Fotografien kommunizieren und vergleichend argumentieren11 – freilich seine aus exklusiver Augenzeugenschaft resultierende Autorität aufs Spiel setzend. In den 1880er und 1890er Jahren erschienen erste illustrierte Verzeichnisse der Werke Rembrandts, so etwa von Eugène Dutuit (1883 – 1885) und Émile Michel (1886 bzw. 1893).12 Anders aber als Émile Michel, der seine Monografie 1886 publikumswirksam überwiegend mit illustrativen Holzstichen und Zinkätzungen nach Zeichnungen und Radierungen Rembrandts bebildert hatte, wollte Wilhelm Bode – wissenschaftlich wie technisch höchst anspruchsvoll – sämtliche Gemälde Rembrandts »in Nachbildungen von möglichster Treue und Vollständigkeit und in sorgfältigster Dorothea Peters
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kritischer Zusammenstellung«, also mit Hilfe der Fotografie wiedergeben.13 Die systematische fotografische Bestandsaufnahme von Rembrandts malerischem Werk, die Einbeziehung von Fotografien als Diskussionsgrundlage in den internationalen Rembrandtdiskurs sollte Wilhelm Bodes großes Verdienst werden und die kennerschaftlichen Methoden entscheidend modifizieren. Schwierig war es, für das von Bode geplante Werk einen Verleger zu finden, der bereit und in der Lage war, internationale fotografische Kampagnen zu organisieren, die durch das reichhaltige Bildmaterial äußerst kostspielige Buchherstellung zu finanzieren und den Vertrieb an eine – notwendigerweise potente – Klientel zu übernehmen. Nach längerer Suche fand Bode 1890 in dem aus Wien stammenden, in Paris lebenden Kunsthändler Charles Sedelmeyer (1837 –1925) einen Verleger, der sich zur privaten Finanzierung einer luxuriös angelegten Publikation bereit erklärte. Sedelmeyer, bei dem Bode seit Ende der 1870er Jahre bereits ein gutes Dutzend Bilder für die Berliner Gemäldegalerie erworben hatte, war ein ausgewiesener Kenner holländischer Malerei und, wie Bode, ein großer Verehrer Rembrandts, »von dessen Gemälden fast jeder zehnte Theil durch seine Hand gegangen ist«.14 Basierend allein auf der Arbeit von Wilhelm Bode und Charles Sedelmeyer, nur unter Mitarbeit des jungen Rembrandtforschers Cornelis Hofstede de Groot (1863 –1930), erschien schließlich nach langer Vorarbeit zwischen 1897 und 1905 in Paris das Werk Rembrandt. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst in acht großformatigen Bänden mit einem beschreibenden Verzeichnis und der Abbildung aller Gemälde Rembrandts. Dieser Catalogue raisonné, die »monumentalste Publikation, die wohl je einem Maler gewidmet worden ist«,15 enthielt fast 600 großformatige Heliogravuren, wurde in drei Ausgaben – englisch, französisch, deutsch – international vertrieben und kostete insgesamt 240.000 Mark. Die Komplexität des Rembrandtprojekts erforderte komplizierte Abläufe: Da die Gemälde im Werkverzeichnis nicht, wie noch in den Studien, nach Aufbewahrungsorten, sondern – wegen der zunehmend forcierten Rembrandtzirkulation auf dem internationalen Kunstmarkt – chronologisch geordnet werden sollten, setzte das Erscheinen des ersten Bandes über Rembrandts Frühwerk bereits eine sichere oder zumindest begründbare Datierung der einzelnen Werke und einen Überblick über das Gesamtwerk wie über Rembrandts künstlerische Entwicklung voraus. Zwar hatte Wilhelm Bode dazu in den Studien bereits wichtige Vorarbeiten geleistet, Original – Kopie – Fälschung?
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doch ergaben sich nun neue methodische Möglichkeiten; in den Fotografien nämlich, die als Vorlagen für die Abbildungen im Buch dienten, fand Bode jenes Hilfsmittel beim vergleichenden Ordnen der Bilder, das er in den Studien noch vermisst hatte.16 Erste Priorität hatten daher die fotografischen Kampagnen, in denen von Fotografen wie Ad. Braun (Dornach), Franz Hanfstaengl (München), Henry Dixon (London), J. Loewy (Wien) oder den Fratelli Alinari (Florenz) die über ganz Europa, über wenige Museen und zahlreiche Schlösser und private Sammlungen verstreuten Rembrandtgemälde fotografisch dokumentiert werden sollten. Diese Kampagnen nahmen allein mehr als fünf Jahre in Anspruch und beherrschten zunächst den gesamten Briefwechsel zwischen Wilhelm Bode und Charles Sedelmeyer. Parallel dazu verlief die wissenschaftliche Arbeit im eigentlichen Sinn. Im Verlagsvertrag vom 16. Mai 1893 hatte sich Wilhelm Bode als wissenschaftlicher Bearbeiter des Œuvre de Rembrandt zur »eigenhändige[n] Abfassung des ganzen Textes«17 von insgesamt ca. 900 Seiten verpflichtet, der die Bildbeschreibungen und eine ausführliche Biografie Rembrandts beinhalten sollte. Die »direkt vor den Bildern selbst gemachten Beschreibungen der Sujets«18 bildeten das Kernstück des Projekts und machten – ähnlich wie für die Fotografen – auch für Bode erneute Reisen zu den Originalen notwendig. Durch Eintragungen in seinen Kalender belegt ist z. B. eine Englandreise im Juli 1891, bei der er sich – begleitet von dem Fotografen Henry Dixon – mit zahlreichen Kunsthändlern und Privatsammlern traf, die im Besitz von Rembrandtgemälden waren. Weitere Reisen führten ihn etwa im September 1892 nach Italien, wo er die fotografischen Arbeiten überwachte, und im September 1893 zur Weltausstellung nach Chicago, wo er mit amerikanischen Kunstsammlern und dem Fotografen William Kurtz zusammentraf. Bei diesen Exkursionen mit den Fotografen bot sich Wilhelm Bode eine einmalige Gelegenheit zur gründlichen Untersuchung der Originale: Sofern die Besitzer der Gemälde gestatteten, diese von den dunklen Wänden der Schlösser und Sammlungen abzunehmen und bei Sonnenlicht zu fotografieren, ließen sich Datierungen entziffern und Signaturen überprüfen, die nie zuvor ein Kunstforscher ohne Leiter hatte untersuchen können. Dem Sammeln des Materials, dem Aufspüren und Sichten bereits bekannter oder neu aufgefundener Originale folgte die Analyse, Beschreibung und chronologische Ordnung von Rembrandts künstlerischem Werk. Der Briefwechsel belegt, wie sehr der Dorothea Peters
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fachliche Austausch zwischen Wilhelm Bode in Berlin und Charles Sedelmeyer in Paris von der Möglichkeit des Bildvergleichs und der – aus fortgesetzter Übung resultierenden – Entdeckung immer feinerer Details lebte, einer Möglichkeit, die bei dem Umfang und der weltweiten Zerstreuung von Rembrandts Werk durch beliebig variierbar nebeneinander gelegte Fotografien enorm erleichtert wurde. Wie sich beim systematischen Vergleich anhand der Fotografien bzw. Heliogravuren der Blick für die Echtheit von Gemälden schärfte, mag ein längeres Zitat aus einem Brief Charles Sedelmeyers vom 3. November 1892, noch aus der Anfangsphase der Recherchen, belegen: »Hochgeehrter Herr Director. Ich glaube unter den aufgenommenen Photographien zwei entdeckt zu haben, welche mir nicht nach einem echten Rb. gemacht zu sein scheinen. Suchen Sie von den Ihnen zugehenden, von Lemercier angefertigten Heliogravuren folgende heraus und legen Sie selbe zum Vergleich nebeneinander: Saskia im Profil (von Stockholm) – idem (Earl of Denbigh) – idem (Mrs. Seymour) [vgl. Abb. 1 und 2]. Sie werden finden, daß die Köpfe jener, Kopfputz, Perlenschnur, Mantel mit Goldornament bis zu einem Grad ähnlich sind, selbst bis auf alle kleinsten Lichtchen, daß man unmöglich annehmen kann, daß der Meister, wenn er Ein Original geschaffen, danach zwei so identische und sklavisch nachgemachte Repeti[ti]onen gemalt haben kann. Ich bin daher überzeugt, daß zwei davon von anderer Hand sind. Von den dreien halte ich entschieden das von Graf Denbigh als Original. Dasselbe ist am besten in [den] Raum gesetzt, hat das schönste, individuellste, beste gezeichnete Profil. Auch alle die kleinen Details sind netter und liebevoller gezeichnet: Perlen u. Mantelornamente, die kleinen Lichtchen sitzen richtiger. Das nächst beste und sehr ähnlich in Qualität u. Durchbildung ist jenes v[on] Stockholm. An dem ich durchaus nicht zweifeln würde, um so weniger als es monogrammirt und datirt ist, wenn nur nicht das erste (jenes v[on] Denby) [sic] als noch besser existiren würde. Allerdings ist es rechts und unterhalb weniger gut im Raum, man weiß nicht, ob die Person steht oder sitzt. Das dritte (bloß eine Büste) von Mrs Seymour scheint mir eine Copie (nicht v[on] jenem von Denby, sondern von dem Stockholmer Bild, [eingefügt:] also eine Copie Original – Kopie – Fälschung?
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1 Rembrandt, Junge Frau mit Fächer (»Saskia«), 1632 (echt), in: Bode und Hofstede de Groot, Rembrandt, 1897 –1905.
nach der Copie) zu sein. Bei dem Kopf ist alles im Vergleich sehr schwach: Nase, Mund, Kinn, namentlich das Auge. Was sagen Sie dazu? Soll man solche Repeti[ti]onen doch in unser Buch aufnehmen?«19 Man sieht Sedelmeyers Blick in ständigem Vergleichen hin und her wandern: vom Kopf, dem Kopfputz, der Perlenschnur, dem Mantel mit dem Goldornament bis zu den »kleinsten Lichtchen«, zum Profil, nochmals zu den Perlen und Mantelornamenten, den »kleinen Lichtchen« und abermals zum Kopf mit der schwachen Dorothea Peters
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Nase, Mund, Kinn und dem schwachen Auge – auch dies eine Schule des Sehens, anders aber als bei Giovanni Morelli nicht auf die Formen, sondern auf die Malweise und Details der Kleidung gerichtet. Unklar aber bleiben die Kriterien, nach denen Sedelmeyer sich für die Echtheit des Porträts aus dem Besitz des Lords of Denbigh entschied. Dieses ist »am besten in [den] Raum gesetzt, hat das schönste, individuellste, beste gezeichnete Profil. […] die kleinen Details sind netter und liebevoller gezeichnet« – Sedelmeyer urteilt, wertend und offenbar von einer idealisierten Vorstellung Rembrandts geleitet, ausschließlich nach ästhetischen Kriterien. Original – Kopie – Fälschung?
2 Rembrandt, Junge Frau mit Fächer (»Saskia«), 1632 (Kopie), in: Bode und Hofstede de Groot, Rembrandt, 1897 –1905.
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Abgesehen davon, dass Sedelmeyer kein Wissenschaftler war, reflektiert das Zitat nicht nur die Verunsicherung, die aus dem Auftauchen immer zahlreicherer echter oder vermeintlicher ›Rembrandts‹ resultierte, die erst durch die fotografische Zusammenschau als Dubletten oder Tripletten identifizierbar waren, sondern auch den damaligen Forschungsstand, der die authentische, durch Brüche und Entwicklungssprünge wenig konsistente Handschrift Rembrandts noch nicht entschlüsselt hatte, sondern genau dafür erst die Vorarbeit leistete. Im Gegensatz zu Charles Sedelmeyer, der einzig das Bild des Lord of Denbigh für authentisch hielt, favorisierte Wilhelm Bode das Stockholmer Bild, das er bereits in die Studien aufgenommen hatte, 20 hielt zugleich aber auch das Bild des Lord of Denbigh für echt. Dem entsprechend bildete er im ersten Band des Rembrandtwerks sowohl das Gemälde aus dem Nationalmuseum Stockholm ab und verwies im Text auf die »genaue Wiederholung« beim Lord of Denbigh sowie »eine Schulwiederholung des Kopfes allein bei Mrs. Alfred Seymour in London«, als auch das Gemälde des Lord of Denbigh mit entsprechenden Verweisen auf die beiden anderen Bilder. Im allgemeinen Text zum Frühwerk Rembrandts führte Bode seine Präferenzen näher aus: »Von dem Stockholmer Bilde giebt es zwei genaue Wiederholungen, beide nicht bezeichnet. Die eine, bis vor kurzem im Besitz von Lord Denbigh in Newnham Paddox, […] ist dem bezeichneten Bilde in Stockholm gewachsen; dass sie ganz eigenhändig vom Meister ausgeführt sei, scheint mir danach zweifellos. Die zweite, etwas kleinere Wiederholung (ohne die Hand mit dem Fächer), im Besitz von Mrs. Seymour in London, würde schwerlich als ein Werk Rembrandt’s bestritten werden, wenn das Bild allein dastände; aber neben jenen beiden grösseren und feineren Bildern werden wir nur an eine Wiederholung von der Hand eines tüchtigen Schülers unter Aufsicht des Meisters zu denken haben.«21 Durch die Abbildung zweier der Bilder stellte Bode sich, anders als Sedelmeyer, dem Problem der Repetitionen, das allerdings kaum gelöst werden konnte, solange das Verhältnis Rembrandts zu seiner Werkstatt und die Art der Kooperation zwischen Meister und Schülern ungeklärt waren – erst dann ließen sich die Fragen nach Original, Kopie oder Fälschung entscheiden, die hier Dorothea Peters
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unausgesprochen mitschwangen. Auch Wilhelm Bode aber begründete seine Präferenzen nicht; sein kennerschaftliches Urteil fällte er subjektiv, kraft seiner – anscheinend unangreifbaren, tatsächlich jedoch bereits durch Morelli erschütterten – Autorität (»… scheint mir danach zweifellos«). Dennoch ist das Urteil, quasi subversiv, anhand der Abbildungen beider Gemälde überprüfbar, die es dem Leser erlauben, sich vergleichend ein eigenes, potenziell divergierendes Bild zu machen, sich also vom Urteil des Autors zu emanzipieren.22 Ungeachtet der lückenlosen Autopsie der Originale spielten diese in den internen Zuschreibungsdebatten zunächst kaum eine Rolle; die Diskussionen zwischen Wilhelm Bode und Charles Sedelmeyer wurden hauptsächlich anhand der sukzessiv fertiggestellten und fortlaufend ausgetauschten Fotografien geführt, die im Vergleich immer neue Erkenntnisse freisetzten. Die Fotografien bzw. Heliogravuren standen zudem im Mittelpunkt mehrerer, noch vor Erscheinen des ersten Bandes durch Charles Sedelmeyer initiierter Werbekampagnen: Bereits bei der Weltausstellung 1893 in Chicago zeigte Sedelmeyer 80 Heliogravuren aus dem Rembrandtwerk und präsentierte im Frühjahr 1896 abermals eine große Anzahl Abbildungen in den Grafton Galleries in London, wo »in einer schmalen langen Galerie« »circa 400 eingerahmte Photogravuren der Rembrandts in 4 Reihen über einander« hingen, »um auf diese Weise das Buch großartig zu lancieren«.23 Dies war vermutlich die größte Rembrandtausstellung, die es je gegeben hat – allerdings als ›Fake‹ monochromer Bilder in buchgerecht normiertem Format. Ein Jahr darauf, im April 1897, erschien nach fast siebenjähriger Arbeit der erste Band des Rembrandt-Werkes im Folioformat (45 × 36 cm), ausgestattet mit 71 großformatigen Heliogravuretafeln, in insgesamt 950 Exemplaren, davon 150 mit deutschem, 200 mit französischem und 500 mit englischem Text, zum Preis von 1.250 Francs bzw. 1.000 Mark (Büttenausgabe; zusätzlich erschien eine Luxusausgabe auf Japanpapier in 100 Exemplaren). In der – den Bewegungen des Kunsthandels folgenden – Internationalisierung der Buchproduktion lag offenbar die einzige Chance zur Finanzierung und Realisierung des aufwändigen Projektes. Der Text war ähnlich opulent wie die äußere Gestaltung des kunsthistorischen ›Prachtwerks‹: Einer ca. 20 Seiten langen Einleitung über Rembrandts früheste Tätigkeit folgte der eigentliche Katalogteil, der auf einer Doppelseite jeweils eine Abbildung und den zugehörigen Bildtext mit Bildtitel, Besitzer, Beschreibung, Bezeichnung und Datierung, Material und Maßen der Gemälde, bekannten Original – Kopie – Fälschung?
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3 Textseite zu ›Rembrandt‹s Ehebrecherin, in: Bode und Hofstede de Groot, Rembrandt, 1897 –1905.
Reproduktionen und Kopien, Literaturhinweisen und Provenienzen nebeneinander stellte, so dass Bild und Text räumlich eng aufeinander bezogen waren und vergleichend rezipiert werden konnten; eine ikonografische Gruppierung innerhalb der chronologischen Ordnung erleichterte zudem aufschlussreiche Vergleiche. Diesem Muster folgten alle weiteren Bände [Abb. 3 und 4]. Die Abbildung aller im Text besprochenen Werke veränderte den wissenschaftlichen Diskurs über Rembrandt entscheidend: Hatten die fotografischen Reproduktionen als Medium des vergleichenden Sehens bislang ausschließlich als variable Arbeitsgrundlage für den internen Austausch zwischen Wilhelm Bode und Charles Sedelmeyer gedient, so eröffneten sie nun – im gebundenen Buch in einen unverrückbaren chronologisch-ikonografischen Kontext gestellt – den öffentlichen Dialog zwischen Autor und Leser und ermöglichten eine Überprüfung der Untersuchungsergebnisse. Schon in den ersten Rezensionen begannen Rembrandtforscher wie Abraham Bredius und Woldemar von Seidlitz eine gründliche inhaltliche Diskussion über Wilhelm Bodes Text, über die Zuschreibung, Echtheit und Datierung einzelner Bilder, und leiteten so den öffentlichen Diskurs über die künstlerische Entwicklung Rembrandts ein. Hatte Bode während der wissenschaftlichen Bearbeitung des Rembrandtœuvres das umfassendste Wissen über Rembrandts Gemälde Dorothea Peters
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auf sich vereinigt und bei den fotografischen Kampagnen durch seine internationalen Kontakte auch zu fürstlichen und privaten Sammlern sein Wissensmonopol kurzfristig noch ausgeweitet, so begann dieses sich durch die Publikation der ersten Bände allmählich aufzulösen. Das verstärkte sich noch, als Wilhelm Bode nach der ersten gründlichen Bestandsaufnahme eine Ausstellung der Gemälde Rembrandts anregte, um – über die elitäre Buchpublikation hinaus – ein breites Publikum für das Werk Rembrandts zu interessieren. Im Herbst 1898 wurden auf einer umfangreichen Ausstellung in Amsterdam, organisiert von Bodes Mitarbeiter Cornelis Hofstede de Groot, 124 Gemälde aus allen Schaffensperioden Rembrandts gezeigt, mit Leihgaben von Museen, Privatsammlern und Fürsten aus ganz Europa. Diese Ausstellung, die von Zehntausenden von Besuchern gesehen wurde, schuf der internationalen Rembrandtforschung ein Forum, das jenem der Holbeinausstellung 1871 in Dresden vergleichbar war: Hier konnten vor den Originalen jene vergleichenden Studien getrieben werden, die auch Bodes Rembrandtwerk intendierte. Boten die fotografischen Reproduktionen im Buch eine Zusammenschau des verstreuten Werkes in anders kaum zu erreichender Vollständigkeit und konstituierten so ein (scheinbar) konsistentes künstlerisches Gesamtwerk, so ermöglichte Original – Kopie – Fälschung?
4 ›Rembrandt‹, Die Ehebrecherin vor Christus, um 1650, in: Bode und Hofstede de Groot, Rembrandt, 1897 –1905.
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die Ausstellung zahlreicher – in ihrer Zuschreibung mitunter umstrittener – Originale den internationalen Experten Untersuchungen an einzelnen Kunstwerken, die die fotografischen Bilddrucke in ihrem vereinheitlichten Format und ihrer oft wenig perfekten Reproduktion, vor allem aber durch die Reduktion der Farbe nicht zuließen; so schärfte sich allmählich der Blick für Rembrandts Handschrift und damit für die Echtheit seiner Gemälde. Die Bedingungen von Wilhelm Bodes Arbeit veränderten sich dadurch signifikant: Die kunstwissenschaftlichen Urteile bildeten sich nicht nur unter veränderten medialen Bedingungen (Fotografie, gedruckte Fotografie im Buch), sondern auch unter permanenter Beobachtung einer internationalen scientific community – von der commercial community der Kunsthändler ganz zu schweigen. Mit den Ausstellungen ging eine Globalisierung und Demokratisierung des Wissens über Rembrandts Werke einher, die die autokratisch beanspruchte ›Autorität‹ des Kunstkenners im öffentlich geführten Diskurs zwangsläufig obsolet werden ließ. Das wurde deutlich, als nach dem Erscheinen weiterer vier Bände zwischen 1899 und 1901 insgesamt 485 Abbildungen der Gemälde Rembrandts, einschließlich der Beschreibungen, sowie mehr als 200 Seiten einleitender Text zu Rembrandts künstlerischer Entwicklung vorlagen: Wilhelm Bodes Rembrandtwerk galt Kunstkennern und Kunstforschern als Kodex, an dem es sich abzuarbeiten galt. Da sich mit dem Erscheinen jedes Bandes stilistische Entwicklungslinien und Abweichungen im Werk Rembrandts deutlicher zeigten, nahmen unter den – durch die Ausstellungen vor den Originalen geschärften – Blicken der internationalen Rembrandtexperten auch die Zweifel an der Echtheit einzelner Gemälde zu. Unterliege Wilhelm Bode, schrieb etwa Woldemar von Seidlitz in der Allgemeinen Zeitung, als »Kodifikator« auch der Pflicht, »bei der Verwerfung von Bildern besonders vorsichtig zu Werke zu gehen, […] so brauchen wir uns durch solche Rücksichten nicht bestimmen zu lassen, da das Gesammtbild des Meisters nur gewinnen kann, je mehr nicht dazu passende Werke ausgeschieden werden«.24 Allein aus dem fünften Band stellte von Seidlitz mehr als 10 Prozent der aufgeführten Werke in Frage, darunter die Ehebrecherin vor Christus aus der Sammlung des Hamburger Konsuls Eduard F. Weber, ein Bild, das umstritten war wie kein anderes. An diesem Bild lässt sich exemplarisch Schärfung und Wandel der Kriterien kennerschaftlicher Kunsturteile um die Jahrhundertwende verdeutlichen [vgl. Abb. 4]. Dorothea Peters
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1644 hatte Rembrandt mit der biblischen Szene der Ehebrecherin vor Christus ein Gemälde geschaffen, das, mit lückenloser Provenienz, im 19. Jahrhundert in die National Gallery in London gelangt war und zu den wenigen zweifellos echten Gemälden Rembrandts gehörte. Ende des 19. Jahrhunderts tauchte – ebenfalls unter dem Titel Die Ehebrecherin vor Christus – ein Bild im englischen Kunsthandel auf, das seit dem frühen 18. Jahrhundert dem Herzog von Marlborough in Blenheim gehört hatte und dort stets als echter Rembrandt angesehen worden war. Dieses Gemälde wurde 1886, verschmutzt und von den meisten anwesenden Sammlern und Händlern als authentisches Werk bezweifelt, auf einer Auktion bei Christie’s in London von dem späteren Direktor der königlichen Sammlungen in Großbritannien, Sir Charles J. Robinson, für wenig Geld ersteigert. Von diesem wiederum erwarb es Charles Sedelmeyer, offensichtlich gegen den Rat Wilhelm Bodes, 1891 für £ 6000 (24.000 Mark). Jahrelang wurde die Authentizität dieses Bildes zwischen Wilhelm Bode und Charles Sedelmeyer diskutiert, bis es im Vorfeld der Herausgabe des fünften Bandes zu heftigen Kontroversen darüber kam, ob die Ehebrecherin in das Rembrandtwerk aufgenommen werden sollte oder nicht. Sedelmeyer war von der Echtheit des Bildes vollkommen überzeugt und pries in Briefen an Bode stets dessen Schönheit. 25 Bode hingegen revidierte, ungewohnt schwankend in seinem Urteil, seine Meinung über die Echtheit des Bildes immer wieder: 1883 nahm er die Ehebrecherin aus Blenheim als Werk Rembrandts in seine Studien auf, 26 bezweifelte 1891 – nachdem er das Bild bei seiner Englandreise mit dem Fotografen Henry Dixon erneut gesehen hatte – ihre Echtheit, von der er sich 1892 jedoch, nachdem das Bild gereinigt worden war, bei einem Besuch Charles Sedelmeyers in Paris erneut überzeugte.27 Als Konsul Weber das Bild 1895 von Charles Sedelmeyer erwarb, bestätigte Wilhelm Bode ihm die Echtheit des Bildes. 1898 wurde – auf Bitten von Abraham Bredius – die Ehebrecherin auf der Amsterdamer Rembrandtausstellung gezeigt und war der »grosse Zankapfel der Ausstellung«. 28 In einer ausführlichen Ausstellungsbesprechung in der Zeitschrift für bildende Kunst bestritt Abraham Bredius, bestärkt durch die direkt vor dem Original geführten Diskussionen mit dem Kasseler Galeriedirektor Oskar Eisenmann, die Echtheit des Bildes vehement.29 Nachdem der Restaurator Alois Hauser in Berlin die Ehebrecherin 1899 im Beisein Wilhelm Bodes gründlich untersucht hatte, schloss auch Bode sich der kritischen Position von Bredius an.30 Original – Kopie – Fälschung?
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Auf Bodes Unentschiedenheit reagierte Charles Sedelmeyer mit Unverständnis und vermutete, dass Abraham Bredius, der eher zur Morelli-Fraktion unter den Kunstkennern gehörte, im Streit um die Ehebrecherin einen Anlass sehe, Bodes Autorität öffentlich in Frage zu stellen und so für sich selbst die Krone der Kennerschaft zu erobern. Unabhängig davon, wie zutreffend dies gewesen sein mag, offenbarte sich in dieser Interpretation das ›orthodoxe‹ Verständnis Sedelmeyers, nach dem in langjährigen Studien erworbene Kennerschaft eine Frage persönlicher, unhinterfragbarer und unfehlbarer Autorität war, die keinen Irrtum zuließ. Damit verkannte er allerdings die tiefere Ursache von Bodes schwankendem Kunsturteil: den tiefgreifenden Wandel kunstwissenschaftlicher Methoden, dem auch Bode sich nicht entziehen konnte. Nicht mehr der individuelle ›Totaleindruck‹, sondern das sorgfältige, anhand von Originalen und Fotografien vergleichende, die Meinungen der Fachgenossen einbeziehende, quasi diskursive Bilderstudium musste Bodes Kunsturteil bestimmen; 31 das konzedierte schließlich auch Bode. Bereits in frühere Bände des Rembrandtwerkes waren einige Bilder aufgenommen worden, an deren Echtheit Bode selbst gezweifelt hatte oder die er selbst als eindeutige (Schul-)Kopien betrachtete. 32 Damit wurde in Wort und Bild möglichst umfangreiches Material zum Vergleich ausgebreitet und einer öffentlichen Diskussion zur Verfügung gestellt. Nach langem Zögern nahm Bode auch die Ehebrecherin 1901 in den fünften Band des Rembrandtwerkes auf, verwies aber in der um Objektivität bemühten Bildbeschreibung auf die Diskussionen um die »Frage der Echtheit« in der kunstwissenschaftlichen Fachliteratur, ohne selbst direkt Stellung zu beziehen. 33 Später distanzierte sich Bode von seiner Zuschreibung der Ehebrecherin an Rembrandt und resümierte 1924, dass er die Frage der Echtheit nicht für entscheidend hielte; diese sei vielmehr allein für den Besitzer und die Kunsthändler von Interesse, »die leider das Publikum so erzogen haben, daß es den Namen viel mehr als das Kunstwerk begehrt«.34 Als 1905 der achte Band des Rembrandtwerkes erschien, lag – nach 15jähriger Arbeit – das monumentale Werk komplett vor. Insgesamt 595 Gemälde, inklusive der Schulkopien, waren in dem Werkverzeichnis dokumentiert, das durch ein von Cornelis Hofstede de Groot zusammengestelltes Urkundenbuch über Rembrandt ergänzt wurde. »Ein Werk wie das vorliegende«, schrieb Bode im Schlusswort mit nationalem Pathos, Dorothea Peters
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»kann und will in erster Linie zum Nachschlagen und zur Illustration aller kritischen und ästhetischen Studien über den grossen Meister dienen. Wenn es dafür die Grundlage bildet, wenn es für eine allseitige, unparteiische Würdigung des grössten Künstlers aus germanischem Stamm den Weg geebnet und den Genuss an seinen Werken verbreitert und vertieft hat, so ist sein Zweck erfüllt.«35 Dass dies – im Verein mit den großen Rembrandtausstellungen – gelungen war, zeigte nicht nur der Rembrandtkult der Jahrhundertwende, der den Raffaelkult ablöste und in opulenten Feierlichkeiten zu Rembrandts 300. Geburtstag 1906 gipfelte, sondern auch die nachfolgende Rezeption und wissenschaftliche Erforschung Rembrandts. Sie war Ausdruck der durch Wilhelm Bode – in imaginärer Konkurrenz zu Giovanni Morelli – vorangetriebenen Verwissenschaftlichung der Kunstkennerschaft, die in der Fokussierung auf das Kunstwerk seinen Ausgang genommen hatte und aufs Engste mit der Verbildlichung der Forschung durch die Fotografie und der durch sie forcierten Methode des vergleichenden Sehens verknüpft war.
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Endnoten 1 Cornelis Hofstede de Groot, Kennerschaft. Erinnerungen eines Kunstkritikers, Berlin
1931, S. 13f. 2 So charakterisierte Carl Justi 1881 Wilhelm Bode; vgl. Sigrid Otto, Wilhelm von Bode –
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Journal eines tätigen Lebens, in: Wilhelm von Bode. Museumsdirektor und Mäzen, Berlin 1995, S. 31. Vgl. Dorothea Peters, »Das Schwierigste ist eben … das, was uns das Leichteste zu sein dünkt – nämlich das Sehen.« Kunstgeschichte und Fotografie am Beispiel Giovanni Morellis (1816 –1891), in: Costanza Caraffa (Hg.), Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte, Berlin 2009, S. 45 –75. Vgl. die unter dem Pseudonym Ivan Lermolieff erschienene Artikelfolge über die Galerie Borghese in Rom in der Zeitschrift für bildende Kunst, 1874 –1876; ders., Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch, Leipzig 1880. Morellis Kritik fand Eingang in Karl Woermann, Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Dresden. Grosse Ausgabe, Dresden 1887. Zwischen Wilhelm Bode und Giovanni Morelli entwickelte sich ein zunehmend von Konkurrenz geprägtes Verhältnis (vgl. Ivan Lermolieff, Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien Borghese und Doria Panfili in Rom, Leipzig 1890, S. IX – XII, 242 – 246; Wilhelm Bode, Mein Leben, Berlin 1930, Bd. II, S. 57– 64), das darin gipfelte, dass Bode Morelli schließlich als »Scharlatan« bezeichnete und posthum die »Lermolieff mania« und »the success of this quack doctor« verhöhnte (Wilhelm Bode, The Berlin Renaissance Museum, in: The Fortnightly Review, N.S. 50, 1891, S. 506 – 515). Wilhelm Bode und Cornelis Hofstede de Groot, Rembrandt. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde mit den heliographischen Nachbildungen. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, 8 Bde., Paris 1897–1905. Der Entstehungsprozess dieser Rembrandtmonografie lässt sich aus dem Briefwechsel Charles Sedelmeyers mit Wilhelm Bode rekonstruieren, d. h. genauer: aus den insgesamt 572 Briefen, die Sedelmeyer zwischen 1882 und 1925 an Bode schrieb. Sie werden verwahrt in: Stiftung Preußischer Kulturbesitz/Zentralarchiv (SPK/ZA), Nachlass Bode, Nr. 5051. Vgl. ausführlich Dorothea Peters, Wilhelm Bodes »Œuvre de Rembrandt« (1897–1905). Von der fotografischen Kampagne zur illustrierten Künstlermonografie, in: Katharina Krause und Klaus Niehr (Hg.), Kunstwerk – Abbild – Buch. Das illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, München/Berlin 2007, S. 131–172. L’œuvre de Rembrandt reproduit par la photographie, décrit et commenté par M. Charles Blanc, Paris 1853 –1858 (Radierungen Rembrandts in 100 großformatigen Fotografien der Brüder Louis und Auguste Bisson); Pieter Scheltema, Rembrand. Redevoering over het leven en de verdiensten van Rembrand van Rijn, met une menigte geschiedkundige bijlagen meerendeels uit echte bronnen geput, Amsterdam 1853; Eduard Kolloff, Rembrandt’s Leben und Werke, nach neuen Actenstücken und Gesichtspunkten geschildert, in: Friedrich von Raumer (Hg.), Historisches Taschenbuch 5, 1854, S. 404 – 582; Théophile Thoré, Musées de la Hollande. 2 Bde., Paris 1858 –1860; Carel Vosmaer, Rembrandt Harmens van Rijn. Ses précurseurs et ses années d’apprentissage, La Haye 1863; Carel Vosmaer, Rembrandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses oeuvres [1868], 2. Aufl., La Haye 1877. Vgl. Wilhelm Bode, Rembrandt’s künstlerischer Entwickelungsgang in seinen Gemälden, in: ders., Studien zur Geschichte der holländischen Malerei, Braunschweig 1883, S. 357– 610. Bode, Studien (Anm. 8), S. X. Bode verwies, wie schon Morelli, wo immer möglich, auf Fotografien, vor allem aus den Galeriewerken Ad. Brauns; vgl. etwa Bode, Studien (Anm. 8), S. 378, 382. Vgl. Dorothea Peters, Die Welt im Raster. Georg Meisenbach und der lange Weg zur gedruckten Fotografie, in: Alexander Gall (Hg.), Konstruieren, Kommunizieren, Präsentieren. Bilder von Wissenschaft und Technik, Göttingen 2007, S. 179 – 244. Dorothea Peters
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12 Eugène Dutuit, Œuvre complet de Rembrandt […]. Catalogue raisonné de toutes
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les estampes du maître accompagné de leur reproduction en facsimilé de la grandeur des originaux au nombre de 360 environ […], 4 Bde., Paris 1883 –1885; Émile Michel, Rembrandt, Paris 1886; ders., Rembrandt. Sa vie, son oeuvre et son temps, Paris 1893. Bode, Rembrandt (Anm. 6), Bd. 1, S. 1. Ebd., Vorwort. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 73, 1906, S. 5980. Vgl. Bode, Studien (Anm. 8), S. 548. SPK/ZA, Nachlass Bode (Anm. 6), Verlagsvertrag vom 16. 05.1893. Brief vom 21. 03.1891 mit »Plan in Betreff der Anfertigung und Publikation unseres projektirten Rembrandt Werkes« samt »Prospectus«; diesem ist das Zitat entnommen. Brief vom 03.11.1892. Vgl. Bode, Studien (Anm. 8), S. 605, Nr. 364, im Text S. 417. Bode, Rembrandt (Anm. 6), Bd. 1, S. 29. Während das Rembrandt Research Project das Stockholmer Porträt als authentisch anerkennt – unter dem Titel Young woman with a fan –, gilt das Porträt aus dem ehemaligen Besitz des Lord of Denbigh heute als eine – kompetent ausgeführte – Kopie aus dem 17. Jahrhundert. Ausschlaggebend für diese Einschätzung des RRP war die in der Röntgenaufnahme sichtbar werdende Art des Farbauftrags am Hals, entlang der Perlenkette: Während Rembrandt zunächst das Fleisch malte und anschließend die Perlen darauf setzte, malte der Kopist als erstes die Kette und führte den Fleischton um die Perlen herum – laut RRP ein deutlicher Hinweis darauf, dass er sich eng an eine Vorlage hielt. Vgl. SPK/ZA, Nachlass Bode (Anm. 6), Briefe vom 27. 03.1895 und 28. 01.1896. Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1902, Nr. 54, S. 425. SPK/ZA, Nachlass Bode (Anm. 6), Brief vom 10. 02.1891: »[…] diese ›Kamelien-Dame‹ wie ich sie nennen möchte, wegen ihres wunderbar gemalten kamelienrothen Kleides dessen Farben-Schönheit und Distinction in keinem Bilde eines Schülers oder Nachahmers anzutreffen ist«. Vgl. Bode, Studien (Anm. 8), S. 508. SPK/ZA, Nachlass Bode (Anm. 6), Brief vom 10. 07.1899. Dort rekapituliert Sedelmeyer die damalige Einschätzung Bodes: »Als Sie selbes nach der durch Robinson bewerkstelligten Reinigung bei mir wieder examinirten, verschwand sofort Ihr Zweifel. Ich erinnere mich genau, daß Sie sagten: ›eine solche breite u zugleich sichere Technik, wie die verkürzte [?] Hand stark skizziert mit breiter Bürste hingestrichen, wie die pastosen Farben z. B. bei dem bäärtigen [sic] Alten (Rembrandt’s Modell) unter dem Auge gerade hingeworfen sind u., von kl[einer] Distanz betrachtet, so richtig sitzen, so hat kein Schüler gemalt. Eine so schöne Farbe, wie das kirschrothe Kleid der Frau kommt in keinem bekannten Schulbild vor.« Cornelis Hofstede de Groot, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 22, 1899, S. 160. Abraham Bredius, Kritische Bemerkungen zur Amsterdamer Rembrandt-Ausstellung, in: Zeitschrift für bildende Kunst, N.F. 10, 1899, S. 161–168, 191–198, hier S. 198. Vgl. Brief vom 10. 07. 1899, ferner: Charles Sedelmeyer, Die Ehebrecherin vor Christus. Gemälde von Rembrandt. Offener Brief an Dr. Abraham Bredius über die Echtheit dieses Gemäldes, Paris 1912, S. 10. Das hatte auch Woldemar von Seidlitz in einer Rezension gefordert: »Bei einigen Bildern kann Bode die Zweifel, die ihnen gegenüber laut geworden sind, nicht mit Stillschweigen übergehen.« Beilage (Anm. 24), S. 426. Vgl. die bereits diskutierten »Repetitionen« der sog. Saskia aus dem ersten Band. Ferner: Die Grablegung Christi aus der Alten Pinakothek in München (echt) und aus der Gemäldegalerie Dresden (Kopie). Bode, Rembrandt (Anm. 6), Bd. 2, Taf. 128, 129; ebd., Bd. 3, 1899, Taf. 187 (»Schulkopie«) und Taf. 188 (»spätere Kopie«). Die Aufnahme der Kopien begründete Bode unter anderem damit, dass diese so »vorzüglich« seien, »dass Original – Kopie – Fälschung?
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Endnoten/Abbildungsnachweis sie bisher anstandslos als eigenhändige Arbeiten Rembrandt’s betrachtet worden sind, und ohne die Bekanntschaft mit dem Original und dem genauen Vergleich damit […] auch wohl weiter als solche gelten« würden. Ebd., S. 19f. 33 Bode, Rembrandt (Anm. 6), Bd. 5, 1901, S. 12f., Taf. 338; vgl. hierzu ausführlich Peters, Wilhelm Bodes »Œuvre de Rembrandt« (Anm. 6), S. 156 –169. 34 Wilhelm Bode, Ein neu aufgefundenes Jugendwerk Rembrandts, in: Zeitschrift für bildende Kunst 58, 1924/25, S. 3. 35 Bode, Rembrandt (Anm. 6), Bd. 8, S. [2].
Abbildungsnachweis 1,2 Rembrandt, Junge Frau mit Fächer (»Saskia«), 1632, Nationalmuseum Stockholm (echt)
und Earl of Denbigh (Kopie), Heliogravuren von Lemercier, in: Wilhelm Bode und Cornelis Hofstede de Groot, Rembrandt. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde mit den heliographischen Nachbildungen. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, 8 Bde., Paris 1897–1905, Bd. 1, Taf. 63, 64. Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, Bibliothek. 3,4 ›Rembrandt‹, Die Ehebrecherin vor Christus, um 1650, ehem. Sammlung Eduard Weber (falsch). Heliogravure von J. Loewy und Textseite, in: Wilhelm Bode und Cornelis Hofstede de Groot, Rembrandt. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde mit den heliographischen Nachbildungen. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, 8 Bde., Paris 1897–1905, Bd. 5, Taf. 338, Staatsbibliothek Berlin.
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Die Domestizierung des Mosaiks. Mosaiken und ihre Abbilder in der Kunstgeschichte Barbara Schellewald
I
Als Franz Kugler 1850 im Deutschen Kunstblatt die Publikation von Johann und Louise Kreutz über San Marco in Venedig rezensiert, eröffnet er seine Besprechung mit einer bemerkenswert subjektiven Passage über seine Erfahrung mit dieser »wundersame[n] Hieroglyphe«: »[…] wenn du Nachts, beim Gewitter, unter den Bogengängen des Markusplatzes wandelst und das Bild der Kirche wie ein Meteor im Blitzlicht aus dem Dunkel auftaucht und wieder verschwindet, dann fühlst du wohl das Mährchen ihres Daseins und den phantastischen Reiz desselben, aber eben nur wie ein Mährchen, wie ein Spiel der Phantasie. Wenn heller Sonnenschein auf dem Platze liegt, wenn drin in der Kirche ein lustiges Volk sich festlich drängt, bleibt der Bau mit all seinen Wundern dir fremd und unverstanden, und du hast auch wohl kaum Zeit, mit Forschbegier und emsigem Fleiss zur Lösung seiner Räthsel dich anzuschicken.«1 Das Überwältigungsszenarium, das Märchen aus Tausendundeiner Nacht, bedarf wohl der Bändigung, und diese erfolgt in 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Form einer Publikation, die, so Kugler, eine bildliche Darstellung des Baus mit all seinen Einzelheiten darbietet. Zufrieden notiert er, dass man von vorneherein mit Absicht auf die Wiedergabe der malerischen Wirkungen verzichtet habe, »die einen so bestechenden Zauber auf uns auszuüben geeignet sind; es will eben nichts, als uns in klarer, verständlichster Weise vergegenwärtigen, wie das räumliche Gefüge ihres Baus beschaffen […]«.2 Der Bau und seine Ausstattung, insbesondere seine Mosaiken, sind durch die Konzeption der Veröffentlichung mit Angaben zur Bildverteilung lediglich in Schriftform im Grundriss, mit den Aufrissen mit Umzeichnungen der Bilder und der Zugabe ausgesuchter Themen, abermals lediglich in Umrissen, von ihrer bedrohlichen und fremdartigen Wirkmacht befreit. Nunmehr sind sie zu einer ungestörten Betrachtung freigegeben. Kuglers Bemerkung, nichts sei übergangen, ist angesichts der Situation vor Ort schwer nachvollziehbar. Ausgeblendet ist nicht allein die Farbigkeit der Mosaiken, sondern vielmehr auch das ihnen zu eigene medienspezifische Erscheinungsbild. Mosaik ist ein Medium, das per se seine ästhetische Wirkung am Ort und durch seinen Ort entfaltet. Diese Aussage betrifft insbesondere Gewölbemosaiken, die darauf angelegt sind, das durch die Wölbung zustande kommende Licht- und Schattenspiel für ihre Rezeption ins Kalkül zu nehmen. Die venezianischen Mosaizisten haben dieses Phänomen, wie in Byzanz üblich, genutzt, auch um inhaltliche Akzentsetzungen zu erzielen. Die Zusammenfügung der vielfarbigen Tesserae, die nicht plan auf dem Träger aufliegen, sondern leicht schräg in das Mosaikbett eingesetzt sind, erwirkt eine nicht ebene und geschlossene Oberfläche, sondern vielmehr eine lebendige Struktur, auf der sich das Licht zu brechen vermag. Gesteigert wird diese Wirkung durch das Spiel des Lichts, dem natürlichen durch die Fenster wie auch durch künstliche Lichtquellen, die je nach Tageszeit und liturgischem Anlass zu differieren vermögen. Kugler, dem Byzantinischen eher abgeneigt, 3 bringt in seinem Text unverhohlen zum Audruck, dass nur aufgrund der totalen Reduktion der Mosaiken auf den Umriss ihrer Darstellung, das ihnen zu eigene Fremde ausgeblendet werden kann. Der Zauber ist gebannt, der Wissenschaftler kann sich erleichtert dem Studium des schon längst Bekannten, den christlichen Bilderzyklen zuwenden. Dieses so freimütige Urteil Kuglers ist kaum überraschend, es lässt jedoch aufscheinen, mit welcher entschiedener Abwehr selbst er sich dieser Wirkmacht der Mosaiken entgegenstellen musste. In Kuglers Text manifestiert sich zugleich ein grundsätzliches Barbara Schellewald
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Phänomen, das medial in dieser Zeit nicht eingeholt werden kann. Das Mosaik ist ein Medium, das mit seiner vitalen Oberfläche auf eine momentane Wahrnehmung angelegt ist. Entscheidend bleibt der Augenblick der Rezeption bzw. der temporäre Wandel, der nicht eingefangen werden kann. Die medialen Bewältigungsstrategien, die genuin durch einen Stillstand gekennzeichnet sind, bleiben zum Scheitern verurteilt. Analoge Überwältigungsszenarien wurden von manchen Zeitgenossen geteilt, im Kontrast zu Kugler waren die daraus gezogenen Konsequenzen gänzlich anderer Natur. So war der französische Romancier Théophile Gautier bei seinem Besuch von San Marco ganz erfüllt von dem Flimmern und Mysteriösen der Mosaiken.4 Den Erfahrungen in San Marco widmet er ein ganzes Kapitel, in dem er den Mosaiken größte Aufmerksamkeit zukommen läßt. Auch die Wirkung des Lichts wird in Augenschein genommen: »[…] où la lumière frisonne comme sur les écailles d’un poisson«.5 Sein Aufenthalt währte Stunden, er beobachtete den Wechsel des Lichts und die variablen Effekte auf die Mosaizierung. Die auch für ihn teils negativ belastete figurale Prägung der Bilder scheint ihm letztlich der Technik angemessen: »La mosaique, comme la peinture sur verre, ne doit pas chercher l’imitation de la nature.«6 Der britische Architekt und Kunsthistoriker Matthew Digby Wyatt7 studierte während seiner Italienreise 1844 intensiv die sizilianischen Mosaiken. Bei längeren Aufenthalten im Dom von Monreale (»From dawn to sunset«) nahm er den sich durch das wechselnde Licht ergebenden Wandel ihres Erscheinungsbildes wahr: »[…] its aspect is one, not of gaudiness nor gloom, but of serene and dignified magnificence«.8 Diese wenigen zeitgenössischen Stimmen mögen belegen, dass die Rezeption der mittelalterlichen Mosaiken durchaus im 19. Jahrhundert ihrer Intention folgte. Zu erwähnen wäre die ebenso vitale wie produktive Byzanz-Rezeption der Mosaiken von Venedig und Sizilien, die in Deutschland mit den Namen von Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und Ludwig I. wie auch Ludwig II. von Bayern verbunden ist.9 Alle drei Herrscher eint die Ambition, ein Byzanz kopierendes Gottesgnadentum zu installieren und sich diesbezüglich auch adäquater Inszenierungsmittel zu bedienen. Im Zuge einer Re-Sakralisierung bilden sich auf der Basis prominenter historiografischer Publikationen Imaginationsmuster über Byzanz und deren Herrschaftsräume aus, die durch reale Monumente nur partiell konkretisiert werden konnten. Der auf der Seite der Auftraggeber erkennbaren Die Domestizierung des Mosaiks
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positiven Besetzung gegenüber steht eine auf Seiten der ausführenden Künstler erhebliche Abneigung bzw. Distanzierung angesichts einer ihnen unzeitgemäß erscheinenden ästhetischen Produktion. Die aufscheinenden Konflikte, etwa zwischen dem Kronprinzen, dem späteren Ludwig I. von Bayern, und seinem Architekten Leo von Klenze, legen darüber ein signifikantes Zeugnis ab. Die Präsentation zentraler Monumente ist einer diesbezüglichen Steuerung nur in spezifischen Medien zu unterwerfen. Die im Konflikt ausgetauschten Argumente erfreuen sich vertrauter Topik, wie negativ: starr, unbeweglich, eintönig; positiv: stimmungsauslösend, mystisch. Hier darf insbesondere der Goldgrund angeführt werden, der für diese Resonanz ursächlich zur Disposition stand. Die Frage der Vermittlung des Byzantinischen ist im Kern dieser Auseinandersetzung angesiedelt. Fragen der technischen Fertigkeit, Mosaiken gleicher Güte mit einem akzeptablen Kostenaufwand in diesem Zeitraum herzustellen, setzten den Ambitionen der Auftraggeber gleichsam natürliche Grenzen. Interessanter für unseren Kontext bleibt jedoch die Frage, auf welchen Wegen Byzanz medial wiedergewonnen werden konnten. Gefragt ist nach den Darstellungskonventionen dieses spezifischen Mediums, des Mosaiks. Den Weg zum Original suchte nicht nur Leo von Klenze, der mehrfach in San Marco weilte, sondern insbesondere der preußische Monarch, der seinen Architekten Wilhelm Salzenberg 1847/48 nach Konstantinopel schickte, damit dieser die nur kurzfristig durch die Tessiner Brüder Fossati freigelegten Mosaiken (1847–1849) in der Hagia Sophia einem genauen Studium unterziehen konnte. Salzenbergs Bemühungen mündeten in die großformatige Publikation Barbara Schellewald
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Alt-christliche Baudenkmale von Constantinopel vom V. bis XII. Jahrhundert, erschienen 1854.10 Die großen Lithografien wurden nur durch einen knappen Text begleitet. Von besonderem Interesse sind die Mosaiken der Schildwände des Kuppelraumes und das oberhalb der Kaisertür angebrachte Mosaik im Narthex. In dem vor einem thronenden Christus proskynierenden Kaiser, der durch keine Beischrift namentlich kenntlich gemacht ist, identifiziert Salzenberg den Auftraggeber Justinian und schließt an diese These eine Gesamtdatierung der Mosaiken in das 6. Jahrhundert an [Abb. 1]. Die Tafeln bekunden auf den ersten Blick eine ästhetische (nazarenische) Korrektur des byzantinischen Originals.11 Der profunde Widerspruch zwischen der Angabe im Text – Mosaik – und der bildlichen Nachzeichnung wird an keiner Stelle thematisiert, geschweige denn aufgelöst.12 Dieser Tatbestand darf insofern betont werden, als das Interesse des Monarchen durchaus dem Medium Mosaik galt. Dennoch scheint die von Salzenberg vorgenommene ästhetische Transformation maßgeblich einer positiven Wahrnehmung förderlich gewesen zu sein. Die Aufmerksamkeit, die Salzenbergs Publikation zukommen sollte, basiert auf mehreren Fakten. Die Bedeutung des Monumentes Hagia Sophia zählt ebenso dazu wie die schlichte Tatsache, dass die Mosaiken in unmittelbarem Anschluss wieder unter einer Tünche verschwanden und erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Hände des amerikanischen Restaurators Thomas Whittemore befreit wurden.13 Selbst wenn man Salzenberg eine ästhetische Schulung durch die zeitgenössische Malerei unterstellt, bleibt sein Vorhaben primär dokumentarischer Natur. Die durch die Brüder Fossati Die Domestizierung des Mosaiks
1 Wilhelm Salzenberg, Tafel zum Mosaik über der Kaisertür im Narthex der Hagia Sophia, Konstantinopel, 1854.
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vorgenommene zeichnerische Aufnahme differiert in zentralen Punkten nur marginal von derjenigen Salzenbergs.14 Hier vermag man grundsätzlich zwei Darstellungsformen zu unterscheiden: Zum einen die Aquarellkopien, die die Farbfassung der Figuren unterstreichen, und zum anderen Skizzen einzelner Figuren und Details, die durch schriftliche Notation von Farbangaben kommentiert sind. Der Duktus der Zeichnungen ist hingegen nüchterner als bei Salzenberg angelegt, eine nazarenische Überformung ist nicht zu konstatieren. Wiewohl beide Brüder primär intendierten, eine sorgsame Bestandsaufnahme ihrer Entdeckungen vorzulegen, bleibt auch hier der Tatbestand, dass die medialen Spezifika weitgehend ausgeblendet bleiben. Eine Ausnahme bildet einzig das Aquarell von Giuseppe Fossati mit dem Mosaik der Deesis auf der Südempore, bei dem die schuppenartige Setztechnik des Goldgrundes eigens aufgenommen ist.15 Dieses Detail hat offenkundig besonderes Interesse hervorgerufen. Die Figuren bleiben von dieser Ambition ›unbeschadet‹. Der Grund dieser augenscheinlichen Differenz liegt auf der Hand: Wie sollte man die Millimeter großen Tesserae in eine anschauliche Darstellung überführen, ohne diese in eine schematische Form zu binden, die jedweder dokumentarischen Qualität entbehrt? Mit Hilfe eines reinen Augenmaßes ist eine Präzision der Wiedergabe ebensowenig zu gewinnen, eine im modernen Sinne genaue Kartierung stand für die Kopisten kaum zur Diskussion, da sie einen überaus aufwändigen Vermessungsprozess zur Folge gehabt hätte. Die Mosaiken wurden wie Wandmalerei aufgenommen, mit der problematischen Folgeerscheinung, dass ihre substantiellen Merkmale nicht transportiert werden konnten. II
Der Blick auf die seit dem 17. Jahrhundert zu verifizierenden Darstellungskonventionen von Kopien, insbesondere von römischen Mosaiken, unterstreicht diese Diagnose.16 Seit den 1580er Jahren wurden von den Mosaiken derartige Kopien aus divergierenden Beweggründen angefertigt. Summarisch lassen sich folgende Intentionen aufzeigen. Zur Illustration kirchenhistoriografischer Abhandlungen wurden sie ebenso in Auftrag gegeben wie sie als historische Dokumente dienten. Darüber hinaus wurden sie für wissenschaftliche Abbildungssammlungen gefertigt. Das von Francesco Barberini zusammengestellte Corpus zielte auf eine Inventarisierung prominenter Denkmäler. Die Zeichner blieben oftmals anonym, es sei denn ihr Name wäre auf den Sammlungen Barbara Schellewald
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selbst vermerkt. Zu diesen zählt etwa der aus Vercelli stammende Soprastante für Mosaikarbeiten in der Fabrica von St. Peter, Giovanni Battista Calandra (1586 –1648), dem wir eine profunde Kenntnis der technischen Eigenheiten dieses Mediums zweifelsohne attestieren dürfen. In der Regel wurde diesem medialen Charakteristikum auch hier keine Reverenz erwiesen. Dennoch lassen einzelne Ausnahmen erkennen, dass den Kopisten diese Differenz im Vergleich zu dem ihnen vor Augen stehenden Original durchaus bewusst war und bisweilen nach kompensatorischen Strategien gesucht wurde. Im Cod. Barb. lat. 4423 finden sich Kopien des Mosaikfrieses der Portikus von San Giovanni in Laterano, der unter Papst Alexander III. (1159 –1181) entstanden ist.17 Als Autor wird Gasparo Morone identifiziert, ein aus Mailand stammender Medailleur.18 Den Darstellungen legt er systematisch und über die gesamte Bildfläche hinweg eine Art Gitternetz auf, mit dem er dem Umstand Rechnung zu tragen bemüht ist, dass er Mosaiken und nicht Wandmalerei kopiert. Aufgelockert wird dieser Schematismus einzig durch die von Hand und nicht in geometrischer Strenge aufgetragenen Linien, so dass die einzelnen Kästchen nicht gänzlich in ein gleichmäßiges Raster gebunden sind. Das Liniengerüst irritiert eher, als dass es als Gewinn wahrgenommen werden kann. Im originären Mosaik werden die Grenzen zwischen den einzelnen Tesserae durch die Farbgebung und das sich auf ihnen brechende Licht verschliffen, so dass die Segmentierung nicht als Störung des Bildes in Erscheinung tritt. Im hier gewählten Modus erwirkt das Liniennetz hingegen das Gegenteil, indem es sich als zergliederndes Prinzip darstellt. Eine etwas andere Variante, die geschickter auf die mediale Wirkung zielt, wählt hingegen der Kopist, der den Fries an der Portikus in San Lorenzo fuori le mura zur Aufgabe hat.19 Er spart die Figuren aus einem derartigen System aus und konzentriert seine technische Angabe zu den Mosaiksteinchen auf den die Figuren umschließenden Grund, der nun jedoch, ganz im Sinne der Parzellierung durch die Tesserae, von einem unregelmäßigen Netz bestimmt ist. Einzig die Größe der kleinen Quadrate zeigt eine gewisse regelmäßige Struktur. Die Unterschrift »Imagine di musaico« unterstützt die Lesart des Bildes. Eine dritte Variante intendiert noch dezidierter als beim letztgenannten Beispiel auf den spezifischen Effekt der Mosaizierung zu zielen, indem in einer Art pointillistischer Technik zumindest die Andeutung des originalen Werkes in der Kopie aufgefangen ist.20 Der Kopist der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Mosaiken aus Santa Maria in Trastevere unternahm damit einen Die Domestizierung des Mosaiks
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2 Denkmäler der Kunst, Tafel zum Mosaik der Georgsrotunde, Thessalonike, 1884, (und Detail).
Versuch, den visuellen Störfaktor eines Gitternetzes zu verhindern.21 Ein analoges Verfahren wählt der Kopist für Santi Nereo e Achilleo.22 Wenngleich diese Verfahren mit Blick auf die opulente Zahl der Kopien römischer Mosaiken letztlich Ausnahmen blieben, scheint man auch im 19. Jahrhundert analoge Wege beschritten zu haben. Im Kontext der Denkmäler der Kunst wird z. B. eine Farblithografie mit einem Ausschnitt des Mosaiks aus der Georgsrotunde in Thessalonike dargeboten [Abb. 2].23 Über das gesamte Bild ist ein feinmaschiges, ganz regelmäßiges, brauntoniges Raster gelegt. Im Kern entspricht dies der oben zitierten Kopie des 17. Jahrhunderts. Auch hier bleibt die Distanz zum Original eklatant, da in der Wahrnehmung des Mosaiks vor Ort die Tesserae kaum an ihren Anschlussstellen in Erscheinung treten, hingegen die leicht flirrende Oberfläche das Erscheinungsbild der Kuppeldekoration dominiert. Insbesondere der den Architekturen und Figuren hinterlegte Goldgrund hat zur Folge, dass die Architektur geradezu einen zeichenhaften filigranen Charakter annimmt, von dem sich die Figuren in ihrer auf Volumen angelegten Plastizität abheben. In der Kopie wird diese ästhetische Qualität geradezu in ihr Gegenteil verkehrt, indem nunmehr das Augenmerk auf die Architekturen gerichtet ist. Barbara Schellewald
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III
Das Dilemma, einen adäquaten Darstellungsmodus für das Medium des Mosaiks zu finden, bleibt für den Bereich der Kopien, die bis weit in das 20. Jahrhundert als ein probates Kommunikationsmedium eingesetzt werden, letztlich ungelöst.24 Mit der neu auch für die byzantinische Kunstgeschichte entdeckten Fotografie ist dieses Problem nicht ausgeräumt, nur partiell werden in der ersten Phase neue Lösungswege beschritten. Bevor wir jedoch auf diesen Bereich zu sprechen kommen, sei ein relativ obskur anmutender Fall ins Spiel gebracht. Die Monumentalkunst stellt ohne Zweifel einen Kernbereich byzantinischer Bildproduktion dar, der jenseits ihres Ortes auch mit dem Medium der Fotografie nur ansatzweise vermittelt werden kann. Dies betrifft insbesondere Museen, die ihre Sammlungen allenfalls mit Fragmenten originärer Malerei oder Mosaiken, vornehmlich jedoch mit Kopien auf der Ebene der Lehrsammlungen bestücken konnten. Oskar Wulff, der Direktor der altchristlich-byzantinischen Abteilung des Bode-Museums in Berlin geriet über die Frage der Lehrsammlung mit dem damaligen Direktor der Abteilung der Bildwerke der christlichen Epochen, Theodor Demmler, noch 1927 in einen heftigen und öffentlich ausgetragenen Streit, der mit Wulffs vorzeitigem Austritt aus dem Museumsdienst Die Domestizierung des Mosaiks
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endete.25 Wulffs engagiertes Plädoyer basierte auf der Diagnose, dass das Museum für sein Fachgebiet letztlich ein unzulängliches Instrument sei, da signifikante Bestandteile der byzantinischen Kunst nicht im Museum gezeigt werden könnten. Die dadurch entstandenen Defizite waren aus seiner Perspektive so eklatant, dass sich den Museumsbesuchern letztlich ein fragmentiertes Bild dieser Kultur darbiete.26 Um diese Lücke zu schließen, plädierte er nunmehr für das Engagement der Treptower Firma Puhl und Wagner (G. Heinersdorff), die seit 1889 Mosaiken inner- und außerhalb Deutschlands hergestellt hatten. Im Berliner Museum war unter anderem eine aus ihrer Produktion stammende originalgroße Aquarellkopie des Mosaiks Durchzug durch das Rote Meer aus Santa Maria Maggiore ausgestellt.27 Über die Kopie war ein leicht gewelltes Glas gelegt, um die Lichtbrechung auf der Oberfläche auf diese Weise zu simulieren.28 Ob diese Maßnahme die gewünschte Wirkung erzielt hat, lässt sich schwerlich einschätzen. Aber – und dies ist in unserem Zusammenhang entscheidender – gegenüber der Praktik, Mosaiken wie Wandmalerei zu präsentieren, wurde offenkundig verstärkt nach kompensatorischen Mitteln gesucht, die über eine fingierte Rasterung hinausreichten. Die substantielle Differenz beruht auf dem Umstand, dass nicht die Technik im Vordergrund steht, sondern ein aus ihr zu Tage tretender Eindruck einer schimmernden und flirrenden Oberfläche. Gezielt wurde damit auf die Wahrnehmung der Museumsbesucher gesetzt, so als ob sie ein Mosaik vor sich hätten. IV
Mit der Einführung der Fotografie war jedoch just für die byzantinischen Mosaiken kein unbedingter Fortschritt auf der Ebene einer Darstellbarkeit jenseits der Originale zu verzeichnen. Exemplarisch darf die neun Bände umfassende Publikation zu San Marco angeführt werden, die sich als Vervollständigung der frühen, von Kugler rezensierten Unternehmung versteht.29 In Band 1 werden die frühen Tafeln reproduziert und partiell ergänzt. Die Bände 3 – 6 hingegen bieten eine überraschend vollständige fotografische Dokumentation aller Skulpturen in und an San Marco. Für die Mosaiken wurde jedoch offenbar bewusst von einem derartigen Konzept Abstand genommen. Die Grenzen der Fotografie sind evident, zieht man die Raumaufnahmen in Betracht, die in Band 5 präsentiert werden. Die Mosaiken treten nur schemenhaft in Erscheinung. Band 7 konfrontiert uns mit einem signifikanten medialen Wechsel: Anstelle der Fotografien werden die von Alberto Barbara Schellewald
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Prosdocimi, Silvio Risegari und Luigi Gasparini angefertigten Malereien präsentiert. Die Chromolithografien wurden, wie auf den einzelnen Tafeln sorgfältig vermerkt, von unterschiedlichen Firmen realisiert. Der beträchtliche Aufwand zielte offenkundig darauf ab, die bei den Bänden zur Skulptur formulierte Zielsetzung einer Darstellung ›nach der Natur‹ auch für die Mosaiken zu leisten und damit die noch bei der Publikation von Johann und Louise Kreutz entstandene Diskrepanz zum Original zumindest ansatzweise zu kompensieren.30 Alle Maler kommen dieser Aufgabe nach, indem sie – wenn auch auf unterschiedliche Weise – die medialen Eigenheiten des Mosaiks zu spiegeln suchen. Auf der ersten Tafel beispielsweise [Abb. 3] legt Risegari dem Hintergrund und den Figuren ein dünnes Liniennetz auf. Ein bislang diesem Darstellungsmodus inhärenter Schematismus wird insofern partiell korrigiert, als die Tesserae-Angabe z. B. dem Liniennetz der Gewandformulierung folgt. Während das regelmäßige Gitter allenfalls als Indikator des Mediums dienen kann, so bildet es freilich nicht ab, wie sich aus der Vielzahl der Tesserae ein kongruentes Bild formiert. Im Gegensatz dazu verschiebt sich die Zielsetzung auf diesen Tafeln zumindest im Ansatz in die Richtung, im Bild selbst zu indizieren, wie dieses mittels der Tesserae gewonnen wird. Die Diskrepanz zwischen dem Original und seinem Abbild wird jedoch nicht aufgehoben, da diese Segmentierung erkennbar sekundärer Natur ist, während sie im Mosaik als konstituierendes Moment rangiert. Konsequent wird dieser Ansatz in dem Tafelwerk zudem nicht verfolgt. Bisweilen bleibt diese Angabe auf den Goldgrund reduziert, während die Darstellung in einer malerischen Manier dargeboten wird. Der erst 1888 erschienene wissenschaftliche Kommentarband enthält ein eigenes Kapitel unter der bezeichnenden Überschrift »Materiali e fattura nei mosaici di San Marco«.31 Die konkreten Informationen zur Materialität wie auch zur Technik der Mosaiken basieren in hohem Maße nicht allein auf den aus den Restaurierungen gewonnenen Erkenntnissen, sondern überdies auf einem zunehmenden Interesse und auf Experimenten für die Nachbildung mittelalterlicher Mosaiken, die im Kern mit den Namen von Lorenzo Radi und der sich seit den 1860er Jahren etablierenden Firma von Antonio Salviati verbunden sind.32 In Bezug auf die Abbildung in einem derartigen Tafelwerk durften daher die medialen Charakteristika nicht gänzlich außer Acht bleiben. Letztlich war das in diesem Opus realisierte Modell jedoch kaum zukunftsträchtig, da es dem durch die Einführung der Die Domestizierung des Mosaiks
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Fotografie verursachten Anspruch auf Dokumentation nicht Folge leisten konnte. Der französische Forscher Gabriel Millet hatte in den 90er Jahren eine Collection byzantine de l’Ecole des Hautes Etudes gegründet, für die er mit Nachdruck Werbung betrieb.33 1903 veröffentlichte er erstmalig eine Liste der in der Sammlung befindlichen Kopien wie auch eine durchaus ansehnliche Anzahl von Fotografien zentraler byzantinischer Monumente aller Gattungen.34 Ähnliche Vorhaben sind auch andernorts geplant oder diskutiert worden, ohne dass eine ebenbürtige Materialerschließung zustande gekommen Barbara Schellewald
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wäre. Die Mischung aus Fotografie und Kopien ist durchaus plausibel, berücksichtigt man, welche Art von Fotografien z. B. von Mosaiken vorlagen. Es waren in der Regel lediglich einzelne Szenen, Figuren oder Details, über die sich kaum Zusammenhänge erschließen ließen, ungeachtet der nicht ausgereiften Qualität der Aufnahmen, die vor allem durch die schwierigen Lichtverhältnisse in den Sakralbauten bedingt war. Millet war es denn auch, der eine erste monografische Publikation zu einem der prominenten Bauten des 11. Jahrhunderts mit Mosaiken, der Klosterkirche von Daphni, vorlegte.35 Den Tafelteil dominieren die während der Restaurierung Die Domestizierung des Mosaiks
3 Vorherige Seite: Silvio Risegari, Kopie des Mosaiks mit der Auffindung der Reliquien des hl. Markus, San Marco, Venedig, 1880er Jahre. 4 Schultz und Barnsley, Kopie eines Kopfes aus Hosios Loukas, 1901.
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angefertigten Fotografien. In den Text sind, wie gehabt, auch Umzeichnungen integriert, beziehen sich jedoch ausschließlich auf Textpassagen, in denen weder die Mosaiktechnik noch das stilistische Erscheinungsbild thematisiert wird.36 Dem Text bleibt nun vorbehalten, über die Farbgebung Aufschluss zu geben. Millet war dies ein besonderes Anliegen, wie aus dem Umstand zu ersehen ist, dass er ausführlich einzelne Mosaiken in ihrer Farbstruktur beschreibt.37 Interessant ist, dass er den Versuch unternimmt, die Nuancierungen mit zu erfassen, wenn es z. B. heißt: »[…] sur les portes, le rouge tire vers le brun, qui l’éclaircit dans la lumière«, oder an anderer Stelle: »L’or double le trait, brun foncé au noir; un smalte brun donnant sur le rouge, une terre cuite plus claire, modèlent les surfaces.«38 Die Differenz zwischen seiner Beschreibung und der Fotografie wird ebenso angemerkt. 39 Der »complexité d’effets véritablement pittoresque« ist durch die Schwarz-Weiss-Fotografie nicht beizukommen.40 V
Wenngleich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Publikationen zunehmend von Fotos ›begleitet‹ sind, so bleibt deren Stellenwert doch grosso modo eher sekundär. Charles Diehls Erstpublikation der Mosaiken von Hosios Loukas (bis heute eines der zentralen Denkmäler byzantinischer Monumentalkunst des 11. Jahrhunderts) bleibt ohne Fotografien, da, wie er eigens anmerkt, die Innenräume nicht ausreichend ausgeleuchtet werden konnten.41 Die beiden ihm nachfolgenden englischen Architekten Robert Weir Schultz und Sidney Howard Barnsley hingegen wählten eine andere Strategie.42 Ihr erst 1901 erschienener Band (die Vorbereitungen hierzu datieren aus den 1880er Jahren) adaptiert das von Salzenberg etablierte Modell, indem sie z. B. die Mosaiken im Plan eintragen. Diverse Fotografien mittlerer Güte sind im Text wie auch im angehängten Tafelteil hinzugefügt. Da diese aber kaum dazu angetan sein konnten, die besondere Attraktivität des Mosaiks, seine ästhetischen Nuancen zu präparieren (Goldgrund etc.) und augenfällig zu demonstrieren, treten, wie zuvor, farbig gefasste Zeichnungen an die Stelle einer ausführlichen fotografischen Dokumentation. Im Kontrast zu Salzenberg wird der dokumentarische Anspruch unterstrichen, indem alle Zeichnungen maßstäblich angelegt sind. Die Präsentation der Mosaiken kulminiert in der Zeichnung eines einzelnen Kopfes [Abb. 4]. Dass dies mitnichten dem Anspruch dokumentarischer Präzision geschuldet ist, lässt sich auf den ersten Barbara Schellewald
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Blick ausmachen. Die Regelmäßigkeit der Tesserae-Angaben steht im Widerspruch zur byzantinischen Technik. Die Inszenierung einzelner Köpfe ist überdies einer längst erprobten Rezeptionsform geschuldet: der Integration einzelner mosaizierter Köpfe in europäischen Sammlungen. Diese waren partiell ein ›Abfallprodukt‹ neuester Restaurierungsmaßnahmen der weltweit operierenden Mosaikwerkstatt Salviati, die nicht allein Originalköpfe ›verscherbelte‹, sondern für einen daraus erwachsenen Markt eine Reihe von ›Fakes‹ produzierte. Als Restaurator für San Marco war Antonio Salviati in die Fußstapfen des legendären wirtschaftsorientierten Giovanni Moro getreten, dem man einen florierenden Handel mit ausgelösten originalen Mosaikköpfen nachweisen konnte.43 Es waren insbesondere englische Reisende, die als Souvenir von ihren Reisen oder auch auf dem englischen Kunstmarkt derart originäre Produkte abnahmen. Salviati sammelte Erfahrungen mit byzantinischen Mosaiken, nicht nur bei den von seiner Werkstatt durchgeführten Restaurierungskampagnen in San Marco, sondern auch in Santa Maria Assunta auf Torcello und anderen Kirchen. Irina Andreescu-Treadgold, die diese inzwischen sorgfältig untersucht hat, kam dabei zu einem eindeutigen Befund: 44 An Stellen, wo größere Partien beschädigt waren, wurden umfangreiche Originalstücke herausgelöst und partiell aufbewahrt.45 Dass sich darunter auch eine Reihe von Köpfen befand, verwundert insofern nicht, als es schon in den 1850er Jahren einen überschaubaren Kunstmarkt gab, auf dem derartige Objekte offenkundig begehrt waren. Diese Trouvaillen, besser Trophäen, wurden, ihres Kontextes entledigt, auch zum Bestandteil antiquarischer Sammlungen.46 Einige Stücke konnten inzwischen identifiziert, andere als Nachahmungen decouvriert werden.47 Dass sie auch formal auf ihren neuen Zusammenhang beschnitten oder zugerichtet wurden, lässt sich an einzelnen Objekten belegen. Die monografischen Publikationen folgten damit partiell nicht allein Salzenberg, sondern reagierten auf einen ästhetischen Bedarf und suchten damit, zumindest dem Material eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen, als es die Fotografien diesbezüglich vermocht hätten. Welcher Wert jedoch auch Schwarz-Weiß-Fotografien zugemessen werden konnte, zeigt die monumentale Publikation von Joseph Wilpert zu den römischen Mosaiken, die sich zum Ziel gesetzt hatte, eine totale und dem Medium gerecht werdende Form zu finden. 1916 erschien ein großformatiges mehrbändiges Opus, das mit einem reichen Tafelwerk bestückt war.48 Die Herstellung Die Domestizierung des Mosaiks
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der Tafeln beruht auf fotografischen Grundlagen (die meisten Aufnahmen stammen von dem Fotografen Pompeo Sansaini), die vergrößert wurden und als eine Art Mattbild dienten, auf dessen Basis die Farben für die einzelnen Steinchen passgenau gewählt werden konnten. Die Monumente wurden hierzu eingerüstet, die Mosaiken z.T. gewaschen bzw. angefeuchtet, um die originale Leuchtkraft der Farben vor Augen zu haben. Entsprechend des Aufwandes bedurfte es eines Zeitraumes von 13 Jahren, in denen der Maler Carlo Tabanelli die Aquarelle verfertigen konnte. Die Autopsie des Originals diente jedoch nicht allein der Herstellung einer Farbtreue, sondern ebenso der Scheidung originaler und später ergänzter Partien. Wilpert merkt in seiner Einführung an: »Ihre Herstellung auf photographischer Grundlage bedeutet eine große Neuheit auf dem Gebiete der Reproduktion, weil jedes Steinchen unterschieden und in der Farbe des Originals wiedergegeben ist.«49 Gegenüber vorgängigen Publikationen besteht seiner Ansicht nach der Vorteil nicht allein in der Farbtreue, sondern vor allem in der Exaktheit der Größe und Unregelmäßigkeit der Tesserae. Großer Wert wurde sodann auf die Druckqualität und vor allem auf eine durch Wilpert kontrollierte Farbabstufung gelegt. Neun Reproduktionsanstalten mussten in Anspruch genommen werden. Das präzise Verfahren beschreibt Wilpert indes exemplarisch bei der Taufkirche des Hl. Johannes in Neapel. Die durch die Wölbung stark verzerrten und verkürzten Figuren machten es erforderlich, mit Teilaufnahmen zu operieren, die im Anschluss zusammengesetzt und neu fotografiert wurden, um eine plane Fläche zu erhalten. Exakt in dieser Form werden die Mosaiken auf den Tafeln vorstellig: Sie negieren gleichsam in Gänze ihren Bildträger und werden so behandelt, als seien sie grundsätzlich alle auf einer Fläche verortet. Aus einer Perspektive, die allein die Erfassung des materiellen Bestandes im Sinn hat, mag man dieser Vorgehensweise womöglich etwas abgewinnen. Die Tatsache, dass die Bilder in Originalgröße im Bild erscheinen (zumindest größtenteils), löst hingegen durchaus ambivalente Reaktionen aus. Denn die Größe des Mosaiks ist im Ansatz auf die Distanz zum Betrachter berechnet. Was durch diese Einheitlichkeit der Präsentation freilich gefördert wird, ist der maßstabgetreue Vergleich der Monumente untereinander. In Bezug auf die Situation vor Ort ist der eingetretene Transformationsprozess jedoch kaum nur positiv zu bewerten: Gehen wir davon aus, dass die Verortung von Mosaik auf gewölbten Bildträgern dem Medium zugeeignet ist, bzw. dieses gerade seine Vitalität auf Barbara Schellewald
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der Oberfläche zu entfalten weiß, so kann man die Tafeln bei Wilpert nur als eine in Gänze vollzogene Totstellung der Oberfläche ansehen. Wie auf einem Seziertisch werden sie der Kunstgeschichte dargeboten. Wiewohl auf der Plusseite nun die strukturellen Eigenheiten materialiter erfasst sind, sind die Mosaiken in gleicher Weise wie die Abbilder des 19. Jahrhunderts entkontextualisiert und damit zugleich in gravierender Weise ihrer genuinen Existenz beraubt. Der wissenschaftliche Mehrwert in Hinblick auf eine wissenschaftliche Auswertung ist auf der Seite der Inspektion der Farbfassung der Tesserae angesiedelt, die Farbwirkung hingegen, das sich Ineinanderschieben unterschiedlicher Farbnuancierungen, das Spiel des sich durch den Lichtwechsel einstellenden Wandlungsprozesses ist erneut eliminiert.50 Die Loslösung vom ortgebundenen Denkmal hat für die Mosaiken nach wie vor zur Folge, dass die Bilder, wie von Kugler eingangs mit Erleichterung diagnostiziert, domestiziert sind.
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Endnoten 1 Franz Kugler, Rezension zu: La Basilica di San Marco in Venezia, esposta nei suoi mu-
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saici storici, ornamenti scolpiti e vedute architettoniche etc. Deutsch unter dem Titel: Der Dom des heil. Markus in Venedig, dargestellt in seinen historischen Mosaiken, sculpirten Ornamenten und architektonischen Ansichten. Nach der Natur gezeichnet und auf eigene Kosten herausgegeben von Johann und Louise Kreutz. In Stein, Kupfer und Stahl ausgeführt von verschiedenen Künstlern. Mit erklärendem Text in drei Sprachen: italienisch, französisch und deutsch. Venedig, bei den Unternehmern; Wien, in Commission bei H. F. Müller, aus: Deutsches Kunstblatt 27, 1850, wiederabgedruckt in: ders., Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte, 3 Bde., Stuttgart 1853 –1854, Bd. 2, 1854, S. 607– 610, hier S. 608. Das Zitat »wundersame Hieroglyphe« auf S. 607. Kugler, Rezension (Anm. 1), S. 608. Kuglers Position gegenüber der byzantinischen Kunstproduktion ist jedoch im Kern durchaus ambigue. Wie ich an anderer Stelle darlegen werde, findet er durchaus anerkennende Worte, wenn er sich den byzantinischen Elfenbeinen in seinem Handbuch der Kunstgeschichte zuwendet, in denen er die Überlieferung der Antike zu erkennen vermag. Théophile Gautier, Italia, Paris 1852. Mir war leider nur die spätere Ausgabe: Voyages en Italie, Paris 1894, zugänglich, die Passagen zu San Marco finden sich dort auf S. 98 –133. Ebd., S. 107. Ebd., S. 103. Vgl. Wyatt, Matthew Digby, in: Dictionary of Art Historians, unter: http://www.dictionaryofarthistorians.org/wyattm.htm [15. 06. 2009]. Zum gleichen Zeitpunkt, als Ruskin als Slade professor of fine arts in Oxford berufen wurde, nahm Wyatt die analoge Position in Cambridge ab 1869 ein. Er wird jedoch als vergleichsweise »pedestrian« im Vergleich zu diesem eingeschätzt. Vgl. auch Matthew Digby Wyatt, On pictorial mosaic as an architectural embellishment, in: The Builder 20, 1862, S. 199 – 201, 218 – 220, hier S. 219. Wyatt (Anm. 7), S. 200. Er skizziert in diesem als Essay publizierten Vortrag nicht allein die Geschichte dieser Technik, sondern bezeugt auch seine besondere Achtung vor den byzantinischen Mosaiken im Besonderen. Er betont die Art und Weise, wie die Mosaiken sich in die Architektur einschreiben (»subservient to an architectural disposition«, ebd.). Auch ihre Rezeption ist vorzüglich antizipiert, da die Nähe und Distanz zum Betrachter jeweils kalkuliert erscheinen. Wyatt fertigte selber Zeichnungen an, greift jedoch auch auf die von Kugler rezensierte Publikation von Johann und Louise Kreutz zurück. Einen Überblick bietet J. B. Bullen, Byzantium Rediscovered, London/New York 2003, S. 18 – 45. Vgl. auch Barbara Schellewald, »Le byzantinisme est le rêve qui a bercé l’art européen dans son enfance«. Byzanz-Rezeption und die Wiederentdeckung des Mosaiks im 19. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 52, 2008, S. 123 – 148. Wilhelm Salzenberg, Alt-christliche Baudenkmale von Constantinopel vom V. bis XII. Jahrhundert. Auf Befehl Seiner Majestät des Königs aufgenommen und historisch erläutert. Hrsg. von dem königlichen Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Im Anhang: Des Paulus Silentiarius Beschreibung der Heiligen Sophia und des Ambon. Metrisch übersetzt und mit Anmerkungen versehen von C. W. Kortüm, Berlin 1854. Kugler rezensierte auch diesen Band (in: Beiblatt zum Deutschen Kunstblatt 6, 1855, S. 13 –16, 25 – 27) und fand durchaus lobende Worte. Dürfen wir mutmaßen, dass ihm die ›Zurichtung‹ der Mosaiken ebenfalls gefiel? Salzenberg merkt an: »Das Auge kann sich an diesem Spiel der Farben nicht sattsehen.«, und zitiert sodann einen Auszug aus der Ekphrasis von Paulus Silentiarius. Salzberg, Constantinopel (Anm. 10), S. 32. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Kopien lediglich auf die Frage der medialen Angabe zur Technik des Mosaiks diskutiert. Fragen der Wiedergabe der Farben, der rekonstruierenden Darstellung, sofern es sich um fragmentierte Überlieferungszustände handelt, werden nur am Rande gestreift. Die kritische Würdigung dieser Kopien bedürfte eines weitaus spezifischeren Instrumentariums. Barbara Schellewald
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erst Cyril Mango, Materials for the Study of the Mosaics of St. Sophia at Istanbul, Washington 1962. Nur ein Bruchteil ihres Oeuvres fand Aufnahme in die 1852 erschienene Publikation: Aya Sofia. Constantinople. As recently restored by order of H. M. The Sultan Abdul Medjid. From the original drawings by Chevalier Caspard Fossati. Lithographed by Lovis Haghe Eso., London 1852. Ein Teil der nicht in diesem Band publizierten Materialien findet sich in: Volker Hoffmann (Hg.), Die Hagia Sophia in Istanbul und Gaspare Fossatis Restaurierung der Jahre 1847 bis 1849. Bilder aus sechs Jahrhunderten, Bern 1999 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Historischen Museum Bern und im Winckelmann-Museum Stendal, 1999]. Ebd., Farbabb. zu Kat.-Nr. 35. Noch immer grundlegend Stephan Waetzoldt, Die Kopien des 17. Jahrhunderts nach Mosaiken und Wandmalereien in Rom, Wien/München 1964. Ebd., Kat.-Nr. 139 –144, Abb. 83 – 88. Ebd., S. 20. Vielleicht war es auch dem originären Beruf des Zeichners geschuldet, dass er sich für den technischen Befund des Bildes interessierte und einen dementsprechenden Abbildungsmodus wählte. Ebd., Kat.-Nr. 299 u. 300, Abb. 171 u. 172. Ebd., Kat.-Nr. 539-543, Abb. 299 – 303. Im Zusammenhang mit den Kopien von Santa Maria in Trastevere unterstreicht Waetzoldt summarisch den Quellenwert der Kopien für die Kunstgeschichte: »Der Vergleich zeigt, daß es möglich ist, sich in die eigentümlichen, vom Zeitstil des Barock bedingten und deshalb grundsätzlich gleichartigen Abweichungen vom Vorbild ›einzusehen‹ und auf diese Weise auch zu vorsichtigen Rückschlüssen auf den Stil der Originale zu gelangen.« Ebd., S. 22. Dabei unterschätzt er m. E. die gravierenden Differenzen zwischen Wandmalerei und Mosaik, die in den Kopien nur marginal Berücksichtigung finden. Denn auch das stilistische Erscheinungsbild ist substantiell vom medialen Befund abhängig. Waetzoldt, Kopien (Anm. 16), Kat.-Nr. 571, Abb. 315. Denkmäler der Kunst. Zur Übersicht ihres Entwickelungsganges von den ersten künstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart, bearb. v. W[ilhelm] Lübke u. C[arl] v. Lützow, Klassiker-Ausgabe, 4. Aufl., Stuttgart 1884, Taf. 34b. Kopien werden meist im Zuge von Restaurierungen oder Erfassungen von Monumenten erstellt. Dies betrifft die gesamte Monumentalkunst. Während des 1. Weltkrieges wurden z. B. im Rahmen sogenannter Denkmalschutzmaßnahmen eine Reihe von Kopien bislang kaum bekannter Monumente im ehemaligen Jugoslawien gefertigt. Einige von ihnen wurden im Bode-Museum im Bereich der sogenannten Lehrsammlung präsentiert. Der Vorteil ist einsichtig: Sie waren im Maßstab des Originals und gaben zumindest einen Eindruck von der jeweiligen Farbfassung. Frank M. Kammel, »Neuorganisation unserer Museen« oder vom Prüfstein, an dem sich die Geister scheiden. Eine museumspolitische Debatte aus dem Jahre 1927, in: Jahrbuch der Berliner Museen 34, 1992, S. 121–136. Oskar Wulff, Lehrsammlungen. Eine Neuaufgabe unserer Museen, in: Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen 15, 1920, S. 121–147. Aus den Akten des Museums ist lediglich in einer Notiz zu ersehen, dass die Aquarellkopie von Puhl und Wagner geschickt worden ist (Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Zentralarchiv, I/SKS 9, Bl. 165). Im Museum hat sich die Kopie nicht erhalten. Gabriele Mietke, die zuständige Kuratorin, vermutet, dass sie entweder zerstört worden ist oder lediglich als Leihgabe dem Museum zur Verfügung stand und zurückgegeben wurde. Fotografien, die diese singuläre Präsentationsform dokumentieren würden, haben sich leider nicht ausmachen lassen. Bisher ist mir kein zweites Beispiel dieser Art begegnet. Die Domestizierung des Mosaiks
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unlängst erfolgten Ausstellung im Museum noch durch Überdeckung mit leicht gewelltem Glase gesteigert worden.« La Basilica di San Marco in Venezia. Illustrata nei riguardi dell’arte e della storia da scrittori veneziani. Opera pubblicata sotto gli auspici di S. M. La Regina d’Italia Margherita di Savoia, Venedig 1881–1888. Das Vorbild fand sich ebendort in der Wiedergabe der Mosaikfußböden, die nicht nur farbig, sondern auch in ihrer Steinsetzung wiedergegeben worden sind. Diese Abbildungen fanden ebenso Eingang in die neue Publikation, sie sind dort in Band. 2 zu finden. La Basilica (Anm. 29), Bd. 9, S. 347– 359. Vgl. Schellewald, Byzanz (Anm. 9). Im Textband wird die Leistung Radis eindringlich betont. Dies geht soweit, dass er mit Christopher Kolumbus verglichen wird. La Basilica (Anm. 29), Bd. 9, S. 359. Die französische Forschung nimmt im 19. und auch noch im frühen 20. Jahrhundert durchaus eine leitende Position innerhalb der byzantinischen Kunstgeschichte ein. Gabriel Millet zählte zu ihren führenden Vertretern. Er schickte offenbar an alle größeren Museen Bittbriefe, soweit als denkbar, zu seiner Sammlung einen Beitrag zu leisten. Im Zentralarchiv der Berliner Museen liegt ein derartiges Schreiben vor (I/SKS 4, Nr. 4838). Gabriel Millet, La collection chrétienne e byzantine des Hautes Etudes, Paris 1903. Gabriel Millet, Le monastère de Daphni. Histoire, architecture, mosaïques (Monuments de l’art byzantin, Bd. 1), Paris 1899. Ebd. An wenigen Stellen hat Millet, offenbar um eine Vollständigkeit des abgebildeten Materials zu erzielen, Abbildungen übernommen aus Gustave Schlumberger, L’epopée byzantine à la fin du dixième siècle, Bd. 1, Paris 1896. Auf diesen Abbildungen wird die Struktur der Mosaiken wie gehabt fingiert. Millet, Daphni (Anm. 35), besonders in Passagen auf S. 165 –182. Ebd., S. 175 Anm. 1. Ebd., S. 178 Anm. 2. Bei Millet (ebd.) finden sich zudem Hinweise auf Aquarellkopien der Mosaiken wie auch auf farbige Nachzeichnungen von Kreuzigung und Anastasis, die aus einer russischen Unternehmung stammen (Mission Sévastianov, calques coloriés à l’Académie des Beaux-Arts de Saint-Pétersbourg). Charles Diehl, L’église et les mosaïques de couvent de Saint-Luc en Phocide, Paris 1899, hier im Einleitungstext S. III. Robert Weir Schultz und Sidney Howard Barnsley, The Monastery of St. Luke of Phocis and the Dependant Monastery of St. Nicholas on the Fields near Skripou in Boeotia, London 1901. Irina Andreescu-Treadgold, Moro, Salviati, and the Mosaic of Sant’Ambrogio in Milan, in: Studi veneziani N. S. 33, 1997 (1998), S. 197– 230. Zum Verkauf Moros von Originalfragmenten ebd., S. 199 und das entsprechende Dokument Nr. 28 auf S. 218f. Beide Köpfe wurden 1856 und 1857 für die Sammlung des Victoria and Albert Museums in London angekauft. Der Christuskopf stammte aus San Michele in Africisco in Ravenna, der andere vermutlich aus Venedig. Irina Andreescu-Treadgold, Salviati a San Marco e altri suoi restauri, in: Ettore Vio und Antonio Lepschy (Hg.), Scienza e tecnica del restauro della Basilica di San Marco, 2 Bde., Venedig 1999, Bd. 2, S. 467– 513. Dies entsprach der von ihm auch freimütig vertretenen Restaurierungs›theorie‹. Vgl. Andreescu-Treadgold, Salviati (Anm. 44), S. 476f. Vgl. dazu mit ausgezeichneten Beispielen ebd., S. 484 – 506. Irina Andreescu-Treadgold, The Real and the Fake. Two Mosaics from Venice in American Collections, in: Studi Veneziani N. S. 36, 1998, S. 279 – 300; dies., The mosaic head of a saint at the Victoria & Albert Museum, in: Annual Byzantine Studies Conference. Abstracts of Papers 17, 1991, S. 14. Barbara Schellewald
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Endnoten/Abbildungsnachweis 48 Joseph Wilpert, Die römischen Mosaiken und Malereien der kirchlichen Bauten vom
IV. – XIII. Jahrhundert, 4 Bde., Freiburg 1916. 49 Ebd., S. XI. 50 Bei der 1976 erfolgten Neuauflage wird im Vorwort von Schumacher betont, dass sich
bis heute diese Konzeption gegenüber moderner Farbfotografie überlegen zeige, mosaizierte und gekurvte Fläche adäquat zu reproduzieren. Joseph Wilpert, Die römischen Mosaiken der Kirchenbauten vom IV. – XIII. Jahrhundert, hg. u. erg. durch Walter N. Schumacher, Freiburg/Basel 1976, S. 8. Die Frage, was denn unter »adäquat« zu verstehen sei, wird nicht thematisiert.
Abbildungsnachweis 1 Wilhelm Salzenberg, Tafel zum Mosaik über der Kaisertür, Narthex, Hagia Sophia, Kon-
stantinopel, in: Wilhelm Salzenberg, Alt-christliche Baudenkmale von Constantinopel vom V. bis XII. Jahrhundert. […], Berlin 1854. 2 Mosaik der Georgsrotunde, Thessalonike, in: Denkmäler der Kunst. Zur Übersicht ihres Entwickelungsganges von den ersten künstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart, bearb. v. W[ilhelm]. Lübke u. C[arl]. v. Lützow, Klassiker-Ausgabe, 4. Aufl., Stuttgart 1884, Taf. 34b. 3 Silvio Risegari, Kopie des Mosaiks mit der Auffindung der Reliquien des hl. Markus, San Marco, Venedig, in: La Basilica di San Marco in Venezia. Illustrata nei riguardi dell’arte e della storia da scrittori veneziani. Opera pubblicata sotto gli auspici di S. M. La Regina d’Italia Margherita di Savoia, Venedig 1881–1888, Taf. I. 4 Kopie eines Kopfes aus Hosios Loukas, 1901, in: Robert Weir Schultz und Sidney Howard Barnsley, The Monastery of St. Luke of Phocis and the Dependant Monastery of St. Nicholas on the Fields near Skripou in Boeotia, London 1901.
Die Domestizierung des Mosaiks
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Vergleichendes Röntgensehen. Lenkungen und Schulungen des Blicks angesichts einer neuen Art von Bildern Vera Dünkel
I
Vergleichendes Sehen als Sichtbarmachung
einer Sichtbarmachungstechnik
Das Frontispiz von Charles Edouard Guillaumes Les Rayons X et la Photographie à travers les corps opaques1 zeigt zwei übereinander angeordnete Bilder [Abb. 1]. Oben ist ein Postpäckchen zu sehen, aus einer Holzschachtel bestehend, die verschnürt, versiegelt und frankiert worden ist. Es trägt zwei Aufschriften: Neben der gestempelten Briefmarke geben die unterstrichenen Worte »Valeur déclarée: Deux cents francs« den Hinweis auf einen wertvollen Inhalt, ohne diesen konkret zu benennen. Unterhalb des mittigen Siegels befindet sich, mit großer Handschrift aufgezeichnet, die Adresse: »Monsieur Röntgen, Würtzbourg«. Was im unteren Bild zu sehen ist, scheint auf den ersten Blick wenig evident: Auf einer hellen Fläche, die sich mit unscharfen Rändern von einem dunkleren Untergrund abhebt, erscheint eine unförmige dunkle Masse mit abstehenden und um sich gewundenen Gliedern. Die Gegenüberstellung veranlasst den Betrachter, mit den Augen zwischen oben und unten hin und her zu springen und so zunächst die Form des Päckchens, dann, leicht verschwommen, die Linien der Paketschnur wiederzuerkennen. Die dunkle schwarze Masse in der 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1,2 Frontispiz ohne und mit darübergelegtem Transparentpapier, in: Charles Edouard Guillaume, Les rayons x et la photographie à travers les corps opaques, 1896. Vera Dünkel
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Vergleichendes Röntgensehen
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Mitte der sich kreuzenden Schnüre lässt am oberen linken Rand die seitliche Kontur des Siegels aus dem oberen Bild erkennen, welches sich zu einer größeren, unten vollkommen rund abschließenden Form ausgeweitet hat. An sie schließt rechts der dunkle Schatten einer Öse an, von der die Glieder einer Kette ausgehen, die sich um die große, dunkle Form herumlegen und links ein mehrfach verschlungenes Wirrwarr bilden, aus dem ein größerer Ring als Anhänger heraussticht. Unterhalb dieses Ringes wird eine vom dunklen Kreis ausgehende schlüsselartige Form erkennbar, wie sie als Aufziehschraube von Taschenuhren bekannt ist. Durch wiederkehrende Elemente wie Paketschnur, seitlicher Siegelumriss und die Rechteckform wird das untere Bild als eine zweite Ansicht desselben Objekts interpretierbar. Diese Erkenntnis entspringt jedoch erst dem Vergleich mit dem oberen Bild und einer genauen Betrachtung desselben: Während die Angabe über den Wert des Päckchens indirekt auf dessen Inneres verweist, nennt die Adresse den Erfinder der Technik, mit deren Hilfe der verschlossene Inhalt im unteren Bild zutage tritt. Wichtiger als dessen genaue Identifikation ist dabei zunächst, dass die beiden Bilder in Bezug zueinander gebracht werden können, was einerseits durch formale Entsprechungen geschieht, andererseits durch ihre Zusammenstellung auf einer Tafel erreicht wird, welche eine vergleichende Betrachtung herausfordert. Die Motivation dieser Anordnung war dabei, die Möglichkeit eines technisch realisierten Einblicks in opake Körper, von dem auch das Buch handelt, evident zu machen. Es ging um die Propagierung einer Technik, die den Blick unter die Oberfläche der Dinge freizugeben vermag. Diese Technik als Sichtbarmachungstechnik verständlich zu machen, wurde vor allem durch eine zweite Technik der Sichtbarmachung möglich: das vergleichende Sehen. So suggeriert die Gegenüberstellung der zwei Medien Fotografie und Röntgenbild wirkungsvoll, dass letzteres das Resultat eines Bildgebungsprozesses ist, der manche in der Fotografie sichtbaren äußeren Strukturen, wie die Form des Päckchens, die Paketschnüre und einen Rand des Siegels weiterhin sichtbar lässt, während dazu noch ganz andere, wie die Form der Uhr und deren Kettenglieder, in Erscheinung treten. Das neue Verfahren wird so als Mehrwert beurteilbar, während fast in Vergessenheit gerät, was im Röntgenbild alles nicht mehr sichtbar ist, und dass man ohne das obere Bild vermutlich nur raten könnte, was im unteren zu sehen sein soll, wo insbesondere Elemente, die den Gegenstand als Vera Dünkel
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Postpaket auszeichnen, wie Briefmarke, Stempel und Beschriftung, gänzlich verschwunden sind. Zunächst scheint dieses untere Bild etwas völlig anderes darzustellen. Indem es mit dem oberen Bild zusammengesehen wird, wird es jedoch als andere Ansicht desselben Gegenstandes interpretierbar und nicht zuletzt als etwas Bestimmtes (»Postpäckchen, eine Taschenuhr enthaltend«) lesbar gemacht [Abb. 2].2 Indem die Fotografie oben in vertrauter Weise auf dasselbe Objekt verweist, das auch die Aufnahme unten zeigt, fungiert es als Überschrift zum unteren Bild und als Anleitung dazu, was man dort zu sehen hat. Es erfüllt diese Funktion dank einer spielerischen Inszenierung, die in der Herrichtung und Beschriftung eines Päckchens bestand, dessen Inhalt im Vorfeld bekannt war. Während die Wertangabe auf den Inhalt des Päckchens neugierig macht, bringt der Name des Adressaten die technischen Parameter seiner Sichtbarwerdung ins Spiel. Das an den Erfinder dieser Technik adressierte Paket war höchstwahrscheinlich nicht für den Versand bestimmt, sondern für die Inszenierung eines Blickes in den Kasten, der die bildgebenden Möglichkeiten einer neuen Technik vorführt. Der fingierte Adressat diente dazu, das Verfahren zu bezeichnen, von dem das Buch handelt, während er im von seiner Erfindung hervorgebrachten Bild kurioserweise selbst verschwindet. Die Zusammenschau der Bilder erzeugt ein spannungsvolles Moment, das die Sichtbarkeit des rätselhaften Inhalts im unteren Bild scheinbar überraschend hervortreten lässt und im selben Zuge die Röntgentechnik positiv als Sichtbarmachungstechnik vorführt. Hier wird deutlich, wie vergleichendes Sehen an der Konstituierung neuer, ungewohnter Sichtbarkeiten partizipiert. Bei der Veranschaulichung der Röntgentechnik als Sichtbarmachungstechnik kommt dem Medienvergleich didaktische Bedeutung zu. Wie im Falle des durchleuchteten Päckchens aber der Adressat im Bild seiner Technik selbst verschwindet, treten hinter diese Bildrhetorik die stattgefundenen, vielschichtigen Gestaltungen zurück und werden unsichtbar. Die Bildrhetorik des Medienvergleichs verschleiert den konstruktiven Charakter nicht nur des Röntgenbildes, sondern insbesondere der Fotografie, deren nicht minder inszenierte Bildlichkeit als bekannte Wirklichkeit wahrgenommen werden kann und so die Wirklichkeit des neuen Bildmediums unterstützt. Mit Hilfe einer Technik, deren Ästhetik um 1900 bereits eine Festigung erfahren hat, wird für eine neue Technik geworben, deren bildliche Resultate zunächst durchaus verstörend wirken konnten. Durch die Vergleichendes Röntgensehen
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Gegenüberstellung der beiden Medien wird dieses Neue anschlussfähig gemacht. II
Unvergleichbarkeit und die Herstellung
von Referenz
Die (bild-)rhetorische Anknüpfung an das Medium der Fotografie war eine geläufige Strategie in der Anfangszeit der Röntgentechnik und ihrer Verbreitung. So wird in frühen Artikeln und Zeitungsberichten über die Entdeckung der Röntgenstrahlen oftmals erklärt, man habe es hier mit einem neuen »photographischen Prozess« zu tun, mit einer neuen Art von Licht, welches im Vergleich zum herkömmlichen Licht die zusätzliche Eigenschaft besäße, undurchsichtige, feste Körper zu durchdringen und deren Inneres dabei auf »gewöhnliche[ ] photographische[ ] Platten« aufzuzeichnen.3 Mit Hilfe solcher Formulierungen lässt sich die Entdeckung des Röntgenverfahrens als eine Erweiterung der Fotografie verstehen. Dabei treten die medialen und technischen Besonderheiten des Röntgens in den Hintergrund: Zwar finden die radiografischen Aufzeichnungen tatsächlich auf herkömmlichen fotografischen, lichtempfindlichen Oberflächen statt, ein entscheidendes Dispositiv der Fotografie aber, die Optik von Kamera und Linsen, fällt weg. Bei Röntgenaufnahmen handelt es sich um eine Schattenprojektion von Dichteverhältnissen mit Hilfe von Strahlen, welche zuerst in aufwändiger Weise physikalisch-technisch erzeugt werden müssen. Die Analogien zur Lichtsensibilität der fotografischen Platte und zu fotografischen Verfahren lassen vergessen, wie unvergleichbar die neuen Bilder mit bekannten Ansichten sind, weil sie keine optisch vergleichbare Größe zur Anschauung bringen, sondern Dichteverhältnisse visualisieren, die nur bedingt und unter gewissen Umständen mit bekannten Sichtbarkeiten zusammenfallen. Dieser Herausforderung der Unvergleichbarkeit wurde auf unterschiedliche Weise gestalterisch begegnet. Die Gegenüberstellung von Fotografie und Röntgenbild desselben Objekts war eine Strategie der Herstellung von Vergleichbarkeit, die eine Erzeugung von Verweisung, von Referenz bedeutete. Daneben spielte auch die Wahl der Objekte eine entscheidende Rolle bei der Herstellung von Bildern, die zur Verbreitung der neuen Technik beitragen sollten. Bereits für die Bekanntgabe der Entdeckung der Strahlen suchte etwa Wilhelm Conrad Röntgen Objekte aus, die auch nach ihrer Durchleuchtung im Bild ihren Formen nach weitgehend wiedererkennbar bleiben.4 Sein Gewichtsatz Vera Dünkel
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im Holzkasten, der in Metall verschlossene Kompass und vor allem die Hand mit Ringen wurden zu äußerst erfolgreichen und in der Folge vielfach nachgeahmten Motiven, anhand derer die Eigenarten der neuen Strahlen besonders gut nachvollzogen werden konnten. Als weitere Strategie zur Herstellung von Vergleichbarkeit ist die Anordnung der ausgewählten Objekte zu nennen. Die Lesbarkeit der Schatten wurde entscheidend dadurch gefördert, dass die Ausgangsobjekte sorgfältig auf der Platte – und auch im Inneren der zu durchleuchtenden Kästchen und Täschchen – positioniert wurden, um verwirrende Formverschmelzungen auszuschließen. Überlagerungen einzelner Objekte oder von äußeren und inneren Objektdetails (wie beispielsweise das Siegel und die Uhr in Abb. 1) wurden möglichst vermieden, um die Formen der Gegenstände nicht ins Unkenntliche zu verzerren und somit eine Klarheit der neuen Erscheinung in Differenz zum Ausgangsobjekt zu ermöglichen. Schließlich spielte auch die Präsentation und die Rahmung der Bilder durch Beischriften und erklärende Texte eine wichtige Rolle bei der Erzeugung von Referenz und Vergleichbarkeit. Wie oben schon angedeutet wurden Bildunterschriften, aber auch detailliertere Beschreibungen gezielt eingesetzt, um der neuen Erscheinung der Gegenstände im Bild Sinn zuzuweisen und die bildgebenden Möglichkeiten der neuen Technik wirkungsvoll vorzuführen.5 Durch die Benennung der Ausgangsobjekte konnten Vergleiche auch im visuellen Gedächtnis des Betrachters aufgerufen werden. Immer ging es bei diesen gestalterischen Interventionen um die Erzeugung einer bedeutungsvollen Differenz, die sich zwischen einer vertrauten Ansicht der Gegenstände und ihrer neuen Erscheinung im Röntgenbild auftat, jedoch nur soweit, dass ein ausgeglichenes und produktives Verhältnis zwischen Neuheit und Bekanntem entstehen konnte. Wie sich am Beispiel des Päckchens mit der Taschenuhr zeigte, wird die neue Technik als Folge einer bestehenden Technik und ihren vertrauten Anblicken präsentiert, welche entscheidend dazu beitragen, sie zu etablieren und mit ihr neue Gegenstände zu konstruieren. Einblicke, Innenwelten, Verborgenes und Durchleuchtungen werden durch die Gegenüberstellung verschiedener Medien oder durch das Aufrufen bekannter Formen als neue Gegenstände überhaupt erst hergestellt; sie sind somit – wie der Inhalt des Päckchens und mit ihm der Blick in opake Körper [Abb. 1 und 2] – multimedial verfasst. Vergleichendes Röntgensehen
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III
Zeichnung, Schema, Röntgenbild:
Lesbarmachung durch Medienvergleich
Um 1900 erschienen die ersten medizinischen Röntgenatlanten. Durch die Präsentation einer Auswahl von Röntgenaufnahmen sollten sie Ärzten bei der Herstellung und Deutung der Bilder eine Anleitung bieten und die bildgebenden Möglichkeiten des Röntgenverfahrens am menschlichen Körper vorstellen.6 Begrüßte man das neue Verfahren anfangs euphorisch, weil mit ihm ein scheinbar uneingeschränkter Blick ins Innere lebender Körper möglich wurde, so trat neben diese Faszination besonders dort Skepsis und ein Bewusstsein über die Eigenarten und Schwierigkeiten der Bilder, wo diese zum Ausgangspunkt von Diagnosen und daran anschließenden chirurgischen Eingriffen in den Körper werden sollten. Dies wird am Beispiel eines der wichtigsten Autoren solcher Atlanten, dem Münchener Chirurgen Rudolf Grashey, besonders deutlich. Seine erstaunlich bildkritischen Ausführungen zeigen zugleich, welche Rolle dem vergleichenden Sehen bei der Arbeit mit dem Verfahren auf verschiedenen Ebenen zukommt. Grashey hält 1905 einen Vortrag über Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten beim Röntgenverfahren,7 aus dem sich der Motivationsgrund für seinen noch im selben Jahr erscheinenden Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen8 deutlich ablesen lässt. Die ausführliche und lange Liste von Fehlerquellen und diagnostischen Schwierigkeiten, die Grashey aufführt, bezieht sich neben aufnahmetechnischen Problemen vor allem auf Probleme der Beurteilung der Bilder, die offensichtlich in der Eigenart der Darstellungen selbst liegen. Es ist das Bewusstsein über die Schwierigkeit des Deutens radiologischer Bilder, das Grashey dazu führt, einen ›Normal-Atlas‹ herzustellen, der eine Orientierung bei der Abgrenzung des Pathologischen vom Normalen bieten soll. Die Regeln, die Grashey zur Vermeidung von Fehldiagnosen anbietet, können gleichzeitig als Schlüssel zur Entstehungsgeschichte seines Atlas gelesen werden: »Man vertiefe sich in das Studium zahlreicher Röntgenbilder, ehe man Diagnosen stellt.«9 Grundlage für eine richtige Diagnose ist also das Betrachten und damit implizit das Vergleichen vieler Bilder. Vergleichbar sind die Bilder jedoch nur, wenn »die Aufnahmen derselben Region bei verschiedenen Individuen einander möglichst ähnlich werden und große übersichtliche Vergleichsreihen entstehen«.10 Eine standardisierte Handhabung des Materials und einheitliche Aufnahmebedingungen sind auf dieser Ebene die technischen Bedingungen für den Vergleich, Vera Dünkel
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der hier zunächst einer ersten Ordnung und Klassifizierung von Bildern dient. Riesige Bilderreihen bilden somit den Hintergrund der dann für den Atlas selbst vorgenommenen Auswahl und Zusammenstellung von Aufnahmen. Der Bildteil von Grasheys Normalatlas11 ist im Wechsel von Röntgenbild, Text, Zeichnung und Schema aufgebaut [Abb. 3]; er gründet sich somit auf das Zusammenwirken mehrerer Medien. Neben der Benennung der Aufnahmestellung werden die betreffenden Körperteile anhand einer schematischen Zeichnung erläutert, die genau den im Röntgenbild gezeigten Ausschnitt zeigt. Das Schema scheint direkt vom Röntgenbild abgenommen worden zu sein; so entsprechen sich die Ausdehnung der Knochenstücke und können imaginativ zur Deckung gebracht werden.12 Die Linienskizze vereinfacht die Erscheinung im Röntgenbild, indem sie alle Teile auf ihre Umrisse reduziert. So sind aus den im Röntgenbild sich in- und übereinander schiebenden, zum Teil stark verschwommenen, Knochenrändern messerscharfe Konturen geworden, die jeden einzelnen Knochenbaustein klar umgrenzen und mit Hilfe von Zahlenindices und Abkürzungen benennen. Die teils durchgezogenen, teils gestrichelten Linien verdeutlichen zugleich, wie die räumliche Einordnung der Knochenformen im Röntgenbild erfolgen soll: »Was punktiert [ist], liegt weiter ab von der Platte.«13 Die schematische Zeichnung gibt somit eine Anleitung, wie man das Röntgenbild entziffern soll, wie man die dort erscheinenden Formen voneinander unterscheiden kann und wie sie sich räumlich zueinander verhalten. Der Reproduktion des Röntgenbildes auf fotografischem Glanzpapier (Autotypie) ist zusätzlich eine anatomische Zeichnung beigefügt, die im auffälligen Kontrast zum Röntgenbild dieses um seine Flächigkeit ergänzt, indem sie den ganzen Fuß mit allen einzelnen Knochen sehr plastisch darstellt. Sie stellt als Gesamtansicht den größeren Zusammenhang dessen her, was in Schema und Röntgenbild ausschnitthaft erscheint, so dass auf einen Blick deutlich wird, dass es sich auf diesen Seiten um die Knochen des Fußes handelt. Im Gegensatz zum Röntgenbild zeigt die Zeichnung keinen bestimmten individuellen Fuß, sondern eine Idealansicht des Fußes, nämlich eine Synthese aus fotografischen Bildern vieler normaler Fußknochenskelette. Die aus Johannes Sobottas Anatomieatlas stammende Zeichnung14 erhält in Grasheys Röntgenatlas die Funktion, den anatomischen Zusammenhang des hier Gezeigten darzustellen, um so das Verständnis der beiden anderen Bilder zu fördern. Sie erweitert Vergleichendes Röntgensehen
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3 Doppelseite aus: Rudolf Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen, 1912.
diese um eine Dimension, indem sie deren fehlende Perspektive ergänzt. Erst hier wird das Körpergebilde visuell als räumlich greifbar und die Ausdehnung und Anordnung der einzelnen Knochen durch die Verteilung von Licht und Schatten ganz verständlich. Indem die Zeichnung den Fuß aus einem bestimmten Blickwinkel zeigt, gibt sie eine wichtige Information, auf die auch der Text hinweist, die aber aus dem Schema und dem Röntgenbild allein nicht ganz klar hervorgeht: »Auf dem Bild sieht man den Fuß von außen«15 und: es handelt sich um einen linken Fuß. Die wichtigste Funktion dieser Zeichnung jedoch ist es, zu gewährleisten, dass das dem fotografischen Dilemma des individuellen Einzelfall-Bildes unterworfene Röntgenbild dank ihr einen allgemeingültigen Charakter erlangen kann. In der Zusammenschau der Bilder vermag es zum »Normalbild«, zum Typus zu werden, welcher dann als Vor- und Vergleichsbild für weitere Bilder in der Praxis dienen kann.16 Der Vergleich der Medien dient der Annäherung an einen doppelten Gegenstand: den normalen Fuß und seine mediale Erscheinung im Röntgenbild. Dem Röntgenbild wird durch die Gegenüberstellung mit der plastischen Zeichnung ein Teil von ihrem Status als Idealbild zugewiesen, zugleich aber auch ein Teil ihrer Plastizität und räumlich-haptischen Klarheit. Diese Ästhetik wurde auf der Grundlage fotografischer Ansichten von Fußknochen gewonnen und ergänzt das Röntgenbild um etwas, das ihm streng genommen fundamental fremd ist, im Hinblick auf den Gegenstand Vera Dünkel
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aber ungemein erhellend wirkt. Die Zeichnung suggeriert dabei zugleich, sie zeige das Referenzobjekt der Röntgenaufnahme oben, bei der es sich jedoch gar nicht um präparierte Knochen, sondern um einen Fuß aus Fleisch und Blut handelte. Sie lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Erscheinung des Fußes im Röntgenbild und den Gegenstand der hier gezeigten Tafel: die Knochen des Fußes, ihre Bezeichnung, Stellung und Ausdehnung. Der schematischen Zeichnung kommt eine Art Scharnierrolle zwischen den beiden anderen Bildern zu. Mit ihrer Hilfe werden die Knochenteile klar voneinander getrennt und benannt. Ausgehend vom Röntgenbild differenziert die Skizze, was sich im Röntgenbild überlagert und entwirrt die ineinander geschobenen Formen. Sie bleibt jedoch flächig und muss ihrerseits entwirrt werden, was durch die anatomische Zeichnung links unten geschieht. Die Skizze stellt die entscheidende Verbindung zum Text her und ermöglicht so die genaue Bezeichnung der einzelnen Teile, um die es geht. Nicht nur das Layout der Seiten betreffend befindet sie sich zwischen Zeichnung und Röntgenbild, sondern auch ästhetisch: Ihre Flächigkeit und die vielfachen Überlagerungen der Striche stehen dem Röntgenbild nahe, während die linearen Umgrenzungen der Knochen dieselbe Klarheit wie die anatomische Zeichnung besitzen. Der ›normale Fuß‹ wird als Gegenstand multimedial konstruiert, während seine Erscheinung im Röntgenbild spezifisch, Vergleichendes Röntgensehen
4 Doppelseite aus: Rudolf Grashey, Atlas chirurgischpathologischer Röntgenbilder, 1908.
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individuell und zu einem gewissen Grad deutungsoffen bleibt. So erhellen vier Medien – Text, Schema, Zeichnung und Röntgenbild – einen Gegenstand, der nur jenseits jedes der hier gezeigten Bilder existiert, aber auch sonst nirgendwo zu finden ist. Der menschliche Normalfuß wird erst durch das vergleichende Sehen hervorgebracht und konstituiert sich allein in der Zusammenschau der Bilder. Zugleich erhellen die drei Medien Text, Schema und Zeichnung ein viertes Medium: das Röntgenbild. Indem sie dazu dienen, es lesbar zu machen, deuten sie indirekt auf dessen Defizite hin. Nur ein medienkritisches Wissen über die Deutungsschwierigkeiten des neuen Mediums konnte zur Zusammenstellung dieser Bilder führen. Ihr Zusammenwirken ist wiederum sehr suggestiv: Die vergleichende Gegenüberstellung lässt (ähnlich wie in Abb. 1) die Schwierigkeiten fast vergessen, welche die Entzifferung des Röntgenbildes isoliert betrachtet mit sich bringt. Die Zusammenschau der Bilder funktioniert wie eine visuelle Synthese, in der alle Qualitäten der verschiedenen Medien zu einem Gegenstand des Wissens verschmelzen. IV Unvergleichbarkeit und das Bild als Wegweiser
Die Tafeln aus dem Normalatlas verweisen mit ihrer medialen Vielfalt darauf, dass jedes Röntgenbild in den Zusammenhang klinischen und anatomischen Wissens gestellt werden soll,17 welches über das unmittelbar Sichtbare hinausreicht. Grashey betont jedoch zugleich, dass die Röntgenbilder eine vollkommen eigene Erscheinungsweise besitzen, die sich vom aus der Anatomie Bekannten grundlegend unterscheidet: »Manche im Röntgenbild scharf hervortretende Umrisse und Linien entsprechen keinem abgeschlossenen anatomischen Begriff. Für andere, makroskopisch-anatomisch sich deutlich abhebende Punkte und Linien suchen wir vergebens einen entsprechenden Ausdruck im Röntgenbild. Darum ist es oft umständlich, die in die Ebene des Bildes zusammengedrängten Linien aufzulösen und zu entwirren.«18 Die Vergleichbarkeit von Röntgenbild, anatomischem Wissen und Körper steht in der Auseinandersetzung mit den Röntgenbildern immer wieder fundamental in Frage, etwa wenn gar nicht klar ist, ob überhaupt eine pathologische Veränderung vorliegt oder beispielsweise aufgrund eines klinischen Befundes erstmals nach Vera Dünkel
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einer solchen gesucht werden soll, diese aber bisher nicht lokalisiert werden konnte, wie im Falle von Fremdkörpern. Grasheys drei Jahre nach dem Normalatlas herausgegebener Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder19 verdeutlicht dieses Problem besonders eindringlich. Eine Doppelseite aus diesem Atlas zeigt eine Textseite und die zugehörige Bildtafel mit fotografischen Reproduktionen [Abb. 4]. Hier sind weder anatomische Zeichnungen noch schematische Skizzen beigefügt. Die Bilder sind lediglich mit Nummern, Buchstaben und kleinen Pfeilen versehen, durch die der Text sie erklären kann.20 Dieser beschreibt die Bilder kurz, erwähnt die jeweilige Aufnahmetechnik und bezieht den individuellen Krankheitsfall mit ein. Die Tafel zeigt Bilder unterschiedlicher Größen, die sich eng aneinander reihen und so angeordnet wurden, dass sie die Seite vollständig ausfüllen. Die zum Teil winzigen Ausschnitte zeigen jeweils nur den Ort im Körper, welcher die Diagnose direkt betrifft. Die einzelnen Ausschnitte präsentieren sich wie abstrakte Nebelbilder oder wie Formationen frei aneinander gereihter organischer Gebilde. Gemeinsam sind ihnen die fein differenzierten Grautöne, über die die kleinen, je nach Untergrund weißen oder schwarzen Zeichen eingedruckt sind. Ohne diese Markierungen und die ihnen zugeordneten schriftlichen Bezeichnungen und Erklärungen wäre äußerst schwierig auszumachen, was aus den wolkenartigen und schleierhaften Formen jeweils herauszulesen ist. Umso deutlicher wird zusammen mit dem beschreibenden Text der exemplarische Charakter dieser Bilder: Bei den pathologischen Aufnahmen tritt das Problem des individuellen Einzelfalls noch schärfer hervor, da die Variationen der Krankheitsfälle eine noch größere Vielfalt möglicher Resultate aufzeigen. Von diesen Einzelfallaufnahmen wurde wieder nur das »Pathologische« ausgeschnitten, »um eine möglichst grosse Anzahl von Bildern unterzubringen«.21 Hier konnten keine idealen Darstellungen zusammengestellt werden; die Einzelfälle mussten als solche belassen werden, weil jedes dieser Bilder nur ein bestimmtes Beispiel, eine mögliche Variation einer (typischen oder untypischen) pathologischen Veränderung ist. Obwohl es keinen Bildmedienvergleich auf dieser Tafel gibt, ist das Entziffern der Bilder an die Kenntnis anderer Erscheinungsweisen derselben Körperregionen im Röntgenbild gebunden: Es soll auf der Basis des im Normalatlas vermittelten Wissens stattfinden.22 Man muss also ähnliche Bilder ständig vor dem inneren Auge haben, auch wenn im Atlas selbst keine visuelle Gegenüberstellung stattfindet, wo das Röntgenbild mit seinen zunächst rätselhaften Schatten für sich steht. Vergleichendes Röntgensehen
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Bezüglich der unvermeidlichen Bildauswahl, auf die Grashey im Vorwort bedauernd hinweist, ist interessant, dass er diagnostisch fragwürdige Bilder bewusst in den Atlas miteinbezogen hat: »Anfangs gedachte ich nur Fälle mit anatomisch sichergestellter Diagnose zu bringen; andererseits lag mir daran, gerade an zweifelhaften Fällen dem Anfänger zu zeigen, dass hinter vielen Röntgendiagnosen ein Fragezeichen steht […]«. Anhand solcher Fälle tritt in aller Schärfe die mögliche Differenz von Bild und abgebildetem Gegenstand hervor. Grashey war sich dieser Differenz offenbar bewusst und verweist deshalb ausdrücklich darauf, dass das Verfahren seine Grenzen hat. Er betont, dass bei der Untersuchung und Diagnose die Röntgenmethode eine unter vielen ist und dass das »Fragezeichen« hinter manchen Diagnosen desto grösser sei, »je weniger die übrigen Untersuchungsmethoden gleichzeitig mitsprechen können«.23 Zudem gibt es Fälle, in denen es hartnäckig bestehen bleibt, wie etwa im Falle einer über Jahre zerfallenen Nadel im Arm eines Mädchens, die im Röntgenbild wie eine kompakte Nadel erschien, jedoch chirurgisch nicht entfernt werden konnte, weil sie sich nach Jahren in Eisenrost aufgelöst hatte.24 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Diagnose, sofern sie nur aus dem Bild erfolgen kann, nicht über das hinaus kann, was im Bild sichtbar ist. Die Vor- und Nachteile, Möglichkeiten und Grenzen der Methode liegen gleichermaßen im Mehrwert der Sichtbarmachung. Dieser Mehrwert beinhaltet zugleich die Grenzen ihrer Anwendbarkeit. Sie zu kennen und zu schützen, ist für Grashey die Voraussetzung dafür, dass die Röntgenbilder einen Erkenntniswert haben können: »Ich hoffe, dass der Atlas dazu beiträgt, die Röntgenstrahlen als diagnostisches Hilfsmittel schätzen zu lernen, aber doch auch die Grenzen zu schützen, in denen sich diese eigenartige Methode bewegt.«25 Aufgabe des Atlas ist es deshalb in erster Linie, als Wegweiser zu dienen, 26 indem er »auf dem Wege bildlicher Anschauung in Buchform […] das Auge in der eigenartigen Aufgabe der Wahrnehmung feiner Schattenunterschiede üben und schulen« soll.27 Für eine solche Schulung des Auges ist der Vergleich konstitutiv. Das vergleichende Sehen fließt als implizite Methode in jede Bildanalyse ein. Jede Beurteilung eines neuen Bildes muss auf der Grundlage von Erfahrungen mit vielen Bildern und eines aus dieser Erfahrung hervorgegangenen Bildgedächtnisses und ›stummen Wissens‹ stattfinden. Der Atlas ist ein visuelles Übungsfeld und damit Teil des Fundaments jeder ärztlichen Diagnose. Für Grashey ist klar, dass diese sich nicht nur auf den Körper bezieht, sondern Vera Dünkel
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ebenso auf das Medium, in dem er erscheint – die auf den Körper bezogene Diagnose muss immer auch eine Bilddiagnose einschließen. Diese Bilddiagnose betrifft auch den Bildträger selbst: Grashey spricht von einer »förmliche[n] Pathologie der Röntgenplatten« und meint damit »sog. Plattenfehler«, durch unsachgemäße Herstellung und Behandlung des Bildmaterials sowie durch Zufall auftretende Störungen, welche der Fahndung nach den pathologischen Veränderungen im Körper im Wege stehen, weil sie von ihnen unter Umständen nicht zu unterscheiden sind.28 Spätestens dann wird das Verhältnis von Darstellung und Gegenstand unbestimmbar und eine direkte Übersetzung unmöglich. An was aber hält sich der Arzt, wenn der dargestellte Gegenstand mit seiner medialen Verfasstheit zusammenfällt? V Bildgedächtnis und vorurteilsfreies Sehen
Die von Grashey in seinen Atlanten dargelegte Epistemologie findet 1924 in einem Sammelband mit dem Titel Irrtümer der Röntgendiagnostik29 eine theoretische Verfestigung. Ähnlich wie bereits in seinem Vortrag von 190530 diskutiert Grashey erneut die Vorund Nachteile der Methode und gibt Ratschläge, wie Fehlerquellen zu vermeiden und diagnostische Schwierigkeiten zu überwinden sind.31 Diese betreffen neben der grundsätzlichen Entscheidung, ob überhaupt geröntgt werden soll, die Handhabung der Technik, die Wahl der Aufnahmebedingungen und Prüfung der Bildträger bis hin zur sachgemäßen Begutachtung der Fotoplatten. Wieder liegt der Schwerpunkt auf der »Analyse« von Bildern, die nur auf der Basis »genügender Erfahrung« und »strenger Kritik« erfolgen dürfe und bei der zuallererst höchste Vorsicht geboten sei: »Je genauer und bestimmter eine Röntgendiagnose lautet, desto größer ist natürlich die Möglichkeit eines Irrtums.«32 Grashey plädiert bezüglich der Vorgehensweise für eine Trennung von klinischem und Röntgenbefund, aber auch von Bildbefund und der daraus abzuleitenden Diagnose: »Die Röntgendiagnose muss möglichst auf eigenen Füßen stehen […]. Es muss unterschieden werden zwischen der möglichst genau abzufassenden Beschreibung des Röntgenbefundes und den daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen«.33 Hier trifft Grashey auf ein paradoxes Problem, dem sich der Röntgenologe bei jedem Herstellen und Deuten der Bilder gegenübersieht: Einerseits muss er über eine Reihe von Informationen verfügen, um die Aufnahme überhaupt vornehmen und die Bilder interpretieren zu können; er muss dabei »über die Vergleichendes Röntgensehen
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technischen Einzelheiten, wie das Bild zustande kam, genau unterrichtet sein« und er muss die Aufnahme selbst durchgeführt haben, um technische Fehler ausschließen zu können. Andererseits soll seine Röntgendiagnose »auf eigenen Füßen stehen«, und allein aus dem Bild heraus erfolgen: Wenn nun der Röntgenologe »den Kranken auch untersucht und befragt, dann steht er allerdings nicht mehr ganz objektiv dem Röntgenbefund gegenüber«. 34 Er könne, so Grashey, dies nur »durch entsprechende Selbstkritik einigermaßen ausgleichen, indem er sich selbst immer wieder einredet, den Röntgenbefund so abzufassen, wie wenn er vom Kranken nichts weiter wüsste«.35 Trotz des vorhandenen Vorwissens über den klinischen Befund soll also der Röntgenologe im ersten Schritt das Bild vorurteilsfrei ansehen – so tun, als ob er nichts wüsste – und beschreiben. 36 Er muss dabei jeden Fleck, jede Form, Spur, Linie und jeden Kratzer, kurz: den Gegenstand in seiner medialen Verfasstheit und als Artefakt ernst nehmen. Grasheys Lösungsvorschlag ist paradox aber unausweichlich: Gerade dort, wo nur das geschulte Auge intuitiv entscheiden kann, muss eine möglichst neutrale und vorurteilsfreie Beschreibung die objektive Grundlage jeder Interpretation bilden. Der dabei immer wieder vorzunehmende Versuch eines unvoreingenommenen Blickes ist im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit ein Korrektiv des Bilderdeutens. Als bewusst gemachtes Betrachten erfüllt er eine doppelte Funktion: Er bildet sowohl die einzige objektive Grundlage einer aus dem Bild gezogenen Erkenntnis und er schult das Auge und ist damit konstitutiv für die auszubildende Erfahrung, auf deren Grundlage eine abschließende Deutung ebenso fundamental fußt. Bildgedächtnis und vorurteilsfreier Blick schließen sich damit nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig.37 VI Vergleichendes Sehen: Schulung des Auges und Lenkung des Blicks
Die angeführten Beispiele zeigen, dass dem vergleichenden Sehen als Arbeits- und Vermittlungsinstrument eine besondere Rolle bei der theoretischen Einordnung und zur wissenschaftlichen Etablierung einer neuen Art von Bildern zukam. Wenn in Bezug auf die neue Technik das Sehen gewissermaßen erst neu gelernt werden musste, so konnte das vergleichende Sehen helfen, eine Orientierung zu schaffen, Kategorien für weitere Zuordnungen zu bilden und Anknüpfungen an Bekanntes herzustellen. Vergleichbarkeit musste dabei zuerst selbst hergestellt werden, was auf verschiedene Vera Dünkel
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Weise geschehen konnte: durch die einheitliche Einstellung und Nutzungsweise der Apparate, durch die Präparierung der Apparate und der aufzunehmenden Objekte, durch Inszenierung und Gestaltung in der Wahl und Anordnung der Objekte, aber auch durch Anknüpfung an bestehende Bildwelten durch Medienvergleiche. Wenn diese Eingriffe mit dem Ziel stattfanden, sowohl die neuen Bilder lesbar zu machen, als auch den Blick für ihre Eigenheiten zu schärfen, so fand dadurch zugleich eine Lenkung bzw. Einschränkung des Blicks statt. Wie die neue Technik mit ihrem Potential, Unsichtbares sichtbar zu machen, zugleich Anderes unsichtbar werden lässt,38 trifft auch der Vergleich, indem er bestimmte Dinge zusammenbringt, eine Auswahl, die anderes dem Blick entzieht und die Wahrnehmung so auf ein bestimmtes Ergebnis hin lenkt. Sehen lernen heißt hiermit immer auch, Bestimmtes zu sehen und anderes nicht (mehr). So kann etwa der Medienvergleich wohl für die Eigenheiten der einzelnen Medien sensibilisieren, zugleich legt er durch die besondere Anordnung von Bildern aber auch eine bestimmte Lesart nahe. Vergleichendes Sehen ist damit sowohl Sichtbarmachungs- als auch Unsichtbarmachungstechnik.
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ques, Paris 1896. Es handelt sich um eine der ersten physikalischen Abhandlungen über die Röntgenstrahlen nach der Bekanntgabe des neuen Verfahrens durch Wilhelm Conrad Röntgen im Januar 1896. Ganz entschlüsselt wird der Inhalt des Päckchens erst durch die Bildunterschrift auf transparentem Papier, welche darübergelegt zwischen den Bildern erscheint und sich offensichtlich auch auf beide bezieht: »Boîte en bois, contenant une montre et sa chaine.« Eine sensationelle Entdeckung, in: Die Presse, Wien, 05. 01.1896, S. 1. Vgl. Wilhelm Conrad Röntgen, Über eine neue Art von Strahlen. (Vorläufige Mittheilung.), Sonderdruck aus den Sitzungsberichten der Würzburger Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft 1895. Röntgen verschickte diese Abhandlung am 01. 01.1896 zusammen mit einer Reihe von fotografischen Abzügen an Kollegen im In- und Ausland. Vgl. Vera Dünkel, Die Fotografie mit Röntgenstrahlen. Hermann Krones Rezeption des Mappenwerks von Walter König und die Ikonographie der frühen Röntgenbilder, in: Andreas Krase und Agnes Matthias (Hg.), Wahr-Zeichen. Fotografie und Wissenschaft, Dresden 2006, S. 45 – 46 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Dresden 2006/07]. Diese Atlanten sind Ausdruck intensiver Bemühungen um die medizinische Nutzbarmachung des Verfahrens. Vgl. dazu Monika Dommann, Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896 –1963, Zürich 2003, bes. S. 285ff. Der Vortrag wurde im Ärztlichen Verein zu München gehalten und in der Münchner Medizinischen Wochenschrift abgedruckt. Vgl. Rudolf Grashey, Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten beim Röntgenverfahren, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, 52/1, 1905, S. 807– 810. Rudolf Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen [1905], 2. Aufl., München 1912. Grashey, Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten (Anm. 7), S. 810. Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder (Anm. 8), S. III (Vorwort zur 1. Aufl. von 1905, S. III – IV). Im Folgenden wird Bezug genommen auf die zweite Auflage des Atlas von 1912, die gegenüber der ersten von 1905 erheblich erweitert wurde. Vgl. dazu Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder (Anm. 8), S. V (Vorwort zur 2. Aufl.): »Die Anzahl der autotypischen Bilder ist von 97 auf 207 gewachsen, auch die Skizzen wurden stark vermehrt.« Gleiches gilt für den technischen und physikalischen Teil. Auf manchen Tafeln des Atlas ist dies tatsächlich geschehen. Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder (Anm. 8), S. 187. In der ersten Auflage von 1905 enthält der Atlas diese Zeichnungen noch nicht. Vgl. Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder (Anm. 8), S. V (Vorwort zur 2. Aufl.): »Das Studium der Bilder glaubte ich durch Einstreuung von Skeletansichten noch bequemer machen zu sollen. Zu diesem Zweck musste ich eine Anleihe bei den Anatomen machen. Besonders das freundliche Entgegenkommen des Herrn Prof. Sobotta ermöglichte mir, eine grössere Anzahl von Skeletabbildungen aus seinem im gleichen Verlag erschienenen Atlas herüberzunehmen.« Sobottas Atlas verdeutlicht mit seinen zum großen Teil nach Reihen von Fotografien angefertigten Zeichnungen ein Schwanken zwischen Idealbild und fotografisch hergestelltem Zustands- und Einzelfallbild. Vgl. Lorraine Daston und Peter Galison, Das Bild der Objektivität, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29 – 99, hier S. 64. Zum Transfer der Zeichnungen aus dem Anatomieatlas von Sobotta in Grasheys Röntgenatlas vgl. Markus Buschhaus, Über den Körper im Bilde sein. Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, Bielefeld 2005, S. 244f. Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder (Anm. 8), S. 187. Vgl. Dommann, Durchsicht, Einsicht, Vorsicht (Anm. 6), S. 286. Vgl. Buschhaus, Über den Körper (Anm. 14), S. 237. Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder (Anm. 8), S. III. Vera Dünkel
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19 Rudolf Grashey, Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder, München 1908. 20 Der Text findet sich auf der nächsten Seite weitergeführt. Vgl. ebd., S. 127. 21 Ebd., S. III. 22 Ebd., S. III: »Da ich die Kenntnis normaler Röntgenbilder beim Leser voraussetzen
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musste, konnte ich es verantworten, aus den Bildern nur das Pathologische auszublenden […].« Ebd., S. IV. Vgl. zu diesem Fall Grashey, Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten (Anm. 7), S. 809, und Dommann, Durchsicht, Einsicht, Vorsicht (Anm. 6), S. 8. Grashey, Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder (Anm. 19), S. IV. Vgl. Daston und Galison, Das Bild der Objektivität (Anm. 14), S. 71, und dies., Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 327. Grashey, Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder (Anm. 19), S. III. Grashey, Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten (Anm. 7), S. 807. Zur Verflochtenheit von Fakt und Artefakt in fotografischen Experimenten um 1900 vgl. Peter Geimer, Was ist kein Bild? Zur »Störung der Verweisung«, in: ders., Ordnungen der Sichtbarkeit (Anm. 14), S. 313 – 341. Rudolf Grashey (Hg.), Irrtümer der Röntgendiagnostik, Leipzig 1924. Vgl. Grashey, Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten (Anm. 7). Rudolf Grashey, Irrtümer und Fehlerquellen der Röntgendiagnostik und deren Verhütung. Allgemeines von Prof. Dr. Rudolf Grashey, in: ders., Irrtümer der Röntgendiagnostik (Anm. 29), S. 7–15. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd. Getrennt von der Beschreibung und Benennung der sichtbaren Formen soll dann erst im nächsten Schritt der klinische Befund hinzugenommen werden und eine Annäherung an die Diagnose in Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt stattfinden, wobei bis dahin offene Möglichkeiten der Deutung ausgeschlossen werden. Ebd., S. 11f. Nicht zuletzt diese Abhandlung zeigt, dass Grashey ein hervorragendes Beispiel dafür ist, wie in der Wissenschaft der Umgang mit Bildern kritisch reflektiert und auch theoretisch erörtert wird – entgegen der Annahme, dass die Theoretisierung von Bildwissen allein Sache der Künste sei. Vgl. dazu Markus Buschhaus, ›Bilderflut‹ – ›Bilderrausch‹ – ›Bildermedizin‹: Anmerkungen zum medizinischen Bildhaushalt, in: Frank Stahnisch und Heijko Bauer (Hg.), Bild und Gestalt. Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften?, Hamburg 2007, S. 57–74, hier S. 64. Vgl. Martina Hessler, Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, S. 13; Helga Nowotny, Einleitung, in: Helga Nowotny und Martina Weiss (Hg.), Shifting Boundaries of the Real. Making the Invisible Visible, Zürich 2000, S. 3: »jede Form des Sichtbarmachens schließt ein Unsichtbarmachen mit ein«.
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Abbildungsnachweis 1 Charles Edouard Guillaume, Les rayons x et la photgraphie à travers les corps opaques,
Paris 1897, Frontispiz. 2 Charles Edouard Guillaume, Les rayons x et la photgraphie à travers les corps opaques,
Paris 1897, Frontispiz mit darüber gelegtem Transparentpapier. 3 Rudolf Grashey, Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen. München 1912, Bild 168/168a und S. 187. 4 Rudolf Grashey: Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder. München 1908, S. 126 und Tab. I.
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Sammeln – Anordnen – Herrichten: Vergleichendes Sehen in der Klassischen Archäologie Stefanie Klamm
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Die Auseinandersetzung mit dem Objekt
Vergleichendes Sehen ist elementar für objektbezogene Wissenschaften, die auf einem Vergleich von Gegenständen beruhen und darauf Klassifikationssysteme auf bauen. Dies gilt sowohl für historische Fächer wie Archäologie und Kunstgeschichte als auch für Disziplinen wie Biologie oder Medizin, in denen vergleichendes Sehen den analytischen Zugang zu Merkmalen und Eigenschaften eines Gegenstandes, zum Beispiel einer Körperanatomie, herstellt. In Ermangelung von Schriftquellen ist der visuelle Vergleich aber gerade in der Archäologie die zentrale Grundlage zur Ordnung von Hinterlassenschaften der antiken Welt, um deren Artefakte in eine historische Gliederung nach Epochen, Räumen, Schulen oder Künstlerpersönlichkeiten zu bringen. Er gehört dennoch zu den eher selten thematisierten Wissensbeständen des Fachs, über die entsprechend wenig direkt in Erfahrung zu bringen ist.1 Möglich wurde und wird ein solcher Vergleich überhaupt nur unter der Bedingung, dass die antiken Überreste nebeneinander vorgeführt werden können. Da dies aufgrund ihrer geografischen Zerstreuung nicht immer, zumindest nicht mühelos, mithilfe der Originale selbst zu bewerkstelligen war, wurde der Gebrauch von 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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Reproduktionsverfahren zwingend für die vergleichende Forschung. Medialität – im Sinne von Vermittlung durch Abbildungen – ist also ein typisches Kennzeichen des Vergleichs. Die Technik des Vergleichens wurde umso notwendiger, je mehr sich das Fach als Wissenschaft begriff, die von der Anschauung des Objektes auszugehen habe. Zwar reicht das wissenschaftliche Studium antiker Denkmäler bis in das Mittelalter und die Antike selbst zurück, doch unterschieden sich die Sehweisen und Ordnungssysteme von jenen der institutionalisierten Archäologie des 19. Jahrhunderts, welche in Auseinandersetzung mit der klassischen Philologie ihre neuen Methoden der Bestimmung entwickelt und das antike Monument als Gegenstück zu den Schriftquellen der Philologen aufgefasst hatte.2 Durch größere Abbildungskompendien konnten die antiken Artefakte der archäologischen Forschung zugänglich gemacht und auf diese Weise zu Objekten einer Wissenschaft werden. Abbildung war somit oftmals mit wissenschaftlicher Bekanntmachung gleichzusetzen. Diese Kompendien waren darin den naturwissenschaftlichen Atlanten vergleichbar, welche die maßgeblichen ›Arbeitsobjekte‹ systematisch versammelten. Sie dienten der Augenschulung – und sie setzten langfristig Maßstäbe, wie die wissenschaftlichen Objekte anzusehen seien. Ihre Bilder stellten nicht nur Gegenstände vor, sondern auch das Wissen von ihnen.3 Damit gingen Transformationsprozesse einher, die das Artefakt und seine Erkenntnisweisen veränderten. Durch den analytischen Zugang über das antike Monument und seine Abbildung entstand ein regelrechter Zwang zum Vergleich, d. h. ein unausgesprochenes Gebot, Vergleichbarkeit herzustellen, um darauf wissenschaftliche Urteile und Argumente zu gründen. Das Tertium Comparationis stellte in der Archäologie dabei meist das Material oder die Gattung dar, es konnte aber auch ein Ort oder eine Zeit sein.4 Der Vergleich ging deshalb immer mit einem Eingriff einher, gelenkt durch das Vergleichsinteresse: Wenn eine Verschiedenheit von Merkmalen anhand der Darstellungen herausgestellt werden sollte, so wurde die grundsätzliche Ähnlichkeit der analysierten Artefakte vorausgesetzt. Am Beispiel archäologischer Denkmäler-Atlanten lassen sich einzelne Aspekte archäologischen Vergleichens besonders deutlich nachvollziehen, so etwa die Sammlung und Anordnung archäologischen Materials in verschiedenen Formen, ferner seine Herrichtung und insbesondere der Spezialfall der ›Kopienkritik‹, Stefanie Klamm
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ein archäologisches Verfahren, das ein gedachtes ›Urbild‹ freizulegen versuchte, welches in den antiken Monumenten hervortrete, auch wenn es selbst nicht ›rein‹, sondern nur über die Vermittlung von medialen Verfahren gezeigt werden konnte. Entscheidend sind die medialen Bedingungen des Vergleichs: streng genommen erlauben erst die Reproduktionsmedien eine vergleichende Auseinandersetzung mit Objekten. In dieser Form führt der Vergleich auch zu einer Kritik verschiedener Darstellungsweisen, z. B. Fotografie und Zeichnung, wenn diese nebeneinander gestellt werden.5 II »unum vidit, nullum vidit«: Die Bildsammlungen der Denkmäler-Atlanten
»Monumentorum artis qui unum vidit, nullum vidit; qui millia vidit, unum vidit.«6 Dieser aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stammende Leitsatz Eduard Gerhards zeigt die grundlegende Bedeutung der vergleichenden Anschauung für die Entwicklung der Klassischen Archäologie zur institutionalisierten Wissenschaft.7 Gerhard machte den Vergleich möglichst vieler Artefakte zum Ziel archäologischen Arbeitens und regte die Bildung von Reihen gleichartiger Monumente in Form von Reproduktionen an. Er forderte Lehrapparate, in denen mittels monumentaler Nachbildungen und Abbildungswerke die Denkmälerkenntnis erweitert und das Auge zu archäologisch-kunstgeschichtlicher Erkenntnis geschult werden könne.8 Mit ihrer Hilfe sollte die Grundlage dafür geschaffen werden, »dass jedem originalen Denkmal alter Kunst die Vergleichung aller sonst irgendwo noch vorhandenen, verwandten und charakteristischen Kunstwerke zu Statten komme«.9 Gerhard war auch der Initiator einer Reihe von Projekten zur systematischen Edition großangelegter Sammlungswerke für die Auf bereitung und Darstellung großer Monumentengruppen. Koordiniert durch die Institutionen archäologischer Forschung, wie das von ihm mitbegründete Instituto di Corrispondenza Archeologica in Rom – das spätere Deutsche Archäologische Institut – sollte durch enzyklopädische Zusammenstellung des Forschungsmaterials ein Grundstein für Ausbildung und Forschung gelegt werden.10 Ein Hauptziel der Arbeit lag darin, die Artefakte in Abbildungen gattungsspezifisch, in topografischer Abgrenzung sowie Material- und Formtypologien folgend zur Verfügung zu stellen, um eine historische Entwicklung innerhalb der jeweiligen Objektklasse aufzuzeigen. Die Corpuswerke bezweckten, die historische Erfassung der gesamten Antike auf eine unanfechtbare, jederzeit nachprüfbare Sammeln – Anordnen – Herrichten
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1 Schicksalsgöttin, in: Gerhard, Etruskische Spiegel, 1843.
Grundlage zu stellen, die auch einem späteren Vergleich standhalten würde – eine Zielsetzung, die sich oft genug als Illusion herausstellen sollte, da wegen beschränkter Arbeitskapazitäten und weiter Wege die Besorgung von Abbildungen nicht immer gelang.11 Als erstes Sammelwerk in Corpusform, das für die folgenden Unternehmen Vorbildcharakter haben sollte, gelten die von Gerhard herausgegebenen Etruskischen Spiegel (1843 –1897).12 Die Mehrzahl der Tafeln bestand aus Einzelbildern von Spiegeln und ihren Gravuren, die als Umrisszeichnungen wiedergegeben und von Eduard Gerhard ikonografisch nach mythologischen Themen gegliedert worden waren. Die Ordnung des Corpuswerks verweist darin auf die »monumentale Philologie« Gerhards mit ihrer Betonung der antiken Mythologie. So gruppierte er Spiegel, auf denen eine weibliche geflügelte Gestalt in ähnlicher Körperhaltung dargestellt ist, entsprechend nebeneinander [Abb. 1].13 Auf diese Weise stellte er Monumente zusammen, die sich ikonografisch und formal ähnelten, ohne sich um eine detaillierte Stefanie Klamm
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chronologische Abfolge zu kümmern. Mit dem Umrissstich folgte er dabei den Reproduktionsstichwerken des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in denen die linienhafte Darstellungsweise eine Reduzierung von Material, Farbe und Oberflächenwerten zugunsten formaler oder figurativer Merkmale bewirkte, die für das Studium mythologischer Darstellungen am besten geeignet schien. Einheitlichkeit sollte durch Abstraktion wesentlicher Objektinformationen erreicht werden, die Reduktion auf Linien den analytischen Zugang zum antiken Artefakt ermöglichen. Diese Bevorzugung der zeichnerischen Linie war daher spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein charakteristisches Motiv in der Entstehungsgeschichte der Archäologie.14 Der Archäologe Gerhard verstand seine Beschreibungen als Referenzen, um weitere, noch aufzufindende Spiegel besser klassifizieren zu können und dafür eine Übersicht der bisher bekannten Formenvielfalt zur Verfügung zu haben, etwa in Gestalt eines Überblicks über die unterschiedlichen Spiegelgriffe und ihre Verzierungen. Ohne seine Beispiele auf den Tafeln dementsprechend Sammeln – Anordnen – Herrichten
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geordnet zu haben, erläuterte Gerhard im begleitenden Text die verschiedenen stilisierten Verzierungen auf der Verbindung von Griff und Spiegelscheibe.15 Entwicklungen von Formen oder Reihenbildungen behandelte Gerhard in seinem Corpus dagegen nicht. Ebenso scheint eine beispielhafte Wiedergabe von bestimmten Typen nicht sein Ziel gewesen zu sein; zwar verwies er auf Merkmale, die ihm spezifisch erschienen, aber er leitete daraus keine einheitliche Klassifikation ab. Auch divergierende Objekte wurden deshalb auf einer Tafel vereint. Es scheint, als habe Gerhard zunächst alles abgebildet, was er finden konnte – die Komplexität der Materie musste erst einmal zu Papier gebracht werden, um sie anschließend mittels Klassifizierungen zu bändigen. In Gerhards Augen hatten die Abbildungen Evidenzcharakter, antike Artefakte wurden damit erstmals für ein wissenschaftliches Publikum verfügbar. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich so in der Archäologie eine gemeinsame Forschungsmethodik und -praxis durchgesetzt, die auf den Monumenten als Ausgangs- und Angelpunkt der wissenschaftlichen Aussage bestand – und gerade deshalb von medialer Vermittlung abhängig war. Bedingung dafür war ein durch vergleichendes Sehen geschultes Auge und das durch lange Beschäftigung mit den Objekten herausgebildete Vermögen, neben ikonografischen Kennzeichen auch andere, grundlegende formale Strukturen wahrzunehmen. Die Frage, wie signifikante Elemente beschrieben, definiert und klassifiziert werden, ob als formale Analysen einer Typologie, einer Stilkritik oder als Ikonografie, wurde zu einer Kernfrage der archäologischen Arbeit, die seither vergleichend Stefanie Klamm
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dachte und vorging. Als eigenständige Methode wurde die Stil- und Formanalyse von Heinrich Brunn in die Archäologie eingeführt. Mit ihrer Hilfe sollten die bedeutungstragenden Elemente von Artefakten bestimmt werden, welche die Objekte aus sich selbst heraus und mittels des Vergleichs erklären würden.16 Formentwicklungen in Reihen nutzte die typologische Methode, um die Grundlagen archäologischer Datierung und weiterer Bestimmungen zu schaffen. Sie stellte durch den Vergleich Formvariablen dar, die den Wandel eines ›Typus‹ innerhalb einer Gattung zeitlich oder räumlich demonstrieren sollten.17 III
2 Weiblicher Idealkopf, München, in: Brunn, Bruckmann und Arndt, Denkmäler, 1888 –1900.
Auswahl und Anschaulichkeit
Einen anderen Zugang als Gerhard hat Heinrich Brunn in der Anlage der Denkmäler griechischer und römischer Sculptur in historischer Anordnung (1888 –1900) gewählt, die er ab 1888 zusammen mit dem Verlag Friedrich Bruckmann in München als Serien großformatiger, in Lichtdrucken reproduzierter Fotografien herausgab [Abb. 2].18 Um eine historische Abfolge der Entwicklung der antiken Plastik anhand ihrer formalen Merkmale darzustellen, wollte Brunn, im Unterschied zu den enzyklopädischen Kompendien, »dem vergleichenden Studium eine reiche, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Auswahl« darbieten: »Nicht jedes beliebige Stück antiker Sculptur ist geeignet, das Verständnis zu fördern.«19 Ziel sei es gleichwohl, »von der […] Plastik in ihrer geschichtlichen Entwicklung eine möglichst umfassende Anschauung zu gewähren«.20 Dreidimensionale Reproduktionen – Gipsabgüsse – wären zwar für die wissenschaftliche Behandlung von Skulptur am besten geeignet, Sammeln – Anordnen – Herrichten
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aber solch eine Sammlung wäre in Anzahl und Zugänglichkeit der Objekte zu beschränkt. Deshalb verlange »die tiefer eingehende, nach verschiedenen Gesichtspunkten vergleichende Betrachtung die Möglichkeit der Vergegenwärtigung zu jeder Zeit und an jedem Orte; sie vermag daher zu diesem Zwecke der Wiedergabe der Monumente durch graphische Mittel nicht zu entbehren«.21 Um Vergleichbarkeit herzustellen, wurde der Aufnahmeund Darstellungsprozess normiert. Neue fotografische Aufnahmen sollten nach den Originalen erstellt werden. Diese hatten unter einheitlicher wissenschaftlicher Leitung in den Sammlungen Europas an Ort und Stelle zu erfolgen, wobei Aufstellung, Beleuchtung und Wahl des richtigen Standpunktes fortlaufend zu prüfen und der Aufnahmeprozess zu überwachen sei.22 Hinsichtlich des Abbildungsmaßstabes wurde, anstatt einer einheitlichen Norm, die für einen Vergleich der formalen Merkmale günstigste Größe gewählt. Durch Beigabe eines Maßstabes in Zentimetern, der das Verhältnis der Fotografie zum Original eindeutig bestimmen sollte, wurde aber eine größenmäßige Vergleichbarkeit angestrebt [Abb. 2].23 Brunns Reproduktionen sollten nach verschiedenen Gesichtspunkten vergleichbar sein. Sein Abbildungswerk besteht daher aus einzelnen, nicht zusammengebundenen Tafeln, die der Betrachter beliebig ordnen konnte und sollte, da die historische Entwicklung der Skulpturen sich für Brunn nicht als eindimensionale, lineare Abfolge darstellte. Die Tafeln konnten so »für sich das Bild der Kunstgeschichte an unseren Augen vorüberführen, [und] dieses Bild beim Beschauer durch eigene Anschauung erwecken und ihm zum Bewusstsein bringen«.24 Auch die Beschreibung im begleitenden Text sollte auf Möglichkeiten unterschiedlicher Gruppierungen hinweisen.25 Es war Ziel des Corpus, dass durch Neuanordnung der Tafeln verschiedene Zusammenhänge hergestellt werden und die Abbildungen sich gegenseitig erklären konnten, um es als Standardwerk von aktuellen Forschungszuschreibungen frei- und für neue Fragen offen zu halten. Vergleichendes Sehen diente hier der Suggerierung zeitlicher Abfolgen der Monumente, die durch deren zielorientierte Auswahl noch verstärkt wurde. Zur zukünftigen Nutzbarkeit trug auch die Verwendung der Abbildungstechniken bei: Brunn lehnte in seinem Corpus Zeichnungen als nur dem »subjectiven Empfinden« des Künstlers folgend ab. Die Fotografie schien ihm ein Garant für die Aufwertung Stefanie Klamm
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der vergleichenden Stilanalyse und für die Befreiung vom Vorwurf der Subjektivität und Nichtwissenschaftlichkeit.26 Nur der Einsatz der ›objektiven‹ Fotografie konnte für Brunn gewährleisten, dass auch spätere Forschungen, die sich den Objekten mit zum Zeitpunkt der Edition noch nicht abzusehenden Fragestellungen nähern wollten, diese weiterverwenden konnten. Denn »die Erfindung der Photographie hat die bildliche Wiedergabe von Kunstwerken in einer Weise ermöglicht, welche von subjectiver Auffassung der Formen durchaus frei ist«. 27 Bei zeichnerischen Abbildungen dagegen könnten mögliche andere Zugriffe beeinträchtigt werden. Die Fotografie erschien damit als das geeignetere Mittel für eine zukunftsorientierte Forschung, deren Suggestivkraft dazu beitrug, eine historische Entwicklung plausibel darzustellen. IV
Vergleichendes Sehen mit Denkmäleratlanten
Wenn mit den Corpuswerken auch versucht wurde, eine vollständige Aufnahme der Artefakte zu erreichen, so war der Grad der Klassifizierung des Materials durch den Vergleich bei den einzelnen Unternehmungen höchst unterschiedlich: In Eduard Gerhards Projekt der etruskischen Spiegel sollte eine vollständige Ordnung des Materials erst später erfolgen; Heinrich Brunn wollte mit seinem Mappenwerk Reihenbildungen anregen, ohne diese dort zu verwirklichen.28 Dem vergleichenden Sehen kamen dabei verschiedene Funktionen zu: War die Ansammlung von Darstellungen bei Gerhard zunächst Evidenzgeber, wurden formale Kriterien in der Folgezeit wichtiger. Brunn diente das vergleichende Sehen gleichzeitig zur Konstruktion der historischen Entwicklung. Denkmäleratlanten, als Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Arbeit, die auf vergleichendem Sehen beruhte, sollten dieses Sehen erst möglich machen, auch wenn sie die Klassifizierung der Objektvielfalt, die von Zufällen und Überlieferungsglück geprägt war, selbst nur bedingt zu leisten vermochten. Das vergleichende Sehen war Voraussetzung des Erkenntnisgewinns; es bedingte in seinen verschiedenen Ausprägungen die visuelle Argumentation und somit gleichzeitig die bildliche Schulung der Archäologen, die sich mithilfe der Abbildungen in den Denkmäleratlanten zukünftig die antiken Artefakte erschließen würden. Die Objektcorpora bildeten dadurch erst das ›Arbeitsobjekt‹ heraus, mit dem die Archäologen sich beschäftigten. Das vergleichende Sehen war Teil einer archäologischen Praxis, die sich ihre Bilder sehr bewusst selbst schuf. Sammeln – Anordnen – Herrichten
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V
Die Herrichtung der Dinge
Vergleichendes Sehen wurde in den Augen der Archäologen erst durch mediale Präparation der Objekte möglich. Das hat die Medienvielfalt des 19. Jahrhunderts unmittelbar an die wissenschaftlichen Praktiken gekoppelt. Antike Idealplastik wurde durch ergänzte Gipsabgüsse und die Anordnung in gleichgerichteten Fotografien erst für den Stilvergleich präpariert. Reinhard Kekulé von Stradonitz nutzte bereits in den 1860er Jahren die Suggestionskraft der Fotografie, um spezielle Ansichten der Artefakte als Beweismittel für seine stilanalytischen Argumentationen einzusetzen. So hat er, um die stilistische Nähe zweier Apollo-Köpfe zu belegen, vier Originalfotografien auf Stefanie Klamm
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Albuminpapier nebeneinandergestellt, die diese in gleicher Perspektive und Lichtführung zeigten [Abb. 3].29 Den Apoll vom Belvedere wollte er mit dem sogenannten Steinhäuserschen Kopf, der 1866 von dem Bildhauer Steinhäuser bei einem Antikenhändler in Rom erworben worden war, vergleichen. Durch die Fotografie erzeugte er scharf konturierte Ansichten der Objekte, für die ein Vergleich geradezu zwingend wurde. Zugleich betonte Kekulé, dass für sein Vorhaben Stiche nach Zeichnungen nicht ausreichend wären. Weil er eine stilistische Übereinstimmung der beiden Stücke vermutete, ergänzte und veränderte er sogar die Abgüsse selbst, die als Vorlage für die Fotografien dienten. Mit bildlichen Mitteln sollte demonstriert werden, dass sie unmittelbar vergleichbar seien.30 Sammeln – Anordnen – Herrichten
3 Apoll Steinhäuser (li.), Apoll vom Belvedere (re.), in: Kekulé, Monumenti, 1864 –1868.
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Im Verlauf seiner weiteren Beschäftigung mit den beiden Idealplastiken verfeinerte er sein Verfahren. Denn »die analytische Vergleichung der Formen beider Köpfe […] [wird] erleichtert, wenn man sie beide in gleiche oder relativ gleiche Bedingungen bringt«.31 Nicht die Originalsubstanz an sich war also wichtig, sondern die Herstellung von Einheitlichkeit. Dazu nutzte Kekulé die Veränderbarkeit des Mediums Gipsabguss, um Ergänzungen am Steinhäuserschen Kopf, die diesen entstellt hätten, abzunehmen und verschiedene Positionen auszuprobieren, die die gewünschte Aussage unterstrichen. Schließlich entschloss er sich sogar zu einem ultimativen Schritt: Er ließ beide Köpfe in gleichem Maße verstümmeln, nämlich einen Abguss des Apoll vom Belvedere an der Büste abschneiden, beschädigen und in die gleiche Position bringen wie das Vergleichsobjekt, damit der Eindruck in beiden Fällen identisch sei: »Die sicherste Vergleichung der einzelnen Formen endlich wird sich ergeben, wenn man einen Abguss des vaticanischen Apoll genau in derselben Weise verstümmelt, wie es der Steinhäusersche ist.«32 Das Resultat seiner Eingriffe hat Kekulé in der Archäologischen Zeitung veröffentlicht [Abb. 4].33 Die Abbildungen scheinen in Hinblick auf Kekulés Argumentation zugunsten einer starken Ähnlichkeit zwischen beiden Köpfen, die auf einen gemeinsamen ›Urtyp‹ zurückgehen sollten, eigens gestaltet worden zu sein. Die Originalität der antiken Artefakte ist für Kekulé also kein Wert an sich, sondern wird zugunsten eines Ideals aufgehoben, das die beiden Skulpturen mutmaßlich in sich tragen sollen. Es ist deshalb bei seinen Abbildungen nicht zu erkennen, wo Ergänzungen oder Veränderungen beginnen und wo die Originalsubstanz aufhört. Die Präparation beider Gipsabgüsse diente gleichfalls dazu, messbare Übereinstimmungen und Divergenzen nachzuweisen und ist damit zugleich ein Beispiel für die Konstituierung von ›Arbeitsobjekten‹ durch die Wissenschaft. 34 Zur Objektivierung wurde von Kekulé eine Maßtabelle zu Hilfe genommen, an der die Größen beider Köpfe verglichen werden konnten, um den optischen Eindruck der Formen zu verifizieren und die stilistische Bewertung nachweisbar exakt zu gestalten. Erst die Verwendung von Abgüssen in gleicher Ausrichtung und Beleuchtung, wie an der publizierten Fotografie zu sehen [Abb. 4], suggerierte die Ähnlichkeit der plastischen Formen augenscheinlich, die durch die Rhetorik der Objektivierung in Kekulés Beschreibung noch verstärkt wurde. 35 Eine indifferente, gleichförmige Wiedergabe durch die Kamera mit der ihr zugeschriebenen Detailgenauigkeit diente ihm als Beweismittel Stefanie Klamm
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für eine überzeugende Argumentation, wobei die Kriterien für ›Originalität‹ mehr und mehr verschwammen. Die Bearbeitung und Herrichtung der Untersuchungsobjekte durch den Wissenschaftler war und blieb für Kekulé selbstverständlich; die dokumentarische Funktion von Fotografie und Gipsabguss auf der einen Seite und die rekonstruierend-interpretierenden Verwendungsmöglichkeiten dieser Darstellungstechniken auf der anderen schlossen sich für ihn nicht aus. VI
Kopienkritik
Die Präparation der antiken Artefakte war ebenso elementar für die Kopienkritik, die der Archäologe Adolf Furtwängler mit großer Konsequenz betrieb. Er sah sie als ›Meisterforschung‹, das heißt als Zuschreibung von statuarischen Denkmälern und Vasen über eine ›Handschrift‹ an antike Künstler, und damit vergleichbar der zeitgenössischen, von Giovanni Morelli entworfenen kunsthistorischen Methodik. 36 Beide identifizierten das künstlerische Individuum durch wiederkehrende und beiläufige Besonderheiten, wie die Gestaltung des Gewandes, der Körperformen sowie der Ornamentik, die als unverwechselbare stilistische Details definiert wurden und an denen die Urheberschaft einzelner Persönlichkeiten festgestellt werden sollte. Dieser identifikatorische Blick der Kopienkritik auf formale Merkmale, von Carlo Ginzburg als ein Charakteristikum des 19. Jahrhunderts bezeichnet und mit Methoden der Psychoanalyse und Kriminalistik verglichen, führte zu einer Fragmentierung des Objekts.37 Nicht mehr das Ganze war entscheidend, sondern seine Auflösung in einzelne Teile. In den Untersuchungen Furtwänglers wurden in vorausgegangenen Jahrhunderten zusammengesetzte antike Bruchstücke aufgelöst und nun in ihrer fragmentarischen Gestalt abgebildet. In Meisterwerke der griechischen Plastik von 1893 hat Furtwängler die Kopienkritik zur Perfektion gebracht, um mit ihrer Hilfe eine Geschichte der griechischen Plastik zu rekonstruieren.38 Mit dieser Methode wurden Werke griechischer Künstler über vergleichende Analysen der monumentalen und schriftlichen Überlieferung in römischer Idealplastik identifiziert. Sie erwuchs aus der Einsicht, dass ein Großteil der erhaltenen antiken Skulpturen römische Kopien nach verlorenen Originalen griechischer Künstler darstellten, über deren Werk und Stil die literarischen Quellen berichteten. Man versuchte daher, möglichst lückenlose Reihen von voneinander abhängigen Kunstwerken zu bilden, die einen Sammeln – Anordnen – Herrichten
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4 Steinhäuserscher und Vaticanischer Apollo, in: Kekulé, Apolloköpfe, 1878.
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5 Amazone, Vatikan, in: Furtwängler, Meisterwerke, 1893.
stilistischen Zusammenhang darstellten.39 Mithilfe des Vergleichs sollte ein nicht mehr vorhandenes Drittes aufgespürt werden, indem durch Ablösen der verschiedenen Schichten der Reproduktion die Durchsicht auf ein verlorenes, gleichsam imaginäres Original erzeugt würde, das den Kopien zwar vorausgehen sollte, aber im wörtlichen Sinne erst aus ihnen hervorgeht.40 Die medialen Techniken hat Furtwängler konsequent an die Erfordernisse seiner Methode angepasst. Er bediente sich des Gipsabgusses, um Fragmente zu Rekonstruktionszwecken wieder zusammenzuführen. Dieses Verfahren war weit verbreitet: Teilabgüsse verschiedener römischer Kopien desselben Statuentyps, die man dem griechischen Original am nächsten glaubte, wurden vielerorts in den Abgusssammlungen, die als »Laboratorien« fungierten, zusammengesetzt, um die verlorenen griechischen Skulpturen wiederzugewinnen.41 Die Tafelabbildungen von Furtwänglers Meisterwerken, hier das Beispiel des Kopfes einer Amazone aus dem Vatikan [Abb. 5], zeigen deutlich die methodenbedingte Fragmentierung und Neuzusammensetzung der Objekte. Die Abbildung gibt zwei standardisierte Ansichten wieder, frontal und im Profil.42 Da der Kopf, wie Furtwängler schreibt, fälschlicherweise der Statue eines nicht zugehörigen Amazonentypus aufgesetzt war, ermöglichte erst der Gipsabguss eine isolierte Darstellung ohne den Körper.43 Der Herstellung von Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit diente zudem die Stefanie Klamm
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Freistellung vor zumeist schwarzem Hintergrund, die dadurch auch eine Aufwertung des einzelnen Objekts mit sich brachte.44 Um der Vereinheitlichung willen arbeitete Furtwängler zum großen Teil mit Gipsabgüssen, da bei vielen Skulpturen aufgrund ihrer Aufbewahrung nur so eine Fokussierung auf den Kopf möglich war. Dies führte in einzelnen Fällen zur besseren Ausleuchtung der Objekte, die ebenso wichtig war, um vergleichbare Ansichten zu schaffen, an denen die stilistische Untersuchung vollzogen werden konnte.45 Auch gelang es Furtwängler auf diese Weise in der Tat, wie bei einer Athena-Statue in Dresden,46 von ihm als zugehörig erkannte antike Fragmente für seine Abbildung wieder zusammenzufügen. Die Fotografie war, nach der Autopsie und mit dem Gipsabguss, für Furtwängler in seinen Publikationen das bevorzugte Mittel, um Formen von Skulpturen in großer Detailgenauigkeit zu vergleichen. Sie erlaube die Kopienkritik in einem Maße, wie es mit anderen Reproduktionsverfahren zuvor nicht möglich gewesen wäre; das richtige Abwägen dessen, was von einem griechischen Original stamme und was der römischen Kopie zuzuschreiben sei, sei nicht mittels Umrisszeichnungen möglich.47 Die Einzelformen, die für die Zuschreibung von elementarer Bedeutung seien und sich gerade in der Feinheit der Oberfläche zeigten, könnten nur durch die Fotografie wiedergegeben werden: »Erst die Photographie ermöglichte es, unter Beibehaltung der charakteristischen Kleinheit Sammeln – Anordnen – Herrichten
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der Gemme alle ihre Formen absolut richtig wiederzugeben«, führte Furtwängler in seiner Monografie zu den antiken Gemmen aus.48 Aus diesem Grund hob er auch die großen Abbildungskompendien für antike Plastik hervor, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begonnen worden waren und ausschließlich mit Fotografien arbeiteten. Er sah sie als fundamental für seine stilanalytischen Untersuchungen an.49 Obwohl sich in den vorgestellten Strategien unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden erkennen lassen, entschieden sich die Archäologen durchweg bewusst für eine eingreifende Vergleichsbildung. Der Grad dieses Eingriffs konnte variieren: War die Sammeltätigkeit zunächst eine Voraussetzung archäologischen Arbeitens, bei der das vergleichende Sehen von einem Evidenzeffekt profitierte, wurden Strategien der Neuordnung und Herrichtung entwickelt, um des Materials Herr zu werden. Mit der stilanalytischen Kopienkritik entstand schließlich eine Methode, die besonders auf medialen Präparationen beruhte. Die ›Arbeitsobjekte‹ der Archäologie konstituierten sich erst im Zusammenspiel verschiedener medialer Möglichkeiten. Alle Zugänge schufen sich so ihr je eigenes wissenschaftliches Objekt aus dem antiken Artefakt. Vergleichendes Sehen entfaltete sich dadurch weiter und im Wechselspiel mit den Objekten zu einem umfassenden Paradigma archäologischen Wissens.
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Endnoten 1 Es liegen bislang keine Abhandlungen zum vergleichenden Sehen in der Klassischen
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Archäologie vor, auch wenn der Vergleich als Grundlage archäologischer Arbeit in Lexika oder Handbüchern Erwähnung findet, beispielsweise in: Stefan R. Hauser, Archäologische Methoden, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 16 Bde., Stuttgart u. a. 1996 – 2003, Bd. 13, 1999, S. 201– 216, bes. S. 202 und Franziska Lang, Klassische Archäologie. Eine Einführung in Methode, Theorie und Praxis, Tübingen/Basel 2002, S. 175 –178. Einzig der Kulturvergleich ist Thema von theoretischen und historischen Reflexionen in der Archäologie geworden. Er beruht jedoch auf anthropologisch-ethnologischen und nicht auf formalen Analogien. Alexander Gramsch (Hg.), Vergleichen als archäologische Methode: Analogien in den Archäologien, Oxford 2000. Zur Herauslösung der archäologischen Methode aus der Philologie vgl. Stephanie-Gerrit Bruer, Die Wirkung Winckelmanns in der deutschen Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1994, S. 164 –180; Suzanne L. Marchand, Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany 1750 –1970, Princeton 1996, S. 104 –115. Vgl. Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 22 – 28, 58. Siehe Lang, Archäologie (Anm. 1), S. 175 –178. Exemplarisch in Heinrich Brunns Auseinandersetzung mit Fotografie und Zeichnung: Heinrich Brunn, Archaischer Bronzekopf im Berliner Museum, in: Archäologische Zeitung 34, 1876, S. 20 – 28; vgl. Ruth Lindner, Sinn oder Sinnlichkeit. Die Klassische Archäologie und ihre Bildmedien, in: Verwandlungen durch Licht. Fotografieren in Museen & Archiven & Bibliotheken, Göppingen 2001, S. 151–162; Stefanie Klamm, Vom langen Leben der Bilder. Wahrnehmung der Skulptur und ihrer Reproduktionsverfahren in der Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts, in: Pegasus – Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike 9, 2007, S. 209 – 228. Eduard Gerhard, Rapporto intorno i vasi volcenti, in: Annali dell’Instituto di Corrispondenza Archeologica 3/1, 1831, S. 5 –111, hier S. 111. Eduard Gerhard (1795 –1867) war einer der wichtigsten Gründungsfiguren der Archäologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Zunächst »Archäolog des Königlichen Museums« in Berlin, wurde er 1843 Professor an der dortigen Universität. Neben dem Instituto di Corrispondenza Archeologica in Rom gründete er auch die Archäologische Gesellschaft zu Berlin und die Archäologische Zeitung. Henning Wrede (Hg.), Dem Archäologen Eduard Gerhard 1795 –1867 zu seinem 200. Geburtstag, Berlin 1997. Eduard Gerhard, Grundriss der Archäologie. Für Vorlesungen nach Müllers Handbuch, Berlin 1852, S. 42f. Zum von Gerhard 1851 gestifteten Lehrapparat an der Berliner Universität vgl. Veit Stürmer, Eduard Gerhards »Archäologischer Lehrapparat«, in: Wrede, Eduard Gerhard (Anm. 7), S. 43 – 46. Eduard Gerhard, Über archäologische Sammlungen und Studien. Zur Jubelfeier der Universität Berlin, Berlin 1860, S. 12 –17, hier S. 12. Beispielsweise Heinrich Brunn, Friedrich Bruckmann und Paul Arndt (Hg.), Denkmäler griechischer und römischer Sculptur I, München 1888 –1900. Zur Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts vgl. Friedrich Wilhelm Deichmann, Vom Internationalen Privatverein zur Preußischen Staatsanstalt. Zur Geschichte des Instituto di Corrispondenza Archeologica, Mainz 1986. Eduard Gerhard, Etruskische Spiegel, 5 Bde., Berlin 1843 –1897, Bd. 5, bearb. von Adolf Klügmann und Gustav Körte, 1884 –1897, S. 4f.; Brunn, Bruckmann und Arndt, Denkmäler (Anm. 10), Vorläufiger Bericht, ohne Zählung. Gerhard, Etruskische Spiegel (Anm. 11). Ebd., Bd. 1, 1843, Taf. 32. Gerhards Schwerpunkt entsprach einem allgemeinen Interesse in der Archäologie für Religion und Mythen des Altertums und ihrer Ikonografie, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zur sogenannten »Kunstmythologie« vgl. Adolf H. Borbein, Klassische Archäologie in Berlin vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Willmuth Arenhövel und Christa Schreiber (Hg.), Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei, Skulptur, Theater und Wissenschaft vom Stefanie Klamm
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16. Jahrhundert bis heute, Berlin 1979, S. 99 –150, hier S. 104 –106; Bruer, Wirkung Winckelmanns (Anm. 2), S. 77– 90. Hans-Ulrich Cain, Hans-Peter Müller und Stefan Schmidt (Hg.), Faszination Linie. Griechische Zeichenkunst auf dem Weg von Neapel nach Europa, Leipzig 2004, bes. S. 22 – 26 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Leipzig 2004/2005]; zur Betonung der Kontur vgl. Caecilie Weissert, Reproduktionsstichwerke. Vermittlung alter und neuer Kunst im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1999, bes. S. 73f., 116 –130, 156f. Diese Argumentation findet ihren Widerhall in archäologischen Diskussionen um die Darstellung von Skulptur bis in das 20. Jahrhundert hinein. Siehe Klamm, Vom langen Leben der Bilder (Anm. 5), S. 211– 213. Gerhard, Etruskische Spiegel (Anm. 11), Bd. 1, 1843, S. 92f. Adolf H. Borbein, Formanalyse, in: ders., Tonio Hölscher und Paul Zanker (Hg.), Klassische Archäologie – Eine Einführung, Berlin 2000, S. 109 –128. Eine detaillierte historische Untersuchung zu Begriff und Methode der Stil- bzw. Formanalyse sowie der Typologie kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Siehe auch: Lang, Archäologie (Anm. 1), S. 49 – 54, 168 – 205; Bruce G. Trigger, A History of Archaeological Thought, Cambridge, MA 2006, S. 223 – 232. Ein Beispiel für eine typologisch beeinflusste Anordnung liefert Alexander Conzes Corpus der attischen Grabreliefs: Alexander Conze, Die attischen Grabreliefs, 4 Bde., Berlin 1893 –1922. Anders als bei Gerhard sollte alles vorhandene Material lückenlos mit Hilfe der Fotografie aufgenommen und ein Apparat von Abbildungen angelegt werden, der dann seinerseits als Arbeitsinstrument zur typologischen Ordnung des Materials fungierte. Brunn, Bruckmann und Arndt, Denkmäler (Anm. 10), Taf. 13: weiblicher Idealkopf, München – drei Ansichten, Profil, Halbprofil und enface. Heinrich Brunn (1822 –1894) wurde 1865 nach München auf einen der ersten Lehrstühle in Deutschland berufen, der ausschließlich der Klassischen Archäologie gewidmet war. Zur Biografie vgl. Bruer, Wirkung Winckelmanns (Anm. 2), S. 164 –180; Marchand, Olympus (Anm. 2), S. 110f., 142 –151; zu Bruckmann: Anne-Cécile Foulon, De l’art pour tous. Les éditions F. Bruckmann et leurs revues d’art dans Munich ville d’art vers 1900, Frankfurt a. M. u. a. 2002. Brunn, Bruckmann und Arndt, Denkmäler (Anm. 10), Vorwort ohne Zählung [S. 2]. Ebd., S. [2]. Der Entwicklungsgedanke ist spätestens seit Johann Joachim Winckelmanns System der griechischen Kunst Voraussetzung für historisches Forschen in Archäologie (und Kunstgeschichte). Auf die Geschichte des Entwicklungsbegriffs kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. Lang, Archäologie (Anm. 1), S. 180 –182; Nikolaus Himmelmann-Wildschütz, Der Entwicklungsbegriff der modernen Archäologie, in: Marburger Winckelmann-Programm, 1960, S. 13 – 40. Brunn, Bruckmann und Arndt, Denkmäler (Anm. 10), S. [1]. Ebd., S. [2]. Ebd. Ebd., S. [3]. Ebd., S. [4]. Der »Vorläufige Bericht« führt allerdings aus, dass der begleitende Text, der die Auswahl erklären sollte, nie erschienen ist. Ebd., S. [1]. Ebd., S. [1f.] Ebd., »Vorläufiger Bericht«: Die Reihenfolge der Tafeln war von der Zugänglichkeit des Materials geprägt; an eine systematische Herausgabe war um der Durchführbarkeit des Projektes willen nicht zu denken. Monumenti Inediti Pubblicati dall’Instituto di Corrispondenza Archeologica 8, 1864 – 1868, Taf. 39/40. Reinhard Kekulé von Stradonitz hatte Lehrstühle in Bonn und Berlin inne und war mit einem Direktorenamt an den Berliner Museen und als Mitglied der Zentraldirektion des Deutschen Archäologisches Instituts ein in vielen Sphären Sammeln – Anordnen – Herrichten
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einflussreicher Vertreter der Archäologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Einsatz der verschiedenen Bildmedien bei Kekulé: Ruth Lindner, Reinhard Kekulé von Stradonitz – Alexander Conze. Zum Diskurs der Fotografie in der klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts, in: Fotogeschichte 73, 1999, S. 3 –16; Stefanie Klamm, Bilder im Wandel. Der Berliner Archäologie Reinhard Kekulé von Stradonitz und die Konkurrenz von Zeichnung und Fotografie, in: Jahrbuch der Berliner Museen 49, 2007, S. 115 –126. Reinhard Kekulé von Stradonitz, Sovra due scoperte archeologiche risguardanti l’Apollo di Belvedere. Discorso pronunciato nell’adunanza solenne dei 14 dicembre 1866, in: Annali dell’ Instituto di Corrispondenza Archeologica 39, 1867, S. 124 –140, bes. S. 139f. Reinhard Kekulé von Stradonitz, Das Akademische Kunstmuseum zu Bonn, Bonn 1872, S. 149. Ebd., S. 149. Siehe dazu auch: Kekulé, Scoperte (Anm. 30), S. 139f.; Reinhard Kekulé von Stradonitz, Apolloköpfe, in: Archäologische Zeitung 36, 1878, S. 7– 9, hier S. 8. Ebd., Taf. 2: Steinhäuserscher und Vaticanischer Apollo. Daston und Galison, Objektivität (Anm. 3). Kekulé, Apolloköpfe (Anm. 32), S. 8f. Lang, Archäologie (Anm. 1), S. 194 –197; Giovanni Morelli alias Ivan Lermolieff, Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin, Leipzig 1880. Zu Morelli vgl. Giacomo Agosti, Maria Elisabetta Manca und Matteo Panzeri (Hg.), Giovanni Morelli e la cultura dei conoscitori, 3 Bde., Bergamo 1993. Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1980, S. 61– 97, bes. S. 61– 63, 68f. Adolf Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik. Kunstgeschichtliche Untersuchungen, Text- und Tafelbd., Leipzig 1893; Bruer, Wirkung Winckelmanns (Anm. 2), S. 182 –185. Adolf Furtwängler war Schüler von Heinrich Brunn und wurde nach Stationen an der Antikensammlung in Berlin als Nachfolger seines Lehrers 1894 nach München berufen. Zu Furtwängler jüngst: Volker Michael Strocka (Hg.), Meisterwerke. Internationales Symposium anlässlich des 150. Geburtstages von Adolf Furtwängler, Freiburg im Breisgau 30. 06. – 03. 07. 2003, München 2005. Zum römischen Kopienwesen mit einer Bewertung der archäologischen Forschungsgeschichte: Wilfred Geominy, Zwischen Kennerschaft und Cliché. Römische Kopien und die Geschichte ihrer Bewertung, in: Gregor Vogt-Spira, Bettina Rommel (Hg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, S. 38 – 59. Vgl. den Beitrag von Ulfert Tschirner in diesem Band. Das Zitat nach Adolf Michaelis, Ein Jahrhundert kunstarchäologischer Entdeckungen, 2. Aufl. Leipzig 1908, S. 293. Der Fokus bei den Skulpturen liegt generell auf der Darstellung der erhaltenen Köpfe. Furtwängler, Meisterwerke (Anm. 38), Taf. 11, Amazone, Vatikan. Ebd., S. 291. Zur Wirkung der Fotografien in der Vermittlung klassischer Kunst an ein breites Publikum: Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840 –1945, Berlin 2004, S. 70. Furtwängler, Meisterwerke (Anm. 38), S. 475, Anm. 3; vgl. Taf. 27. Ebd., Taf. 1: Athena Lemnia, Dresden. Ebd., S. X, Zitat: S. VIIf.: »Wer immer nur es versteht an den Denkmälern zu beobachten und mit nie ermüdender Lust alle Formen neu zu prüfen und zu vergleichen, der wird mit Hilfe der Photographie, die das Einzelne festhält, zu Resultaten gelangen, die an die Stelle der bisherigen blassen und mageren Gestalt bald ein ganz anderes farbenprächtiges Bild der griechischen Kunstgeschichte werden erstehen lassen.« Stefanie Klamm
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Endnoten/Abbildungsnachweis 48 Adolf Furtwängler, Die antiken Gemmen. Geschichte der Steinschneidekunst im klas-
sischen Altertum, 3 Bde., Leipzig 1900, Bd. 1, S. XIIf., Zitat: S. XIII. 49 Furtwängler, Meisterwerke (Anm. 38), S. XI; Furtwängler verweist auf Brunn, Bruck-
mann und Arndt, Denkmäler (Anm. 10) sowie Paul Arndt, Photographische Einzelaufnahmen antiker Sculpturen, Serie I, 1. Lieferung, München 1893. In diesem Sinne urteilte auch Adolf Michaelis. Er hielt die Verwendung der Fotografie für entscheidend in der Entwicklung formanalytischer Methoden, insbesondere der Kopienkritik. Michaelis, Jahrhundert (Anm. 41), S. 295 – 297.
Abbildungsnachweis 1 Schicksalsgöttin, in: Eduard Gerhard, Etruskische Spiegel, Bd. 1, Berlin 1843, Taf. 32. 2 Weiblicher Idealkopf, München, in: Heinrich Brunn, Friedrich Bruckmann, Paul Arndt
(Hg.), Denkmäler griechischer und römischer Sculptur, 1. Serie, München 1888 –1900, Taf. 13. 3 Apoll Steinhäuser, Apoll vom Belvedere, in: Reinhard Kekulé von Stradonitz, Monumenti Inediti Pubblicati dall’Instituto di Corrispondenza Archeologica 8, 1864 –1868, Taf. 39/40. 4 Steinhäuserscher und Vaticanischer Apollo, in: Reinhard Kekulé von Stradonitz, Apolloköpfe, in: Archäologische Zeitung 36, 1878, Taf. 2. 5 Amazone, Vatikan, in: Adolf Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik. Kunstgeschichtliche Untersuchungen, Tafelbd., Leipzig 1893, Taf. 11.
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Bildfeld und Feldlinien. Formen des vergleichenden Sehens bei Max Imdahl, Theodor Hetzer und Dagobert Frey Claus Volkenandt
Gegenstand der folgenden Überlegungen ist eine besondere Form des vergleichenden Sehens im Feld der Kunstgeschichte als akademischer Disziplin. Sie wird aus einer kunstgeschichtlich eigenen Art der Korrelation von Form und Inhalt und ihren Folgen für die Sinndimension von Kunstwerken zum Thema. Die Rede ist von der Beschäftigung des Bochumer Kunsthistorikers Max Imdahl (1925 –1988) mit der Kunst Giottos, und zwar im Vergleich zu den Ansätzen von Theodor Hetzer (1890 –1946) und Dagobert Frey (1883 –1963).1 Hetzer und Frey haben sich ebenfalls zum Freskenzyklus Giottos in der Arenakapelle in Padua geäußert, und auf beide bezieht sich Imdahl in methodologischer Hinsicht auch explizit. Die allgemeine Perspektive, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt, orientiert sich an Fragen einer anschaulichen Sinnselbstbegründung von Kunstwerken und der Rolle, die das vergleichende Sehen dabei spielt. Zunächst wird allgemein das Imdahlsche Bilddenken vorgestellt (I), dann auf seine Auseinandersetzung mit Theodor Hetzer und Dagobert Frey eingegangen (II und III) und schließlich die Rolle des vergleichenden Sehens bei Imdahl im Hinblick auf die bildliche Sinnselbstbegründung diskutiert (IV). 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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I Wiedererkennendes und sehendes Sehen
In der Frage einer anschaulichen Selbstbegründung des bildlichen Sinnes schließt sich Imdahl vor allem Günther Fiensch (1910 –1997) an.2 Die Idee einer anschaulichen Selbstbegründung des Bildsinnes umschreibt das anspruchsvolle Projekt eines bildlichen Bedeutungsgewinns aus den bildeigenen Strukturen des jeweiligen Werkes. Dieses Konzept hat seine Basis in einer Auffassung des Werkes als einer Notwendigkeitsordnung: »Alles ist so, wie es ist« für Imdahl im Werk, »es sei denn, alles wäre anders«.3 Diese Notwendigkeitsordnung wird, wie weiter unten ausführlicher zur Sprache kommt, über die Bildfläche in Form einer planimetrischen Bezugsherstellung greif bar. In der Auseinandersetzung mit der Kunst Giottos verbindet sich für Imdahl der Aufweis dieser Notwendigkeitsordnung mit der Aufgabe, Momente von Referenz in die Sinnselbstbegründung mit einzubeziehen. So ist für das heilsgeschichtliche Ereignisbild, als welches Imdahl die Arenafresken Giottos anspricht, »die Bindung an einen Ereignistext unerlässlich und konstitutiv«.4 Die Ereignisreferenz des Bildes ist »immer auch Referenz auf einen Text und in diesem Sinne Textreferenz«. 5 Ebenso zeigt sich jedes Ereignisbild bezogen auf Phänomene der visuellen Gegenstandswelt, »selbstverständlich auf Figuren, aber auch – wie in den Ereignisbildern Giottos – auf Dinge und Raumzusammenhänge. Ohne Gegenstandsreferenz kann ein Bild ein Ereignis nicht erkennbar verbildlichen, und ohne Gegenstandsreferenz wäre von Text- und Ereignisreferenz gar nicht zu sprechen«.6 Aus dieser konstitutiven Bedeutung alles Referentiellen für die Ereignisbilder Giottos formuliert sich auch die Frage nach dem Verhältnis von anschaulicher Sinnbegründung und bildlicher Sinnerfahrung in anderer Weise, als dieses Imdahl beispielsweise für die Moderne und/oder die amerikanische Nachkriegskunst thematisiert hat.7 Die Identität von Bildstruktur und Sinnstruktur, von der er ausgeht,8 wird im Blick auf Giotto, und das heißt jetzt: im Horizont des Verhältnisses von Referentialität und Bildstruktur in neuer Weise zu einer Frage. Imdahls operative Begriffe, mit denen er dieses Verhältnis näher bestimmen will, wiedererkennendes und sehendes Sehen, stehen damit ebenso in der Diskussion.9 Wie gelingt für Giotto die anschauliche Sinnselbstbegründung und welche Bilderfahrung öffnet sich mit ihr? Im Blick auf Giotto [Abb. 1, 4 und 6] richtet sich für Imdahl das wiedererkennende Sehen auf die in perspektivischer Projektion Claus Volkenandt
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gegebenen Gegenstände sowie auf die in einer szenischen Choreografie stehenden Figuren. Es ist ein auf die gegenständliche Außenwelt bezogenes Sehen. Die Außenwelt ist der Maßstab, nach dem die bildliche Ding- und Figurenwelt qualifiziert wird. Das sehende Sehen richtet sich dagegen auf die dem jeweiligen Bild eigene Sinnstrukturierung. Angesprochen ist mit dem sehenden Sehen in Bezug auf Giotto die bildbezogene planimetrische Komposition. Diese geht »nicht von der vorgegebenen Außenwelt, sondern vom Bildfeld aus, welches sie selbst setzt«.10 Gerade diese Setzung des Bildfeldes, und dieses meint die Bildbezogenheit der Komposition, konstituiert ein in sich selbst stehendes relationales Gefüge. Unter der Norm des Bildfeldes stiftet die planimetrische Komposition eine »invariable formale Ganzheitsstruktur«,11 welche sich »in selbstgesetzlichen und selbstevidenten Relationen – in Richtungen im Verhältnis zu Richtungen, Linien im Verhältnis zu Linien, Farben im Verhältnis zu Farben sowie in Maßen im Verhältnis zu Maßen«12 – organisiert. Eben auf diese Relationen bezieht sich das sehende Sehen. Sehendes Sehen und wiedererkennendes Sehen stehen für Imdahl bei Giotto aber nicht nur gleichgeordnet nebeneinander, so dass sie sich scheinbar zum Bildsinn addieren ließen, sondern sie stehen ebenso in einer Beziehung zueinander. Für Imdahl steht das Referentielle in einem Anschluss an die invariable Ganzheitsstruktur des Bildes, weil, so seine Begründung, »sich diese in jenem manifestiert«.13 Referentialität und Bildstruktur sind ineinander geschoben, und zwar so, dass die Bildstruktur an der Referentialität ihren Ausdruck findet. Dieses gelingt in der Koinzidenz von sehendem und wiedererkennendem Sehen. Demnach geschieht »das formale, sehende Sehen im Zuge des wiedererkennenden Gegenstandssehens, indem es zugleich über dieses hinaus das Gegenständliche in die selbstgesetzliche Notwendigkeitsevidenz der bildbezogenen Relationen einbezieht: Jede Anschauungsweise, sowohl die des formalen, sehenden Sehens als auch die des wiedererkennenden Gegenstandssehens, wird durch die je andere sowohl provoziert als auch legitimiert«.14 Sind damit die Sehweisen wechselseitig aufeinander bezogen, wird mit der einen die jeweils andere aufgerufen, so stellt sich hier zugleich die Frage, wie das, was Imdahl als die Einbeziehung des Referentiellen in die Bildstruktur anspricht, gelingt. Bildfeld und Feldlinien
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1 Giotto, Die Darbringung im Tempel, 1303 –1305, Arenakapelle, Padua.
II
Hetzers Feldliniensystem
Imdahl entwickelt diese Einbeziehung über ein Feldliniensystem, das er als ein Organ der Vermittlung entwirft. Anstöße dazu bezieht er von Theodor Hetzer und Dagobert Frey, von denen er sich in seinem Entwurf aber ebenso absetzt. Wird Hetzer in seiner bildgeschichtlichen Fragestellung mit der Stellung Giottos in der europäischen Kunst zugleich auch dessen Bildvorstellung zum Thema, so sieht er diese »im engsten Zusammenhang mit der Bildfläche als einem begrenzten, gegliederten, durch mannigfache Beziehungen ineinander gewebten Gebilde«.15 Das Bild besteht bei Giotto, so Hetzer, »durch sich selbst«.16 Das Verhältnis der Bildfläche zum Rahmen gestaltet sich zu einer Geschlossenheit, die »das Bildfeld sozusagen a priori zu einem Ganzen, einem Individuum, einer Persönlichkeit«17 werden lässt. Für Hetzer ist die Bildvorstellung Giottos damit vor allem eine Ordnung der Fläche. Sie erlangt bei ihm »Bestimmtheit und Würde und zwar durch ihre mathematischen, idealen Qualitäten, nicht etwa durch die Macht ihrer realen Substanz. Sie ist sich gleichsam ihrer Bedeutung bewußt, Claus Volkenandt
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sie kennt ihre Aufgaben«.18 In dieser Flächenbewusstheit des Bildes gründet sich für Hetzer auch Giottos geschichtliche Stellung. Gehört zum Flächenbewusstsein die Flächenordnung, so ist diese für Hetzer bei Giotto, wie es zuvor zitiert wurde, eine Ordnung nach mathematischen Qualitäten. Ihre Organisationsform finden sie dabei in einem idealen Koordinatennetz, in das Giotto die Bildfläche verwandelt hat. Es orientiert sich an den geometrischen Teilungslinien des rechteckigen Bildfeldes bis zu seiner horizontalen und vertikalen Achtelung. Im Blick auf dieses ideale Koordinatennetz ordnet Giotto seine Bilder so, »daß in dem bewegten Spiel der Handlungen wichtige Stellungen, Richtungen, Gesten mit allgemeinen Teilungslinien zusammenfallen«.19 Die Komposition der Arenafresken entwickelt sich somit »im freien Richtungsspiel über die ganze Fläche«20 und ordnet sich dabei »an den Grundlinien, den einfachen Teilungen und den Schrägen«.21 Dieser formalen Bildgestaltung Giottos entspricht nach Hetzer auch die inhaltliche Ausgestaltung der Fresken. »Ebenso wie Giotto vom Ganzen des Bildes ausgeht«, so Hetzer dazu, »geht er in der Bildfeld und Feldlinien
2 Theodor Hetzer, Feldliniensystem zu Giotto, Die Darbringung im Tempel, 1941.
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3 Pietro Cavallini, Die Darbringung im Tempel, 1291, Santa Maria in Trastevere, Rom.
Arena auch vom Ganzen der Erzählung aus«.22 Die Charakteristika der formalen Gestaltung stehen hier ebenso in Geltung für die szenische Gestaltung der Fresken. Form und Inhalt befinden sich in einem gestalterischen Gleichklang, sie zeigen sich für Hetzer gestaltungsparallel. Im Sinne des Aufweises dieser Gestaltungsparallelität einerseits, und darin zugleich und andererseits der besonderen historischen Stellung Giottos fallen auch Hetzers Werkvergleiche aus. Sie fokussieren sich darauf, die bildgeschichtliche Stellung Giottos in Flächen- und Erzählungsgestaltung anschaulich herauszustellen. Dazu bedient sich Hetzer eines vergleichenden Sehens, das er teils in einer Beschreibung versprachlicht, auf dessen anschauliche Evidenz er teils allein verweist.23 Um gerade die bildgeschichtliche Stellung Giottos zu verdeutlichen, vergleicht Hetzer die Darbringung im Tempel aus der Arenakapelle [Abb. 1] mit Pietro Cavallinis thematisch gleicher Darstellung in der Kirche Santa Maria in Trastevere in Rom [Abb. 3], die zeitlich kurz vor der Darstellung Giottos entstanden ist. Neben einer vergleichenden Beschreibung bezieht er implizit die Darstellung Cavallinis auch auf eine Skizze des Feldliniensystems, das er zu Giottos Darbringung im Tempel verfertigt hat [Abb. 2].24 Im direkten Vergleich beider Darstellungen anerkennt Hetzer für Cavallini Claus Volkenandt
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»[…] zwar auch die weite Fläche, aber in dieser [sind] die Figuren und Bauten statuarisch nebeneinander gestellt; eine Abfolge von parallelen Vertikalen; die Bewegungen die Handlungen andeutend, aber nicht wirklich vollführend. Nichts von jenen aktiven Kräften Giottos, die unsichtbar aber bestimmend zwischen den Figuren spielen, auch nichts von jener Straffung der ganzen Bildfläche durch überall hin dringende Richtungen; die schimmernde, unbestimmte, ungegliederte Unendlichkeit des Mosaikgrundes legt sich rings um die Figuren. Bei Giotto – der Kontrast ist so deutlich, wie er nur sein kann – kommt alles auf den Vorgang an, darauf, was an körperlicher und seelischer Bewegung sich zwischen den Menschen ereignet.«25 Im Blick auf die Skizze des Feldliniensystems wiederum formuliert Hetzer: »Ein elastischer großer Zug also schreibt die Szene von links nach rechts hin. Das Statuarische der einzelnen Figur und das Beziehungsreiche der gestaltenden Bewegung wirken völlig zusammen, weil ja auch in jeder Figur das Elastische des Lineaments bestimmend wirkt. Dieser große Zug aber Bildfeld und Feldlinien
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orientiert sich an einer Richtung, die sich ergibt, wenn man, wie auf unserer Abbildung zu sehen ist, aus der Achtteilung entstehende Teilungspunkte der linken und rechten Bildkante miteinander verbindet. Der Arm des Kindes fällt genau in diese Linie. Von oben her faßt das Dach des Ziboriums – welch reine Pyramide – die Szene zusammen; die Verlängerung der Dachlinien stößt auf die Mitte der seitlichen Kanten«.26 Hetzers Argumentationsfokus und seine Werkpräsentationen lassen sich dabei treffend als eine Operationsform eines ästhetischen Bewusstseins beschreiben. Mit ihm verbindet sich das Konzept einer Autonomie der Kunst, das, beispielsweise bei Schiller,27 der Kunst in Distanz zu den menschlichen Lebensvollzügen ein eigenes Reich der Zweckfreiheit zuerkennt. Gegenüber den Ansprüchen des theoretischen und praktischen Bereichs zeigt sie sich autonom. Die Kunst weist gegenüber Vernunft und Moral einen eigenen, ästhetischen Bereich aus. Damit konstituiert sich das ästhetische Bewusstsein einerseits dadurch, dass es von den ursprünglichen Lebenszusammenhängen, in denen die ihm begegnende Kunst stand, absieht, ihre historische Funktion übergeht, andererseits dadurch, dass es das Ästhetische gegen alles Außerästhetische, gegen Zweck und Inhaltsdeutung, moralische oder religiöse Stellungnahme, abhebt. Es abstrahiert auf diese Weise von den Zugangsbedingungen, unter denen sich die Kunst zeigt. Nach Hans-Georg Gadamer vollzieht es darin eine »ästhetische Unterscheidung«.28 Ihr entspricht positiv, dass die Kunst in der Form von Werken begegnet. Ist in der Distanz zur menschlichen Lebenspraxis das Band zwischen Kunst und Wirklichkeit gelöst, so steht die Kunst nicht länger in einem mimetischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Als Werk ahmt es die Wirklichkeit nicht mehr nach, sondern zeigt sich, für Schiller im Modus des ästhetischen Scheins,29 unabhängig von ihr. Aus der Autonomie der Kunst erweist sich das Kunstwerk für das ästhetische Bewusstsein als eine »zweite Welt«.30 Diese zweite Welt ist primär eine Welt der Form. Sie, die Form, leistet die ästhetische Organisation des Werkes. In dieser Perspektive werden dem ästhetischen Bewusstsein die künstlerischgestalterischen Qualitäten thematisch. Aus der Dominanz der Form ist das einzelne Werk in seinem ästhetischen Sein angesprochen. Die ästhetische Unterscheidung macht es in seiner Abhebung gegen den theoretischen und praktischen Bereich als das »reine Kunstwerk«31 Claus Volkenandt
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sichtbar. In dieser Unterscheidungsleistung wird das ästhetische Bewusstsein getragen durch eine ihm eigene Zeitlichkeit.32 Das ästhetische Bewusstsein hat den Charakter der Simultaneität, d. h. es ist ausgezeichnet durch die Zeitform der Gleichzeitigkeit in der Begegnung mit dem Kunstwerk. Werk und ästhetisches Bewusstsein stehen damit in der gleichen Zeit, der Betrachtergegenwart. Aus ihr wiederum, um damit zu Hetzer zurückzukehren, können die Werke in das geschichtliche Universum des ästhetischen Bewusstseins eingestellt werden.33 Hetzer realisiert dieses im Giotto-Buch in reproduktionstechnischer Hinsicht in Form einer größennivellierenden fotografischen Wiedergabe der Werke von Cavallini und Giotto. Die Werke werden in ihrer Reproduktion dem Buchformat angepasst, d. h. jenseits ihrer realen Größenverhältnisse abgebildet. So erscheinen die Bilder Giottos größer als die Cavallinis, da sie in ihrem annähernd quadratischen Format proportional besser auf das Seitenformat reproduziert werden können. Maßangaben zu den Werken fehlen. Im Sinne eines ästhetischen Bewusstseins werden die Arbeiten von Cavallini und Giotto als autonome Werke – genauer: als Tafelbilder – präsentiert. Und für diesen Präsentationsmodus ist nicht so sehr die reale Größe der Bilder wichtig, sondern ihre Beziehbarkeit auf das Rechteckformat. In der Konsequenz dieser Ausrichtung zeigen die reproduzierten Fotografien im Giotto-Buch auch keine Anbringungsorte der Werke und ebenso keine Aufnahmen, aus denen sich Hinweise auf funktionsgeschichtliche Zusammenhänge der Arbeiten ergeben. In der Fokussierung Hetzers auf die gestalterischen Qualitäten der Werke von Cavallini und Giotto finden diese Aspekte keine Berücksichtigung. In der Absicht Hetzers, eben diese gestalterischen Qualitäten der Werke zu erschließen, richtet er die Bilder zu einem vergleichenden Sehen ein, das sie als Tafelbilder auffasst und sie in einem diesen entsprechenden Modus – der Fokussierung auf das rechteckige Tafelformat – wiedergibt. Dieser Modus der Einrichtung der Bilder gilt auch für Imdahl und Frey, wie im folgenden gezeigt werden soll. III
Freys prospektive Potenz des Bildfeldes
Die Idee der prospektiven Potenz des Bildfeldes besagt dabei, »daß das leere Bildfeld«, so Frey, »für den Künstler eine neuartige suggestive Kraft gewinnt«.34 Es wird von ihm als simultane Einheit erschaut, die ihm keine Leere ist, sondern »lebendige Möglichkeiten enthält, die dazu drängen, Form zu werden, Form zu Bildfeld und Feldlinien
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erhalten, wobei die verschiedensten Realisationsmöglichkeiten in ihm beschlossen sind«.35 Dieses Potential der Bildfläche konkretisiert sich für Frey exemplarisch in der Stellung der Hauptfigur im Bildfeld. »Allein der Umstand«, so Frey, »an welche Stelle des Bildfeldes die Hauptfigur oder allgemeiner der Hauptakzent gesetzt wird, gibt dieser ihre besondere Bedeutsamkeit und Bedeutung«.36 Entgegen der Gestaltungsparallelität von Form und Inhalt, wie sie Hetzer entwirft, bringt die Form bei Frey in die Einheit von Form und Inhalt eine eigene Bedeutungsdimension ein. Die Einheit von Form und Inhalt ist hier nicht an eine Künstlerpersönlichkeit vermittelt, vielmehr prägen Form und Inhalt selbst Bedeutungskräfte aus, die sie zur Einheit bringen. Deutlich wird dieses für die Form, wenn die Hauptfigur eines Bildes isoliert in ihrer Positionierung im Bildfeld betrachtet wird. Es zeigt sich dabei, so Frey, »daß schon ihre Stellung in ihm etwas Bestimmtes, Entscheidendes aussagt«.37 Die formale Gestaltung zeigt damit eine eigene Ausdrucksrelevanz. Frey visualisiert seine These zur Bedeutungsrelevanz der Beziehung zwischen Figuren und Bildfeld an drei Schemazeichnungen, die nun nicht mehr Giotto mit anderen Künstlern, sondern drei Werke aus der Arenakapelle untereinander vergleichen. Ausgangspunkt dieses Vergleiches, der im Übrigen allein anschaulich erschlossen werden kann, ist die szenische Isolation der Hauptfigur im Hinblick auf ihre Stellung im Bildfeld. »Man sehe etwa«, so Freys Exemplifikation, »auf dem Bilde Joachim kommt zu seinen Hirten [hier Abb. 4] von Hirten, Herde und Landschaft ab, so wird man erkennen, daß allein die Anordnung des Greises im Bildraum, die Beziehung der Figur zum Bildrahmen etwas Wesentliches über das Geschehen und seinen seelischen Gehalt zum Ausdruck bringt, daß der Sinn des Bildes entscheidend verändert würde, wenn die Figur statt in der linken Bildhälfte in der Mitte oder auf der rechten Seite stünde«.38 Frey macht seine Überlegungen durch drei Skizzen anschaulich [Abb. 5], in denen im zitierten Sinne die Hauptfigur für sich allein im Bildfeld steht. Frey variiert aber nicht, wie Imdahl später, eine Figur im Bildfeld, sondern er wählt drei Szenen, die es ermöglichen, die Figur jeweils links, mittig und rechts im Bildfeld zu zeigen. Es sind die Szenen Joachim bei den Hirten, Christus vertreibt die Händler aus dem Tempel und Die Kreuztragung, in denen die Hauptfigur szenisch isoliert ins Bildfeld gestellt ist. Dabei sind Claus Volkenandt
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im Wallraf-Richartz-Jahrbuch, in dem der Aufsatz Freys erschienen ist, alle drei Schemazeichnungen in einer Spaltenfolge untereinander reproduziert. Damit werden sie zu einem visuellen Argument für seine These. Es erschließt sich in einem vergleichenden Sehen. Dabei verschiebt sich die Imaginationsleistung, die Hetzer in der ekphrastischen Perspektive seiner Bildarbeit von seinen Leserinnen und Lesern verlangte, grundlegend zu einem Anschauungsvollzug in der Betrachtung der Freyschen Schemazeichnungen. Wenn man so will, verschiebt sich hier die Argumentationsform von der Imagination zur Visualisierung. Die Visualisierung des Sachverhalts, um den es Frey geht, sowie die Art ihrer Präsentation im Druck ermöglichen dabei, die Bedeutungsrelevanz der Figurenstellung im Bildfeld für drei unterschiedliche Szenen zu veranschaulichen. Ebenso erlauben sie es, aus der szenisch bedingten Variation der Stellung der Figuren im Bildfeld die Bedeutungsveränderung zu imaginieren, die sich durch ihre Verschiebung im Bildfeld ergibt. Dabei handelt es sich um eine zeichnerische Umsetzung bzw. Aneignung der Werke Giottos im Fokus eines ästhetischen Bewusstseins. Und auch hier kommt es, wie bei Hetzer, zu einer Einrichtung der Bilder für ein vergleichendes Sehen im Sinne dieser ästhetischen Ausrichtung. In der Perspektive seiner Fragestellung und ihrer methodologischen Implikationen entkontextualisiert Frey die Werke Giottos zu Tafelbildern. Die besondere Pointe der Freyschen Argumentation liegt darin, dass die zeichnerische Umsetzung der Werke Giottos und ihre Reproduktion im Aufsatz zur eigentlichen argumentativen Referenz werden. Giottos Werke sind aus der Arenakapelle, wenn nicht direkt in den white cube der Tafelbildpräsentation, so doch auf das white paper der Publikation gewandert. Freys These von der prospektiven Potenz des Bildfeldes jedenfalls und, wie es im folgenden plausibel werden soll, ebenso seine Visualisierung dieser prospektiven Potenz des Bildes in den Schemazeichnungen sind für und bei Imdahl äußerst fruchtbar geworden. Imdahl sieht in Freys These »eine Theorie der Ausdrucksmöglichkeiten bildlicher Ebenenrelationen«.39 Sie macht mit dem Bildort einer Figur die Ausdruckshaftigkeit des Verhältnisses von Figur und Bildfeld thematisch. Zugleich aber ist in diesem Interesse Imdahls an Frey auch eine Kritik eingeschlossen. Sie bezieht sich auf die Funktionalisierung der materiellen Bildfläche im Ausdruck: »Die von Frey hervorgehobenen Ebenenrelationen setzen die materielle Bildfläche voraus und überwinden sie zugleich, indem die Bildfeld und Feldlinien
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4 Giotto, Joachim bei den Hirten, 1303 –1305, Arenakapelle, Padua.
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5 Dagobert Frey, Schemazeichnungen zu Giotto, 1952.
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6 Giotto, Die Auferweckung des Lazarus, 1303 –1305, Arenakapelle, Padua.
Bildfeld und Feldlinien
7 Max Imdahl, Schemazeichnungen zu Giotto, Die Auferweckung des Lazarus, 1980.
8 Max Imdahl, Kompositionsschema zu Giotto, Die Auferweckung des Lazarus, 1980.
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ihnen innewohnenden Spannungskräfte szenische Ausdruckswerte sind.«40 Als Ausdruck ist die materielle Bildfläche szenischer Beleg. Gegen diesen Belegcharakter der Bildfläche weist Imdahl auf ihre besondere Identität. Sie begründet sich darin, dass die materielle Bildfläche, wie es mit der isolierten Betrachtung der Hauptfigur in ihrer Stellung im Bildfeld hervortritt, eben keineswegs eine leere Fläche ist, sondern als Potential, also in einer Bedeutungsdimension, wirksam wird. Von daher ist sie weniger eine neutrale Positionierungsfläche der Figuren, vielmehr zeigt sie sich als dialogisch aufgeladenes Spannungsfeld. Der Bildort jeder Figur erweist sich als die Konkretion der materiellen Bildfläche, in dem das Zusammenspiel von Figur und Bildfeld realisiert ist. Gerade dieses Zusammenwirken von Figur und Bildfeld in der materiellen Bildfläche konstituiert ein spannungsreiches Ebenensystem. Es evoziert ein szenisches Beziehungsgefüge in eben dem Maß, »in dem es die materielle Bildfläche als die sinnenfällige Bedingung seiner selbst verwandelt in sich aufgehoben enthält«.41 Die materielle Bildfläche wird damit von den planimetrischen Relationen nicht überwunden, so Frey, sondern bleibt in dem das szenische Beziehungsgefüge evozierenden Ebenensystem bedingungshaft mitpräsent. Die materielle Bildfläche wird auf diese Weise im Bildort der Figuren bedeutungskonstitutiv. Sie hat nicht nur szenischen Ausdruckswert, sondern in entscheidender Weise auch szenischen Eigenwert. Für ihre besondere Identität heißt dies, dass nicht »von einer Negation, wohl aber von einer Transformation oder gar – sit venia verbo – von einer Transsubstantiation der materiellen Bildfläche«42 zu sprechen ist. Gerade in dieser Verwandlung bleibt sie für Imdahl »die unverzichtbare Bedingung der Erfahrungswirklichkeit jener anderen, szenischen Ebenenrelation«.43 Von hier aus entwickelt Imdahl sein Feldliniensystem. IV Imdahls Feldlinien
Imdahl entwirft seine Anordnung der Feldlinien für Giotto als ein transszenisches Feldliniensystem, das seinen Ausgang einerseits in den inhaltlichen Momenten der dargestellten Szene, andererseits in den formalen Bildwerten hat, die in einem sinnfälligen Bezug zu den Hauptfiguren stehen. Damit bezieht es sich auf solche Bildwerte, die – »teils als reale Konturen und teils als ideale nur Richtungen anzeigende Linien«44 – in der Gegenständlichkeit des Bildes selbst angelegt sind. Ihre Visualisierung heißt für Imdahl, »Leitbahnen der Anschauung«45 anzugeben: Das Feldliniensystem Claus Volkenandt
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stellt »die relationsbildenden Kräfte heraus, welche die gegenständlichen Bildelemente einander zuordnen«.46 Seine Leistung liegt mithin darin, die Beziehungen der einzelnen Bildorte untereinander sichtbar zu machen. Das Feldliniensystem ist auf diese Weise mit denjenigen Kräften befasst, die die bildlichen Relationen stiften. Darin begründet sich auch sein transszenischer Charakter. Es zeigt in der Visualisierung die Abstraktion solcher Linien und Richtungs werte, »die in den figürlichen und dinglichen Gesamtformen enthalten sind und deren sowohl aktionalen als auch lokalen, das heißt deren sowohl szenischen als auch räumlichen Kontext konstituieren und artikulieren«.47 In ihrem relationsstiftenden Vermögen liegen diese abstrakten Linien und Richtungswerte des Feldliniensystems der szenischen Darstellung und ihrer bildlich aufgebauten Sinndimension zugrunde. Sie sind nach Imdahl »deren syntaktische Organisationsform«.48 Was damit bei Imdahl gemeint ist, soll in einer pointierten Darlegung seiner Beschäftigung mit der Auferweckung des Lazarus aus der Arenakapelle [Abb. 6] verdeutlicht werden. Nach Imdahl ist es für dieses Bild evident, »daß die Figur Jesu das Bildfeld und insofern auch die Szene beherrscht. Man kann«, und hier knüpft Imdahl präzisierend an Frey an, »den im Verhältnis zwischen der szenischen Hauptfigur und dem Bildfeld enthaltenen szenischen Ausdruck begründen mit Hilfe einer Zeichnung, die in planimetrischer Reduktion allein die Umrisse der Figur und des Bildfeldes angibt [hier Abb. 7 oben]: Die Figur Jesu ist so lokalisiert, daß das Leere im Bildfeld in Spannung steht zu ihr selbst. Das Leere kommt zur Geltung als der anschauliche Aktionsbereich der Figur und ihrer Gebärde, wie immer dieser Aktionsbereich im ausgeführten Bild von Figuren und Dingen besetzt und räumlich gegliedert ist. Die gegebene Spannung zwischen Figur und Bildfeld macht es der Anschauung fast unmöglich, das eine ohne das andere zu sehen. Doch schon eine geringfügige Verschiebung der Figur ändert das Verhältnis zwischen Figur und Bildfeld fundamental [hier Abb. 7 unten]: Die Figur ›befindet‹ sich nunmehr im Bildfeld, aber sie ›verhält‹ sich nicht zu ihm derart, daß sie das Leere vor sich wie ihren Aktionsbereich beherrscht. Das Bildfeld verliert seine evokative Geltung, es ist, wie ein Fenster, nur eine äußerliche, unspirituelle Bedingung für die Erscheinung der Figur innerhalb des Gevierts. Die Bildfeld und Feldlinien
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Spannung des Figur-Bildfeld-Verhältnisses geht verloren. Bei unveränderter Konstellation [hier Abb. 7 oben] ist dagegen das Bildfeld, indem es den Herrschaftsbereich der Jesusfigur evoziert, eine Mitrealität, nämlich eine spannungsvolle Ergänzung der Figur und ihrer Gebärde, wie umgekehrt auch die Figur durch ihre Gebärde und durch ihren Ort das Bildfeld in Spannung setzt und es damit in seiner so und nicht anders gegebenen Dimensionierung legitimiert. Es ist eine nicht zu überschätzende Leistung der Kompositionskunst von Giotto, daß Figur und Bildfeld ausdrucksmäßig sich wechselseitig steigern: Die Figur ist auf die invariable Relation zwischen ihr selbst und dem Bildfeld als auf die sinnliche Anschauungsform einer höheren, providentiellen Notwendigkeit hingeordnet und zugleich eine conditio sine qua non dieser Anschauungsform.«49 Nimmt Imdahl hier den von Frey gegebenen Visualisierungsimpuls modifizierend auf, so transformiert er ihn aber entscheidend dahin, dass er nicht mehr verschiedene Werke Giottos miteinander vergleicht, sondern in der Variation der Figurenstellung eines Werkes dessen syntaktisch bestimmte Sinndimension thematisch macht. In der Anordnung der Schemazeichnung ganzseitig untereinander, wie sie in Imdahls Giotto-Buch erscheinen [Abb. 7], setzt Imdahl sie wiederum als visuelle Argumentation ein, die in ihrer Bedeutungsdimension nur in der Anschauung, und zwar in einem vergleichenden Sehen, zugänglich wird. Die Bedeutungsveränderung zwischen Figur und Bildfeld, wie sie sich aus ihrer leichten Verschiebung ergibt, ist nur anschaulich einlösbar. In gleicher Weise knüpft Imdahl auch an die Überlegungen Hetzers an, indem er Hetzers nichtszenisches Feldliniensystem in ein transszenisches verwandelt. Die entscheidende Transformation liegt hier darin, dass im transszenischen Charakter seines Feldliniensystems syntaktische und semantische Momente des Bildes, Form und Inhalt, in eine durchaus dialektische, sich aufhebende Beziehung zueinander gesetzt sind. So spricht Imdahl, wiederum im Blick auf das Lazarus-Bild in der Arenakapelle [Abb. 6] davon, dass sich das Feldliniensystem hier [Abb. 8] erschließt »aus den Linien und Richtungswerten derjenigen Figuren und Dingdaten, die für das Ereignis und seine verschiedenen szenischen Momente wichtig sind: aus der Senkrechten der Jesusfigur, aus der Schräge der Grabhügellinie, Claus Volkenandt
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aus der Senkrechten der Lazarusfigur, aus den Schrägen des Grabsteins, die sich zur Grabhügellinie parallel verhalten, aus der Schräge der Gruppen der Frauen, die mit der Grabhügellinie wie auch mit den Schrägen des Grabsteins jeweils Winkelformen bildet. Alles ist aufeinander bezogen, beherrschend aber ist die Grabhügellinie. Eben sie bedingt die planimetrische Makrostruktur der Komposition und konstituiert das Bild als eine simultan überschaubare Ganzheit. Und zwar verläuft die Grabhügellinie parallel zur Bilddiagonalen. Diagonalen bestehen nicht für sich, sondern nur in Bezug auf ein so und nicht anders proportioniertes Bildfeld: Das so und nicht anders proportionierte Bildfeld wird als Totalität miterfahren, wenn überhaupt eine Diagonale erfahren wird. […] Jedoch ist die simultan überschaubare Komposition nicht nur eine formale, sozusagen syntaktische Gegebenheit, vielmehr ist das Syntaktische allererst semantisch bedeutsam, es hat also szenischen, inhaltlichen Sinn. Denn die Grabhügellinie nimmt die Gebärde Jesu unübersehbar auf, sie potenziert und projiziert sie aufs Bildganze und unterwirft ihr als dem einen und selben Machtausdruck die verschiedenen Momente der Szene: das Fortschaffen des Grabsteins, das Hervortreten des Lazarus sowie dessen Losbindung. Es ist klar, daß die Grabhügellinie in dieser Funktion nicht mehr allein unter dem Aspekt ihres dinglich-gegenständlichen Bedeutens zu diskutieren ist. Die Gebärde Jesu und die simultan überschaubare Bildtotalität als das so und nicht anders proportionierte Bildfeld sind in der Vermittlung durch die Schräge der Grabhügellinie nicht auseinanderzusehen. Was wann auch immer geschieht, es ist, indem es der Bildkomposition als einer simultan überschaubaren Ganzheit unterworfen ist, dieser unterworfen als einem Machtausdruck der Jesusgebärde.«50 Mit dem Feldliniensystem, wie Imdahl es entwirft und praktiziert, verdoppelt sich der Blick auf die Arenafresken Giottos. Neben die Momente von Referenz, wie sie im wiedererkennenden Sehen zugänglich werden, treten Momente des bildeigenen Bedeutungsgewinns, wie sie in einem auf formale Relationen bezogenen sehenden Sehen sichtbar werden. Das Besondere ist nun, dass die Momente von Referenz und Bildstruktur aneinander thematisch Bildfeld und Feldlinien
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werden, und zwar im Modus der Setzungen von Thema und Horizont. Beides ergibt sich daraus, dass die abstrakten Linien und Richtungswerte des Feldliniensystems als syntaktische Organisationsform der szenischen Darstellung und ihres Sinnpotentials referentiell gebunden sind, wie zugleich die szenische Darstellung und ihr Sinnpotential im Feldliniensystem bildlich begründet werden. Die Referenz und ihre bildliche Organisation sind im Feldliniensystem miteinander und aneinander gegeben. Indem das eine thematisch wird, ist das andere gleichzeitig mit aufgerufen: In der Thematisierung der Referenz ist der Horizont der Bildstruktur mitpräsent, wie die Thematisierung der Bildstruktur den Horizont der Referenz ebenso mitgegenwärtig macht. Die Setzungen von Thema und Horizont, wie sie mit dem Feldliniensystem gegeben sind, vermitteln auf diese Weise Referenz und Bildstruktur zu einer, wie es Imdahl für Giotto formuliert, »komplexen Prägnanz«.51 Visualisiert das Feldliniensystem die relationsstiftenden Kräfte des einzelnen Bildes, so ist es darin zugleich auch auf das Bildfeld bezogen. Bildorte und Bildrelationen als die Beziehungen der Bildorte zueinander kommen in einem Bildfeld zur Geltung. Dieses zeigt sich für Imdahl als eine Ganzheitsstruktur, in der Bildorte und Bildrelationen auf die Bildgrenzen bezogen sind. Sie richten sich an ihnen aus. Durch das Feldliniensystem wird damit nicht nur Referenz und Bildstruktur zu einer komplexen Prägnanz vermittelt, sondern ebenso diese komplexe Prägnanz in ihrem Verhältnis zur planimetrischen Komposition sichtbar. Auch hier steht es in einer vermittelnden Funktion. Indem das Feldliniensystem, so Imdahl, »in identischer Gestalt vielfältig bezogen ist auf die aktionalen und lokalen Zusammenhänge von Figuren und Dingen wie ebenso auf die formale Ganzheit eines so und nicht anders begrenzten Bildfeldes«,52 setzt es für Imdahl die szenische Choreografie und die perspektivische Projektion einerseits mit der invariablen und ganzheitlichen Komposition andererseits in eine Beziehung. Diese Beziehungsstiftung des Feldliniensystems leistet in den Arenafresken Giottos die Einbeziehung des Referentiellen in die Bildstruktur. Sie gelingt darin, dass die relationalen Bildwerte der komplexen Prägnanz, eben jene Vermittlung von Bildstruktur und Referenz im Fokus der Bildrelationen, im Bildfeld als einer invariablen Ganzheitsstruktur verankert werden. War es Kennzeichen der bildlichen Ganzheitsstruktur, das sie sich in selbstevidenten und selbstgesetzlichen Relationen organisiert, so bindet das Feldliniensystem die Bildwerte der komplexen Prägnanz Claus Volkenandt
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als Bildfeldrelationen in die Evidenzleistung der planimetrischen Komposition ein. Sie gewinnen darin »eine höchste, unmittelbare Evidenz durch die unmittelbare Selbstevidenz des Bildes als einer formalen Ganzheit«.53 Sehendes Sehen und wiedererkennendes Sehen sind in dieser Einbeziehung der Referenz in die Bildstruktur zugleich zu einem erkennenden Sehen vermittelt. Diese Einbeziehung erweist sich auf diese Weise als ein Erkenntnisgewinn, der sich in der Form einer unmittelbaren Evidenz als ein anschaulicher Mehrwert zeigt.54 Waren dabei das wiedererkennende Sehen in seiner Orientierung an perspektivischer Projektion und szenischer Choreografie als referentielle Momente auf die Bildinhaltlichkeit, das sehende Sehen dagegen in seiner Orientierung an der planimetrischen Komposition als bildgenuine Momente auf die Bildform bezogen, so erweist sich ihre Vermittlung zu einem erkennenden Sehen auch als die Vermittlung von Form und Inhalt zu einer nur bildlich möglichen Einheit. Im anschaulichen Mehrwert besitzt diese Einheit ihren eigenen Charakter. Diese Einheit von Form und Inhalt führt auch zurück zu den Rahmenfragen von Sinnbegründung und Sinnerfahrung. Als anschaulicher Mehrwert eröffnet diese Einheit für Giotto eine sinnliche Sinnerfahrung. Sie begründet sich aus der Einbeziehung des Referentiellen in die Bildstruktur. Durch das Feldliniensystem ist die das Text- und Gegenstandsreferentielle übersteigende Bildszene, eben jene komplexe Prägnanz, »anschauungsgleich«, so Imdahl, »mit der formalen Totalität des Bildes und dessen absoluter, in sich selbst begründeter Notwendigkeit«.55 Die Struktur des Bildes, wie sie sich aus der Ganzheitlichkeit des Bildes in selbstevidenten und selbstgesetzlichen Relationen organisiert, ist anschaulich identisch mit der Sinnstruktur des Bildes, seiner komplexen Prägnanz. Gerade diese Identität ermöglicht eine anschauliche Sinnselbstbegründung: Die Bildstruktur in ihrem Notwendigkeitscharakter skandiert die Sinnstruktur in ihrer Bedeutung. Anschaulich ist die Sinnselbstbegründung deshalb, weil sie sich in Modi des Sehens vollzieht: Das sehende Sehen strukturiert das wiedererkennende Sehen. Beide verbinden sich darin zum erkennenden Sehen. Im Entwurf des erkennenden Sehens als eines Vermittlungsgeschehens von sehendem und wiedererkennendem Sehen verbinden sich bei Imdahl Fragen der Möglichkeitsbedingungen einer Sinnselbstbegründung aus der Anschauung, wie Günther Fiensch sie formuliert, und ihr Vollzug zu einer für Imdahl nur bildlich möglichen Sinnerfahrung. Er gründet diese Sinnerfahrung auf der Bildfeld und Feldlinien
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Einbeziehung der Referenz in die Bildstruktur. Damit erweist sie sich als die Vermittlung von heterogenen Momenten. Imdahl ist das einzelne Werk ein eigener Logos, der in sich selbst sinnvoll ist. Sein Sinn konstituiert für Imdahl gerade im Einschluss von bildexternen Momenten. Sein Bildbegriff hat daher einen synthetisierenden Charakter. Ihm ist eine Aufhebungsbewegung eigen, in der die Bildtotalität als Sinnbegründungsinstanz fungiert. Sie selbst ist dabei von Imdahl dynamisch gedacht: Die Bildtotalität ist nicht der letzte, der tragende Grund, sondern sie steht in einem wechselseitigen Zusammenhang von Begründungen.56 Referenz und Bildstruktur motivieren sich gegenseitig. Dass dabei die Bildstruktur die Referenz in sich einbezieht, sichert in der anschaulichen Sinnselbstbegründung die bildliche Sinnerfahrung. Aus diesem Zusammenhang von Begründungen ist bei Imdahl auch die Beziehung zwischen Form und Inhalt aufgefasst. Sie ist nicht statisch, sondern als ein Bildgeschehen gedacht, dessen Vermittlung zur Einheit im anschaulichen Mehrwert eine nur bildlich mögliche Erfahrung eröffnet. Form und Inhalt sind koordinierte Größen. Ihre Leistung für einander wird in einem vergleichenden Sehen zugänglich, das nicht Giotto mit anderen Künstlern, auch nicht mit anderen Werken Giottos aus der Arenakapelle vergleicht, sondern aus einem Vergleich eines Werkes mit seinen möglichen Varianten seine ihm eigene Erfahrungsdimension erschließt. Ziel und Pointe des vergleichenden Sehens bei Imdahl ist die Herausstellung der besonderen Sinnhaftigkeit eines, genauer: des je einzelnen Werkes und darin seiner Unvergleichbarkeit. Imdahl erreicht dies, indem er aus der Haltung eines ästhetischen Bewusstseins Freys zeichnerische Umsetzung und darin seine Fokussierung auf die Relationierung von Figur und Bildfeld noch gesteigert aufnimmt: Er stellt mögliche Bedeutungsvarianten her, die allein in seinen Schemazeichnungen existent sind. Und insofern richtet Imdahl die Bilder, wie Hetzer und Frey, zu einem vergleichenden Sehen ein. Zugleich modifiziert Imdahl zumindest argumentativ durch die Einbeziehung von ikonografischen und ikonologischen Momenten die Ausrichtung des ästhetischen Bewusstseins, wie es bei Hetzer und Frey zur Geltung kam. Darin werden die Zeichnungen Teil einer Aufhebungsbewegung, die aus der eigenen Gegenwart Geschichte zu erschließen sucht. Als Argumentationsfigur beschrieben, geht es Imdahl um die Entkontextualisierung zu einer anderen Form der Rekontextualisierung, in der die Werke nicht nur als Symptom von Geschichte fungieren, sondern auch Claus Volkenandt
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zu einer Form geschichtlicher Einsicht werden. Dieses zu visualisieren wäre Kunst.
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Endnoten 1 Zu Biografie und Schriften von Hetzer und Frey s. die entsprechenden Artikel in: Metz-
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ler Kunsthistoriker Lexikon. Zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart/Weimar 1999, S. 178 –180 (P. Betthausen) bzw. S. 100 –101 (P. H. Feist); zu Imdahl s. Heinz Liesbrock (Hg.), Die Unersetzbarkeit des Bildes. Zur Erinnerung an Max Imdahl, Münster 1996 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Westfälischer Kunstverein, Münster 1996], und Gottfried Boehm, Die Arbeit des Blickes. Hinweise zu Max Imdahls theoretischen Schriften, in: Max Imdahl, Gesammelte Schriften, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1996, Bd. 3: Reflexion – Theorie – Methode, hg. v. Gottfried Boehm, S. 7 – 41. Siehe dazu Günther Fiensch, Form und Gegenstand. Studien zur niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts, Köln/Graz 1961, sowie Claus Volkenandt, Studien zur Bildform. Günther Fienschs Idee einer anschaulichen Selbstbegründung des Bildes, in: Nikola Doll u. a. (Hg.), Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 89 – 97. Max Imdahl, Bildbegriff und Epochenbewusstsein? [1985], in: Imdahl (Anm. 1), Bd. 3, S. 529. Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen [1974], in: Imdahl (Anm. 1), Bd. 3, S. 303 – 380, sowie Max Imdahl, Barnett Newman, Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue III [1971], in: Imdahl (Anm. 1), Gesammelte Schriften, Bd. 1: Zur Kunst der Moderne, hg. v. Angeli Janhsen-Vukićević, S. 244 – 273. Max Imdahl, Überlegungen zur Identität des Bildes [1979], in: Imdahl (Anm. 1), Bd. 3, S. 381 – 423. Zur Genese dieser Begriffe s. Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso (Anm. 7), bes. S. 303 – 327. Imdahl, Giotto (Anm. 4), S. 26. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd. Theodor Hetzer, Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 1941, S. 22. Hetzer, Giotto (Anm. 15), S. 22. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 23. Siehe dazu ebd., S. 36. Die Erstausgabe des Giotto-Buches von Hetzer 1941 enthält das Mosaik Cavallinis als Abbildung sowie Giottos Fresko der Darbringung im Tempel in Form der Skizze seines Feldliniensystems, aber Hetzers Text bleibt ohne Hinweis auf die entsprechenden Abbildungen bzw. ohne Angabe der entsprechenden Abbildungsnummer. Dass das Cavallini-Mosaik im Buch abgebildet ist, wird von Hetzer im Text nicht erwähnt, ebenso spricht er im weiter unten Zitierten nur allgemein davon, »wie auf unserer Abbildung zu sehen ist« (Hetzer [Anm. 15], S. 36). Hetzer scheint hier in der Tradition der älteren Kunstliteratur eher ekphrastisch orientiert zu sein. Dies erfährt in der Ausgabe seiner Schriften, die in den ersten Band auch das Giotto-Buch aufgenommen hat, eine Claus Volkenandt
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Umakzentuierung, da dort das Giotto-Buch durchgehend bebildert ist und in den Text Abbildungsverweise gesetzt bzw. diese konkretisiert wurden: Theodor Hetzer, Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst [1941], in: ders., Giotto. Grundlegung der neuzeitlichen Kunst, Schriften Theodor Hetzers, Bd. 1, hg. v. Gertrude Berthold, Mittenwald/Stuttgart 1981, S. 29 – 204, im Zusammenhang hier S. 50 – 52. Berthold gibt in ihrer editorischen Notiz (ebd., S. 13 – 27) einige Hinweise auf die Stationen der Beschäftigung Hetzers mit Giotto. Danach scheint das Giotto-Buch 1937/38 als eigenständiges, zur Buchpublikation gedachtes Manuskript entstanden zu sein. Hetzer, Giotto (Anm. 15), S. 35 – 36. Ebd., S. 36. Siehe dazu Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen/Theoretische Schriften, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1967, S. 570 – 669; s. auch Harry Olechnowitz, »Autonomie der Kunst«. Studien zur Begriffs- und Funktionsbestimmung einer ästhetischen Kategorie, Diss. Berlin 1981, S. 21– 76, 100 –136. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Tübingen 1990, S. 91. Schiller, Über die ästhetische Erziehung (Anm. 27), S. 655 – 662. Vgl. Heinz Wenzel, Das Problem des Scheins in der Ästhetik. Schillers »Ästhetische Briefe«, Diss. Köln 1958, bes. S. 61– 73. Olechnowitz, »Autonomie der Kunst« (Anm. 27), S. 117. Gadamer, Wahrheit und Methode (Anm. 28), S. 91. Siehe dazu ebd., S. 91– 94. Siehe dazu Wladimir Weidlé, Die Sterblichkeit der Musen. Betrachtungen über Dichtung und Kunst in unserer Zeit, Stuttgart 1958, S. 175 –183. Dagobert Frey, Giotto und die Maniera Greca. Bildgesetzlichkeit und psychologische Deutung, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 14, 1952, S. 73 – 98, hier S. 74. Ebd., S. 74. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd. Imdahl, Giotto (Anm. 4), S. 37. Ebd. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd. Imdahl, Giotto (Anm. 4), S. 48. Ebd. Ebd. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd., S. 66f. Max Imdahl, Giotto. Zur ikonischen Sinnstruktur, in: Imdahl (Anm. 1), Bd. 3, S. 448 – 449. Imdahl, Giotto (Anm. 4), S. 59. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Vgl. dazu auch Boehm, Arbeit des Blickes (Anm. 1), S. 29 – 32. Imdahl, Giotto (Anm. 4), S. 60. Vgl. dazu ebd., S. 105 –110.
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Abbildungsnachweis 1 Giotto di Bondone, Die Darbringung im Tempel, 1303 –1305, 200 × 185 cm, Fresko,
Arenakapelle, Padua. Foto: Mediathek des Kunsthistorischen Seminars Basel. 2 Theodor Hetzer, Feldliniensystem zu Giotto, Die Darbringung im Tempel (Arenaka-
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pelle), in: Theodor Hetzer, Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 1941, Abb. 2. Pietro Cavallini, Die Darbringung im Tempel, 1291, Höhe ohne Rahmen ca. 175 cm, Mosaik, Santa Maria in Trastevere, Rom. Foto: Mediathek des Kunsthistorischen Seminars Basel. Giotto di Bondone, Joachim bei den Hirten, 1303 –1305, 200 × 185 cm, Fresko, Arenakapelle, Padua. Foto: Mediathek des Kunsthistorischen Seminars Basel. Dagobert Frey, Schemazeichnungen zu Giotto, Joachim bei den Hirten, Christus vertreibt die Händler aus dem Tempel und Die Kreuztragung (alle Arenakapelle, Padua), in: Dagobert Frey, Giotto und die Maniera Greca. Bildgesetzlichkeit und psychologische Deutung, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 14, 1952, S. 77, Abb. 59 – 61. Giotto di Bondone, Die Auferweckung des Lazarus, 1303 –1305, 200 × 185 cm, Fresko, Arenakapelle, Padua. Foto: Mediathek des Kunsthistorischen Seminars Basel. Max Imdahl, Schemazeichnungen zu Giotto, Die Auferweckung des Lazarus (Arenakapelle), in: Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980, Abb. 32 – 33. Max Imdahl, Kompositionsschema zu Giotto, Die Auferweckung des Lazarus (Arenakapelle), in: Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980, Abb. 35.
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IV Experiment Ulfert Tschirner, Thomas Hensel, Robin Rehm, Christian Spies, Georges Didi-Huberman, Michael Hagner
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Einleitung Lena Bader »Ein Einfall z. B. ›es könnte vielleicht‹. Aber wie kommt der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein Vergleichen, das Entdecken irgend einer Analogie findet statt. Nun tritt eine Erweiterung ein. Die Phantasie besteht im schnellen Ähnlichkeiten-schauen. Die Reflexion mißt nachher Begriff an Begriff und prüft. Die Ähnlichkeit soll ersetzt werden durch Causalität. Ist denn nun ›wissenschaftliches‹ Denken und ›philosophisches‹ nur durch die Dosis verschieden? Oder vielleicht durch die Gebiete?« Nietzsche, Basel, um 18721
Vergleichendes Sehen ist ein zentrales Moment der Kunstgeschichte. Das Prinzip bestimmt in vielfältiger Hinsicht die wissenschaftliche Praxis, reicht aber auch weit über die disziplinären Bestrebungen hinaus. Wie nicht zuletzt zahlreiche Beispiele im Rahmen der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen, ist das vergleichende Sehen eine wichtige visuelle Erfahrung, an der auch die Kunstpraxis entschieden teilhat. Der im Kontext des so genannten VinnenStreit erschienene Sammelband Deutsche und französische Kunst ist diesbezüglich ein aufschlussreiches Beispiel. Ausgelöst wurde der Streit durch die von Carl Vinnen veröffentlichte Broschüre Protest deutscher Künstler, die sich gegen die Bevorzugung ausländischer, insbesondere französischer, Kunst bei Museumsankäufen aussprach und dagegen die Förderung nationaler Kunst forderte.2 Franz Marc hatte sogleich zum Gegenprotest aufgerufen, »um auch auf diesem Weg das Schlachtgeschrei zu erheben«: »Ich denke z. B. an eine Gegenüberstellung von Reproduktionen, Maillol neben Taschner und Flossmann und Hahn, Matisse neben Erler, Renoir neben Münzer, Cézanne neben Trübner und Dill und Münchner Sezessionisten (Gröber, Nickl, Habermann), Picasso neben Stuck, Signac neben 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Franz Marc, Zwei Bilder, Doppelseite aus dem Almanach, 1911.
Oswald, Cross neben Eichler und Worpswedern, Gauguin neben Hofmann etc. Die Sache wäre jedenfalls ebenso amüsant für uns als lehrreich für viele Laien und Käufer.«3 Gesa Jeuthe hat das Konzept treffend als »Idee einer vergleichenden Bildpolitik« bezeichnet, um zugleich darauf hinzuweisen, dass die Strategie »jedoch erst von der Gegenseite verwirklicht und später als gängige Präsentationsform von den Nationalsozialisten genutzt« wurde.4 Der Fokus auf die ideologische Instrumentalisierung des Verfahrens sollte indes nicht dazu verleiten, wichtige Erfahrungen im vergleichenden Sehen vorschnell auszublenden [Abb. 1]. Das betrifft auch Marc und seine »widerspruchsvolle Rezeption«.5 In Anschluss an seinen Besuch der zweiten Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung, die in vielerlei Hinsicht wegbereitend für den Blauen Reiter wirken sollte, bemerkt er 1910 mit Blick auf die gleichzeitig stattfindende Ausstellung von Meisterwerken muhammedanischer Kunst: »Es ist schade, daß man Kandinskys große Komposition und manches andere nicht neben die muham[m]edanischen Teppiche im Ausstellungspark hängen kann. Ein Vergleich wäre unvermeidlich und wie lehrreich für uns Alle! Worin besteht unsere staunende Bewunderung vor dieser orientalischen Kunst? Zeigt sie uns nicht spottend die einseitige Begrenztheit unserer europäischen Begriffe von Malerei? […] Wir haben in Deutschland kaum ein dekoratives Werk, Lena Bader
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geschweige einen Teppich, den wir daneben hängen dürfen. Versuchen wir es mit Kandinskys Kompositionen – sie werden diese gefährliche Probe aushalten, und nicht als Teppiche, sondern als ›Bilder‹.«6 Das vergleichende Sehen, daran lässt Marc keinen Zweifel, fungiert hier als Motor einer Horizonterweiterung der eigenen Bilderfahrung, einer Ausweitung der Anschauung für unbekannte Bildwelten, die nicht nur Neues zu sehen vorgibt, sondern auch ein neues, vergleichendes Sehen verspricht – wie Heinrich Wölfflin schreibt: »man sieht anders und Anderes«.7 Eine vorschnelle Scheidung in künstlerische und kunsthistorische Vergleiche wäre vor diesem Hintergrund nicht nur künstlich, sondern unproduktiv, wenn sie darauf hinausliefe, freie und gebändigte Vergleiche zu unterscheiden, offene und gelenkte Formen. Gemeinsam ist ihnen zumindest die Emphase auf die anschauliche Gegenüberstellung und damit die Überzeugung von der Erkenntniskraft visueller Argumentationen. Ihre Differenzierung für den Moment eines Gedankenexperiments in der Schwebe zu halten, ist nicht ohne Reiz angesichts der widerspruchsvollen Rezeption, die auch das vergleichende Sehen erfahren hat.8 Die künstlerische Auseinandersetzung ist eine produktive Kontrastfolie und erlaubt das vergleichende Sehen als komplexe Sehtechnik zu befragen, ohne es vorschnell auf die (bloße) Illustration kunsttheoretischer Prämissen oder kunsthistorischer Fakten einzuengen. Erkennbar werden dadurch nicht zuletzt fruchtbare Experiment: Einleitung
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Anknüpfungspunkte zu zentralen Theoremen der Kunstgeschichte, die – ohne explizit unter dem Begriff des vergleichenden Sehens verhandelt zu werden – Erhellendes über das Verfahren beizutragen versprechen. Das gilt insbesondere für Ansätze, die der Annahme folgen, »dass sich Bilder diachron und niemals nur aktual verhalten«. Wie Horst Bredekamp betont, folgt die Überzeugung einer solchen doppelten Verfasstheit von Bildern aus dem Bewusstsein der »Eigenwelt bildlicher Formen«; sie lässt das vergleichende Sehen als genuines Moment von Bildkritik hervortreten.9 Ungeachtet der rhetorischen und diskursiven Einengungen, die das vergleichende Sehen hier und da (insbesondere im Dienste nachweisbarer Kausalzusammenhänge) in Lehre und Forschung erfährt, finden sich höchst differenzierte Beschreibungen der die Bilder verknüpfenden »feinen Verbindungsfäden«, wie Marc sie nennt:10 Von Cennino Cenninis Definition der Fantasie als einer Kraft, die Bilder mit Bildern verbindet,11 über Jacob Burckhardts Bestimmung eines »Fluidum, welches unter den Völkern herumgeht«12 und Wölfflins Überlegungen zu der »Wirkung von Bild auf Bild als Stilfaktor«13 oder Aby Warburgs Idee vom Nachleben der Bilder werden verschiedene Facetten einer Theorie der Interikonizität manifest, die mit Blick auf das vergleichende Sehen fruchtbare Impulse bereithält.14 Wie der Ausblick auf künstlerische und kunsthistorische Bilderkaskaden nahe legt, erschöpfen sich die Möglichkeiten des vergleichenden Sehens weder in ideologischer Bildpolitik noch in wissenschaftlichen Bildnachweisen. Vielmehr entfaltet das vergleichende Sehen seine Faszination aus dem anschaulichen Experiment einer immer auch unkontrollierbaren visuellen Erfahrung im Dialog der Bilder. Dem Konzept ist eine tastende, spielerische Komponente immanent, die aus der Zusammenschau der Bilder ihren besonderen Reiz entwickelt und die Wirkungsmacht anschaulicher Gegenüberstellungen begründet. Als Gegenpol zu »komparatistischen Bestätigungen sattsam bekannter Repräsentationsmodelle«15 tritt damit das »Spiel der Hervorbringung von Neuem […], das Auftauchen unvorwegnehmbarer Ereignisse« hervor.16 Jenseits der geordneten Demonstrationen – nicht aber unbedingt losgelöst davon – rückt der Moment einer wilden Begegnung in den Vordergrund: »das anarchische Element plötzlicher Erkenntnis, die Störung fixierten Bewußtseins […], die das Überschreiten kodifizierter Grenzen und stabiler Vorstellungsbahnen durch abrupt eindringende Visualität aufnötigt.«17 Um das vergleichende Sehen in diesem Sinne als Experiment zu beleuchten, scheint es angebracht, das Verfahren – gerade Lena Bader
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auch in Hinblick auf seine Verwendung als wissenschaftliches Erkenntnisinstrument – vor dem Hintergrund neuerer wissenschaftstheoretischer Ansätze zu befragen. Hans Jörg-Rheinbergers Untersuchung von Experimentalsystemen, in Anlehnung an Gaston Bachelard und Gilles Deleuze im Sinne einer »differentiellen wissenschaftlichen Philosophie« ausgelegt, sowie sein Rekurs auf Jacques Derridas Akzent auf die »irreduzible Abwesenheit der Intention« bieten diesbezüglich fruchtbare Impulse:18 »Eine Strategie schließlich ohne Finalität; man könnte dies blinde Taktik nennen, empirisches Umherirren.«19 Vor diesem Hintergrund erlaubt die Zusammenführung von Epistemologie und Psychologie, das vergleichende Sehen z. B. mit Blick auf gestaltpsychologische Ansätze jenseits logisch-instrumenteller Bedingungen zu befragen.20 In Abgrenzung zur »Auffassung vom Experiment als Schiedsrichter«21 lässt sich dazu das Spannungsfeld von Aufmerksamkeit und Distraktion fruchtbar machen. Wie die in dieser Sektion vereinten Beiträge durch die Pointierung der Eigendynamik, die das vergleichende Sehen im Dialog der Bilder entfalten kann, nahe legen, stellt die Würdigung des Verfahrens als Wahrnehmungsprozess, nicht Entscheidungsprozess, zugleich eine phänomenologische Revision damit verbundener Vorurteile in Aussicht.22 Es wird erkennbar, wie sehr Vorstellungen über Möglichkeiten und Grenzen vergleichenden Sehens von damit verknüpften Bildbegriffen abhängen können und vice versa. Mit einer starken Emphase auf Bilder als Bilder wird beispielsweise deutlich, dass das vergleichende Sehen als archäologische Arbeit am Anachronistischen in Aktion treten kann, indem die Montage dank ihrer dialektischen Produktivkraft teleologische Ordnungsmuster aufzubrechen vermag.23 Eine solchermaßen bildkritische Perspektive auf das vergleichende Sehen steht in kritischer Abgrenzung zum »Entschärfungsbegriff« der Illustration 24 und rückt dagegen die anschauliche Produktivität in den Vordergrund, um auch die anschauliche Gegenüberstellung als sinnkonstituierendes Sehangebot zu würdigen. Vergleichendes Sehen erscheint dabei gleichermaßen als Spiegel und Vehikel eines transformativen Prozesses, der Bilder nicht nur zu sehen gibt, sondern zugleich als bildgebendes Verfahren wirksam wird, um verschiedene Sichtweisen auf ein Bild zu ermöglichen25 oder verborgene Tiefenschichten eines Bildes hervorzubringen. 26 Nicht der bloß vermittelnde, illustrierende Charakter steht hier im Vordergrund, sondern die Prozessualität selbst, der Moment der produktiven Zusammenführung. Experiment: Einleitung
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Die »Aufmerksamkeit für die ›Ereignishaftigkeit‹, die Forschungsexperimente auszeichnet«,27 erlaubt somit einerseits, das vergleichende Sehen als kunsthistorisches Erkenntnisinstrument auf fruchtbare Weise mit wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu konfrontieren, und lässt andererseits wichtige Anknüpfungspunkte zu bildtheoretischen Ansätzen hervortreten. Durch den Fokus auf das Ereignis eröffnet sich der Auseinandersetzung mit dem vergleichenden Sehen eine Möglichkeit zur Zusammenführung wissenschaftshistorischer und bildtheoretischer Ansätze, »denn dem Angebot möglicher anschaulicher Konjunktionen im Bilde kann nur ein Sehen gerecht werden, welches sich aus der starren Funktion des Konstatierens und des Überblickens befreit und die dynamischen Konnexe des Bildes wahrzunehmen versteht«.28 Das vergleichende Sehen aus dieser Perspektive zu befragen, heißt den Blick zugleich auf die anschaulichen Konjunktionen zwischen den Bildern zu lenken: Werden sie zwangsläufig neutralisiert und gebändigt durch den Vergleich, wie die Rede vom »disziplinären Imperativ des vergleichenden Sehens«29 nahe legt, oder vermag das kontrastreiche Zusammenspiel der Bilder die »Dynamik der Sinnesenergien«30 nicht auch freizusetzen, ja gar zu potenzieren? Vergleichendes Sehen als Fokussierung auf die bildkonstituierende Form der Differenz und damit Anleitung zum (anschaulichen) Denken produktiver Differenzen? Wie Beispiele aus der modernen Kunst nahe legen, 31 läge in dieser Prozessualität ein besonderer Reiz vergleichenden Sehens: »So etwas wie eine schwebende Aufmerksamkeit, ein längeres Hinausschieben des Augenblicks, da Schlüsse gezogen werden, damit die Interpretation Zeit genug hätte, um sich über mehrere Dimensionen zu erstrecken, zwischen einem erfassten Sichtbaren und der auferlegten Prüfung einer Verzichtleistung.«32 Die Option, das vergleichende Sehen mit Blick auf die Oszillation der Blicke als ein Sehen im Vollzug zu befragen, schien uns ein Experiment wert. Nicht alle Schlüsse werden explizit gezogen, Einiges bleibt in der Schwebe, Anderes wird unter dem Begriff der Montage besprochen, weitere Bezüge werden ausgehend von der Gestaltpsychologie gestiftet. Hier wie dort geht es um den Versuch eines Perspektivwechsels von der Illustration zum Bild, von der visuellen Evidenz zur anschaulichen Produktivität, vom festgeschriebenen Komparativ zur Erfahrung des Vergleichs. Eine Schwerpunktverschiebung vom Vergleich zum Sehen ist indes nicht Lena Bader
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intendiert, es gilt vielmehr dem vergleichenden Sehen in der Komplexität seiner Formel gerecht zu werden, vergleichend und sehend, um das visuelle Experiment als Ereignis zu befragen: »[…] dieses zweideutige Unternehmen, vernünftig und toll, immer unvorhersehbar und stets vorhergesehen, das seine Ziele erreicht, wenn es sie vergißt, sie liegen läßt, wenn es ihnen treu bleiben will, das zugrunde geht in der falschen Reinheit des Scheiterns und sich im Sieg entwürdigt, das sich in seinem Verlauf des Unternehmenden manchmal entledigt, manchmal ihn bloßstellt, wenn er sich nicht mehr verantwortlich fühlt«.33
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Endnoten 1 Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe, 9 Abt., ca. 40 Bde., hg. v. Giorgio Col-
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li und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1977, Abt. 3, Bd. 4, Nachgelassene Fragmente: Sommer 1872 bis Ende 1874, Berlin/New York 1978, S. 32, 19 [75]. Als Reaktion darauf erscheint eine Sammlung mit zahlreichen Stellungnahmen namhafter Zeitgenossen: Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den »Protest Deutscher Künstler«, Mit Beiträgen Deutscher Künstler Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller, München 1911. Noch im selben Jahr erscheint die Neuauflage unter dem Titel Deutsche und Französische Kunst. Eine Auseinandersetzung deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller, München 1911. Franz Marc in einem Brief an August Macke, 12. 04.1911, zit. nach August Macke, Franz Marc. Briefwechsel, Köln 1964, S. 53. Siehe hierzu Jessica Horsley, Der Almanach des Blauen Reiters als Gesamtkunstwerk, Frankfurt a. M. 2006, bes. S. 355 – 362 »Die vergleichende Gegenüberstellung von Abbildungen«; Sigrid Köllner, Der Blaue Reiter und die ›Vergleichende Kunstgeschichte‹, Karlsruhe 1984. Gesa Jeuthe, Die Moderne unter dem Hammer. Zur ›Verwertung‹ der ›entarteten‹ Kunst durch die Luzerner Galerie Fischer 1939, in: Uwe Fleckner (Hg.), Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 189 – 306, S. 190f. Isgard Kracht, Verehrt und verfemt. Franz Marc im Nationalsozialismus, ebd., S. 307– 377. Franz Marc, Schriften, hg. v. Klaus Lankheit, Köln 1978, S. 126f. Heinrich Wölfflin, Gedanken zur Kunstgeschichte, Basel 1941, S. 9. Siehe hierzu die Beiträge in der ersten Sektion dieses Bandes. Horst Bredekamp, Kunsthistorische Erfahrungen und Ansprüche, in: Klaus SachsHombach (Hg.), Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln 2006, S. 11– 26, hier S. 18. Marc, Schriften (Anm. 6), S. 150. Cennino Cennini, Il libro dell’arte, hg. v. Fabio Frezzato, Vicenza 2003, Kap. 1, S. 62f. Jacob Burckhardt, zit. nach Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Bd. VI: Weltgeschichte – Mittelalter – Kunstgeschichte. Die letzten Jahre 1886 –1897, Basel/Stuttgart 1977, S. 461. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], München 1920, S. 248. Siehe auch Franz Roh, Zeitlose Formen in Vergleichspaaren, in: Die Kunst und das schöne Heim 48/7, 1950, S. 248 – 252. Siehe hierzu Valeska van Rosen, Interpikturalität, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2004, S. 161–164; Christoph Zuschlag, Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität, in: Silke Horstkotte und Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 89 – 99. Gustav Frank, Nachwort: Pictorial und Iconic Turn. Ein Bild von zwei Kontroversen, in: William J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt a. M. 2008, S. 445 – 487, hier S. 474, und bes. ebd., S. 136 –172 »Über den Vergleich hinaus: Bild, Text und Methode«. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt a. M. 2006, S. 31. Klaus Niehr, Vom Traum zur Inszenierung. Materialien zu einer Archäologie des kunstgeschichtlichen Vergleichs, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45/2, 2000, S. 273 – 292, hier S. 282. Niehr erörtert in diesem Zusammenhang, inwiefern die Arbeit mit kunsthistorischen Reproduktionen »Spielraum für ein experimentelles Bewegen lassen. ›Spielraum‹ darf hier durchaus wörtlich genommen werden, denn es ist die freie Imagination des Benutzers, seine Lust am Zusammenstellen und Auflösen, am Kombinieren und Systematisieren, die sich je nach Bedürfnis und Interesse ihre eigenen Regeln setzt« (ebd., S. 281). Zum Motiv der Überschreitung als Charakteristikum der Montage s. den Beitrag von Georges Didi-Huberman. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge (Anm. 16), S. 95 –101. Lena Bader
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Endnoten/Abbildungsnachweis 19 Jacques Derrida, Die différance [1968], in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte,
Stuttgart 2008, S. 110 – 149, hier S. 116. 20 Siehe hierzu den Beitrag von Michael Hagner. 21 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge (Anm. 16), S. 24. 22 Siehe hierzu den Beitrag von Robin Rehm. 23 Siehe hierzu den Beitrag von Georges Didi-Huberman. 24 Horst Bredekamp und Franziska Brons, Fotografie als Medium der Wissenschaft:
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Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration, in: Christa Maar und Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn: die neue Macht der Bilder, Köln 2005, S. 365 – 381, hier S. 379. Siehe hierzu den Beitrag von Ulfert Tschirner. Siehe hierzu den Beitrag von Thomas Hensel. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge (Anm. 16), S. 99. Gottfried Boehm, Bildsinn und Sinnesorgane, in: Jürgen Stöhr (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, S. 148 –165, hier S. 156. Heinrich Dilly, Einleitung, in: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, S. 7–16, hier S. 12. Boehm, Bildsinn und Sinnesorgane (Anm. 28), S. 156. Siehe hierzu den Beitrag von Christian Spies. Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, Wien 2000, S. 23. Siehe hierzu die Differenzierung von sichtbarer Information (visible) und phänomenologischem Ereignis (visuel) im Rahmen einer »Phänomenologie der ›zweifachen Ordnung‹«: ders., Bilder trotz allem, München 2007, S. 100 –131. Jean Paul Sartre, Freundschaft und Ereignis. Begegnung mit Merleau-Ponty, Frankfurt a. M. 1962, S. 18.
Abbildungsnachweis 1 Franz Marc, Zwei Bilder, Doppelseite aus dem Almanach, 1911, in: Wassily W. Kandins-
ky und Franz Marc (Hg.), Der blaue Reiter, München 1976, S. 8 – 9 [Faksimile-Druck nach der 1912 erschienenen Ausgabe].
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Harte Kontraste. Kopienkritische Betrachtung fotografischer Kunstreproduktionen Ulfert Tschirner
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Harte Kontraste sind Stilmittel oder Unfall fotografischer Bildproduktion: die Lichter und Schatten treten als polare Gegensätze in Erscheinung und die graduellen Abstufungen der Tonwerte gehen verloren. Gemessen am Ideal eines kontrastreichen Bildes ist die Wahrnehmung zu weicher oder zu harter Kontraste aber auch eine Frage der Rezeption – eines mehr oder weniger ausgeprägten Sensoriums visueller Differenzen. Wenn Kunsthistoriker in dieser Hinsicht als Spezialisten gelten, dann nicht zuletzt aufgrund der etablierten Praktiken vergleichenden Sehens, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kunstwerken gezielt in den Blick des Betrachters rücken. Im Zuge eines vermehrten Interesses der Fachgeschichte an den medialen Bedingungen des kunsthistorischen Wissens sind jedoch auch die »blinden Flecken« dieses disziplinierten und disziplinären Blicks aufgedeckt worden.1 Um Kunstwerke effektiv miteinander vergleichen zu können, sei die spezifische Medialität der dafür als Hilfsmittel benutzten Reproduktionen weitgehend ausgeblendet worden, um die Differenzen zwischen den abgebildeten Kunstwerken überhaupt gezielt wahrnehmen und vermitteln zu 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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können. Die Verfügbarkeit des Mediums Fotografie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts habe es den Kunsthistorikern von diesem Zeitpunkt an erlaubt, fotografische Kunstreproduktionen so zu benutzen, als handelte es sich bei ihnen um transparente Medien, die eine unvermittelte Durchsicht auf das reproduzierte Kunstwerk ermöglichten. Die Forschung konstatiert damit einen harten Kontrast zwischen einem grafischen und einem fotografischen Zeitalter der Kunstgeschichte. Auf den ersten Blick trifft dieser Befund in besonderer Weise für die Gemäldefotografie zu. Stärker als bei der Skulpturenfotografie, die als Bildsetzung aus einer bestimmten Perspektive gelegentlich zu bildkritischen Vergleichen zwischen zuverlässigen und verzerrenden Kunstreproduktionen einlud, 2 scheinen Bildausschnitt und Perspektive bei der Gemäldefotografie bereits durch die zweidimensionale Vorlage vorgegeben.3 Durch die Verengung kreativer Spielräume stellte sich die Gemäldefotografie als scheinbar rein technischer und wiederholbarer Akt und damit als komplementäres Gegenstück zum Kunstwerk dar. Am Ende des 20. Jahrhunderts grenzen selbst Praktiker eines zur »Reprografie« verkürzten Gewerbes ihr Metier bisweilen von einer grundsätzlich freieren »Bildproduktion« ab – so als würde durch die fotografische Wiedergabe zweidimensionaler Vorlagen nicht auch immer ein Bild produziert.4 Diese technische Determination der Reproduktionsfotografie erlaubte es den Kunsthistorikern, ihre eigene Wahrnehmung (und die ihres Publikums) auf das reproduzierte Gemälde zu konzentrieren. Aber tritt diese Umgangsweise mit dem Reproduktionsmedium Fotografie tatsächlich bereits nach dem Auftritt des Mediums Fotografie in Erscheinung? Oder haben die Kunsthistoriker eine im 20. Jahrhundert eingeübte Sichtweise des Mediums schlicht auf die Praktiken des 19. Jahrhunderts übertragen? Vielleicht hat die zunächst von Amateuren getragene Bewegung der Kunstfotografie um 1900 der Dichotomie von Reproduktion und Kreation Vorschub geleistet. Deren Vertreter würdigten bei einer Fotografie vor allem die Wahl eines bestimmten Zeitpunkts, Standpunkts und Bildausschnitts. Der Moment der Aufnahme (Belichtung des Negativs) trat damit als scharf umgrenzter Aspekt des fotografischen Verfahrens gegenüber den anderen Faktoren in den Vordergrund, die für ein gelungenes Bildresultat ebenfalls notwendig waren (Sensibilisierung, Negativentwicklung, Abzug): »You press the button – we do the rest!« Auch wenn sich die Verknüpfung des bekannten Kodak-Slogans mit dem Erfolg der Kunst- und Amateurfotografie Ulfert Tschirner
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als eine geschickt kolportierte Firmenlegende erweist, 5 verdichtet sich darin doch ein für die Wende zum 20. Jahrhundert symptomatischer Wahrnehmungswandel des Mediums. Fotografische Praktiken werden in der Folge verstärkt in den scheinbar grundsätzlich verschiedenen Kategorien einer künstlerisch-bildenden und einer technisch-reproduktiven Mediennutzung wahrgenommen.6 II
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der aus fotohistorischer Rückschau viel geschmähten Epoche der ›Berufsfotografie‹, wurden solche Differenzen nicht als harter Kontrast, sondern allenfalls graduell wahrgenommen. Der Umgang mit dem Medium Fotografie war noch nicht durch die Selbstverständlichkeit alltäglichen Gebrauchs geprägt. In Rezensionen setzten sich Kunstkenner mit erstaunlich medienkritischer Sensibilität mit den unterschiedlichen Verfahren und Effekten der Reproduktion auseinander.7 Gleichzeitig verstanden sich Fotografen wie der Münchner Hoffotograf Josef Albert nicht als Künstler oder Techniker, sondern als Unternehmer, in deren Tätigkeit beide Aspekte unauflösbar ineinander verschlungen waren.8 Die fotografische Wiedergabe von Gemälden galt als eine prestigeträchtige Aufgabe, deren überzeugende Lösung auf Kunst- und Gewerbeausstellungen durchaus mit Preismedaillen für herausragende künstlerische Leistungen ausgezeichnet werden konnte.9 Die Bildproduzenten waren zu einer differenzierten Beobachtung ihres Mediums geradezu verpflichtet, denn die technisch noch nicht ausgereifte Fotografie erforderte besondere Zurichtungen, um überhaupt überzeugende Bildergebnisse präsentieren zu können. Dies betraf im Feld der Gemäldefotografie insbesondere das Problem der »Falschfarben«:10 Die fotosensible Schicht reagierte auf einige Farben zu stark und auf andere zu schwach; gelb, rot und grün wurden zu dunkel, blau zu hell wiedergegeben. Bis in die 1870er Jahre blieben manuelle Modifikationen und Eingriffe in die fotochemischen Prozesse deshalb unverzichtbar, um die farbige Oberfläche eines Gemäldes adäquat in die Tonwertskala der Fotografie zu übersetzen. Experimentelle Maßnahmen zielten darauf, die Wirkungen des Lichtes auf das fotosensible Material durch optische Filter, spezielle Beleuchtung oder gar durch den Auftrag von Tinkturen auf das Gemälde zu verändern. Es war auch nicht unüblich, anstelle des Gemäldes eine bereits existierende grafische Reproduktion (etwa einen Reproduktionsstich) zu fotografieren, ohne diese reproduktive Vereinnahmung (in der Art einer Harte Kontraste
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im Endergebnis unsichtbaren Zwischenkopie) eigens auszuweisen. Schließlich boten Negativ- und Positivretusche vielfältige Möglichkeiten, retuschierte Negative wieder aufzunehmen und abermals zu modifizieren – bis endlich ein Bild hergestellt war, das möglichst keine Spuren dieser mehrfachen Vermittlung mehr zeigte. Diese Vermittlungs- und Übersetzungspraktiken sollten allerdings nicht nur als Reaktion auf einen medientechnischen Mangel aufgefasst werden, sondern sind auch im Sinne einer geschmeidigen Eingliederung des neuen Mediums in die »visuelle Ökonomie«11 der bereits im Feld der Reproduktionsmedien vorhandenen Techniken und Praktiken zu verstehen. In diesem Ensemble gab zunächst noch der Reproduktionsstich das Ideal vor. Er wurde als Übersetzung des künstlerischen Ausdrucks eines Gemäldes in eine spezifisch grafische Erscheinungsform aufgefasst – als transformativer Prozess vermittelnder Übersetzung. Über eine möglichst treue Wiedergabe der Linienführung hinaus, kam es dabei auf medienspezifische Anpassungen an, welche die künstlerische Wirkung des farbigen Gemäldes im kleineren Format und im Schwarzweiß der Grafik widerzuspiegeln vermochten.12 Die jeweils gefundene Lösung des Reproduktionsgrafikers war deshalb ein wichtiger Aspekt der Bildkritik und wurde auch als solcher angesehen. Die Besprechung des reproduzierten Gemäldes und die Besprechung der Reproduktion gingen üblicherweise Hand in Hand. Das durchaus medienkritische Bewusstsein, das diesem grafisch geprägten Verständnis von Reproduktion eingeschrieben war, wurde zunächst auch auf die Fotografie angewandt.13 Der Umgang mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Reproduktionen legte zudem eine vergleichende Betrachtung der im jeweiligen Medium erzielten Bildlösung nahe, um überhaupt Aussagen über die reproduzierten Gemälde treffen zu können. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts drängte das zunehmend dominante Medium der Fotografie die frühere, differenzierte Wahrnehmung von Reproduktionen im Bereich der Kunstkritik aber allmählich aus dem Blick. Gründe dafür waren die Lösung vieler der anfangs zahlreichen technischen Probleme fotografischer Reproduktion, ein expandierender Markt für Gemäldereproduktionen und die Möglichkeit, diese Bilder durch die fotomechanische Technik der Autotypie als Buchillustrationen abzudrucken. Von einem radikalen Bruch innerhalb der Disziplin, der mit dem Auftritt der Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verorten wäre – von einem harten Kontrast zwischen grafischem Ulfert Tschirner
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und fotografischem Zeitalter der Kunstgeschichte – kann aber weder in zeitlicher noch in medialer Hinsicht die Rede sein. Zeigt sich nicht vielmehr gerade für die Zeit zwischen 1850 und 1880 eine Koexistenz traditioneller Praktiken grafischer Vermittlung und medialer Suggestionen fotografischer Unmittelbarkeit? Das gut dokumentierte Beispiel der Reproduktion eines Freskos aus dem Germanischen Nationalmuseum soll diesen Verdacht erhärten. III
Am 18. August 1859 wurde das von Wilhelm von Kaulbach für das Germanische Nationalmuseum gemalte Fresko Otto III. an der Gruft Karls des Großen [Abb. 1] in den musealen Räumlichkeiten der ehemaligen Nürnberger Kartäuserkirche feierlich enthüllt. Museumsgründer Freiherr Hans von und zu Aufseß erklärte das Fresko zum Sinnbild des noch jungen Museums: »Denn auch wir sind berufen, hinabzusteigen in die lang verborgenen Tiefen der Vorzeit, um aufzusuchen des alten Reiches Herrlichkeit, sie, die längst abgestorbene, wieder hell zu beleuchten mit dem Fackelscheine der Wissenschaft, auf daß sich jedermann daran erfreue und stärke, ja, wie Kaiser Otto wollte, zu neuen Thaten der Ehre und des Ruhmes der deutschen Nation sich ermanne.«14 Nunmehr einen echten Kaulbach präsentieren zu können, bedeutete einen nicht zu unterschätzenden Prestigeerfolg für ein Museum, dessen Sammlungen (den hochtrabend formulierten Zielen des umtriebigen Freiherrn zum Trotz) zunächst als zweitrangig eingestuft wurden. Als Sinnbild und künstlerisches Prestigeobjekt zugleich, sollte Kaulbachs Fresko nicht zuletzt dazu dienen, das öffentliche Bild des Germanischen Nationalmuseums positiv zu prägen. So wundert es nicht, dass schon bald über eine Vervielfältigung nachgedacht wurde. Schien es zunächst noch eine offene Frage, ob eine lithografische Reproduktion dem Gemälde angemessener sei,15 konzentrierten sich die Bemühungen des Museums spätestens ab Sommer 1860 auf eine Vervielfältigung im Medium Fotografie. Es dauerte jedoch bis zur Märzausgabe des Jahres 1862, bis der monatliche Anzeiger des Museums von den Reproduktionsarbeiten berichtete. Es wurde mitgeteilt, dass der Münchner Hoffotograf Josef Albert – damals der anerkannte Experte auf dem Gebiet fotografischer Kunstreproduktion – diese Arbeit inzwischen »unter specieller Aufsicht des Meisters Kaulbach« begonnen hätte.16 Harte Kontraste
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1 Wilhelm von Kaulbach, Otto III. an der Gruft Karls des Großen, 1859.
Kann der Verweis auf die Autorität des künstlerischen Schöpfers als ein wirkungsästhetisches Argument verstanden werden? Sollte sein überwachender Blick gewährleisten, dass die Wirkung der Fotografie der Idee seines Freskos entsprach? Gerade weil der Status der Fotografie zwischen Kunst und Technik noch ungeklärt war,17 konnte ein Anschluss an das etablierte Konzept grafischer Kunstreproduktion die Gemäldefotografie als künstlerische Schöpfung ausweisen – als Fortpflanzung der künstlerischen Idee in einem anderen Medium. Fast folgerichtig vergingen daher knapp neun Monate, bis der Anzeiger vermeldete, dass das Kunstwerk »nunmehr aus dem Atelier des Hofphotographen Albert zu München mit voller Wirkung des Originals vervielfältigt hervorgegangen« sei.18 In dieser Mitteilung wird die Reproduktion nicht als etwas dem Kunstwerk Entgegengesetztes beschrieben, sondern als dessen Transformation. Das Kunstwerk selbst ist durch die Reproduktion ein anderes geworden, es ist aus dem Atelier des Fotografen »vervielfältigt hervorgegangen«, ist also nicht mehr singuläres Objekt, sondern artikuliert sich nunmehr gleichzeitig in einem Original und in vielen Reproduktionen, die aber ihrerseits ebenfalls eine Erscheinungsform des Kunstwerks sind – eine weitere Manifestation der künstlerischen Idee. Im Prozess und in der Folge der Reproduktion eröffnete sich dadurch die Möglichkeit des Vergleichs verschiedener Artikulationen eines Kunstwerks. Dies kann die Aufmerksamkeit Ulfert Tschirner
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auf die materiellen und medialen Differenzen zwischen Original und Reproduktion lenken. Reproduktionsprozesse können somit auch als Grundlage von Originalitätsdiskursen betrachtet werden, gewinnt doch die Rede vom Original erst angesichts einer Reproduktion an Relevanz.19 Im Fall des Nürnberger Freskos erwies sich die Reproduktion als besonders langwieriger, komplizierter, vielfach vermittelter und mehrstufiger Prozess. Die im Archiv des Museums erhaltenen Aktenstücke lassen die verschiedenen Bemühungen, Fehlschläge und erneuten Anläufe erkennen, die zwischen 1860 und 1863 dazu unternommen wurden. Koordiniert wurde der Vorgang von dem Historienmaler Jakob Eberhardt, der als einer von Kaulbachs Helfern selbst an dem Fresko mitgearbeitet hatte und anschließend zum künstlerischen Inspektor des Germanischen Nationalmuseums ernannt worden war.20 So korrespondierte Eberhardt im Sommer 1860 mit einem Nürnberger Fotografen, der eine pyrotechnische Illumination des dunklen Kirchenraums vorgeschlagen hatte, um mittels Kunstlicht eine taugliche Aufnahme des Wandgemäldes zu erhalten. Das museale Feuerwerk kam jedoch nicht zustande – die Kosten der entsprechenden Apparatur waren zu hoch.21 Parallel dazu stand Inspektor Eberhardt mit mindestens zwei weiteren Nürnberger Fotografen in Kontakt, die Interesse an einer fotografischen Vervielfältigung des Freskos bekundet hatten. Ihre Versuche vom Herbst Harte Kontraste
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1860 entsprachen jedoch nicht den an die Reproduktion gestellten Ansprüchen; die dabei hergestellten Negative mussten auf Druck des Museums wieder vernichtet werden.22 Einer dieser Fotografen, ein Oberstleutnant Stark, gab sich dann jedoch im Frühjahr 1861 zuversichtlich, bei idealen Witterungsbedingungen (»Bedingungen, welche ich der Witterung ablauern muß«) ein »tadelloses Bild« zu erhalten, »welches keine Retouche bedarf«.23 Aber auch diese – vom Stand der fotografischen Technik her betrachtet – unrealistischen Hoffnungen zerschlugen sich. Stark bot als Alternative in der Folge die Herstellung eines Komposit-Negativs an, das sich aus Einzelaufnahmen der Bildfiguren zusammensetzen sollte; in diesem Zusammenhang empfahl er dem Museum einen Fachmann für fotografische Retuschen, der sein Handwerk bei Josef Albert in München gelernt habe. 24 Wenn diese Zusammenarbeit nicht mehr zustande kam, dann vielleicht auch deshalb, weil unterdessen genau dieser renommierte Fotograf, Josef Albert, dem Museum seine Dienste in dieser Sache angeboten hatte. Albert fotografierte das Fresko jedoch keineswegs selbst; vielmehr bot er dem Museum (neben seinem Namen) eine kostenlose Nutzung seines auf Kunstreproduktionen spezialisierten Ateliers an. Albert verfügte in München unter anderem über Vergrößerungsapparaturen, um von kleinen Glaspositiven Negative in unterschiedlichen Größen herzustellen. Als Vermittlungsinstanz zwischen dem Nürnberger Fresko und dem Münchner Fotoatelier wurde deshalb ab Winter 1861 der Fotograf Koenig eingeschaltet, der ein kleinformatiges Negativ und ein Glaspositiv des Freskos anfertigte und beides persönlich in München übergab. Auf dieser Aufnahme sollten die weiteren Arbeiten in Alberts Atelier basieren.25 Freude und Erleichterung des Museums über das Engagement Josef Alberts legten sich jedoch, als die Probeabzüge aus München zunächst auf sich warten ließen und schließlich den hoch gesteckten Erwartungen nicht entsprachen. Museumsinspektor Eberhardt klagte in seinen Schreiben an Albert nicht nur über die organisatorischen Verzögerungen, sondern übte an den verschiedenen Abzügen eine teils detaillierte Kritik, die sich mehrmals auf die »Vergleichung mit dem Original«26 berief – also auf eine nur im Museum selbst (als Standort des Freskos) gebotene Möglichkeit der vergleichenden Betrachtung von Original und Reproduktion. Der Zugang zum Fresko wurde als Standortvorteil ausgespielt, auf den sich die Autorität gründe, über die Richtigkeit der Reproduktion zu entscheiden. Am Rande sei erwähnt, dass Inspektor Eberhardt Ulfert Tschirner
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in seiner Bildkritik insbesondere den Kontrast als unrichtig empfand: So sei beispielsweise einmal »die Gruppe Otto u. seine Begleitung zu hell gekommen«, ein anderes Mal sollte »der Arm welcher den Schild hält, […] mehr Ton im ganzen haben«.27 Entgegen der Mitteilung im Anzeiger war in der Praxis der Reproduktion letztlich nicht der Blick des künstlerischen Schöpfers die entscheidende Instanz, sondern der Blick eines Museumsinspektors, der die ihm vorgelegten fotografischen Abzüge vor Ort mit dem Bildeindruck des Originals vergleichen konnte. IV
Einerseits entspricht der hier skizzierte Nürnberger Fall der um 1860 üblichen Praxis fotografischer Gemäldereproduktion, die noch mit einem Bein in der Tradition des grafischen Zeitalters stand. Die Notwendigkeit mehrerer Bearbeitungsschritte, die Beschreibung der Reproduktion als Transformation des Kunstwerks sowie die Dauer des gesamten Vorgangs sind als charakteristische Aspekte einer Tradition übersetzender Reproduktion zu bewerten. Andererseits fällt doch auf, wie viel Wert in Nürnberg von Anfang an auf eine gelungene Aufnahme vor Ort gelegt wurde. Dies überrascht umso mehr, da sich das monumentale und unbewegliche Fresko offenbar an einem für fotografische Aufnahmen denkbar ungeeigneten Platz befand. An einer Seitenwand des schmalen Kirchenraumes platziert, konnte die Distanz, die für die Herstellung großformatiger Negative notwendig war, nicht erreicht werden (deshalb schlug Stark ein Komposit-Negativ vor, deshalb fertigte Koenig ein Glaspositiv für Alberts Vergrößerungsapparat). Und auch die Lichtverhältnisse der gotischen Kirche dürften eine gleichmäßige Ausleuchtung der Wandmalerei erschwert haben (deshalb wurde der Einsatz von Kunstlicht vorgeschlagen). Trotz dieser Hindernisse wird in Eberhardts Korrespondenz nirgends eine Alternative zur fotografischen Aufnahme des Bildes vor Ort erwähnt. Die Vervielfältigung einer speziell hergestellten grafischen Reproduktionsvorlage etwa wäre ja eine durchaus gängige Option gewesen, die in anderen Fällen gerade auch Wilhelm von Kaulbach praktizierte.28 In Nürnberg aber wurde an der weitaus schwierigeren Aufgabe einer direkten Aufnahme festgehalten. Vielleicht weil das Versprechen fotografischer Unmittelbarkeit der dokumentarischen Konzeption des Germanischen Nationalmuseums besonders entgegenkam?29 Diese Haltung kulminierte in der durchaus verwegenen Hoffnung, der Witterung ein Bild ›ablauern‹ zu Harte Kontraste
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können, das keiner weiteren Retusche mehr bedürfe. Das Scheitern dieser Hoffnung markiert aber zugleich den Wendepunkt, in dessen Folge sich das Museum dem bereits bewährten »Arsenal der fotografischen Illusionsmaschinerie«30 bediente, für das der Name Josef Albert stand. Dessen Kunstreproduktionen waren gerade deshalb so hoch geschätzt, weil sich die an ihnen vorgenommenen Manipulationen im Endergebnis nicht mehr zu erkennen gaben und einen suggestiven ›Transparenzeffekt‹ erzeugten, der von einem unvermittelten Kamerablick träumen ließ. Als Medium der Kunstreproduktion fügte sich die Fotografie somit zwar in die »visuelle Ökonomie« des 19. Jahrhunderts ein, besetzte darin aber eine potentielle Bruchstelle, indem sie eine paradoxe Fantasie unvermittelter Vermittlung beförderte, auf die sich später der besondere Authentizitätsanspruch des fotografischen Bildes stützen sollte.31 Die Techniken, Praktiken und Konzepte der Reproduktion verlagerten sich unter diesem Einfluss allmählich vom Ideal einer vermittelnden Übersetzung zwischen Original und Kopie zur Vorstellung einer unmittelbaren Versetzung des Originals in eine Kopie; der Prozesscharakter jeder Reproduktion (das Dazwischen) trat zugunsten einer binären Opposition der Eckpunkte – Original und Kopie – in den Hintergrund. V
Eine Übergangserscheinung des späten 19. Jahrhunderts, die erkennen läßt, in welchem Zeitraum die feineren Abstufungen im Feld der Reproduktionsfotografie allmählich durch harte Kontraste überblendet wurden, ist paradoxerweise ausgerechnet in der Etablierung der so genannten Kopienkritik als Methode der Klassischen Archäologie zu sehen.32 Durch den Vergleich römischer Skulpturen, die (nicht immer zu Recht) als Kopien verlorener griechischer Meisterwerke betrachtet wurden, zielte Kopienkritik auf die Rekonstruktion eines imaginären Vorbilds. Dieses musste der Gesamtheit seiner Kopien einerseits vorausgegangen sein, ging aber andererseits erst im Forschungsprozess aus diesen hervor. Aus einem Korpus römischer Reproduktionen, denen ein gemeinsames Vorbild zugeschrieben wurde, sollte (ähnlich der Idee des fotografischen Komposit-Negativs) die ›ideale‹ Kopie synthetisiert werden und damit gleichsam ein Doppelgänger des verlorenen griechischen Meisterwerks erschaffen werden. Ellen Perry hat gezeigt, wie der auf die griechische Kunst gerichtete ›Tunnelblick‹ der Kopienkritiker eine spezifisch römische Ulfert Tschirner
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Kunstpraxis unsichtbar machte, die gerade nicht auf exakte Kopien ausgerichtet war, sondern auf eine kreative Aneignung griechischer Kunst, auf ihre Einpassung in einen dekorativen Kontext.33 Für die Kopienkritiker war die römische Reproduktionspraxis aber ausschließlich als epistemische Sehhilfe zur Erkenntnis des verlorenen Meisterwerks von Interesse: Die durch vergleichende Betrachtung römischer Kopien erschlossene Summe von Abweichungen und Übereinstimmungen sollte eine Durchsicht ermöglichen auf das nicht mehr vorhandene griechische Original. Im Idealfall einer überzeugenden Kopienkritik fungieren die in jedem Einzelfall ›fehlerhaften‹ römischen Kopien somit in ihrer Gesamtheit als transparentes Medium griechischer Kunst. Mit dem Ideal der Transparenz schiebt sich aber ein ganz bestimmtes und durchaus historisch bedingtes Konzept von Reproduktion in den blinden Fleck der Kopienkritik. Das um 1900 offenbar etablierte und am technischen Medium Fotografie orientierte Ideal einer exakten Kopie, die auch im Einzelfall verlässlich sei, fungierte darin als überhistorisches Modell und Maßstab jeder Reproduktion. Während also auf der Ebene der Forschungsobjekte (der römischen Kopien) mit geradezu philologischer Sensibilität die Differenzen zwischen verschiedenen Reproduktionen wahrgenommen wurden, schienen sich auf der Ebene der eigenen Forschungsinstrumente (modernde Gipsabgüsse und Fotografien) medienkritische Bedenken zu erübrigen, da ja die Exaktheit, Neutralität und Transparenz der Wiedergabe in diesen Fällen bereits maßgeblich durch die eingesetzten Medien selbst verbürgt schien. Der Initiator der kopienkritischen Methode, Adolf Furtwängler, bezeichnete den Vergleich von Fotografien in seinem Buch Meisterwerke der griechischen Plastik (1893) als wesentliche Stütze dieser kunsthistorischen Erkenntnis: »Wer immer nur es versteht, an den Denkmälern zu beobachten und mit nie ermüdender Lust alle Formen neu zu prüfen und zu vergleichen, der wird mit Hilfe der Photographie, die das Einzelne festhält, zu Resultaten gelangen, die an die Stelle der bisherigen blassen und mageren Gestalt bald ein ganz anderes farbenprächtiges Bild der griechischen Kunstgeschichte werden erstehen lassen.«34 Wenn er betont, nur solche Bildwerke benutzt zu haben, deren Original er selbst in Augenschein genommen habe, argumentiert Furtwängler zwar noch vor dem Hintergrund eines grafischen Harte Kontraste
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Zeitalters, das Reproduktionen gegenüber grundsätzlich skeptisch – und eben kritisch – gegenüberstand. Bei den feineren Abstufungen zwischen grafischen und fotografischen Bildern zeigen sich aber bereits die Spuren einer zunehmenden Überblendung: Gute Fotografien könnten einen hinreichenden Ersatz zur »Autopsie« der Originale liefern – grafische Abbildungswerke seien dafür jedoch grundsätzlich ungeeignet.35 VI
Zurück zu Kaulbachs Fresko. Bedenkt man den programmatischen Stellenwert, den der Museumsgründer Aufseß diesem Bild zugesprochen hatte, wundert es nicht, dass es gerne zur Illustration museumshistorischer Darstellungen herangezogen wird.36 Der in Museumspublikationen übliche Verweis auf die Signatur und den Standort des Originals zielt in diesem Fall aber ins Leere; Kaulbachs Fresko ist nicht im Original erhalten. Zwischen der frühen Wertschätzung als Prestigeobjekt des Museums und der späten Wiederentdeckung als museumshistorisches Zeugnis ist die Objektbiografie von Verfall und Verlust gekennzeichnet. Bereits im 19. Jahrhundert merklich nachgedunkelt, um 1920 aus den Schauräumen entfernt und in einen Vortragssaal gebracht, dort zeitweise hinter einem Vorhang verborgen, überdauerte das einstige Sinnbild als inzwischen ungeliebtes Inventarstück beide Weltkriege, bis es 1962 aus Unachtsamkeit bei Umbauarbeiten zerstört wurde.37 Mit dem Verlust eines Originals können die davon angefertigten Reproduktionen an Relevanz gewinnen, weil das hinter ihnen und durch sie gesehene Original nicht mehr als gemeinsamer Referenzpunkt zur Verfügung steht. Die Methode der Kopienkritik sucht in Ermangelung dieses Fixpunktes nach möglichst allen erhaltenen Kopien und betrachtet die Unterschiede der (manuellen) Reproduktionen im Vergleich. Solch ein kritischer Vergleich scheint sich aber zu erübrigen, wenn Fotografien eines verlorenen Kunstwerks verfügbar sind – wie im Fall von Kaulbachs Fresko. Das Ideal der exakten Reproduktion scheint dann bereits bei jeder technisch gelungenen Fotografie eines Gemäldes erfüllt, das Nachleben der Bilder, die in ihrer originalen Materialität beständig bedroht sind, durch die fotografische Vervielfältigung hinreichend gesichert.38 Kann man sich eine andere Art von Kopienkritik vorstellen? Eine Methode vergleichenden Sehens, die den Verlust des Originals zum Ansatzpunkt eines Perspektivwechsels macht und die Eigengesetzlichkeit von Reproduktionen in ihrer spezifischen Ulfert Tschirner
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Medialität und Materialität in den Blick rückt? Gemäldefotografien, die seit dem späten 19. Jahrhundert als Hilfsmittel zum Vergleich der reproduzierten Originale eingesetzt wurden, könnten darin zum Gegenstand einer vergleichenden Betrachtung werden, die an ihnen nach Spuren historischer Praktiken, Techniken und Konzepte von Reproduktion sucht. Nicht die Differenzen zwischen fotografierten Gemälden, sondern die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fotografien und Abzügen eines Gemäldes träten damit in den Mittelpunkt des Interesses. Vielleicht bietet gerade der Verlust des Originals die Chance, die Spuren der medialen Übertragungs- und Vermittlungsprozesse zu fokussieren, die ein Bild als Reproduktion erscheinen lassen. Dabei ginge es um subtile Differenzen, die wir im pragmatischen Umgang mit Reproduktionen und Abbildungen meist übersehen, weil wir durch sie hindurch sehen (wollen) auf das reproduzierte Original – wie durch die Überlagerungen transparenter Oberflächen in mehrfach verglasten Fensterscheiben. Erst wenn mehrere Reproduktionen eines einzigen Kunstwerks in den Blick kommen (und sei es durch Zufall), offenbart die vergleichende Betrachtung Differenzen, welche die Durchsicht trüben und das implizite Verständnis von Reproduktion irritieren können. Im Vergleich zweier publizierter Abbildungen des Freskos zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Skalierung, des jeweils abgebildeten Ausschnitts sowie der Helligkeits- und Kontrastwerte. Die in einer Jubiläumsschrift von 1978 veröffentlichte Illustration [Abb. 2] zeigt sich zwar (insbesondere in den helleren Bildteilen des Zentrums) äußerst detailreich, erzielt durch einen dunkleren Ton und harte Kontraste (gerade in den dunkleren Bildteilen der Ränder) aber eine andere Wirkung als die Abbildung aus dem Ausstellungskatalog von 2002 [Abb. 3], in der die mittleren Tonwerte feiner abgestuft sind. Neben dem etwas kleineren Bildausschnitt in der Abbildung von 1978 sind Helligkeit und Kontrast die entscheidenden Parameter für die unterschiedliche Bildwirkung. Im älteren Druck zieht die dunkle Silhouette des Schildes den Blick auf sich, während die Figur Kaiser Ottos III. in die dunkle Peripherie des Bildes gedrängt ist. Die jüngere Wiedergabe von 2002 lenkt den Blick hingegen auf die Lichterscheinung im Zentrum und stellt die Hauptfiguren besser heraus. Auch wenn diese Differenzen sich teilweise durch die Bildbearbeitung der Verlage erklären lassen, gehen die beiden Abbildungen doch mit großer Wahrscheinlichkeit auf unterschiedliche fotografische Vorlagen zurück. Harte Kontraste
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2 Kaulbachs Fresko nach Deneke und Kahsnitz, 1978.
Das Bildarchiv Foto Marburg, in dem unter anderem das Fotoarchiv des Germanischen Nationalmuseums erfasst ist, hält drei Bilder von Kaulbachs Fresko bereit [Abb. 4].39 Eines wird Jakob Eberhardt zugeschrieben und auf das Jahr 1863 datiert. Es handelt sich wahrscheinlich um eine derjenigen Aufnahmen, die Eberhardt anfertigte, nachdem er am Germanischen Nationalmuseum (womöglich aufgrund der Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Josef Albert) ein eigenes Atelier für Museumsfotografie eingerichtet hatte.40 Bei der zweiten Aufnahme des 19. Jahrhunderts sind Fotograf und Aufnahmedatum nicht bekannt. Nicht zuletzt aufgrund der im Bildresultat als Qualitätsmerkmal erkennbaren Sorgfalt, die vor allem bei der Erstveröffentlichung zu erwarten ist, dürfte dieses Bild auf einen der erhaltenen Abzüge zurückgehen, an denen neben Inspektor Eberhardt und dem Nürnberger Fotografen Koenig auch das professionell organisierte Atelier von Josef Albert beteiligt war [zugleich: Abb. 1]. Das dritte Bild wird als eine um 1906/1908 gefertigte Aufnahme aus dem Bestand von Foto Marburg ausgewiesen; es steht damit im Kontext jener Fotokampagnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine systematische und möglichst vollständige Erfassung kunsthistorischer Forschungsobjekte zielten.41 Auch im Vergleich dieser Bilder sind Bildausschnitt, Tonwertumfang, Schatten und Lichter die entscheidenden Differenzkriterien. In der Aufnahme Eberhardts erscheinen die Kontraste Ulfert Tschirner
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sogar ein wenig zu weich. Es handelt sich um das Bild mit den hellsten Lichtern und den schwächsten Schatten. Der Fackelschein im Zentrum des Bildes wird dadurch stark betont, die Details in diesem Bildteil verschwinden; dafür bleiben die Details der dunkleren Bildteile erkennbar. Dies gilt insbesondere für die Elemente der Bildgestaltung, auf die Eberhardt in seinem Briefwechsel mit dem Atelier Albert besonders hingewiesen hatte: »die Gruppe Otto u. seine Begleitung«, »der Arm, welcher den Schild hält«. Im scharfen Kontrast dazu zeigt sich die Aufnahme von 1906/1908 gerade für diese Bildelemente wenig sensibel: Der kleinere Bildausschnitt schneidet die Krone Kaiser Ottos III. am Bildrand an, während die Silhouette des Knechts mit dem Schild sich durch den scharfen Kontrast zum Lichtschein in den Blick drängt. Die im Vergleich deutlich abfallende Reproduktionsleistung könnte zwar teilweise auf die Nachdunklung des Originals zurückzuführen sein, dokumentiert durch den sorglosen Anschnitt wichtiger Bildelemente aber zugleich den gesunkenen Stellenwert des Freskos innerhalb und außerhalb des Museums. Zudem waren die aufwändigen Arbeitsschritte, die Mitte des 19. Jahrhunderts notwendig waren, um das Bildresultat einer Gemäldefotografie aufzubereiten (und von Kennern als ästhetische Eingriffe geschätzt wurden), Anfang des 20. Jahrhunderts kaum noch mit dem Konzept der fotografischen Dokumentation von originalen Kunstwerken vereinbar. Harte Kontraste
3 Kaulbachs Fresko nach AndrianWerburg, 2002.
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4 Kaulbachs Fresko in der Dokumentenstruktur von Bildarchiv Foto Marburg.
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Durchaus symptomatisch spiegelt sich somit in dem daraus resultierenden Bild auch eine veränderte Haltung gegenüber der Reproduktionsfotografie. In dem Zeitraum, in dem sich innerhalb der Kunstgeschichte eine Kontrastverschärfung zwischen Original und Kopie, manuellen und mechanischen Reproduktionen bemerkbar machte, wird eine Aufnahme von Kaulbachs Fresko gefertigt, die sich im Vergleich zu den Aufnahmen des mittleren 19. Jahrhunderts vor allem durch eines auszeichnet: einen zu harten Kontrast. Steht die Aufnahme von 1906/1908 somit symptomatisch für eine Praxis fotografischer Aneignung, die die Differenzen und Freiräume im Bereich der Reproduktion bereits zugunsten der Suggestion technisch-verbürgter Authentizität aus dem Auge verlor? Wenn dieses Problemfeld im 20. Jahrhundert selten wahrgenommen und noch seltener thematisiert wurde, wenn Abstufungen und Übergänge zwischen verschiedenen Reproduktionen zugunsten der harten Kontraste von Original und Kopie unkenntlich wurden, liegt eine Chance zum Aufbruch dieses binären Denkmodells vielleicht in dessen Historisierung. Eine solche Betrachtung könnte an jene Perspektiven aus der Mitte des 19. Jahrhunderts anschließen, die auf ausgewogene Kontraste setzten und daher Abstufungen und Übergänge, Graustufen und Zwischentöne im Feld medialer Reproduktion wahrnahmen.
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Endnoten 1 Wiebke Ratzeburg, Mediendiskussionen im 19. Jahrhundert. Wie die Kunstgeschichte
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ihre wissenschaftliche Grundlage in der Fotografie fand, in: Kritische Berichte 30/1, 2002, S. 22 – 39; Ingeborg Reichle, Medienbrüche, ebd., S. 40 – 56. Zu den kanonischen Texten dieser Forschungsliteratur zählen: André Malraux, Le Musée Imaginaire, Genf 1947; Heinrich Dilly, Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a. M. 1979. Erika Billeter (Hg.), Skulptur im Licht der Fotografie. Von Bayard bis Mapplethorpe, Bern 1997 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Duisburg, Fribourg und Wien 1997/1998]. Frühe Aufnahmen einer aus heutiger Perspektive unbeholfen wirkenden Gemäldewiedergabe zeigen nicht nur die Bildränder und -rahmen, sondern auch die Gestelle, mit deren Hilfe die Kunstwerke dem fotografischen Objektiv ausgesetzt werden mussten, z. B. Bodo von Dewitz und Reinhard Matz (Hg.), Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum. 1839 –1860, Köln/Heidelberg 1989, S. 517 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Köln 1989]. So z. B. Heinz Hamann, Fotografische Reproduktion, Leipzig 1990, S. 9. Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 45 – 50. Maren Gröning, Schatten des imaginären Museums. Die Albertina und die Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Fotogeschichte 81, 2001, S. 3 – 20, hier S. 17. So vor allem in Zeitschriften, die im Umfeld von Sammlern und Museen entstanden, etwa der vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg herausgegebene Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit (N. F., Nürnberg 1853 – 1883) sowie das von Robert Naumann und Rudolph Weigel herausgegebene Archiv für die zeichnenden Künste mit besonderer Beziehung auf Kupferstecher- und Holzschneidekunst und ihre Geschichte (Leipzig 1855 –1870). Winfried Ranke, Joseph Albert. Hofphotograph der bayerischen Könige, München 1977, S. 12f. Ulrich Keller, Nachahmen, Aufzeichnen, Erleben. Zu Krones Stellung in der Geschichte der Kunstreproduktion, in: Fotogeschichte 68/69, 1998, S. 189 – 202, hier S. 190. Zum Folgenden Marjen Schmidt, Falschfarben. Zur Farbwiedergabe in Gemäldereproduktionen 1839 –1905, in: Verwandlungen durch Licht. Fotografieren in Museen & Archiven & Bibliotheken (Rundbrief Fotografie, Sonderheft 6), Göppingen 2001, S. 211– 226. Stephen Bann, Fotografie, Reproduktionsverfahren und die visuelle Ökonomie im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: Charles Grivel, André Gunthert und Bernd Stiegler (Hg.), Die Eroberung der Bilder. Photographie in Buch und Presse (1816 –1914), München 2003, S. 9 – 25, hier S. 9. Anthony J. Hamber, A Higher Branch of the Art. Photographing the Fine Arts in England, 1839 –1880, Amsterdam 1996, S. 81– 83. Vgl. beispielsweise C. L., Die Photographie als Mittel zur Reproduktion, in: Archiv für die zeichnenden Künste 5, 1859, S. 136 –140. Bernward Deneke und Rainer Kahsnitz (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852 –1977. Beiträge zu seiner Geschichte, München/Berlin 1978, S. 367. Dokumente dazu im Archiv des Germanischen Nationalmuseums: GNM-Akten, K. 731, fol. 180: Vorlage für die Sitzung des Gelehrtenausschusses im Jahr 1860. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 9, 1862, Sp. 89. Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 9, 1862, Sp. 431f. Gisela Fehrmann u. a., Originalkopie. Praktiken des Sekundären – Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S. 9 –11. GNM-Akten, K. 28, Nr. 13. Das Konvolut trägt die Aufschrift »das Kaulbach’sche Wandgemälde u. dessen Vervielfältigung durch Photographie betr«. Es enthält 38 ungebundene Ulfert Tschirner
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Aktenstücke, die – chronologisch etwas in Unordnung geraten – ein zeitliches Spektrum von Juli 1860 bis Januar 1863 umspannen. Es handelt sich um ein- und auslaufende Korrespondenz des Museumsinspektors Jakob Eberhardt. Ebd., Schreiben des Photographie-Instituts Ed. Liesegang an Johann Maar, 06. 08.1860 (mit Notizen von Jakob Eberhardt). Ebd., Erklärungen, unterzeichnet von Chr. Koenig (27.10.1860), G. Kühn (23. 11.1860) und Obl. Stark (undatiert). Ebd., Schreiben des Obl. Stark an Jakob Eberhardt, 15. 03.1861. Ebd., Schreiben des Obl. Stark an Jakob Eberhardt, 15. 07.1861. Ebd., Schreiben des Chr. Koenig an das GNM, 03. 01.1862. Ebd., Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an Josef Albert, 02. 08.1862, und Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an die Geschäftsleitung des Ateliers von Josef Albert, 23. 09.1862. Ebd. Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., 16 Bde., Leipzig/Wien 1885 –1892, Bd. 9, 1889, s. v. Kartonage, S. 577. Wolfgang Ernst, Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Er/Zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003, S. 547– 552. Bernd Busch, Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, München/Wien 1989, S. 236. Authentisierungsstrategien arbeiten mit dem Paradox unvermittelter Vermittlung und behaupten die Möglichkeit einer Darstellung, die »den Blick auf den Gegenstand weder trübt noch aspektiert«. Volker Wortmann, Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln 2003, S. 14. Adolf Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik. Kunstgeschichtliche Untersuchungen, Leipzig 1893. Vgl. den Beitrag von Stefanie Klamm in diesem Band. Ellen Perry, The aesthetics of emulation in the visual arts of ancient Rome, Cambridge 2005. Furtwängler, Meisterwerke (Anm. 32), S. VII –VIII. Ebd., S. X. Irmtraud von Andrian-Werburg, Das Germanische Nationalmuseum. Gründung und Frühzeit, Nürnberg 2002, S. 21 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Nürnberg 2002]; Deneke und Kahsnitz (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum (Anm. 14), S. 17. Ebd., S. 26. So sah etwa Jacob Burckhardt im Einsatz von Fotografie eine entscheidende Sicherungsmaßnahme gegen den vollständigen Verlust der Bilder. Vgl. Annette Tietenberg, Die Fotografie – eine bescheidene Dienerin der Wissenschaft und Künste?, in: dies. (Hg.), Das Kunstwerk als Geschichtsdokument. Festschrift für Hans-Ernst Mittig, München 1999, S. 61– 80 , hier S. 74. Bildarchiv Foto Marburg, Objektnummer 21909, unter: http://www.bildindex.de [16. 04. 08]. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 10, 1863, Sp. 424. Es war demnach im deutschsprachigen Raum die erste institutionelle Einbindung der Medientechnik Fotografie in ein Museum. Dies ist bislang von der Forschung übersehen worden. Vgl. Maren Gröning, Etablierung der Museumsfotografie. Die Fotografien des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie 1864 –1885, in: Verwandlungen durch Licht (Anm. 10), S. 121–150, hier S. 125. Petra Roettig, »Das verwilderte Auge«. Über Fotografie und Bildarchive in der Kunstwissenschaft, in: Matthias Bruhn (Hg.), Darstellung und Deutung. Die Bildmedien in der Kunstgeschichte, Weimar 2000, S. 61– 87.
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Abbildungsnachweis 1 Wilhelm von Kaulbach, Otto III. an der Gruft Karls des Großen, 1859, Fresko, Germa-
nisches Nationalmuseum Nürnberg (1962 zerstört). Foto: Germanisches Nationalmuseum/Bildarchiv Foto Marburg. 2 Kaulbach, Otto III. an der Gruft Karls des Großen (wie Abb. 1), in: Bernward Deneke und Rainer Kahsnitz (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852 –1977. Beiträge zu seiner Geschichte, München/Berlin 1978, S. 17. 3 Kaulbach, Otto III. an der Gruft Karls des Großen (wie Abb. 1), in: Irmtraud von Andrian-Werburg, Das Germanische Nationalmuseum. Gründung und Frühzeit, Nürnberg 2002, S. 21 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Nürnberg 2002]. 4 Kaulbach, Otto III. an der Gruft Karls des Großen (wie Abb. 1), Dokumentenstruktur von Bildarchiv Foto Marburg, Objektnummer 21909. Foto: Germanisches Nationalmuseum/Bildarchiv Foto Marburg.
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Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« Thomas Hensel
I »auf dem Wege zur Bildwissenschaft«
Dass die Kunstgeschichte zu einer Bildwissenschaft weiterzuentwickeln sei, postulierte wohl als erster Aby Warburg. »Bildhistoriker, kein Kunsthistoriker«,1 zu sein, reklamierte er für sich selbst, und in seiner kapitalen Abhandlung Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten aus dem Jahr 1920 konstatierte er für die Kunstgeschichte, »alles Bildschaffen [sei] in ihr Studiengebiet einbegriffen«.2 Mit Aplomb sprach Warburg 1925 in einem Brief explizit von »unseren methodologischen Versuchen, von der Kunstgeschichte zur Wissenschaft vom Bilde fortzuschreiten«,3 und nur wenig später pries er »unsere Bemühungen auf dem Wege zur Bildwissenschaft«.4 Vermutlich das erste Mal fällt der Begriff in seiner Sammlung Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie); hier formulierte der erst Dreiundzwanzigjährige am 18. März 1890 die Idee einer »Wissenschaft von den Bildern«.5 Warburgs Kunstwissenschaft wurde zu einer Bildwissenschaft nicht nur durch die Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs auf nicht-künstlerische Bilder, auf »Bild- und Wortquellen aller 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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qualitativen Grade und medialen Formen«,6 auf Lebensstile, Rituale oder habituelle Muster – beispielsweise durch die Ableitung einer modernen Umverpackung von Toilettenpapier von einem antiken Dekadrachmon aus Syrakus.7 Vielmehr entwickelte sie sich zu einer Bildwissenschaft, so die im Folgenden auszufaltende These, weil sie in ihrer Struktur wesentlich durch bildgebende Technologien und technische Bilder8 geprägt wurde und infolgedessen grundlegende kunst- respektive bildwissenschaftliche Methoden hervorgebracht hat, auch und gerade diejenige des vergleichenden Sehens. Die nachstehenden Ausführungen konzentrieren sich mit der Röntgenografie auf eine dieser Technologien; triftig wären ähnliche Überlegungen auch hinsichtlich der Bildtelegrafie, der Kinematografie oder Warburgs Autografie, das heißt seiner Notationssysteme und Verzettelungsgesten.9 Hinter der These einer strukturellen Formierung kunstwissenschaftlichen Denkens durch Medientechnologie steht die Überzeugung, dass mediale Dispositive diskursive Formationen, mithin neue Medien neue Methoden bedingen können.10 Darauf hat für das Fach zuerst Heinrich Dilly am Beispiel des Zusammenspiels von fotografischer Reproduktion und vergleichendem Sehen hingewiesen.11 Medien als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Möglichkeitsbedingungen kunstwissenschaftlichen Arbeitens zu reflektieren, ist indes keinesfalls eine Leistung erst der jüngeren Kunstwissenschaft, sondern war bereits ein herausforderndes Anliegen in der Frühzeit des Fachs. So räumt Herman Grimm gleich zu Beginn seines oftmals als Referenzwerk zitierten Aufsatzes über Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons die produktive Eigendynamik eines solchen Bildwerfers ein, der künstliches Licht verwendete und das Projizieren von Diapositiven und damit die ersten Lichtbildvorträge erlaubte.12 Schon bei Grimm fällt das Schlüsselargument der in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts weitergeführten Diskussionen – dass nämlich die Doppeloder Mehrfachprojektion ein für die kunstwissenschaftliche Arbeit unabdingbares vergleichendes Sehen ermögliche: »Das Skioptikon gewährt aber noch mehr. Eine Hauptaufgabe des Lehrers der Neueren Kunstgeschichte ist, Darstellungen derselben Scene seitens verschiedener Meister zu vergleichen: indem die Bilder nun zu gleicher Zeit sichtbar gemacht werden, tritt die vergleichende Betrachtung sofort in Wirksamkeit.«13 Thomas Hensel
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Durch die Ermöglichung einer derartigen Zusammenschau erweise sich das Studium der Reproduktion gar als demjenigen des Originals überlegen: »Diese kann aber auch bei ein und demselben Werke durch Vorführung in verschiedenen Ansichten und Beleuchtungen erzielt werden, so daß ich eine Statue zeigen kann, wie sie von Weitem und wie sie aus der Nähe gesehen erscheint, wie sie von vorn, von links und rechts, von hinten betrachtet dasteht, wie sie bei wechselndem Sonnenstande sich darbietet. Die einander rasch folgenden Anblicke fließen in der Erinnerung zusammen und bewirken eine Vertrautheit mit dem Kunstwerke, wie dessen wirkliche Betrachtung sie kaum hervorzubringen vermag.«14 Das »Zusammenfließen« von »einander rasch folgenden Anblicken« in der Erinnerung weist auf eine Projektionsmethode hin, die auch Warburg reflektieren wird und die in der jüngeren Literatur fälschlich ausschließlich als Verfahren einer Doppelprojektion im Sinne einer parallelen oder paarweisen Projektion zweier nebeneinander stehender Bilder gedeutet worden ist.15 In einem wenige Jahre vor Grimms Beitrag erschienenen Aufsatz lässt Bruno Meyer, seines Zeichens Professor für Kunstgeschichte in Karlsruhe und einer der »größten Medienoptimisten seiner Zeit«16, keinen Zweifel daran, dass jenes Zusammenfließen auch als Doppelprojektion im Sinne einer ›geschichteten‹ Projektion zweier übereinander geblendeter Bilder konzipiert und in Form einer »vervollkommnete[n] Laterna magica«, eines »sogenannte[n] Projections- oder Nebelbilder-Apparat[es]«17 apparativ konstituiert war [Abb. 1]: Zu diesem Zweck müssen, so Meyer, »die Axen der beiden neben einander wirkenden optischen Apparate […] auf denselben Punkt der das vergrößerte Bild auffangenden Wand gerichtet werden, damit die von beiden ausgestrahlten Lichtkreise sich genau decken, was nöthig ist der Gleichmäßigkeit der Bilder wegen, ferner um zwei Bilder aus den beiden Apparaten sich decken und zu einem bestimmten einheitlichen Effect verschmelzen zu lassen, endlich um das Bild der einen Seite unmerklich in das neue Bild der anderen Seite übergehen zu lassen (dissolving views).«18 Wie sehr auch Warburg seine Bildkonvolute nicht nur nach inhaltlichen Gesichtspunkten strukturierte, sondern ebenso 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Laterna magica für Doppelprojektionen oder Nebelbilder (»dissolving views«).
bezüglich ihrer medialen Potenz, bis hin zu der jener »dissolving views«, reflektierte, demonstrieren diverse publizierte und unpublizierte Texte von seiner Hand, die sich als Schlüsseldokumente einer Sensibilität für Fragen der Medialität lesen lassen.19 Mit Blick auf die Kulturtechnik des vergleichenden Sehens ist insbesondere von Belang, dass Warburg für seine Arbeit die Fotografie als essentiell erachtete: »Ohne den Photographen im Hause würde die Entfaltung der ›neuen Methode‹ nicht möglich sein.«20 Warburg betrachtete die mediale Transformation etwa von Malerei in Fotografie keinesfalls nur als eine Option, sondern vielmehr als eine Notwendigkeit, die sogar noch vor der nahsichtigen Betrachtung des Originals firmiere. So schreibt er 1902 in Bildniskunst und florentinisches Bürgertum, es sei »die nächstliegende einfache Pflicht, eine größere Detailaufnahme anfertigen zu lassen, oder das Bild wenigstens einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen«.21 Warburg war es auch, der anscheinend zum ersten Mal ein vermittels einer Laterna magica projiziertes Farbdia, ein eigens für ihn in England hergestelltes so genanntes »Lumière-Bild«, in einem kunstwissenschaftlichen Vortrag Thomas Hensel
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verwendete22 – und zwar zum Zwecke des Bildvergleichs –, was auch seinen Zeitgenossen Respekt abverlangte: »an Hand eines farbigen Glasbildes – eines damals überraschend neuzeitlichen Hilfsmittels –«, so Carl Georg Heise, ein Schüler Warburgs, in seinen Erinnerungen an den Mentor, »zeigte er durch Vergleich mit einer Aquarell-Kopie […], wie das heute halb zerstörte Fresko der Konstantinschlacht von Piero della Francesca in Arezzo ursprünglich ausgesehen hatte, und schöpfte daraus eine grundlegend neue Erkenntnis des Wesens dieser Malerei«.23 Warburgs Einsicht in die operationale Tragweite der Fotografie lässt sich schließlich an verstreuten Bemerkungen über genau jenes Zusammenspiel von fotografischer Reproduktion und vergleichendem Sehen ablesen, für das ein dreiviertel Jahrhundert später Dilly wieder sensibilisieren sollte: »Dank der photographischen Hilfsmittel kann die Bildvergleichung jetzt weitergeführt […] werden.«24 Warburg übte ein vergleichendes Sehen, das an der Abweichung, Nuancierung oder auch der Inversion tradierter Pathosformeln interessiert war.25 Daher ist auch sein Interesse für
2 K. B. W., »Großes Epidiaskop für Vergleichsbilder« auf der Empore des Lesesaals.
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Projektionsmedien erklärbar, die den Bildvergleich erlaubten. So galt seine Aufmerksamkeit dem Skioptikon,26 das schon Grimm so fasziniert hatte, sowie einem »große[n] Epidiaskop für Vergleichsbilder«27, kombiniert mit einem doppelten Strahlengang für zwei Lichtbilder, das im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (K.B.W.) installiert war, als Möglichkeitsbedingung seines Arbeitens: »Die neuen Marken [gemeint sind Briefmarken] mit alten verglichen im Epidiaskop. Flauer Kitsch.«28 [Abb. 2] Die wegweisende Formel für seine Methode des vergleichenden Sehens prägte Warburg im Jahr 1900. In seiner Sammlung Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie) findet sich ein Diagramm, das die Entfaltung und Polung seiner Theorie zur Gänze unter das mit den Worten »Verschmelzende Vergleichsform« untertitelte Zeichen eines im Schwingen begriffenen Pendels stellt [Abb. 3].29 Tatsächlich mag dieses Zeichen einerseits als ein Symbol für jene Methode, welche »zwei Bilder […] verschmelzen zu lassen« verspricht, andererseits als ein Motto für Warburgs Denken überhaupt verstanden werden können, als ein schematischer Ausdruck einer schwierigen Kräfteharmonie und komplizierten Formeinheit, die Widerstrebendes vermittelt und das in Pole Auseinandergetretene umspannt oder verschmelzt. Wie das für Warburg kardinale Gebilde der Ellipse30 ist das Pendel eine Figur, die Dualismus, Polarität und Differenz konstruktivistisch umschließt und dialektisch positiviert, mithin die Warburgs Denken sowie seiner Methode kongeniale Figur einer in sich reflektierten Harmonie der Widerstände, in der sich Gegenüberstehendes nicht aufhebt, sondern vermittelt. II Der Wille zur Archäologie
Neben der Fotografie war es eine weitere seinerzeit intensiv diskutierte Technologie des Bildes, die Warburgs Vorstellungen vom vergleichenden Sehen, ganz im Sinne der »Verschmelzenden Vergleichsform«, mitmodellierte: die Röntgenografie. Selbige wäre für Warburg wahrscheinlich weniger bedeutsam gewesen, wenn sie ihn nicht an die Verfahrensweisen einer älteren Disziplin erinnert hätte, die um 1900 in aller Munde war und der er sich innig verbunden fühlte. Glauben wir Warburg, ist er zeit seines Lebens seinem ersten Berufswunsch treu geblieben und hat sich stets als Archäologe verstanden.31 So formuliert er im Jahr 1900 eine Idee der eigenen Methode, die er in seinem Austausch mit dem Freund André Jolles im so genannten Nymphenfragment gewinnt: Während es diesen Thomas Hensel
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verlocke, so Warburg ein wenig schmählich, einer geflügelten Idee in einem Liebesrausch durch alle platonischen Sphären zu folgen, richte er »den philologischen Blick auf den Boden«.32 In diesem Boden findet Warburg Bilderreihen, über die er einen veritablen Fundbericht mit Blick auf die freigelegten Kulturschichten anzufertigen habe. So heißt es in Dürer und die italienische Antike von 1905: »Die ›Bilder zum Tode des Orpheus‹ sind somit wie ein vorläufiger Fundbericht über die ersten ausgegrabenen Stationen jener Etappenstraße anzusehen, auf der die wandernden antiken Superlative der Gebärdensprache von Athen über Rom, Mantua und Florenz nach Nürnberg kamen, wo sie in Albrecht Dürers Seele Einlaß fanden […].«33 In seinem 1926 in Hamburg gehaltenen Vortrag Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts adressiert Warburg unmittelbar eine historische Großtat der Klassischen Archäologie und kennzeichnet das 17. Jahrhundert als eine Epoche, in der man um die Malerei der Antike bedauerlicherweise noch nicht wisse, da man selbige noch nicht ergraben habe: »Im Zeitalter Rembrandts, also etwa ein Jahrhundert, bevor Pompeji dem Schutt entstieg (1748), konnte ja auch von der antiken Malerei kein charakteristischer Eindruck ausgehen […].«34 Im so genannten Schlangenritual gibt Warburg ein anschauliches Beispiel für jenen Fundbericht, den er hier zu einem Raum-Zeit-Integral weiterentwickelt, wenn er mit der Figur räumlicher Schichtung eine Entwicklung in der Zeit verschränkt: »Das Material ist kontaminiert, d. h. zweifach überschichtet. Der amerikanische Urgrund ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts überschichtet mit einer Lage spanischkatholischer Kirchenerziehung, die Ende des 17. Jahrhunderts eine gewaltsame Unterbrechung erfuhr, später zwar wiederkehrte, aber in die Dörfer der Mokis nie wieder offiziell eindrang. Darüber lagert sich die dritte Schicht nordamerikanischer Erziehung.«35 Gestützt werden diese Überlegungen von hingeworfenen Diagrammen oder ›Stratigraphemen‹, die sich in Warburgs Zettelkästen finden: Auch hier gewärtigt man eine chronotopische Struktur, die verschiedene antike Bildnisse Apolls, aber auch deren Schöpfer und Fundorte in einzelnen Jahrhunderten zugeordneten Feldern anschreibt. Dabei ist diese ›Schicht‹-Struktur durchlässig für genealogische Querverbindungen, die etwa durch eine schlangenförmige 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« 1: G F: : 79: HB . 8B
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3 Aby Warburg, »Verschmelzende Vergleichsform«, 1900.
Linie angedeutet sind [Abb. 4a und b]. Gegen Ende seines Lebens wird Warburg sich als »Ausgräber der Meilensteine auf verschollenen Wanderstrassen«36 preisen und noch einmal in der programmatischen Einleitung zu seinem Bilderatlas als eine Notwendigkeit seiner Methode reklamieren, »in die Tiefe […] des menschlichen Geistes mit der […] geschichteten Materie hinabzusteigen«37 – dies ein Gedanke, den er auf methodologischer Ebene bereits in seinem wegweisenden Vortrag über Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara von 1912 formuliert hat. Hier benutzte Warburg nach heutigem Kenntnisstand zum ersten Mal öffentlich den magistralen Begriff einer kritischen Ikonologie, die sich, nota bene, durch »ein fortwährendes Wegräumen unberechenbarer Schichten«38 auszeichne. Auch hier wird das von Warburg so apostrophierte »Bilderrätsel« in einer Deutung aufgelöst, die sich als Freilegung verschiedener kultureller Sedimentschichten darstellt: von der griechischen Kultur über die ägyptische, indische, persische, arabische, hebräische, lateinisch-französische bis zu derjenigen der italienischen Renaissance. Und hier auch nennt Warburg die immer wieder umschriebene Methode bei ihrem Namen: als einen »Willen zu stofflich getreuer Archäologie«.39 Tatsächlich also hat Warburg als Modell für seine Historiografie unter anderem die Archäologie gewählt.40 Reflektierte er im Zentrum seiner Abhandlungen immer wieder Ablagerungen und Schichten, die einander überlagern und auch trüben können, sprach er in epistemisch Thomas Hensel
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fruchtbaren Metaphern von Schichtung sowohl in Bezug auf die Struktur einer Pathosformel und deren Überlieferung als auch seiner gleichsam archäologischen Methode, die verschiedene Strata der Kultur- und Psychohistorie freizulegen suchte und das gehobene Material in einer dynamischen Ordnung fortwährend umschichtete und neu konfigurierte.
4a,b Aby Warburg, Zwei Notizblätter mit ›Stratigraphemen‹.
III Unter der Oberfläche des Bildes
Es fällt auf, dass sich die genannten Sprachbilder ähnlich massiert und mit gleicher Bedeutung in der zeitgenössischen Rede über das neu entwickelte bildgebende Verfahren der Röntgenografie finden. Als der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen im Winter 1895 seine Experimente zu einem vorläufigen Abschluss brachte und seine Ergebnisse am 28. Dezember unter dem Titel Ueber eine neue Art von Strahlen zusammen mit mehreren Röntgenbildern bei der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg einreichte, ging es ihm bekanntlich keineswegs darum, die Erfindung eines solchen bildgebenden Verfahrens für sich zu beanspruchen.41 Vielmehr gedachte er, jenes von ihm als »X-Strahlen« bezeichnete, noch unbekannte und dem menschlichen Auge nicht unmittelbar ersichtliche Phänomen aufzuzeichnen und damit dessen Existenz unter Beweis zu stellen. So konstatierte er in einem Brief an seinen Kollegen und Vertrauten Ludwig Zehnder vom 15. Januar 1896 ein wenig resigniert: »Das Photographieren war mir Mittel zum Zweck, und 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« 1: G F: : 79: HB . 8B
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nun wurde daraus die Hauptsache gemacht.«42 Erschien die Röntgentechnik vor diesem Horizont in ihrer bildmedialen Dimension zunächst als ein Zufallsprodukt genuin physikalisch motivierter Forschung, war es vor allem die am 22. Dezember 1895 von Röntgen selbst angefertigte und besagtem Artikel beigegebene Aufnahme der linken, beringten Hand seiner Frau Bertha, die von Beginn an nicht nur als physikalischer Beweis für die X-Strahlen, sondern auch als ein Bildphänomen für große Furore sorgte.43 Was in der Folge einsetzte, ging weit über den Horizont der Physik hinaus, war doch die Vorstellung von einem dunklen Licht, das Fleisch so leicht wie Glas durchdringen konnte und gar Bilder des Skeletts aus einem lebenden Körper hervorzutreiben vermochte, berauschend. Gleichsam über Nacht wurden die mysteriösen Strahlen zu Vehikeln geisterhafter Emanationen, die in Atlanten eigenen Typs eingeschrieben wurden und unaufhörlich in zeitgenössischen Liedern, Karikaturen oder Werbeanzeigen, auf Jahrmärkten oder in Fotostudios begegneten. Im Zuge dieser »›X-ray mania‹«44 wurden alleine im Jahr 1896 über tausend Aufsätze und fünfzig Monografien zum Thema publiziert; 45 darunter auch erste Publikationen zur Paläoradiologie, konkret zur Durchleuchtung von Mumien, geschrieben von Physikern, Ägyptologen, Assyrologen und Archäologen; später, 1905, auch von dem Mediziner und berühmten Röntgenologen Heinrich AlbersSchönberg, dessen führendes Laboratorium in Warburgs Heimatstadt Hamburg ein reges Interesse verzeichnete [Abb. 5].46 Die Durchleuchtung von Gemälden war bereits in Röntgens ursprünglicher Publikation gebahnt. Wenige Monate nach deren Erscheinen wusste man bereits von Untersuchungen diverser Bilder mittels Röntgenstrahlen zu berichten, wiewohl selbige medientechnisch noch reichlich ungeschärft ausfielen.47 Am 26. Januar 1916 erteilte schließlich das Kaiserliche Patentamt das Patent über ein »Verfahren zur Feststellung von Übermalungen bei Ölgemälden o. dgl. durch Herstellung eines Röntgenbildes« an Dr. Alexander Faber in Weimar, einen Kunsthistoriker und Röntgenarzt, der erste systematische Untersuchungen der Absorptionseigenschaften verschiedener Pigmente unternommen hatte.48 Zwei Reproduktionen in einer Publikation von Joseph Wilpert aus dem Jahr 1917 mögen einen Eindruck von den Diffizilitäten der neuen Technik geben: Gut zu erkennen sind die einzelnen, unterschiedliche Belichtungszeiten bezeugenden Aufnahmen, aus denen das Röntgenbild eines damals nicht zugeschriebenen Madonnenbildes zusammengestückt wurde [Abb. 6a und b].49 Thomas Hensel
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In den zeitgenössischen Beschreibungen des Röntgenverfahrens begegnen allfällig die auch seitens der Archäologie verwendeten Sprachbilder. So heißt es in der Patentschrift, dass Röntgenstrahlen »Farbschichten zum Ausdruck bringen, welche für das Auge nicht sichtbar unter der Oberfläche des Bildes liegen«,50 und in den Veröffentlichungen von Faber ist die Rede von »dem Auge verborgenen Schichten«, die es »aufzudecken«51 gelte. Dadurch gelinge es, »einen Einblick in das Schaffen des Künstlers an einzelnen Stellen seines Werkes zu tun, als ob wir ihm hier während seiner Arbeit zugesehen hätten«.52 Die Emphase ob dieser Durchschauungskraft gipfelt in der Beschwörung des Kunstwerks als eines mittels der Strahlentechnik reanimierbaren, beseelten Subjektes: »Räumen wir der Phantasie einmal das Feld, so erblicken wir bisher unbekannte Kompositionsteile an Meisterwerken der Malerei, hervorgezaubert durch die Röntgenstrahlen, übermalte Gemälde erwachen wieder zu neuem Leben, wenn sie es sich auch gegen das über ihnen ruhende Bild auf der Oberfläche erkämpfen müssen, aus dem Dunkel eines Vorhangs tritt wie unter einem Schleier nur verborgen eine ganze Gestalt hervor, die der Künstler aus irgendeinem Grunde verdeckte – begraben, wie er glaubte, für alle Zeiten.«53 Mit der Absicht, für die Objektivität der Röntgenografie zu werben, evoziert auch Wilpert die Subjekthaftigkeit des Bildes, die ihm eigene, authentische Sprache, die zu Gehör zu bringen erst eigentlich die Röntgentechnologie vermöge: »Dieses Verfahren, das auf dem kunsthistorischen Gebiet in solchem Umfang und mit solchem Resultat bis jetzt nicht seinesgleichen hat, setzt uns in den Stand, die Entstehung des Bildes in seinen Hauptstadien mit genügender Klarheit zu verfolgen. Das Bild selbst wird uns bis zu einem gewissen Grade seine Geschichte erzählen.«54 In diesem Zusammenhang stoßen wir auf weitere Denkfiguren, die wir von Warburg her kennen – so die eines Raum-ZeitIntegrals; auch dem Röntgenologen gilt die Schichtung im Raum als Indikator einer Entwicklung in der Zeit: »immer wird es sich um begrabene Zeugen handeln von der Entstehungsgeschichte des Werkes und seinen späteren Schicksalen«.55 Und nicht zuletzt erinnert die Sicht des Röntgenologen auf das zu untersuchende Bild an Warburgs 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« 1: G F: : 79: HB . 8B
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5 Röntgenlaboratorium im Heinrich Albers-Schönberg Institut, Hamburg, um 1903.
Thomas Hensel
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6a,b Fotografie und Röntgenbild einer Madonna, 1917.
7 Fritz Saxl, Rembrandt’s Sacrifice of Manoah, Tafel mit Reproduktion eines Röntgenbildes (Abb.19).
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Betrachtung desselben als ein »Bilderrätsel«: »die Aufdeckung des Uebermalten [wirke] als Lösung einer gestellten Aufgabe«.56 IV »Dorchläuchting«
Fragen wir nach Berührungspunkten Warburgs mit der Röntgenografie, sticht zuerst die Korrespondenz seiner Familie ins Auge. In den ersten zwölf Wochen des Jahres 1896 – also kurz nach Bekanntwerden der Entdeckung Röntgens – ist über selbige ein reges Mitteilungsbedürfnis vieler enger Verwandter zu verzeichnen. So berichtet Felix Warburg am 31. März mindestens zum dritten Mal seinem in Amerika weilenden Bruder, ein wenig radebrechend: »Letzte Woche war hier im Museum Ausstellung der Erfindungen die im letzten Jahr auf Gebiet der Physik Chemie Elektrotechnik sowie allen anderen Naturforschungsgebieten und war es sehr interessant über x Rays mal was verständliches zu hören.«57 Offenbar tief beeindruckt von der bahnbrechenden Entdeckung lassen auch seine Schwester Olga genauso wie seine Eltern Warburg an den neuesten Nachrichten teilhaben, was auf dessen Interesse schließen lassen mag. Selbst Kalauer werden kolportiert – so Charlotte und Moritz Warburg in einem Brief vom 29. Januar 1896: »Neuester Witz: den Prof. Röntgen dessen neue Entdeckung der ›Röntgenschen Strahlen‹ so viel Aufsehn macht nennen [?] sie ›Dorchläuchting‹.«58 Abgesehen von der Familienkorrespondenz hat sich im Nachlass ein auf den 22. Januar 1927 datierter ausführlicher Brief von Warburg an den Freund und Rembrandt-Spezialisten Carl Neumann erhalten. Hier ist eine Passage besonders markant, die man als eine Anspielung auf die Röntgenografie lesen kann und die deutlich macht, wie tief die Materialität derselben in Warburgs Historiografie und Epistemologie, insbesondere in die des vergleichenden Sehens, hineinreicht. In besagter Passage reflektiert Warburg das Verfahren der »vergleichenden, kulturwissenschaftlichen Betrachtung« und erläutert selbiges technisch folgendermaßen: »Wir können, indem wir gleichsam durch zweifache Projektion auf dieselbe Bilderwand gleichzeitig die Kontraste der Antike ›adumbratione‹ hintergründlich im Umrisse erscheinen lassen, mit dem betreffenden antikisierenden späteren Kunstwerk darüber, ablesen, welche selectiven Abweichungen durch die Mentalität der betreffenden Epoche bedingt sind. Dieses Verfahren auf Rembrandt anzuwenden, habe ich versucht, weil in dem Falle des ›Claudius Civilis‹ das erstaunliche Ereignis von organisch Thomas Hensel
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geglückter Umformung des Erbes der Antike nachzuweisen möglich ist.«59 Bemerkenswerterweise gewinnt Warburg dieses an die Konstruktion von »dissolving views« erinnernde 60 quasi-röntgenologische Dispositiv der Überblendung transparenter Bilder oder Bildschichten einer Beschäftigung mit Rembrandts Claudius Civilis ab, also just jenem Gemälde, das er ein halbes Jahr zuvor in seinem Hamburger Vortrag über Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts zum Anlass genommen hat, über die Leistungen der Klassischen Archäologie, namentlich die Ausgrabung Pompejis zu räsonieren. Neben diesen Indizien findet sich im engsten Kreis um Warburg ein tatsächliches Röntgenbild. 1939 publiziert Fritz Saxl als neunten Band der Studies of the Warburg Institute unter dem Titel Rembrandt’s Sacrifice of Manoah eine Untersuchung des gleichnamigen Gemäldes.61 Seine Analyse von dessen Genese und Ikonografie stützt sich unter anderem auf ein im Ergebnis wenig aussagekräftiges Röntgenbild desselben, von dem Saxl ein Detail unter den Abbildungen im Tafelteil wiedergibt [Abb. 7].62 Die Spuren dieses Röntgenbildes lassen sich mehr als zehn Jahre zurückverfolgen; stets von einem großen Interesse Warburgs begleitet, schildert Saxl in mehreren Briefen die Querelen, die sein Wunsch nach einer Röntgenografie ausgelöst hatten und die ihn nahezu verzweifeln ließen: »Ich bin mir als Röntgenologe so vorgekommen wie ein Clown, der am Theater etwas Hochfeines tun muss, wovon er gar nichts versteht.«63 Für unsere Fragestellung wichtig ist ein Brief, in dem Saxl Warburg sehr ausführlich von den technischen Schwierigkeiten der Röntgenaufnahmen berichtet, um dann, in einer Formulierung sehr ähnlich der Fabers, zu betonen, dass man mittels dieser Technologie »wirklich Rembrandt in die Werkstatt blicken dürfe[ ], dass sie wirklich […] den Augenblick der Entstehung des neuen Bildgedankens erfassen lässt«. Und schließlich vergleicht Saxl den Röntgenologen mit einem Archäologen: »D. h. eine wirklich wissenschaftlich saubere Arbeit, muss geduldig von allen wichtigen Partien mehrere Aufnahmen machen, sodass man wie der ausgrabende Archäologe Schicht um Schicht gleichsam abhebt.«64 Genau dieses Anfertigen mehrerer Aufnahmen aller wichtigen Partien, aber auch der Etappen eines Bildes hat Warburg selbst fortwährend praktiziert. Betrachtet man das Ende der zwanziger Jahre immer raffinierter werdende Arrangement seines 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« 1: G F: : 79: HB . 8B
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8 Aby Warburg, Tafel »Ovid-Ausstellung«, 12. 02.1927.
Mnemosyne-Atlas – etwa anlässlich der Ovid-Ausstellung am 12. Februar 1927 [Abb. 8] oder des so genannten Bibliothekarstages am 10. April 1927 [Abb. 9] 65 –, drängt sich Warburgs Idee von Kulturgeschichte, die sich als eine Bilderschichtung manifestierte, unmittelbar auf. Nicht nur über die Fläche sich verteilend, sondern auch in den Raum sich hineinschichtend, überlagerten sich einzelne Bilder, teilweise durch Reißzwecken und Kordelzüge vorübergehend fixiert, mitunter indessen in Büchern oder in Klemmheftern organisiert, die auf eigens montierten Leisten so aufgestellt waren, dass man in ihnen blättern konnte. Gerade der Atlas in actu, betrachtet in seiner performativen Dynamik, in seinem Prozessiertwerden und Prozessieren, vermag zu demonstrieren, dass sich Warburgs heuristisches Dispositiv nicht nur in der Umwandlung eines zeitlichen Nacheinander in ein, zeichentheoretisch sehr elaboriertes, flächiges Nebeneinander erschöpfte, sondern auch ein räumliches Über- und Untereinander imaginierte, inszenierte und praktizierte. Hier, auf diesen Gestellen, galt es wie ein Archäologe oder Röntgenologe buchstäblich Schicht um Schicht abzuheben, um das »Bilderrätsel« lösen zu können. Wenn Warburg wie in dem zitierten Brief an Neumann sein Verfahren der »vergleichenden, kulturwissenschaftlichen Betrachtung« als eine Überblendung verschiedener transparent gemachter historischer Bildzustände charakterisiert, um »selective Abweichungen« und »Umformungen«, wie er schreibt, nachweisen zu können, scheint er sich über seine Methodik nicht zuletzt mithilfe der Bildpraxis der Röntgenografie bewusst geworden zu sein. Mit Thomas Hensel
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der Möglichkeit einer Durchleuchtung auch noch so verdichteter und auf den ersten Blick undurchschaubarer Bildschichten verfügte die Röntgenografie über ein ihr eigenes epistemisches Repertoire, das die vergleichende Betrachtung in literalem wie figuralem Sinne in die Tiefe gehen ließ und qua Überblendung ein Summationsbild zu erzeugen in der Lage war, das eine veritable und von Warburg als ideal erachtete »Verschmelzung« erreichte.66 Wie kaum ein anderes Dispositiv erlaubte die Röntgenografie historische und genealogische Kontinuität wie auch ihre Spannungen, Widersprüche und Frakturen abzubilden und ineins zu denken. Warburg also scheint Strukturmerkmale des jungen Mediums Röntgenografie aufgegriffen und zu Strukturmerkmalen seiner Historiografie und seines Bilddenkens geformt zu haben. Damit würdigte Warburg auf der einen Seite Medien als Objekte historischer Darstellung, auf der anderen Seite reflektierte er selbige als Möglichkeitsbedingung und formatierendes Agens historiografischer Arbeit selbst. Warburg entwickelte seine Bildwissenschaft nicht nur an Bildern und für Bilder, sondern auch durch Bilder, gleichsam intrinsisch, aus den Strukturmerkmalen des Bildes selbst heraus. Als ein Bildwissenschaftler vor der Zeit hat Warburg das technische Bild damit nicht nur zum Objekt einer Bildwissenschaft gemacht, sondern es ebenfalls – darin ganz den Röntgenologen verwandt – als ein Subjekt derselben entdeckt und installiert.
9 Aby Warburg, Tafel »Bibliothekarstag«, 10. 04.1927.
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Endnoten 1 Tagebucheintragung Warburgs vom 12. 02.1917, zit. nach Michael Diers, Warburg aus
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Briefen. Kommentare zu den Briefkopierbüchern der Jahre 1905 –1918, Weinheim 1991, S. 230, Anm. 142. Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten [1920], in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance [1932], neu hg. v. Horst Bredekamp und Michael Diers, 2 Bde., Berlin 1998, Bd. 2, S. 487– 558, 647– 656, hier S. 490. Warburg Institute Archive (WIA), General Correspondence (GC), Aby Warburg an Moritz von Geiger, 17.11.1925. WIA, GC, Aby Warburg an Hans Tietze, 04.12.1925. WIA, III.43.1.1. »Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie)«, Bd. 1: 1888 –1895, S. 28 (Eintrag vom 18. 03.1890). Hartmut Böhme, Aby M. Warburg (1866 –1929), in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, S. 133 –156, hier S. 140. Siehe Aby Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE, hg. v. Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, 2. ergänzte Aufl., Berlin 2003, S. 129, Tafel »77«. Siehe Gabriele Werner, Das technische Bild – aus ästhetischer Sicht betrachtet, in: Bettina Heintz und Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/Wien/New York 2001, S. 367– 382; Klaus Sachs-Hombach, Bilder, technische, in: Alexander Roesler und Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 37– 44; Gottfried Boehm, Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis [1999], in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2008, S. 94 –113; sowie Horst Bredekamp, Birgit Schneider und Vera Dünkel (Hg.), Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008. Siehe Thomas Hensel, Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2010; sowie speziell zur Bildtelegrafie ders., Kupferschlangen, unendliche Wellen und telegraphierte Bilder. Aby Warburg und das technische Bild, in: Cora Bender, Thomas Hensel und Erhard Schüttpelz (Hg.), Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu’ti’kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007, S. 297– 360. Eine Schwierigkeit dieser Figur liegt in ihrem Hang zur Verabsolutierung eines Technikdeterminismus, der keinerlei soziokulturelle Wirkkräfte mehr anerkennt. Wenn die vorliegende Studie ihr Augenmerk in der Hauptsache auf die Technologie legt, so nimmt sie doch kein ausschließliches Apriori derselben an. Den Antagonismus zwischen Technik- und Sozialdeterminismus versucht die Akteur-Netzwerk-Theorie zu überwinden. Siehe grundlegend die Anthologie von Andrea Belliger und David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. Siehe Heinrich Dilly, Lichtbildprojektion – Prothese der Kunstbetrachtung, in: Irene Below (Hg.), Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 153 –172; sowie ders., Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a. M. 1979, bes. S. 149 –160. Siehe Herman Grimm, Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons [1892], in: ders., Beiträge zur Deutschen Culturgeschichte, Berlin 1897, S. 276 –395, hier S. 280. Grimm, Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen (Anm. 12), S. 282. Ebd., S. 282f. Dieses Missverstehen moniert Heinrich Dilly, Weder Grimm, noch Schmarsow, geschweige denn Wölfflin … Zur jüngsten Diskussion über die Diaprojektion um 1900, in: Costanza Caraffa (Hg.), Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte, Berlin/München 2009, S. 91–116, bes. S. 98f. Thomas Hensel
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16 Angela Matyssek, »Entdecker« und »Erfinder«. Über die fotografische Wissensproduk-
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tion der Kunstgeschichte und die Probleme der Reproduktion von Kunstwerken, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28, 2005, S. 227– 235, hier S. 231. Bruno Meyer, Die Photographie im Dienste der Kunstwissenschaft und des Kunstunterrichtes, in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte 47, 1879/1880, S. 196 – 209, 307– 318, hier S. 310. Ebd., S. 314. Im Fortgang seines Textes erläutert Meyer en détail die apparative Bewerkstelligung der »dissolving views«. Selbige finden Erwähnung unter anderem auch in Friedrich Wilhelm Barfuß, Populäres Lehrbuch der Optik, Katoptrik und Dioptrik. Theoretisch-practischer Unterricht über den Bau aller optischen Instrumente, Weimar 1860, S. 315 – 318. Siehe auch Marianne Mildenberger, Film und Projektion auf der Bühne, Emsdetten 1961, S. 42 – 44. – Für den Hinweis auf die »dissolving views« samt einschlägiger Literatur danke ich Lena Bader. Siehe Hensel, Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde (Anm. 9), Kap. »Die Medialität der Kunstwissenschaft«. Aby Warburg, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, hg. v. Karen Michels und Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001, S. 186 (Eintrag vom 24. 01.1928). Aby Warburg, Bildniskunst und florentinisches Bürgertum [1902], in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike (Anm. 2), Bd. 1, S. 89 –126, 340 – 352, hier S. 101. Vgl. auch Karl Sierek, Eye-Memory und mimische Entladung. Der Warburg-Kreis und die Darstellung des Gesichts im bewegten Bild, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 13/1, 2004, S. 72 – 89, hier S. 79. Siehe William S. Heckscher, Die Genesis der Ikonologie [1967], in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme, Bd. 1: Bildende Kunst als Zeichensystem, Köln 1979, S. 112 –164, bes. S. 125, 154. Carl Georg Heise, Persönliche Erinnerungen an Aby Warburg [1947/1959], hg. v. Björn Biester und Hans-Michael Schäfer, Wiesbaden 2005, S. 44. Die Schilderung Heises bezieht sich auf Aby Warburg, Piero della Francescas Constantinschlacht in der Aquarellkopie des Johann Anton Ramboux [1912], in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike (Anm. 2), Bd. 1, S. 251– 254, 389 – 391. Das farbige Glasbild weist Warburg hier als »Lumière-Lichtbild« aus (ebd., S. 253). Aby Warburg, Flandrische und florentinische Kunst im Kreise des Lorenzo Medici um 1480 [1901], in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike (Anm. 2), Bd. 1, S. 207– 212, 381, hier S. 209. In diesem Punkt lassen sich Warburg und Wölfflin keineswegs als Antipoden stilisieren. Zu beider Affinität in Bezug auf das vergleichende Sehen: Martin Warnke, Warburg und Wölfflin, in: Horst Bredekamp, Michael Diers und Charlotte Schoell-Glass (Hg.), Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 79 – 86. Warburg, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (Anm. 20), S. 186 (Eintrag vom 24. 01.1928) und S. 370 (Eintrag vom 18.11.1928). Diese Angabe ist zusammen mit weiteren Eckdaten der K.B.W. veröffentlicht in einem Register, in dem für die Zeitgenossen über die Bautätigkeit in Hamburg während des ersten Jahrhundertdrittels Rechenschaft abgelegt wurde. Zitiert nach Martin Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, S. 200. Warburg, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (Anm. 20), S. 25 (Eintrag vom 12.11.1926). Inwieweit jener Bildwerfer auch Doppelprojektionen im Sinne einer Überblendung mehrerer Bilder zu ermöglichen vermochte, lässt sich aus den bekannten Quellen nicht entnehmen. WIA, III.43. 2.1. »Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie)«, Bd. 2: 1896 –1903, S. 67 (Eintrag vom 13. 04.1900). 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Aby Warburg und die »Verschmelzende Vergleichsform« 1: G F: : 79: HB . 8B
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Siehe auch Georges Didi-Huberman, L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 169 –190, der noch weitere Beispiele für Darstellungen von Pendeln anführt. Siehe Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form (Anm. 27), S. 213f., 101f. Siehe Knut Ebeling und Stefan Altekamp (Hg.), Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt a. M. 2004. Speziell zu Warburg: Sigrid Weigel, Zur Archäologie von Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, ebd., S. 185 – 208. Zitiert nach Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie [1970], Hamburg 1992, S. 148. Aby Warburg, Dürer und die italienische Antike [1905], in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike (Anm. 2), Bd. 2, S. 443 – 449, 623 – 625, hier S. 449. Zitiert nach Peter van Huisstede, De Mnemosyne Beeldatlas von Aby M. Warburg – een laboratorium voor beeldgeschiednis, Bd. 1: Teksten, Leiden 1992, S. 138. Aby Warburg, Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff [1988], Berlin 1992, S. 10. WIA, Family Correspondence (FC), Aby Warburg an Mary Warburg, 26.10.1928. Aby Warburg, MNEMOSYNE. Einleitung, in: ders., Der Bilderatlas MNEMOSYNE (Anm. 7), S. 3 – 6, hier S. 4. Warburg charakterisiert an dieser Stelle die Materie als »achronologisch« geschichtet. Aby Warburg, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara [1912], in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike (Anm. 2), Bd. 2, S. 459 – 481, 627– 644, hier S. 467. Ebd., S. 473. Warburg bewegte sich mit seinem Verständnis archäologischer (Grabungs-)Praxis auf der Höhe seiner Zeit. So sieht Heinrich Bulle in seinem »Handbuch der Archäologie« – von dem Warburg ein Exemplar besaß, in dem er, einer Unterstreichung nach zu urteilen, auch las – die »Grundsätze des wissenschaftlichen Grabens« »in vollem Umfange zum erstenmal« durch die von 1875 bis 1880 währende Ausgrabung von Olympia festgelegt. Seitdem werde, so Bulle, »mit zunehmender Genauigkeit und Beobachtungskunst der Boden nicht nur als Schatzbehälter, sondern als historisches Dokument untersucht, bei dessen Aufdeckung der kleinste Umstand die größte Tragweite erlangen kann«; für den versierten Archäologen ergäben »die Schichtungen des Bodens oft durchschlagende historische Kriterien«. Heinrich Bulle, Wesen und Methode der Archäologie, in: ders. im Verein mit Paul Arndt u. a. (Hg.), Handbuch der Archäologie, Bd. 1, 1, München 1913, S. 1–79, hier S. 28f. Siehe Wilhelm Conrad Röntgen, Ueber eine neue Art von Strahlen (Vorläufige Mittheilung), in: Sitzungsberichte der physikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Wuerzburg 137, 1895, S. 132 –141. – Grundlegend zu Röntgen ist noch immer Otto Glasser, Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen [1931], Berlin/ Heidelberg 1995. Zitiert nach Angelika Schedel in Zusammenarbeit mit Gundolf Keil, Der Blick in den Menschen. Wilhelm Conrad Röntgen und seine Zeit, München/Wien/Baltimore 1995, S. 172. Siehe Glasser, Wilhelm Conrad Röntgen (Anm. 41), S. 22, Abb. 8; sowie Markus Buschhaus, Über den Körper im Bilde sein. Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, Bielefeld 2005, S. 168f. Lisa Cartwright, Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis/ London 1995, S. 107. Siehe Tal Golan, Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 171– 210, hier S. 183.
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46 Siehe Thomas Böni, Frank J. Rühli und Rethy K. Chhem, History of paleoradiology:
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early published literature, 1896 –1921, in: Canadian Association of Radiologists Journal 55/4, 2004, S. 203 – 210. Siehe Charles F. Bridgman, The Amazing Patent on the Radiography of Paintings, in: Studies in Conservation. The Journal of the International Institute for Conservation of Historic and Artistic Works 9, 1964, S. 135 –139. Siehe ebd. Siehe Joseph Wilpert, Ein mit Röntgenstrahlen untersuchtes Madonnenbild, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 15/3, 1917/18, S. 309 – 322. Zitiert nach Bridgman, The Amazing Patent on the Radiography of Paintings (Anm. 47), S. 137. Alexander Faber, Ölgemälde im Röntgenlicht, in: Museumskunde 10/3, 1914, S. 153 –170, hier S. 169, 158. Alexander Faber, Eine neue Anwendung der Röntgenstrahlen, in: Die Umschau. Forschung, Entwicklung, Technologie 18, 1914, S. 246 – 253, hier S. 251. Ebd., S. 251f. Wilpert, Ein mit Röntgenstrahlen untersuchtes Madonnenbild (Anm. 49), S. 310. Faber, Ölgemälde im Röntgenlicht (Anm. 51), S. 170. Alexander Faber, Ergebnisse der Röntgenuntersuchung von Oelbildern, in: Die Umschau. Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik 25/24, 1921, S. 325 – 327, hier S. 326. WIA, FC, Felix Warburg an Aby Warburg, 31. 03.1896. WIA, FC, Charlotte und Moritz Warburg an Aby Warburg, 29. 01.1896. »Dorchläuchting« darf man als einen Neologismus denken, zusammengesetzt aus »Durchlaucht« und »Durchleuchtung«. Ob mit diesem Titel auch auf die gleichnamige Erzählung Fritz Reuters angespielt wird, muss hier dahingestellt bleiben. Für den Hinweis auf Reuter danke ich Hans-Ernst Mittig, Berlin. Zit. (auf der Grundlage von Warburgs Manuskriptkorrekturen) nach Andrea Pinotti, La sfida del Batavo monocolo. Aby Warburg, Fritz Saxl, Carl Neumann sul Claudius Civilis di Rembrandt, in: Rivista di Storia della Filosofia 60/3, 2005, S. 493 – 539, hier S. 527. Nach heutigem Kenntnisstand konnten die »dissolving views« auf kunstwissenschaftlichem Gebiet, obwohl Bruno Meyer sie zu lancieren versucht hatte, keinen Erfolg verzeichnen, was damit zu tun haben mag, dass ihnen der Haut-goût einer gauklerischen Jahrmarktsattraktion anhaftete. Es ist signifikant, dass dieses Dispositiv Warburg in einem Moment in den Sinn kommt, in dem er es auf der Folie von Archäologie und Röntgenografie begreifen und mit Blick auf sein Konzept der Bilderschichtungen methodologisch fruchtbar machen kann. Siehe Fritz Saxl, Rembrandt’s Sacrifice of Manoah [1939], Nendeln 1968. Ebd. Das Röntgenbild ist als Abb. 19 reproduziert. WIA, GC, Fritz Saxl an die K.B.W., 09. 03.1928. WIA, GC, Fritz Saxl an Aby Warburg, 11. 02.1928. Siehe auch Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE (Anm. 7), S. XI, Abb. 1. Diese Abbildung wird von den Herausgebern irrtümlich dem Rembrandt-Vortrag zugeordnet; die korrekte Identifizierung nahm Katia Mazzucco vor. Für diesen Hinweis danke ich Claudia Wedepohl, London. Neben der Röntgenografie operiert beispielsweise auch die für Gemäldeuntersuchungen mindestens genauso wichtige Neutronenautoradiografie mit Summationsbildern. Siehe zur heuristischen Problematik des Summationsbildes Thomas Hensel, Kunstwissenschaft als Bildwissenschaft, in: ders. und Andreas Köstler (Hg.), Einführung in die Kunstwissenschaft, Berlin 2005, S. 73 – 94.
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Abbildungsnachweis 1 Laterna magica für Doppelprojektionen oder Nebelbilder, in: Bruno Meyer, Die Photo-
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graphie im Dienste der Kunstwissenschaft und des Kunstunterrichtes, in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte 47, 1879/1880, S. 196 – 209, 307– 318, hier S. 309. K. B. W., »Großes Epidiaskop für Vergleichsbilder« auf der Empore des Lesesaals, in: Tilmann von Stockhausen, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg 1992, S. 99. Aby Warburg, »Verschmelzende Vergleichsform«, Zeichen eines im Schwingen begriffenen Pendels als Symbol für Warburgs Methode des vergleichenden Sehens und als Motto für sein Denken in Bildern, in: WIA, III.43. 2.1. »Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde (monistischen Kunstpsychologie)«, Bd. 2: 1896 – 1903, S. 67 (Eintrag vom 13. 04.1900) – Copyright: The Warburg Institute, London. Aby Warburg, Zwei Notizblätter mit ›Stratigraphemen‹, in: Zettelkasten Nr. 43 (»Archäologie«): WIA, III.2.43/023258 und 023256 – Copyright: The Warburg Institute, London. Röntgenlaboratorium im Heinrich Albers-Schönberg Institut, Hamburg, um 1903, in: Wolfgang U. Eckart, Kranke, Ströme, Strahlenfelder – Medizin und Elektrizität um 1900, in: Rolf Spilker (Hg.), Unbedingt modern sein. Elektrizität und Zeitgeist um 1900, Osnabrück 2001, S. 126 –135, hier S. 133. Joseph Wilpert, Ein mit Röntgenstrahlen untersuchtes Madonnenbild, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 15/3, 1917/18, S. 309 – 322, Farbtafel und Fig. 4. Fritz Saxl, Rembrandt’s Sacrifice of Manoah, Tafel mit Reproduktion eines Röntgenbildes (Abb. 19), in: Fritz Saxl, Rembrandt’s Sacrifice of Manoah [1939], Nendeln 1968. Aby Warburg, Tafel »Ovid-Ausstellung« (12. 02.1927), in: WIA, III.108.7.2. »Warburg’s Working Copies: Exhibitions (›Bilderreihen‹) and Mnemosyne« – Copyright: The Warburg Institute, London. Aby Warburg, Tafel »Bibliothekarstag« (10. 04.1927), in: WIA, III.108.7.2. »Warburg’s Working Copies: Exhibitions (›Bilderreihen‹) and Mnemosyne« – Copyright: The Warburg Institute, London.
Ich danke dem Warburg Institute und seinem Direktor Charles Hope für die freundliche Genehmigung, Abbildungen im Besitz des Warburg Archivs reproduzieren zu dürfen, sowie Claudia Wedepohl für die großzügige Unterstützung meiner Recherchen.
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Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«. Merleau-Pontys Kritik der wissenschaftlichen Untersuchungen geometrischoptischer Täuschungen Robin Rehm »Ich denk und vergleiche, sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand.« Johann Wolfgang Goethe1
Der ›Vergleich‹ gilt sowohl in der physiologischen Optik und Psychologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auch in der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys als ein wesentliches Moment des Illusionseindrucks. Wie jedoch eine visuelle Illusion entsteht, wird auf sehr unterschiedliche Weise erklärt. Während die Naturwissenschaften verschiedenartige Experimente zur Ermittelung des Illusionseindrucks heranziehen, plädiert Merleau-Ponty für eine Anerkennung der ›Unbestimmtheit‹ des Phänomens. Die Wahrnehmung der Größentäuschung der Müller-Lyerschen Figur etwa ist für ihn auf das ›ursprüngliche Erkennen‹ zurückzuführen. Die zwei Positionen können anhand wissenschaftlicher Bilder geometrisch-optischer Täuschungen anschaulich gemacht werden. I Geometrisch-optische Täuschungen und visueller Vergleich. Zu den wissenschaftlichen Untersuchungen der Müller-Lyerschen Figur
Zwar waren im 18. Jahrhundert bereits Muster bekannt, die »Gesichtsbetrüge« erzeugen, 2 aber erst mit der Einführung des Stereoskops durch Charles Wheatstone begann sich die Physiologie und Psychologie Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt mit 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Müller-Lyersche Täuschung (Fig. 2 a – g) nach Franz Carl Müller-Lyer, 1889.
illusionistischen Erscheinungen zu beschäftigen. Um die Illusionseindrücke von anderen visuellen Phänomenen zu differenzieren, bezeichnete 1854 Johann Joseph Oppel entsprechende Figuren als »geometrisch-optische Täuschungen«.3 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Beschäftigung mit geometrisch-optischen Täuschungen einen beachtlichen Umfang an, wie über vierzig Studien zu diesem Thema aus den 1890er Jahren veranschaulichen.4 Die Bestimmung des ›Vergleichs‹ als ausschlaggebendes Kriterium für den Illusionseindruck zieht sich wie ein roter Faden durch die einschlägigen Publikationen. Bereits 1860 führte Johann Karl Friedrich Zöllner analoge Täuschungserscheinungen auf »mit Hülfe unserer Augen angestellte Vergleichungen« einzelner Figurenelemente zurück, für welche er den Terminus der »Elementarvergleichung« prägte.5 Hermann von Helmholtz etwa erkannte eine »Regel« geometrisch-optischer Täuschungen in der Tatsache, dass spitze Winkel im »Vergleich« mit stumpfen oder rechten Winkeln größer wirken.6 Auch für Wilhelm Wundt traten die »Täuschungen über die Größe von geraden Linien oder Winkeln« erst aufgrund einer »Vergleichung« auf.7 Für das Verständnis der Emphase auf den Vergleich ist die Etymologie des Wortes aufschlussreich. Analog zum griechischen παραβολη und lateinischen comparatio8 bedeutet der ›Vergleich‹ in der neueren deutschen Sprache eine »Nebeneinanderstellung«, aus der »das unterscheidende neben dem gleichen« hervorgeht.9 In den Untersuchungen zur Frage geometrisch-optischer Robin Rehm
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Täuschungen erscheinen diese vielfach als eine solche »Nebeneinanderstellung« von gleichen und ungleichen Figurenelementen. Hermann Ebbinghaus und Ernst Dürr bezeichneten entsprechende Elemente als »Vergleichungsgegenstände«, die bei der Betrachtung der Figuren unwillkürlich in Relation gebracht werden.10 Insbesondere Oppels Terminus des Vergleichungsgegenstands implizierte die Zerlegung der Figuren in einzelne, sich gegenseitig beeinflussende Elemente, bei denen man zwischen »Hauptlinien«11 und »Nebenlinien«12 bzw. »Hauptwinkeln« und »Nebenwinkeln«13 unterschied. Die Zergliederung der Figuren bot einen Ansatz zur Untersuchung der Illusionseindrücke, mit welchem die Täuschungsgrößen experimentell zu bestimmen waren – beispielsweise die scheinbare Ablenkung objektiv paralleler Linien. Die Größe der Täuschung wurde häufig mit Hilfe eines »Vergleichungsmaßstabs«14 ermittelt, welcher eine quantitative Messung der Illusionserscheinungen erlaubte. Im Allgemeinen wurde hierbei von einem »Längen-«, »Richtungs-« oder »Größenvergleich« gesprochen.15 Im Zusammenhang mit dem visuellen Vergleich fand ein ›Trugbild‹ besondere Beachtung. Es handelt sich dabei um die schon bald als Müller-Lyersche Figur bekannte geometrisch-optische Täuschung, welche Franz Carl Müller-Lyer 1889 in Emil Du Bois-Reymonds Zeitschrift Archiv für Physiologie veröffentlicht hat [Abb. 1, Fig. 2a – g].16 Die Müller-Lyersche Figur setzt sich aus zwei Geraden mit je zwei spitzen bzw. stumpfen Winkeln zusammen. Obwohl die Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
2 Trapezoid (Fig. 3) und Polygon (Fig. 4) nach Xaver Zahler, 1892.
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Geraden dieselbe Länge aufweisen, erscheint die Gerade mit den stumpfen Winkeln bei der Betrachtung länger als jene mit spitzen Winkeln. Vermutlich hat Müller-Lyer die Figuren aus der zeitgenössischen Geometrie übernommen, welche ähnliche illusionistische Phänomene bereitstellte. So können beispielsweise bestimmte Seiten eines Trapezoids und eines Polygons objektiv dieselbe Länge aufweisen, während sie für die Wahrnehmung jedoch unterschiedlich lang wirken [Abb. 2].17 Die Längentäuschung der Müller-Lyerschen Figur wurde auf verschiedene Ursachen zurückgeführt, wobei immer wieder auf die Bedeutung des visuellen Vergleichs hingewiesen wurde. Nach Müller-Lyer tritt bei der Betrachtung der Figur ein »Vergleichungsverfahren« ein, bei welchem die Längen der Linien und die Winkelgrößen geschätzt werden.18 Müller-Lyer betrachtete die Strecken und Winkel als zwei Objekte, die im visuellen Vergleich sich gegenseitig beeinflussende optische Reize auslösen. »Man hält die beiden Linien für verschieden gross, weil man bei der Abschätzung nicht nur die Linien selbst, sondern unwillkürlich auch einen Theil des zu beiden Seiten derselben abgegrenzten Raumes mit in Anschlag bringt.«19 Um das Abhängigkeitsverhältnis der Längenwirkung zur Winkelgröße zu ermitteln, führte Müller-Lyer Experimente mit verschiedenen Personen durch, bei welchen die scheinbare Länge der Einzelelemente und die Täuschungsintensität quantitativ bestimmt werden sollten. Auch Franz Brentano machte 1892 in seinem Aufsatz Über ein optisches Paradoxon einen bei der Betrachtung sich »sofort und unwillkürlich« vollziehenden »Vergleich« für den Täuschungseindruck der Müller-Lyerschen Figur verantwortlich. Im Gegensatz zu Müller-Lyer führte er den Täuschungseindruck allein auf die unbewusste Fehleinschätzung der Winkelgrößen zurück, der zufolge die Dimensionen der großen Winkel überschätzt, der kleinen Winkel dagegen unterschätzt würden. Die Täuschung entstehe durch einen sich augenblicklich vollziehenden Vergleich der Winkel und den sie umgebenden Raum.20 Zur Veranschaulichung seines Arguments entwickelte Brentano einen sich nur aus drei Winkeln zusammensetzenden Figurentyp [Abb. 3]. Seine Begründung sollte jedoch von dem Physiker Felix Auerbach verworfen werden. Dieser führte die Täuschung wiederum »rein physiologisch«21 auf eine von der Augenfunktion abhängige Spielart des visuellen Vergleichs zurück. Am Beispiel der von Brentano modifizierten Figur wies er darauf hin, dass nur ein verhältnismäßig kleiner Abschnitt der Figur scharf gesehen werde. Dennoch hätten die im indirekten Robin Rehm
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Gesichtsfeld verschwommenen Figurenabschnitte einen entscheidenden Anteil an der Täuschung. So war für Auerbach die Täuschung »eine Folge der Beeinflussung dessen, was man sehen soll, durch das, was man daneben noch indirekt sieht«.22 1896 stellte der niederländische Philosoph und Psychologe Gerard Heymans eine umfangreiche quantitative Untersuchung der Müller-Lyerschen Figur zur Diskussion. Zu diesem Zweck konzipierte Heymans eine Apparatur, mit welcher die Versuchspersonen eine der beiden »Vergleichsstrecken« so lange selbst vergrößern oder verkleinern konnten, bis sie »die scheinbare Gleichheit« erreicht hatten.23 Die Ergebnisse nutzte Heymans zur Untermauerung der Hypothese, dass die Täuschung erst durch unwillkürliche Hin- und Herbewegungen der Augen zwischen kontrastierenden Vergleichsobjekten wie etwa den Haupt- und Nebenlinien evoziert werde.24 Es folgten weitere Experimente zur Untersuchung der Müller-Lyerschen Figur mit verhältnismäßig aufwendigen Apparaturen. 1898 veröffentlichte Willem Einthoven einen Aufsatz, in welchem er das Täuschungsphänomen mit Hilfe der Fotografie zu visualisieren suchte. Wie Müller-Lyer und Auerbach ging er davon aus, dass die Figur nur in einem kleinen Ausschnitt des Sehfelds scharf gesehen werde. Der größte Teil der Objekte wird für ihn auf exzentrischen Netzhautstellen abgebildet, deren Sehschärfe jenseits vom Zentrum stark abnehme. Um das Bild der indirekt gesehenen Figurenteile im Auge des Betrachtenden zu visualisieren, fotografierte Einthoven die Müller-Lyersche Figur unscharf [Abb. 4]. Das Foto sollte gleichsam den Beweis dafür liefern, dass der Illusionseindruck durch die von den Winkeln verursachte Lichtstreuung hervorgerufen werde. 1902 erschien in der Zeitschrift Psychological Review ein Artikel, in welchem Charles H. Judd mit Hilfe eines kinetoskopischen Apparats die Relevanz der Augenbewegung für die Täuschung der Müller-Lyerschen Figur untersuchte. Dazu wurden Reflexpunkte auf der Hornhaut des Auges einer Versuchsperson befestigt. Während der Betrachtung der Müller-Lyerschen Figur wurden zahlreiche Momentaufnahmen der sich bewegenden Augen in kurzen Intervallen angefertigt. Dabei kam Judd zu dem Ergebnis, dass sich die Augen über die Geraden mit einwärts gekehrten Winkeln nur zögerlich, über jene mit auswärts gekehrten Winkeln hingegen ungehemmt bewegten.25 Nicht zuletzt exemplifizierte Friedrich Schumann an verschiedenen Variationen der Müller-Lyerschen Figur die Rolle des Vergleichs bei der Evokation geometrisch-optischer Täuschungen. Bei dem allein aus Winkeln bestehenden Figurentyp Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
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3 Müller-Lyersche Figur nach Franz Brentano, 1894.
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4 Müller-Lyersche Figur nach Willem Einthoven, 1898.
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5 Müller-Lyersche Täuschung in Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966. Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
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komme die Täuschung durch einen »Simultanvergleich« der Räume zwischen den Winkeln zustande. Da sich nach Schumann größere Distanzen im Bewusstsein eher bemerkbar machen, trete auch der größere Zwischenraum stärker hervor als der kleinere [Abb. 3].26 Liegen nach Schumann die Figuren jedoch weiter auseinander, wie bei den Typen Müller-Lyers von 1889 [Abb. 1, Fig. a – g], so werde der »Sukzessivvergleich« wirksam: »Sehen wir flüchtig von der einen Distanz zur anderen, so unterlassen wir es anfangs auch vielfach, die eigentlich zu vergleichenden Punktdistanzen im Bewußtsein zu isolieren. […] Hier wie dort machen sich die für eine viel größere Vergleichsdistanz charakteristischen Erscheinungen deutlich bemerkbar, und das Urtheil ›größer‹ entsteht wieder aus den eben für den Simultanvergleich dargelegten Gründen.«27 Zur Erklärung der illusionistischen Phänomene wurden in der Physiologie und Psychologie verschiedene Theorien entwickelt. Nicht allein die Netzhaut und die Augenbewegung, sondern auch Momente der Assoziation und Aufmerksamkeit wurden für die Täuschungen verantwortlich gemacht. Nach Ewald Hering beruhte die Täuschung eingeteilter Strecken und spitzer Winkel auf der Netzhautkrümmung.28 Infolge der Messung der Täuschungsbeträge sollte sich die Netzhauttheorie jedoch als unhaltbar erweisen.29 Wilhelm Wundt und Gerard Heymans gingen stattdessen davon aus, dass die Augenbewegung für die Entstehung der Illusion verantwortlich sei. Diese Theorie schenkte dem für die Blickbewegung notwendigen Energieaufwand besondere Beachtung. 30 Dagegen machte die Assoziationstheorie frühere Erfahrungen für die illusionistischen Erscheinungen geltend. Ihr zufolge werden gewohnte Vorstellungen von Raum und Perspektive in die flächigen Muster hineingesehen, welche die Illusionseindrücke hervorrufen.31 Theodor Lipps führte dagegen die geometrisch-optischen Täuschungen auf die »Einfühlung« zurück. Er ging davon aus, dass »mechanische Erfahrungen […] in unserem praktischen Verhalten und in unserem Urtheil« permanent enthalten seien.32 Die geometrisch-optischen Täuschungen entstehen nach Lipps allgemein aus der »Vorstellung der Kräfte, Thätigkeiten, Tendenzen«, welche in den »räumlichen Gebilden« aktiv seien. 33 Verhältnismäßig große Verbreitung fand die Aufmerksamkeitstheorie, für welche Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere Friedrich Schumann eingetreten ist. Robin Rehm
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Sie differenziert zwischen dem »Simultanvergleich« und dem »Sukzessivvergleich«. Bei der ersten Vergleichsart werden »die beiden zu vergleichenden Größen gleichzeitig von der Aufmerksamkeit erfasst«. Bei der zweiten wird »die Aufmerksamkeit nach einander auf die beiden Größen« gerichtet und anschließend das »Vergleichsurtheil« gefällt.34 Zwar wies auch Schumann in seinem Erklärungsmodell dem Vergleich eine zentrale Stellung zu, merkte jedoch an, der »Vergleichungsvorgang« sei etwas, »von dem wir thatsächlich so gut wie nichts wissen«.35 II Gestalt und Urgestalt. Zu Merleau-Pontys Kritik der Naturwissenschaften
In den Publikationen Struktur des Verhaltens von 1942 und Phänomenologie der Wahrnehmung von 1945 hinterfragt Maurice Merleau-Ponty die Untersuchungsmethoden und Erkenntnisziele der Physiologie und Psychologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die in den Wissenschaften geläufige Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Empfindung und Bewusstsein, Ursache und Wirkung bzw. Reiz und Reaktion führe zu falschen Erklärungen physiologischer und psychologischer Erscheinungen des Gesichtsfelds.36 Merleau-Ponty vermisst philosophische Explikationen insbesondere dort, wo Postulate realer Analyse und kausale Erklärungen als einzige Garanten wissenschaftlicher und objektiver Erklärungen gelten.37 Er alludiert auf die oben angeführten Untersuchungsmethoden, wenn er die Loslösung der Objekte aus ihrem Zusammenhang anprangert. Die Gestaltpsychologie, so seine Kritik, sei nur kausalen Bezügen sowie dem Postulat einer physikalischen Natur als grundlegender Realität verpflichtet. Das in den Naturwissenschaften vorherrschende Kausaldenken versteht Merleau-Ponty als allgemeines Vorurteil einer »fertigen Welt«, das sich durch die Dogmatisierung des Realismus als natürliche Einstellung erkläre.38 Beispielsweise bestimme die Reflextheorie Reize rein physikalisch als konstante und unabhängige Variablen: Jedem Reiz wird eine konstante Folgeerscheinung zugeordnet, wodurch das Verhalten in zahlreiche Teilvorgänge zerfalle, qualitative Aspekte der Reaktion und ihre Abhängigkeit von der Situation werden allein durch den Reizort und die Reizleitung ermittelt. Merleau-Ponty führt Unzulänglichkeiten, wie jene der Reflextheorie, auf das ältere physikalische Modell der realen Welt zurück.39 Dagegen fordert er einen transzendentalen Standpunkt, welcher jede nur denkbare Realität als Bewusstseinsobjekt betrachte.40 Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
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In Abgrenzung zum Realismus nimmt Merleau-Ponty eine Revision der psychologischen Begriffe Funktion, Qualität, Sinn, Gestalt, Struktur und Norm vor. Der Terminus der Gestalt ist in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse.41 Ausgehend von Gestalttheoretikern wie etwa David Katz, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Albert Michotte und Max Wertheimer42 entwickelt Merleau-Ponty einen Begriff von Gestalt, welcher über die von den Psychologen zugewiesene Konnotation weit hinausgeht. Während diese physiologische und psychologische Nervenprozesse mit physikalischen Strukturen gleichsetzen und damit die Gestalt als ein reales Objekt klassifizieren, erlangt der Terminus bei Merleau-Ponty eine erkenntnistheoretische Dimension. Nach Bernhard Waldenfels manifestiert sich in dessen Gestaltbegriff die Erscheinung der Welt als »Urgestalt«.43 Diese Bestimmung ist für unseren Zusammenhang sehr aufschlussreich. Unter dem Präfix ›ur‹ wird im Allgemeinen das Erste, das anfänglich Vorhandene, Ursprüngliche, Unabgeleitete, Unverfälschte etc. verstanden.44 Die Urgestalt grenzt sich von den Nachbildungen ab, welche das einst geschaute Original stets überlagern. So erblickte etwa Johann Gottfried Herder in der Urgestalt die »ersten Keime der Dinge«. Für Wilhelm von Humboldt war die Urgestalt gar das »einzig wahrhaft Existierende«, obgleich sie selbst unsichtbar ist.45 Bei der Betrachtung der Dinge erfolgt demnach ein Rückbezug auf ihre visuellen Wurzeln, welche sich bereits in der allgemeinen Lebenswelt ausgebildet haben. Auf diese Weise erhält nach Waldenfels die Gestalt bei Merleau-Ponty den Rang einer Art mensura sui. Sie entstamme einer bereits tief im Betrachtenden angelegten Erfahrungswelt als eine Art Vergleichsmaßstab, aus welchem die Gestalt hervorgehe. Damit vereinige sie zugleich das Maß und das Gemessene. Zwar könnten Vor- und Nachgestalten an ihr bemessen werden, die Gestalt selbst jedoch verweigere sich der Bemessung.46 Merleau-Ponty revidiert nicht allein den Gestaltbegriff, sondern auch den gestaltpsychologischen Ansatz.47 Zunächst führt er den Terminus der Gestalt als deskriptiven Begriff ein, um den phänomenalen Erscheinungen gerecht zu werden und verschiedene Gestalttypen und Körperfunktionen zu differenzieren.48 Damit folgt er dem streng beobachtenden und deskriptiven Vorgehen der Gestaltpsychologen bei der Gewinnung von Daten des Untersuchungsobjekts.49 Merleau-Ponty zufolge bedarf die Gestaltanalyse jedoch nicht allein einer deskriptiven Methode: »Immer sieht der Psychologe das Bewußtsein lokalisiert in einem Leib im Milieu der Welt, und die Reihe ReizRobin Rehm
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Impression-Wahrnehmung ist ihm eine Folge von Vorkommnissen, an deren Ende die Wahrnehmung beginnt. […] In solcher Perspektive können die ›unmittelbaren‹ Gegebenheiten der Wahrnehmung immer als bloße Erscheinungen und als komplexe Produkte einer Genese zur Seite geschoben werden.«50 Nach Merleau-Ponty kann sich die deskriptive Methode allein unter »transzendentalem Gesichtspunkt« behaupten, d. h. wenn das Objekt der Untersuchung als Bewusstseinsobjekt verstanden wird.50 Die Gestalten existieren nicht an sich, sondern für ein Bewusstsein, vom psychischen Vorgang des Empfindens bis zum aufmerksamen Erleben. Nach Waldenfels begreift Merleau-Ponty die deskriptiv erfassten Phänomene nicht als bloße Erscheinungen, sondern als die die Grenzen der Erfahrung und der Sinneswelt überschreitenden Produkte. Gemäß der Gestalt als »Urgestalt« sei auch die deskriptive Methode transzendental aufzufassen.51 III Wahrnehmung als »ursprüngliches Erkennen«
In seiner Kritik der Untersuchungen geometrisch-optischer Täuschungen hebt Merleau-Ponty die Bedeutung des Vergleichs bei der Betrachtung der Müller-Lyerschen Figur [Abb. 5] hervor: »Das Gesichtsfeld ist ein einzigartiges Milieu, in dem widersprüchliche Begriffe sich kreuzen, da Gegenstände in ihm – die Müller-Lyerschen Geraden z. B. – nicht auf den Boden des Seins gesetzt sind, auf dem ein Vergleich erst möglich wird, sondern jeder in seinem Zusammenhang begegnet, als gehörten sie nicht zu derselben Welt.«52 Nach Merleau-Ponty lassen sich die beiden Geraden nicht vergleichen: »Die beiden Strecken der Müller-Lyerschen Täuschung sind weder gleich noch ungleich lang.«53 Die eine Linie ist der anderen »nicht gleich, ohne ihr darum ›ungleich‹ zu sein: sie ist vielmehr ›anders‹«.54 Denn »zwingend ist diese Alternative nur in der Welt der Objektivität«. 55 Merleau-Ponty distanziert sich also von dem Anliegen, die Streckenillusionen objektiv, d. h. unabhängig von dem Erlebnis, der Vorstellung sowie dem Urteil des Individuums zu erklären. Auch hier ist Merleau-Pontys Auswahl der Begriffe bezeichnend. Nicht zuletzt implizieren die Wörter »Täuschung« und »Illusion« die Bedeutung der Selbsttäuschung, der falschen Vorstellung oder inkorrekten Deutung von Sinneswahrnehmungen. Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
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Für ihn gründet sich die Wahrnehmung des Streckenphänomens jedoch nicht auf Täuschung und Illusion. Im Zentrum steht dagegen die Frage der Vieldeutigkeit als eine Haupteigenschaft der visuellen Welt.56 Nach Merleau-Ponty sind die Zerlegung der Figuren in Balken und Querstriche bzw. Strecken und Winkel, die experimentelle Untersuchung des Illusionseindrucks, die zahlenmäßige Ermittelung des Täuschungsphänomens und nicht zuletzt die Aufstellung von Theorien der optischen Täuschung unhaltbar. Hierbei werde nur ein Scheinbild der Subjektivität konstruiert, welches die phänomenale Welt Kategorien unterwirft, die nur für die Wissenschaften Gültigkeit haben. Die Forderung, dass die beiden Geraden der Müller-Lyerschen Täuschung »gleich oder ungleich« sein müssen, übergehe die Tatsache, dass »Zweideutigkeit, Schwankungen, Einflüsse des Zusammenhangs« für die Wahrnehmung wesentlich sind. Denn »für die Wahrnehmung sind eine isolierte objektive Linie und dieselbe in einem Gestaltzusammenhang nicht ›dasselbe‹. Identifizierbar ist die Strecke in diesen beiden Funktionen allein in einer analytischen Wahrnehmung, die nicht natürlich ist«.57 Merleau-Ponty erkennt in der Methodik der Wissenschaften einen Realismus, der die Dinge aus ihrem Kontext trennt und hauptsächlich nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung urteilt.58 Der realitätsbezogene Standpunkt und das kausale Erklärungsmodell ist für ihn jedoch eine »bloße hypothetische Hilfskonstruktion, erfunden, das Vorurteil der objektiven Welt zu retten«. Stattdessen plädiert er dafür, die »Unbestimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen«.59 Die von Merleau-Ponty akzentuierte »Unbestimmtheit« wird auf verschiedene Weise von den Naturwissenschaften bestätigt. Beispielsweise stellte Charles H. Judd in seinen Untersuchungen der Augenbewegung bei der Betrachtung der Müller-Lyerschen Figur fest, dass sich der Täuschungseindruck bei den Testpersonen gegen Ende der Versuchsreihen nahezu vollständig auflöst.60 Da die Täuschungen bei wiederholter Betrachtung der Figuren erheblich nachlassen oder gar endgültig verschwinden, stellte auch Friedrich Schumann den Aussagewert der zahlenmäßigen Ermittelungen Gerard Heymans in Frage: »So vermag ich jetzt quantitative Untersuchungen über viele Täuschungen an mir schon deshalb nicht mehr anzustellen, weil ich die betreffenden Täuschungen überhaupt nicht mehr habe.«61 Dass geometrisch-optische Täuschungen durch »Unbestimmtheit« charakterisiert seien, wird auch von der heutigen Psychologie des Sehens bestätigt. Ihr zufolge sind Winkel- und Robin Rehm
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Streckentäuschungen wie die Müller-Lyersche Figur hauptsächlich bei Menschen mit Alltagserfahrungen der Orthogonalität und Mensurabilität wirksam. Nach Richard L. Gregory haben bestimmte afrikanische Völker eine von der westlichen Welt grundsätzlich abweichende Raumerfahrung. In der Kultur der Zulus beispielsweise, die auch als »Kreiskultur« bezeichnet wird, treten so gut wie keine Gegenstände mit Ecken und geraden Begrenzungen auf. Darauf ist es wohl zurückzuführen, dass sie keine geometrisch-optischen Täuschungen wie jene der Müller-Lyerschen Figur kennen.62 Merleau-Pontys Forderung, die »Unbestimmtheit als positives Phänomen« anzuerkennen, hängt eng mit seiner Auffassung der Wahrnehmung zusammen, welche er als ein »ursprüngliches Erkennen« begreift. Damit meint er weniger die empirische Wahrnehmung, wie etwa die Identifikation eines Gegenstandes als »Anspielung auf einen Allgemeintyp«.63 In der Wahrnehmung entfalte sich vielmehr die Existenz und das Wesen eines Gegenstands in seiner ganzen Fülle.64 Um beispielsweise einen Baum als Baum zu erkennen, müsse »ein momentanes Zusammenspiel des sinnlichen Anblicks« sowie der bis zur ersten Gewahrwerdung »der Existenz der Welt der Vegetation« zurückreichenden Eindrücke erfolgen. Auf diese Weise werde die »Idee dieses Baumes« von Neuem gezeichnet. Die Wahrnehmung sei gleichsam eine »Quelle ursprünglicher Einsicht«, welche »etwas von einer genialen Erfindung« habe. Wahrnehmung sei für ihn schlechthin ein »ursprüngliches Erkennen«.65 Damit begreift Merleau-Ponty die Wahrnehmung als einen Erkenntnisakt, welcher sich grundsätzlich von einer »sekundären«, erst nach der »ursprünglichen« auftretenden Wahrnehmung unterscheidet. Die sekundäre Wahrnehmung werde in jedem Augenblick betätigt. In ihr spiegle sich aber nur ein »Momentaspekt der Welt« wider, in welchem sich allein die Gebrauchsfunktionen und »Bedeutungen« der Objekte manifestieren. Da die sekundäre Wahrnehmung bereits von »vorgängigen Erwerben« erfüllt ist, bewege sie sich »gleichsam nur an der Oberfläche des Seins«. Dagegen erfolge in der ursprünglichen Wahrnehmung ein »Erkennen des Gegenwärtigen«. Somit ist die Erkenntnis dieser unmittelbaren Anwesenheit nach Merleau-Ponty das »Phänomen« selbst, in welchem die »Einheit« des Subjekts und damit die »Idee der Objektivität und Wahrheit« ihren Ursprung finden.66 Merleau-Pontys Rückführung der Wahrnehmung auf ein »ursprüngliches Erkennen« gestattet eine differenzierte Position gegenüber dem vergleichenden Sehen geometrisch-optischer Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
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Täuschungen. Der Kernpunkt ist dabei die Wahrnehmung der Größendifferenzen selbst. Nach Merleau-Ponty drängt die Intensität der Täuschung dem Rezipienten ein voreiliges Wahrnehmungsurteil auf. Dieses Urteil sei jedoch weder falsch noch richtig, weder illusionär noch objektiv. Denn das »Gesichtsfeld« ist ein »einzigartiges Milieu«, in welchem »widersprüchliche Begriffe sich kreuzen«.67 Zwar zeigen die Auslegungsmöglichkeiten der Gesichtseindrücke einen verhältnismäßig großen Spielraum.68 Aber sie sind nicht beliebig: »Nicht die Grenzen des Gesichtsfeldes selbst sind schwankend, es gibt den wohlbestimmten Augenblick, von dem an ein sich nähernder Gegenstand in völliger Klarheit sichtbar ist, nur wir ›bemerken‹ es nicht.« Entsprechend weitläufig ist auch die Beurteilung geometrisch-optischer Täuschungen. Dabei gilt der Grundsatz, dass jeder Gegenstand nur »in seinem Zusammenhang« beurteilt werden kann. Für das Wahrnehmungsurteil der Müller-Lyerschen Figur ist entscheidend, dass die beiden Strecken »nicht zu derselben Welt« gehören.69 Für die »Wahrnehmung sind eine isolierte objektive Linie und dieselbe in einem Gestaltzusammenhang nicht ›dasselbe‹. Identifizierbar ist die Strecke in diesen beiden Funktionen allein in einer analytischen Wahrnehmung, die nicht natürlich ist.«70 Der Vergleich erfordert demnach ein »natürliches Urteil«, welches den Sinn nicht einfach an den Gegenstand heranträgt, sondern eine Entstehung desselben im Gegenstand selbst zulässt. Nach MerleauPonty ist damit ein »Vergleich« der »Müller-Lyerschen Geraden« prinzipiell erst auf dem »Boden des Seins« möglich. Dazu muss Wahrgenommenes mithin als Seiendes verstanden werden. Denn das natürliche Urteil sei vorurteilslos und generiere selbständig seine Kriterien. Es kenne »seine Gründe nicht […], da es sie allererst schafft«.71 Tritt diese Unmittelbarkeit der Wahrnehmung im vergleichenden Sehen auf, so weichen voreilige Reduktionen und einseitige Kausalitäten zugunsten eines »ursprünglichen Erkennens«.
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Endnoten 1 Zit. nach Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 33 Bde., Leipzig
1854 –1960, Bd. 25, 1956, s. v. Vergleichen, Sp. 450 – 457, hier Sp. 456. 2 Zur Bezeichnung »Gesichtsbetrüge«: Johann Carl Friedrich Zöllner, Ueber eine neue
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Art von Pseudoskopie und ihre Beziehungen zu den von Plateau und Oppel beschriebenen Bewegungsphänomenen, in: Annalen der Physik und Chemie 110, 1860, S. 500; zur Untersuchung von Illusionseindrücken im 19. Jahrhundert: Gary Hatfield, Helmholtz and Classicism: The Science of Aesthetics and the Aesthetics of Science, in: David Cahan (Hg.), Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science, Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 522 – 558; Michael Heidelberger, Räumliches Sehen bei Helmholtz und Hering, in: Philosophia naturalis 30, 1993, S. 1– 28; Christoph Hoffmann, Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006, S. 250 – 265. Joseph Oppel, Über geometrisch-optische Täuschungen, in: Jahresbericht des physikalischen Vereins zu Frankfurt a. M. 55, 1854, S. 38. Hermann Ebbinghaus und Ernst Dürr, Grundzüge der Psychologie, 2 Bde., Leipzig 1913, Bd. 2, S. 53. Zöllner, Ueber eine neue Art von Pseudoskopie (Anm. 2), S. 504, 520, Tf. VIII, Nr. 4. Hermann von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867, S. 566, 571. Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologische Psychologie, 3 Bde., Leipzig 1908 –1911, Bd. 2, S. 580f. Siehe Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 676 – 680, s. v. Vergleich (G. Schenk/A. Krause), Sp. 676. Deutsches Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 12, 1956, s. v. Vergleichen, Sp. 456. Ebbinghaus und Dürr, Grundzüge der Psychologie (Anm. 4), S. 99. Franz Bruno Hofmann, Physiologische Optik (Raumsinn) [1919], in: Handbuch der gesamten Augenheilkunde, Bd. 3, Berlin 1925, S. 135. Gerard Heymans, Quantitative Untersuchungen über das »optische Paradoxon«, in: Zeitschrift für Physiologie und Psychologie der Sinnesorgane 9, 1896, S. 221– 255, hier S. 236 – 239. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik (Anm. 6), S. 571. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (Anm. 7), S. 581. Hofmann, Physiologische Optik (Anm. 11), S. 135, 159. Franz Carl Müller-Lyer, Optische Urtheilstäuschungen, in: Archiv für Physiologie. Physiologische Abtheilung des Archives für Anatomie und Physiologie, 1889, Supplementband, S. 263 – 270, Tf. IX. Xaver Zahler, Geometrisches Zeichnen für Mittelschulen, München 1892, S. 22f., Tf. 10. Müller-Lyer, Optische Urtheilstäuschungen (Anm. 16), S. 265. Ebd., S. 266. Franz Brentano, Über ein optisches Paradoxon, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3, 1892, S. 349 – 355. Felix Auerbach, Erklärung der Brentanoschen optischen Täuschung, in: Zeitschrift für Physiologie und Psychologie der Sinnesorgane 5, 1894, S. 153. Ebd. Heymans, Quantitative Untersuchungen (Anm. 12), S. 222. Ebd., S. 248 – 254. Charles H. Judd, Practice and its Effects on the Perception of Illusion, in: The Psychological Review 9, 1902, S. 27– 39. Friedrich Schumann, Der Sukzessivvergleich, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen, H. 1, Leipzig 1904, S. 111f. Ebd., S. 112. Ewald Hering, Beiträge zur Physiologie, 5 Hefte, Leipzig 1861–1865, H. 1: Vom Ortsinne der Netzhaut, 1861, S. 66f. Robin Rehm
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29 Ebbinghaus und Dürr, Grundzüge der Psychologie (Anm. 4), S. 84; Hofmann, Physio-
logische Optik (Anm. 11), S. 140. 30 Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (Anm. 7), S. 575 – 580; Heymans, 31
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48 49 50 51 52 53 54 55 56
Quantitative Untersuchungen (Anm. 12), S. 246 – 255. Armand Thiéry, Über geometrisch-optische Täuschungen, in: Philosophische Studien 11, 1895, S. 307, 600; Wilhelm Filehne, Die geometrisch-optischen Täuschungen als Nachwirkungen der im körperlichen Sehen erworbenen Erfahrung, in: Zeitschrift für Physiologie und Psychologie der Sinnesorgane 17, 1898, S. 15. Theodor Lipps, Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, Leipzig 1897, S. 35. Ebd., S. 61. Friedrich Schumann, Zur Schätzung räumlicher Größen, in: ders., Beiträge (Anm. 26), S. 45. Ebd., S. 33. Georg Pilz, Maurice Merleau-Ponty: Ontologie und Wissenschaftskritik, Bonn 1973, S. 14 – 26; Soraya de Chadarevian, Zwischen den Diskursen. Maurice Merleau-Ponty und die Wissenschaften, Würzburg 1990, S. 25 – 70. Christian Bermes, Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg 2004, S. 25f. Kirk M. Besmer, Merleau-Ponty’s Phenomenology. The problem of ideal objects, New York 2007, S. 61– 67. Chadarevian, Zwischen den Diskursen (Anm. 36), S. 35 – 37. Martin Asiáin, Sinn als Ausdruck des Lebendigen. Medialität des Subjekts – Richard Hönigswald, Maurice Merleau-Ponty und Helmuth Plessner, Würzburg 2006, S. 154 –160. Zum Gestaltbegriff bei Merleau-Ponty: Raphaël Gély, Les usages de la perception. Réflexions merleau-pontiennes, Löwen 2005, S. 23 – 55; Kerstin Andermann, Spielräume der Erfahrung. Kritik der transzendentalen Konstitution bei Merleau-Ponty, Deleuze und Schmitz, München 2007, S. 139f.; Wolfgang Faust, Abenteuer der Phänomenologie. Philosophie und Politik bei Maurice Merleau-Ponty, Würzburg 2007, S. 58-61. Bernhard Waldenfels, Vorwort, in: Maurice Merleau-Ponty, Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949 –1952, München 1994, S. 13 –14. Bernhard Waldenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a. M. 1995, S. 128. Deutsches Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 11, 1912, s. v. Ur, Sp. 2358. Ebd., s. v. Urgestalt, Sp. 2423. Waldenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge (Anm. 43), S. 128. Martin C. Dillon, Gestalt theory and Merleau-Ponty’s concept of intentionality, in: Man and World 4, 1971, S. 436 – 459; Lester Embree, Gestalt law in phenomenological perspective, in: Journal of Phenomenological Psychology 10, 1979, S. 112 –127; ders., Merleau-Ponty’s examination of gestalt psychology, in: Research in Phenomenology 10, 1980, S. 89 –121. Gary Brent Madison, La phénomenologie de Merleau-Ponty. Une recherche des limites de la conscience, Paris 1973, S. 24. Maurice Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, S. 56 – 58. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 25, Anm. 4. Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985, S. 61. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Anm. 50), S. 24. Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 24. Zum Unterschied zwischen Illusion und Wahrnehmung: Silvia Stoller, Wahrnehmung bei Merleau-Ponty. Studie zur »Phänomenologie der Wahrnehmung«, Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 111–115; Paul Good, Maurice Merleau-Ponty. Eine Einführung, Düsseldorf/Bonn 1998, S. 109 –111; Lambert Wiesing, Von der defekten Illusion zum perfekten Vergleich und »ursprüngliches Erkennen«
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Phantom. Über phänomenologische Bildtheorien, in: Gertrud Koch und Christiane Voss (Hg.), …kraft der Illusion, München 2006, S. 93f. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Anm. 50), S. 30. Sean D. Kelly, What do we see (when we do)?, in: Thomas Baldwin (Hg.), Reading Merleau-Ponty. On Phenomenology of Perception, London/New York 2007, S. 23 – 43. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Anm. 50), S. 25; zur Bedeutung der »Unbestimmtheit« als Haupteigenschaft des Bildes: Gottfried Boehm, Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 199 – 212. Ebbinghaus und Dürr, Grundzüge der Psychologie (Anm. 4), S. 88. Schumann, Der Sukzessivvergleich (Anm. 26), S. 115f. Richard L. Gregory, Auge und Gehirn. Psychologie des Sehens, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 186f. Zum Verhältnis zwischen Wahrnehmung und vorangegangener Wahrnehmung bei Merleau-Ponty: Ullrich Melle, Das Wahrnehmungsproblem und seine Verwandlung in phänomenologischer Einstellung. Untersuchungen zu den phänomenologischen Wahrnehmungstheorien von Husserl, Gurwitsch und Merleau-Ponty, Den Haag/Boston/ Lancaster 1983, S. 52 – 56. Alexandre Métraux, Zur Wahrnehmungstheorie Merleau-Pontys, in: Alexandre Métraux und Bernhard Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 218 – 235. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Anm. 50), S. 66. Ebd., S. 66 – 67. Ebd., S. 24. Zur Vieldeutigkeit der gesehenen Außenwelt bei Merleau-Ponty: Good, Maurice Merleau-Ponty (Anm. 56), S. 99 –117; Lambert Wiesing, Phänomene im Bild, München 2000, S. 79 – 95. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Anm. 50), S. 24. Ebd., S. 30. Ebd., S. 66.
Abbildungsnachweis 1 Müller-Lyersche Täuschung (Fig. 2 a – g). Aus: Franz Carl Müller-Lyer, Optische Täu-
schungen, in: Archiv für Physiologie, 1889, Supplementband, S. 263 – 270, Tf. IX. 2 Trapezoid (Fig. 3) u. Polygon (Fig. 4). Aus: Xaver Zahler, Geometrisches Zeichnen für
Mittelschulen, München 1892, Tf. 10. 3 Franz Brentano, Zur Lehre von den optischen Täuschungen, in: Zeitschrift für Physiologie und Psychologie der Sinnesorgane VI, 1894, S. 1–7, Fig. 1. 4 Willem Einthoven, Eine einfache physiologische Erklärung für verschiedene geometrisch-optische Täuschungen [1898], in: Franz Bruno Hofmann, Physiologische Optik (Raumsinn) Berlin 1925, S. 124, Fig. 54. 5 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 24.
Der Autor dankt Lena Bader und Johannes Grave für die anregende Diskussion dieses Beitrags.
Robin Rehm
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Das Bild als Tertium Comparationis Christian Spies
I Äpfel und Birnen
»Da vergleichst du aber Äpfel mit Birnen!« Diesen Vorwurf musste ich mir während meiner Schulzeit manchmal anhören, ohne dass ich ihn mir wirklich gefallen lassen wollte. Denn warum sollte man nur solche Vergleiche anstellen, die ohnehin schon die Ähnlichkeit ihrer Vergleichsgegenstände voraussetzen? Dabei setzt man immer bereits beim Gleichen an und bei Ordnungskategorien, die den Gegenständen vorausgehen. Spannender erscheinen solche Vergleiche, deren Vergleichsstücke auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Schließlich sollen sich ja die Unterschiede zeigen, die im Nebeneinanderstellen von ungleichen Gegenständen besonders deutlich hervortreten.1 Manchmal kann es durchaus sinnvoll sein, im sprichwörtlichen Sinne Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Es kann sogar methodisch zum Programm erklärt werden, wie es etwa in den oft undogmatischen Vergleichen der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung der Fall ist.2 Umso deutlicher muss sich eine solche Vergleichspraxis dann aber von Seiten anderer Disziplinen den Vorwurf gefallen lassen, dass sie weder historisch noch medial differenziere und die Grenze zwischen einem legitimen und illegitimen Vergleich überstrapaziere. 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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1 Justus Juncker, Stillleben mit Apfel und Birne, 1765.
So sehr das Vergleichen zu den Grundoperationen einer wahrnehmungsgeleiteten Erkenntnisleistung gehört, indem das Wahrnehmen des Einzelnen seine Unterscheidung vom Anderen voraussetzt, so sehr bedarf es dabei auch des Erkennens von Ähnlichkeiten, ohne die kein Wiedererkennen im Abgleich des Neuen mit dem Vertrauten möglich ist. Erst das Tertium Comparationis, jenes gemeinsame Dritte, das dem Vergleich sowohl vorausgeht wie auch in ihm erschlossen wird, schafft die Ebene, auf der ein Vergleich vollzogen werden kann. Auf dieser Ebene treten die Vergleichspole aus ihrer binären Opposition heraus, und der Vergleich wird als Prozess des Unterscheidens selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung. Schaut man ein Bild wie Paul Cézannes Aquarell Äpfel, Birnen und Kasserolle an [Abb. 2], dann ist der sprichwörtliche Einwand, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, damit ebenso einfach entschärft wie im Falle anderssprachiger Versionen der Redensart. Dort sind oft nicht die Birnen das Problem, sondern die Orangen, die Karotten, der Speck oder gar die Kröten und Maschinengewehre, die nicht mit Äpfeln, Kartoffeln, Geschwindigkeit oder gar Großmüttern verglichen werden können.3 So banal das Argument auch sein mag, sind die Früchte auf der Bildfläche wie im Obstkorb oder an der Obsttheke zwangsläufig gemeinsam und gleichzeitig zu sehen. Im Bild ist eine erste Ebene des Vergleichs gegeben, die gegenüber den sprachlichen Vergleichspartikeln – ›wie‹, ›als‹ – sogar materialiter eine Basis für den Vergleich bildet. Selbst wenn es sich um zwei getrennte Bildtafeln handelt, wie bei Justus Junckers eindrucksvollem Bildpaar von 1765 [Abb. 1], auf dem Apfel Christian Spies
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und Birne einander demonstrativ gegenübertreten, erweist sich die Bildfläche als ein ausgezeichnetes Vergleichsdispositiv. Denkt man zunächst an vertraute Dispositive des kunsthistorischen Vergleichs, an museale Gegenüberstellungen, an Tafelwerke und nicht zuletzt an die unerlässliche Doppelprojektion, dann mag Junckers Bildpaar sogar in mehrfacher Hinsicht bezeichnend sein. Wie zwei Standbilder sind die beiden Früchte einander auf Sockeln gegenübergestellt, in der Weise, dass ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede unmittelbar augenfällig werden müssen. So bilden die beiden Bildtafeln eine ›anschauliche Gegenüberstellung‹, wie man sie unmittelbar auf ein Wölfflinsches Vergleichsdenken zurückführen könnte.4 Sie richten sich an ein Sehen im Vergleich5 und weisen bereits auf den ersten Blick genügend Gemeinsamkeiten auf, dass vor allem die kleinen Differenzen zugunsten einer Unterscheidung auffallen müssen: Gleiches Format, ähnliche Farbgebung und vor allem die spiegelsymmetrische Gegenüberstellung samt Fliegen und Schmetterlingen lassen die eine Frucht jeweils als den ungleichen Abdruck der anderen erscheinen. Dass die Äpfel und Birnen auf Cézannes Aquarell im disziplinären Rahmen der Kunstgeschichte jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen mit denen auf Junckers Bildpaar vergleichbar scheinen, hat freilich wenig mit den abgebildeten Gegenständen selbst und dem spezifischen Bildaufbau zu tun. Denn ihre anschauliche Gegenüberstellung, die sich in beiden primär an ein vergleichendes Sehen richtet, steht dabei in Konkurrenz zu einem Gerüst aus historischen, stilkritischen und entwicklungsgeschichtlichen Das Bild als Tertium Comparationis
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2 Paul Cézanne, Äpfel, Birnen und Kasserolle, 1900 – 1904.
Kategorien, die einem vergleichenden Sehen oftmals vorausgehen: Das sind diejenigen Parameter, die zum methodischen Grundbesteck einer historisch vergleichenden Disziplin gehören, welche sich bereits früh ihre eigenen Äpfel und Birnen zugelegt hat. Auf der einen Seite ist Junckers Bildpaar eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der Stilllebenmalerei des 18. Jahrhunderts.6 Auf der anderen Seite steht Cézannes Stillleben am Beginn der Moderne des 20. Jahrhunderts, wo es einen Bruch mit der vorausgegangenen Stilllebenmalerei markiert. Beide Bilder stellen Ausnahmen dar und erweisen sich insofern auch für den kunsthistorischen Vergleich als Herausforderungen. Sie führen vor Augen, wie vielfältig die Bedingungen ihrer Vergleichbarkeit sind und vor allem, wie rigide die disziplinären Kategorien sein können, die von einer Gattungslogik bis zur Motivgeschichte und von der Doppelprojektion bis zur virtuellen Rekonstruktion reichen. Nur zu oft sind diese Parameter einem vergleichenden Sehen vorausgegangen, indem der Blick immer bereits auf das Verhältnis der Bilder zueinander gerichtet wurde. Die folgende Diskussion setzt dagegen früher ein, dort, wo ein vergleichendes Sehen seinen Ausgang im einzelnen Bild nimmt und wo die Begriffe und Kategorien im künstlerischen Bild auf den Prüfstand gestellt sind. II Zwischen Bildoberfläche und Gegenstand
Zunächst stehen die Birnen und Äpfel auf Cézannes Aquarell nebeneinander, wie in der außerbildlichen Umgebung auch. Man könnte also fragen, ob nicht bereits jedes Sehen mehrerer Gegenstände auch ein vergleichendes Sehen ist und ob der Blick nicht Christian Spies
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schlechthin als ein Tertium Comparationis zu verstehen ist, indem dieser zwischen den verschiedenen Gegenständen das gemeinsame Dritte herstellt. So banal dies auch klingen mag: Man kann gar nicht anders, als die Dinge gemeinsam und dadurch in Relation zueinander zu sehen. Umso mehr ist man deshalb gezwungen, zu fokussieren und zu unterscheiden. Nur so kann aus dem Sehen des Vielen auch ein Wahrnehmen des Einzelnen werden. Ein Bild stellt in diesem Prozess des vergleichenden Sehens bereits eine Selektionsebene dar. Während außerhalb vieles, und dabei oft zufällig gemeinsam ins Sichtfeld gelangen kann, z. B. auch Großmütter und Maschinengewehre, ist die Gegenüberstellung im Bild immer schon als feste Ordnung vor Augen geführt. Sie ist in eine Distanz gerückt, die einen Überblick erlaubt und dem Gesehenen einen vermeintlich objektiven Status zuschreibt.7 So bietet das Bildfeld eine Basis, auf der das Dargestellte zwangsläufig in einen Vergleich treten muss. Kurz gesagt: Als Tertium Comparationis fordert das Bild ein Sehen im Vollzug heraus, das nur im Unterscheiden, d. h. im fortlaufenden Differenzieren zwischen Grund und Figur und zwischen Sehen und Wiedererkennen auch ein Erkennen erlaubt.8 Die wiedererkennbaren Gegenstände sind auf Cézannes Aquarell nah aneinander gerückt. Sie sind frontal an der Kante einer Tischplatte aufgereiht, hinter denen weitere Küchenutensilien angedeutet sind. Wie ein Drittes ragt der Stiel der Kasserolle markant über sie hinweg. Wichtiger für den Zusammenhalt ist jedoch das weiße Aquarellpapier, das für alle gemalten Bildgegenstände nicht nur die materiale Ausgangsbasis ist, sondern zur Das Bild als Tertium Comparationis
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vermittelnden, sogar zur generierenden Ebene wird: »Cézanne aktiviert das Weiß des Papiers«, schreibt Friedrich Teja Bach.9 Die Konturen der Dinge sind nur mit schwachen Graphitstrichen umrissen. Davon ausgehend deuten die farbigen Pinselstriche ihr Volumen an. Der weiße Grund scheint durch die transparenten Farbschichten hindurch, er bricht inmitten der dargestellten Gegenstände auf und wird zum Teil der Darstellung. So entsteht ein Zusammenspiel von positiven und negativen Elementen, zwischen Konturen, Farbsetzungen und offenen Bildzonen, in dem die dargestellten Gegenstände und die Bildfläche nahe aneinanderrücken.10 Beide Ebenen durchdringen sich gegenseitig. Das Bild wird zu einem Schauplatz, auf dem ein Blick auf die Gegenstände erprobt und auf dem ein Vergleichen der Dinge im sehenden Vollzug in Gang gesetzt wird. So kann mit Cézannes Stillleben gefragt werden, ob die Bedingungen für ein Vergleichen im Bild, zumindest in demjenigen der europäischen Tradition, anders verlaufen als in einem auf Begriffen und Ordnungskategorien basierenden Diskurs, in dem die Wahrnehmung der Gegenstände oftmals zugunsten einer abstrakten Begrifflichkeit ausgespielt worden ist. In einem solchen erkenntniskritischen Denken musste der Vergleich meist als schwach gelten, indem er auf die vorgeordnete Ebene der Wahrnehmung von Differenzen und Analogien beschränkt bleibt. Erst über diese Erscheinungen der Dinge hinaus können eindeutige Kriterien ihrer Bewertung und Klassifizierung ausformuliert werden.11 Dass es bei Cézannes Stillleben jedoch ebenso wenig um eine botanische Bestimmung der Fruchtsorten wie um ihre evolutionsbiologische Unterscheidung geht, wird niemand ernsthaft bestreiten. Nicht einmal die charakteristischen Merkmale der Früchte sind ausgewiesen. Weder werden die Unterschiede und Ähnlichkeiten herausgestellt. Noch lassen sich die Gegenstände gänzlich in die vertrauten Kategorien einer begrifflich fixierten Ordnung einordnen. Selbst eine etablierte Praxis des kunsthistorischen Vergleichs hilft wenig weiter, wenn sie primär auf die Relationen mehrerer Bilder untereinander gerichtet oder durch andere, den Bildern vorausgehende Ordnungskriterien geprägt ist. Cézannes Malerei bleibt ebenso unentschieden wie widerständig, indem sie das Bild als unhintergehbare und doch unsichere Ebene des Vergleichs einsetzt: Auch wenn der Blick unmittelbar auf die Gegenstände gerichtet ist, sind sie doch beständig von dem Zweifel geprägt, den Merleau-Ponty so eindrücklich beschrieben Christian Spies
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hat. Von Cézannes Zweifel an seiner Tätigkeit als Maler ebenso wie an seiner eigenen Wahrnehmung, die doch nur trügerisch sein könne.12 Trotzdem nutzt Cézanne das Bild nicht, um dem Zweifel etwas entgegenzusetzen: Weder verankert er es in den zeitgenössischen Debatten um die Wahrnehmung, noch überantwortet er es der vermeintlich neutralen Instanz eines ›apparativen‹ Sehens.13 Die Verknüpfung von ›Auge und Geist‹ wird beständig neu ausgehandelt, indem das Bild zum Austragungsort ihres heterogenen Wechselverhältnisses wird. Der Gegenstand und sein Bild sind so weit auf Distanz gebracht, dass ein Wiedererkennen auf ein fortlaufendes In-Beziehung-Setzen im Sehen angewiesen ist. Wenn Vergleichen nach Gottfried Wilhelm Leibniz meint, zu »betrachten, worin zwei Dinge übereinstimmen und worin sie verschieden sind, so dass aus der Erkenntnis des einen das andere erkannt werden kann«,14 dann erscheinen Cézannes Stillleben für ein solches Vergleichsdenken zunächst völlig ungeeignet. Die gemalten Oberflächen bilden nicht nur einen deutlichen Gegensatz zum vorausgegangenen akademischen Ideal einer glatten Oberfläche des 19. Jahrhunderts, in der die Wiedererkennbarkeit der Gegenstände möglichst wenig durch die Faktur der Malerei gestört werden sollte.15 Die Übereinstimmungen und Verschiedenartigkeiten der wiedererkennbaren Dinge sind so weit in die Oberfläche der Malerei eingelassen, dass der Blick auf die Dinge stellenweise getrübt ist. Ihre interne Kohärenz ist ebenso in Auflösung begriffen wie die Grenzen zu den anderen Objekten. Auch das Wechselspiel von Licht und Schatten, von Glanz und Mattheit auf der Oberfläche der Gegenstände, dem die vorausgegangene Stilllebenmalerei noch bei Jean-Baptiste-Siméon Chardin so viel Bedeutung beigemessen hatte, ist nun in der Faktur des gemalten Bildes aufgegangen. Selbst das innere Bild, das wir von dem Gegenstand als Vorstellungsbild im Kopf haben und das in jedem Vergleich die Folie darstellt, vor der dieser vollzogen wird, ist bei Cézanne hinter die Malerei zurückgetreten. Sie folgt weder einem bestehenden Vorstellungsbild noch einem aktuellen Bild, wie wir es in unserer natürlichen Umgebung sehen könnten. Auf der Ebene des gemalten Bildes werden nun ganz andere Beziehungen geknüpft, wie Cézanne selbst schreibt: »Diese Gläser, diese Teller, die sprechen miteinander, sie tauschen unentwegt Vertraulichkeiten aus. […] Die Gegenstände durchdringen sich gegenseitig -- Sie hören nicht auf zu leben, verstehen Sie? -- Sie breiten sich unmerklich Das Bild als Tertium Comparationis
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um sich aus, durch ihren eigenen Widerschein, wie wir durch unsere Blicke und durch unsere Worte.«16 Trotzdem ist für Cézannes Malerei oft von einem Realismus gesprochen worden; einem Realismus jedoch, der sich ebenso wenig an der Oberfläche der Gegenstände zeigt, wie er durch vertraute Ähnlichkeits- und Differenzmerkmale bestimmt ist. »Er [Cézanne] zielt auf die Realität und versagt sich die Mittel, sie zu erreichen.«17 Die Wahrnehmung in Form des Vergleichens ist nun auf die Ebene des Sehens verwiesen, wobei das Wissen um die Gegenstände doch im Hintergrund bleibt. Sie werden als vertraute Objekte erinnert und sind dabei als sichtbare Objekte zugleich fremd geworden. Denn, wie Merleau-Ponty weiter schreibt, sei Cézanne stets versucht gewesen, den vorgefertigten Alternativen auszuweichen. Weder entscheide er sich eindeutig für die Seite der Sinne, noch für diejenige des Verstands, weder für den sehenden, noch für den denkenden Maler. Im Unterschied zu den Impressionisten lässt er den Gegenstand nicht in der flüchtigen Atmosphäre seiner momentanen Erscheinung aufgehen, sondern hält an einem Bild des Gegenstands fest. Insofern zeichnet Cézannes Malerei genau jenes Paradox vor, das sich hier für die Frage nach dem vergleichenden Sehen stellt: Das Sehen ist auf die unsichere Ebene des einzelnen Bildes verwiesen. So sehr es dort nach einem sicheren Halt sucht, indem es das Gesehene begrifflich zu fixieren oder zu ordnen versucht, umso mehr wird das Paradox dieses Unternehmens deutlich.18 Einerseits ist eine aus dem vergleichenden Sehen hervorgehende, synthetisierende Erkenntnisleistung notwendig – gerade dann, wenn es als Methode etabliert werden soll. Andererseits droht damit die performative Kapazität des vergleichenden Sehens still gestellt zu werden. Der Zweifel Cézannes bleibt so auch der Maßstab für das Sehen und nicht minder (für) das Beschreiben seiner Bilder, das sich damit immer als eine Tätigkeit mit unsicherem Ausgang erweisen muss. III Äpfel und Äpfel
Oft ist darauf hingewiesen worden, dass Cézanne in seinen Stillleben immer wieder die gleichen Gegenstände vorkommen lässt: den blau bemalten Krug, den Ingwertopf, das gebündelte Tuch oder die immergleichen Früchte. Selbst diese wenigen Gegenstände lassen sich jedoch nicht im Vergleich der verschiedenen Bildversionen abarbeiten. Vielmehr treten in jedem Bild ganz andere Christian Spies
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Aspekte aus der Oberfläche der Malerei hervor. Die berühmte Briefpassage, die Cézanne einen Monat vor seinem Tod an seinen Sohn schreibt, macht dies unmittelbar deutlich: »Hier am Ufer des Flusses vervielfältigen sich die Motive, der gleiche Bildgegenstand, unter verschiedenen Blickwinkeln gesehen, bietet ein Studienthema von äußerstem Interesse und so mannigfaltig, daß ich glaube, ich könnte mich während einiger Monate beschäftigen, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich einfach zeitweise mehr nach rechts, zeitweise mehr nach links wende.«19 So ist selbst die Reduktion auf nur einen Gegenstand, wie in der berühmten Gruppe der Apfelstillleben ab der Mitte der 1880er Jahre, alles andere als ein vermeintlich überflüssiger Vergleich von Äpfeln mit Äpfeln oder Birnen mit Birnen. Fast programmatisch ist hier die Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit des einzelnen Gegenstandes in der Malerei vorweg genommen, die Cézanne später in seinem Brief beschreibt. Die grünen Äpfel von 1873 sind noch durch eine solide Gegenständlichkeit bestimmt, die in der pastosen Malerei von Cézannes Frühwerk verankert ist [Abb. 3]. Umso weniger ist der Grund, auf dem die Äpfel liegen, jedoch eine feste Basis dafür. Er ist sowohl Grund wie Hintergrund. Über die rechte obere Bildecke zieht sich ein nebliger Farbschleier, der die braune Bildfläche in ihren vielfachen Schattierungen eher wie ein zerklüftetes Landschaftsrelief erscheinen lässt. Beim rechten großen Apfel vermitteln die Blätter an seinem Stiel zwischen Grund und Figur, indem die fest gefügte grüne Rundform sich damit in den braunen Grund öffnet. Beim linken Apfel ergibt sich eine ähnliche Formation aus grauen Farbspuren, die jedoch nicht dem Gegenstand zugeordnet werden kann. Genauso wenig kann sie als Schatten gelesen werden, der zur anderen Seite fällt. Es handelt sich um vermittelnde Farbspuren, die keiner Gegenstandsebene eindeutig zugeordnet werden können. In den späteren Apfelstillleben, und dabei wieder vor allem in den Aquarellen, sind diese vermittelnden Elemente genau umgekehrt in den offenen, weißen Stellen zu finden, wo die Früchte endlich zu verschwinden drohen und nur noch in den Konturen erkennbar werden [Abb. 4]. Setzt man auch bei den Apfelstillleben die Kategorie des Vergleichs an, dann spielt die vermeintlich überflüssige Gegenüberstellung von vorderhand identischen Gegenständen keine Rolle Das Bild als Tertium Comparationis
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3 Paul Cézanne, Grüne Äpfel, 1873.
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4 Paul Cézanne, Stilleben mit Äpfeln auf einem Tablett, 1902 – 06.
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mehr. Nur unter den Voraussetzungen einer begrifflich fixierten Gegenstandsrealität wird ein Gegenstand mit sich selbst verglichen (Apfel und Apfel). Schon auf der Ebene der Wahrnehmung treten die Differenzen zwischen den einzelnen Gegenständen vor Augen, die jeder Identität auf begrifflicher Ebene zuwiderlaufen müssen. Jeder andere Blickwinkel auf den Gegenstand ergibt auch ein anderes Bild von ihm, oder – mit Husserl gesprochen – eine andere Abschattung, die nur einen Teil von ihm sehen lässt. Ein in der Malerei begründetes Bild des Gegenstandes, wie in Cézannes Apfelstillleben, führt nochmals über diese phänomenologische Grundeinsicht hinaus: Das gemalte Bild des Apfels ist nicht nur an den Prozess einer je aktuellen Wahrnehmung gebunden, sondern ist diesem vorausgehend durch die Verankerung in der gemalten Oberfläche vervielfältigt. Zwischen den beiden Wahrnehmungsprozessen, dem des Malers vor dem Gegenstand und dem des Betrachters vor dem Bild, liegt die Ebene der Malerei, die sich sowohl einem vorschnellen Wiedererkennen als auch dem flüchtigen Eindruck entgegensetzt. Einerseits ist die sprichwörtlich fehlende Vergleichbarkeit von Äpfeln und Birnen in der gemeinsamen Ebene der Malerei aufgehoben. Andererseits sind dadurch alle Gegenstände – selbst die Äpfel untereinander – so wenig vergleichbar geworden, wie die anderen Gegenstände auch. Jedes Bild des Apfels wird seinem Vorbild fremd. Er ist nun auch als wiedererkennbarer Gegenstand in eine eigenständige Struktur überführt, nicht mehr in eine abbildliche, sondern in eine der bildlichen Äquivalenz. Die Gegenstände gründen nun in der Ebene der Malerei, wodurch ihre vermeintliche Unvergleichbarkeit als abgebildete Gegenstände unterlaufen wird. Umso mehr animiert ihre gemalte Oberfläche zu einem neuen Vergleich, zu einem Sehen im Vergleich, das erst an den Differenzen der gemalten Struktur in Gang gesetzt wird. Einerseits greift die Faktur der Malerei in die vertraute Gegenstandswahrnehmung ein, sie unterwandert sie und führt von den Volumina der Gegenstände auf die Oberfläche des gemalten Bildes. Andererseits sind es genau diese Differenzen der Struktur der Malerei, von denen in Cézannes Stillleben ein Wiedererkennen der Gegenstände ausgeht. Indem die sichtbaren Differenzen vollzogen werden und der Blick zwischen den Farbsetzungen vermittelt, werden die Lücken und Furchen auch zugleich von diesem Blick überbrückt, so dass das Sichtbare damit in einen anschaulichen Zusammenhang gestellt ist. Christian Spies
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Es handelt sich also um ein Sehen im Vollzug: Zuerst wird es in der Faktur der Malerei in ein Sehen der Gegenstände und ein Sehen des Bildes aufgegliedert. Danach werden beide Ebenen des Sehens wieder miteinander in Beziehung gesetzt und synthetisiert. Das, was dem Vergleich angelastet worden ist, dass er nur eine schwache Kategorie der Erkenntnis sei, wird so umgekehrt: Der sehende Vollzug des Vergleichs führt gerade nicht zu einer Evidenz distinkter Elemente, die von einer vorgängigen Ebene der Wahrnehmung auf die eigentliche Ebene des Diskurses leitet. Es handelt sich vielmehr um ein beständiges Abgleichen der Differenzen, die auf der Bildfläche vor Augen geführt sind. Diese Ebene des vergleichenden Sehens ist weder vorläufig noch defizitär, sondern steht als Erkenntnisprozess selbst im Zentrum. IV Der Gegenstand und seine Teile
»Cézanne hätte mich nicht interessiert, wenn er wie ein akademischer Maler gelebt oder gedacht hätte, auch wenn die von ihm gemalten Äpfel zehnmal schöner gewesen wären. Was aber unser Interesse herausfordert, ist Cézannes Zweifel – das ist seine Lehre.«20 So beschreibt auch Pablo Picasso um 1935 den Zweifel Cézannes als Maßstab für seine eigene Malerei. Vor allem für den Kubismus bis 1912 ist dieser Einfluss vielfach diskutiert worden. Man könnte ihn darauf verkürzen, dass der Zweifel, der bei Cézanne in den Bildern der Dinge beständig aufscheint, im Kubismus in eine eigenständige Bildsprache überführt worden ist. Er hat in der Facettierung der Gegenstände eine konkrete Form angenommen. Die Gegenstände sind zersplittert, nur noch Reste erinnern an ihr Volumen. Dagegen tritt die Bildfläche hervor und bleibt zunächst doch eine unbestimmte Ebene, auf der sich das Netz der Gegenstandssplitter ausbreitet. Schaut man zunächst ein dreidimensionales Objekt wie den Apfel von 1909 genauer an [Abb. 5], dann kommt Cézannes Lehre des Zweifels dort noch in ganz anderer Weise zum Ausdruck. Es handelt sich um ein handliches Gipsobjekt, das auf den ersten Blick ebenso übersichtlich wie unklar bleibt. Die kugelartige Grundform ist rundherum durch unregelmäßige, kristalline Formen facettiert. Analog zu den Stillleben, Portraits und Landschaften, die um 1909/10 oft den Anschein zerklüfteter Bildlandschaften haben, nimmt man auch das Objekt zunächst wie eine Gebirgsformation Das Bild als Tertium Comparationis
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5 Pablo Picasso, Apfel, 1909.
wahr. Unten fallen die einzelnen Teile schroff als vertikale Wände ab. Oben nimmt man die spiralförmige Fläche wie eine Straße oder einen Weg wahr, der auf den ›Gipfel‹ führt. Nur wenige Anhaltspunkte lassen auf eine ganz andere Größendimension schließen, wobei etwa der Ansatz eines Stiels auf der Oberseite auch recht konkret an einen Apfel denken lässt. In der Malerei Picassos ist eine solche Auflösung der Gegenstände durch das Wechselverhältnis der dargestellten Volumina mit der zweidimensionalen Bildfläche bestimmt: Einerseits sind die Konturen der geschlossenen Silhouette aufgelöst. Andererseits ist ihr Volumen zersplittert, und die Bildfläche tritt innerhalb des Gegenstandes hervor. Trotzdem bleiben noch in den kleinsten Splittern Reste der wiedererkennbaren Gegenstände bestehen, indem Christian Spies
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dort Rückstände ihrer Volumina hervortreten. Nur in einem beständigen Abgleich der Flächenstruktur mit diesen abgebildeten Gegenstandspartikeln lässt sich die kubistische Bildsprache zwischen 1910 und 1912 erschließen. Einerseits genügen die wenigen Reste der wiedererkennbaren Objekte und die verbliebenen Splitter eines ehedem kohärenten Bildraums, um die ungegenständliche, kristalline Bildstruktur auf ihre Wiedererkennbarkeit zu befragen. Andererseits braucht es deren formales Gefüge mit den verdichteten und offenen Zonen, um die wiedererkennbaren Partikel zueinander in Relation zu setzen. So genügt etwa ein Mund oder eine Hand, um eine Figur auszumachen, und ein Glas, um von einem Stillleben zu sprechen. Genauso braucht man aber die pyramidale Verdichtung, die den Oberkörper der Figur ausmacht, oder die Das Bild als Tertium Comparationis
6 Pablo Picasso, Bockbier, 1909.
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querrechteckige Zone, auf der die Gegenstände wie auf einer Tischplatte zusammenkommen. Gerade im Vergleich zur Malerei erscheint das Apfelobjekt nochmals ungleich irritierender, wenn es sich nicht nur um ein einzelnes sondern zudem auch noch um ein dreidimensionales Objekt handelt, um einen eigenständigen Körper, der den Apfel im Unterschied zum gemalten Bild nicht darstellt. Nun ist das Objekt gewissermaßen selbst der Apfel, ein Äquivalent zum realen Gegenstand, das zwangsläufig in einen unmittelbaren Vergleich damit tritt, ohne dass die Bildfläche als vermittelnde Ebene dazwischen steht. Umso mehr muss es daher irritieren, wenn das Wechselverhältnis zwischen abgebildetem Gegenstand und der zweidimensionalen Fläche der Darstellung auch im dreidimensionalen Objekt präsent wird, indem die Facetten der partikularen Ansichtigkeit qua Zweidimensionalität auch in das dreidimensionale Objekt einfließen. So wird auch im dreidimensionalen Objekt eine Differenz zwischen dem Objekt selbst und seiner Ansichtigkeit hergestellt. Der Vergleich, der sonst zwischen verschiedenen Objekten vollzogen wird, ist jetzt ganz auf das einzelne Ding reduziert. Der einzelne Apfel ist nicht mehr die Vergleichsgröße für andere Äpfel. Ebenso wenig steht er im Vergleich zu einem Vorstellungsbild, das im Begriff des Apfels verwurzelt wäre. Vielmehr provoziert er den Vergleich mit sich selbst, indem jede einzelne Facette eine Differenz zu den anderen bildet. In der Gegenüberstellung mit den beiden gemalten Äpfeln auf dem ein Jahr später entstandenen Stillleben mit Bockbierkrug [Abb. 6] wird diese Besonderheit des dreidimensionalen Apfelobjekts nochmals deutlich. Auf dem Tisch mit dem Bierkrug sind zwei Äpfel abgebildet, die im Vergleich zueinander fast plakativ den Entwicklungsschritt von Picassos Malerei von 1908 bis 1909 markieren. Beim hinteren Apfel mag man noch an die Früchte aus Cézannes Stillleben erinnert sein. Er ist durch runde Konturen bestimmt, mit denen die Kugelform aus hellen und dunkleren Brauntönen modelliert ist. Damit bleibt das Bild eines in sich kompakten Objekts bestehen, das in einen Dialog mit den anderen Objekten tritt. Dagegen erinnert der vordere Apfel durch seine typische Facettenstruktur an das vorausgegangene dreidimensionale Apfelobjekt, wo die Frucht in ihre vielfältigen Facetten zerfällt. Im Gemälde werden die beiden Äpfel zwangsläufig in einem Vergleich wahrgenommen. Einerseits gehören sie zusammen. Andererseits sind sie durch die unterschiedliche Darstellungsweise doch voneinander getrennt. Trotzdem bleibt das gemalte Bild auch hier diejenige Basis, auf der die Gegenstände Christian Spies
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nicht nur zusammenkommen, sondern gerade in ihrer unterschiedlichen Erscheinungsweise in ein Wechselverhältnis treten. Bei dem Apfelobjekt fehlt schließlich auch eine solche externe Ebene des Vergleichs im Sinne des Tertium Comparationis. Der Apfel ist beides zugleich, sowohl vertrautes Objekt wie befremdlicher Gegenstand. Mit jedem Kennzeichen, das ihn noch als Apfel wiedererkennbar macht, gibt es andere Merkmale, die dieser Erkennbarkeit entgegenstehen. In seiner Größe ist der Gegenstand kompakt und übersichtlich, zugleich schreibt sich durch die Auflösung der Form eine Unübersichtlichkeit ein. Er wird sich selbst fremd, indem er das Objekt einerseits selbst ist und doch den Erwartungen nicht entspricht, die daran gestellt werden. Er führt dem Betrachter eine Differenz vor Augen, in der das vertraute Objekt (Apfel) und der tatsächliche Gegenstand (Plastik) die beiden Seiten der einen Medaille darstellen. Zunächst möchte man deshalb gar nicht von einem vergleichenden Sehen sprechen, wenn nicht nur das Gegenüber, sondern auch jede Basis des Vergleichs fehlt. Weder handelt es sich um mehrere Äpfel, wie in Cézannes Stillleben, noch gibt es die Vergleichsebene der Bildfläche, auf der sie zu sichtbaren Vergleichsstücken werden. Beides ist jedoch in die zerklüftete Oberfläche des Apfelobjekts selbst eingefügt. Hier vervielfältigt sich das Objekt in seinen gegensätzlichen Einzelteilen, die auf seiner Oberfläche in einen Vergleich miteinander gesetzt sind. V Verdichtung im Gegenstand
Im Gegensatz zu Picassos Objekt, hat der Apfel auf der Anrichte in Alberto Giacomettis Gemälde von 1937 sein kohärentes Erscheinungsbild beibehalten bzw. zurückerhalten [Abb. 7]. Verschwindend klein wirkt er auf den ersten Blick inmitten der großen Flächen von Anrichte, Wandpaneele und quadratischer Bildfläche. Dabei sticht er doch deutlich aus dem Bild hervor. Beinahe sakral wie auf einem Altartisch, wird der Apfel auf dem Möbelstück präsentiert. Er liegt zwar nicht auf einem Sockel, wie in Junckers Stillleben, sondern effektvoll im ansonsten leeren Raum. In dieser Form der Präsentation scheint sich die Frucht von vornherein jedem Vergleich zu entziehen. Weder denkt man an andere Objekte, die hinzukommen könnten, noch daran, dass es sich hier um einen ganz zufällig ausgewählten Apfel handelt. Der Apfel ist vereinzelt und das Bild gründet in dieser enormen Stilisierung des einzelnen Objekts. Das Bild als Tertium Comparationis
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7 Alberto Giacometti, Apfel auf einer Anrichte, 1937.
Giacometti hatte bereits für Cézannes Malerei auf das enorme Spannungsverhältnis zwischen der motivischen Einheit und der Fragmentierung in ihre Einzelteile hingewiesen. »Cézanne ließ eine Bombe platzen, indem er einen Kopf wie einen Gegenstand malte […]«, antwortete er in dem berühmt gewordenen Gespräch mit Georges Charbonnier. »Er zertrümmerte ein ganzes Gefüge; er zertrümmerte es so vollständig, daß man zuerst behauptete, der Kopf werde zu einem bloßen Vorwand und man sei folglich bei der abstrakten Malerei angelangt.«21 Eine solche Formulierung klingt radikal, vor allem, wenn man an die Bilder Cézannes denkt, die eher selten den Eindruck des Zertrümmerten bieten. Denn die Gegenstände behalten ja ihre motivische Einheit. Eher möchte man diesen Begriff für Picassos Kubismus verwenden, wenn man, der gängigen Entwicklungsgeschichte der Moderne folgend, darin eine Steigerung des Cézanneschen Bildkonzepts sieht. In Picassos Stillleben sind die Gegenstände tatsächlich zertrümmert. Wie in einem zersplitterten Spiegelbild haben sie ihre kohärente Form verloren und bieten nur noch wenige Anhaltspunkte, die über den Vergleich wieder zur Wahrnehmung des Gegenstands zurückführen. Christian Spies
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Liest man allerdings in der Passage des Interviews weiter, dann wird deutlich, warum Giacometti bereits für Cézanne von einem Zertrümmern spricht. Der Gegenpol ist dabei nicht die herkömmliche Abbildkonzeption der Malerei, sondern die Fotografie, in ihrer Funktion als direkte Analogie zur abgebildeten Wirklichkeit. Umso bezeichnender ist es, dass Giacometti gerade die beständige Suche nach der Realität als die ›explosive‹ Energie von Cézannes Malerei beschreibt. Sie stellt für ihn einen doppelten Bruch dar, sowohl mit einer Malerei, die seit Giotto am Problem der Ähnlichkeit orientiert gewesen sei, als auch mit der noch jungen Fotografie, die bereits mit ihrem ersten Siegeszug im 19. Jahrhundert zum Konkurrenzmedium für die Malerei geworden sei. Nach der Erfindung der Fotografie habe ein gemalter Kopf, wie Giacometti schreibt, nicht mehr als Einheit verstanden werden können. Eine Malerei, die noch an der Ähnlichkeit als äußerem Prinzip orientiert gewesen sei, galt als überholt. Dagegen sei die Abstraktion an diese Stelle gerückt. Cézanne habe jedoch trotzdem mit alldem ›konkurrieren‹ wollen, mit der Ähnlichkeit, wie mit der Abstraktion. Sein Prinzip war die von ihm oft benannte Das Bild als Tertium Comparationis
8 Alberto Giacometti, Apfel auf einer Anrichte, 1937.
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›réalisation‹, jene »Ding-Werdung« (Rilke), 22 in der der zertrümmerte Gegenstand wieder in eine neue Einheit überführt wird. »Der Apfel auf dem Tisch«, so Giacometti, stehe für Cézanne »grundsätzlich jenseits jeder denkbaren Form von Präsentation«. Die Zweifel an der Stabilität der Dinge wie an ihrer Wahrnehmung seien zu deutlich gewesen. Nun geht es um einen Prozess des Sichtbar-Werdens der Dinge, ein Vergleichen, das sich einerseits aus dem ungeordneten Material auf der Bildfläche ergibt und das andererseits doch zugleich mit einem ›denkenden‹ und am Gegenstand geschulten Auge vollzogen wird. So verschieden Giacomettis Apfel auf den ersten Blick auch sein mag, so sehr wird diese strenge Einheit im Rahmen der Argumentation doch wieder nachvollziehbar. Der Apfel auf der Kommode ist von einem der Grundprinzipien Giacomettis geprägt, das vor allem von den Skulpturen bekannt ist: von einem Wechselverhältnis zwischen großen Freiräumen und enorm verdichteten Körpern. So verschwindend dünn und klein die Körper auch immer wieder werden, so raumgreifend bleiben sie dabei doch. Sie nehmen ganze Räume und Plätze ein, indem sie eine Beziehung zu ihrem Umraum herstellen, die weit über das einzelne Objekt hinausreicht. Der kleine Apfel inmitten der großen Flächen von Anrichte und Wandpaneelen stammt aus den späten 1930er Jahren, aus jener Zeit also, in der Giacomettis Figuren immer kleiner werden, bis sie schließlich in die oft kolportierte Streichholzschachtel passen.23 Fast zur gleichen Zeit entsteht ein weiteres Bild, das den Apfel näher in den Blick nimmt [Abb. 8]. Dabei wird die obere Fläche der Anrichte von den vertikalen Bildrändern geschnitten, so dass er nun auf einem hellen Streifen präsentiert ist, der über die Bildränder fortführbar ist. Umso stärker bildet der gelbe Apfel hier einen Fixpunkt im Bild, der zur Vergleichsgröße für die anderen Bildelemente wird: für die Flächenformen der Möbel und Vertäfelung ebenso wie für den Schubladenknauf am rechten unteren Bildrand, der hier als zweite Rundform zum Gegenpol des Apfels wird. Vor allem aber bildet der Apfel als wiedererkennbarer Gegenstand eine Verdichtung innerhalb der ansonsten zunehmend abstrakteren Flächen aus. Denn im Unterschied zu den Früchten bei Cézanne und Picasso, ist er bei Giacometti wieder in sich geschlossen, ja sogar verdichtet. Die offene Struktur, die den Gegenstand dort in einem Prozess des vergleichenden Sehens erschließen lässt, ist hier über seine Grenzen hinaus in den Umraum verschoben. So ist die helle Oberfläche der Anrichte mit den für Giacomettis Christian Spies
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Zeichnung und Malerei charakteristischen, vagen Spuren und Kritzeleien geprägt, die als kurze Linien und Schraffuren keinem Gegenstand zugeordnet werden können. Man mag sie zwar immer wieder als Konturen und als modellierende Linien sehen. Teils sind sogar einzelne Objekte angedeutet. Sofort lässt man diese Vermutung jedoch wieder fallen, denn die Linien und Linienbündel laufen ins Leere. Letztlich bildet überhaupt nur der Apfel im Bildzentrum einen Anhaltspunkt dafür, die Linien als Konturen und Schraffuren zu lesen. Dort werden sie tatsächlich zu Konturen und zum wiedererkennbaren Gegenstand verdichtet. Außerhalb bleiben sie unklar. Vom freien Linienelement bis hin zur dargestellten Oberfläche lässt sich so die Genese eines Gegenstandes im Bild nachvollziehen. Insofern steht Giacomettis Apfel weder im Vergleich mit anderen Äpfeln noch widersetzt er sich durch die stilisierte Vereinzelung jedem Vergleich. Einmal mehr ist der Vergleich von der Ebene eines begrifflich abgesicherten Wiedererkennens auf die Ebene des Sehens verwiesen. Es sind also gerade nicht die Gegenstände, die sprichwörtlich als Äpfel und Birnen vergleichbar sind oder auch nicht. Der Vergleich richtet sich auf ihr Bild und vollzieht sich im Sehen, das beständig einzelne Elemente miteinander in Beziehung setzt. So sehr das Bild dabei selbst zu einem Vergleichsobjekt unter vielen anderen erklärt werden kann, das nach den rigiden Kategorien einer vergleichenden Disziplin behandelt wird, so widerständig bleibt es gegenüber einem solchen Unterfangen. Weder die vielfältigen Dispositive und Medien der Bildvergleiche noch die historischen Kategorien, die nur bestimmte Vergleiche zulassen, reichen hier aus. Alle drei Künstler führen zu einem vergleichenden Sehen zurück, das seinen Ausgang im je einzelnen Bild nehmen muss. Zunächst gelten deshalb andere Kategorien, solche, die allererst einen Prozess des Erkennens und Wiedererkennens in Gang setzen. Erst daran schließt ein Prozess des Vergleichens an, in den dann auch die anderen Parameter eines begrifflich fixierten Wiedererkennens, einer Historisierung dieses Wahrnehmungsprozesses oder auch das zugrunde liegende Dispositiv mit einfließen. Kurz gesagt: Erst wenn die Äpfel und Birnen bereits als Äpfel und Birnen ausgemacht sind, kann die Frage nach ihrer möglichen oder fehlenden Vergleichbarkeit gestellt werden.
Das Bild als Tertium Comparationis
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Endnoten 1 Im Deutschen meint das Verb ›vergleichen‹ zwei Dinge ›nebeneinanderstellen‹ mit
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der ursprünglichen Bedeutung von ›gleich machen‹. Im Unterschied zum einfachen ›gleichen‹ verweist das Präfix ›ver-‹ darauf, dass zwei verschiedene Dinge nebeneinander gestellt werden, um dabei ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 33 Bde., Leipzig 1854 – 1960, Bd. 25, 1956, s. v. Vergleich, vergleichbar, vergleichen, Sp. 448 – 457. Vgl. Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder und Tilo Renz (Hg.), Äpfel mit Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006. Engl. »comparing apples to oranges«, im Französischen können die Äpfel wahlweise auch durch Karotten ausgetauscht werden (»additionner des carottes et …«). Im Serbischen stellen Grossmütter und Kröten die beiden gegensätzlichen Vergleichspole dar, im Rumänischen gar Grossmütter und Maschinengewehre. Die Version mit Äpfeln und Birnen kommt im Dänischen, Deutschen, Niederländischen, Schwedischen, Slovenischen, Tschechischen und Türkischen vor. Teils werden die Äpfel dabei durch Erdäpfel/Kartoffeln ersetzt: http://en.wikipedia.org/wiki/Apples_and_oranges [19. 05. 2009]; The Volokh Conspiracy, Apples and Oranges, http://volokh.com/posts/1133478928. shtml#41046 [19. 05. 2009]. Gemeint sind dabei solche anschaulichen Gegenüberstellungen, wie Wölfflin sie für die Skulptur und dabei im Besonderen für die fotografisch reproduzierte Skulptur denkt. Vgl. Martina Dobbe, Fotografie als theoretisches Objekt, München 2007, S. 31ff. Lambert Wiesing geht etwa so weit, die Wölfflinschen Grundbegriffe mit einer maschinellen Relationenlogik zu vergleichen, bei dem die Vergleichskategorien die Extremwerte bilden, zwischen denen der jeweilige ›Wert‹ des einzelnen Bildes festgelegt werden kann. Vgl. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 95ff. Vgl. Jochen Sander (Hg.), Die Magie der Dinge. Stilllebenmalerei 1500 –1800, Ostfildern 2008, S. 346 – 349 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt und Kunstmuseum Basel, 2008/09]. Vgl. Gottfried Boehm, Bildsinn und Sinnesorgane, in: neue hefte für philosophie 18/19, 1980, S. 188 – 132, hier S. 123. Entsprechende Überlegungen zu einem performativen Bildvollzug finden sich in einer phänomenologisch orientierten Bilddebatte. Gottfried Boehms Konzept der ikonischen Differenz geht dabei ebenso von einem unabschließbaren Wechselverhältnis der Kontraste auf formaler und motivischer Ebene aus wie Max Imdahls Konzept des Bildsehens, das von einem anhaltenden Spannungsverhältnis zwischen einem sehenden Sehen (Sehen bildformaler Relationen) und einem wiedererkennenden Sehen spricht. Friedrich T. Bach, Der Pfahl im Gewebe. Störungen im Werk Cézannes, in: Cézanne: vollendet, unvollendet, Ostfildern-Ruit, 2000, S. 63 – 84, hier S. 63 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Kunstforum Wien und Kunsthaus Zürich, 2000]. Dieses Wechselspiel hat bei Cézannes Malerei lange Irritationen hervorgerufen, da es nicht den Erwartungen an ein vollendetes Bild entsprach. Vgl. hierzu das umfangreiche Ausstellungsprojekt Cézanne: vollendet, unvollendet (Anm. 9). Eine solche Positionierung des Vergleichs und noch viel mehr des vergleichenden Sehens auf der vorbegrifflichen Ebene der phänomenalen Erscheinungen kann hier nur mit dem Hinweis auf die Erkenntniskritik und Wissenschaftslehre im deutschen Idealismus bei Kant, Fichte und Hegel angedeutet werden. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 1– 27, bes. S. 1ff. Jonathan Crary hat deutlich auf die Loslösung des Blicks vom Auge des Betrachters hingewiesen, die mit der medientechnischen Entwicklung im 19. Jahrhundert einhergegangen ist und die sich teils auch in der Malerei niedergeschlagen habe. Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996, bes. Kap. 1. Christian Spies
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Endnoten/Abbildungsnachweis 14 »Comparare est considerare, in quo duo conveniant et differant. Ita ut ex uno cognito
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alterum cognisci deinde posit«. Gottfried W. Leibniz, PHIL., VII, D, II, 2, Table de définitions, in: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hg. v. L. Couturat, Paris 1903, S. 496. Vgl. dazu Felix Baumann, Die Überwindung der homogenen Bildoberfläche, in: Cézanne: vollendet, unvollendet (Anm. 9), S. 17– 27. Paul Cézanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet. Briefe, Hamburg 1957, S. 66. Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes (Anm. 12), S. 43. Gottfried Boehm hat nachdrücklich auf diese Diskrepanz zwischen einem Sehen und Beschreiben von Bildern hingewiesen. Vgl. Gottfried Boehm, Bild versus Wort, in: Günther Hauff, Hans Rudolf Schweizer und Armin Wildermuth (Hg.), In Erscheinung treten. Heinrich Barths Philosophie des Ästhetischen, Basel 1990, S. 261– 273. Cézanne in einem Brief an seinen Sohn vom 08. 09.1906, in: Cézanne, Über die Kunst (Anm. 16), S. 72. Pablo Picasso, 1935, zit. nach Inken D. Freudenberg, Cézanne hätte mich nicht interessiert, in: Cézanne und Giacometti. Wege des Zweifels, Ostfildern 2008, S. 243 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Louisiana Museum Humlebæk, 2008]. Alberto Giacometti, Was ich suche. Gespräche mit Georges Charbonnier, Zürich 1973, S. 35. Rainer Maria Rilke, Briefe über Cézanne, Frankfurt a. M. 1983, S. 30. Oft ist berichtet worden, wie Giacometti seine Figuren der späten 1930er Jahre in einer Streichholzschachtel transportiert habe.
Abbildungsnachweis 1 Justus Juncker, Stillleben mit Apfel und Birne, 1765, 2 Tafeln, jeweils 25,8 × 21,5 cm,
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Öl auf Holz, Städel Museum, Frankfurt a. M., in: Jochen Sander (Hg.), Die Magie der Dinge. Stillebenmalerei 1500 –1800, Ostfildern 2008, S. 348/349 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt und Kunstmuseum Basel, 2008/09]. Paul Cézanne, Äpfel, Birnen und Kasserolle, 1900 –1904, 28,1 × 47,8 cm, Bleistift und Aquarell auf Papier, Musée d’Orsay, Paris, in: Felix A. Baumann, Walter Feilchenfeldt und Hubertus Gassner (Hg.), Cézanne. Aufbruch in die Moderne, Ostfildern-Ruit 2005, S. 78 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Museum Folkwang, Essen, 2005]. Paul Cézanne, Grüne Äpfel, 1873, 26 × 32 cm, Öl auf Leinwand, Musée d’Orsay, Paris, in: Alain Mothe und Annich Couffy (Hg.), Cézanne à Auvers-sur-Oise, Auvers-sur-Oise 2006, S. 78. Paul Cézanne, Stilleben mit Äpfeln auf einem Tablett, 1902 – 06, 31,5 × 47,9 cm, Aquarell über Bleistift, Museum Boymans van Beuningen, Rotterdam, in: Götz Adriani, Paul Cézanne. Leben und Werk, München 2006, Abb. 92. Pablo Picasso, Apfel, 1909, 11,5 × 10 × 7,5 cm, Gips, Musée Picasso, Paris, in: Picasso, Cubiste, Paris 2007, S. 222 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Musée Picasso, Paris, 2007/08]. Pablo Picasso, Bockbier, 1909, 81 × 65,6 cm, Öl auf Leinwand, Villeneuve-d’Ascq, in: William Rubin (Hg.), Picasso und Braque. Die Geburt des Kubismus, München 1990, S. 136 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Kunstmuseum Basel,1990]. Alberto Giacometti, Apfel auf einer Anrichte, 1937, 72 × 75,5 cm, Öl auf Leinwand, Privatsammlung New York, in: Yves Bonnefoy, Alberto Giacometti. Eine Biographie seines Werkes, Bern 1992, S. 255. Alberto Giacometti, Apfel auf einer Anrichte, 1937, 27 × 27cm, Öl auf Leinwand, Privatsammlung New York, in: Yves Bonnefoy, Alberto Giacometti. Eine Biographie seines Werkes, Bern 1992, S. 262.
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Was zwischen zwei Bildern passiert. Anachronie, Montage, Allegorie, Pathos Georges Didi-Huberman
I Anachronie, Montage
Politik läßt sich nur veranschaulichen*, indem man die Konflikte, die Paradoxa und die wechselseitigen Zusammenstöße zeigt, aus denen das Geflecht aller Geschichte besteht. Daher erscheint die Montage als ausgezeichnetes Verfahren solcher Veranschaulichung [exposition]: In ihr erscheinen die Dinge nur, indem sie Position beziehen, sie zeigen sich nur, indem sie zunächst einmal ›auseinander genommen werden‹ [se démonter], wie man von der Gewalt eines Sturmes spricht, der Welle um Welle »aufwühlt« [tempête démontée], oder von einer Uhr, die »zerlegt« [démontée], das heißt analysiert, ausgeforscht, eben auseinandergenommen wird aufgrund des Forschungsdrangs, den irgendein Philosoph entwickelt, oder ein Kind, wie Baudelaire es uns schildert.1 Die Montage wäre für die Formen das, was die Politik für die Handlungen ist. Sie muss folgende zwei Bedeutungsaspekte von démontage in sich vereinen: den Überschuss an Energien und die Strategie der Orte, die Verrücktheit der ›Überschreitung‹ und die Weisheit der ›Position(ierung)‹. Walter Benjamin hat sich, wie mir scheint, unablässig darum bemüht, diese beiden Aspekte der Montage wie des politischen Handelns parallel zu denken. Einerseits gibt er Bertolt Brecht den Rat, 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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sich mit dem Go-Spiel vertraut zu machen, weil dieses Spiel allein den ›Positionen‹ ihre »richtige strategische Funktion« zuweise, wie er sagt2 – anders als beim Schach, wo die mehr oder weniger große Stärke der einzelnen Figur den Ausschlag gibt. Andererseits sieht er im epischen Theater das Versprechen einer Art verallgemeinerter ›Überschreitung‹ angelegt, jene Kunst, alles seinem gewohnten Ort zu entreißen, somit also die Kunst, »das Dasein aus dem Bett der Zeit hoch aufsprühen«3 zu lassen, wie eine Sturmwelle oder ein Strudel in einem Fluss. Dieses Bild des Strudels ist dem Leser Benjamins vertraut. Im selben Jahr, 1928, in dem er seinen großen Theorieroman der Moderne publizierte – ich meine natürlich die Einbahnstraße4 – veröffentlichte Benjamin auch seine philosophische Darlegung über den Ursprung, das heißt die »Erkenntniskritische Vorrede« zu seinem großen Buch über das deutsche Trauerspiel. Er sprach dort vom »philosophischen Stil« in der Geschichte als einer »Kunst des ›Absetzens‹ im Gegensatz zur Kette der Deduktionen«,5 mit der sich die Historiker im Allgemeinen vor der wesensmäßigen Überdeterminiertheit des Werdens zu schützen versuchen. Er forderte, die Idee nicht als eindeutigen Begriff, eindeutiges Gesetz oder eindeutige These, sondern als ›Konfiguration‹ zu verwenden: »Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Planeten. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze.«6 Sinn erhalten die Ideen folglich nur aufgrund ihrer jeweiligen ›Positionen‹, mit anderen Worten: Sie beruhen weder auf der Universalität noch auf der klassifizierenden Vernunft,7 sondern auf dem Ort, der sich in einer gegebenen ›Montage‹ abzeichnet. Nach Benjamin – und anders als etwa Ernst Bloch nahelegt – ist die Montage also kein exklusives stilistisches Erbe oder Verfahren unserer Moderne. Sie beruht, in einem allgemeineren Sinne, auf sämtlichen ›philosophischen Verfahren, die die Geschichte neu montieren‹ [remonter], sei es in Form eines »Zurückgehens« [remontée] in Richtung Ursprung (wie im Falle des deutschen Trauerspiels), sei es in Form eines »Neumontierens« [remontage] des Gegenwärtigen (wie im Falle der Einbahnstraße). Die Formulierung ›philosophisches Verfahren‹ ist hier nur eine andere Bezeichnung für die ›Dialektik‹. Denn Dialektik und Montage sind in dieser Dekonstruktion des Historizismus untrennbar miteinander verbunden. Die Dialektik ist nach Benjamin insofern »Zeuge des Ursprungs«, als jedes historische Ereignis, das über die simple Chronik hinaus betrachtet wird, »in einer Doppeleinsicht […] als Restauration, als Georges Didi-Huberman
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Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein« will. Auf diese Weise wird jeder Moment der Geschichte ›demontiert‹, indem man über den »tatsächlichen Befund« hinaus zu dem ›zurückgeht‹ [remontant], was »dessen Vor- und Nachgeschichte« betrifft.8 Nun erzeugt aber diese doppelte Bewegung Intervalle und Diskontinuitäten, so dass die historische Erkenntnis – diese »philosophische Geschichte als die Wissenschaft vom Ursprung«, die Benjamin für sich in Anspruch nimmt – zu einer regelrechten ›zeitlichen Montage‹ wird, zu einer Form, bei der ein Kreis aus »entlegenen Extremen, den scheinbaren Exzessen der Entwicklung« oder Momenten, deren verborgene Verwandtschaft noch nicht erkannt wurde, »virtuell abgeschritten« wird.9 Ein historisches »Zurückgehen« [remontée] ist also nur in der Weise möglich, dass Elemente, die zuvor ihrem gewohnten Ort entrissen wurden, »neu montiert« werden [remontage]. Mit anderen Worten: Ein historisches Wissen, das dieses Namens philosophisch gesehen würdig wäre, wird man nur schaffen können, indem man jenseits der Berichte und des Flusses, jenseits der ereignishaften Singularitäten die ›Heterochronien‹ (mit diesem Wort sei von nun an der Heterogenitätseffekt betont) oder die ›Anachronien‹ (damit sei von nun an der anamnetische Effekt betont) der Elemente vor Augen führt [exposer], aus denen jeder Geschichtsmoment besteht. Montage und Anachronie sind für den philosophischen ›Gestus‹ Benjamins insgesamt charakteristisch. Es besteht keinerlei Anlass, einen Gegensatz herzustellen zwischen einem ›modernistischen‹ Benjamin, der sich in seinen Texten der Montage bedienen würde wie Raoul Hausmann es in seinen Bildern tat, und einem ›vergangenheitsbezogenen‹ Benjamin, der nach dem Ursprung und dem Nachleben des deutschen Trauerspiels suchen würde wie Aby Warburg es in Bezug auf die Renaissancemalerei tat. Der umwälzende Charakter des Benjaminschen Blicks auf die Historizität ganz allgemein bestünde darin, sich stets auf der ›Schwelle der Gegenwart‹ zu halten, um »den gegenwärtigen Augenblick vom zerstörerischen Kreislauf der Wiederholung zu befreien und der Diskontinuität der Zeiten Chancen für einen Umschwung abzuringen«, wie Guy Petitdemange so treffend resümierte.10 Theologisch gesprochen – auch Benjamin sprach ja diese Sprache – bedeutet das: keine zukünftige Erlösung ohne Exegese der ältesten Texte, kein Messianismus ohne Denken, ohne ein Überdenken der Grundlagen. Psychologisch gesprochen heißt das: kein ›Begehren‹ ohne Was zwischen zwei Bildern passiert
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›Erinnerungs‹-Arbeit, keine Zukunft ohne Rekonfiguration des Vergangenen. Politisch gesprochen bedeutet das schließlich: keine revolutionäre Kraft ohne Neumontierungen [remontages] genealogischer Orte, ohne Bruch und Wiederanknüpfung von Filiationsverbindungen, ohne sich die gesamte vorangegangene Geschichte neuerlich vor Augen zu führen [réexpositions]. Daher kommt auch das »avantgardistischste« Element bei Benjamin nicht ohne den Anachronismus einer Verbindung mit so etwas wie einer »Archäologie« aus.11 Unter der Bedingung natürlich, dass Modernität nicht auf ein schlichtes Vergessen der Geschichte und die Archäologie nicht auf eine pure Liebe zu Trümmern reduziert wird. »Die Lehre von den Trümmern, die die Zeit anrichtet ist zu ergänzen durch die Lehre vom Verfahren des Abmontierens, das Sache des Kritikers ist«, schreibt Benjamin im Jahre 1930.12 Obwohl Walter Benjamin die Thesen Ernst Blochs in Erbschaft dieser Zeit nicht ungeteilt schätzte, lässt sich heute festhalten, dass ihre Ansichten über das Verhältnis zwischen Position(ierung) und Überschreitung, Montage und Anachronismus im Allgemeinen übereinstimmten. Bloch sah in der Montage das historische Symptom eines »eingestürzten Zusammenhangs« der bürgerlichen Welt, die dem »Vorgang der Unterbrechung« ausgeliefert sei, der für die revolutionären Avantgarden charakteristisch ist, wobei übrigens rasch der Name Brecht auftaucht: »Denn Montage bricht aus dem eingestürzten Zusammenhang und den mancherlei Relativismen der Zeit Teile heraus, um sie zu neuen Figuren zu verbinden. Dieser Vorgang ist oft nur dekorativ, oft aber bereits experimentierend wider Willen oder, wenn gebraucht, wie etwa bei Brecht, mit Willen; es ist ein Vorgang der Unterbrechung und dadurch einer der Überschneidung vordem weit entfernter Partien. Gerade hier ist der Reichtum einer brechenden Zeit groß, einer auffallenden Mischzeit von Abend und Morgen in den zwanziger Jahren. Das reicht von kaum so gewesenen Blick- und Bildverbindungen bis Proust bis Joyce bis Brecht und darüber hinaus, ist eine kaleidoskopische Zeit, eine ›Revue‹.«13 »Reichtum einer brechenden Zeit«: Wie Alois Riegl bereits für die Spätantike und Walter Benjamin für den Manierismus und den Barock begriffen hatten, verzichtet auch Ernst Bloch auf Teleologien des historischen Werts. In der Geschichte gibt es keineswegs Georges Didi-Huberman
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mehr ›Niedergang‹ als ›Fortschritt‹: Es gibt nur Heterochronien oder Anachronismen von Prozessen, die in unterschiedlicher Richtung und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen. »Das neue kommt besonders vertrackt«, schreibt Bloch.14 Diese Vertracktheit beziehungsweise Komplexität bezeichnet er als »Ungleichzeitigkeit«, mit anderen Worten als »Anachronismus«. »Nicht alle sind im selben Jetzt da. […] Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. […] ›unaufgearbeitete Vergangenheit‹«.15 Die ›Montage‹ – mit ihrem »Katalog des Ausgelassenen, jener Inhalte, die im männlichen, bürgerlichen, kirchlichen Begriffsystem keinen Platz haben«16 – wäre nun das Mittel par excellence, um eine solche Ungleichzeitigkeit ›dialektisch‹ zu fassen, das heißt politisch fruchtbar zu machen.17 Die Montage ist eben insofern ein Exponieren [exposition] von Anachronien, als sie wie eine ›Explosion der Chronologie‹ verfährt. Die Montage schneidet Dinge, die für gewöhnlich vereint sind, auseinander und verbindet Dinge, die für gewöhnlich getrennt sind. Sie erzeugt also eine Erschütterung und eine Bewegung: »Der Ruck. Wir sind außer uns. Der Blick schwankt, mit ihm, was er hielt. Die äußeren Dinge sind nicht mehr gewohnt, verschieben sich. Da ist etwas zu leicht geworden, geht hin und her.«18 Da die Explosion bereits stattgefunden hat, sind wir nun von einer Welt des Staubs – Fetzen, Fragmente, Rückstände – umgeben. Doch »der Staub, den die Explosion des Ungleichzeitigen aufwirbelt, ist dialektischer als der der Zerstreuung; er ist selbst explosibel«,19 mit anderen Worten: er dient nun als überaus subtiles Material für kommende historische Bewegungen und Revolutionen. Warum erscheint uns das aus der Montage hervorgegangene Material als derart subtil, derart flüchtig? Weil es aus seinem normalen Raum herausgelöst wurde, weil es unablässig von einer Zeitlichkeit zur anderen wandert. Daher beruht die Montage in grundlegender Weise auf jenem ›Wissen um das Nachleben‹ und die Symptome, von dem Aby Warburg behauptete, dass es so etwas wie einer »Gespenstergeschichte f[ür] ganz Erwachsene«20 ähneln würde. Ernst Bloch sagt, wie mir scheint, nichts anderes, wenn er aus der Montage eine Maschine macht, die im Raum Staub aufwirbelt und in der Zeit für frischen Wind sorgt, kurzum: eine Maschine, um in einem Rhythmus »spukhafter Intermittenz« die Gespenster der unbewussten Erinnerung und des unbewussten Begehrens von der Leine zu lassen: »›Montage, unmittelbar‹. Hier erst ist der Wind durchaus, von überall her weht er. Teile stimmen nicht mehr zueinander, Was zwischen zwei Bildern passiert
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sind lösbar geworden, neu montierbar. Faßlich für viele war zunächst nur das geschnittene, neu ›geklebte‹ Lichtbild ›montiert‹; im Umgang mit Maschinen ist das Wort freilich älter. Auch am menschlichen Leib wird Haut, werden innere Organe versetzt; doch leistet der versetzte Teil am neuen Ort bestenfalls nur, was des Ortes ist, nichts anderes. In der ›technischen‹ und ›kulturellen‹ Montage jedoch wird der Zusammenhang der alten Oberfläche zerfällt, und ein neuer gebildet. Er kann als neuer gebildet werden, weil der alte Zusammenhang sich immer mehr als scheinhafter, brüchiger, als einer der Oberfläche enthüllt. Lenkte die Sachlichkeit mit glänzendem Anstrich ab, so macht manche Montage das Durcheinander dahinter reizvoll oder kühn verschlungen. Sachlichkeit diente als oberste Form der Zerstreuung, die Montage erscheint kulturell als oberste Form spukhafter Intermittenz […]. Insofern zeigt die Montage weniger Fassade und mehr Hintergrund der Zeit als die Sachlichkeit.«21 Im Zwischenraum, der durch diese Versetzungen geschaffen wird, zeigt sich der »Hintergrund«. In der Diskontinuität, die durch diese »Intermittenzen« geschaffen wird, zeigen oder vielmehr erheben sich die unwillkürliche Erinnerung und das unbewusste Begehren. Bereits der Expressionismus, so Bloch, »montierte ihre [d. i. der Welt] Bruchstücke zu Fratzen, montierte in die Hohlräume vor allem Exzesse und Hoffnungen stoffhaltiger Art, archaische und utopische Bilder«.22 Später dann – jenseits des Surrealismus mit seinem großen »Bilderrätsel« des »gesprungene[n] Bewußtsein[s]« – musste man mit Bertolt Brecht rechnen, der die Montage seinerseits »geradezu als Produktivkraft gebraucht. Nämlich als Unterbrechung des dramatischen Flusses und lehrhafte Versetzung seiner Teile, kurz, als regiehaftes Politikum«.23 II
Interferenz, Allegorie
Das moderne Phänomen der Interferenz [interposition] von Gebieten der Kunst ist von Theodor W. Adorno bekanntlich als »Verfransung der Künste« beschrieben worden. Diese hat unweigerlich zur Folge, dass der Begriff ›Kunst‹ selbst ästhetisch unbestimmt bleibt, was mit der Montage von Elementen zusammenhängt, die dem Bereich der Ästhetik gegenüber heterogen sind, wie etwa die fotografischen Dokumente in Brechts Arbeitsjournal oder der Kriegsfibel: Georges Didi-Huberman
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»Die Verfransung der Künste, feind einem Ideal von Harmonie, das sozusagen geordnete Verhältnisse innerhalb der Gattungen als Bürgschaft von Sinn voraussetzt, möchte heraus aus der ideologischen Befangenheit von Kunst, die bis in ihre Konstitution als Kunst, als einer autarkischen Sphäre des Geistes, hinabreicht. Es ist, als knabberten die Kunstgattungen, indem sie ihre festumrissene Gestalt negieren, am Begriff der Kunst selbst. Urphänomen der Verfransung der Kunst war das Montageprinzip, das vor dem Ersten Krieg in der kubistischen Explosion und, wohl unabhängig davon, bei Experimentatoren wie Schwitters und dann im Dadaismus und im Surrealismus hochkam. Montage heißt aber soviel wie den Sinn der Kunstwerke durch eine seiner Gesetzlichkeit entzogene Invasion von Bruchstücken der empirischen Realität stören und dadurch Lügen strafen. Die Verfransung der Kunstgattungen begleitet fast stets einen Griff der Gebilde nach der außerästhetischen Realität. Er gerade ist dem Prinzip von deren Abbildung strikt entgegengesetzt. Je mehr eine Gattung von dem in sich hineinläßt, was ihr immanentes Kontinuum nicht in sich enthält, desto mehr partizipiert sie am ihr Fremden, Dinghaften, anstatt es nachzuahmen. Sie wird virtuell zum Ding unter Dingen, zu jenem, von dem wir nicht wissen, was es ist.«24 Indem er »Ding[e] unter Dingen« verteilt – zum Beispiel einen gebrauchten Reifen, zwei Krücken, einen Regenschirm und eine Kaffeemühle auf einer Tafel der Kriegsfibel [Abb. 1] mit einem lyrischen Epigramm als Legende – erschwert uns Brecht die Aufgabe auf der ästhetischen Ebene, denn er macht aus seiner ›Arbeit‹ ein ›Ding‹, das nur schwer als Kunst-›Werk‹ zu identifizieren ist. Die »Verfransung der Künste« ist also ein Charakteristikum all dieser Fotomontagen. Wenn Brecht in seinem Arbeitsjournal seine Zweifel in Bezug auf den Kaukasischen Kreidekreis erwähnt und sich dabei auf ein Gemälde von Breughel bezieht, können wir uns, was die hier angesprochenen Gebiete der Kunst betrifft, sicher sein.25 Wenn wir aber eine Seite zurückblättern und uns plötzlich Pius XII., Rommel und einem Massengrab gegenübersehen [Abb. 2], werden wir auf die der »Verfransung der Künste« inhärente Schwierigkeit zurückgeworfen: Wir wissen nicht mehr genau, »was es ist«. Es handelt sich weder um ein politisches Argument noch um ein Kunstwerk Was zwischen zwei Bildern passiert
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1 Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955.
im jeweils strengen Sinne des Wortes. Es ist vielmehr eine Montage nach Art von Warburgs Bilderatlas (ich denke dabei gerade an dessen allerletzte Tafeln, auf denen Papst Pius XI. zwischen faschistischen Würdenträgern und Dokumenten antisemitischer Pogrome zu sehen ist),26 drei unähnliche Bilder, die vereint wurden, um eine Frage aufzuwerfen. Die ›Interferenz‹ [interposition], die in dieser Montage am Werk ist, betrifft also nicht nur die Unähnlichkeit der drei Dokumente: Sie konfrontiert uns auch mit einer Heterogenität der symbolischen Felder, die hier im Spiel sind. Handelt es sich um eine freie künstlerische Assoziation? Eine historische Reflexion? Ein dramaturgisches Modell? Ein Repertoire grundlegender Gesten? Es ist all dies zugleich, all das, was Brecht zu ›montieren‹ versteht – so wie Georges Didi-Huberman
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man früher Naturalia in komplexe Rahmen, ad hoc konstruierte Fassungen ›montierte‹ –, um daraus ein andernorts nutzbares Wissen zu gewinnen. Welche Art von Bedeutung aber erhält man, wenn man die Elemente der chronologischen Zeit auf diese Weise ausschneidet, sie interferieren [interposer] und sich brechen lässt, sie demontiert und remontiert? Ein grundsätzlicher Fall, der all dies zu erhellen vermag, findet sich im Arbeitsjournal unter dem Datum des 25. Juli 1943: Dort sind zwei Fotos von Hitler zu sehen, die im Abstand von zehn Jahren aufgenommen wurden [Abb. 3]; wie später dann 1955, wenn in der Kriegsfibel zwei Hitlerporträts so platziert werden, dass sie die Bildersammlung eröffnen und abschließen.27 Diese rudimentäre Montage zeigt uns, dass zwischen den beiden Was zwischen zwei Bildern passiert
2 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 15. Juni 1944.
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3 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 25. Juli 1943.
Aufnahmen – die eine stammt aus dem Jahre 1933, die andere aus dem Jahre 1943 – ›die Zeit vergeht‹, Zeit vergangen sein wird. 1943 sind Hitlers Gesichtszüge zerfurcht, er strahlt keinerlei Triumphalismus mehr aus, die Blumensträuße, die auf dem linken Dokument aus der Zeit seines Machtantritts zu sehen sind, fehlen nun, stattdessen unternimmt er in steifer Haltung den Versuch, den Deutschen gegenüber zu vertuschen, warum ihre Armee in den eisigen Ebenen Russlands feststeckt und so viele Soldaten nicht mehr zurückkehren. Die Zeit vergeht, das bedeutet: Das Geschick wendet sich, Hitlers überwältigender Sieg von 1933 und später dann von 1940 ist den Vorzeichen der Niederlage gewichen. Das heißt ebenfalls: ›Der Tod erscheint‹ im Abstand dieser beiden Bilder, wie auch im Gesicht Hitlers selbst, das diesen beiden Zeitverhältnissen unterworfen ist.28 Georges Didi-Huberman
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Die historische Montage nimmt hier also die Bedeutung einer Allegorie an. Wenn wir in der Kriegsfibel blättern, ertappen wir uns bisweilen dabei, dass wir die Porträts, die sie enthält – politische Würdenträger, Soldaten, Leute aus dem Volk –, mit den Zeichen der Zerstörung verdichten, die der Krieg überall hinterlässt. Auf diese Weise reimt sich Hitlers offener Mund, aus dem ein Schwall todbringender Worte dringt, visuell mit dem offenen Mund des bei lebendigem Leibe verbrannten Soldaten, dessen ›Totenschädel‹ in einem ewigen Schrei erstarrt zu sein scheint [Abb. 4]. Zwischen diese beiden Zustände des dem Tode geweihten Gesichts – Porträt, Schädel – treten [s’interposent] und drängen sich [s’imposent] dann all die ›Masken‹, die sowohl im Arbeitsjournal als auch in der Kriegsfibel zahlreich vorkommen: Masken von Soldaten, die den Bedingungen extremer Höhe und Kälte ausgesetzt sind; Was zwischen zwei Bildern passiert
4 Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955.
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Gasmasken von Zivilisten, die sich mit einem Krieg konfrontiert sehen, in dem die Luft selbst ein Todfeind sein kann; Verbände an entstellten Verletzen, Verbrannten, Erschossenen…29 Später wird Brecht dann Totenbilder und Bilder von Totenmasken sammeln, bevor er schließlich anweisen wird, seinem eigenen Leichnam eine Gipsmaske abzunehmen.30 Reinhold Grimm hat das Unternehmen, das Brecht mit der Kriegsfibel verfolgte, als »marxistische Emblematik« bezeichnet: marxistisch dem Inhalt nach, emblematisch in der Form. Dies erlaubte es dem Exegeten, einen Stich aus dem 16. Jahrhundert, der zu den Emblemas morales von Juan de Horozco gehört und einen Schädel zeigt, als mögliche »Quelle« der erwähnten Bildtexttafel anzugeben, auf welcher der Schädel eines verkohlten Soldaten gen Himmel schreit…31 Genauer gesagt als eine Quelle der stilistischen Auswahl, die Brecht vorgenommen habe, um seine Version der Desastres de la guerra zusammenzustellen. Das Brechtsche »Fotoepigramm« stellt nicht nur die Frage des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Lesbarkeit, die jeder allegorischen Struktur inhärent ist, auf seine Art neu,32 es scheint auch exakt die klassische Struktur des Emblems wiederaufzugreifen, jene Ableitung des Epigramms, die im 16. Jahrhundert von Andrea Alciati erfunden wurde.33 In der Tat entfaltet Brecht vor dem schwarzen Hintergrund seiner Bildatlastafeln drei unterschiedliche Elemente und nicht nur zwei – das fotografische Bild und das poetische Epigramm –, wie man zuvor angenommen hatte. Exakt nach Art eines klassischen Emblems enthält jede (oder beinahe jede) Tafel der Kriegsfibel eine visuelle Darstellung, eine imago, die mit zwei unterschiedlichen Textmodi verbunden ist: Die Bildlegende, im Allgemeinen ein Zeitungsausschnitt, dient als das, was die humanistischen und später die barocken Theoretiker inscriptio genannt haben; während das Epigramm im eigentlichen Sinne das Ganze ›moralisiert‹, indem es die Rolle einer subscriptio spielt.34 Heißt das, dass Brecht sich in der Kriegsfibel einer bloßen Stilübung hingibt, einem schlichten Spiel mit literarischen Bezügen? Sicherlich nicht. Philippe Ivernel ist sogar der Ansicht, dass dem Vergleich der Kriegsfibel mit der Allegorik der Renaissance oder des Barock »zwar das Verdienst gebührt, auf einen bestimmten Typus des Verhältnisses von Bild und Schrift aufmerksam gemacht zu haben, dass er aber im Grunde trügerisch ist«.35 Der ›Grund‹: damit ist der Inhalt der Montagen gemeint, die Brecht in seinem Atlas vorlegt. Georges Didi-Huberman
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»Brechts marxistische Lektion funktioniert nicht wie eine barocke Lektion, die angesichts der irdischen, das heißt sinnlich wahrnehmbaren Nichtigkeiten das hervorhebt, was jenseits des Sinnlichen ist. In der Kriegsfibel enthüllt die Schrift das Bild, doch ohne es auszuzehren, sie enthüllt es sozusagen, indem sie sich ihrerseits von ihm befragen lässt (wozu bereits die doppelte Legende anregt). Sie übersetzt nicht die Stimme eines transzendenten Gottes […], sondern höchstens den – zwangsläufig historischen – Standpunkt eines Marxisten, der sich über die Lage im Klaren ist und sich über die Zwänge und die Anforderungen des kollektiven Handelns Fragen stellt.«36 Daher müssen wir das schreckliche Foto mit dem verkohlten Schädel weit unterhalb der Ebene eines universellen Emblems der Nichtigkeit des menschlichen Körpers betrachten und verstehen: »Wir sterben jeden Tag« (quotidie morimur), lautete die inscriptio der Emblemas morales; und die subscriptio dichtete über das irdische Leben als einer beständigen Arbeit am eigenen Tod… Brecht hingegen bringt etwas ganz anderes zum Ausdruck: Er legt nahe, die makabre Inszenierung durch den Sieger in Frage zu stellen, der den Kopf seines Feindes absichtlich auf den Drehturm des Panzers gelegt hat. Zudem lässt Brecht in seinem Gedicht den fraglichen ›Tank‹ auf ›Bank‹ reimen, diesen kapitalistischen Nerv des Krieges: »Dieser lautliche Effekt enthüllt, dass unterhalb der mythischen Gewalt des Krieges die Ökonomie geregelt weiterfunktioniert. Die barocke Meditation findet sich so jäh auf den Alltag menschlicher Gesellschaften zurückgeworfen, den Kern des Problems. Sie verwandelt sich in Zorn und lädt sich mit politischer Energie auf.«37 In dieser Beziehung, die der Schriftsteller zwischen einer uralten ›Tradition‹ – der Schädel als Emblem, die Epigrammstruktur – und einer gänzlich die ›Aktualität‹ des Weltkriegs betreffenden politischen Lektion herstellt, liegen die Dinge jedoch noch komplizierter. Es ist kein Zufall, wenn sich Brecht den Leichnam des japanischen Soldaten (mit seinem schrecklichen, ja vogelscheuchenartigen Anblick) dadurch vergegenwärtigt, dass er ihn mit den Worten Shakespeares anruft, in denen Hamlet vor dem Schädel des »armen Yorick« meditiert: Was zwischen zwei Bildern passiert
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»O Armer Yorick aus dem Dschungeltank! Hier steckt dein Kopf auf einem Deichselstiel Dein Feuertod war für die Domeibank. Doch deine Eltern schulden ihr noch viel.«38 Gewiss: Hier wird die allegorische Tradition aufgerufen, um einen präzisen Moment der Zeitgeschichte zu denken. Die ›zeitliche Montage‹, die sich aus einem solchen Rückgriff ergibt, hat jedoch das ›Auge der Geschichte‹, das heißt den Blick, den Brecht im Jahre 1943 auf den amerikanisch-japanischen Krieg richtete, an Komplexität überaus bereichert. Wir verstehen nun, inwiefern die Wirkung aller ›Montage‹ darin besteht, die ›Botschaft‹, die sie vermeintlich transportiert, in eine Krise zu stürzen – bewusst oder unbewusst. Durch Einschaltung eines Reims [rime interposée] gelingt es Brecht, ausgehend vom Tank, der auf dem fotografischen Dokument zu sehen ist, die Bank zu imaginieren, die seine Massenproduktion ermöglichte, indem sie mit den Schulden derer spekulierte, die man an die Front schickte (oder mit den Schulden ihrer Eltern). Der Schädel aber, der sich im Vordergrund des Bildes mit all den trivialen, nicht sublimierbaren Details eines Militärhelms oder der noch am Knochen hängenden verbrannten Haut aufdrängt, dieser Schädel wird von Brecht auf einem barocken, beinahe schockierenden literarischen ›Umweg‹ in der ›Figur‹ eines Shakespeare-Zitats angerufen. Man braucht hier nur »O armer Yorick« zu lesen, schon erklingen im Geiste die berühmten Worte, die Hamlet beim Anblick des Schädels des Hofnarren spricht: »Der Schädel hatte einmal eine Zunge und konnte singen. […] Ach armer Yorick. – Ich kannte ihn, Horatio, ein Bursch von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen. Er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen, und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor! Mir wird ganz übel. Hier hingen diese Lippen, die ich geküßt habe, ich weiß nicht wie oft. Wo sind nun deine Schwänke, deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Ist jetzt keiner da, der sich über dein eigenes Grinsen aufhielte [not one now to mock your own grinning]?«39 Es geht hier nicht nur um eine allgemeine Reflexion über Tod und vanitas, die der Anblick eines Leichnams oder eines Schädels impliziert (»Der Schädel hatte einmal eine Zunge […] Ich Georges Didi-Huberman
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kannte ihn […] und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor!«). Der Rückgriff auf die Allegorie und die Bezugnahme auf das Theater laden den Blick auf dieses makabre Dokument des amerikanisch-japanischen Kriegs darüber hinaus mit einer ›Dialektik‹ auf. In der Tat: Brecht allegorisiert das Dokument, um uns besser mit seiner ›Ambiguität‹ einerseits und seiner ›Grausamkeit‹ andererseits konfrontieren zu können. Die Ambiguität entsteht durch das Zusammentreffen des Totenkopfs mit der Erwähnung des Hofnarren. Wenn man angesichts dieses Schädels spontan von einem ›ewigen Schrei‹ sprechen kann, der mit dem irreversiblen Verschwinden der Lippen verbunden ist, wird man nunmehr, gestützt auf den von Brecht angebotenen Umweg über Shakespeare, auch von einem ewigen Grinsen, ja einem ewigen Gelächter sprechen müssen, zwei Möglichkeiten, die Zähne eines menschlichen Schädels zu sehen, deren sich auch die volkstümliche Ikonografie des Karneval gerne bedient hat. Was die Grausamkeit betrifft, so resultiert sie nicht allein aus dem makabren Gegenstand als solchem. Sie wird dadurch zugespitzt, ja sogar wiederhergestellt, dass dieser Leichnam in Szene gesetzt wurde, um dem militärischen Triumphalismus der Amerikaner als Trophäe zu dienen. Brechts Auswahlentscheidung knüpft in diesem Sinne direkt an die politischen Montagen an, die Ernst Friedrich in seinem nur schwer verdaulichen Bilderbuch Krieg dem Kriege! aus dem Jahre 1924 vorlegte. Dort ist unter dem Titel »Ein kleiner Franzosenscherz« zum Beispiel ein Schädel zu sehen, der auf ein Holzkreuz gespießt wurde, ihm gegenüber auf Bajonette gespießte Menschenköpfe, und darunter, als äußerst ironische subscriptio: »Die edelsten Tugenden der Menschen entfalten sich im Krieg!« [Abb. 5 und 6].40 Wenn Brecht in seinem Arbeitsjournal vom Juli 1941 die allegorische Vision eines idealisierten Amerika einführt, verbindet er sie in einer ›grausamen Montage‹ sogleich mit einem Foto, auf dem sein Freund Lion Feuchtwanger hinter dem Stacheldraht eines französischen Konzentrationslagers zu sehen ist.41 Im Lichte der Überlegungen Ivernels bleibt jedoch weiterhin die Frage erlaubt, ob diese Brechtschen Verfahren der ›historischen‹ Montage nun über einen ›allegorischen‹ Gehalt verfügen oder nicht. Liegt es nicht auf der Hand, dass diese beiden Termini, Allegorie und Geschichte, sich gegenseitig ausschließen? Ist die Allegorie nicht ebenso zeitlos und allgemein wie die Geschichte datiert und einzigartig ist? Zum Glück erweist sich auch hier die theoretische Fruchtbarkeit des Denkens Benjamins, mit dessen Hilfe wir Was zwischen zwei Bildern passiert
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5 Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege!, 1924.
diese Frage auf mindestens zwei Ebenen angehen können. Zum einen hat Benjamin selbst eine Interpretation von Brechts Exilgedichten vorgelegt, und zwar bereits kurz nach ihrer Entstehung: Es handelt sich um eine im Wesentlichen ›dialektische‹ Interpretation, denn sie erklärt diese Kriegslyrik zu einem Werk von ›Worten des Überlebens‹, das heißt zu einem Werk reiner historischer Gegenwart, gleichzeitig aber auch zu einem Werk von ›überlebenden‹ beziehungsweise ›nachlebenden Worten‹, das heißt zu einem Werk einer unreinen, einer wiedererinnernden Gegenwart. Brecht, so Benjamin, schreibe seine Kriegsfibel unter Verwendung von »Worten, denen ihrer poetischen Form nach zugemutet wird, den kommenden Weltuntergang zu überdauern«: 42 Worte, die in der Gegenwart im Hinblick auf eine – wenn möglich – bessere Zukunft ausgesprochen werden. Es seien jedoch auch »primitive Worte«, fügt Benjamin in Bezug auf den epigrammatischen Stil hinzu: »lapidare« Worte, ebenso kurz wie zeitlos, wie man sie auf antiken Georges Didi-Huberman
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Grabmälern findet, womit der Stil des Horaz beinahe als mögliche Antwort selbst auf Gestapoagenten erscheint.43 Diese Art der Reflexion wendet Benjamin in Wirklichkeit auf das Gesamtwerk Brechts an. »Die Formen des epischen Theaters entsprechen den neuen technischen Formen, dem Kino sowie dem Rundfunk«; dabei verkörpern sie gleichwohl »das Vermächtnis des mittelalterlichen und barocken Dramas«.44 Das klingt paradox, doch im Zusammenhang mit diesem »neuen Theater[ ]« wird man »nicht ohne Überraschung feststellen, wie hoch hinauf sein geschichtlicher Ursprung reicht«.45 Aufgrund seiner Arbeit über das Drama und die Allegorie des Barock war Benjamin in der Lage, Brecht selbst über diesen »geschichtlichen Ursprung« aufzuklären, indem er ihm zum Beispiel die Schriften Baltasar Graciáns nahebrachte.46 Wir müssen die Darlegungen Benjamins über die barocke Allegorie nun also noch einmal lesen, diesmal auf der Ebene Was zwischen zwei Bildern passiert
6 Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege!, 1924.
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einer Geschichte der Sprache und der Formen, verstanden als ›Geschichte des Nachlebens‹; anschließend können wir dann die Frage nach der modernen Allegorie bei Brecht ihrerseits neu stellen: »Die Allegorie, sowenig wie viele andere Ausdrucksformen, ist durch ›Veralten‹ nicht schlechtweg um ihre Bedeutung gekommen. Vielmehr spielt hier wie oft ein Widerstreit zwischen der früheren und späteren mit, der um so eher im stillen sich auszutragen geneigt war, als er begrifflos, tief und erbittert war.«47 Was heißt das in unserem Kontext anderes, als dass die metaphysische Zeitlosigkeit der heiligen Allegorien bei Brecht nur in der Form eines begrifflosen Widerstreits zwischen der Allegorik und ihrer Ins-Werk-Setzung ›nachlebt‹, die gänzlich der profanen Zeitlichkeit der Geschichte geweiht ist? Dieser Konflikt bestand jedoch bereits in der Barockzeit: Alles, was Benjamin hier aufwirft, läuft auf die Frage hinaus, ›was die Allegorie aus der Geschichte macht‹ oder ›der Geschichte antut‹, und zwar bis in ihre phantastischsten oder rätselhaftesten Bedeutungsspiele hinein. Dazu gilt es in der Allegorie zunächst einmal eine moderne Nachfolgerin jenes Geschichtsbezugs zu erkennen, dessen »klassische« Formulierung seit der Antike das Epos – das andere große Paradigma Brechts – geliefert hatte: »Das Epos ist in der Tat die klassische Form einer Geschichte der bedeutenden Natur wie die Allegorie ihre barocke.«48 Damit gilt: »Das geschichtliche Leben wie es jene Epoche sich darstellte ist sein [d. i. des Trauerspiels] Gehalt.«49 Aber in welcher Form? Vor allem in Form einer »Verschränkung«, die durch die Allegorie verdichtet wird.50 Dazu ›unterbricht‹ die Allegorie den chronologischen Ablauf der Handlung: Sie ist in den Zwischenspielen des barocken Dramas zu beobachten, in denen ein Aspekt auf den Plan tritt, den Benjamin als »exegetisch« bezeichnet, der jedoch die Geschichte durch ihre Vergegenwärtigung selbst ›säkularisiert‹: »Denn fürs Vergegenwärtigen der Zeit im Raume – und was ist deren Säkularisierung anderes, als in die strikte Gegenwart sie wandeln? – ist Simultaneisierung des Geschehens [im allegorischen Zwischenspiel der barocken Dramen] das gründlichste Verfahren.«51 Die Allegorie setzt diese Unterbrechung des chronologischen Kontinuums dann auf der räumlichen Ebene fort: Sie Georges Didi-Huberman
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›zerstückelt‹ die Natur, indem sie Partialobjekte, »amorphe Einzelheiten« zur Schau stellt, indem sie eine »hochfahrende Ostentation« des leblosen »banalen Gegenstands« betreibt.52 Die Montage dieser »Stillleben« macht den Gegenstand dann zum Emblem, in dem »der Augenblick des Ausdrucks […] mit einer wahren Bilderuption« zusammentrifft, als deren Folge die Menge der Bilder »chaotisch ausgestreut liegt«.53 Diese Zerstückelung, die wir bei der Betrachtung der Collagen aus dem Arbeitsjournal oder der Tafeln der Kriegsfibel selbst in Augenschein nehmen konnten (ein Handschuh auf einem Kreuz, verstreut herumliegende Helme, Krücken mit einem Regenschirm, Zwiebeln mit einer Prothese, ein Schädel auf dem Geschützturm eines Panzers…), hat nun folgende Konsequenz: »Die Geschichte [wandert] in den Schauplatz hinein«…, allerdings in Form der ›Ruine‹, der Überreste, der Lücke, des versetzten oder archäologischen Objekts.54 Daher besteht, jenseits aller metaphysischen Reflexion über die Nichtigkeit der irdischen Dinge, der fundamentale ›Gestus‹ der Allegorie in der »Traurigkeit«, der Betrübnis, der Trauer über die Geschichte der Menschen.55 Daher »wird die Leiche oberstes emblematisches Requisit schlechthin«,56 insbesondere aber der Totenkopf: »In der Allegorie [liegt] die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus.«57 Aus ebendiesem Grunde geht die Imagination des Kriegs schließlich unweigerlich mit der Erzeugung solcher Allegorien einher. Es ist ein geschichtliches Faktum: Ganz am Anfang unserer europäischen Moderne liefern der Krieg und die Politik die Grundlage für den bildlichen Ausdruck der Embleme. Als erste Zusammenstellung dieser Art gilt Claude Paradins Sammlung Devises héroïques aus dem Jahre 1551.58 Robert Klein erinnert gleich zu Beginn seiner hervorragenden Studie über die imprese der Renaissancezeit daran, dass »[…] Giovio in einer berühmten Passage seines um das Jahr 1550 verfassten Dialogo dell’imprese militari et amorose berichtet, dass diese Mode in Italien zunächst durch Hauptleute Karls VIII. eingeführt und dann zunächst von italienischen Heerführern nachgeahmt worden sei, die auf ihre Waffen und ihre Banner imprese zeichneten und sie Was zwischen zwei Bildern passiert
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ihren Männern gaben, damit sie im Getümmel zu erkennen wären, sowie um ihren Mut anzustacheln«.59 Unter diesem Blickwinkel erscheint Brechts Kriegsfibel als ein modernes ›Unternehmen‹ (impresa) oder ›Vorhaben‹ (eine devise), das im Getümmel zu erkennen geben soll, wer wer ist, wer der Gute ist, und wer nicht weiß, dass er der Böse ist, wer hochmütig und wer wahrhaft mutig ist. Im 19. und 20. Jahrhundert hatte man nicht aufgehört, sich für die Darstellung des Krieges der Allegorie zu bedienen. In dieser Ikonografie rücken vor allem ungezählte Schädel oder Skelette in den Vordergrund – sei es in abschreckender, sei es in satirischer Absicht.60 Zu Brechts Zeiten dienten dadaistische Montagen als politische Allegorien, bis John Heartfield dieser Gattung im Kampf gegen die Nazis zu ihrer vollen polemischen Durchschlagskraft verhalf.61 Ein so offen politisches Werk wie Deutschland, Deutschland über alles, 1929 von Kurt Tucholsky verfasst und von John Heartfield ›fotomontiert‹, hat bestimmte fotografische Dokumente durchaus als ›Allegorien‹ eines Kriegsdenkens präsentiert.62 Als Brecht 1955 seine Kriegsfibel veröffentlichte, war Picassos Friedenstaube bereits seit 1949 als »ständiges Theaterzeichen« auf den Bühnenvorhang des Deutschen Theaters genäht.63 III
Pathos, Immanenz
Zwei Vorurteile, die man mit dem Begriff der Allegorie verbindet, hat Walter Benjamin im Rahmen seiner Überlegungen zum Barockdrama grundsätzlich in Frage gestellt. Die Zeitlosigkeit und die Transzendenz der Allegorie werden entkräftet, sobald Benjamin die ›politische Immanenz‹ dessen zeigen kann, was sich in den Bedeutungsspielen der Allegorien als besonders kryptisch, hieroglyphisch oder ›numismatisch‹ erweist: »Haftet doch der Natur, die da ›geschichtlich geprägt‹, nämlich Schauplatz ist, durchaus etwas Numismatisches an.«64 Damit ist nun ein gemeinsames Verständnis sowohl des Rätselcharakters der Allegorie als auch ihres historischen Gehalts möglich, mit dem sie der öffentlichen und politischen Sphäre angehört. Wenn Brecht in seiner Kriegsfibel auf rätselhafte Weise das Meer von den Stimmen Ertrunkener widerklingen lässt,65 kommt das dieser paradoxen Verbindung ziemlich nahe, die seine ikono-grafische Montage ermöglicht, die ebenso dokumentarisch wie allegorisch ist. Darüber hinaus ist es Benjamin zweitens gelungen, die Allegorie von ihrem alten Ruf der Georges Didi-Huberman
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Kälte zu befreien. Die Unklarheit der Exegese und die Komplexität der Bedeutung der Allegorien – bei denen »jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis […] ein beliebiges anderes bedeuten« kann66 – müssen in Wirklichkeit im Rahmen einer ›expressiven Immanenz‹ verstanden werden, wodurch stets auch ›affektive Prägung‹ im Spiel ist: »Die Allegorie […] ist nicht Konvention des Ausdrucks sondern Ausdruck der Konvention. Ausdruck der Autorität mithin, geheim der Würde ihres Ursprungs nach und öffentlich nach dem Bereiche ihrer Geltung. Und wiederum die gleiche Antinomik ist’s, die bildnerisch begegnet im Konflikt der kalten schnellfertigen Technik mit dem eruptiven Ausdruck der Allegorese. Auch hier eine dialektische Lösung.«67 Dies war gegen die »undialektische Denkweise der neukantischen Schule« gerichtet.68 Daher wagt Benjamin auch recht schnell einen Vergleich zwischen der barocken Allegorie in ihrem »unablenkbaren Kunstwollen« und den expressionistischen – wenn nicht gar dadaistischen oder surrealistischen – Produktionen der 1920er Jahre.69 So finden ›Geschichte‹ und ›Pathos‹ schließlich darin zusammen, die Welt entschlossen – und melancholisch – als eine große »Leidensgeschichte« zu betrachten: »Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt.«70 Dieser pathetische Geschichtsbegriff entspricht genau jenem Aufruf Bertolt Brechts aus dem Jahre 1952, den Klaus Schuffels und Philippe Ivernel der französischen Ausgabe der Kriegsfibel71 als Motto voranstellten: »Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Greueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben. Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht naß, sagen viele. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben […]. Laßt uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt wurde! Laßt uns die Was zwischen zwei Bildern passiert
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Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.«72 Wie nach Benjamin die oberste politische Funktion des Denkers und des Historikers darin besteht, die Erinnerung zur »Warnung vor [kommenden] Bränden« zu verwenden,73 so obliegt es nach Brecht dem Dichter und dem Dramaturgen, »die Vorstellungskraft für kommende Leiden« auf der Grundlage eines »Gedächtnisses für erduldete Leiden« immer wieder neu in Szene zu setzen. Auf diese Weise wird ›die Frage der Poesie‹ neu gestellt, und zwar in ihrer lyrischen Geste wie in ihrem pathetischen Gehalt sowie ihrer epischen und politischen Funktion. Am 5. April 1942 etwa vermerkt Brecht in seinem Arbeitsjournal die Ohnmacht, die er als Produzent lyrischer Worte angesichts des laufenden Krieges verspürt: »solche lyrik ist flaschenpost«… Was hier zum Ausdruck kommt, ist jedoch nichts anderes als die politische Verantwortung des Dichters: »die schlacht um smolensk geht auch um die lyrik.«74 Genau unter diesen Satz hat Brecht jedoch ein erschütterndes Foto geklebt, auf dem zwei Mütter schreiend um ihre toten Kleinkinder klagen, die sie inmitten der Trümmer des Bombardements von Singapur am 7. Dezember 1941 in ihren Armen halten. Dieses Dokument scheint ihm so zu Herzen gegangen zu sein, dass er es später zu einer zentralen Tafel der Kriegsfibel machen wird [Abb. 7]. Als solche ist es dann in bezeichnender Weise Teil eines ganzen Netzes von ›Pietà-Situationen‹: von deutschen Bomben bedrohte Kinderwägen in London; vom Schmerz gezeichnete, aus dem Meer gefischte junge Jüdinnen; russische Frauen, die in der Stadt Kertsch die Leichen ihrer ermordeten Söhne finden.75 Es ist kein Zufall, dass die Klage der Mütter von Singapur in einer Sequenz extremer Kontraste Position bezieht, denn die folgende Tafel der Kriegsfibel zeigt die arrogant-abstoßende Gleichgültigkeit eines amerikanischen Soldaten, der vor dem Leichnam eines gefallenen Japaners posiert.76 Sollte es da verwundern, dass Brecht diese Art ›verlängerten Schrei‹, diese in einen Fluch verwandelte Klage, deren großen pathetischen ›Gestus‹ Helene Weigel so gut zum Ausdruck brachte, zu einem Schlüsselmoment seiner Inszenierung der Mutter Courage machte [Abb. 8]?77 Georges Didi-Huberman
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Wir begreifen nun, wie notwendig es für Brecht war, dem – anthropologischen, ästhetischen, politischen – Problem des ›Gedächtnisses der Gesten‹ Aufmerksamkeit zu schenken. Wie er im Rückgriff auf das Epos, jene griechische Gattung, die älter ist als die Tragödie, eine ›nichtaristotelische Dramaturgie‹ erfindet, verwendet Brecht seine ikonografische Dokumentation des gegenwärtigen Krieges als Schneidetisch, als Atlas, auf und in dem geografische und historische Bewegungen der menschlichen Gestik und des menschlichen Affekts zu entdecken und zu rekonstruieren sind, die die Politik im Körper jedes Einzelnen hervorruft. Ohne jene Begriffe zu kennen – so hat es zumindest den Anschein –, die Aby Warburg in die Kunstgeschichte eingeführt hatte, sollte Brecht in seinem Arbeitsjournal wie in der Kriegsfibel oder seinen Theatermodellen also ein ganzes Netz von ›Pathosformeln‹ knüpfen, in dem der Schmerz einer Indonesierin aus dem Jahre 1941 den physischen ›Gestus‹ von Mutter Courage hervorrufen konnte, all dies über den – natürlich anachronistischen – Umweg einer Reflexion über das Verhältnis zwischen Tragik und Epik, wie sie für ein Theaterstück wie Antigone von zentraler Bedeutung ist, oder auch für ein Gedicht wie Die Medea von Lodz: »Zwischen Tram und Auto und Hochbahn Wird das alte Geschrei geschrien 1934 In unserer Stadt Berlin.«78 Man bräuchte vermutlich ein ganzes Buch, um die ständige Spannung oder den ständigen Widerspruch zwischen dem ›Pathos‹ und der ›Formel‹ bei Brecht zu entwirren, oder anders ausgedrückt die ständige Schwierigkeit, zugunsten der ›epischen Geste‹ auf die ›tragische Geste‹ zu verzichten. Die Brecht-Orthodoxie möchte bekanntlich mit aller Gewalt einen Gegensatz herstellen zwischen der ›Empathie‹ des Tragischen – und wie könnte man angesichts einer derart pathetischen Geste wie der einer vor dem Leichnam ihres Kindes klagenden Mutter der Empathie entgehen? – und der ›Verfremdung‹ [distanciation] des Epos. In der Inszenierung der Mutter Courage fand die Hinrichtung von Schweizerkas in der Kulisse statt, um Distanz zu schaffen, um die Empathie zwischen Mutter und Kind einerseits, sowie zwischen dem dargestellten Schmerz und dem Publikum andererseits zu dekonstruieren. »Von weither hört man Trommeln [des Hinrichtungskommandos]«, schreibt Brecht in seiner Regieanweisung. Und er präzisiert: Was zwischen zwei Bildern passiert
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7 Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955.
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8 Bertolt Brecht, Couragemodell, 1949.
9 Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955.
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»Der Feldprediger steht auf und geht nach hinten. Mutter Courage bleibt sitzen. Es wird dunkel. Das Trommeln hört auf. Es wird wieder hell. Mutter Courage sitzt unverändert.«79 Heißt das, dass der Pietà durch eine solche Verfremdung das ›Pathos‹ ausgetrieben wird? Diese Ansicht vertritt Philippe Ivernel im Anschluss an Roland Barthes, der sich auf folgende Szene berief: »Der Rücken des Feldpredigers, der sich aus Scham oder Ohnmacht entfernt; dieser gebeugte Rücken, der sich zurückzieht, empfängt gewissermaßen den ganzen Schmerz der Mutter, der an sich bedeutungslos ist.«80 Wenn das wahr wäre – aber kann man vom Schmerz einer Mutter, die, wenn auch von ferne, ihr Kind sterben hört, sagen, dass er »an sich bedeutungslos« ist? –, müsste man akzeptieren, dass die Körper schweigen, damit irgendeine politische Botschaft zum Ausdruck gebracht werden kann; müsste man postulieren, dass die Geschichte reine Transzendenz ist und unsere affektiven Immanenzen auf dem Wahrheitsmarkt keinerlei Auswirkung haben. Dann dürfte, »aus Scham«, wie Barthes sagt, in einer Darstellung der ›Leidensgeschichte‹ das Leid selbst keinen Platz mehr haben. Nun zeigt sich aber, dass eine solch kategorische Entscheidung nicht nur unmöglich ist, sondern durch die ästhetische Entscheidung Brechts und Helene Weigels selbst widerlegt wird: Der reglos stumme Schrei von Mutter Courage ist nicht weniger bedeutungsvoll als ein herzzerreißendes Brüllen, er ist nicht weniger ›pathetisch‹ und ›pietà-tisch‹ als das Geheul Medeas oder der Protest Antigones. Er ist reglos und stumm, gewiss. Aber er präsentiert sich exakt als ein ›fotografierter Schrei‹ oder ein zur Statue erstarrter Schrei, das heißt als ein Schrei, der in seiner »Dialektik im Stillstand«81 gezeigt wird, kurz: als ein Schrei, der absichtlich in seinem ›Bild‹ exponiert, belichtet und zur Schau gestellt wird [exposé]. Daher erfüllen Brechts Sammlungen ikonografischer ›Dokumente‹ nicht nur ihre historische Funktion, sondern auch einen heuristischen Zweck, der darin besteht, eine neue theatralische und ›lyrische‹ Zugangsweise zum Leid der Welt zu finden. Dieser pathetische Gehalt ist den Tafeln der Kriegsfibel inhärent. Die Bilder zeigen das Leid in Zeiten des Krieges nämlich in aller Grausamkeit in seiner ›singulären‹ Gestalt: in der Erschöpfung der zu Sklaven herabgewürdigten Arbeiter und Gefangenen, in der Angst der Zivilbevölkerung, im Schrecken, der sich auf den Gesichtern der Soldaten selbst abzeichnet, in der Entkräftung der Verwundeten, im leeren Blick der Kinder oder im flehenden Schrei Georges Didi-Huberman
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der Frauen. All dies wird durch die lyrischen Epigramme nicht nur perspektiviert, sondern auch ›personifiziert‹, wie sich an den Gedichten feststellen lässt, die unter die Klagebilder gesetzt wurden [Abb. 7 und 9]: »O Stimme aus dem Doppeljammerchore Der Opfer und der Henker in Fron! Der Sohn des Himmels, Frau, braucht Singapore Und niemand als du selbst brauchst deinen Sohn.« »Und alles Mitleid, Frau, nenn ich gelogen Das sich nicht wandelt in den roten Zorn Der nicht mehr ruht, bis endlich ausgezogen Dem Fleisch der Menschheit dieser alte Dorn.«82 Gewiss, alles Mitleid wird »gelogen« sein, wenn es sich nicht in »roten Zorn« zu verwandeln weiß. Das heißt jedoch, dass ›Pathos‹ und Mitleidsgefühl, vom Standpunkt des realen Handelns in seiner politischen Notwendigkeit aus gesehen, nie genügen. Wenn sich das ›Pathos‹ in ein ›Ethos‹ verwandeln, in ihm sich fortsetzen soll, heißt das aber gerade nicht, es aus dem politischen Spiel herauszuhalten, im Gegenteil. Nicole Loraux hat bezüglich der griechischen Tragödie gezeigt, inwiefern der Schrei der trauernden Mütter, so ›antipolitisch‹ er in seiner rein dionysischen Manifestation auch erscheinen mag, in der Gesamtökonomie der polis gleichwohl eine wesentliche Funktion erfüllt. 83 Sollte es im Übrigen Zufall sein, dass die beiden Autoren, die diese konstitutive Rolle des ›Pathos‹, ja des ›Mitleids‹ im Werk Brechts am besten verstanden, zwei Frauen waren, die ein Gespür für die körperliche Dimension aller Manifestation von Politik besaßen? 1955 erkannte Ruth Berlau im grundlegenden ›Gestus‹ Brechts eine Verbindung von »Wahrheit, Freundlichkeit [und] Menschenliebe«: Wenn der Autor der Mutter Courage Mitleid verspürt habe, dann ein ›hartes Mitleid‹, denn »seine Liebe zu den Menschen oder – wie er lieber sagt – zu Leuten ist nicht bedingungslos, sie ist hart und bedingt: Die Dummheit muss ausgerottet werden«.84 Hannah Arendt erkannte, dass am Ursprung der Brechtschen Lyrik – und sogar seiner Lehrstücke – eine überaus tiefe Bewegtheit stand, der ›Gestus des Mitleids‹: »Was Brecht zur Wirklichkeit zurückbrachte und seiner Dichtung fast tödlich wurde, war die Fähigkeit mitzuleiden […]. In dem Gedicht ›An die Nachgeborenen‹, das von den Was zwischen zwei Bildern passiert
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›finsteren Zeiten‹ handelt, spricht er von dem Hunger, der herrschte, als er in die Welt kam: ›Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast! / Aber wie kann ich essen und trinken, wenn / Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und / Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?‹ […] Brecht jedenfalls hat kaum etwas anderes so sehr zu verbergen getrachtet als die Leidenschaft, an der er am meisten litt, die Leidenschaft des Mitleids. Und gerade um dieser Verborgenheit willen leuchtet sie uns so überzeugend aus nahezu allen seinen Stücken hervor.«85 Mitleid: schmerzhafte Dialektik, dialektische Wirkung des Leids des Anderen auf jeden Einzelnen. Eben das, womit uns alle als ›Leidensgeschichte‹ verstandene politische Geschichte konfrontiert. Selbst ein Autor epischer Lehrstücke entgeht dieser intimen Tragödie nicht. So schreibt Arendt: »Leitmotiv in Brechts Werk ist die Versuchung, gut zu sein in einer Welt und unter Umständen, die Güte unmöglich machen. Der dramatische Konflikt in Brechts Stücken ist fast immer der gleiche: Diejenigen, die von Mitleid getrieben darangehen, die Welt zu verbessern, können es sich nicht leisten, gut zu sein.«86 Ist das Mitleid nicht eine unglückliche Form politischer Ohnmacht, ein zerrissenes Bewusstsein, wie Hegel gesagt hätte? Hannah Arendt hingegen denkt, dass sein innerer Konflikt ein Paradigma in Gang setzt, das allem revolutionären politischen Denken zugrunde liegt: »Was in keinem Geschichtsbuch über die Neuzeit steht, hat Brecht entdeckt, weil es für ihn selbstverständlich war: nämlich, daß alle Revolutionäre der letzten Jahrhunderte von Robespierre bis Lenin aus der Leidenschaft des Mitleids heraus handelten, dem ›zèle compatissant‹ Robespierres […]. ›Die Klassiker‹, sagt Brecht, ›waren die mitleidigsten aller Menschen‹ (und in Brechts verschlüsselnder Sprache sind die Klassiker bekanntlich Marx, Engels und Lenin); sie unterscheiden sich von ›unwissenden Naturen‹ dadurch, daß sie Mitleid sogleich in ›Zorn verwandelten‹. […] hat es viele unter den Männern der Revolution gegeben, die das Mit-leiden ins Handeln trieb und die wie Brecht sich dieser mächtigen Leidenschaft schämten und Georges Didi-Huberman
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sie hinter wissenschaftlichen Theorien und kaltschnäuzigen Redensarten zu verbergen trachteten.«87 Man könnte nun sagen, dass das in Zorn verwandelte Mitleid uns dazu bringt, ›Position zu beziehen‹, dass wir uns aber allzu oft in Widersprüche verwickeln, wenn die notwendige Organisation des Zorns nur dazu führt, ›Partei zu ergreifen‹, was soweit gehen kann, entgegen jeglicher elementaren Güte zu handeln. Als zum Beispiel »[…] die [kommunistische] Partei im Jahre 1929, nach Stalins Ankündigung der Liquidation der rechten und linken Oppositionen auf dem 16. Parteikongreß, anfing, ihre eigenen Mitglieder zu liquidieren, war Brecht linientreu genug, um zu meinen, die Partei bedürfe nun aber auch einer Rechtfertigung zum Liquidieren in den eigenen Reihen und zum Töten unschuldiger Menschen. In der Maßnahme wird gezeigt, wie und aus welchen Gründen gerade die Unschuldigen, die Menschlichen und die Hilfreichen daran glauben müssen; sie handelt von dem Mord an einem Genossen durch seine Kameraden, der ganz offenbar menschlich gesprochen der Beste von ihnen war. Weil er ein so guter Mensch ist, stellt sich heraus, daß er der Revolution im Wege steht und umgebracht werden muß. Als dies Stück zu Beginn der dreißiger Jahre in Berlin uraufgeführt wurde, war alle Welt empört. Heute wissen wir, daß, was Brecht in diesem Stück sagt, nur der kleinste Teil der furchtbaren Wahrheit ist; damals aber, Jahre vor den Moskauer Prozessen, konnten dies nur wenige wissen. Und diese wenigen, die damals schon innerhalb und außerhalb der Partei erbitterte Gegner Stalins waren, waren natürlich außer sich darüber, daß Brecht ein Stück zur Verteidigung Moskaus verfaßt hatte, während die Stalinisten wiederum alles Interesse daran hatten, zu bestreiten, daß dies ›Machwerk‹ irgend etwas mit den russischen Realitäten zu tun habe.«88 Nun können wir sie besser beschreiben, die unmögliche Haltung Brechts – doch sind sowohl der Künstler als auch der Denker gerade an das Unmögliche gehalten –, die irgendwo zwischen diesen beiden Aspekten angesiedelt ist: Partei zu ergreifen oder Position zu beziehen. Während das ›Parteiergreifen‹ als ein Schutz gegen pure Was zwischen zwei Bildern passiert
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Emotionen funktionieren kann, die das politische Handeln gegebenenfalls in einer Haltung erstarren lassen, in der man ohnmächtig und larmoyant auf die Welt blickt, kann man, indem man ›Position bezieht‹, der doktrinären Bewegung der Partei auch widersprechen, und zwar genau dort, wo das ›Pathos‹ nichts mehr gilt und nur mehr als Hindernis betrachtet wird. Das wäre die innere Grenze der zum Dogma erhobenen Brechtschen Verfremdung. Die Verfremdung ist natürlich notwendig, allerdings in ihrem unablässigen ›Spiel‹, in ihrer Dialektik mit der Nähe des ›Pathos‹. Daher konnten, nebenbei bemerkt, Jean-Marie Straub und Danièle Huillet erklären, dass auch sie in der Schuld der Brechtschen Verfremdung stünden, unter der Bedingung jedoch, dass Hölderlin und sein ›Pathos‹, sein tragischer Lyrismus nicht einseitig außer Kraft gesetzt werden.89 In einer Reihe von Texten über Kunst und Politik, die zwischen 1933 und 1938 entstanden, hat Brecht selbst betont, dass Emotionen als solche – etwa die Schreie der Frauen, deren Bilddokumente er auf die weißen Seiten seines Arbeitsjournals oder die schwarzen Tafeln seiner Kriegsfibel klebte – in die Versuchsanordnung jeder modernen Dramaturgie integriert werden müssen: »Das gilt auch von den Gefühlsregungen, welche vom Verstand noch nicht geordnet sind und doch auch so, in ungeordnetem Zustand, einkalkuliert und verwendet werden müssen, sowohl vom Politiker als auch vom Künstler. Allerdings heißt schon: sie verwenden und einkalkulieren, daß der Verstand mit ihnen allerlei macht, Provisorisches, Versuchsweises.«90 Brecht behauptet hier treffend, dass die Einfühlung in den Anderen nicht die einzige Quelle und das einzige Schicksal der Emotion sei. Man braucht sich nicht vorzustellen, selbst Mutter zu sein oder sich am 7. Dezember 1941 auf den Straßen Singapurs oder am 27. April 1942 in der russischen Stadt Kertsch zu befinden, um vom Schrei der trauernden Frauen bewegt zu werden, den Brecht dokumentiert hat [Abb. 7 und 9]: »Die Verwerfung der Einfühlung kommt nicht von einer Verwerfung der Emotionen und führt nicht zu einer solchen. Es ist geradezu eine Aufgabe der nichtaristotelischen Dramatik, nachzuweisen, daß die These der Vulgärästhetik, Emotionen könnten nur auf dem Wege der Einfühlung ausgelöst werden, falsch ist. Jedoch hat eine nichtaristotelische Dramatik die durch sie bedingten und die Georges Didi-Huberman
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in ihr verkörperten Emotionen einer vorsichtigen Kritik zu unterwerfen. […] Jedoch zeigt gerade die rationellste Form, [hier das dokumentarische Bild, dort] das ›Lehrstück‹, die emotionalsten Wirkungen.«91 Der Dialektiker darf bei all dem jedoch die ›historische und politische Immanenz des Pathos‹ nicht vergessen, in welcher Form auch immer es auftritt: »Die Emotionen haben immer eine ganz bestimmte klassenmäßige Grundlage; die Form, in der sie auftreten, ist jeweils historisch, spezifisch, begrenzt und gebunden. Die Emotionen sind keineswegs allgemein menschlich und zeitlos.«92 So spricht der Materialist, irgendwo zwischen Marx und Mauss (dem mit dem »obligatorischen Ausdruck der Gefühle« vor allem),93 aber auch zwischen Nietzsche und Warburg (dem Nietzsche der Genealogie und dem Warburg der ›Pathosformel‹). Daher müssen die Emotionen, wie die Bilder, die ihnen Gestalt verleihen, vor allem mit einem ›vergleichenden‹ Blick betrachtet werden.94 Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
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Endnoten *Im Orig. exposer: Der schillernde Begriff läßt sich nur schwer einheitlich ins Deutsche übertragen; im vorliegenden Zusammenhang werden vor allem die Aspekte »veranschaulichen«, »vor Augen führen« und »zur Schau stellen« aktiviert; darüber hinaus schwingt, insbesondere beim Substantiv exposition, stets der Begriff position mit und ist jeweils mitzudenken; vgl. auch den Ausdruck prendre position, »Position beziehen«, der hier bisweilen durchaus im doppelten Sinne von »Positionierung« und »Stellung nehmen« zu verstehen ist. Später tritt noch der Begriff interposition hinzu [A.d.Ü.]. 1 Vgl. Charles Baudelaire, Morale du joujou [1853], in: ders., Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, Bd. 1, Paris 1975, S. 587 (deutsch: Moral des Spielzeugs, übers. v. Friedhelm Kemp, in: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd. 2, München 1983, S. 196 – 203, hier S. 203). 2 Walter Benjamin, Brief an Bertolt Brecht vom 21. 05.1934, in: ders., Briefe, hg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1978, S. 609. 3 Walter Benjamin, Was ist das epische Theater? [erste Fassung], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Bd. II.2, S. 519 – 531, hier S. 531. 4 Walter Benjamin, Einbahnstraße [1928], in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. IV.1, S. 83 –148. 5 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. I.1, S. 203 – 409, hier S. 212 [Hervorhebung GDH; »Kunst des Absetzens« im Französischen mit art du discontinu übersetzt; A.d.Ü.]. 6 Ebd., S. 214 [»Sternbilder« im Französischen mit constellations übersetzt; A.d.Ü.]. 7 Ebd., S. 218. 8 Ebd., S. 226 [Im Hintergrund der französischen Begrifflichkeit dieses Abschnitts steht die Polysemie des französischen Verbs monter als »hinaufsteigen/-tragen« und »montieren/zusammensetzen« (wiederholend remonter, »wiederhinaufsteigen/zurücksteigen«, »neu montieren/ummontieren«); la remontée bedeutet »Wiederaufstieg«, auch für eine »Fahrt flussaufwärts«, so dann auch bildlich für das »Zurückgehen« in der Zeit; A.d.Ü.]. 9 Ebd., S. 227. 10 Guy Petitdemange, Le seuil du présent. Défi d’une pratique de l’histoire chez Walter Benjamin, in: Recherches de science religieuse 73/3, 1985, S. 322 (Zusammenfassung), 381 – 400. 11 Vgl. insbesondere Marc Sagnol, Walter Benjamin entre une théorie de l’avant-garde et une archéologie de la modernité, in: Gérard Raulet (Hg.), Weimar ou l’explosion de la modernité, Paris 1984, S. 241 – 254. 12 Walter Benjamin, Fragmente vermischten Inhalts, in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. VI, S. 174 [»Abmontieren« im Französischen mit démontage übersetzt; A.d.Ü.]. 13 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit [1935], Frankfurt a. M. 1962, S. 17. 14 Ebd., S. 15. 15 Ebd., S. 104, 117. 16 Ebd., S. 392. 17 Ebd., S. 104 –164. 18 Ebd., S. 207. 19 Ebd., S. 203. 20 Aby Warburg, Mnemosyne. Grundbegriffe, Bd. 2 (1928 – 1929), London, Warburg Institute Archiv, III, 102 – 4, S. 3. 21 Bloch, Erbschaft dieser Zeit (Anm. 13), S. 221. 22 Ebd., S. 224. 23 Ebd., S. 226. 24 Theodor W. Adorno, Die Kunst und die Künste, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a. M. 1967, S. 158 – 182, hier S. 179.
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25 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal [1938-1955], hg. v. Werner Hecht, 2 Bde., Frankfurt a. M.
1973, S. 662. 26 Aby Warburg, Gesammelte Schriften, Bd. 2.1: Der Bilderatlas Mnemosyne (1927 – 1929),
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hg. v. Martin Warnke und Claudia Brink, Berlin 2003, S. 130 – 133. Vgl. Georges DidiHuberman, L’image brûle, in: Laurent Zimmermann (Hg.), Penser par images. Autour des travaux de Georges Didi-Huberman, Nantes 2006, S. 11 – 52. Bertolt Brecht, Kriegsfibel [1955], hg. v. Barbara Brecht-Schall, Berlin 1994/2008, Tf. 1 und 69. Zu Hitlers Gesicht als einem überdeterminierten Objekt vgl. Claudia Schmölders, Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000. Brecht, Arbeitsjournal (Anm. 25), S. 57 (Gasmasken), 158 (Militäranzüge mit Gasmasken). Brecht, Kriegsfibel (Anm. 27), Tf. 18 und A 15 (Pilotenmasken), 12 (Knebel des erschossenen Widerstandskämpfers), 43, 51 und 56 (Verbände an Verwundeten). Brecht, Arbeitsjournal (Anm. 25), S. 950 (Totenbild Ernst Barlachs). Zu Brechts Totenmaske vgl. Werner Hecht (Hg.), Bertolt Brecht. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt a. M. 2000, S. 312f. Reinhold Grimm, Marxistische Emblematik. Zu Bertolt Brechts Kriegsfibel, in: Renate von Heydebrand und Klaus Günther Just (Hg.), Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende, Stuttgart 1969, S. 351– 379 und Abb. 4 – 5. Vgl. bes. Robert Klein, La théorie de l’expression figurée dans les traités italiens sur les imprese, 1555 –1612 [1957], in: ders., La Forme et l’intelligible. Écrits sur la Renaissance et l’art moderne, Paris 1970, S. 125 –150; Mario Praz, Studies in SeventeenthCentury Imagery, Rom 1964 – 1974; Carsten-Peter Warncke, Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, S. 197– 216. Andrea Alciat, Les Emblèmes [1551], Paris 1997. Vgl. Pierre Laurens, Épigramme, in: Dictionnaire universel des Littératures, hg. v. Béatrice Didier, 3 Bde., Paris 1994, Bd. 1, S. 1108. Zu dieser kanonischen Struktur des Emblems und seinen Varianten vgl. William S. Heckscher, Renaissance Emblems [1954], in: ders., Art and Literature. Studies in Relationship, Durham/Baden-Baden 1985, S. 111–126; Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964; Claudia Balavoine, Le statut de l’image dans les livres emblématiques en France de 1580 à 1630, in: Jean Lafond und André Stegmann (Hg.), L’Automne de la Renaissance, Paris 1981, S. 163 –178; Bernhard F. Scholz, Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien, Berlin 2002, S. 183 – 213. Philippe Ivernel, Passages de frontières: circulations de l’image épique et dialectique chez Brecht et Benjamin, in: Hors-cadre 6, 1987, S. 154. Ebd., S. 154f. Philippe Ivernel, L’œil de Brecht. À propos du rapport entre texte et image dans le Journal de travail et l’ABC de la guerre, in: Michel Vanoosthuyse (Hg.), Brecht 98. Poétique et politique, Montpellier 1999, S. 228. Brecht, Kriegsfibel (Anm. 27), Tf. 44. William Shakespeare, Hamlet. Prinz von Dänemark, Fünfter Aufzug, Erste Szene, übers. v. August Wilhelm Schlegel, in: ders., Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 2, Augsburg 1998, S. 496. Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege! [1924], München 2004, S. 226f. Derselbe Bildtyp bei Brecht, Kriegsfibel (Anm. 27), Tf. 45. Brecht, Arbeitsjournal (Anm. 25), S. 290. Walter Benjamin, Kommentare zu Gedichten Brechts [1938-1939], in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. II.2, S. 539 – 572, hier S. 564 [Von 1936 bis Anfang 1937 verfasste Gedichte sind 1939 unter dem Titel »Deutsche Kriegsfibel« als Teil I der Svendborger Gedichte erschienen. Ein Erstdruck in anderer Anordnung war in Das Wort, Moskau April/Mai 1937, erschienen. Auf diese Gedichte konnte sich Benjamin beziehen, der, Was zwischen zwei Bildern passiert
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1940 in den Selbstmord getrieben, die Publikation des Bild-Text-Bandes der Kriegsfibel 1955 nicht mehr erlebte; A.d.Ü.]. Benjamin, Kommentare zu Gedichten Brechts (Anm. 42), S. 563. Benjamin, Was ist das epische Theater? (Anm. 3), S. 523f. Ebd., S. 523. Vgl. Helmut Lethen und Erdmut Wizisla, Das Schwierigste beim Gehen ist das Stillestehn. Benjamin schenkt Brecht Gracián. Ein Hinweis, in: Theater der Zeit Arbeitsbuch/The Brecht Yearbook 23, 1998, S. 142 – 146. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (Anm. 5), S. 337. Ebd., S. 343f. Ebd., S. 242 – 245. Ebd., S. 344. Ebd., S. 370. Ebd., S. 361. Ebd., S. 349. Ebd., S. 353. Ebd., S. 396 – 398. Ebd., S. 392 – 396. Ebd., S. 343. Claude Paradin, Dévises héroïques, Lyon 1551. Klein, La théorie de l’expression figurée (Anm. 32), S. 125. Zur humanistischen und barocken Emblematik von Tod und Krieg vgl. bes. Arthur Henkel und Albrecht Schöne (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1996, Sp. 1967–1996; John Manning, The Emblem, London 2002, S. 37– 39 und 275 – 320 Vgl. Siegmar Holsten, Allegorische Darstellungen des Krieges, 1870 –1918. Ikonologische und ideologiekritische Studien, München 1976, S. 76 – 86 und 102 –114 (sowie Abb. 234 – 283 und 362 – 429). Vgl. Hanne Bergius, Montage und Metamechanik: Dada Berlin – Artistik von Polaritäten, Berlin 2000, S. 130 –159; Peter Pachnicke und Klaus Honnef (Hg.), John Heartfield, Berlin/Köln 1991. Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles [1929], Hamburg 1973, S. 43. Zum Verhältnis zwischen diesem Buch und der Kriegsfibel Brechts vgl. Hilmar Frank, Blick auf Brechts Kriegsfibel. Zur Ästhetik der Beziehung von Bild und Wort, in: Maria Rüger (Hg.), Kunst und Kunstkritik der dreißiger Jahre. 29 Standpunkte zu künstlerischen und ästhetischen Prozessen und Kontroversen, Dresden 1990, S. 205 – 222. Brecht, Arbeitsjournal (Anm. 25), S. 912 [»ständiges Theaterzeichen« im Französischen mit emblème permanent übersetzt; A.d.Ü.]. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (Anm. 5), S. 349 [Hervorhebung GDH]. Vgl. Brecht, Kriegsfibel (Anm. 27), Tf. 7 (»Achttausend liegen wir im Kattegatt…«). Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (Anm. 5), S. 350. Ebd., S. 351. Ebd., S. 353. Ebd., S. 234 – 237, Zitat S. 235. Ebd., S. 343. Bertolt Brecht, ABC de la guerre, hg. v. Klaus Schuffels und Philippe Ivernel, Grenoble 1985, S. 7. Bertolt Brecht, Zum Kongress der Völker für den Frieden [1952], in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u. a., 31 Bde. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1988 – 2000, Bd. 23 (Schriften 3), 1993, S. 215f. Vgl. Michael Löwy, Walter Benjamin: avertissement d’incendie. Une lecture des thèses »Sur le concept d’histoire«, Paris 2001, S. 19 [die Titelformel geht laut Löwy auf den Abschnitt »Feuermelder« (franz. Avertisseur d’incendie) in Benjamins Einbahnstraße Georges Didi-Huberman
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(Anm. 4), S. 122, zurück; A.d.Ü.]. Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1940], in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. I.2, S. 691–704. Brecht, Arbeitsjournal (Anm. 25), S. 406. Brecht, Kriegsfibel (Anm. 27), Tf. 20, 48 und 59. Ebd., Tf. 39 – 40. Bertolt Brecht, Couragemodell 1949, in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 25 (Schriften 5), 1994, S. 169 – 398, hier S. 318f. Vgl. Roger Pic, Mère Courage et ses enfants: la représentation. Spectacle du Berliner Ensemble au Théâtre des Nations, Paris, 8 et 9 avril 1957, in: Mère Courage et ses enfants, Paris 1957, Abb. 48 – 49 ; sowie die Fotografien von Gerda Gœdhart in: Erdmut Wizisla (Hg.), Bertolt Brecht, 1898 –1998: »… und mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends«. 22 Versuche, eine Arbeit zu beschreiben, Berlin 1998, S. 155 und 169. Bertolt Brecht, Die Medea von Lodz [1934], in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 14 (Gedichte 4), 1981, S. 240. Vgl. auch ders., Mütter Vermißter [um 1916], in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 13, S. 92; ders., Die Antigone des Sophokles [1948], in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 8, 1992, S. 193 – 242; ders., Antigonemodell 1949, in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 25 (Schriften 5), 1994, S. 71–168. Bertolt Brecht, Mutter Courage und ihre Kinder [1939], 3. Bild, in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 6 (Stücke 6), 1989, S. 45. Roland Barthes, Préface à Mère Courage et ses enfants de Bertolt Brecht [1960], in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1: 1942 –1961, hg. v. Éric Marty, Paris 2002, S. 1070 [deutsch: Kommentar (Vorwort zu Brechts ›Mutter Courage und ihre Kinder‹), in: ders., ›Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin‹. Schriften zum Theater, übers. v. Dieter Hornig, Berlin 2001, S. 228 – 252, hier S. 240]. Zitiert und kommentiert in Ivernel, L’œil de Brecht (Anm. 37), S. 230f. Vgl. Walter Benjamin, Passagenwerk, N 3,1, in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. V.1, S. 578. Brecht, Kriegsfibel (Anm. 27), Tf. 39 und 59. Vgl. Nicole Loraux, La Voix endeuillée. Essai sur la tragédie grecque, Paris 1999. Ruth Berlau, Klappentext zur Erstausgabe von Brechts Kriegsfibel (1955); wiederabgedruckt in: Brecht, Werke (Anm. 72), Bd. 12 (Gedichte 2), S. 416 – 418, hier S. 417. Hannah Arendt, Bertolt Brecht [1966], in: dies., Benjamin, Brecht, München 1971, S. 63 –107, hier S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 93f. Ebd., S. 98. Als neuere Analyse des Mitleids bei Brecht vgl. Dorothea Haffad, Das unaufhaltsame Mitleid des Bertolt Brecht, in: Brecht 98. Poétique et politique (Anm. 37), S. 117–127. Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, Le chemin passait par Hölderlin, in: Wolfgang Storch (Hg.), Brecht après la chute. Confessions, mémoires, analyses, Paris 1993, S. 98f. Bertolt Brecht, Das Gebiet der Kunst, in: Brecht, Werke (Anm. 72), Bd. 22.1 (Schriften 2.1), 1993, S. 497f. Bertolt Brecht, Über rationellen und emotionellen Standpunkt, in: ders., Werke (Anm. 72), Bd. 22.1 (Schriften 2.1), 1993, S. 500. Ebd. Vgl. Marcel Mauss, L’expression obligatoire des sentiments (Rituels oraux funéraires australiens) [1921], in: ders., Œuvres, Bd. 3, Paris 1969, S. 269 – 278. Vgl. Georges Didi-Huberman, Quand les images prennent position, Paris 2009 [die deutsche Übersetzung wird im Frühjahr 2011 im Wilhelm Fink Verlag erscheinen; A.d.Ü.].
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Abbildungsnachweis 1 Bertolt Brecht, Kriegsfibel [1955], hg. v. Barbara Brecht-Schall, Berlin 1994/2008, Tf. A13
(ohne Kommentar). 2 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 15. 06.1944: »Pius XII. Rommel und Stab planen Vertei-
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digung / ›… Wenn wir sicher sein könnten.‹ Nazischlachthaus in Rußland / Schnee und Zeit machten das Beweismaterial undeutlich. Vor Pjatigorsk, wo auf dem Rückzug befindliche Deutsche 200 russische Kriegsgefangene und Zivilisten niedermetzelten.«** Berlin, Akademie der Künste, Bertolt-Brecht-Archiv (282/01). Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 25. 07.1943: »Zehn Jahre haben Hitler verändert. Das linke Bild zeigt ihn während einer Ansprache vor seinen Anhängern kurz nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933. Das rechte Bild (aufgenommen im letzten November) zeigt, wie er zu erklären versucht, was mit seinen Armeen in Rußland geschehen ist. Beachten Sie unter anderem den Unterschied in der Taillenweite.« Berlin, Akademie der Künste, Bertolt-Brecht-Archiv (281/12). Bertolt Brecht, Kriegsfibel [1955], hg. v. Barbara Brecht-Schall, Berlin 1994/2008, Tf. 44: »Der Schädel eines japanischen Soldaten, von U.S.-Truppen auf einen ausgebrannten japanischen Tank gespießt. Feuer zerstörte den Rest der Leiche.« Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege! [1924], München 2004, S. 226. Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege! [1924], München 2004, S. 227. Bertolt Brecht, Kriegsfibel [1955], hg. v. Barbara Brecht-Schall, Berlin 1994/2008, Tf. 39. Bertolt Brecht, Couragemodell 1949, Tf. 120a. Berlin, Akademie der Künste, BertoltBrecht-Archiv. Bertolt Brecht, Kriegsfibel [1955], hg. v. Barbara Brecht-Schall, Berlin 1994/2008, Tf. 49: »[…] Dieses Bild wurde aufgenommen, als ein Elternpaar – nach der Wiedereroberung von Kertsch durch die Rote Armee im Februar 1942 zurückgekehrt – den Leichnam ihres Sohnes identifizierte.«
** Die Bildtexte folgen der Übersetzung aus dem Englischen von Günther und Eva Walch
in: Anmerkungen (Ergänzungsband) zu Brecht, Arbeitsjournal (Anm. 25) [A.d.Ü.].
Georges Didi-Huberman
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Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme. Zur historischen Epistemologie von Ludwik Fleck und Michael Polanyi Michael Hagner
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Wer von der wissenschaftlichen Erkenntnis redet, darf von der Sinneswahrnehmung nicht schweigen. Man kann nämlich entweder der Ansicht sein, dass die Sinne den einzig gangbaren Weg zum Wissen markieren; oder man kann umgekehrt argumentieren, dass die Sinne für die Erkenntnis ein Hindernis darstellen oder wenigstens irrelevant sind. Trotz des anhaltenden Bildregens auch in den Wissenschaften vertreten nicht wenige diese letztere Position: Welche Funktion soll die Wahrnehmung noch haben, wenn es um die Generierung, Speicherung, Verarbeitung und Transformation von riesigen Datenmengen geht, für die es leistungsfähiger Computer, neuer Programme und Algorithmen bedarf? Geschenkt, dass aus Datenmengen Bilder generiert werden, wie etwa in den Neurowissenschaften, die den Eindruck eines vermeintlich realistischen Bildes vermitteln. Die wirklichen Fachleute jedoch benötigen weder die Bilder noch ihre eigenen spezifisch visuellen Fähigkeiten; sie interessieren sich eher für die Verteilungsmuster ihrer Messdaten, und dazu benötigt man mathematische Operationen. Sind die Sinne und vor allem das Auge also unwiderruflich ins Hintertreffen geraten? Diese Frage wird nicht erst seit gestern gestellt. Das Verhältnis 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis ist längst ein kontrovers diskutiertes Thema gewesen, bevor es den Computer gab. Schon im 19. Jahrhundert haben sich Astronomen, Biologen und Mediziner mit der Frage auseinandergesetzt, in welcher Weise Teleskope, Mikroskope und Fotoapparate die Wahrnehmung des wissenschaftlichen Gegenstandes beeinflussen.1 Wohl sind Computer auf eine ganz andere Weise Visualisierungsinstrumente als optische Geräte, aber dennoch ziehen sich die beiden eben erwähnten kontroversen Positionen zur Relevanz der Sinne wie ein roter Faden durch die Geschichte der Epistemologie des 20. Jahrhunderts, und sie wurde immer wieder am Beispiel der Apparaturen diskutiert, die im Wesentlichen die Tätigkeit von Naturwissenschaftlern bestimmen, nämlich das mit dem bloßen Auge Unsichtbare in den Bereich der Sichtbarkeit zu überführen. Insofern kommt eine Diskussion über das Verhältnis von Wahrnehmung und Erkenntnis nicht ohne die Frage aus, wie man es mit den Medien halte. Die eine, für das erkennende Subjekt eher freundliche Position besagt, dass die Apparaturen Verlängerungen der Sinnesorgane sind. Es handelt sich um Prothesen, die die ungenügend ausgestatteten Organe unterstützen oder sogar vervollkommnen und – im Falle des Sehsinns – das Unsichtbare sichtbar machen. Diese Position einer apparativ gerüsteten Wahrnehmung findet sich beispielsweise bei Alexander von Humboldt, der im Kosmos von der »Erfindung neuer Organe« sprach, die »den Menschen mit den irdischen Gegenständen wie mit den fernsten Welträumen in näheren Verkehr bringen, welche die Beobachtung schärfen und vervielfältigen«.2 Systematisiert findet sich dieser Standpunkt bei dem Technikphilosophen Ernst Kapp.3 Entscheidend ist hier die Annahme, dass der Wahrnehmungsvorgang durch die Prothese nicht grundsätzlich verändert wird. Wenn die Sinnesorgane aufgrund einer anderen physiologischen Organisation in der Lage wären, Zellen, weit entfernte Sterne und sehr schnell ablaufende Vorgänge ohne apparative Unterstützung wahrzunehmen, würden diese Gegenstände nicht anders aussehen als mit dem Blick durch das Mikroskop bzw. Teleskop oder auf dem Bild, das durch die Kamera festgehalten wird. Die Kamera kann zwar mehr als das Auge, aber nicht etwas grundsätzlich Anderes, selbst wenn die physikalisch-chemischen Vorgänge auf der Netzhaut und auf der Fotoplatte sich ziemlich voneinander unterscheiden. Die andere, für das erkennende Subjekt eher unfreundliche Position besagt, dass die Medien keineswegs nur eine Verlängerung Michael Hagner
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der Sinnesorgane darstellen, sondern in den Wahrnehmungsvorgang fundamental eingreifen. Was wir wahrnehmen, ist ein Effekt der materiellen Konstruktion und Funktion dieser Instrumente. Demnach gibt es ein mediales Apriori der Wahrnehmung und damit der Erkenntnis. Wir sind nicht mehr die Herren unserer Sicht der Welt, die wir an die Instrumente delegiert haben. Die Instrumente sind an die Stelle des Auges getreten oder anders: Sie sind das eigentliche Auge des Wissenschaftlers, der sich nicht mehr auf die trügerischen, unzuverlässigen Sinne stützt. Eine solche Position hat im späten 19. Jahrhundert beispielsweise der Astronom Jules Janssen bezogen, wenn er schreibt, dass die Kamera »die wahre Retina des Wissenschaftlers« darstelle. Die Fotografie vermag für Janssen das, was das Auge nicht leistet, nämlich ein zuverlässiges, speicherbares und reproduzierbares Bild zu erzeugen.4 Während bei Janssen das skopische Element – wenn auch nicht mehr durch das Auge repräsentiert – unangetastet bleibt, kommt es in der Epistemologie5 des 20. Jahrhunderts zu einer radikalen Eliminierung des skopischen Prinzips. Insbesondere Gaston Bachelard hat den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt in radikalen Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung gestellt. Für Bachelard vollzieht sich Erkenntnis stets gegen den Augenschein, gegen das Naheliegende und Kontinuierliche; sie ist das Resultat einer »rupture epistemologique«, also eines Bruches, mit dem eine Trennung von der herrschenden Konvention vollzogen wird. Die zeitgenössische Wissenschaft, und das heißt vornehmlich die Physik, zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit der Vorgeschichte der Sinnesdaten gebrochen hat. Sie denkt durch Instrumente, nicht durch Sinnesorgane.6 Die Radikalität dieser Position besteht darin, dass es nicht einmal mehr darum geht, die Sinnesorgane als Derivate der Instrumente zu charakterisieren; oder umgekehrt anzunehmen, dass die Instrumente einfach nur die besseren Sinnesorgane seien. Vielmehr wird hier behauptet, dass die Sinne am besten aus dem Erkenntnisprozess ausgeschlossen werden. Für die Ausformulierung dieser Epistemologie hat das erhebliche Konsequenzen gehabt, denn diejenige Wissenschaft, die als das große Vorbild galt, an dem sie sich zu orientieren hatte, war die Physik. Auf sie hat sich Bachelard als theoretisch avancierteste Wissenschaft verlassen, und so hat es auch der vom Wiener Kreis ausgehende logische Empirismus oder Positivismus gehalten, um den logischen Aufbau der Welt und die Einheit der Wissenschaften plausibel zu machen.7 Gegen diese die Sinne verabschiedende Epistemologie haben andere 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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Wissenschaftsphilosophen argumentiert, dass die Sinneswahrnehmung sehr wohl eine notwendige Grundlage der Erkenntnis darstelle, oder genauer: dass wissenschaftliche Erkenntnis im Prinzip nicht anders ablaufe als die Sinneswahrnehmung und damit als eine genuin menschliche Tätigkeit anzusehen sei. Insbesondere die von Ludwik Fleck ausgehende Wissenschaftsforschung hat sich auf die Sinnesphysiologie und -psychologie gestützt, um zu zeigen, dass wissenschaftliche Erkenntnis weniger auf dem Weg logischer Prinzipien als auf dem Weg einer Etablierung, Akzeptanz oder Durchbrechung bestimmter Konventionen erzielt wird, wobei diese psychologisch oder soziologisch begründet sein können. Bevor ich diese – nennen wir sie – skopische Epistemologie im Folgenden genauer untersuche, möchte ich die Hinweisschilder, die seit den fünfziger Jahren zu einer Bifurkation in der Wissenschaftsforschung geführt haben, wenigstens kurz beim Namen nennen. Geht es um eine Logik der Forschung oder um eine Psychologie der Erkenntnis? Mit dieser Frage hat Thomas S. Kuhn die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten der Wissenschaftsphilosophie benannt, um die Mechanismen der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erklären. Während die Logik der Forschung darauf vertraut, dass es historisch entwickelte, aber dann intersubjektiv absolut verbindliche Strukturen gibt wie Objektivität, Beweis, Rationalität oder eben Logik, die die Grundlagen der Erkenntnis bestimmen, geht die Psychologie davon aus, dass die Quellen der Erkenntnis im Forscher selbst liegen.8 Mit dieser Differenzierung referiert Kuhn implizit auf die berühmte Unterscheidung zwischen »context of discovery« und »context of justification«, die auf Hans Reichenbach zurückgeht.9 Damit wollte Reichenbach den kontingenten, von Persönlichkeit, Leidenschaft, Intuition und lokalen Umständen geprägten Entdeckungszusammenhang einer wissenschaftlichen Erkenntnis vom logischen, objektiven, rationalen Rechtfertigungszusammenhang abtrennen. Erstere mit all ihren subjektiven Anteilen, zu denen auch die Sinneswahrnehmung zählt, hat nach Reichenbach in der Wissenschaftstheorie nichts zu suchen, weil von dort aus kein Weg zu verallgemeinerbaren Aussagen führt. Modelle für solche Verallgemeinerungen glaubten Reichenbach und andere logische Empiristen wie Rudolf Carnap in physikalischen Sätzen zu finden. Auch Carnap bestreitet keineswegs, dass die Gegenstände der Wissenschaft vom Individuum aus konstituiert werden. Es gibt »individuelle Erlebnisströme«, die ebenso wie Empfindungen und Gefühle schon bei zwei Menschen völlig verschieden sind, Michael Hagner
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woraus folgt, dass sie sich nicht miteinander vergleichen lassen. Zwar gibt es »gewisse Struktureigenschaften«, die für alle Erlebnisströme übereinstimmen, aber genau diese Eigenschaften führt Carnap auf »physikalische Weltpunkte« zurück, das heißt, dass zwischen verschiedenen Konstitutionssystemen, in denen die Erlebnisströme stattfinden, eine eindeutige physikalische Zuordnung besteht. Nur auf diese Weise kann Intersubjektivität hergestellt werden, und die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, intersubjektiv übertragbare Aussagen zu treffen bzw. solche, die es nicht sind, in intersubjektive zu transformieren.10 Carnap und Reichenbach sind also keineswegs so scharfe Kritiker der Sinneswahrnehmung wie Bachelard, denn sie sind nicht der Ansicht, dass das Vertrauen in die Sinne den Erkenntnisfortschritt direkt behindert. Wohl aber sind sie der Überzeugung, dass es ganz anderer Mechanismen als der Sinneswahrnehmung bedarf, um Intersubjektivität herzustellen. Insofern sind sich ansonsten so weit voneinander entfernte Denker wie Bachelard und Carnap doch darin einig, dass die Sinneswahrnehmung innerhalb ihrer jeweiligen Epistemologie bzw. Wissenschaftstheorie keine nennenswerte Rolle spielt. Entsprechend hat sich Bachelard für das, was in der Sinnesphysiologie seiner Zeit passierte, höchstens am Rande interessiert; Carnap hat zwar die Gestaltpsychologie sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen, weil es für ihn durchaus denkbar war, dass die Elementarerlebnisse, die die »Grundelemente unseres Konstitutionssystems« ausmachen, als Gestalten aufzufassen sind,11 aber das ändert nichts daran, dass er im Hinblick auf das Erkenntnisgeschäft den Primat eindeutig auf die Logik gelegt hat. Wie verhält es sich nun mit der entgegengesetzten, der skopischen Epistemologie? Es sei gleich zu Beginn hervorgehoben, dass diese Richtung sich keineswegs auf individuelle Kategorien wie Leidenschaft, Genie oder Intuition beschränkt, die dann nicht mehr weiter hinterfragt werden. Vielmehr konzipiert sie den Akt der Wahrnehmung als ein Kontinuum von den physiologischen Prozessen bis hin zu sozialen Codierungen und Deutungen, also bis hin zur Herstellung von Intersubjektivität. Insofern hat die skopische Richtung sich der Wahrnehmung und ihrer Erforschung bedient, um einen szientistischen oder besser: physikalistischen Reduktionismus zu vermeiden. Genau an diesem Punkt kommen die objektivierenden Instrumente und Medien der Naturwissenschaften ins Spiel. So wenig, wie die wissenschaftliche Erkenntnis sich ausschließlich auf Rationalität und Logik verlassen kann, so wenig 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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kann sie sich von apparativen Medien leiten lassen. Die Relevanz der Medien steht hier in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Relevanz der Sinne: je bedeutender die Sinne für die Erkenntnis sind, desto unwichtiger werden die Apparaturen. Diese These, die genauer zu begründen sein wird, lässt sich exemplarisch an dem schon erwähnten Fleck und an Michael Polanyi verdeutlichen, die seit einigen Jahren als unbestrittene Gründungsfiguren der zeitgenössischen Wissenschaftsforschung angesehen werden. Beide haben sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf die Sinnesphysiologie und vor allen Dingen auf die Gestaltpsychologie bezogen. Inzwischen kanonisch gewordene Kategorien wie Denkstil, Denkkollektiv oder tacit knowledge sind in ihrer theoretischen Herleitung ohne die Psychophysiologie der Sinne nicht zu verstehen, wobei der jeweilige Umgang mit ihr vor dem Hintergrund der historischen und politischen Kontexte betrachtet werden muss, in denen Fleck und Polanyi ihre Theorien entwickelt haben. II
Bevor ich auf diese Theorien näher eingehe, möchte ich eine Reihe von biografischen Gemeinsamkeiten bei Fleck und Polanyi hervorheben, die für ein Verständnis ihrer jeweiligen Positionen einige Bedeutung haben. Beide wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den östlichen Bezirken des Habsburgischen Kaiserreichs geboren: Fleck 1896 im damaligen Lemberg, Polanyi 1891 in Budapest.12 Beide wurden in der deutschsprachigen Wissenschaftskultur erzogen und studierten Medizin, Fleck in Lemberg und für eine kurze Zeit auch in Wien, Polanyi in Budapest, bevor er an die TH Karlsruhe wechselte, um zusätzlich noch Chemie zu studieren. Dann aber gingen die Wege auseinander. Während der eine, Fleck, in Lemberg, das nun Lwow hieß und zu Polen gehörte, blieb, um dort als Mikrobiologe und Arzt zu arbeiten, ging der andere, Polanyi, in ein Zentrum der Wissenschaften, nämlich an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin Dahlem, um bei dem berühmten Fritz Haber zu forschen. Beide waren auf ihren jeweiligen Fachgebieten publizistisch tätig, Fleck allerdings begann ab Mitte der zwanziger Jahre auch epistemologische Arbeiten zu publizieren, die meisten auf Polnisch, aber auch einige auf Deutsch, vor allem sein Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, das 1935, von der wissenschaftlichen Welt vollständig unbemerkt, im Schwabe Verlag Basel erschien.13 Zu jener Zeit hatte Polanyi noch keinen einzigen philosophischen Text veröffentlicht. Michael Hagner
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Dafür war er aber bereits zum Opfer der rassistischen Barbarei des Nationalsozialismus geworden und 1933 von Berlin aus in die Emigration nach England gegangen, wo er in Manchester zunächst Professor für Physikalische Chemie und ab 1945 für Soziologie wurde. Fleck traf es unter dem Nationalsozialismus wesentlich schlimmer: 1941 wurde er von der SS verhaftet, landete in Auschwitz und Buchenwald und wurde nur aus dem Grunde nicht ermordet, weil er als mikrobiologische Kapazität auf dem Gebiet der Herstellung von Serum gegen Typhus für die SS nützlich war. Nach dem Krieg setzte Fleck seine wissenschaftliche Karriere zunächst in Polen, später in Israel fort, wo er 1961 starb. Bis dahin entwickelte er eine rege publizistische Tätigkeit in der Immunologie und Bakteriologie, schrieb aber nur noch vereinzelt Texte zur Epistemologie, vermutlich weil er darüber entmutigt war, dass sein Hauptwerk weiterhin völlig wirkungslos blieb. Polanyis Karriere als Wissenschaftsphilosoph und -soziologe begann überhaupt erst in den vierziger Jahren. Sein Hauptwerk Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy erschien 1958, zu einem Zeitpunkt, als er bereits einige Berühmtheit erlangt hatte. Zwei Aspekte scheinen mir an diesen beiden Biografien besonders hervorhebenswert für eine Einordnung ihrer jeweiligen Arbeit. Fleck entwickelte seine Theorie etwa zwischen 1925 und 1935, zu einem Zeitpunkt, als sich die durch den Nationalsozialismus ausgelöste zivilisatorische Katastrophe erst abzuzeichnen begann; und Fleck arbeitete ganz am Rande der wissenschaftlichen Welt Europas. Polanyi entwickelte seine Theorie in den späten vierziger und fünfziger Jahren, also zur Zeit des Kalten Krieges, und er tat es in einem der Zentren der Wissenschaften, eben in Manchester. Diese Differenz macht sich beispielsweise geltend in der Bezugnahme auf die Gestaltpsychologie, die bei beiden eine wichtige Rolle spielt. Während Polanyi ausführlich gestaltpsychologische Arbeiten zitiert, benutzt Fleck nur den Begriff, ohne irgendwelche direkten Referenzen. Weder Fleck noch Polanyi waren treue Anhänger der Gestalttheorie, doch sie interessierten sich für die Sinneswahrnehmung aus einer Perspektive, wie sie durch die Gestaltpsychologie angeregt worden war, und beide benutzten sie für ihre jeweilige Theorie des Wissens. Ich kann nicht näher auf die Gestaltpsychologie eingehen, möchte aber doch daran erinnern, dass die Gestaltlehre ab den zwanziger Jahren, von Max Wertheimer, Wolfgang Koehler, Kurt Koffka und einigen anderen Psychologen entwickelt, in relativ kurzer Zeit 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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eine enorme Wirkung entfaltete. Das Grundprinzip besagt, dass die wahrgenommene Gestalt nicht das zusammengesetzte Produkt einzelner Sinnesdaten ist, die für sich genommen keinen Sinn ergeben, sondern dass die Gestalt als grundlegende Einheit der Wahrnehmung und damit des Seelenlebens anzusehen ist.14 Dieses Prinzip gilt für das subjektive Erleben ebenso wie für die neurophysiologischen Prozesse im Gehirn. Der analog zu Wahrnehmung, Erleben, Intuition, Denken usw. ablaufende Vorgang im Gehirn ist ebenfalls ganzheitlich zu verstehen und nicht als isolierbare Teilfunktion irgendeines Hirnabschnitts. Gestalten wären also diejenigen universellen Einheiten, die es ermöglichen, den psychophysischen Dualismus zu überwinden. Darüber hinaus haben sie erkenntnistheoretische Konsequenzen, denn wenn auch eine wissenschaftliche Beobachtung oder Wahrnehmung einen Gestaltcharakter hat, heißt das, dass sie sich nicht aus einzelnen Beobachtungen zusammensetzt, sondern irgendwann einfach da ist. Die Frage ist dann nur, wie eine Gestalt zustande kommt. Wertheimer hatte von einer variablen Organisation des Wahrnehmungsfeldes gesprochen, die an bestimmte Bedingungen geknüpft sei. Die Bedingungen sind auch für bestimmte Gestalttendenzen und deren Verhältnis zueinander verantwortlich. Genau an diesem Punkt setzte Fleck an: »Es besteht ein sehr verbreiteter Mythus über Beobachtung und Experiment. Das erkennende Subjekt figuriert als eine Art Eroberer vom Typ Julius Cäsars, der nach der Formel veni-vidi-vici seine Schlachten gewinnt. Man will etwas wissen, man macht die Beobachtung oder das Experiment – und schon weiß man es.«15 Mit diesen polemischen Sätzen eröffnet Fleck das Kapitel »Beobachtung, Experiment, Erfahrung« seines Hauptwerks. Für Fleck gibt es keine Welt da draußen, die einfach nur darauf wartet, erkannt und verstanden zu werden. Dazu sind die mikroskopischen Präparate, mit denen es der Bakteriologe tagtäglich zu tun hat, zu kompliziert und zu verwirrend. Eine erste Beobachtung oder Messung ist stets ein Chaos, unverständlich und uninterpretierbar, und in vielen Fällen ist sie auch nicht zu reproduzieren. Also beginnt ein langsamer und mühsamer Weg, bei dem man zunächst einmal herausfindet, was man eigentlich sieht. Der Grund für diesen ernüchternden Sachverhalt liegt einerseits in der Sperrigkeit des unbekannten Gegenstandes, mit dem man es zu tun hat; andererseits im erkennenden Subjekt selbst. Das voraussetzungslose Beobachten Michael Hagner
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ist für Fleck »psychologisch ein Unding«. Stattdessen postuliert er zwei Arten von Beobachtung: das »unklare, anfängliche Schauen« und das »unmittelbare Gestaltsehen«.16 Das Schauen ist ungerichtet und ziellos, schließt nichts aus und erkennt nichts, es ist explorativ und fragmentarisch, rekurriert nicht auf Gedächtnis und Erfahrung. Das Gestaltsehen hingegen ist gerichtet, es hat eine geschlossene Einheit und setzt Erfahrenheit in einem bestimmten Wissensgebiet voraus. Diese Erfahrenheit ist ein Bestandteil des Denkstils, den Fleck dahingehend definiert, dass er die Gesamtheit geistiger Bereitschaften umfasst, die bestimmte Gestalten zu sehen erlaubt und andere nicht. Während also im anfänglichen Schauen noch alles möglich ist, sind die Gegenstände beim Gestaltsehen quasi festgelegt. Wer sich in der Geschichte der Aufmerksamkeit auskennt, fühlt sich durch Flecks Typologie vielleicht erinnert an die Unterscheidung zwischen Aufmerksamkeit und Distraktion, die für die Psychophysiologie und die Kulturtheorie jener Zeit von großer Bedeutung war.17 Allerdings geht Fleck mit der Verwendung des Begriffs Gestaltsehen über die Theorie der Aufmerksamkeit hinaus. Kohärente wissenschaftliche Beobachtung und deren Verständnis im Rahmen eines breiteren theoretischen Zusammenhangs funktioniert nach dem Prinzip der Gestalt, und es sind die von Wertheimer so genannten »Bedingungen«, die das Verhältnis der Gestalten zueinander klären, das heißt, ob die eine oder die andere Gestalt erkannt wird. Die Pointe bei Fleck liegt darin, dass er jene Bedingungen sozial wendet. Ausbildung, Gewohnheit und Zugehörigkeit zu einem bestimmten Denkkollektiv machen es unmöglich, das Gesehene als eine Gestalt zu erkennen, die nicht mit dem entsprechenden Denkstil kompatibel ist: »Einerseits ermöglichte der so ausgebildete Denkstil viel Gestaltsehen und viele anwendbare Tatsachen, anderseits machte er anderes Gestaltsehen und andere Tatsachen unmöglich.«18 Explizit gegen Carnap richtet Fleck den Vorwurf, dass ein Denkstil keine absolute Denknorm darstellt, die für alle möglichen Wissensgebiete gültig ist. Carnap hatte den Begriff des Denkstils in dem Zusammenhang eingeführt, dass die strenge, mathematisch-physikalische Grundhaltung des Naturwissenschaftlers auch für den Philosophen Gültigkeit erlangen sollte.19 Für Fleck gibt es einen solchen allgemein ausgebildeten Denkstil ebenso wenig wie eine allgemein verbindliche Fähigkeit zur Beobachtung, denn das Denkkollektiv macht die sozialen Bedingungen des wissenschaftlichen Erkennens aus. Ein isolierter Forscher ohne 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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Denkstil und ohne Vorurteil wäre blind und gedankenlos. Er käme auch nicht auf irgendwelche neuen Gedanken, weil sich in ihm überhaupt keine Gestalt formieren kann. Und es gibt auch keinen Apparat, der an dieser Regel etwas ändern könnte. Selbst Instrumente wie das Mikroskop sind Bestandteile des Denkstils und vermögen diesen nicht von jetzt auf gleich zu verändern. Eine apparative Revolution kann es nach Fleck nicht geben, weil Instrumente zunächst einmal zu einer Erweiterung der möglichen sichtbaren Gegenstände und damit zu einer Konfusion führen. Dass diese Palette von Möglichkeiten auf ein beherrschbares Repertoire reduziert wird, ist keine Frage des Instruments, sondern der Konvention. Unter keinen Bedingungen also sieht man neue Gestalten sofort und unvermittelt. Vielmehr muss erst der ganze Denkstil in Bewegung kommen, damit es zu einer wissenschaftlichen Innovation kommt.20 Fleck verfolgt, wie er in einem nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Text einräumt, einen ganzheitlichen oder holistischen Ansatz, den er der Wahrnehmungspsychologie entlehnt.21 Wir erkennen einen Menschen oder einen bestimmten Gesichtsausdruck, ohne genau angeben zu können, welches Detail nun spezifisch oder charakteristisch ist. Mehr noch, es kommt sogar darauf an, diese Elemente zum Teil wieder zu vergessen: »Sonst verschleiern uns die Bäume den Wald, erlauben uns die Silben nicht, Worte und Sätze zu erkennen.«22 Diese Unabhängigkeit des Ganzen von seinen einzelnen Bestandteilen im Wahrnehmungsprozess ist auch bei Michael Polanyi ein entscheidender Punkt in seiner Theorie. Um das Konzept des tacit knowledge anschaulich zu machen, hat Polanyi häufiger auf die Mechanismen der Aufmerksamkeit rekurriert. Durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit wird ein ganzheitliches Bild generiert, während wir uns im Hintergrund, gewissermaßen subsidiär, wohl der Einzelteile bewusst sein können, auch wenn wir sie in dem Moment nicht genau wahrnehmen. Man könnte auch sagen, dass es sich hier um zwei Stufen der Aufmerksamkeit handelt: eine niedere Stufe für die einzelnen Bestandteile und eine höhere, fokussierte Wahrnehmung des Gesamtbildes. Erst beide Formen der Aufmerksamkeit zusammen ermöglichen es, von den Einzelheiten zum Einheitlichen zu gelangen. »Implizit« oder »tacit« heißt bei Polanyi, dass wir die Details der Beziehung zwischen subsidiärer und fokussierter Aufmerksamkeit, die Schritte vom Einzelnen zum Gesamten nicht genau explizieren können. Es handelt sich um eine »stumme Macht«, die uns zu unserer Erfahrung und zum Erkennen verhilft. Nun hat Polanyi es Michael Hagner
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nicht bei diesen simplen Beispielen aus der Wahrnehmung belassen, sondern das implizite Wissen als einen Generalschlüssel angesehen, der zu allen Türen des Erkenntnis- und Wissensgebäudes passt. Implizites Wissen ist bei theoretischen und praktischen Vorgängen gleichermaßen mit im Spiel, beim handwerklichen Geschick ebenso wie bei der Kunst eines erfahrenen Diagnostikers in der Medizin und bei den schöpferischen Fähigkeiten eines künstlerischen oder wissenschaftlichen Genies. Eine Trennungslinie zwischen Geistesund Naturwissenschaften gibt es demnach nicht: »Angenommen jedoch, implizite Gedanken bildeten einen unentbehrlichen Bestandteil allen Wissens, so würde das Ideal der Beseitigung aller persönlichen Elemente des Wissens de facto auf die Zerstörung allen Wissens hinauslaufen.«23 Seine Verpflichtung gegenüber der Gestaltpsychologie hat Polanyi gleich zu Beginn seines Werks Personal Knowledge zum Ausdruck gebracht, indem er einräumt, dass sie ihm erste Anregungen zur Entwicklung seiner Wissenstheorie gegeben habe. Demnach entsteht Wissen nicht objektiv und unabhängig von der Persönlichkeit. Vielmehr ist der Akt der Wissens- und Erkenntnisproduktion an Fertigkeiten gebunden, die vom jeweiligen Individuum nicht loszulösen sind. Diese Fertigkeiten oder dieses Wissen sind jedoch nur wirksam, weil sie stumm oder implizit sind. An diesem Punkt wird der Riss zwischen dem Ganzen und seinen Bestandteilen bedeutsam. Die Gestaltpsychologie hat nach Polanyi gezeigt, »dass wir eine Physiognomie erkennen können, indem wir ihre Einzelheiten beim Gewahrwerden zusammenfügen, ohne dass wir doch diese Einzelheiten zu identifizieren wüßten«.24 Für das Verständnis des Wahrnehmungs- und des wissenschaftlichen Erkenntnisvorgangs ist es unabdingbar, die verschiedenen Bestandteile oder Elemente eines Gesichtes oder eines Problemkomplexes zu ignorieren, um das Ganze zu verstehen. Von der Gestalt ausgehend kann der Weg zu den Einzelheiten beschritten werden, doch umgekehrt funktioniert es nicht: Der Weg von den Elementen hin zur Gestalt bleibt uns verschlossen. Die Fähigkeit eines Wissenschaftlers besteht dann darin, zunächst eine angemessene Problemorientierung zu entwickeln und dann die »Aufmerksamkeit von diesen unspezifizierbaren Einzelheiten weg auf eine komplexe Entität [zu lenken], in der sie auf eine für uns undefinierbare Weise zusammengefaßt sind«.25 Das Argument funktioniert hier ganz ähnlich wie in der Theorie Flecks. Auch dort führt der Weg vom anfänglichen, unklaren Schauen hin zum Gestaltsehen durch einen Tunnel, in dem 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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die Wege nicht mehr exakt nachverfolgt werden können. Mehr noch: Man weiß nicht ganz genau, wie man aus dem Tunnel herausgekommen ist. Für Fleck ist dieser Prozess das Ergebnis einer sozialen Formung, die durch das Denkkollektiv vorgegeben ist. Für Polanyi handelt es sich um die »aktive Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs«.26 Um diese Formung zu erklären, rekurriert Polanyi auf ganz ähnliche Kategorien wie Fleck, nämlich Geschicklichkeit, Erfahrung, Training oder ästhetisches Urteil. Von apparativen Verbesserungen und Vervollkommnungen der Sinne oder gar von Prothesen ist nicht die Rede. Obwohl Polanyi an mehreren Stellen Hinweise auf die gesellschaftliche und kulturelle Bedingtheit des Wissens einstreut, vermeidet er im Gegensatz zu Fleck eine eindeutige Thematisierung der sozialen Formung des Wissens. Diese Abwesenheit, die nicht zu unterschätzen ist und tatsächlich einen gravierenden Unterschied zwischen diesen beiden Theorien ausmacht, ist im Zusammenhang mit einer anderen Eigenart zu sehen, nämlich Polanyis unermüdlichen Hinweisen darauf, dass die persönlichen oder impliziten Bestandteile des Wissens unverzichtbar sind, sofern das Wissen nicht als solches zerstört werden soll. Die Verteidigung der Persönlichkeit und die Abwesenheit des Sozialen muss man sich vor dem Hintergrund der historischen Situation vergegenwärtigen, in der Polanyi seine Theorie entwickelte. Als er in den späten vierziger Jahren in Manchester mit dem Mathematiker Alan Turing und dem Philosophen John Z. Young über das Verhältnis von Gehirn, Geist und Maschinen diskutierte, formierten sich dabei zwei in der Folgezeit einflussreiche, diametral entgegengesetzte Positionen. Während das Gehirn für Turing und Young ein deterministisches System war, das durch einen gegebenen Eingangszustand und durch definierte Eingabebefehle vollständig beschrieben werden kann und damit die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Geistes im Prinzip vollständig erklärt werden können, lehnte Polanyi den Vergleich zwischen Geist und Turing-Maschine radikal ab und argumentierte, dass der menschliche Geist nicht der Tyrannei der materiellen Mechanismen unterstehe.27 In seinen Schriften wurde er nicht müde, logischen Positivismus und Kybernetik, Behaviorismus und Sowjetkommunismus dafür zu geißeln, dass sie menschliche Freiheit und Entscheidungsautonomie über Bord warfen und so den Menschen zum Roboter degradierten.28 Aus dieser Aversion heraus ist es nicht weiter verwunderlich, dass Polanyi den Instrumenten keinen besonders privilegierten Platz Michael Hagner
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im Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnis zubilligen mochte. Selbstverständlich wusste Polanyi aus seiner Zeit als Physiko-Chemiker, dass Naturwissenschaftler nicht ohne Instrumente auskommen, doch in seiner Wissenschaftsphilosophie konzipiert er sie als Explikatoren, und in diesem Sinne vermögen sie das subtile Spiel zwischen distalen und proximalen Anteilen der Wahrnehmung zu zerstören. Für Polanyi war es eine Horrorvorstellung, dass alles und jedes explizierbar und planbar gemacht würde, sei es in einem politischen System, in einer wissenschaftlichen oder in einer philosophischen Theorie. Epistemologische und moralische Überzeugungen kommen hier zusammen. »Jeder Versuch, durch explizite Regeln vollständige Kontrolle über das Denken zu erlangen, ist in sich widersprüchlich, führt systematisch in die Irre und ist in kultureller Hinsicht destruktiv.«29 Etwas polemisch könnte man sagen, dass Polanyi sich hier in die lange Liste derjenigen Kulturkonservativen einträgt, die die humanistischen, abendländischen Werte verteidigen, und das ist für ihn ein Grundanliegen in Zeiten des Kalten Krieges. III
Die Ausstattung der Naturwissenschaften mit Werten, die sie zu einer eigenen Kultur formierten, hatte sich seit dem 19. Jahrhundert nach und nach entwickelt. Zu keiner Zeit hatte diese Kultur einen stärkeren Einfluss als in der Epoche des Kalten Krieges, als es nämlich darum ging, die moralische, politische, kulturelle und wissenschaftlich-technische Überlegenheit der westlichen Demokratien gegenüber dem Kommunismus zu demonstrieren. So hielt es Polanyi 1953 auf einem berühmt gewordenen Kongress über »Wissenschaft und Freiheit« im Kampf gegen den Kommunismus für unverzichtbar, »dass der Staat, indem er Einrichtungen zur Pflege der Wissenschaft gründet, die Existenz einer Sphäre unabhängiger Ideen und unabhängiger Menschen anerkennt und damit auch zugibt, dass die Erfordernisse dieser Sphäre den gleichen Rang wie die vom Staat beschützten politischen und materiellen Interessen der Gesellschaft beanspruchen können«.30 Die Forderung nach Autonomie der Wissenschaft im Angesicht von Eugenik und Auschwitz, Lyssenkoismus und Sowjetkommunismus hatte in der Nachkriegszeit zwei vollkommen unterschiedliche Gesichter. Der Soziologe Robert Merton sah diese Autonomie nur dann gesichert, wenn die Wissenschaft sich einem Ideal von Neutralität, Wertfreiheit und Objektivität verschriebe, 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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das die subjektiven Elemente gerade eliminierte: Universalismus, Unparteilichkeit, organisierter Skeptizismus und Kommunismus waren die Normen, die eine wahre, unabhängige Wissenschaft ausmachen.31 Polanyi hat vehement bestritten, dass wissenschaftliche Erkenntnis jenseits von Leidenschaften angesiedelt und völlig unparteiisch sei. Ihm ging es um die Wahrung jener persönlichen Eigenart des Wissens, die durch eine vollständige Explikation zerstört wurde und letztlich den Weg in die Barbarei vorzeichnete. Im einen Fall soll die Rettung der Wissenschaft als kulturelle Errungenschaft also darüber gewährleistet werden, dass sie sich der Absichtslosigkeit und Wertfreiheit der Natur selbst anpasst, im anderen Fall führt sie über das autonome Individuum, das keinen übergeordneten Normen zu folgen gezwungen werden darf, egal ob sie nun aus Politik, Religion, Technik oder Wissenschaft stammen. Das bedeutet jedoch auch, dass das autonome Individuum sich nicht irgendwelchen Maschinen oder Medien unterwerfen darf. Mit der Verschiebung von der Epistemologie zur Ethik hat Polanyi einen Aspekt in die Wissenschaftsforschung gebracht, der in den Vorkriegsarbeiten Flecks nicht explizit thematisiert worden war. Das sollte sich in der Nachkriegszeit ändern. 1960, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb der völlig vergessene und bereits schwerkranke Fleck einen kurzen Text Zu einer freien und menschlichen Wissenschaft, der auf eine Diskussion in der Zeitschrift Science reagierte, zu seinen Lebzeiten allerdings unveröffentlicht blieb. Darin beklagt er, dass die kulturelle Mission der Wissenschaft großen Schaden nimmt, indem sie »zur Gehilfin von Politik und Industrie« geworden ist. Auch Fleck insistiert auf einer Autonomie der Wissenschaft, und das Rezept, das er zu ihrer Erhaltung anbietet, ist seine alte These vom Denkkollektiv, die er nun – über seine früheren Überlegungen hinausgehend – so zusammenfasst, dass die Erkenntnistätigkeit aus drei untrennbar miteinander verbundenen Komponenten besteht: dem Subjekt, dem Objekt und der Gemeinschaft. Das Verständnis des Zusammenspiels dieser drei könnte die Wissenschaften über sich selbst aufklären, indem die Genese von Ideen erklärbar wird und die wissenschaftliche Wahrheit »sich von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit«32 wandelt. Deutlicher als in seinen früheren Schriften hebt Fleck in seinem letzten Text hervor, dass wissenschaftliche Tätigkeit in einen moralischen Zusammenhang eingebettet ist und dass es darum geht, eine menschliche Wissenschaft zu bewahren. Auch das Subjekt hat vorher nicht so Michael Hagner
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eine dominante Rolle gespielt. In beiden Punkten zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zu Polanyi. Ich habe mich etwas entfernt von der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Erkenntnis unter Berücksichtigung der jeweiligen Medien, doch mit der Fokussierung auf den Kontext, in dem diese Verbindungen besonders eng geknüpft wurden, sollte zweierlei deutlich werden. Erstens ging es weder Fleck noch Polanyi darum, einen strengen Eins-zu-eins-Transfer von einem Wissensgebiet in ein anderes vorzunehmen. Fleck hat sich in einem sehr allgemeinen Sinne auf die Gestaltpsychologie bezogen, hat vor allem den Begriff Gestalt und einige Kerngedanken verwendet und erst zwölf Jahre nach der Publikation seines Hauptwerks die Gestaltpsychologie als Stichwortgeber seines Ansatzes benannt. Bei Polanyi ist die Aneignung komplexer verlaufen. Er berief sich auf die Gestaltpsychologie, auf die Psychophysiologie der Aufmerksamkeit, auf die Sinnesphysiologie und führte noch zahlreiche weitere experimentalphysiologische Untersuchungen an, um sein Konzept des impliziten Wissens plausibel zu machen. Polanyi ging es also um das Abschreiten eines ganzen Phänomenfeldes und nicht um eine einzige Doktrin. Entscheidend ist, dass er das Spiel der Aufmerksamkeit, die aktive Formung der Erfahrung und die Gestaltwahrnehmung im Sinne des impliziten Wissens zur conditio sine qua non der wissenschaftlichen Erkenntnisdynamik machte. Zweitens kann die Epistemologie den Wissenschaften, von denen sie handelt, nicht ohne weiteres entkommen. Verschiedene Formen der reflexiven Beschäftigung mit den Wissenschaften, die historische Epistemologie ebenso wie die Wissenschaftstheorie, orientieren sich in ihrer theoretischen Ausrichtung an bestimmten Wissenschaften. Diese Beziehung wird auf dem Feld der Geschichte wirksam, und also muss sie dort betrachtet werden. Für Bachelard und Carnap, so unterschiedlich ihre Positionen ansonsten auch sein mögen, war es die moderne Physik, die sie für ihre jeweiligen Metatheorien heranzogen; für Fleck und Polanyi war es die Gestaltpsychologie, die wissenschaftlich genug war, um anthropologische Gewähr zu bieten, und gleichzeitig einer szientistischen Reduktion auf logische und instrumentelle Bedingungen der Erkenntnisproduktion zuwiderlief. Es ist gerade diese Permeabilität von den physiologischen Bedingungen des Sinnesapparats bis hin zu komplexen epistemischen Operationen, die für Fleck und Polanyi eine Selbstverständlichkeit bedeutete. Eine Verschiebung der epistemischen Energie von den Sinnesorganen in die wissenschaftlichen 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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Apparaturen, wie sie Bachelard postuliert, ist hier ebenso ausgeschlossen wie die Annahme einer Ruptur, eines Schnitts als entscheidendes Movens der Erkenntnisdynamik. Auch bei Fleck und Polanyi gibt es Diskontinuitäten, Veränderungen und Verschiebungen, aber diese sind der Formierung der Gestalt bzw. einer veränderten Denkbereitschaft angepasst, und das heißt, sie sind auf die Geschwindigkeit psychophysiologischer und sozialer Prozesse abgestimmt und nicht auf die technologischen Innovationen, die immer wieder neue Apparaturen hervorbringen. IV
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus all dem für die historische Epistemologie ziehen? Im Hinblick auf deren Geschichte ist es evident, dass Fleck vor seiner Entdeckung in den sechziger Jahren, vor Thomas Kuhns Eingeständnis, dass viele seiner Ideen bereits bei Fleck zu finden seien, so gut wie nicht existent war in der Gemeinschaft der Wissenschaftstheoretiker. Meines Erachtens hängt das damit zusammen, dass letztere – zumal nach den Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Stalinismus und im Sinne einer epistemologisch-politischen Robustheit in Zeiten des Kalten Krieges33 – auf der Suche nach Gewissheiten und festen Stützen in der Beschreibung und Deutung der wissenschaftlichen Erkenntnis waren, während Fleck genau diese Gewissheiten in Frage stellte. Erst Kuhns Psychologie der Forschung bestellte den Boden, auf dem die dort bereits vorhandenen Keime der Fleckschen Theorie nach und nach gedeihen konnten. Damit wurde der Schwenk in der Wissenschaftsforschung weg von den vermeintlich harten Kriterien der Logik und der Instrumente hin zu den vermeintlich weichen Kriterien des Denkstils und der sozialen Gemeinschaften eingeleitet. Polanyi benötigte keinen historischen Geburtshelfer. Seine feste Verknüpfung von Wissen und Moral war ganz offensichtlich eine Folge seiner Erfahrungen im Zeitalter der Extreme. Von hier aus erklärt es sich, dass die Setzung der »stummen Macht« dazu dienen sollte, den Bereich reiner Wissenschaft vor aller Planung, Bevormundung und Steuerung zu bewahren. Im Grunde genommen wird damit eine Reinheit der Erkenntnis von allen möglichen sozialen, technologischen und ökonomischen Kontaminierungen postuliert. Dieses epistemologische Konzept, das die Annahme eines impliziten Wissens zur unabdingbaren Voraussetzung des Expliziten macht, fand zunächst wenig Anklang bei einer am Ideal der Objektivität und Logik orientierten Wissenschaftstheorie. Man Michael Hagner
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witterte nicht nachprüfbare metaphysische Annahmen, die das – auf eine ganz andere Weise verstandene – purifizierte, rationale System des Wissens untergraben. Mit der sogenannten praktischen Wende der 1980er Jahre, mit der Verschiebung des Schwerpunkts von der Theorie auf die Praxis der Wissenschaften, wurden auch Polanyis Überlegungen wieder aufgegriffen und verfeinert. Am deutlichsten zunächst bei Harry Collins, der in der experimentellen Praxis mehr und anderes sah als ein festgelegtes Regelwerk zur Testung von Theorien. Die Art und Weise, wie ein experimentelles Design aufgebaut, wie Instrumente zum Einsatz kommen und wie Wissen in einer Arbeitsgruppe zirkuliert, enthält Elemente, die lokal verankert sind und nicht genau expliziert werden. Collins nennt das die »enculturational versus algorithmical conception of scientific practice«.34 Auch in der Folgezeit hat sich die Wissenschaftsforschung zwar sehr wohl auf die materielle Kultur der Instrumente und Apparate konzentriert, aber das ist kaum je geschehen, ohne praktische Aspekte wie Handwerk und Geschicklichkeit, körperliche Disziplin und lokale Gebundenheit von Information zu berücksichtigen. Insofern hat sich ein technologischer oder instrumenteller Determinismus, wie er in den Medienwissenschaften bisweilen zu beobachten ist, in der historischen Epistemologie kaum durchgesetzt. Hierin dürfte eine der wichtigsten Konsequenzen der Beschäftigung mit Fleck und Polanyi zu sehen sein. Zwar konnte man von keinem der beiden lernen, welche Bedeutung die Medien und Apparaturen haben, weil sie beide das Modell einer Erkenntnis favorisierten, das die Bedeutung der Medien theoretisch unterschätzte – und darin kann man durchaus die Grenzen ihrer Theorie sehen. Hingegen konnte und kann man von ihnen sehr wohl lernen, dass auch Medien in ein komplexes Geschehen eingefügt werden, das eben nicht nur einer einzigen Logik oder Ordnung folgt, und dass das Verhältnis von Wahrnehmung und Erkenntnis vielschichtiger ist, als es die Vorstellungen von der Prothese oder von der Substituierung der Wahrnehmung durch Instrumente suggerieren. Es ist allerdings eine offene Frage, in welcher Weise heute eine Position theoretisch zu unterfüttern wäre, die die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung noch nicht abgeschrieben hat. Man darf nicht übersehen, dass es zwischen Kuhns »Psychologie« und Collins’ »enculturation« einen fundamentalen Unterschied gibt. Die Gestaltpsychologie ist nämlich längst Geschichte geworden und kann nicht mehr den Stellenwert einnehmen, den sie noch für Fleck 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B Sehen, Gestalt und Erkenntnis im Zeitalter der Extreme 1: G F: : 79: HB . 8B
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und Polanyi hatte. Offensichtlich hat die neuere Wissenschaftsforschung die historischen und soziologischen Komponenten dieser Theorien gern übernommen, doch die psychologischen sind außen vor geblieben – und vermutlich sind sie außen vor geblieben, weil Reichenbachs vernichtendes Diktum, wonach der psychologische Kontext der Entdeckung einer rationalen Betrachtung verschlossen bleibe, die Ansichten selbst der hartgesottensten Wissenschaftssoziologen zutiefst geprägt hat. Damit hat sich zumindest vorerst auch die Frage erledigt, ob die Psychophysiologie der Sinne für die historische Epistemologie fruchtbar gemacht werden könnte. Eine Antwort auf diese Frage käme nicht um das Faktum herum, dass die Kognitionspsychologie sich zumindest in weiten Teilen in die Obhut der Neurowissenschaften begeben hat. Zeichnet sich am Horizont so etwas ab wie eine Neuro-Epistemologie, vergleichbar dem Neuro-Marketing oder der Neuro-Ästhetik, die seit einiger Zeit den Anspruch erheben, sinnvolle Aussagen über unsere Wahrnehmung der Welt zu machen? Wohl kaum, aber nachdem die sozialen und materiellen Komponenten der Wissensentstehung im Detail durchbuchstabiert worden sind, ist es vielleicht lohnenswert, die Praktiken der Erkenntnisarbeit auf ihre anthropologischen und psychologischen Querverbindungen und Verwurzelungen, also auf Erfahrung, Intuition, Disziplin, Gewöhnung oder Konvention hin zu befragen. Warum sollten dabei neben historischen, ethologischen und soziologischen Untersuchungen nicht auch experimentelle Arbeiten der aktuellen Laborforschung berücksichtigt werden? Davon könnten nicht zuletzt auch diejenigen profitieren, die die Sinne bloß als kümmerliches Derivat der Instrumente ansehen. Ein solches Projekt ist noch kaum gewagt worden, aber vielleicht betrachtet man es etwas vertrauensvoller, wenn man sich vergegenwärtigt, dass vor wenigen Jahrzehnten die Verbindung zwischen Psychologie und Epistemologie das Verständnis der Dynamik und Komplexität wissenschaftlicher Erkenntnis ganz erheblich erweitert hat.
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Endnoten 1 Siehe z. B. Jutta Schickore, The Microscope and the Eye: A History of Reflections,
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Bibliografie zusammengestellt von Lena Bader
Die im Folgenden aufgelisteten Titel bieten eine Auswahl an Quellen und Forschungsbeiträgen zum vergleichenden Sehen. Neben Texten, die sich explizit mit dem Vergleich als Methode der Kunstgeschichte und den Problemen vergleichender Kunstgeschichte auseinandersetzen, wurden auch Texte berücksichtigt, die damit einhergehende Implikationen oder damit verwandte Fragestellungen berühren, wie zum Beispiel die neueren Diskussionen um Vergleich und Transfer oder Texte zur Frage der Analogie und des Paragone sowie einzelne Schriften zur Philosophie der Differenz. Richard Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Stuttgart 1878. Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken, Köln 1988, bes. S. 61– 84 »Im Zueinander«. Lena Bader, »die Form fängt an zu spielen …« Kleines (wildes) Gedankenexperiment
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Martin Warnke, Warburg und Wölfflin, in: Horst Bredekamp, Michael Diers und Charlotte Schoell-Glass (Hg.), Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 79 – 86. Tristan Weddigen, Kennerschaft ausgestellt – Die erste Hängung der Dresdener Gemäldegalerie und das verlorene Inventar von 1747, in: Barbara Marx (Hg.), Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, München/Berlin 2006, S. 101–125. Silke Wenk, Zeigen und Schweigen. Der kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion, in: Sigrid Schade und Georg C. Tholen (Hg.), Konfigurationen: zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292 – 305. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28, 2002, S. 607– 636. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann (Hg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004. Franz Wickhoff, Römische Kunst (Die Wiener Genesis), in: Die Schriften Franz Wickhoffs, hg. v. Max Dvořák, 3 Bde., Berlin 1912 –1913, Bd. 3, Berlin 1912. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997. Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, München 1899. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwickelung in der neueren Kunst, München 1915. Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, 2 Bde., Köln 2006, Bd. 1, bes. S. 87–117 »Die Nachträglichkeit der Bilder. Man sieht nur, was man sieht«. Nina Zschocke, Der irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit, München 2006. Christoph Zuschlag, Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität, in: Silke Horstkotte und Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 89 – 99.
Vergleichendes Sehen
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Autorinnen und Autoren
Lena Bader, M. A., Studium der Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Magisterarbeit zum Thema: »Vergleichendes Sehen – Zu den Anfängen der Doppelprojektion und den Fragen der Kunstgeschichte heute«. Seit 2009 Stipendiatin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte, Paris. Zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg und Stipendiatin im Rahmen des NFS Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder, Basel (eikones). Promotionsprojekt zum Thema: »BildProzesse im 19. Jahrhundert: Der Holbein-Streit und die Ursprünge der Kunstgeschichte«. Edgar Bierende, Dr. phil, Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Theaterwissenschaft in Frankfurt a. M., München und Osnabrück; 1998 Promotion an der Universität Basel; 1999 – 2001, Volontariat am Kunstmuseum Düsseldorf; 2001– 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen in München; seit 2003 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern; seit 2007 SNF-Projekt zur Kulturgeschichtsschreibung 2: 7 .79: 37 F 07 : G 9 /7 6B 1: G F: : 79: HB . 8B
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der Schweiz. Forschungsschwerpunkte: nordalpine Renaissance, Zeremonialgeschichte und Kulturgeschichtsschreibung. Georges Didi-Huberman, Prof. Dr., Philosoph und Kunsthistoriker, lehrt an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris. Forschungsschwerpunkte: Methodologie der Kunstgeschichte, Theorie und Philosophie des Bildes, psychoanalytische Studien zur Kunst. Buchveröffentlichungen u. a.: Quand les images prennent position, Paris 2009; Bilder trotz allem, München 2007; L’Image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002; Vor einem Bild, München 2000. Vera Dünkel, M. A., Studium der Kunstgeschichte, Bildenden Kunst und Ästhetik in Paris und Berlin; seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung »Das Technische Bild« am Hermann von Helmholtz-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotionsprojekt zum Thema »Ikonologie der frühen Röntgenbilder«. Marcel Finke, M. A., Studium der Kunstgeschichte, Kulturwissenschaften und Germanistik in Leipzig und Dublin. 2005/06 Mitarbeiter im Projekt Diversität – Geschlechterordnungen – Machtbeziehungen am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig. 2005 – 2007 Lehraufträge an den Universitäten Leipzig und Tübingen mit den Schwerpunkten Körper- und Bildtheorie, Moderne und Visualisierung. Seit 2007 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Dissertationsthema: »Die komplexe Organisiertheit des Bildes. Zur Materialität des Körpers und der Malerei im Werk Francis Bacons«. Veröffentlichungen zur wissenschaftlichen Visualisierung im 19. Jahrhundert, zur Materialität und Performativität des Bildes sowie zur Kunst Francis Bacons. Martin Gaier, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Musikwissenschaft in Tübingen, Rom und Berlin. 1999 Promotion. Seit 2003 Assistent im Bereich Frühe Neuzeit am Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel. Habilitation: »Heinrich Ludwig (1829 –1897) und die ›ästhetischen Ketzer‹. Kulturpolitik, Kulturkritik, Kunstanschauung nach 1871«.Forschungsschwerpunkte in der Wissenschaftsgeschichte und der venezianischen Kunst des 16.– 18. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Facciate sacre a scopo profano. Venezia e la politica dei monumenti dal Quattrocento al Settecento, Venedig 2002; (Hg. mit Claudia Vergleichendes Sehen
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Mohn u. a.) Ludwig Mies van der Rohe. Frühe Bauten. Probleme der Erhaltung – Probleme der Bewertung, Petersberg 2004; (Hg. mit Bernd Nicolai und Tristan Weddigen) Der unbestechliche Blick. Festschrift zu Ehren von Wolfgang Wolters, Trier 2005. Peter Geimer, PD Dr., 1997 Promotion in Kunstgeschichte, 1997 – 1999 Post-doc-Stipendiat am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, 1999 – 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz, danach am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, seit 2004 Oberassistent am Lehrstuhl für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich, 2007 Habilitation in Kunstgeschichte an der Universität Basel. Buchveröffentlichungen: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009; (Hg. mit Henning Schmidgen und Sven Dierig) Kultur im Experiment, Berlin 2004; Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert, Weimar 2002; (Hg.) Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002. Mladen Gladić, Literaturwissenschaftler, studiert an der Princeton University. Interessen: Materialitäten und Operationen der Medien und der Medienwissenschaft, Theorien der Gemeinschaft, politische Romantik. Johannes Grave, Dr. phil., Studium in Freiburg i. Br.; 2001 – 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« der Universität Jena. 2005 Abschluss der Dissertation, die Johann Wolfgang Goethes graphischer Sammlung und seinem Konzept von Kunstgeschichte gewidmet ist. 2005 – 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nationalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik« (eikones) der Universität Basel und Lehrtätigkeit am dortigen kunsthistorischen Seminar; seit Juli 2009 stellvertretender Direktor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris. Publikationen u. a.: Der ›ideale Kunstkörper‹. Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Zeichnungen und Druckgraphiken, Göttingen 2006; Bücher zu Caspar David Friedrich (2001) und Giovanni Bellini (2004). Michael Hagner, Prof. Dr., 1987 Promotion zum Dr. med., 1987 – 1989 Postdoc am Neurophysiologischen Institut der FU und Visiting Scholar am Wellcome Institute for the History of Medicine Autorinnen und Autoren
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in London (1989). 1994 Habilitation an der Medizinischen Fakultät Göttingen. Ab 1995 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Seit 2003 an der ETH Zürich. Gastprofessuren in Salzburg, Tel Aviv, Frankfurt a. M. und Köln; 2001 Fellow am Collegium Helveticum der ETH Zürich; 2006 und 2007 Fellow am Zentrum für Literatur und Kulturforschung, Berlin; 2008 Fellow an der Maison des Sciences de L’Homme, Paris. Buchveröffentlichungen: Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Frankfurt a. M. 2008; Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. München 2007, (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2001. Thomas Hensel, Dr. phil., Promotion in Kunstgeschichte. Seit 2006/07 Studienrat im Hochschuldienst, Universität Siegen, Fachbereich Medienwissenschaft. Arbeitet derzeit an seiner Habilitation. Veröffentlichungen u. a.: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2010; (Hg. mit Dominika Szope und Studierenden der Universität Siegen) Schnittstelle Schreibtisch oder Wider ein Denken in Schubladen, Siegen 2009 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im ZKM Karlsruhe]; (Hg. mit Cora Bender und Erhard Schüttpelz) »Schlangenritual«. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu’ti’kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007; (Hg. mit Klaus Krüger und Tanja Michalsky) Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2006; (Hg. mit Silvia Wagnermaier und Siegfried Zielinski) Buchstabe und Zahl in grammatologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, Köln 2006. Stefanie Klamm, M. A., Studium der Geschichte, Klassischen Archäologie, Kulturwissenschaft und Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin und an der Universiteit van Amsterdam; seit 2006 Dissertationsvorhaben zu »Strategien der Visualisierung in der Klassischen Archäologie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts« am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und am Kunsthistorischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin; 2007 assoziiertes Mitglied des Nationalen Forschungsschwerpunkts Bildkritik, Basel, am Lehrstuhl für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich. 2009 Stipendiatin der Gerda-Henkel-Stiftung; 2009 – 2010 Predoctoral Fellow des Getty Grant Program, Los Angeles, CA. Veröffentlichungen u. a.: Bilder im Wandel. Der Berliner Archäologie Reinhard Kekulé von Stradonitz und die Konkurrenz Vergleichendes Sehen
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von Zeichnung und Fotografie, in: Jahrbuch der Berliner Museen 49, 2007, S. 115 –126. Susanne Müller-Bechtel, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Kunstpädagogik in München. 2006 Promotion mit einer Arbeit über »Die Zeichnung als Forschungsinstrument – Giovanni Battista Cavalcaselle (1819 –1897) und seine Zeichnungen zur Wandmalerei in Italien vor 1550«. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Musikwissenschaft der TU Dresden. Mitbegründerin und Redaktionsmitglied des Themenportals Geschichte der Kunstgeschichte auf arthistoricum. net. Habilitationsprojekt zur akademischen Künstlerausbildung im 18. und 19. Jahrhundert. Publikationen u. a. zu Cavalcaselle und Bernardino Poccetti. Klaus Niehr, Prof. Dr., seit 2004 Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Osnabrück. Schwerpunkte der Arbeit sind Kunst und Architektur des Hoch- und Spätmittelalters in ihren gegenseitigen Beziehungen; Abbild und Porträt am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit; die Geschichte der Kunstgeschichte im Fächerspektrum der Geistes- und Naturwissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Die mitteldeutsche Skulptur der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Weinheim 1992; Gotikbilder – Gotiktheorien, Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen ca. 1750 und 1850, Berlin 1999; (Hg. mit Katharina Krause) Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920, Leipzig 2005; (Hg. mit Katharina Krause) Kunstwerk – Abbild – Buch. Das illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, München/Berlin 2007; Die Kunst des Mittelalters, Bd. 2: 1200 –1500, München 2009. Dorothea Peters, Dr. phil, Studium der Psychologie, Anthropologie, Philosophie in Göttingen, Kiel und Berlin (Dipl. Psych.); Studium der Kunstpädagogik, Soziologie und Pädagogik in Berlin (Staatsexamen), Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin (Fachbereich Visuelle Kommunikation). Freiberufliche Tätigkeit und Studium der Kunstgeschichte in Berlin; 2005 Promotion zum Thema »Der ungewohnte Blick. Fotografische Kunstreproduktion im 19. Jahrhundert«; 2006 Scholar-in-Residence am Deutschen Museum in München, 2009 Stipendiatin am Kunsthistorischen Institut in Florenz (Fotothek). Forschungsschwerpunkte: Autorinnen und Autoren
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Fotogeschichte, Druckgeschichte, Kunsthistoriografie, buchwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Fragestellungen. Grischka Petri, Dr. jur., Dr. des. phil., Studium der Angewandten Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie und Rechtswissenschaften in Lüneburg und Bonn. 2002 juristische Promotion mit einer Arbeit zu Dopingsanktionen. 2006 Promotion in Kunstgeschichte über die Karrierestrategien James McNeill Whistlers. Seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Whistler Etchings Project der Universität Glasgow, seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte und Archäologie der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Kunst des 19. Jahrhunderts, Kunst und Recht, Geschichte der Urheberrechts der bildenden Kunst. Veröffentlichungen u. a. zu Strindberg als bildendem Künstler, zu Whistler und zur Kunstkritik Meier-Graefes. Robin Rehm, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin; 2001 Promotion; 2000/01 Auslandsstipendium am Centre Allemand d’Histoire de l’Art in Paris; 2001– 2005 Assistent am Lehrstuhl für moderne und zeitgenössische Kunst bei Prof. Dr. Stanislaus von Moos am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich; 20052008 Habilitationsstipendium des Nachwuchsförderungskredits der Universität Zürich, Arbeitstitel der Untersuchung: »Die Welt des Auges. Studien zu Farbe, Raum und Gestalt in der Kunst und der Wissenschaft 1790 – 1930«; seit April 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich. Forschungsgebiete: Malerei und Architektur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts; Ästhetik; Goethes Farbenlehre; Geschichte der physiologischen Optik des 19. Jahrhunderts; Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys. Barbara Schellewald, Prof. Dr., seit 2004 Ordinaria für Ältere Kunstgeschichte an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Byzantinische Bildproduktion und -programmatik, Bild und Text-Relationen, Kulturtransfer zwischen Ost und West, Wissenschaftsgeschichte. Christian Spies, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Kunst in Siegen, Gainesville/Florida, Frankfurt und Basel. 2001 – 2004 Stipendiat im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und Vergleichendes Sehen
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ästhetische Wahrnehmung« an der JWG-Universität Frankfurt a. M. 2005 Promotion an der Universität Basel, 2004/05 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungskolleg »Medienumbrüche« an der Universität Siegen im Teilprojekt »Virtualisierung von Skulptur«, 2005 – 2007 Postdoktorand im NFS Bildkritik/eikones an der Universität Basel mit einem Projekt zum »Bilderstreit der Moderne«, seit 2008 Assistent am Lehrstuhl für Neuere Kunstgeschichte der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Bildtheorie- und Geschichte der Moderne, Bild und Ornament, Künstlervideo, monochrome Malerei. Veröffentlichungen u. a.: Die Trägheit des Bildes. Bildlichkeit und Zeit zwischen Malerei und Video, München 2007; (Hg. mit Gottfried Boehm und Birgit Mersmann) Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008; (Hg. mit Gottfried Boehm und Sebastian Egenhofer) Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2009. Frank W. Stahnisch, AMF/Hannah Professor in the History of Medicine and Health Care an der University of Calgary, Kanada. Hauptarbeitsgebiete: Physiologiegeschichte sowie Geschichte und Theorie der Neurowissenschaften (18.– 20. Jh.), Historische Entwicklung der Visualisierungsmethoden in der Medizin. Jüngste Buchveröffentlichungen: (Hg. mit Heijko Bauer) Bild und Gestalt. Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften?, Hamburg / Münster 2007; (Hg. mit Antonio Bergua und Ulrich Schönherr) Albert Neissers (1855 –1916) »Stereoscopischer Medicinischer Atlas« – Eine außergewöhnliche fotografische Sammlung aus dem Gebiet der Augenheilkunde, Würzburg 2006. Ulfert Tschirner, M. A., Studium der Geschichte und Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster. Master-Auf baustudium »Museum und Ausstellung« an der Universität Oldenburg. 2005 – 2007 Promotionsstipendiat im Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« der Universitäten Weimar, Erfurt und Jena. Dissertation zum Verhältnis von Museum und Fotografie im 19. Jahrhundert. Zurzeit als freier Museumsberater tätig. Veröffentlichungen: Sammelkasten der Kulturnation. Die mediale Erfassung von Geschichte im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, in: SOWI 34/4, 2005, S. 66 – 77; Kostbarer Krempel. Plädoyer für den Erhalt musealer Unterwelten, in: Museumsjournal für Natur und Mensch 1, 2005, S. 139 –147; Staubecken im Staubecken. Limnologische Betrachtungsweisen des Museums, in: Butis Butis (Hg.), Autorinnen und Autoren
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Stehende Gewässer. Medien der Stagnation, Berlin/Zürich 2007, S. 275 – 288. Zus. mit Gregor Kanitz, Archiv/Brüche. Ein ReviewEssay, in: ÖZG 18/2, 2007, S. 145 –158. Claus Volkenandt, Dr. phil. habil., Privatdozent am Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel, regelmässige Lehraufträge an der Universität Luzern (Soziologisches Seminar) und an der zeppelin university Friedrichshafen (für Kulturgeschichte). Veröffentlichungen u. a.: (Hg.) Kunstgeschichte und Weltgegenwartskunst. Konzepte – Methoden – Perspektiven, Berlin 2004; (Hg. mit Richard Hoppe-Sailer und Gundolf Winter) Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin 2005; (Hg. mit Christian Kaufmann) Between Indigenous Australia and Europe: John Mawurndjul. Art Histories in Context, Berlin 2009; Rembrandt: Anatomie eines Bildes, München 2004. Falk Wolf, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum Ludwig, Köln. Studium der Kunstgeschichte, neueren deutschen Literatur und Philosophie in Bonn und Leicester. Arbeitsschwerpunkte: internationale zeitgenössische Kunst, Museumstheorie, Geschichte und Theorie der Gartengestaltung, Geschichte der Kultur- und Sozialwissenschaften, insbesondere der Kunstgeschichte.
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