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German Pages 260 Year 2005
B E I H E F T E
ZU
editio Herausgegeben von WINFRIED
B a n d 22
WOESLER
Varianten - Variants - Variantes Herausgegeben von Christa Jansohn und Bodo Plachta
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-29522-8
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nadele, Nehren
Inhalt
Vorwort
1
Bernhard R. Appel Variatio delectat - Variatio perturbat Anmerkungen zu Varianten in der Musik
7
Klaus Wachtel Varianten in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments
25
Otto Zwierlein Lesarten-Varianz und Zweitfassung Von Homer bis zu Fabio Chigis Pompeius
39
Ingrid Bennewitz, Ruth Weichselbaumer Lob der Variante(n)? New Philology und die Praxis der mediävistischen Editionen
61
A.S.G. Edwards Collation and Its Misuses in Some Middle English Texts
79
Barbara A. Mowat Q2 Othello and the 1606 "Acte to restraine Abuses of Players"
91
Ian Donaldson Ben Jonson and the Variant
107
Arthur F. Kinney Performance as Variant
119
Rüdiger Nutt-Kofoth Varianten der Selbstdarstellung und der Torso des Gesamtprojekts Aus meinem Leben: Goethes autobiographische Publikationen
137
Barbara Ravelhofer Variatio alla turca - Byrons The Giaour (1813)
157
VI
Inhalt
Annette Seil Varianten zur/der Hegeischen Logik
167
Michael Wheeler The Variant and the Vatican: Catholic and Protestant Authority in Nineteenth-Century English Culture
177
Wolfram Groddeck Werkkomposition und Textgenese Betrachtungen zur , Varianz' von Nietzsches Nachlaß
189
Paul Eggert Variant Versions and International Copyright: The Case of Joseph Conrad's Under Western Eyes
201
Sophie Bertho Variationen und Varianten. Ein ,Monet' bei Proust
213
Dirk Van Hülle What Is the Word: Genetic and Generic Variants in Samuel Beckett's Work
223
Volker Kaukoreit Abweichungen ohne Ende? Anmerkungen zur Variantenproblematik in der Lyrik Erich Frieds
233
Anschriften
253
Vorwort
„Alles braucht Änderungen", schrieb Bertolt Brecht im Oktober 1945 seinem späteren Verleger Peter Suhrkamp' und formulierte damit prägnant sein Arbeitsverfahren am Schreibtisch wie auf der Bühne. Das mehrmalige Überarbeiten früherer Texte ist zu einem .Markenzeichen' des Autors Brecht geworden, und die damit verbundene, von unterschiedlichsten Kontexten bestimmte Produktion von Varianten schuf eine höchst komplizierte Druck- und Überlieferungsgeschichte seiner Werke, die heutige Editoren, aber auch Interpreten, mit oftmals diffizilen Problemen konfrontiert. Brecht ist sicherlich kein Einzelfall, und schon gar nicht ist es ausgemacht, daß nur Literaten Varianten produzieren. Die Variante ist keineswegs nur ein textkritisches und damit literaturwissenschaftliches Phänomen. Sie ist vielmehr ein elementarer Bestandteil der Kulturwissenschaften überhaupt und bestimmt in nicht unerheblichem Maße unsere kulturelle Wahrnehmung. Seit der Antike werden Werke der Literatur oder bildenden Kunst in Varianten überliefert. Shakespeares King Lear und später Goethes Iphigenie oder Rossettis Gedichtsequenz The House of Life liegen in zwei Versionen vor, und im Fall von Joyces Ulysses, Lawrences Lady Chatterley 's Lover oder Prousts A la recherche du temps perdu gelten die zahllosen Varianten als originäres Kennzeichen modernen Erzählens. Brecht etwa produzierte Varianten seiner Theaterstücke, um deren jeweilige Wirkung auf der Bühne zu studieren. Dasselbe gilt sicherlich auch für die Werke Stoppards. Das Musiktheater muß sich etwa im Fall von Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice oder im Fall von Beethovens Oper Fidelio entscheiden, welche Fassung der Oper jeweils zur Auffuhrung gebracht werden soll, und in der Kunstgeschichte lösen die Varianten im Werk Rembrandts oder Vincent van Goghs (Sonnenblumen) immer wieder erhebliche Diskussionen um deren Echtheit und damit Urheberschaft aus. Femer haben verschiedene Leserkreise und Publikationsarten zu verschiedenen Varianten geführt, die entweder vom Autor selbst oder vom Verleger stammen. Dies betrifft fast alle in Serien (meist Zeitschriften) veröffentlichten Werke des 19. Jahrhunderts (Heinrich Heine, George Eliot, Charles Dickens usw.), die sich in Buchform oft wesentlich unterscheiden. Darüber hinaus sind auch zahlreiche Varianten (vom Autor geänderte Textstellen) und Lesarten (meist vom Lektor bzw. Verleger) in den für den britischen und amerikanischen Markt produzierten Bänden zu konstatieren.
Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main 1988-1999, Bd. 29, S. 366.
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Vorwort
Ein besonders prägnantes Beispiel ist Huxleys Roman Brave New World, der zahlreiche Varianten speziell für ein amerikanisches Publikum enthält. Varianten werden nicht selten von den Autoren in einen Anhang verwiesen, so etwa die bekannten „Drafts and Fragments" in Ezra Pounds Cantos·, Wieland etwa teilte in seiner .Ausgabe letzter Hand" Varianten seiner Jugendwerke mit. Varianten gelten in unserer heutigen Kultur als wesentliche Elemente, die sogar bis in unseren Alltag hineinreichen, wenn man allein an solche Varianten denkt, die sich Politiker zur Reform der sozialen und fiskalischen Systeme innerhalb kürzester Zeit ausdenken. Obwohl sich die literatur- und editionswissenschaftliche Diskussion immer wieder - wenn auch eher punktuell und kaum systematisch - der Variante zugewandt hat,2 ist doch zu konstatieren, daß entsprechende Diskussionen in den Nachbardisziplinen wie der bildenden Kunst, Musik oder Philosophie meistens .ausgeblendet' wurden. Und dies, obwohl es unter den Editoren sicherlich viele gibt, die sich im Klavierunterricht mit Variationen abgemüht oder in den 1970er Jahren die schier endlose Serie von Andy Warhols Marilyn Monroe-Varianten bewundert haben. Es soll bei dieser kleinen ,tour d'horizon' auch nicht vergessen werden, daß die Variante bis auf den heutigen Tag ein Phänomen geblieben ist, das durchaus heftige Debatten ausgelöst hat. Zu denken ist natürlich zuerst an solche Varianten, die durch Zensur, Verbot, Exil oder sonstige Zwangsmaßnahmen entstanden sind. Aber auch in der Wissenschaftsgeschichte hat die Variante ihre Spuren hinterlassen: Bernard Cerquiglinis Eloge de la Variante (1989) etwa hat die ,New Philology' stimuliert. Die ,New Philology' ihrerseits hat zu einer differenzierteren Betrachtung varianter Fassungen von mittelalterlichen Texten geführt. Sie hat aber auch das Interesse geweckt, die Variante als Objekt der Interpretation stärker zu berücksichtigen. Die französische .critique genetique' hat der Variante schon vor Cerquiglini einen wichtigen Rang zuerkannt, denn sie richtete bei der Erstellung ihrer „dossiers genetiques" das Augenmerk konsequent auf die genetische Analyse literarischer Handschriften, wobei naturgemäß Varianten bzw. Korrekturen einen zentralen Stellenwert haben. Die Beschäftigung mit Varianten ist natürlich auch von den neuen Medien stimuliert worden, die eine völlig andere Dokumentation von Varianten erlauben. Sicherlich ist die editorische Beschäftigung mit Varianten nicht neu. In der germanistischen Editionswissenschaft wird, wenn es um Varianten geht, gern auf Lessings berühmtes .statement' im 19. der Briefe die neueste Literatur betreffend hingewiesen, in dem er ganz im Sinne einer empirischen Ästhetik der Aufklärungsepoche feststellt: Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter, wie Klopstock, in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln.3 Vgl. z.B. Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Berlin, Leipzig 1886-1924, Bd. 8, S. 50.
Vorwort
3
Auch Goethe erkennt im Studium von „Correcturen" und „Verbesserungen" einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung des kunstkritischen Geschmacks. 4 Er versteht diese „Correcturen" und „Verbesserungen" - das sei ergänzt - als vom Verfasser autorisierte Operationen zur Optimierung des literarischen Werkes. So schreibt er in seinem nicht weniger berühmten und ebenso häufig zitierten Essay Literarischer Sansculottismus mit Blick auf die Neuauflagen von Wielands Werken: wir behaupten, daß ein verständiger fleißiger Literator durch Vergleichung der sämmtlichen Ausgaben unsres W i e 1 a η d s [...] allein aus den stufenweisen Correcturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können. [...] Vielleicht wagen wir in der Folge, die Geschichte der Ausbildung unsrer vorzüglichsten Schriftsteller, wie sie sich in ihren Werken zeigt, dem Publicum vorzulegen. 5
Diese beiden einschlägigen Äußerungen waren - zumindest in der neugermanistischen Editionswissenschaft - stets Basis und Legitimation fur eine systematische Beschäftigung mit Korrekturen, Änderungen oder Varianten, zumal zwei große literarische Autoritäten ihrerseits wieder literarische Autoritäten angeführt hatten, deren Werk und seine poetische Potenz sich demzufolge aus Varianten konstituieren. Wie kurz eine solche normative Betrachtung der Variante, wie sie Lessing und Goethe im Sinn hatten, greift, macht die völlig entgegengesetzte Position Gottfried Kellers deutlich. Keller sieht im Gedicht Poetentod - eine poetische Abrechnung mit der GoethePhilologie - die Variante keineswegs als ästhetisch aufschlußreich für die Genese eines literarischen Textes an: Werft jenen Wust verblichner Schrift ins Feuer, Der Staub der Werkstatt mag zugrunde gehen! Im Reich der Kunst, w o Raum und Licht so teuer, Soll nicht der Schutt dem Werk im Wege stehn! 6
Und auch heutzutage lassen sich Stimmen von Autoren vernehmen, die in der Beschäftigung mit Entwürfen, Varianten und der Textgenese befürchten, daß „zwangsläufig die häßlichsten Baulücken" im Entstehungsprozeß eines Textes zutage gefördert würden. Peter Rühmkorf, der hier stellvertretend zitiert werden soll, gelangt zu der skeptischen Schlußfolgerung: Was sich erhalten hat und was man dann mit Geduld und Spucke übereinander kopieren oder nebeneinander herlesen kann, sind sogenannte Entwürfe, Probierläufe, Phasen und
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Vgl. Anne Bohnenkamp: Autor-Varianten. In: editio 17, 2003, S. 16-30, hier S. 19. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919, Abt. 1, Bd. 40, S. 201. Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Auf Grund des Nachlasses besorgte und mit einem wissenschaftlichen Anhang versehene Ausgabe. Hrsg. von Jonas Fränkel [und Carl Helbling]. Bem, Zürich 1926— 1949, Bd. 2, S. 161.
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Vorwort
Fassungen, aber wie ein Gedicht sich wortwörtlich, um nicht zu sagen buchstäblich entwickelt, bleibt aus Mangel an Bauabfällen meist dem bloßen Vermuten überlassen. 7
Rühmkorf ist kein Einzelfall: Er versteht sich als Handwerker und versucht daher sorgsam seine während der Arbeit angefallenen „Bauabfälle" zu beseitigen. Ein ordentlicher Handwerker räumt nach getaner Arbeit selbstverständlich seine Werkstatt oder seinen Arbeitsplatz auf. Rühmkorf reiht sich damit in eine lange Tradition ein, in der der Autor immer wieder mit einem Handwerker, bevorzugt als Bildhauer, verglichen wird. Die „beim Entstehen einer Skulptur" anfallenden „Brocken fortgeschleuderter Materie" - wie Axel Gellhaus es bildlich beschrieben hat* - werden nicht selten als Abfall mit geringem oder gar keinem Aussagewert fur das vollendete Kunstwerk bezeichnet. Die Sorge, der Literaturwissenschaftler könne solche „Bauabfälle" dazu benutzen, das Kunstwerk zu bewerten, ist nicht unbegründet, denn auch die Geschichte der Edition zeigt, daß Varianten nicht selten allein im Verhältnis zum vollendeten Text qualifiziert wurden. Aber ebenso häufig stößt man auf zahllose ,Variantenfriedhöfe', die nur dem Eingeweihten etwas zu sagen haben, ansonsten ausschließlich dem Prinzip des ,Sammeins' und ,Hegens' zu huldigen scheinen - so die regelmäßig geäußerten Vorwürfe. Man muß nicht besonders darauf hinweisen, daß sich die Einschätzung der Variante inzwischen von einer normativen zu einer deskriptiven verändert hat, und Editoren und Editionen sich der Kritik gestellt haben. Mancher Variantenapparat ist lesbarer und damit verständlicher geworden. Dennoch ist immer noch Aufklärungsarbeit notwendig, um dem Studierenden wie dem Fachkollegen vor Augen zu führen, daß die Beschäftigung mit Varianten kein Selbstzweck ist. Editoren betrachten Varianten natürlich zuerst aus der Perspektive der jeweils spezifischen Überlieferung, legen dann das textkritische Potential der Variante frei und dokumentieren, wenn es die Überlieferung zuläßt, ihre Funktion für die Textgenese und den Schreibprozeß. Wir befinden uns scheinbar auf festem Boden. Versucht man sich aber einmal in den einschlägigen Nachschlagewerken über Definitionen zu informieren, dann wird die Situation wesentlich unübersichtlicher. Im neuen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft z.B. wird man vergeblich nach einem Lemma .Variante' suchen, aber zum Lemma „Lesart, Variante" weiterverwiesen.9 Dies bedeutet - wenn auch mit durchaus berechtigtem Hinweis auf die Etymologie von lateinisch .varians' und auf die sich aus ihr entwickelnde Bedeutung „abweichende Form eines Textes, Lesart, Version"10 daß die Bezeichnungen .Lesart' und .Variante' offenbar als Synonyme 7 8
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Peter Rühmkorf: Selbst III/88. Aus der Fassung. Zürich [1989], S. 716. Axel Gellhaus: Textgenese als poetologisches Problem. Eine Einführung. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Hrsg. von Axel Gellhaus zusammen mit Winfried Eckel, Diethelm Kaiser, Andreas Lohr-Jaspemeite und Nikolaus Lohse. Würzburg 1994, S. 12-24, hier S. 14. Winfried Woesler: Lesart, Variante. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke. Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 401-404. Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. Weitergeführt vom Institut filr deutsche Sprache. Bd. 6. Bearb. von Gabriele Hoppe, Alan Kirkness, Elisabeth Link, Isolde Nortmeyer, Gerhard Strauß unter Mitwirkung von Paul Grebe. Berlin, New York 1983, S. 115.
Vorwort
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verstanden, zumindest aber als solche gebraucht werden. Das bringt den Editor in ein Dilemma, denn zumindest in der neugermanistischen Editionswissenschaft ist seit mehreren Jahrzehnten eine terminologische Differenzierung zwischen Variante und Lesart gebräuchlich geworden, auch wenn die jeweiligen Definitionen im Detail wiederum voneinander abweichen. Diese Differenzierung geschah sicherlich auch deshalb, um der vollkommen anderen Überlieferung von modernen und antiken bzw. mittelalterlichen Texten Rechnung zu tragen. Sieht man einmal von der Praxis der Heine-Säkularausgabe ab, die den entsprechenden Teil ihrer Bände sybillinisch mit „Mitteilungen zum Text" überschreibt, dann wird doch überwiegend Variante im Sinne von Entstehungsvariante und Lesart im Sinne von Überlieferungsvariante verstanden. Aber dieser Konsens ist nur ein scheinbarer und macht offensichtlich, wie ungeregelt die editorische Terminologie zumindest in der Germanistik eigentlich ist. Und, auch das sei kritisch angemerkt, die Terminologie sollte von den anderen Philologien mitgetragen werden können. Zu einer Verständigung trägt die Produktion fachsprachlicher Varianten in der Tat nicht bei, und dies schon gar nicht mit Blick auf die internationale Diskussion. Die Notwendigkeit einer fachsprachlichen Verständigung ist auch deshalb so dringend notwendig, weil genetische Prozesse und Schreibverfahren mit dem Aufkommen der Faksimile-Ausgaben verstärkt auf editorisches Interesse stoßen, und die Variante nun mit den Begriffen .Änderung' und .Korrektur' konfrontiert wird, nachdem sich die editorischen Gemüter stets an der Definition und Dokumentation der Altematiwariante erhitzt haben. Aus diesen wenigen Hinweisen ist ersichtlich, daß Variante nicht gleich Variante ist. Es werden unterschiedliche editorische Perspektiven deutlich, die die Variante als ein editor- bzw. rezeptionsbezogenes Phänomen verstehen, während die Verwendung der Begriffe .Korrektur' und .Änderung' die autorbezogene bzw. produktions- oder schreibbezogene Dimension betont." Vor diesem hier nur knapp skizzierten Hintergrund erschien eine Bestandsaufnahme notwendig. Aber das Phänomen der Variante ist nur aus einer erweiterten, zudem internationalen und interdisziplinären Perspektive sinnvoll in Augenschein zu nehmen, wobei es auch darum gehen muß, möglichst viele unterschiedliche Fallbeispiele kennenzulernen. Die Beiträge dieses Bandes bieten daher exemplarische Problemaufrisse, die einen Bogen von der antiken über die mittelalterliche Literatur zu Shakespeare, Goethe, Lord Byron, Hegel, Nietzsche, Proust, Joseph Conrad, Bekkett und Erich Fried spannen, aber auch die altphilologische und musikwissenschaftliche Diskussion einzubeziehen versuchen. Dadurch - so die Absicht des vorliegenden Bandes - kann eine Basis fur eine weiterführende Problematisierung des Phänomens geschaffen werden, die neben der editorischen auch die hermeneutische und kulturelle Bedeutung der Variante stärker in den Fokus rückt. Folgende Aspekte durchziehen die Beiträge des Bandes wie ein roter Faden, ohne daß damit endgültige Antworten zu geben beabsichtigt waren:
Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zur Terminologie und Editionspraxis in der Neugermanistik. In: Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet (Eds./Hrsg.): Perspectives of Scholarly Editing. Perspektiven der Textedition. Berlin 2002, S. 29-45.
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Vorwort
Was ist eine Variante? Welche theoretischen und methodischen Konzepte gibt es für das Phänomen Variante? Auf welche Weise sind Varianten kontextabhängig, und wie funktioniert diese Abhängigkeit? Gibt es eine Typologie von Varianten? Inwiefern beeinflussen Varianten das Verständnis eines Kunstwerks? Wie sind Varianten sinnvoll zu dokumentieren, und welche Aufgabe kommt den neuen Medien bei dieser Dokumentation zu?
Der vorliegende Band geht auf die gleichnamige internationale und interdisziplinäre Tagung zurück, die das Centre for British Studies der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und das Lehrgebiet Deutsche Sprache und Kultur der Vrije Universiteit Amsterdam vom 4. bis zum 6. Dezember 2003 in Bamberg veranstaltet haben. Nicht alle damaligen Vorträge können veröffentlicht werden; ergänzt wurde der Band jedoch um Beiträge, die seinerzeit dort nicht gehalten werden konnten. Dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, der Universität Bamberg (Ständige Kommission für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs) und der Faculteit der Letteren der Vrije Universiteit Amsterdam ist an dieser Stelle für die finanzielle Unterstützung zu danken, die diese Tagung erst möglich gemacht hat. Bamberg, Amsterdam, im Januar 2005
Christa Jansohn, Bodo Plachta
Bernhard R. Appel
Variatio delectat - Variatio perturbat Anmerkungen zu Varianten in der Musik
Zu den grundlegenden Konstruktionsprinzipien der Musik, nicht nur der abendländischen, gehört die Variation. Das BegrifFswort bezeichnet einerseits einen mit überaus zahlreichen Kompositionen belegten musikalischen Gattungsbereich, eben die „Variation über ein eigenes oder fremdes Thema", schließt aber andererseits zahlreiche andere Kompositionsformen ein, etwa die Passacaglia, Chaconne, Diminutionsreihen über einem Basso-Ostinato oder Mischformen wie das Variationsrondo. Es wäre vermessen, an dieser Stelle die Geschichte der Variation, die Vielfalt ihrer satztechnischen Erscheinungsformen, ihre formbildenden und musikästhetischen Implikationen auch nur ansatzweise thematisieren zu wollen. Hier sei lediglich daran erinnert, daß in der komponierten Musik neben geschichtlich kodifizierten Variationsgattungen noch eine reiche strukturelle Mannigfaltigkeit und Heterogenität musikalischer VariantenPhänomene anzutreffen ist. Diese in den Werktext eingearbeiteten Varianten sind konstitutive Bestandteile von Kompositionen, weshalb ich sie unter dem Oberbegriff Werktextvarianten1 zusammenfasse. Die Omnipräsenz von Variationsprinzipien zeigt sich in der Musik in einer Vielzahl von Satztechniken und Klangstrukturen, die mit Fachausdrücken belegt werden, denen man das ihnen begrifflich innewohnende Variationsmoment nicht immer sofort ansieht: man denke etwa an ausgezierte Da-capo-Formen, veränderte Reprisen und Refrains, an Metamorphosen von Spielfiguren, Sequenzen, an kontrapunktische Verwandlungskünste usw. Trotz ihrer Vielfalt besitzen diese Kompositionsstrukturen ein Bündel gemeinsamer Merkmale, das es gerechtfertigt erscheinen läßt, sie als Strukturvarianten zu bezeichnen, die dem Oberbegriff Werktextvarianten zu subsumieren sind. Dieser kompositionstechnische bzw. formanalytisch bestimmbare Begriff Strukturvariante bedarf allerdings einer klaren Abgrenzung gegenüber dem philologischen Variantenbegriff. Als Verwandtschaftsbezeichnung bezieht sich die Strukturvariante auf eine im Werktext vorliegende strukturelle Vorgabe (z.B. ein Thema oder ein Motiv), die verändert wieder in ein- und demselben Werktext aufgegriffen wird. Von Strukturvariante können wir demnach nur dann sprechen, wenn zwischen Muster (Thema, Motiv) und Variante ein Ähnlichkeitsverhältnis besteht und Muster und Variante in ein und demselben Werktext anwesend, d.h. in der Auffuhrung zu hören sind. Diese beiden Bedingungen, Ähnlichkeit und sukzessive Text- bzw. Auffiihrungspräsenz, erzeugen
Mit „Werktext" ist die vom Komponisten zur Aufführung bestimmte definitive Textgestalt einer Komposition, das abgeschlossene musikalische Kunstwerk, gemeint.
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Bernhard R. Appel
einen Beziehungszauber und mithin jenen ästhetischen Genuß, auf den die Sentenz variatio delectat zielt. Die Musik kennt eine häufig belegte Form von Werktextvarianten, die keine vergleichbare literarische Parallele findet. Es handelt sich um sogenannte OssiaVarianten. Die italienische Konjunktion ossia (oder, auch) bringt zum Ausdruck, daß innerhalb eines geschlossenen Werktextes eine punktuelle Textalternative vorliegt, „von denen die eine bequemer auszuführen ist als die andere", und „der Vortragende" zwischen beiden frei „wählen" darf.2 Derartige Alternatiwersionen, deren Geschichte noch unerforscht ist, finden sich seit etwa 1800 zunächst in Klavierauszügen.3 Sie sind dort als Konzessionen an den Liebhaber eingebracht, denn sie offerieren bei spieltechnisch komplizierten Stellen dem pianistisch weniger Versierten leichter ausführbare Alternativen. Aber auch auf den professionellen Instrumentalisten nehmen Komponisten mittels Ossia-Varianten Rücksicht. Beispielsweise sind Franz Liszts originale Klavierwerke mit zahlreichen Ossia-Varianten durchsetzt, die ausdrücklich als piit facile gekennzeichnet sind. Im Partiturautograph zum Concertino fiir Horn und Orchester e-Moll op. 45 notiert Carl Maria von Weber für T. 294 eine Altematiwersion für das Solo-Horn (Beispiel 1), die er ausdrücklich als „Variante" bezeichnet: Gemeint ist eine OssiaVariante. Die zwischen einer Ossia-Variante als spieltechnisch leichterer Ersatzversion und der technisch schwerer ausführbaren Version des Haupttextes bestehende Hierarchie wird in Notendrucken zumeist graphisch hervorgekehrt: Die schwierigere Textstelle findet sich im Haupttext installiert, während die erleichterte Alternative gewissermaßen exterritorial und zudem im sogenannten Kleinstich angebracht wird.4 (Betrifft die
Alt. Ossia. In: Musicalisches Lexicon. Auf Grundlage des Lexicon's von H. Ch. Koch verfaßt von Arrey von Dommer. Heidelberg 1865, S. 662. In Heinrich Christoph Kochs Musikalischem Lexikon (Frankfurt/Main 1802) fehlt noch ein entsprechender Artikel. Joachim Veit, Frank Ziegler: Webers Klavierauszüge als Quellen für die Partituredition von Bühnenwerken? Mit einem Exkurs zur Geschichte des Klavierauszugs. In: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis. Hrsg. von Helga Lühning. Tübingen 2002 (Beihefte zu editio. 17), S. 119-163. Rufus Hallmark macht jedoch darauf aufmerksam, daß im Einzelfall die Kleinstich-Altemative auch den schwierigeren Ausfiihrungstext enthalten kann. (Textkritische und auffiihrungspraktische Probleme in Schumanns Liedem. In: Schumann und seine Dichter. Bericht über das 4. Internationale Schumann-Symposion am 13. und 14. Juni 1991 im Rahmen des 4. Schumann-Festes, Düsseldorf. Hrsg. von Matthias Wendt. Mainz, London 1993 (Schumann Forschungen. 4), S. 110-121, hier der Abschnitt: Ossia-Noten, S. 115f.). Außerdem gibt es Fälle, in denen auch die Ossia-Variante im Normalstich gedruckt wird, die graphische Hierarchisierung zwischen „schwer" und „leicht" also entfallt. Vgl. etwa R. Schumanns Sololied Kennst du das Land? Op. 98 a, Nr. 1, T. 12 (Originalausgabe, Leipzig 1851).
Variatio delectat - Variatio perturbat
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Beispiel 1: Carl Maria von Weber, Concertino fur Horn und Orchester e-Moll op. 45, Partiturautograph, T. 294—305 (Partiturordnung: VI. I und II, Va., C o m o principale, Bassi; im obersten System zu Τ. 294 Variante für die Hornstimme) - (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz; Mus. ms. autogr. C.M. v. Weber W F N 9)
erleichterte Alternative nur einen Einzelton oder wenige Töne, so wird die OssiaNotation auch in der Stimme selbst im Kleinstich angegeben.)5 In Strophenliedem werden deklamatorisch bedingte melodische Änderungen in Folgestrophen häufig auch im Kleinstich angegeben. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um Ossia-Varianten, sondern um verbindliche, strophengebundene Änderungen. Die Darstellung im Kleinstich ist hier nur eine druckökonomische Maßnahme (weil sie den kostspieligen Wiederabdruck der Strophe spart) und keine Adlibitum-Altemative. Die Musikeditorik hat die Ossia-Darstellungsform zur Präsentation textgenetischer Varianten übernommen. Hier geht es aber ebenfalls nicht um Alternativen, zwischen denen frei gewählt werden kann, sondern stets um Fassungsvarianten, die aufführungspraktisch nicht kontaminiert werden dürfen. In Werkeditionen ermöglicht der Ossia-Druck eine kosten- und platzsparende Vermittlung zweier Werkfassungen, zwischen denen der Interpret wählen kann, wobei er sich jedoch strikt nur an eine der beiden Werkfassungen zu halten hat, denn es handelt sich hier nicht um ad hoc frei wählbare Aufführungsaltemativen. Als editorische Maßnahme ist demnach der Ossia-Druck als ein ökonomisch optimierter Paralleldruck gleichwertiger Fassungen zu verstehen, der überdies für den lesenden Analytiker die Fassungsdifferenzen in bequemer Synopse vermittelt.
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Bernhard R. Appel
Violoncell Solo.
II? Beispiel 2: Robert Schumann, Violoncello-Konzert ausgabe: Leipzig, Breitkopf & Härtel 1854)
op. 129, Beginn der Solostimme (Original-
In der Originalausgabe der Solostimme des Violoncello-Konzerts op. 129 von Robert Schumann sind Ossia-Varianten nicht nur durch Kleinstich, sondern zugleich durch den expliziten Hinweis „Erleichert:" als spieltechnisch reduzierte, aber gleichwohl autorisierte Auffiihrungsaltemativen gekennzeichnet (Beispiel 2).6 Manchmal gehen diese instrumental-idiomatisch begründeten Alternativen auf einen Interpreten zurück, der mit dem Komponisten zusammengearbeitet hat. Im vorliegenden Fall sind sie das Ergebnis von Beratungsgesprächen, die Schumann mit Robert Emil Bockmühl, dem designierten Interpreten einer geplanten, aber nicht zustande gekommenen Uraufführung des Cellokonzerts geführt hat. Dennoch gelten - dies sei nochmals betont - Ossia-Abschnitte als autorisiert. Schon die notationstechnische Installierung von Ossia-Varianten läßt drei, ihr unabdingbar eigene kompositorische Strukturmerkmale erkennen. Erstens ist jede Ossia-Variante im Werktext hinsichtlich ihres Geltungsbereichs (Anfang, Dauer, Ende) und natürlich in ihrer textlich-inhaltlichen
In einem von insgesamt 12 Fällen ist eine Ossia-Variante (Finale, T. 714f.) mit dem Zusatz „Oder:" (also der Verdeutschung des italienischen „ossia") versehen, ohne daß Gründe für diesen Bezeichnungswechsel einsichtig wären. Allenfalls könnte „oder" auf die hier vorliegende idiomatischtechnische Gleichrangigkeit beider Textversionen bezogen werden.
Variatio delectat - Variatio perturbat
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Gestalt genau definiert. Sie ist als aufführungspraktisch optionale Ersetzung nicht nur exakt kontextuell verortet, sondern zugleich quantitativ identisch mit dem Grundtext, den sie vertritt. Zweitens unterliegt die Ossia-Variante, als Ersatzsegment einer Einzelstimme, den harmonischen und syntaktischen Bedingungen, die der Kontext der übrigen Stimmen, der musikalische Satz, oktroyiert. Anders formuliert tangiert die Varianz der Ossia-Alternativen nur die rhythmisch-melodische, nicht aber die harmonische Grundstruktur des simultan erklingenden Satzes. Sie teilt mit ihrer Alternativversion gleiche qualitative, inhaltliche Eigenschaften: Syntaktische Paßgenauigkeit und harmonische Kompatibilität, also Ähnlichkeitsrelationen, wie sie für alle Werktextvarianten gelten. Daraus wiederum folgt drittens eine spezifische Textvalenz der Ossia-Variante. Während zwischen genetischen Varianten des Typus Ersetzung über den noch zu berichten sein wird - eine Art Verdrängungsverhältnis besteht, weil eine spätere Variante ihren Vorläufertext für ungültig erklärt, koexistieren Grundtext und Ossia-Varianten in einem friedlichen Entweder-Oder. Die chronologischgenetische Differenz und das Verdrängungspotential fassungskonstituierender, genetischer Varianten (siehe S. 16) ist demnach in der Ossia-Variante gegenstandslos: Ossia-Varianten formulieren aufführungspraktische Alternativen innerhalb ein und derselben Fassung. Diese Alternativen könnte man aufgrund ihrer Familienähnlichkeit als strukturelle Synonyme7 bezeichnen. Oder, um einen Vergleich mit der Mathematik zu wagen: Für Ossia-Varianten gilt wie für Additionen und Multiplikationen das Kommutativgesetz; Summanden bzw. Faktoren können beliebig ausgetauscht werden, ohne daß sich dadurch Summen und Produkte änderten. Dieser strukturalistischen Argumentation gegenüber könnte der Einwand erhoben werden, daß Ossia-Alternativen prinzipiell ästhetisch ungleichwertig seien, denn die spieltechnisch „leichtere" Version besitze im Vergleich zur „schwierigeren" Alternative einen reduzierten Kunstanspruch und sei - weil sie als Erleichterungsstruktur dem komplexeren Grundtext kompositorisch nachgeordnet ist - im strikten und übertragenen Wortsinn bloß sekundär und entspräche deshalb nur noch annäherungsweise der eigentlichen Intention ihres Schöpfers. Abgesehen von dem müßigen Unterfangen, derartige ästhetische Wertfragen argumentativ entscheiden zu wollen, sei hier nur eingewandt, daß Ossia-Varianten als Ad-libitum-Optionen im Notentext gleichberechtigt autorisiert und authentisch auftreten und die Kategorien autorisiert und authentisch weder den Komparativ, noch den Elativ oder den Superlativ zulassen. Auch die vielberufene, aber argumentativ stets untaugliche Instanz der schöpferischen Intention greift nicht: Allenfalls könnte man dem Schöpfer von Ossia-Varianten intentionale Entscheidungsschwäche unterstellen.
Anstelle dieses sprachbezogenen Vergleichs könnte man auch - vielleicht sogar hinsichtlich der Bedeutung angemessener - von struktureller Homologie sprechen.
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Bernhard R. Appel
Beispiel 3: Robert Schumann, Der Contrabandiste aus dem Spanischen Liederspiel op. 74, Anhang, T. 77-84 (Originalausgabe: Leipzig, Fr. Kistner 1849)
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Im Bereich der Vokalmusik ist in Ossia-Varianten häufig auch die Textdeklamation von Änderungen betroffen, die neben einem melodisch-rhythmischen noch ein sprachliches Varianzmoment ins Spiel bringen. Schumanns klavierbegleitetes Sololied Der Contrabandiste op. 74, Anhang, enthält in der Singstimme zwei identische Ossia-Varianten (T. 49-56 und T. 77-84), in denen diffizile, koloraturartige Melismen durch vereinfachte Singmelodien ersetzt werden, wobei die bei der Vereinfachung notwendige syllabische Textierung in bloßen Wortwiederholungen besteht (Beispiel 3). Aber auch in diesem vokalmusikalischen Fall wird die für die Ossia-Variante behauptete Familienähnlichkeit nicht in Frage gestellt: Der syllabisch iterierte Singtext der Ossia-Version ist im Vergleich zur melismatischen Textunterlegung der Basisversion ein bloßer Pleonasmus. Daß Ossia-Varianten, selbst dann, wenn sie gehäuft in einer Komposition auftreten, keine unterschiedlichen Werkfassungen begründen, dürfte schon anhand der bisherigen Überlegungen einsichtig geworden sein, läßt sich aber darüber hinaus noch durch ein kleines Rechenexempel verdeutlichen.8 Das genannte Violoncello-Konzert Schumanns enthält in der Solo-Stimme zwölf Ossia-Varianten. Der Cellist kann sich bei jeder Stelle nach Belieben für den Basistext oder für die Ossia-Variante entscheiden, wobei sich rein rechnerisch 212, also 4.096 Kombinationen ergeben. Aber von 4.096 Fassungen des Cellokonzerts zu sprechen wäre absurd. Eine auf den ersten Blick an Ossia-Varianten erinnernde Sonderform autorisierter Textalternativen ist an konkrete Auffiihrungssituationen gekoppelt. Vor allem Opernouvertüren sind davon betroffen. Diese gehen gelegentlich kompositorisch nahtlos in die szenische Handlung über, so daß isolierte Ouvertürenaufführungen im Rahmen von Konzerten eines eigenen Schlusses bedürfen. Wir haben demnach zwei Fassungen zu unterscheiden. Zu Mozarts Ouvertüren zur Entführung aus dem Serail und zum Don Giovanni beispielsweise gibt es neben den ursprünglichen Opernfassungen auch Konzertfassungen mit jeweils geändertem Schluß.9 Man kann autorisierte Konzertschlüsse als Funktionsvarianten bezeichnen, weil der jeweilige Gebrauch der Varianten Schlüsse an die Funktion der Aufführung gebunden ist. In die gleiche Kategorie von Funktionsvarianten fällt der sogenannte Strich, eine exakt begrenzte Kürzungserlaubnis, die mancher Komponist, z.B. Max Reger, in einer Werkausgabe explizit erteilt. Wird ein Musikwerk klanglich realisiert, so produzieren Interpreten stets Auffuhrungsvarianten, die im zugrundeliegenden Werktext nicht schriftlich vorgegeben sind. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Aufführungsvarianten den Werktext verfälschten. Im Gegenteil: Authentische Werktexte sind Handlungsanweisungen, die mit interpretatorischen Lizenzen und Varianten rechnen, welche durch die epochenstilistische Zugehörigkeit des Werks mehr oder weniger vage definiert und begrenzt sind. Die rigoristische, von Hans Zeller für literarische Texte formulierte Auffassung kann auf OssiaVarianten in der Musik nicht übertragen werden: „Eine Fassung wird also konstituiert durch mindestens eine Variante. Durch die Änderung auch nur eines Elements, das zu vielen andern in Beziehung tritt bzw. vom Leser zu ihm in Beziehung gesetzt werden kann, ergeben sich neue Beziehungen, also ein neues System, eine neue Fassung" (Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5, 1975, H. 19/20: Edition und Wirkung, S. 105-126, hier S. 115). Sie wurden jüngst von Bastian Blomhardt wiederentdeckt und ediert.
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Tempo und Dynamik sind im Werktext ohnehin keine exakt festlegbare mathematische bzw. physikalische Parameter, sondern lassen dem Interpreten Realisierungsund Nuancierungsspielräume. Neben diesen agogischen Freiräumen, die für jede komponierte Musik gelten, sind Musikwerke, die zwischen etwa 1600 und 1800 entstanden sind, auf die aufführungspraktische Ergänzung kompositorischer „Leerstellen" notwendigerweise angewiesen. An bestimmten festgelegten Textpositionen sind vom Interpreten zum Beispiel improvisierte Solokadenzen einzuschalten, in wiederholten Formteilen sind sogenannte willkürliche Manieren, also Verzierungen, anzubringen, und der nur durch Bezifferung einer Baßstimme festgelegte harmonische Verlauf (Generalbaß) ist vom Continuospieler selbständig in eine Akkordbegleitung umzusetzen. Die Grenzen zwischen werktreuer Aufführung und Interpretenwillkür sind hinsichtlich der Aufführungsvarianten schwer zu ziehen. Ich belasse es bei dieser zugegebenermaßen oberflächlichen Darlegung zu den Aufführungsvarianten, die eine tiefergehende Darstellung verdienten, und wende mich dem Begriff Variante innerhalb seines musikphilologischen Anwendungsbereichs zu. In der neuen Ausgabe der Enzyklopädie Musik in Geschichte und Gegenwart findet sich weder ein selbständiger Artikel zu „Variante", noch taucht dieses Schlagwort im Register auf. Gleichwohl wurde und wird natürlich innerhalb der Musikphilologie der Begriff Variante ständig terminologisch gebraucht, und an Definitionsversuchen fehlt es nicht.10 Im außerordentlich gründlichen und konzisen begriffsgeschichtlichen Artikel Varietas, variatio/Variation, Variante, den Horst Weber 1986 im Handwörterbuch der musikalischen Terminologie vorgelegt hat, wird der vexierende Gebrauch des Varianten-Begriffs dokumentiert. Die musikphilologische Verwendungsweise des Variantenbegriffs wird dort aber nicht eigens problematisiert. In Webers Artikel heißt es in einer vorläufigen Begriffsbestimmung, „Variante" bezeichne „eine abweichende Lesart, [...] d.h., ein gegenüber seiner ursprünglichen Erscheinungsform nur geringfügig abgewandeltes Gebilde"." Dies ist freilich keine für die Musikphilologie auch nur ansatzweise hinreichende Definition. In Webers quasi synonymer Gleichsetzung von Variante und abweichender Lesart spiegelt sich ein unscharfer, mißverständlicher Sprachgebrauch,12 der - gerade weil er schwer zu umgehen ist - wenigstens kommentiert sei. Lesart wird in der Musikwissenschaft, d.h. sowohl in Werkanalysen als auch in Darlegungen philologischer Sachverhalte, meist als Passepartout-Bezeichnung für lokal begrenzte Textdivergenzen gebraucht, gleichgültig, ob diese innerhalb ein und desselben Werktextes, zwischen verschiedenen Werkfassungen oder zwi-
Vgl. z.B. die Klassifizierung von Georg Feder (Einführung in die Musikphilologie. Darmstadt 1987, S. 60) und meinen Beitrag: Abweichungstypen in Abschriften und Drucken. In: Robert Schumann und die französische Romantik. Bericht über das S. Internationale Schumann-Symposion am 9./10. Juni 1994 in Düsseldorf. Hrsg. von Ute Bär. Mainz 1997 (Schumann Forschungen. 6), S. 275-293. Horst Weber: Art. Varietas, variatio/Variation, Variante. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Ordner VI: Si-Z. Hrsg. von [...] Albrecht Riethmüller. Stuttgart 1986, S. 3. Begriffsgeschichtliche Erläuterungen zum Variantenbegriff finden sich am Schluß des Artikels, S. 44-48. Wenig hilfreich ist die Begriffsdarlegung in Grimms Deutschem Wörterbuch (Bd. 6, Sp. 771), Lesart sei die „art, eine bestimmte textessteile [...] zu lesen", denn hier werden definiendum und definiens zirkulär aufeinander bezogen.
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sehen verschiedenen Textzeugen und -quellen auftreten. Innerhalb dieser Bedeutungsbreite läßt der Begriff Lesart offen, ob diese Abweichungen autorisiert oder nicht-autorisiert bzw. hinsichtlich ihrer Lesung sicher oder unsicher sind. Erst durch den jeweiligen Argumentationszusammenhang gewinnt der Begriff Lesart eine gewisse begriffliche Präzision. Aber nicht nur im Sprachgebrauch der Musikphilologie,13 sondern auch in dem der Nachbarphilologien werden Variante und Lesart begrifflich oft nicht genau voneinander getrennt.14 Dies ist zwar kein Entlastungsargument für die Musikphilologie, dämpft aber terminologischen Reformeifer und mahnt, mich endlich meinem eigentlichen Thema, der philologischen Bedeutung des Variantenbegriffs, und hier zunächst den genetischen oder Entstehungsvarianten, zuzuwenden. Daß die folgenden Überlegungen im Unterschied zu den vorangegangenen abstrakt bleiben, d.h. kaum durch konkrete Beispiele illustriert werden, möge der mir zur Verfügung stehende Publikationsraum entschuldigen. Eine genetische Variante ist ein relationales Textphänomen, denn sie befindet sich immer in einem quantitativen, kontextuellen, inhaltlich-qualitativen, einem chronologischen und einem textdynamischen Bezugsrahmen und steht zugleich in einem urheberschaftlichen Zusammenhang. Als lokales Textsegment ist die Variante quantitativ begrenzt. Und damit ist zugleich ihre kontextuelle Einbindung in einen größeren, unverändert bleibenden Textzusammenhang impliziert, denn der unverändert gebliebene Umgebungstext definiert Textgrenzen und -position des Variantensegments. Diese Kontexteinbindung lenkt notwendigerweise den Blick auf inhaltlich-qualitative Aspekte der Variante: Sie überführt einen bereits existenten, sinnvollen Text in eine andere sinnvolle Textgestalt. Die genetische Variante definiert demnach verschiedene Textstufen. Anders formuliert: Eine genetische Variante ist jeweils an eine bestimmte Textstufe gekoppelt und besitzt nur für diese Gültigkeit. Darin unterscheidet sie sich von Werktextvarianten. Ihre Sinnkonsistenz grenzt die genetische Variante von der Textfehlerkorrektur15 ab. Konzeptionelle Änderungen sind nicht zwangsläufig als qualitative Optimierungsmaßnahmen zu bewerten. Oft genug ändert ein Komponist
Feder 1987 (Anm. 10), S. 57f.: „Beschränken sich die Verschiedenheiten auf einzelne Noten oder kleine Notengruppen, spricht man von Varianten und Lesarten: von Varianten eher dann, wenn sie vom Komponisten, von Lesarten, wenn sie von anderen Personen herbeigeführt worden sind, sei es absichtlich oder unabsichtlich, oder wenn es unklar ist, auf wen sie zurückgehen. Jedoch kommt diesen unterschiedlichen Bezeichnungen keine Verbindlichkeit zu." Der Germanist Herbert Kraft begründet plausibel eine scharfe begriffliche Trennung zwischen Lesart und Variante, die allerdings auf den Sprachgebrauch der Musikwissenschaft aus sachlichen Gründen (die ich aus Platzmangel hier nicht darlegen kann) nicht einfach übertragbar ist: Lesarten sind B e standteile desselben Textes, sind funktional unterschiedliche Positionen einer Textstelle; sie dokumentieren den Text an einer bestimmten Stelle, werden möglicherweise durch die editorische Interpretation zum edierten Text. Varianten dagegen sind Abweichungen einer anderen Fassung, sind Stellen eines anderen Textes in funktional vergleichbarer Position; sie dokumentieren Unterschiede zum edierten Text." Diese Trennung korrespondiert mit einem differenzierten Textbegriff und einer Unterscheidung zwischen fremdschriftlichen Textzeugen einerseits und Eigenschriften eines Autors andererseits. Textzeugen „berichten von Texten und enthalten deren Lesarten, eigenhändige Niederschriften oder authentische Drucke enthalten Texte und Varianten" (Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff, unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt 1990, S. 39-58, Zitate: S. 40 und 42). Vgl. hierzu Joachim Veit: Autorisierte Verfälschung? Zum Verhältnis von Autograph, Kopie und Druck bei Carl Maria von Weber. In: editio 17, 2003, S. 137-154.
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Teile seiner Komposition, nicht der Verbesserung halber, sondern um sie geänderten Auffiihningsbedingungen, Interpreten- oder Verlegerwünschen anzupassen. Die Operngeschichte liefert hierzu reiches Anschauungsmaterial. Zwischen einer früheren Textstufe und der auf sie bezogenen Variante besteht immer eine zeitliche Distanz hinsichtlich ihrer schriftlichen Fixierung. Das Substitutionsmoment der Variante verleiht der ihr vorausgehenden Textgestalt eine nur temporäre Gültigkeit. Schließlich besitzt die genetische Variante eine textdynamische Wertigkeit, weil sie „das vermeintlich Fixe der einmaligen Textfassung zugunsten einer Bewegung" auflöst16 und damit das Beziehungsgefüge des gesamten Werktextes beeinflußt. Trotz ihrer textverändernden Wirkung tangiert die genetische Variante nicht die Authentizität des Textes, sofern sie vom Komponisten selbst stammt, also im urheberrechtlichen Sinne autorisiert ist. Friedrich Beißners für literarische Texte getroffene Unterscheidung zwischen autoreigenen Entstehungs- und fremden Uberlieferungsvarianten17 läßt sich - wenn auch mit gewissen Einschränkungen, die hier nicht diskutiert werden können - auf musikalisch-kompositorische Sachverhalte übertragen. Hinsichtlich der musikalisch-strukturellen Erscheinungsform bestehen zwischen Entstehungs- und Überlieferungsvarianten nur in einem Ausnahmefall Unterschiede, weshalb die folgenden, auf Entstehungsvarianten bezogenen Ausführungen prinzipiell auch für Überlieferungsvarianten gelten. Entstehungs- oder genetische Varianten treten im Verlauf des Kompositionsprozesses, der sich von der ersten Skizze bis hin zur Originalausgabe bzw. zur letzten autorisierten Werkfassung erstreckt, mit logischer Zwangsläufigkeit auf. Während im eindimensional linear verlaufenden Sprachtext genetische Varianten an diese Linearität gebunden sind, treten in der Musik Varianten sowohl linear eindimensional, also in Einzelstimmen, als auch als komplexe mehrdimensionale Gebilde in Erscheinung, welche das harmonische Gefüge mehrerer Stimmen gleichzeitig betreffen. Dabei kann die Varianz die Textsubstanz (Rhythmus, Melodie, Harmonie, Instrumentation) ebenso betreffen wie die akzidentelle Ebene des Notentextes (Interpretationsanweisungen, Dynamik, Agogik, Spielanweisungen, Bogensetzung).
Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 171. Neue Wieland-Handschriften. Aufgefunden und mitgeteilt von Friedrich Beißner. Berlin 1938 (Abhandlungen der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1937. Phil.-hist. Klasse Nr. 13). Vgl. auch Friedrich Beißners Darlegungen in: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift fur deutsche Philologie 83, 1964, S. 72-95. U.a. hat Herbert Kraft die von Beißner vorgeschlagene Unterscheidung im Zusammenhang mit der bereits zitierten Abgrenzung von Variante und Lesart kritisiert: „Indes bleiben die Begriffe [Entstehungs- und Überlieferungsvariante] auch mißverständlich. So wird möglicherweise .Entstehung' auf .Vorstufen' eingeschränkt, und .Überlieferung' darf jenem anderen Terminus nicht widersprechen, der zum Grundbestand der editionsphilologischen Fachsprache zählt: .Überlieferungsträger'. Im Begriff ,Überlieferungsträger' nämlich bezeichnet .Überlieferung' die historische Form der Texte selbst, im Begriff .Überlieferungsvarianten' jedoch soll .Überlieferung' gerade deren Verfälschung angeben. .Entstehungsvarianten' sind .Varianten', ,Überlieferungsvarianten' dagegen sind .Lesarten': Korruptelen aus Abschriften und Doppeldrucken sowie andere Überlieferungsfehlei" (Kraft 1990, Anm. 14, S. 41f.).
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Georg Feder hat die in der angelsächsischen Copy-Text-Theorie gebräuchliche Unterscheidung zwischen substantiellen und akzidentellen Varianten auf musikphilologische Sachverhalte übertragen, ohne aber die damit verknüpften editorischen Konsequenzen auch auf die musikwissenschaftliche Editorik anzuwenden.18 Diastematik und Rhythmik werden als substantielle Textebene der Notation begriffen, während die ihr übergestülpten Ausführungsanweisungen (Dynamik, Agogik, Artikulation, Phrasierung, Tempo, Ausdrucksbezeichnung etc.) als akzidentelle Textebene betrachtet werden. Eine verallgemeinernde, überhistorische Abgrenzung zwischen Substanz und Akzidenz ist jedoch nicht möglich, und dies aus folgenden Gründen: Zum einen können einst akzidentelle Elemente im Verlauf der Notationsgeschichte zu substantiellen werden (z.B. Instrumentationsangaben oder dynamische Angaben in serieller Musik), und zum anderen gibt es Notationselemente, die je nach Kontext substantiell oder akzidentell sein können: Z.B. kann die Behalsungsrichtung sowie die Balkengruppierung in einstimmigen Verläufen akzidentell sein, wogegen sie im mehrstimmigen Kontext mitunter einen substantiellen Parameter darstellt. Notenschlüssel sind in der älteren Musik substantiell, weil sie Stimmlagen definieren, wogegen sie in der neueren Musik, welche die Instrumentation im Vorsatz festlegt, austauschbar und mithin akzidentell sind. Wie die Begriffsopposition schon nahelegt, besteht zwischen Akzidenz und Substanz ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, denn der akzidentellen ist die substantielle Textebene als conditio sine qua non vorausgesetzt. Legt die Substanz Klangverbindungen fest, so regeln akzidentelle Zusätze die darauf bezogene Klangrealisierung (Modalitäten und Nuancen der Aufführung). Beide Notationsebenen besitzen einen unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrad. Während die aufführungspraktische Realisierung der Substanz nur einen geringen bzw. eng gefaßten Ausführungsspielraum zuläßt, gewährt die akzidentelle Notationsebene einen gewissen interpretatorischen Freiraum. Notationsgeschichtlich gesehen ist die Substanznotierung älter und veränderungsresistenter als die potentiell offene akzidentelle Notierung. Der Zeichenfundus der Substanznotation (Schlüssel, Liniensystem, Takt, Notenkopf, Behalsung, Balkung) ist zwischen 1600 und ca. 1900 einigermaßen unverändert geblieben, wogegen die akzidentelle Notation im Verlauf der Musikgeschichte zunehmend erweitert und verfeinert worden ist: Während eine Komposition Monteverdis so gut wie keine akzidentellen Zeichen enthält, sind Gustav Mahlers Symphonien penibel akzidentell festgelegt. Aufgrund dieser komplexen Erscheinungsformen lassen sich vielfach geschichtete, durch Varianten unterschiedene Textstufen, sofern sie sich in ein und demselben Manuskript befinden, nur schwer, manchmal sogar überhaupt nicht voneinander trennen, so daß die lesende Erkenntnis und die Abgrenzung von Varianten nicht möglich ist. Und selbst dann, wenn Variante Textteile lesbar und abgrenzbar sind, läßt sich deren textchronologische Position und damit ihr funktionaler Zusammenhang innerhalb des jeweils aktuellen Gesamttextes oft nicht hinreichend bestimmen. Das hierzu erforderliche Erkenntnisinstrumentarium (z.B. Schreib- und Schriftanalyse und andere
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Manuskriptbefunde) ist von begrenzter Präzision. Ungeachtet dieser Einschränkungen werden in gewissen Rekonstruktionsversuchen früherer Werkfassungen häufig Varianten kontaminiert, die verschiedenen Textstufen angehören, was zu Hybridfassungen führt, die einer kritischen Editorik nicht standzuhalten vermögen." In bezug auf ihre textverändernde Wirkung manifestiert sich die Variante innerhalb der Werkgenese (aber auch bei Fremdeingriffen, die als Überlieferungsvarianten hier nicht näher behandelt werden sollen) als Ersetzung, Tilgung, Erweiterung oder als Umstellung von Textteilen.20 Die genannten vier Varianten-Typen lassen sich unter dem Oberbegriff Substitution zusammenfassen.21 Variante: Ersetzung: Tilgung: Erweiterung: Umstellung:
Substitutionsform: Α |Β A |NU11 Null I A ΑΧΥ IXAY (oder XYA)
Verkürzt gesprochen haben Varianten in bezug auf den Gesamttext, in den sie eingebettet sind, eine progressive, textaktive und zugleich eine konservative, textpassive Eigenschaft: Sie verändern den Gesamttext lokal und lassen den übrigen Kontext unverändert. Daß die Variante dennoch das netzartige Strukturgefüge eines Textes insgesamt berührt und verändert, ist nicht zu bestreiten. Dies läßt sich anhand von Sprachtexten leichter nachweisen als anhand musikalischer Kompositionen. Robert Reinicks Klagen über die Schwierigkeiten, das Libretto zu Robert Schumanns Oper Genoveva zu überarbeiten, belegen den Vernetzungszusammenhang von (sprachlichen) Varianten exemplarisch: Ich dachte es mir am Anfang ganz leicht, die mangelnden Stellen gegen bessere zu vertauschen, aber ich übersah, daß ich es mit einem Gewebe zu tun hatte, das aus Fäden der verschiedensten Stoffe, musikalischer, dramatischer, szenischer, persönlicher und Gott weiß was alles für welche! mühsam geschürzt war; sowie ich an einzelnen Fäden zupfte, verzerr-
Vgl. hierzu die Darlegungen zu einem konkreten Fall in: Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie I: Orchesterwerke, Werkgruppe 2: Konzerte Bd. 1: Klavierkonzert a-Moll op. 54. Hrsg. von Bernhard R. Appel. Mainz, London 2003, S. 190-192. Der Germanist H.W. Seiffert empfiehlt, „als .Variante' nur die Textänderung zu verstehen, bei der es sich um die Vorgänge der Textersetzung (Substitution), des Textzusatzes (Interpolation), um Textumstellungen und Tilgungen nicht korrupter Textstücke handelt. Entscheidend ist die Funktion der Variante: sie bildet den Text fort [...]. Im Unterschied zur Variante sollte als Korrektur grundsätzlich die Richtigstellung eines durch Korruptelen verderbten Textes verstanden werden" (Hans Wemer Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts fur deutsche Sprache und Literatur. 28), S. 43f.). Die folgende Tabelle stützt sich auf Almuth Grisillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique g£n£tique". Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell Überarb. von Almuth Grisillon. Bem, Berlin, Frankfurt/Main, New York, Paris, Wien 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 4), S. 184. Innerhalb des Schemas bedeutet I „wird ersetzt (substituiert) durch".
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ten sich mehr oder weniger alle anderen Fäden, wollt' ich sie gar herausziehen, so gab's Knoten, Schlingen, überall, bis das Ganze zuletzt ein verworrener, wüster Knäuel wurde. 22
Der Wirkungszusammenhang zwischen Variante und Textganzem ist aber weniger ein Thema der Philologie, sondern eher eines der Ästhetik und Hermeneutik. Die Frage nach genetischen Varianten zieht unmittelbar die Frage nach der Fassung nach sich, denn genetische Variante und Fassung stehen in einem Begründungszusammenhang. Der Begriff Fassung ist wie der Begriff Variante janusköpfig. Einerseits beharrt die Fassung auf der Idee von Konstanz und Identität, andererseits ist der Fassungsbegriff durch Varianz begründet, indem er auf den Unterschied gegenüber einer anderen, früheren oder späteren Textgestalt abzielt. Die Rede von Fassungen beinhaltet demnach eine gemeinsame Werkidee und deren textgenetisch voneinander getrennte vollständige Ausformungen. So wichtig der begriffliche Nebenschauplatz Fassung für die Variantenfrage auch sein mag, so muß aus Raumgründen auf weitere Darlegungen verzichtet werden. Für Werktextvarianten wurde eingangs das Ähnlichkeitsverhältnis sowie die sukzessive Präsenz zwischen Muster und Variante in ein und derselben Komposition als conditio sine qua non geltend gemacht. Beide Kriterien gelten nicht für genetische Varianten: Da sie an die Textentwicklung gekoppelt sind und verschiedene Textzustände (Fassungen) definieren, können Vorläuferversion und Variante niemals in ein und derselben Textfassung gemeinsam auftreten. Auch der Ähnlichkeitsbezug ist kein strukturelles Definitionskriterium für genetische Varianten. Eine Ersetzung kann, muß aber nicht dem ersetzten Textsegment strukturell gleichen. Tilgung und Erweiterung sind in bezug zum Vorläufertext vektorial gegenläufige Null-Relationen (siehe Schema, S. 18); d.h. die Frage nach Ähnlichkeiten zwischen einem frühen Textsegment und seiner Varianten Umbildung läßt sich in den Fällen Tilgung und Erweiterung gar nicht erst stellen. Eine bloße Umstellung, in der der umgestellte Textausschnitt quantitativ und qualitativ erhalten bleibt, ist als isoliertes Textsegment betrachtet überhaupt keine Variante: Bei der reinen Umstellung besteht zwischen versetzten Textsegmenten nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern sogar eine vollständige Identität, und dennoch erzeugt paradoxerweise das isoliert betrachtete nichtVariante Umstellungssegment Varianz: eine Kontext-Varianz. Die Umstellung gewinnt demnach den Status einer Variante erst aufgrund ihrer kontextveränderten und -verändernden Einbettung. Varianten begleiten nicht nur den genetischen Aufstieg von einer Textstufe zur nächsten, sondern können sich als mehrfach besetzte Textpositionen bereits in ein und derselben Handschrift bzw. in ein und demselben Werktext befinden. In den Skizzen zum Adagio-Satz seiner Violoncello-Sonate D-Dur op. 102 (1815) notiert Beethoven beispielsweise für einen einzigen Takt bis zu vier Textalternativen (Beispiel 4).23 Robert Reinick im Brief vom 15. Februar 1848 an Ferdinand Hiller. Zitiert nach Reinhold Sietz: Robert Reinick und Ferd. Hiller. Dokumente einer Freundschaft. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 36/37, 1963, S. 240. Gustav Nottebohm: Ein Skizzenbuch aus den Jahren 1815 und 1816. In: Zweite Beethoveniana. Nachgelassene Aufsätze von Gustav Nottebohm. Leipzig 1887, S. 325. Das nachfolgende Beispiel 4 ist ebendort entnommen.
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im
Adagio
oder
(oder)
(oder)
Beispiel 4: Ludwig van Beethoven, Skizzenausschnitt zum Adagio der Violoncello-Sonate DDur, op. 1 0 2 ( 1 8 1 5 )
Es handelt sich hierbei um rivalisierende Varianten, eine besondere Form genetischer Varianten, die den Entwurfstext noch offen lassen. Ihre äußere Erscheinungsform erinnert an Ossia-Varianten, aber rivalisierende Varianten sind nur transitorisch gültig und werden später durch eine definitive Textversion ersetzt. Mehrfach besetzte Textpositionen erlauben es nicht, von unterschiedlichen Fassungen zu sprechen, denn alle Textalternativen stehen vorerst noch gleichberechtigt und unentschieden nebeneinander, und ihre notationschronologische Abfolge besagt nichts über Präferenzen, Wertigkeiten oder Gültigkeitshierarchien zwischen den einzelnen Varianten. Rivalisierenden Varianten ist quasi der „Textverfall" zugunsten einer einzigen verbindlichen Textgestalt inhärent. Mit dem Abschluß der Textgenese verschwinden rivalisierende Varianten, da der ausführende Musiker einen unzweifelhaft eindeutigen Auffuhrungstext erwartet und benötigt. Man könnte sie als Sonderfall einer freilich noch unentschiedenen, aber beabsichtigten Ersetzungsmaßnahme betrachten. (Die rivalisierende Variante ist jener bereits oben angedeutete Ausnahmefall, der nur als Entstehungs-, nicht aber als Überlieferungsvariante anzutreffen ist.) Im Unterschied zu rivalisierenden Varianten heben jene Varianten, die als konzeptionelle Änderung im Sinne eines Textersatzes auftreten, ihre jeweilige Vorgängerversion bezüglich ihrer Gültigkeit auf. Da diese ersetzenden Varianten festgelegte Textelemente darstellen, sind sie im Unterschied zu rivalisierenden Varianten stets auch konstitutive Bestandteile einer neuen Fassung. In Manuskripten ist diese Ersatzfunktion durch gewisse Schreibmaßnahmen sinnlich erfahrbar: Streichung oder Überklebimg bringen die Vorgängerversion der Variante im genuinen Sinne zum Verschwinden, und auf separaten Einlageblättern notierte oder über Verweis- und Einschubzeichen eingebrachte Varianten bringen schreibräumlich ihre Ersatz- oder Zusatzfunktion zum Ausdruck.
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Während genetische Varianten stets veränderte Klangstrukturen beinhalten, gibt es im musikalischen Notationssystem noch ein besonderes Variantenphänomen, das die Klangstruktur nicht verändert und das als orthographische Variante oder als Augenvariante bezeichnet werden kann. Das musikalische Notationssystem eröffnet im Unterschied zu Worttexten eine Vielzahl orthographischer Darstellungsmöglichkeiten. Identische diastematisch-rhythmische Sachverhalte können in unterschiedlicher Schreibung dargestellt werden.24 Meistens ist die Orthographie eines Komponisten in ein und demselben Werktext bei analogen Textstellen schwankend und weckt den Verdacht des Arbiträren, zumal nicht immer besondere Schreibraumsituationen oder Bedeutungsnuancierungen oder andere Argumente derartige Augenvarianten zu erklären vermögen. Orthographische Varianten tangieren zwar nicht unmittelbar die klangliche Realisierung, beeinflussen aber das Leseverhalten und Textverständnis des Interpreten und des Analytikers. Weil die textlich-strukturelle Bedeutung von Augenvarianten keineswegs objektiv bestimmbar, sondern eine deutungsabhängige Glaubensfrage ist, geraten Musikherausgeber bei deren editorischer Behandlung regelmäßig in Entscheidungskonflikte. Treten in Autographen oder Originalausgaben Augenvarianten auf und dies ist nahezu immer der Fall - , so werden sie in einer Edition in der Regel divinatorisch vereinheitlicht. In jüngster Zeit schwindet die editorische Toleranz gegenüber divinatorisch regulierten (d.h. durch Vereinheitlichung eliminierten) Augenvarianten, weil die Historizität der musikalischen Orthographie stärker ins Bewußtsein geraten ist bzw. Modernisierungsautomatismen und didaktische Editorenambitionen obsolet geworden sind. Manchmal fühlen sich Editoren bemüßigt, die originale Orthographie willkürlich zu verändern, wofür verschiedene Gründe geltend gemacht werden. Eine historisch ungebräuchliche Notation wird durch eine vertraute moderne ersetzt (Modernisierung); ein komplexes Notenbild wird durch eine andere Systemverteilung oder durch geänderte Schlüsselung etc. übersichtlicher gestaltet (Leseerleichterung) oder ein Satz wird zwischen den Systemen umverteilt (spieltechnische Erleichterung). Damit wird allerdings der Editor zum belehrenden Bearbeiter bzw. zum Produzenten von Überlieferungsvariant^n, was in praktischen Ausgaben akzeptabel sein mag, in kritischen Editionen jedoch unterbleiben sollte. Ein von mir konstruiertes Beispiel mag die Problematik von Augenvarianten illustrieren. Im Finalsatz von Schumanns Klavierkonzert op. 54 findet sich im Solopart eine Spielfigur (T. 213ff.), die sich auf mindestens drei verschiedene Weisen sinnvoll notieren läßt (Beispiel 5).
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit begegnen Augenvarianten in folgenden typischen Konstellationen: Abbreviatur vs. Ausnotierung, anwesendes vs. fehlendes Wamakzidenz, reale Klangnotieiung vs. Ottava-Notierung, Notierung in verschiedenen Schlüsseln, Girlanden- vs. Reihungsbogen, wechselnde Behalsungsrichtung und divergierende Balken, Systemwechsel z.B. im Klaviersatz. Auch unterschiedliche Partituranordnungen wurden bislang als Augenvarianten bewertet und bedenkenlos in „moderne" Standardanordnungen überführt. In jüngster Zeit wurde dagegen der Eigenwert und die strukturelle Aussagekraft historischer Partituranordnung betont und editorisch berücksichtigt (z.B. in der Gesamtausgabe der Werke Carl Maria von Webers).
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Beispiel 5: Robert Schumann, Klavierkonzert op. 54, Finalsatz, T. 213-214 (Solo-Klavier)
Sowohl das Partiturenautograph als auch die autorisierte Originalausgabe gebrauchen konsequent den Notationsmodus A. Editorisch möglich sind im oberen System aber auch die Formen Β und C. Sie lassen einen kompositorischen Sachverhalt direkt ins Auge springen, der sich in der Taktgruppenbalkung des Typs Α weniger deutlich mitteilt: Β und radikaler noch C weisen den Leser/Musiker demonstrativ darauf hin, daß hier ein binäres Motiv in ein ternäres Metrum eingelagert ist bzw. daß die binäre (durch die Baßstimme zusätzlich unterstrichene) Motivfolge eine hemiolische Struktur erzeugt. Die Hemiola wird durch die Balkensetzung Α orthographisch verschleiert und allenfalls durch die Bogensetzung graphisch vermittelt. Das suggestive und zugleich appellative Moment der „hemiolischen" Notierung C ist evident. Unter Editoren und Interpreten besteht keine Einigkeit darüber, ob diese Varianten Notationsformen jeweils auffiihrungspraktische, das heißt hörbare, Konsequenzen nach sich ziehen bzw. ob das lesetechnische Argument der Bedeutungsnuancierung editorische Entscheidungen begründen darf und soll. Gerät die Regulierung von Augenvarianten bereits in eine umstrittene editorische Grauzone, so werden akzidentell Variante Parallelstellen zur editorischen Crux. Als satz- oder werkinterne Parallelstellen gelten alle ausnotierten Wiederholungsstrukturen innerhalb ein und desselben Werktextes. Sie treten entweder sukzessiv in Form von Sequenzen auf (i.e. Transpositionen identischer Motive, Themen oder Spielfigu-
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ren) oder ergeben sich zwischen strukturell entfernten Reprisen oder zwischen anderen motivisch-thematischen Wiederholungen. Sind Parallelstellen substantiell, d.h. hinsichtlich der Melodik, Rhythmik oder Harmonik variant, so sind sie natürlich editorisch originalgetreu zu übernehmen. Sind Parallelstellen jedoch substantiell invariant und lediglich akzidentell, d.h. bezüglich ihrer performativen Zusätze (Bogensetzung, Dynamik, Agogik etc.) geringfügig variant und erwecken dabei auch noch den Eindruck des Inkonsequenten oder Brüchigen, so stellt sich die meist unlösbare Frage, ob diese akzidentellen Bezeichnungsdifferenzen als Versehen (Korruptelen), als willkürliche Fremdeingriffe (Überlieferungsvarianten) oder als kompositorisch kalkulierte Ausführungsnuancen (Werktextvarianten) zu betrachten sind. Ein Beispiel aus der editorischen Praxis sei hierzu gezeigt. Im Mittelsatz von Schumanns Klavierkonzert gibt es vier Parallelstellen, deren akzidentelle Bezeichnungen sowohl innerhalb der autographen Partitur als auch innerhalb der Originalausgabe als auch zwischen Partitur und Originalausgabe variieren (Beispiel 6). Die akzidentelle Varianz betrifft unterschiedliche Bogensetzungen, dynamische Angaben, Akzente sowie Pedalanweisungen. Übernähme ein Editor im Edierten Text konsequent die autographe Notierung oder konsequent die Notierung der Originalausgabe, löste er bei Musikern ziemliche Verwirrung aus, denn die akzidentellen Schwankungen folgen weder einer nachvollziehbaren Logik, noch sind sie satz- und spieltechnisch plausibel. Im Edierten Text hat sich der Editor notgedrungen nach eigenem Ermessen für eine Textversion verbindlich zu entscheiden und die Varianten im Apparat zu dokumentieren. Die von mir angestrengte begriffliche Unterscheidung zwischen textkritisch irrelevanten Werktext- und Aufführungsvarianten einerseits und textkritisch relevanten Entstehungs- und Überlieferungsvarianten andererseits läßt sich bei akzidentell V a r i anten Parallelstellen, aber auch bei Augenvarianten nicht mehr aufrecht erhalten: Sie offenbaren nicht, welcher Varianten-Kategorie sie angehören. Dem Begriff Variante eignet hinsichtlich musikalischer Sachverhalte eine fatale terminologische Selbstbezüglichkeit: Es ist, als beinhalte der Terminus seine eigenen proteischen Eigenschaften. Widerständig bleibt die Variante auch in Definitionsversuchen variant: Variatio perturbat.
Beispiel 6: Robert Schumann, Klavierkonzert op. 54, Intermezzo
Klaus Wachtel
Varianten in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments
1. Grundzüge der Überlieferungslage des Neuen Testaments Auf der letzten Seite des Neuen Testaments, in der Offenbarung des Johannes 22,1819, finden wir ein apokalyptisches Drohwort gegen diejenigen, die es wagen sollten, den Wortlaut dieses Buches zu verändern: Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht. Und wer etwas wegnimmt von den prophetischen Worten dieses Buches, dem wird Gott seinen Anteil am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt wegnehmen, von denen in diesem Buch geschrieben steht. (Einheitsübersetzung)
Diese Mahnung, die Jesus Christus selbst zugeschrieben wird, belegt auch fur eine neutestamentliche Schrift, daß schon die Autoren der Antike wußten, daß ihre Texte sich im Zuge der handschriftlichen Reproduktion verändern würden. Die Mahnung wandelt eine formelhafte Maxime ab, für die es bereits in der klassischen und vorklassischen griechischen Literatur zahlreiche Belege gibt: Μήτε προσ$ε~ιυαι μήτ' άφελειυ - Weder hinzufügen noch wegnehmen. Sie bezieht sich vor allem auf Texte religiösen Inhalts. Dabei bezeichnen ,.hinzufügen" und „wegnehmen" häufig nur die stärksten Formen von Änderungen aller Art.' Das apokalyptische Drohwort hat nicht verhindern können, daß auch in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments Varianten in großer Zahl entstanden sind. In der Editio Critica Maior des Jakobusbriefes2 zum Beispiel, der in den gängigen Handausgaben etwa 10 Seiten umfaßt, hatten wir bei 164 einbezogenen Handschriften 2.132 Varianten an 761 variierten Stellen zu bearbeiten - und dabei sind Orthographica und offenkundige Schreibfehler noch nicht einmal mitgezählt. Die Zahl von 761 variierten Stellen allein im Jakobusbrief scheint zunächst erstaunlich hoch zu sein. Die meisten Varianten sind allerdings textkritisch unproblematische Abweichungen einzelner Handschriften oder kleiner Gruppen vom Text einer weitaus überwiegenden Mehrheit. Der Text der Mehrheit weicht im Jakobusbrief Vgl. C. Schäublin: Μήτε προτ^ε'ιναι μήτ' άφελειυ. In: Museum Helveticum 31, 1974, S. 144-149. Ferner W.C. van Unnik: De la regle Μήτε προσ$ιιυαι μήτ' άφελειυ dans l'histoire du canon. In: Vigiliae Christianae 3, 1949, S. 1-36. Novum Testamentum Graecum, Editio Critica Maior, IV: Die Katholischen Briefe. Hrsg. von Β. Aland, Κ. Alandf, G. Mink, Κ. Wachtel. 1. Lieferung: Der Jakobusbrief. Stuttgart 1997.
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an nur 69 Stellen von dem nach den ältesten und besten Zeugen konstituierten Text ab. Das heißt, daß an über 90% der variierten Stellen der Text in einem breiten Überlieferungsstrom unverändert geblieben ist. Meist umfaßt die Mehrheit also auch die relativ wenigen Zeugen, die in wechselnder Rangfolge seit den bahnbrechenden Editionen des 19. Jahrhunderts, die mit den Namen Lachmann, Tischendorf, Westcott und Hort verbunden sind, als die ältesten und besten gelten. An einer Reihe von Stellen weicht allerdings der Hauptstrom selbst schon seit der Frühzeit - das heißt seit der vorkonstantinischen Epoche der Kirchengeschichte - von der direkten Überlieferungslinie ab. Diese von älteren textgeschichtlichen Stufen sich abhebenden Mehrheitslesarten charakterisieren den byzantinischen Text, der spätestens seit dem 9. Jahrhundert die handschriftliche Überlieferung entschieden dominiert. Nach der Einführung der Minuskelschrift in diesem Jahrhundert kommt es zu einer abschließenden Standardisierung des kirchlich gebrauchten Textes, der weitere Variantenbildung fast ganz unterbindet. Neben diesem Hauptstrom gibt es eine nicht unbeträchtliche Zahl jüngerer Handschriften, in denen ältere Textformen erhalten sind. Hier ist zum Beispiel die Minuskel 1739 zu nennen, eine Handschrift des 10. Jahrhunderts, die von einem dezidierten textgeschichtlichen Interesse zeugt.3 In Vorbemerkungen zu den Paulinischen Briefen heißt es, daß die Vorlage eine alte Handschrift war, die den Paulustext des Origenes wiedergibt, wie der Verfasser der Notiz durch Vergleich mit dessen Schriften festgestellt habe. Hier wird Variation akzeptiert, nicht unterdrückt. Der Verfasser weist ferner darauf hin, daß er die Stellen, die vom kirchlichen Paulustext seiner Zeit abweichen, mit der Diple, einem kleinen Pfeil am Rand, kennzeichne. Die Apostelgeschichte und die Katholischen Briefe habe er aus der gleichen Vorlage kopiert und sie hernach sorgfältig mit der Abschrift verglichen. Ein weiteres Beispiel für das Bestreben, ältere Textformen zu studieren, ist die Minuskel 424, eine Kommentarhandschrift des 11. Jahrhunderts, deren Lemmatext eine mustergültig präzise Wiedergabe des byzantinischen Textes ist. Die Handschrift wurde jedoch systematisch nach einem Text korrigiert, der bereits für das 4. Jahrhundert und früher nachzuweisen ist. Bemerkenswert ist auch eine Textform, die, sicher auf den Anfang des 7. Jahrhunderts zu datieren, in einer Gruppe griechischer Handschriften erhalten ist, die ohne erkennbares textgeschichtliches Interesse tradiert wurde. Die älteste Handschrift dieser Gruppe stammt aus dem 10., die jüngste aus dem 16. Jahrhundert. Die Datierung des Gruppentextes ist durch eine Übersetzung ins Syrische aus dem Jahr 616 gesichert, mit deren ins Griechische rückübersetztem Text die Gruppe nahezu alle Abweichungen vom Text der Mehrheit teilt.4 Diese Gruppe ist kein Einzelfall, wenngleich den Textformen sonst kein so präziser Terminus ante quem zugewiesen
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Siehe dazu E. Frh. von der Goltz: Eine textkritische Arbeit des zehnten bezw. sechsten Jahrhunderts, herausgegeben nach einem Kodex des Athosklosters Lawra. Leipzig 1899 (Texte und Untersuchungen N.F. 2,4 [d. g. R. 17,4]). Siehe dazu Das Neue Testament in syrischer Überlieferung I.: Die großen Katholischen Briefe. In Verbindung mit A. Juckel hrsg. und unters, von B. Aland. Berlin, New York 1986, S. 41-90.
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werden kann. Sie zeigen, daß auch einige vom Hauptstrom abweichende Handschriften in die Minuskelschrift übertragen und weiter kopiert wurden. Vor allem aber ist die Überlieferung des Neuen Testaments reich an Quellen aus der Frühzeit selbst. Aus dem 4. Jahrhundert haben wir zwei Handschriften, die beide die neutestamentlichen Schriften fast vollständig enthalten, den Codex Vaticanus und den Codex Sinaiticus. Die Lesarten, in denen sie vom byzantinischen Text abweichen, werden häufig von Papyri bestätigt, die noch älter sind. P46 aus der Zeit um 200 enthält das Corpus Paulinum mit Ausnahme des Zweiten Thessalonicherbriefes und der Briefe an Timotheos, P45 aus dem 3. Jahrhundert Fragmente aus den vier Evangelien und der Apostelgeschichte, P66, ebenfalls aus der Zeit um 200, das Johannesevangelium fast vollständig, P75 aus dem 3. Jahrhundert große Teile des Lukas· und des Johannesevangeliums. Hinzu kommen außer einer Vielzahl kleinerer Papyrusfragmente die frühen Übersetzungen ins Lateinische, Koptische und Syrische und ferner Zitate von Kirchenschriftstellern, die bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen. Eine weitere Handschrift darf bei der Aufzählung der prominentesten Textzeugen nicht fehlen: die Majuskel D 05 (Codex Bezae Cantabrigiensis) aus dem 5. Jahrhundert. Diese griechisch-lateinische Handschrift weist viele Übereinstimmungen mit den frühen Übersetzungen, vor allem aber eine Vielzahl nur in ihr belegte Lesarten auf. Für diese Textform hält sich seit dem 18. Jahrhundert hartnäckig die Bezeichnung „westlicher Text", weil zunächst nur die Übereinstimmung mit altlateinischen Texten wahrgenommen wurde. Vaticanus, Sinaiticus, die Papyri und eine Reihe weiterer Handschriften dagegen werden dem sogenannten „alexandrinischen Text" zugeordnet. Die neutestamentliche Textkritik hat sich seit Lachmann, Tischendorf und Westcott/Hort, so weit sie ihnen schon zur Verfügung standen, von diesen Zeugen leiten lassen. In der Folge etablierte sich eine generell negative Einschätzung aller Varianten, die von der Mehrheit der Handschriften gegen jene ältesten und besten, nicht selten auch nur einzelne von ihnen, bezeugt werden.
2. Eigenschaften des byzantinischen Textes In der Tat weicht an vielen Stellen der byzantinische, von der Mehrheit der Handschriften bezeugte Text mit weniger schwierigen, glatteren, formelhaft abgerundeten Lesarten von früheren Handschriften ab. Bei elliptischen Aussagen wird nicht selten das sinngemäß zu Ergänzende ausdrücklich in den Text gesetzt, der Name Jesu um den Titel Christus, mitunter zusätzlich um „Sohn Gottes" erweitert, ein schwieriger Ausdruck durch einen leicht verständlichen ersetzt. Auch längere Einschübe kommen vor, wie am Schluß des Markusevangeliums, das in den ältesten und besten Zeugen mit der Flucht der beiden Frauen aus dem Grabmal endet. Nach dem byzantinischen Text wird hier zusätzlich von Begegnungen mit dem Auferstandenen und der Himmelfahrt berichtet. Ein aufschlußreiches Beispiel ist die Ergänzung des Vaterunsers bei Lukas nach dem Matthäusevangelium im byzantinischen Text (Abb. 1). Die in den Lukastext eingefügten Abschnitte, die durch Kursivschrift gekennzeichnet sind, bestätigen zu-
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nächst die verbreitete Ansicht, daß die Variantenbildung in der Überlieferung der synoptischen Evangelien von einer starken Tendenz zur Angleichung der Texte bestimmt worden sei. Allerdings bleiben auch im byzantinischen Text die durch Fettdruck hervorgehobenen Abweichungen erhalten (Mt 6,11 „heute" / Lk 11,3 „täglich", Mt 6,12 „Schulden" / Lk 11,4 „Sünden"), was schon daraufhindeutet, daß textliche Identität nicht das Ziel der Ergänzung des Lukastextes war. Dafür spricht auch, daß die Doxologie, der Lobpreis am Ende des Gebets, in der byzantinischen Überlieferung zwar an das Ende der Matthäusfassung gesetzt, aber nicht auch in den Lukastext übernommen wurde. Wie sind die eindeutigen Angleichungen zu erklären, wenn Harmonisierung nicht das Ziel war? Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die Aufgabe des Abschreibers nicht die Revision, sondern die Reproduktion des Textes war. Das erklärt die allgemein festzustellende große Treue der Wiedergabe und die Beibehaltung kleinerer Unterschiede bei parallelisierender Einfügung längerer Abschnitte. Die Aufnahme dieser Abschnitte ist am ehesten damit zu erklären, daß sie in der Vorlage des ersten Schreibers, der sie in den Lukastext übernahm, tatsächlich schon vorhanden waren, und zwar wahrscheinlich am Rand. Bei solchen Randleseuten ist häufig nicht klar zu erkennen, ob es sich um eine Korrektur oder bloß um eine Notiz handelt. Der erste Schreiber des byzantinischen Lukastextes jedenfalls akzeptierte sie als Bestandteile des Vaterunsers. Dazu dürfte er um so eher bereit gewesen sein, als das Gebet im Gottesdienst in der längeren Form gesprochen wurde. Für die Schreiber, die den ergänzten Text bereits in ihrer Vorlage vorfanden, bestand aus dem gleichen Grund keine Veranlassung, dieser Fassung zu mißtrauen. Auf ähnliche Weise scheint die Doxologie aus einer sehr frühen Tradition in den byzantinischen Matthäustext gelangt zu sein. Sie wurde aber nicht in das Lukasevangelium übernommen. Wahrscheinlich hatte deijenige, der die im Lukasevangelium fehlenden Bitten übertrug, einen Text des Matthäusevangeliums ohne Doxologie vor sich.5 Wir sehen jedenfalls auch hier, daß eine Angleichung nahegelegen hätte, aber nicht durchgeführt wurde. Nachdem die gedruckte Fassung des byzantinischen Textes, die Edition des Erasmus von 1516 bzw. der Textus Receptus, durch die Edition Westcotts und Horts (1881/82) ihren Rang als Urtext-Ausgabe des griechischen NT verloren hatte, ließ sich die Berechtigung dieser Abwertung mit Fällen wie dem byzantinischen Lukastext des Vaterunsers leicht veranschaulichen. Allerdings wurde nun der byzantinische Text als insgesamt sekundär verworfen, zumal man glaubte, es handle sich um eine Rezension, die Lukian von Antiochien um 300 durchgeführt habe. Aber dieser Lukian ist als Editor des Neuen Testaments eine Person von nur schattenhafter Historizität, und der byzantinische Text hat nicht den Charakter einer Rezension. Zwar überwiegen jene glättenden, ergänzenden Lesarten, aber daneben findet sich die ganze Bandbreite von Varianten aller Schwierigkeitsgrade, die uns in
Vgl. J. Delobel: The Lord's Prayer in the Textual Tradition: A Critique of Recent Theories and their View on Marcion's Role. In: The New Testament in Early Christianity. Hrsg. von J.-M. Sevrin. Leuven 1989, S. 293-309, hier S. 308f.
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der Überlieferung begegnen, nicht zuletzt auch eindeutige Fehler, die mit großer Sorgfalt über Jahrhunderte tradiert wurden.6 So ist zwar durchaus wahr, daß die textgeschichtliche Bedeutung einzelner Handschriften abnimmt, je stärker sie mit dem byzantinischen Text übereinstimmen, weil sie immer weniger von der Norm abweichendes Überliefenmgsgut transportieren, aber der byzantinische Text selbst weist in Reinform keine extreme Distanz von einem nach den ältesten und besten Zeugen konstituierten Text auf. In der untenstehenden Liste (Abb. 2) sind die Handschriften, die wir in den Apparat der Editio Maior des Jakobusbriefes einbezogen haben, nach Übereinstimmungsquoten mit dem konstituierten Text aufgeführt. 7 Ganz oben steht, übertroffen nur von zwei kleinen Fragmenten, der Codex Vaticanus (03), der an 713 von 733 auswertbaren variierten Stellen mit dem konstituierten Text übereinstimmt. Der entsprechende Prozentsatz von 97,27% ist deutlich höher als deijenige der Übereinstimmungen mit dem Mehrheitstext (87,91%).® Auf 03 folgt aber sogleich ein Supplement der Minuskel 2718, das zu 98,4% mit dem Mehrheitstext, aber auch zu 96,77% mit dem konstituierten Text übereinstimmt. Dann kommt das Papyrusfragment Ρ100 aus dem 4. Jahrhundert, das man eher in dieser Position erwartet, ebenso wie die folgenden 13 Handschriften bis hinunter zu 81. Aber schon die nächste Zeile zeigt die Kommentarhandschrift 307, die mit 96,39% Mehrheitslesarten zur Darstellung der Reinform des byzantinischen Textes geeignet ist. Entsprechendes gilt für die Handschriften 468, 319, 617,424, und doch finden wir in dieser Gesellschaft auch eine bekannte Handschrift aus dem 5. Jahrhundert, den Codex Alexandrinus (02), dessen Anteil am Mehrheitstext sogar geringer ist als der des Vaticanus (03). Mit 424 haben wir erst die dreißigste Handschrift der Liste erreicht, danach folgen über 130 weitere, die überwiegend wegen ihrer größeren Differenz vom Mehrheitstext an 98 Teststellen der Katholischen Briefe ausgewählt wurden.' Es wird deutlich, daß der byzantinische Text dem zunächst vor allem in der Orientierung an den ältesten und besten Handschriften konstituierten Text weitaus näher steht als erwartet. Auf der anderen Seite ist es sicher richtig, diese Textform als den Endzustand der handschriftlichen Überlieferung zu bezeichnen. Es ist eine Kernfrage der neutestamentlichen Textforschung, wie sich die Entwicklung von den Anfangen bis zu diesem Endzustand vollzog. Im folgenden soll ein Erklärungsmodell zur Ent-
Vgl. Klaus Wachtel: Der byzantinische Text der Katholischen Briefe: Eine Untersuchung zur Entstehung der Koine des Neuen Testaments. Berlin, New York 1995, S. 73-131. In der eisten Spalte ist die Nummer der Handschrift angegeben (Hs), in der zweiten das Verhältnis der Übereinstimmungen mit dem konstituierten Text zur Summe der erhaltenen variierten Stellen. MT%: Prozentsatz der Ubereinstimmungen mit dem Mehrheitstext. Der letztgenannte Wert ist übrigens niedriger als der entsprechende Satz von 91,17%, den der konstituierte Text selbst erreicht. Das ist so zu erklären, daß der Vaticanus an den meisten Stellen mit dem konstituierten Text übereinstimmt, wo dieser vom Mehrheitstext abweicht, und außerdem an einigen Stellen Sonderlesarten gegen die überwiegende Mehrzahl der übrigen Handschriften bezeugt. Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments. Bd. I: Die Katholischen Briefe. Hrsg. von K. Aland et al. (ANTF 9-11). Berlin, New York 1987. - In dieser Reihe werden Kollationen aller zugänglichen Handschriften an insgesamt über 1000 über das ganze Neue Testament verteilte Teststellen, an denen die Überlieferung in mindestens zwei stärker bezeugten Varianten vorliegt, publiziert und ausgewertet.
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stehung des byzantinischen Textes skizziert werden, das ohne die Annahme einer Rezension auskommt.
3. Faktoren der Entstehung der byzantinischen T e x t f o r m Origenes nennt in seinem Matthäus-Kommentar vier Gründe für die Unterschiede zwischen Evangelienhandschriften: die Leichtfertigkeit der Schreiber, den verbrecherischen Frevel einiger Menschen, die Vernachlässigung der Korrektur des Geschriebenen und schließlich eine Korrektur, bei der nach eigenem Gutdünken etwas hinzugefügt oder weggenommen wird.10 Zweierlei möchte ich an der Diagnose des Origenes hervorheben: Erstens zeigt die Stelle, daß Korrektur (Diorthosis) zum sorgfältigen Kopieren eines Textes dazugehörte. Das heißt auch, daß gerade von pflichtbewußten Schreibern immer mit Fehlern gerechnet wurde, - und zwar, so dürfen wir folgern, nicht nur mit eigenen, sondern auch mit denen des Schreibers, der die Vorlage gefertigt hatte. Zweitens sieht Origenes, daß auch die Korrektur eine Fehlerquelle sein kann, wenn sie, vielleicht in bester Absicht, gegen den Grundsatz verstößt, nichts hinzuzufügen oder wegzulassen. Der Zusammenhang, in dem Origenes die Fehleranfalligkeit handschriftlichen Kopierens erörtert, ist die Diskussion einer Ungereimtheit in der Perikope vom reichen Jüngling im Matthäusevangelium (19,16-22). Auf die Frage des jungen Mannes, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, antwortet Jesus, er solle die Gebote halten, zählt einige der bekannten zehn Gebote auf und fügt nach Matthäus, abweichend von Markus und Lukas, das Gebot der Nächstenliebe hinzu. Der junge Mann sagt, er habe alle diese Gebote gehalten, und fragt, was noch fehle. Jesus antwortet, er solle sein Vermögen an die Armen verteilen und ihm nachfolgen. Das aber kann der junge Mann nicht und geht traurig davon. Wenn der junge Mann wirklich auch das Gebot der Nächstenliebe gehalten habe, das nach Paulus alle Gebote zusammenfasse, so argumentiert Origenes, sei er schon vollkommen gewesen und habe nicht zusätzlich seinen Besitz den Armen geben müssen. Also sei das Liebesgebot hier wahrscheinlich als Interpolation zu betrachten. Dafür spreche auch das Fehlen des Gebotes in den entsprechenden Perikopen bei Markus und Lukas. Zur Rechtfertigung einer so weitreichenden Erörterung folgt dann der Verweis auf die Verschiedenheit der Evangelienhandschriften wie oben dargestellt. Origenes' Hauptargument ist jedoch ein literaturkritisches. Handschriften des Matthäusevangeliums, in denen das Gebot der Nächstenliebe in 19,19 fehlt, nennt er nicht, sehr wahrscheinlich, weil ihm keine solche bekannt ist. Origenes zieht aus den beigebrachten Argumenten nun aber nicht den Schluß, das Liebesgebot aus seiner Auslegung auszuschließen. Vielmehr fahrt er im Anschluß an den überlieferungskritischen Exkurs in seinem Kommentar unter der Voraussetzung fort, daß das Gebot der
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Origenes Werke 10: Origenes Matthäuserklärung, 1. Die griechisch erhaltenen Tomoi. Hrsg. von E. Klostermann und E. Benz. Berlin 1935-1937 (GCS. 40), S. 387f.; siehe dazu B. Neuschäfer. Origenes als Philologe. Basel 1987, S. 88f.
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Nächstenliebe trotz aller Bedenken in Mt 19,19 am richtigen Platz stehe." Er verfährt hier nach einem hermeneutischen Prinzip, dessen Bedeutung für die Uberlieferungsgeschichte der christlichen Bibel außerordentlich wichtig ist, nämlich die Zurückfuhrung der kirchlich verbreiteten Textgestalt auf die göttliche Vorsehung (Oikonomia). Bernhard Neuschäfer hat an einer Reihe von Fällen gezeigt, daß Origenes dieses Prinzip selbst dort anwendet, wo er eindeutige Schreiberversehen erkennt.12 Ein Theologe wie Origenes hatte die Möglichkeit der doppelten Schriftauslegung, wenn er auf Varianten stieß, seien es vermeintliche oder tatsächlich in Handschriften belegte. Ein Schreiber dagegen hatte in der Regel den klaren Auftrag, eine Handschrift zu kopieren. Bei der Erfüllung des Auftrages konnte er mit folgenden Problemen zu tun bekommen: - Unleserlichkeiten oder Fehler in der Vorlage - Alternativlesarten am Rand oder zwischen den Zeilen - unklare Korrekturen - Abweichungen der Vorlage vom bekannten kirchlichen Text. In all diesen Fällen dürfte ein pflichtbewußter Kopist nach Möglichkeit eine weitere Handschrift verglichen und den dort gefundenen Text eingesetzt haben, wenn er ihm eine Verbesserung zu bringen schien. So kamen auch solche Lesarten in die neue Handschrift, die aus einem anderen Überlieferungszweig stammten als die Hauptvorlage. Die Folge ist das bekannte Phänomen der Kontamination. Wenn der Schreiber aber keinen Zugang zu einer anderen Handschrift hatte oder eben nicht so gewissenhaft war, verbesserte er den Text der Vorlage nach eigenem Gutdünken. Wenn er zwei Lesarten vorfand, hatte er auch die Möglichkeit, einfach das zu kopieren, was er las, also eine Randlesart wieder an den Rand zu setzen. Gelegentlich findet man auch Mischlesarten, wo ein Schreiber sich nicht entscheiden konnte und nichts verlorengehen lassen wollte. Wo er aber eine Entscheidung traf, übernahm er sehr wahrscheinlich eine Lesart, die im gängigen Text seiner Zeit belegt war, sei es, daß er sie einer Kontrollhandschrift entnahm oder sich auf sein Gedächtnis verließ. Beides trug zum Verschwinden ungewöhnlicher Lesarten und einer fortschreitenden Normalisierung des Textes bei.
4. Zur Methodik der Rekonstruktion des Ausgangstextes der Überlieferung Die Rekonstruktion einer ursprungsnäheren Textform nach älteren Textzeugen ist an Stellen, an denen wir erkennen, welche Mechanismen am Werk waren, kein aussichtsloses Unterfangen. So kann der Lukastext des Vaterunsers ohne die aus dem Matthäusevangelium übernommenen Bitten gegenüber der ergänzten Fassung mit Recht als ursprünglich bezeichnet werden. Die Überlieferungslage ist aber nicht überall so eindeutig. An manchen Stellen ist es gar nicht, an anderen nur unter Vorbehalt möglich, den ursprünglichen Text zu be-
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Origenes Werke 10 (Anm. 10), S. 390. Neuschäfer 1987 (Anm. 10), S. 135-138.
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stimmen. Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode, die Gerd Mink am Institut für neutestamentliche Textforschung entwickelt hat, ermöglicht eine präzise Darstellung genealogischer Beziehungen zwischen Handschriftentexten trotz solcher textkritisch schwierigen Stellen.13 Die Methode schließt von der Gesamtheit lokaler Stemmata, die die genealogischen Beziehungen zwischen Lesarten darstellen, auf entsprechende Beziehungen zwischen den Handschriften, die diese Lesarten bezeugen. Wenn wir feststellen, daß eine Lesart χ wahrscheinlich aus einer Lesart y entstanden ist, wird damit zugleich eine Aussage über das Verhältnis der Handschriften gemacht, in denen diese Lesarten erhalten sind. Wenn in einer von zwei verglichenen Handschriften die Zahl der prioritären Lesarten überwiegt, ist ihr Text eher den potentiellen Vorfahren des Textes der anderen Handschrift zuzuordnen. Allerdings hat die Kontamination, die „Verunreinigung" eines kopierten Textes mit Varianten, die nicht in der überwiegend verwendeten Vorlage stehen, zur Folge, daß die Handschrift mit der größeren Zahl prioritärer Lesarten in aller Regel auch eine Reihe sekundärer Lesarten bezeugt, die aus Lesarten entstanden sind, die auch in der insgesamt eher den Nachkommen zuzurechnenden Handschrift zu finden sind. Die resultierenden Werte sind Ergebnisse der Beurteilung einer Vielzahl variierter Stellen, in die notwendigerweise ein subjektives Moment eingegangen ist. Zwei weitere Werte sind dagegen objektiv feststellbar, die Summen der Übereinstimmungen und Abweichungen zweier Handschriften an den variierten Stellen, die der Vergleich aller einbezogenen Handschriften ergeben hat. Aus diesen Werten kann die prägenealogische Kohärenz von Bezeugungen abgeleitet werden. Prägenealogische Kohärenz ist dann gegeben, wenn eine Lesart von Handschriften bezeugt wird, die allgemein häufiger miteinander als mit den Zeugen anderer Lesarten derselben Stelle übereinstimmen. Genealogische Kohärenz beruht auf Übereinstimmungen und Abweichungen der Handschriften, die eine Variante bezeugen. Sie liegt dann vor, wenn das Verhältnis der Zeugen voneinander abweichender Lesarten einer Stelle dem aus der Gesamtzahl textlicher Abweichungen abgeleiteten Verhältnis zwischen den beiden verglichenen Texten entspricht. Die Tabelle in Abb. 3 zeigt die Werte, die das Verhältnis der Handschrift 307 zu ihren potentiellen Vorfahren für den Jakobusbrief charakterisiert. Ein auf die Handschriftennummer zeigender Pfeil in der zweiten Spalte drückt das Überwiegen prioritärer Lesarten im Text eines verglichenen Zeugen (Zeuge2) aus. Entsprechend ist der Wert im Feld Xausy größer als der im Feld Yausx. Die Tabelle ist sortiert nach den Übereinstimmungsquoten (Prozl/Kon). 0166, ein kleines Majuskelfragment, stimmt an allen 8 variierten Stellen, die in dessen Text und dem von 307 belegt sind, also zu
Eine aktuelle Einführung in die Methode bietet G. Mink: Was verändert sich in der Textkritik durch die Beachtung genealogischer Kohärenz? In: Recent Developments in Textual Criticism. Hrsg. von W. Weren und D.-A. Koch. Assen 2003, S. 39-68. - G. Mink: Problems of a Highly Contaminated Tradition: the New Testament - Stemmata of Variants as a Source of a Genealogy for Witnesses. In: P. van Reenen, A. den Hollander, M. van Mulken (Hrsg.): Studies in Stemmatology II. Amsterdam, Philadelphia 2004, S. 13-86.
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100%, mit 307 überein. Entsprechend sind die Werte Xausy und Yausx beide gleich null. Interessanter sind die Werte bei Handschriften wie 1448 (in der siebten Zeile), die den Text des Jakobusbriefes wie 307 in vollem Umfang bezeugen. 307 und 1448 stimmen an 685 variierten Stellen miteinander überein, an 33 Stellen hat 307, an 32 Stellen 1448 die prioritäre Lesart. Hier entschied also ein sehr geringer Unterschied über die Richtung des Pfeils in der zweiten Spalte. Bei der auf 1448 folgenden Handschrift 025 sind die Verhältnisse klarer. Sie stimmt an 641 Stellen mit 307 überein und bezeugt bei 39 Abweichungen die prioritäre, bei 27 die sekundäre Lesart. Der erste vollständige Text in der Spalte Zeuge2 ist A, der rekonstruierte Ausgangstext der Überlieferung, den die Leitzeile der Editio Maior wiedergibt. Dies bedeutet, daß der Text der Handschrift 307 überwiegend in direkter Linie auf die nach Meinung der Herausgeber ursprungsnächste Textform zurückgeht. In der Tabelle folgt in der Spalte Zeuge2 auf Α die Handschrift 2492, von der kein Pfeil auf 307 zeigt, weil die Werte in Xausy und Yausx gleich sind. Der nächste potentielle Vorfahr von 307 nach Α ist 1448. Abb. 4 gibt ein Diagramm wieder, in dem über jeder Handschrift, die in die Editio Maior des Jakobusbriefs einbezogen wurde, der nächstverwandte Vorfahr im oben dargestellten Sinne zu sehen ist.14 Handschriften, bei denen derselbe Vorfahr in dieser Position auftritt, bilden Gruppen. 307 erscheint in der ersten Reihe unter Λ. Sie bildet den Ausgangspunkt für mehrere Textgruppen, die sämtlich dem byzantinischen Text zuzurechnen sind. Ein solches Diagramm könnte den Eindruck hervorrufen, daß wir unsere Arbeit, so weit die Editio Maior gediehen ist, als abgeschlossen betrachten. Aber es ist uns sehr bewußt, daß es sich hier um nicht mehr handelt als die graphische Darstellung einer Hypothese über die vorherrschende genealogische Beziehung zwischen Handschriften, - wie im übrigen der konstituierte Text die kürzeste Fassung einer Hypothese über den Ursprung der handschriftlichen Überlieferung darstellt. Eine Linie, die einen weiter oben angeordneten Text mit einem weiter unten stehenden verbindet, drückt aus, daß es mehr Stellen gibt, an denen sich die Variantenbildung vom Knoten am Ausgangspunkt des Pfeils in Richtung des Knotens am Zielpunkt bewegte als umgekehrt. Aber infolge der allfälligen Kontamination gibt es für jedes Paar verglichener Handschriften auch eine Anzahl Stellen, an denen das Verhältnis umgekehrt ist. Dieses Verhältnis könnte, wenn es das Diagramm nicht zu unübersichtlich machen würde, durch einen schwächeren Pfeil in Gegenrichtung dargestellt werden. Die relative Anordnung der Zeugen erfolgt aufgrund von textkritischen Entscheidungen über Priorität oder Posteriorität von Lesarten an einer Vielzahl von Stellen. Eines zeigt das Diagramm jedoch unabhängig von solchen Entscheidungen: die Überlieferungslage stellt sich weitaus komplexer dar als daß ihr das schlichte Modell dreier konkurrierender Texttypen alexandrinischer, westlicher und byzantinischer Provenienz gerecht werden könnte. Denn die Gruppierungen, die das Diagramm zeigt, kommen unabhängig von den genealogischen Beziehungen zustande. Außerdem können wir heute keine Lesart mehr nur deshalb als sekundär beurteilen, weil sie von
Mit freundlicher Genehmigung des Autors reproduziert aus Mink 2004 (Anm. 13).
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der Mehrheit gegen einige prominente Handschriften aus dem 3. oder 4. Jahrhundert bezeugt wird. Die Aufwertung des byzantinischen Textes hat dazu geführt, daß an vielen Stellen die Frage nach der Position seiner Lesart und auch nach dem ursprünglichen Text in lokalen Stemmata neu gestellt werden muß. Natürlich kommt es vor, daß diese Frage nach Lage der Dinge nicht beantwortet werden kann. An solchen Stellen behalten wir in der Editio Maior den in den gängigen Handausgaben gedruckten Wortlaut als Referenztext bei und kennzeichnen ihn mit Punkten als nicht gesichert. In den genealogischen Analysen werden diese Stellen wie Lücken im Ausgangstext behandelt. Zugespitzt kann man sagen, daß hier der Archetyp der Überlieferung selbst in Varianten vorliegt, was gewiß auch in der Realität vorgekommen ist.
5. Zum Begriff des ursprünglichen Textes Den Begriff „ursprünglicher Text" zu verwenden, ist auch auf dem Gebiet der neutestamentlichen Textkritik nicht mehr selbstverständlich. In der Tat ist der Begriff durch die neutestamentliche Wissenschaft selbst überholt, wenn darunter schlicht der vom Autor selbst abgefasste Originaltext verstanden wird. Zu deutlich sind die Hinweise auf redaktionelle Bearbeitung der Schriften schon in der Frühzeit, zu viele Varianten sind schon in den ältesten und besten Textzeugen, das heißt seit dem 2. Jahrhundert, belegt, zu schwierig ist es vielfach, die ursprungsnächste unter den Varianten einer Stelle zu bestimmen. In einer programmatischen Studie zum Ziel der neutestamentlichen Textkritik gibt Eldon Epp den Begriff „original text" zwar nicht auf, stellt aber seine Multivalenz heraus. Er weist ihm vier Bedeutungsebenen zu:15 1. Als .ursprünglicher Text' kann eine Vorläufer-Textform („predecessor textform"), ein .vorkanonisches Original' bezeichnet werden, das in einer später kanonischen Textform verarbeitet wurde. Hier ist z.B. an die Rolle der Logienquelle Q für die synoptischen Evangelien zu denken, oder auch an Bekenntnis- oder Gebetstraditionen. 2. .Ursprünglicher Text' kann den Text des Autors meinen, das Autographon. Es liegt dem kanonischen Text zugrunde, gehört aber selbst streng genommen noch in den Bereich des .vorkanonischen Originals'. 3. .Ursprünglicher Text' kann die kanonische Textform bezeichnen, die die Autographen nach redaktioneller Bearbeitung in das Corpus der neutestamentlichen Schriften einordnet. 4. Auch eine editorisch bearbeitete Vorlage kann als .ursprünglich' für den von ihr abhängigen Traditionsstrang gelten. Relativ zu den von ihr gefertigten Abschriften ist auch eine solche „interpretive text-form" ein Original.
Vgl. zum Folgenden E. Epp: The Multivalence of the Term „Original Text" in New Testament Textual Criticism. In: Harvard Theological Review 92, 1999, S. 245-281, hier S. 276f.
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Somit besteht keine Notwendigkeit, den Begriff des ursprünglichen Textes aufzugeben. Seine Vieldeutigkeit stellt uns als Editoren und Textkritiker allerdings vor die Notwendigkeit einer klaren Definition. Dazu ist für die Textkritik die in der Klassischen Philologie übliche Unterscheidung zwischen dem Archetyp der Überlieferung und dem vom Autor verfaßten Original methodisch unverzichtbar. Es liegt nahe, den Archetyp der handschriftlichen Überlieferung, wie sie uns vorliegt, mit Epps kanonischer Textform zu identifizieren. Auch Epps „interpretive text-form" hat in der Klassischen Philologie bereits einen Namen, nämlich den des Hyparchetyps. Der Text des Archetyps kann insofern als ursprünglich gelten, als die gesamte handschriftliche Überlieferung auf ihn zurückzuführen ist.16 Mit der Rekonstruktion seines Textes und der Begründung der Rekonstruktion anhand einer Geschichte der Textvarianten wäre die Aufgabe der Textkritik erfüllt und die Grenzen erreicht, die ihr durch ihre Quellen, die Handschriften mit ihren Varianten, gesetzt sind. Der rekonstruierte Archetyp ist freilich nicht nur die kürzeste Fassung einer Hypothese über den Ursprung der handschriftlichen Überlieferung, sondern zugleich die größtmögliche Annäherung an den Text des Autors. Daher ist es methodisch legitim, daß in die Beurteilung der Varianten Schlußfolgerungen aus der Aussageabsicht und dem Sprachgebrauch des Autors eingehen. In Ausnahmefallen kann damit die Diagnose begründet werden, daß der ursprüngliche Text in der Überlieferung nicht erhalten und eine Konjektur möglich ist. Zwar ist uns der ursprüngliche Text nur in den Handschriften, wenn wir einmal von den Übersetzungen und Zitaten absehen, erhalten, aber das ist kein Grund, nicht nach Stufen der Textentstehung zu fragen, die der Abfassung des Archetyps vorausgingen, wie es ja in der neutestamentlichen Wissenschaft immer geschehen ist. So kann die Anzahl der Bitten des Vaterunsers nach Lukas auch als quellengeschichtlich ursprünglich gelten, nicht nur gegenüber der Fassung, die der handschriftlichen Überlieferung als ihr Archetyp zugrunde liegt, sondern auch schon gegenüber den Originaltexten, wie sie die Autoren der Evangelien verfaßten. Aber es ist doch wichtig, die Stufen der Analyse methodisch zu gliedern und form- und quellengeschichtliche Fragestellungen, deren Gegenstand Epps predecessor text-forms ja sind, von solchen der Redaktionsgeschichte und eben auch der handschriftlichen Überlieferung zu scheiden.
Merkmale, die allen neutestamentlichen Handschriften gemeinsam sind, deuten daraufhin, daß dieser Archetyp das Ergebnis einer Endredaktion des Neuen Testaments in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts gewesen sein könnte. Siehe dazu D. Trobisch: The First Edition of the New Testament. Oxford 2000.
Klaus Wachtel
Mt 6
Uli
9 Οΰτωςοΰνπροσεύχεσθεύμεϊς· So sollt ihr beten Πάτερ ήμών ό έν τοις ούρανοΐς, Unser Vater im Himmel, άγιασθήτω τό δνομά σου· dein Name werde geheiligt,
2 είπεν δέ αύτοϊς, Ό τ α ν προσεύχησθε λέγετε, Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Πάτερ ήμών όένχοϊς ούρανοϊς, UnserVaterimHiminel, άγιασθήτω τό δνομά σου· dein Name werde geheiligt, έλθέτω ή βασιλεία σου· dein Reich komme, γενηθήτι» w Βέλημά σον, dein Wille geschehe ώςένούρανφ και έιά της γης wie im Himmel, so auf der Erde.
10 έλθέτω ή βασιλεία σου· dein Reich komme, γενηθήτω τό θέλημα σου, dein Wille geschehe ώς έν ούρανω και έπί της γης· wie im Himmel, so auf der Erde. 11 τόν άρτον ήμών τόν έπιούσιον δός ήμΐν σήμερον· Gib uns heute das Brot, das wir brauchen. 12 και άφες ήμΐν τά όφειλήματα ήμών, Und erlass uns unsere Schulden, ώς και ημείς άφήκαμεν τοις όψειλεταις ήμών wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. 13 και μή είσενέγηις ήμάς εις πειρασμόν. Und führe uns nicht in Versuchung, άλλά ρύσαι ήμας άπό του πονηρού, sondern rette uns vor dem Bösen.
3 τόν άρτον ήμών τόν έπιούσιον δίδου ήμΐν τό καθ' ήμέραν gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. 4 και άφες ήμΐν ιάς αμαρτίας ήμών, Und erlass uns unsere Sünden; και γάρ αϋτοι άφίομεν παντί όφείλοντι ήμΐν denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. και μή είσενέγκης ήμάς εις πειρασμόν, Und führe uns nicht in Versuchung, aUä ρνσαι ήμάς άπό του πονηρού, sondern rette uns vor dem Bösen.
5τι σού έσιιν ή βασιλεία και ή δύναμις και ή δόξα denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit εις τους αιώνας, άμήν. in Ewigkeit, amen.
Abb. 1: Das Vaterunser nach Matthäus und Lukas
Varianten in der handschriftlichen
H» 0166 P23
Überlieferung des Neuen Testaments
37
konstituierter T e x t
MT*
Hs
konstituierter T e x t
konstituierter T e x t
MT%
1 0 0 % (8/8)
100
35
8 9 . 7 % (669/746)
98,4
2774
8 8 , 2 % (651/738)
94,3
Hl
9 8 . 0 % (48/49)
86,0
1598
8 9 , 7 % (668/745)
95,9
2243
8 8 , 2 % (658/746)
94,9
03
«7,3% (713/733)
87,9
218
6 9 . 7 % (668/745)
94,8
1524
8 8 , 2 % (658/746)
93,7
2718S
9 6 , 8 % (120/124)
98.4
720
8 9 , 7 % (667/744)
95,4
467
8 8 , 2 % (658/746)
96,3
95,1% (78/82)
87,1
2080
8 9 , 5 % (668/746)
97,6
1292
8 8 , 2 % (657/745)
90,1
9 3 , 9 % (688/733)
87,8
2818
8 8 , 5 % (666/744)
95,3
915
8 8 , 1 % (654/742)
91,8
P20
9 3 , 8 % (45/48)
87,8
1765
8 9 , 4 % (667/746)
96,3
0142
8 8 , 1 % (652/740)
96,0
0246
9 3 , 1 % (27/29)
100
1390
8 9 , 4 % (667/746)
96,5
442
8 8 , 1 % (657/746)
95,6
04
9 2 , 7 % (430/464)
88.6
1251
8 8 , 4 % (667/746)
87,3
326
8 8 , 1 % (657/746)
96.8
1739
9 2 , 6 % (691/746)
88,5
676
8 8 , 4 % (667/746)
87,5
1563
8 8 , 1 % (656/745)
93,0
1243
9 2 , 6 % (686/741)
90,4
607
8 8 , 4 % (667/746)
96,8
2180
8 8 , 0 % (321/365)
95,3
1175
9 2 . 5 % (688/744)
89,1
456
8 8 , 4 % (667/746)
86,4
206
8 7 , 9 % (656/746)
025
9 2 . 4 % (645/698)
90.6
6
8 8 . 4 % (664/743)
86,0
1831
8 7 , 9 % (655/745)
92,1
048
9 2 , 3 % (72/78)
85.9
1
8 8 , 3 % (666/746)
87,9
1890
8 7 , 8 % (652/742)
88.4
1852
9 2 , 0 % (686/746)
89.4
459
8 8 , 2 % (662/742)
96.9
048
6 7 . 9 % (652/742)
96,9
2296
9 1 , 6 % (683/746)
91,3
020
8 9 , 2 % (661/741)
96,1
1848
6 7 , 6 % (655/746)
96,1
945
9 1 , 2 % (680/746)
88,1
2541
8 9 , 1 % (665/746)
91,7
044
6 7 , 8 % (652/743)
87,8
81
»0,8% (671/73«)
90,0
1845
8 9 , 1 % (665/746)
98,0
2544
8 7 , 7 % (654/746)
84,3
307
B0,8%(KT7/746)
96,4
1832
8 9 , 1 % (665/746)
95.7
1367
6 7 , 7 % (654/746)
85.5
1448
9 0 , 7 % (676/745)
92,1
429
8 9 , 1 % (665/746)
90.4
989
8 7 . 7 % (654/746)
86,4
2492
9 0 , 7 % (673/742)
91,9
69
8 9 , 1 % (665/746)
95,6
1875
8 7 . 7 % (653/745)
95,1
«St
9 0 , 5 % (674/745)
87.9
181
8 8 , 1 % (662/743)
96,8
1637
8 7 . 7 % (653/745)
96,3
1735
9 0 , 4 % (674/746)
90,5
431
8 8 , 1 % (661/742)
98,3
1874
8 7 , 6 % (649/741)
95.7
5
9 0 , 4 % (674/746)
94,0
1609
8 9 . 0 % (664/746)
94,0
P54
8 7 , 5 % (21/24)
83.3
3JS
9 0 . 3 % (835/703)
1595
8 9 . 0 % (663/745)
96,1
2485
8 7 , 5 % (648/742)
87,9
02
«0,3% (660/731)
643
8 9 , 0 % (660/742)
87,6
1842
8 7 , 5 % (649/742)
92.1
2197
9 0 , 2 % (673/746)
8 7 , 5 % (648/741)
92,1
« 7 453
P100 01
m 87,2
89,0
95,8
1509
8 8 , 9 % (658/740)
96,6
2374
9 0 , 2 % (673/746)
99,5
2494
8 8 , 9 % (663/746)
95,9
254
8 7 , 4 % (647/740)
93,5
9 0 , 2 % (673/746)
96,1
1718
8 8 , 9 % (662/745)
92,9
614
8 7 , 4 % (652/746)
88,5
90.2%(Β3/74β)
99,2
436
8 8 , 8 % (662/745)
91,3
2523
8 7 , 4 % (651/745)
93,3
623
9 0 . 2 % (669/742)
92.6
1611
8 8 , 7 % (662/746)
88,9
2674
8 7 , 3 % (650/745)
95.5
2464
9 0 , 1 % (665/738)
91,4
1501
8 8 , 7 % (662/746)
97,5
1799
8 7 . 2 % (645/740)
88,4
2805
9 0 . 1 % (672/746)
90,6
1127
8 8 , 7 % (662/746)
94,4
2412
8 7 , 1 % (650/746)
88,2
323
9 0 , 1 % (672/746)
95.1
104
8 a , 7 % (662/746)
96,0
522
8 7 , 1 % (647/743)
87,8
93
9 0 , 1 % (672/746)
98.3
94
8 8 . 7 % (662/746)
95,9
2242
8 7 , 1 % (645/741)
95,8
322
9 0 , 0 % (668/742)
94,8
1359
8 8 , 7 % (661/745)
94.4
365
8 6 , 8 % (441/508)
94,1
312
9 0 , 0 % (667/741)
98,0
252
8 8 , 7 % (661/745)
95,5
1751
8 6 , 8 % (645/743)
91.6
9 0 , 0 % (18/20)
80,0
86
8 8 , 7 % (660/744)
93,4
621
8 6 , 7 % (647/746)
88,6
18
9 0 , 0 % (671/746)
98,9
33
8 8 , 6 % (576/650)
87,4
321
8 6 , 7 % (645/744)
1270
8 9 , 9 % (670/745)
96,0
1490'
8 8 , 6 % (661/746)
92,0
43
8 6 , 6 % (642/741)
94,1
P74
8 9 , 9 % (241/268)
84,3
996
61
8 6 , 4 % (643/744)
94,1
««
0173
8 8 , 6 % (659/744)
94,9
94,5
400
8 9 , 9 % (632/703)
95.3
2652
8 8 , 5 % (660/746)
93.2
1661
8 6 , 4 % (642/743)
92.6
1853
8 9 . 9 % (666/741)
97,6
1827
8 8 , 5 % (660/746)
95.5
2718
8 6 . 3 % (537/622)
94.8
1678
8 9 , 9 % (665/740)
95.3
1409
8 8 , 5 % (660/746)
91.6
330
8 6 , 3 % (644/746)
83.6
197
8 9 , 8 % (504/561)
97,7
388
8 8 , 5 % (660/746)
93.7
1840
8 6 , 2 % (545/532)
84,6
2344
8 9 , 8 % (670/746)
88,2
2200
8 8 , 4 % (658/744)
90.1
1241
8 6 , 2 % (642/745)
85,0
808
8 9 , 8 % (670/746)
95,1
876
8 8 , 4 % (655/741)
95,4
378
8 6 , 1 % (642/746)
92,8
642
8 9 , 8 % (670/746)
95,7
056
8 6 , 4 % (654/740)
96,6
1846
8 5 , 7 % (30/35)
91.7
2423
8 9 , 8 % (669/745)
99,3
180
8 8 , 4 % (645/730)
95,0
38
8 5 , 7 % (621/725)
93,1
1297
8 9 , 8 % (669/745)
96,0
2138
8 8 , 3 % (659/746)
87,7
1728
8 5 , 4 % (632/740)
94,1
018
8 9 , 8 % (666/742)
86,1
1850
8 8 , 3 % (659/746)
96,5
629
8 4 , 9 % (626/737)
90.5
2186
8 9 , 7 % (665/741)
86,4
1505
8 8 , 3 % (659/746)
88,5
1838
6 3 , 7 % (618/738)
80,7
1893
8 8 . 7 % (669/746)
86,5
2147
8 8 , 3 % (658/745)
91,8
1066
8 3 , 2 % (124/149)
80,7
918
8 9 , 7 % (668/746)
94,8
1067
8 8 , 3 % (658/745)
89,7
631
7 8 , 8 % (435/552)
85,8
665
8 9 , 7 % (669/746)
87,8
630
8 8 , 3 % (658/745)
89,8
Abb. 2: Distanz der überlieferungsgeschichtlich wichtigsten Handschriften vom konstituierten Text des Jakobusbriefs
38 Zeuge 1
Klaus Wachtet
Richtg
ZeugeZ
Prozi
Kon
ΡΓ0Ζ2
Xausy
ProzS
Yausx
Proz4
Qfragl
K»
3D?
0166
100.00
Β
0.000
0
0.000
0
0.000
0
307
P23
97.959
4B
0.000
0
0.000
0
0.000
0
0 1
307
27 IBS
97.600
122
1.600
2
0.800
1
0.000
0
0
307