Unterwegs mit Spitzenschuh und Staffelei: Erinnerungen einer Tänzerin [1 ed.] 9783205213451, 9783205213437


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German Pages [175] Year 2021

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Unterwegs mit Spitzenschuh und Staffelei: Erinnerungen einer Tänzerin [1 ed.]
 9783205213451, 9783205213437

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Micheline Faure

Unterwegs mit Spitzenschuh und Staffelei Erinnerungen einer Tänzerin

Herausgegeben von ROBERT H. PFLANZL

Micheline Faure

Unterwegs mit Spitzenschuh und Staffelei Erinnerungen einer Tänzerin herausgegeben von Robert H. Pflanzl

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 1. Auflage 2021 © 2021 Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Micheline Faure 1960 in Stuttgart. Fotograf unbekannt. Umschlagsgestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21345-1

Inhalt

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 Meine Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Mädchenträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Statistik 1: Solo-Auftritte während meiner Ausbildungszeit in Paris . . . 59 Theater-Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Ich kann mich durchsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Entwicklungen und Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . .

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Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Statistik 2: Mein Solo-Repertoire in Stuttgart . . . . . . . . . . . . 131 Neue Wege und neue Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 In Salzburg angekommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Statistik 3: Meine Choreographien . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170



Einleitung des Herausgebers

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eute, zwei Wochen vor Weihnachten, sind sie mit der Post gekommen, die Mitgliedskarten für 2020 vom Salzburger Museumsverein und vom Golfclub Salzburg. Zusammen mit den Jahres-Spielplänen von einem halben Dutzend österreichischer und deutscher Theater sind damit die Grundlagen vorhanden für unsere Aktivitäten im nächsten Jahr, denn „unterwegs“ sind wir noch immer, meine Frau und ich, gemeinsam, seit bald sechzig Jahren. Unterwegs sein heißt ja, einen Weg suchen, seinen Weg suchen – meist mit einem bestimmten Ziel. Das kann ein präzis formulierter Plan sein oder auch ein in weiter Ferne liegendes Traumbild. Irgendwann im Leben suchen wir alle unseren Weg und wir werden ihn umso sicherer finden, je besser wir uns darauf vorbereitet haben. So könnte dieses Buch sogar ein kleiner Ratgeber werden für alle die, deren Wunschtraum „Ballett“ heißt. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung über das Berufsbild „Tänzerin“, aber es ist auch kein Roman, sondern ein Zeitdokument. Nichts in diesem Text ist frei erfunden. In der Erinnerung könnten sich ja leicht Dichtung und Wahrheit vermischen, da ist es dann gut, wenn Aufzeichnungen aus der Zeit den richtigen Weg weisen: Tagebücher eines Teenagers aus den Fünfzigerjahren, Briefe einer jungen Tänzerin an ihre Eltern über den harten Theater-Alltag, Aussagen von Vorgesetzten, die zur Entscheidung „Beruf oder Familie“ führen. Es ist ein typisches Frauenschicksal unserer Zeit, die authentische Geschichte einer jungen Tänzerin. Mit 18 Jahren kommt sie aus Paris, um ihren ersten Vertrag im Ballett der Staatsoper Stuttgart anzutreten. Dort sind wir uns das erste Mal begegnet, dort tritt diese junge Frau für immer in mein Leben. Sie hat eine eigene Körpersprache, schlank und scheu, grazil und graziös, Degas und Giacometti in einem, dabei aber voller Energie und gut verborgener Kraftreserven. Sie spricht kaum Deutsch, ich kaum Französisch, aber wir verstehen uns sofort und beschließen, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Das Gemeinsame steht dabei immer im Vordergrund, auch wenn der Weg manchmal schwierig wird. Nach bald sechzig gemeinsamen Jahren ist heute wohl der richtige Zeitpunkt gekommen für einen Blick zurück in eine Welt, die es so nicht mehr gibt, auf Entscheidungen,

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Einleitung des Herausgebers

die man vielleicht heute anders treffen würde, auf Reaktionen, die man heute anders beurteilt: Michelines Spitzenschuhe hängen zwar an ihrer Staffelei, aber in ihren Bildern ist der Tanz immer noch gegenwärtig. Nun haben wir uns also zusammengesetzt, haben alte Papiere, Fotos, Kritiken ausgegraben und Micheline hat erzählt, was für sie selbst schon in weiter Ferne war. Beim Übersetzen der überwiegend französischen Texte habe ich versucht, den Sprachstil der Originale möglichst beizubehalten, auch wenn das oft Umgangssprache ist, die den Regeln der deutschen Grammatik nicht immer entspricht. Natürlich mussten wir auch viel recherchieren und da geht ein herzliches Dankeschön an Hartmut Regitz, den so hervorragend vernetzten und informierten Autor und Fachkritiker, der uns eine große Hilfe war. Wir haben das Ganze dann noch ein wenig geordnet und so steht es jetzt da – ich würde es gerne eine „Liebeserklärung an den Lebenstraum vom Tanzen“ nennen. „Unterwegs“ – „On the Road“ – ist auch der Titel eines berühmten Buches von Jack Kerouac, eines der Lieblingsbücher aus meiner Jugendzeit. In seiner „Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel für eine moderne Prosa“ meint der Autor dort unter Punkt 17:

Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse. Robert H. Pflanzl

Meine Familie

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er heute viel unterwegs ist, verfügt ganz selbstverständlich über eine Navigationshilfe. Das gab es damals – also vor fünfzig, sechzig Jahren – noch nicht, man musste sich immer wieder neu orientieren. Wenn ich nun heute in meiner Vergangenheit unterwegs bin, dann habe ich auch manchmal Schwierigkeiten, die verschiedenen Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich wollte daher die einzelnen Abschnitte meiner Erinnerungen einfach mit den entsprechenden Städtenamen bezeichnen, damit man den Weg besser verfolgen kann. Nur: Der Ort ergibt sich von selbst aus dem Text. Mir ist es viel wichtiger zu beschreiben, was ich jeweils dort erlebt und gelernt habe, die Fortschritte und Erfolge und auch die Enttäuschungen. Viele große und kleine Namen werden immer wieder auftauchen, die meine Entwicklung beeinflusst haben. Sie werden am Ende der Aufzeichnungen noch einmal zusammengefasst und kurz erklärt. Mit einer Ausnahme, und das sind meine Familie, meine Eltern, meine Schwester, meine Vorfahren. Ihnen ist deshalb dieser erste Abschnitt gewidmet. Beginnen wir ganz einfach mit einem Vornamen, mit meinem Vornamen. Ja, also, das bin nun ich, Micheline. Wenn ich meinen Vornamen nenne, dann werde ich oft, vor allem im deutschsprachigen Raum, gefragt, wie man das schreibe. Ich sage dann immer: „Wie die Autoreifen, mit ,e‘ am Ende“. Das ist gar nicht so weit hergeholt, denn „Micheline“ hat im Französischen auch noch eine ganz andere Bedeutung: Micheline ist ein Schienenbus oder Leichttriebwagen, bei dem die Räder mit Luftreifen ausgestattet sind. Später wurden in Frankreich allgemein Dieseltriebwagen so genannt. Der Erfinder war ein Monsieur Michelin, aus der Familie der Reifenbauer kommend. Da nun mein Vater aus einer Eisenbahnerfamilie stammt, habe ich mich schon manchmal gefragt, ob er vielleicht hier die Motivation für die Wahl meines Vornamens gefunden hat. Micheline ist natürlich nicht mein einziger Vorname, meine Eltern hatten da noch Thérèse Aimée Gilberte vorgesehen, aber dankenswerterweise nie angewendet. Allerdings wurde mein Vorname nun im Sprachgebrauch der Familie permanent variiert, sozusagen als Kosename: Miquette oder auch Mickette, Kéké, Mick, Mickou, Minou, Minouch, Minouchette, Minette, Mirlichou. Letzten Endes blieb es dann aber doch bei Micheline oder bei Miquette – so werden in Frankreich auch gerne Katzen gerufen. Namentlich bewege ich mich also zwischen einem Triebwagen und einer Katze, was vielleicht ganz gut zu meinem Charakter

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passt. Im Ballettsaal jedenfalls war ich immer Micheline, mein Mann sagt meistens Miquette zu mir. Wir waren nur eine kleine Familie, Papa und Maman, meine sieben Jahre ältere Schwester Anne-Marie, meist „Annie“ gerufen, und Mémée. An dieser Stelle möchte ich gleich einmal feststellen, dass ich natürlich weiß, es heißt „Mama“ und die Mutter der Mama ist die „Oma“. Aber ich kann schließlich nicht alles übersetzen, und ich will es auch nicht. So ein bisschen Französisch zu lernen, das schadet doch nicht, oder? Übrigens werden wir noch relativ oft auf das Ballett zu sprechen kommen und die internationale Verständigungssprache im Ballett war damals das Französische. Alle diese Fachausdrücke, die kann man zwar erklären, aber kaum übersetzen, und verstehen wird man sie nur wirklich, wenn man ihre technische Ausführung einmal im Ballettsaal erlernt hat. Lassen wir also ruhig diese geheimnisvollen Begriffe zwischen „Arabesque“ und „Attitude“ so im Raum stehen. Aber zurück zu meinen Eltern. Sie hatten sich in Grenoble kennengelernt und haben auch dort geheiratet, sie Sekretärin und begeisterte Leistungsturnerin, er Technischer Zeichner und begeisterter Leistungsturner. Beim Tennis ist man sich näher gekommen, gemeinsame Interessen waren darüber hinaus Malerei und Musik, sie hat sehr gut Klavier gespielt, er spielte Geige und Klavier, war aber vor allem ein begabter Graphiker und Maler. Er hat preisgekrönte Plakate entworfen und auf seinen zahlreichen Reisen, die ihn bis nach Übersee führten, hatte er stets seine Malutensilien dabei. So wurde mein Vater auch sehr früh mein Lehrer, er hat in mir die Liebe zur Malerei geweckt, die mich auf meinem ganzen Lebensweg begleitet und bis heute nicht verlassen hat. Mütterlicherseits gab es bei den Vorfahren ein Schneideratelier, oder war es vielleicht ein Modesalon? Auch soll es da gewisse Geschichten mit einem adeligen Italiener gegeben haben, ich habe das nie so genau erfahren, denn Maman und vor allem Mémée reagierten auf entsprechende Fragen eher zurückhaltend. Aber etwas von dem Modesalon muss ich wohl doch geerbt haben, denn früher habe ich meine Kleider gerne selbst entworfen und genäht – übrigens mit viel Erfolg, Freunde meinten damals sogar, ich sollte doch das mit dem Tanz lieber aufgeben und Mode machen. Als ich dann viele Jahre später für die Aufführungen unseres Ballettstudios in Salzburg nächtelang hunderte Kostüme nähte, da war meine Liebe zur Schneiderei schnell verflogen und ich war froh über die in meiner Jugend getroffene Berufsentscheidung. Die Familie meines Vaters kommt aus den Alpen, genauer gesagt aus den Hautes Alpes, heute ist das die Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, kurz PACA. Als vor einigen Jahren ein Werbeslogan dieses Gebiet als die „wahren Alpen“ bezeichnete, führte das zu einer intensiven Diskussion zwischen den französischen

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und den österreichischen Familienangehörigen, aber das hat sich inzwischen von selbst geklärt: Die Werbung wurde zurückgenommen! Das Elternhaus meines Vaters steht in St. Bonnet-en-Champsaur, einer Gemeinde mit etwa 2000 Einwohnern und einer bedeutenden Vergangenheit, von der noch heute mittelalterliche Baureste erhalten sind: Hier war einmal ein bourg, eine befestigte Anlage an einer schon zu Zeiten der Römer wichtigen Handelsstraße, die heute Route Napoleon genannt wird. Auf die Römer geht wohl auch der Name „Champsaur“ zurück, eine Bezeichnung für das ganze Tal, die traditionell mit „goldene Felder“ übersetzt wird – wegen der Goldfarbe der Getreidefelder. Mein Mann ist da ganz anderer Meinung, er glaubt eher, es habe mit aura, Wind zu tun. Die Einheimischen haben sich von dieser Version bisher nicht überzeugen lassen, aber es herrscht wirklich bei uns ein sehr beständiger, leichter Wind, der sich bis zum Sturm steigern kann und dann unten in Marseille als „mistral“ die Strände leer fegt. Warum beschreibe ich das so ausführlich? Nun, St. Bonnet-en-Champsaur, der Ort und die Landschaft sind ein fester Bestandteil meines Lebens, es gab kein Jahr, in dem ich nicht mindestens einmal dort war, in der Jugend zu den Ferienzeiten, Weihnachten, Ostern und im Sommer, zu Berufszeiten verkürzt nur im Sommer, jetzt wieder den ganzen Sommer. Eines Tages verkauften meine Eltern das alte Haus im Ortszentrum und mein Vater ließ auf einem großen Grundstück am Ortsrand nach seinen Plänen zwei Chalets bauen – für seine beiden Töchter. Das ist auch heute noch unverändert unser Feriendomizil. Mein Vater, ich habe es schon erwähnt, stammt aus einer Eisenbahnerfamilie. Wir haben noch heute das Messingschild von der Wohnungstüre des Großvaters, da steht: „J. Faure PLM“, J für seinen Vornamen Joseph und PLM – in Frankreich wusste jeder, was das bedeutet: Paris, Lyon, Marseille. Man war stolz, wenn man dazu gehörte, denn das war der Name einer privaten Eisenbahngesellschaft, die in Frankreich den Südosten, die Provence und die Côte d’Azur betreute. Als im Jahre 1938 die Privatbahnen in Frankreich zur staatlichen SNCF fusioniert werden, da erwacht wohl auch bei meinem Vater wieder das Eisenbahnerherz, er verlässt die Privatwirtschaft, geht zur Bahn, kann dort einige technische Patente entwickeln und wird schließlich als Inspecteur das ganze Jahr über im Land unterwegs sein. Den Wohnsitz verlegen meine Eltern daraufhin nach Paris, das heißt, ich wurde zwar noch in Grenoble geboren, den Kindergarten besuche ich dann aber schon in Paris.

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Abb. 1/2: Mit den Eltern und meiner Schwester Annie in St. Bonnet

Abb. 3: Meine Großmutter „Mémée“ in der Pariser Wohnung

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eine Eltern haben eine große Vierzimmerwohnung in Paris gefunden, mitten im Quartier Latin. Unsere Straße, die Rue Claude Bernard, liegt genau zwischen zwei großen Parkanlagen, dem Jardin du Luxembourg und dem Jardin des Plantes. Dort gibt es neben den eindrucksvollen Baudenkmälern aus der Antike bis zur Kaiserzeit auch endlose Spazierwege und vor allem herrliche Spielplätze für Kinder. Sie werden nun fast täglich mein Ziel, zunächst im Kinderwagen, dann mit dem Tretroller und schließlich mit Rollschuhen – Bewegung war schon immer ein wichtiges Element in meinem Leben. In der Erinnerung verdichten sich diese Jahre der frühen Kindheit zu einigen wenigen Bildern. Da ist die Madame Barella in der école maternelle, dem Kindergarten. Ich mochte sie sehr gerne, ganz im Gegensatz zu meiner ersten Lehrerin in der Volksschule. Die gefiel mir überhaupt nicht, die Lehrerin und auch die Schule und ich war froh, als meine Eltern mich später davon erlösen: 1951 komme ich auf eine Privatschule. Aus der frühen Schulzeit ist mir noch ein schönes Bild in Erinnerung geblieben, eine tägliche Begegnung auf dem Schulweg. Es ist die Rue des Feuillantines mit einem Kloster aus dem Mittelalter, das in der Französischen Revolution aufgelöst wurde. Dort wohnte der kleine Victor Hugo mit seiner Mutter einige Jahre, am Beginn des 19. Jahrhunderts. Ich habe diesen stimmungsvollen Platz mitten in der Großstadt sehr geliebt und sogar viele Jahre später einen Text von Hugo gefunden, wo er sich an diesen Ort erinnert:

Der Garten war groß, tief, geheimnisvoll, vor neugierigen Blicken mit einer hohen Mauer geschützt, voller Blumen. Das Leben besteht aber nicht nur aus Schule und so ist meine Freizeit mit vielen Aktivitäten ausgefüllt. An erster Stelle steht natürlich immer noch die Bewegung, ich treibe viel Sport und das so intensiv, dass ich mir einmal beim Weitsprung die linke Hand breche. Für die kulturelle Erziehung sorgen meine Eltern, ich spiele seit dem sechsten Lebensjahr Klavier, bin mit meiner Schwester bei der Jeunesse Musicale und erinnere mich noch heute an ein Wagner-Konzert in der Salle Pleyel, wo mich besonders die Pauken beeindruckt haben. Ja, und dann natürlich das Kino! Franzosen sind begeisterte Kinogänger, sie sind es gewohnt, Schlange zu stehen vor den Kinokassen, und auch wir gehören dazu, die ganze Familie. Dort,

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in einem Kino, treffe ich eine Entscheidung für mein Leben. Es ist im Jahr 1948, ich bin neun Jahre alt, habe soeben den Michael-Powell-Film „Die roten Schuhe“ mit der britischen Tänzerin und Schauspielerin Moira Shearer gesehen und weiß jetzt: Ich will, ich muss Tänzerin werden! Mir ist das sofort ganz klar, leider nicht meinen Eltern: „Tänzerin? Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Alle meine Überredungskünste versagen diesmal, ich darf zwar Gymnastikkurse besuchen, Akrobatik, ich darf in Ballett-Aufführungen gehen und Autogramme sammeln von den Stars, aber selber tanzen darf ich nicht. Das wird eine schwierige Zeit, für mich und auch für meine Umgebung, aber aufgegeben habe ich nie. Neben all diesen Problemen beginnt nun auch noch der Kommunionsunterricht in der Kirche St. Jacques. Mein Interesse daran ist nicht besonders groß, und so meint eines Tages der Herr Pfarrer zu meiner Mutter: „Ihre Tochter ist eine dumme Gans!“ Auf Französisch klingt das noch unfreundlicher: Une bécasse! Meine Mutter ist empört, meldet mich sofort ab und schickt mich zu einem anderen Pfarrer nach Saint-Etiennne-du-Mont. Das verzögert zwar die ganze Prozedur, aber am 10. Mai 1951 ist es endlich soweit: Ich kann zur Kommunion antreten. Bei diesem feierlichen Ereignis werden wir nun wirklich eine sehr große Familie, denn aus ganz Frankreich kommen sie herbeigeströmt: Großeltern, Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen ersten, zweiten und dritten Grades. Es wird ein richtiges Familientreffen und damit ergibt sich die günstige Gelegenheit, den großen Familienrat einzuberufen. Er soll jetzt die Frage entscheiden: Darf die kleine Micheline „Tänzerin“ werden, und verträgt sich das mit den gutbürgerlichen Traditionen unserer Familie? Ich habe Glück, denn eine Mehrheit zeigt Verständnis für meinen Berufswunsch, und so können auch meine Eltern überzeugt werden. Ich weiß aber heute: Auch wenn sie es nicht erlaubt hätten, ich wäre trotzdem Tänzerin geworden. Nun kann es also richtig losgehen, denke ich mir, doch nun fangen die Probleme erst richtig an. Für meinen Wunschtraum, in die Ballettschule der Opéra zu gehen, ist es schon zu spät, ich habe das Alterslimit für die Aufnahme bereits überschritten. Da hört meine Mutter, dass es im Théâtre du Châtelet eine Ballettschule für Kinder geben soll. Wir gehen also zu dem Theater und erkundigen uns bei der Concierge, die ganz begeistert von der Schule spricht und deren Qualitäten lobt, denn ihre Tochter gehe auch dorthin. Damit ist das Gespräch beendet, denn eine Ballettschule, in die auch die Tochter einer Concierge gehen kann, das kommt für meine Mutter nicht in Frage. An dieser Stelle sollte ich vielleicht den Begriff Concierge erklären: Diese Institution gibt es damals in Paris praktisch in jedem Mietshaus. Es ist mehr als eine „Hausmeisterin“, denn eine Concierge wohnt neben der Haustüre, die sie aus einem Fenster überwachen kann. Sie weiß

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also ganz genau, wer mit wem wann nach Hause kommt. Dieses Wissen bedeutet Macht über alle Mieter und wird auch entsprechend ausgenutzt. So ist Concierge sprichwörtlich geworden für eine „unangenehme, geschwätzige Person“. Also wieder nichts! Doch nun helfen die französischen Eisenbahnen, sie werden zum Retter in der Not. Die SNCF unterhalten für die Angehörigen ihrer Mitarbeiter zahlreiche soziale und kulturelle Einrichtungen, und sie stellen in der Nähe der Gare d’Austerlitz auch Räume für eine Ballettschule zur Verfügung. Die Leiterin ist Marcelle Dazy, Solotänzerin der Opéra Comique, eine eher kleine Person mit lockigen Haaren und einer spitzen Nase – ich habe sie gerne gehabt. Sie wird also meine erste Lehrerin, Unterricht ist einmal in der Woche, am Donnerstag, denn das ist damals der schulfreie Tag in Frankreich. Da ich auf keinen Fall noch mehr Zeit verlieren wollte, habe ich mich auch gleich für die Aufnahmeprüfung am Conservatoire angemeldet. Die besteht damals aus zwei Teilen: Zunächst muss man möglichst überzeugend auftreten und sich der Kommission vorstellen. Ich bin felsenfest von meiner Qualifikation überzeugt und präsentiere mich so selbstbewusst, dass es gleich heißt: Danke, das genügt, qualifiziert für den zweiten Durchgang. Da soll ich nun etwas tanzen, aber ich hatte noch nie getanzt, fange gerade erst an, die einfachsten Grundbegriffe des klassischen Tanzes zu erlernen – im Gegensatz zu meinen Mitbewerberinnen, die alle schon mehrere Jahre Unterricht hatten. Das war es dann also, zu meinem großen Bedauern, und ich glaube, auch einige Mitglieder der Kommission haben es bedauert. Mir blieb also zunächst nur der Unterricht bei Mademoiselle Dazy. Dort hatte man uns bei der Anmeldung gesagt, dass ich für den Unterricht chaussons brauche. Im normalen Sprachgebrauch sind das Hausschuhe oder Pantoffeln, die chaussons de danse allerdings sind Trainingsschuhe für den Tanz, auf Deutsch Schläppchen, was ich damals nicht wusste. Ich bin also zur ersten Ballettstunde in Hausschuhen erschienen – es gab ein Riesengelächter, und ich musste die ganze Stunde so trainieren. Das war sehr, sehr peinlich! Neben dem klassischen Ballettunterricht werden mit uns schon sehr bald ganze Choreographien einstudiert (etwa Saint-Saëns „Karneval der Tiere“ oder Liszts „Ungarische Rhapsodie“) für die eigene Compagnie Dramatique „L’Equipe“, die damit bei Betriebsfeiern, in Altersheimen, aber auch auf richtigen Bühnen gastiert. Ich habe im Juni 1951 mit dem Unterricht begonnen und schon im Dezember darf ich als Solistin auftreten mit einem klassischen „Menuett“ (Boccherini) und „Les Arabes“. Ich bin also am Ziel meiner Träume angekommen, jeden Donnerstag Unterricht und zahlreiche Aufführungen das ganze Jahr über. Aber mir geht das alles noch viel zu langsam – die „Jungen Ballerinen der Mademoiselle Dazy“, das ist ja ganz nett, aber ich will weiterkommen. So passt es sehr gut, als man

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meinen Eltern empfiehlt, mich doch zusätzlich zu einem ungarischen Ballettmeister in das Studio Wacker zu schicken. Mr. Wood ist bekannt als strenger Lehrer, und ich habe von 1953 an immer wieder mit ihm gearbeitet, auch wenn es häufig zu Ärger und Trennung kommt – wir waren wohl beide schwierig. Er nannte mich übrigens „moustique“ (Mücke), wegen meiner langen, dünnen Beine und auch, weil ich das einzige Kind unter lauter Erwachsenen seiner Gruppe war. Ja, das „Studio Wacker“, das muss ich wohl kurz erklären, denn das ist keine Ballettschule, sondern ein Gebäude mit verschiedenen Sälen, die man tage- oder stundenweise mieten konnte. O.F. Regner nennt es in seinem „Ballettbuch“ eine der Herzkammern des Balletts in Frankreich: „In diesem Haus der Studios, der abgetretenen Treppen, der niederen Decken, der schwankenden Fußböden, der erblindeten Spiegel, der heiser klimpernden Pianos – hier geben die meisten der privaten Ballettlehrer von Paris ihre Unterrichtsstunden.“ Es ist wirklich ein Zentrum des Balletts, hier bekommt man alle Informationen über Veranstaltungen, über freie Stellen, hier trainieren Profis und Amateure nebeneinander. Das Ganze läuft dabei sehr locker ab, man geht in ein Training und bezahlt die Stunde dann am Ende, keine weiteren Verpflichtungen. Hier im Studio Wacker habe ich dann später auch meine anderen Lehrerinnen gefunden, die berühmte Madame Rousanne und Michelle Perrot. Aber auch zwei Primaballerinen, Lycette Darsonval und Christiane Vaussard, haben sich sehr früh um meine Entwicklung als Tänzerin gekümmert. Eines Tages durfte ich Christiane sogar in ihrer Garderobe in der Opéra besuchen und sie schenkte mir ein Paar ihrer Spitzenschuhe – ein unvergessliches Erlebnis! Auch meinen wichtigsten Lehrer Paul Goubé habe ich im Studio Wacker kennen gelernt. Er hat mich dort praktisch abgeworben, denn er unterrichtete im Studio Constant, wo er dann mit mir an den Solopartien der großen Ballett-Klassiker gearbeitet hat – eine große Hilfe für die Theaterpraxis, wo oft bei Erkrankungen im Ensemble sehr schnell nachstudiert werden muss. Diese Vorkenntnisse waren in meinem ersten Theaterjahr von großem Vorteil – ich hatte bald den Ruf einer schnellen Einspringerin. Ich war jedenfalls glücklich, nun mittendrin zu sein in der Ballettwelt, mit Profis trainieren zu können, und das jeden Tag, zu jeder Zeit. Besonders aufregend war der Unterricht im Studio Wacker bei Madame Rousanne, einer echten Institution. Seit den Zwanzigerjahren hat sie die Elite der französischen Tänzerinnen und Tänzer ausgebildet bis in unsere Zeit und sie war immer noch so konzentriert, streng – und laut, wie am ersten Tag. Der Unterricht ist nicht billig im Studio Wacker, denn jede einzelne Stunde muss bezahlt werden. Und dann gibt es noch zwei neue Probleme: Der tägliche Ballettunterricht ist mit der Schule nicht mehr zu vereinbaren und von unserer Wohnung zum Studio Wacker bin ich über eine Stunde unterwegs. Meine Eltern

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entscheiden sich für eine kostspielige Lösung: Sie kaufen eine tolle Atelierwohnung im Quartier d’Europe, nur zwei Metrostationen vom Studio Wacker entfernt, und sie nehmen mich aus der Schule, ich bekomme Privatunterricht bei Fräulein Moreau, meiner Schuldirektorin. Für mein Alter habe ich damit ein dichtes Arbeitsprogramm, aber es ist ja mein großer Traum, der nun langsam in Erfüllung zu gehen scheint. Wie mein Tagebuch beweist, bleibt mir immer noch viel Zeit für Privates, für die Familie. Die Hauptpersonen kennen wir ja schon: Papa, Maman, Mémée und meine Schwester Annie.

Mittwoch, 16. März 1955 Heute Morgen sind wir um 9.30 Uhr aufgestanden, Maman und ich, dann habe ich ein bisschen gefaulenzt. Ich wollte eigentlich zu dem Kurs um 12 Uhr gehen, aber weil ich mich nicht genug beeilt habe, konnte ich erst um 14 Uhr gehen. Ich bin etwas zu spät gekommen. Beim Training hat mir Mr. Wood gesagt, die Art, wie ich tanze, gefalle ihm sehr und ich sollte das ja nicht ändern. Heute waren beim Kurs Christiane, Geneviève, Chantale, Irène, Jacqueline, Jeanette, Réjane und ich und Mr. Wood hat uns ganz schön arbeiten lassen. Am Ende des Kurses um 15.30 Uhr gehe ich in die Garderobe und ziehe mich um für die Stadt. Ich nehme die Metro bis zur Place d’Italie und gehe zu Madame Chaudet, die in der Rue de Tolbiac wohnt, wo ich um 17.15 Uhr ankomme. Maman war schon dort, und wir blieben bis 19 Uhr. Wir haben Karten gespielt (barbu). Als wir wieder nach Hause kommen, treffen alle zur gleichen Zeit ein: Papa, Großmutter, wir und die Wäsche wird auch geliefert. Wir begrüßen unsere Katze, dann decke ich den Tisch und wir essen. Dann erzähle ich meinen Eltern, was Mr. Wood zu mir gesagt hat und worauf ich sehr stolz bin und ich zeige ihnen die Schritte, die ich heute gemacht habe. Ich räume den Tisch ab, sticke ein wenig und höre dazu Radio. Es ist 22 Uhr, als ich schlafen gehe. Ich möchte noch ein bisschen Spanisch lernen, aber Maman meint, ich soll das Licht ausmachen, also mache ich das Licht aus – und schreibe mein Tagebuch! Donnerstag, 17. März 1955 Um 8 Uhr bin ich aufgestanden und habe gleich die Gasheizung in meinem Zimmer angemacht. Dann habe ich mein Bett gemacht, aufgeräumt und gefrühstückt. Um 9.15 Uhr ist Fräulein Moreau gekommen und wir haben Französisch gearbeitet. Man hat ja keine Ahnung, was da im Aufsatz von einem verlangt wird: „Sie sind ja noch in einem Alter, wo man von den Eltern abhängig ist. Vielleicht haben Sie manchmal darunter gelitten. Aber jetzt zählen Sie alle Vorteile auf, die Sie von der Unabhängigkeit erwarten und versuchen Sie, die Voraussetzungen zu

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finden, die Ihnen erlauben werden, diese Vorteile zu gewinnen.“ Was sagt man dazu? Wir haben bis Mittag gearbeitet, ich habe schnell gegessen und war um 13 Uhr beim Kurs von Mr. Wood. Er hat uns ganz schön rangenommen, es war schrecklich. Danach in der Garderobe haben wir von allem Möglichen geredet und Madame Croisilles, unsere Pianistin, hat mir erzählt, Mr. Wood habe schon vor zwei Jahren zu Lycette Darsonval gesagt, sie könne mich ruhig engagieren, aber die hielt mich wohl für zu jung. Madame Croisilles meint: „Da hat sie etwas versäumt!“. Ich habe mich dann angezogen und zusammen mit Réjane die Metro genommen. Wir überqueren gerade die Place Clichy und wen sehe ich da vor mir: Madame Dazy! Ja, sie selbst, und ich glaube sogar, sie hat mich gesehen, aber da bin ich nicht ganz sicher. Sie nahm die Metro. Sie trug einen blauen Mantel (sehr hübsch) mit Pelzkragen, einen grauen Hut auf dem Kopf, unter dem ihre blonden Haare auf die Schultern fielen. Ich ging dann nach Hause und erzählte Maman das Erlebnis. Ich spielte ein bisschen Klavier, lernte etwas Spanisch und dann kam Papa nach Hause. Ich deckte den Tisch, wir haben gegessen und dann ging ich schlafen. Ich habe noch ein wenig gelesen und mein Tagebuch geschrieben. Freitag, 18. März 1955 Ich habe geträumt, dass Madame Dazy zu uns gekommen ist, viel mit Maman gesprochen hat und wir uns wieder versöhnt haben. Es ist 9 Uhr als ich aufstehe, Maman hat nichts gemerkt. Ich mache mein Bett und räume auf. Als Maman aufwacht und aufsteht, entdeckt sie mich. Wir gehen in die Küche, um zu frühstücken. Dann mache ich mich fertig, gehe auf den Markt, komme schnell zurück, esse eine Kleinigkeit und gehe zum Kurs um 12 und um 14 Uhr. Um 11.30 Uhr ziehe ich los, und das ist nun wirklich nicht zu früh, denn ich brauche mindestens eine halbe Stunde und dann noch 5 Minuten, um mich umzuziehen. Im Kurs waren wir nur zu zweit, eine Stunde lang. Mr. Wood hat uns ganz schön arbeiten lassen, ich kann nur sagen, für den nächsten Kurs um 14 Uhr war ich richtig fertig. Zwischen den Kursen habe ich mir bei Mr. Hugo ein Schinkensandwich gekauft. Nach dem Kurs ziehe ich mich an, um zu Nicole Croisilles, der Tochter unserer Pianistin, zu gehen um 17 Uhr. Es ist 16.30 Uhr, als ich das Studio verlasse, ich kaufe mir noch schnell einen Notizblock und bin um 17 Uhr bei Nicole. Um 18.15 Uhr bin ich fertig, um 19 Uhr komme ich zu Hause an. Maman hat große Neuigkeiten für mich. Madame Carmen Silva war da, als ich gerade aus dem Haus war. Sie hat Maman gefragt, ob ich am 29. März in einem Sanatorium tanzen könnte. Wir würden am Vormittag von der Gare St. Lazare wegfahren,

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dort essen und am Abend zurückfahren. Ich weiß nicht, wo das ist, aber man wird schon sehen. Ich bin so richtig zufrieden. Ich frage mich, wie Carmen Silva meine Adresse bekommen hat, die sie ja nicht kannte, vielleicht von Madame Dazy, sonst wüsste ich nicht von wem. Angeblich hat Madame Dazy diese Woche bei irgendeiner Gelegenheit „Miquette“ gesagt. Ja, sie hat meinen Namen ausgesprochen. Sie, die mich immer mit „Micheline“ ansprach, wenn wir ein Problem hatten. Vielleicht nannte sie mich Micheline, um nicht schwach zu erscheinen. Aber ganz tief drinnen in ihrem Herzen, da denkt sie vielleicht an mich! Als Maman mir das erzählt hat, habe ich mich wahnsinnig gefreut und beim Schreiben jetzt habe ich Tränen in den Augen. Dann haben wir gegessen, ich bin schlafen gegangen, Maman ist noch fortgegangen und Papa hat angefangen, in der Küche die alte Wandfarbe abzukratzen. Da bin ich wieder aufgestanden und habe ihm geholfen. Wir haben gut gearbeitet. Jetzt ist es 22 Uhr vorbei und ich schreibe mein Tagebuch im Bett. Ich werde aufhören und das Licht ausmachen, denn Maman kommt zurück. – Dann plötzlich muss ich doch noch einmal hinaus, um mich zu übergeben. Was für ein schöner Abschluss des Tages! Samstag, 19. März 1955 Bis 3 Uhr früh war mir noch übel, alle 5 Minuten! Als ich morgens aufwachte, war ich schwer wie Blei und ich konnte nicht gehen. Mir war heiß und ich war rot wie ein Hahn, hatte aber kein Fieber. Ich bin zu Maman, die noch im Bett lag, und wir haben den Brief von Annie gelesen. Dann hat mir Maman etwas Tee gebracht und Orangeade, das war sehr gut und ich habe mich nicht mehr übergeben müssen. Hoffentlich bleibt das so. Maman räumt mein Zimmer auf und ich gehe ins Badezimmer. So, jetzt bin ich fertig und Maman auch mit meinem Zimmer. Aber in meinem Magen rumort es noch und ich muss mich setzen. Der Kater spielt verrückt und tobt herum. Maman wird an Mr. Wood schreiben, denn sie fürchtet, dass Papas Anruf dort nicht weitergegeben wurde. Jetzt ist Maman einkaufen gegangen, der Kater hat sich irgendwo versteckt, und ich schreibe. Ich werde heute nicht zu Mr. Wood gehen, denn ich könnte nicht tanzen und vielleicht würde mir wieder übel werden. Gestern hat mich Mr. Wood so stark an den Beinen gezogen, dass ich danach fast nicht mehr gehen konnte, weil ich so Schmerzen an den Gelenken hatte. Ich werde jetzt ein bisschen aufräumen und die Betten machen. – So, das ist erledigt, auch in der Küche habe ich aufgeräumt. Da kommt Maman, ich helfe ihr beim Kochen und beim Tischdecken. Als Papa heimkommt, setzen wir uns zu Tisch. Ich esse ein bisschen, aber das bekommt mir nicht. Also lege ich mich wieder ins Bett und schlafe, mit dem Kater. Als ich wieder aufwache, kommt

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Maman ins Zimmer und nun arbeiten wir zusammen. Ich nähe ein rotes Band auf den Vorhang vom großen Fenster, Maman sitzt an der Nähmaschine. Meine Schwester Annie wird sehr überrascht sein, wenn sie beim nächsten Kommen ein völlig neues Zimmer vorfindet. Allerdings, sie wird nicht die Erste sein, die das neue Bett benutzt, denn am 26. März kommt die junge Audrey aus England, um Französisch zu lernen und sie wird in dem Bett schlafen. Annie wird erst später kommen und auch nur für einen Abend. Jetzt ist es Abend und gleichzeitig kommt Mémée an, Radio und Heizung laufen auf vollen Touren. Wir essen noch einmal, ich räume ab, wir sprechen noch von diesem und jenem und gehen dann schlafen. Es ist jetzt kurz nach 23 Uhr, ich lese noch etwas in meinem Buch „Robin Hood, der Geächtete“. Ich bin zwar erst am Anfang, aber der ist schon ganz gut. Maman macht das Licht aus und so muss ich das auch tun, sonst schimpft sie mit mir! Sonntag, 20. März 1955 Um 10 Uhr bin ich aufgestanden, das heißt, Maman hat den Kater auf mein Bett springen lassen, um mich aufzuwecken. Schönes Aufwachen für eine Kranke! Also stehe ich auf, mach eine Katzenwäsche und bereite mich vor, um einkaufen zu gehen. Plötzlich: Klingling! Ich mache auf und da steht Großmutter! Ich übergebe ihr gleich die Einkaufsliste und laufe schnell zur Messe um 11 Uhr. Dann besorge ich mir noch Nadeln zum Reparieren der Strümpfe. Als ich heimkomme, ist Mémée schon wieder da, sie, die so langsam wie eine Schildkröte ist, war schon wieder zurück! Maman lässt mich das Geschirr spülen, Mémée strickt. So, ich habe gespült, aber nicht abgetrocknet. Das macht jetzt Mémée. Sie deckt auch gleich den Tisch, während ich Maman helfe, die Fenster zu putzen. In der Zwischenzeit kommt Papa, wir müssen uns beeilen, denn er will die Vorhänge anbringen. Der Kater hilft mir, meinen Stift wiederzufinden. Nun ist das Zimmer in totaler Unordnung, das passt überhaupt nicht mehr zu der neuen Dekoration. Na gut, um 14 Uhr können wir dann endlich essen. Es ist 15 Uhr, ich räume ab und gehe in mein Zimmer, da kommt Maman herein: Papa wird die Küche machen, das heißt, er wird die Decke streichen. Der Tag vergeht jetzt schnell: Wir haben das Radio an, hören die Sportberichte, dann „Freude am Leben“ und „Vor der Premiere“, während ich mein Tanztrikot repariere. Dann ist es schon 22 Uhr, ich bringe den Müll hinunter und wir essen. Um 23 Uhr räume ich ab, wir reden noch von verschiedenen Dingen, dann gehen wir schlafen. Ich schreibe mein Tagebuch, Papa bringt mir noch ein Medikament, Maman will, dass ich das Licht ausmache, also schreibe ich im Dunkeln weiter.

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Montag, 21. März 1955 Endlich Frühling! So lange haben wir ihn erwartet, jetzt ist er gekommen, um unsere Speisekarte zu verändern. Hier ist das neue Tagesgericht: Montagsnudeln auf Samtpfoten. Heute, zum Frühlingsbeginn, bin ich um 9 Uhr aufgestanden in Erwartung eines strahlenden Tages, in Wirklichkeit war es trüb und regnerisch. Im Laufe des Tages hat sich meine Stimmung also nicht verbessert und ich habe das Gleiche gemacht wie in den vergangenen Wochen. Dienstag, 22. März 1955 Um 10 Uhr bin ich aufgestanden, auf den Markt gegangen und dann ist Papa gekommen. Wir haben gegessen und dann bin ich zum Kurs von Mr. Wood. (Maman ist krank, sie hat Halsschmerzen und bekommt eine Angina). Ich habe mich getraut, Mr. Wood zu fragen, ob ich an einem Vortanzen teilnehmen darf. Er meinte, mit 16 wäre das dann leichter, denn jetzt würde ich automatisch zu den Kindern eingeteilt werden. Es wäre besser, zu warten bis Sonia zurück ist. Ich habe das Maman erzählt. Als Papa kam, haben wir gegessen, dann ist Maman zum Roten Kreuz gegangen und wir, Papa und ich, wir haben die Küche gemacht, also: gestrichen. Jetzt ist sie strahlend Weiß und schön. Als Maman zurückkam, hat sie uns heiße Milch mit einem Schuss Schnaps gemacht, dann sind wir schlafen gegangen, Maman und ich. Papa ging erst um 2 Uhr morgens in die Kiste. Mittwoch, 23. März 1955 Ich bin um 10 Uhr aufgestanden, das heißt, Maman hat mich gerufen, weil es ihr nicht gut ging. Ich habe ihr das Frühstück gebracht, dann mein Zimmer aufgeräumt und mich fertig gemacht zum Einkaufen. Maman war schon auf als ich zurückkam, so haben wir zusammen gegessen (Maman nur eine Nudelsuppe), dann noch etwas gelesen und dann bin ich zum Kurs von Mr. Wood. Im Unterricht meinte Mr. Wood, ich solle mich gedulden. Also werde ich mich gedulden. Heute waren wir im Unterricht: Christiane Vaussard, Geneviève, Chantale, Lisa, Jacqueline, Réjane und eine Neue, die schon vor einem Jahr da war. Ich war um 17 Uhr wieder zu Hause. Mit Maman habe ich die Wäsche weggebracht und war am Markt. Zu Hause habe ich gegessen und dann habe ich noch einen Brief geschrieben. Maman hat sich eine heiße Zitrone gemacht und hatte große Mühe beim Trinken. Papa ist erst um 21 Uhr gekommen, hat dann gegessen. Maman und ich, wir sind ins Bett und Papa hat sich wieder an die Küche gemacht. Ich hoffe, er arbeitet nicht wieder bis 2 Uhr morgens wie letzte Nacht. Jetzt noch etwas nähen, dann Licht aus und schlafen.

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Donnerstag, 24. März 1955 Ich bin um 9.20 Uhr aufgestanden und habe mich schnell fertig gemacht, denn heute kommt Fräulein Moreau. Maman geht es gar nicht gut, ich habe ihr das Frühstück gebracht. Mémée ist gekommen, um Maman zu pflegen. Um 9.30 Uhr kam Fräulein Moreau und wir haben viel gearbeitet. Sie ist 20 Minuten nach 12 Uhr gegangen. Maman ist aufgestanden, Papa ist gekommen und wir haben gegessen. Papa ist dann wieder weg. Heute haben wir Briefe von Audrey und den anderen bekommen, darunter auch von einer Krankenschwester, die mir einen Kontakt zur Opéra versprochen hat – über Frédéric-Dupont. Heute Nachmittag ist Madame Chaudet gekommen, dann habe ich einen Brief geschrieben an Mr. Lehman, Maman wird ihn morgen der Krankenschwester bringen, die ihn an Mr. Dupont weiterleitet. Das war der verzweifelte Versuch, doch noch irgendwie in die Ballettschule oder in das Ballett der Opéra zu kommen – allerdings vergeblich: Die Antwort kam drei Wochen später:

Freitag, 15. April 1955 Maurice Lehman an Edouard Frédéric-Dupont Leider gibt es keinen freien Platz im Corps de Ballet der Pariser Oper. Die Aufnahme erfolgt in der Regel bei einem Vortanzen, das aber vor allem den Eleven unserer eigenen Schule vorbehalten ist. Kandidaten von außerhalb werden kaum eingeladen, da wir zurzeit etwa hundert Kinder haben, alle wunderbar begabt. Sollte es dennoch einmal zu einem Vortanzen kommen, werden wir uns gerne an Ihre Bitte erinnern und Fräulein Micheline Faure einladen Maurice Lehman. Wir haben natürlich nie wieder etwas gehört und so habe ich weiter von der Zukunft geträumt, vom Tanzen und von meinen Lehrerinnen und Lehrern.

Freitag, 25. März 1955 Ich habe von Madame Dazy geträumt. Ich war im Studio Valubert und ich habe sie im Hof getroffen, in einem weißen Cabrio. Madame Dazy hatte ein weißes Kleid an mit blauen Punkten und ihre goldfarbenen Haare glänzten im Sonnenschein. Ich ging zu ihr und wir begrüßten uns, als wenn nichts gewesen wäre. Schon letzte Nacht träumte ich, Madame Dazy hätte im Saal von Valubert zu mir gesagt, es hätte nie etwas zwischen uns gegeben. Sie hat mit uns dreien geprobt, mit Michèle, Anne Marie und mir und weil ich keine guten Schuhe hatte, hätte mir Anne Marie ihre Schuhe geliehen, aber ich meinte, das sei ja nur ein

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einzelner Schuh, ob sie sich nicht erinnere, wie sie den anderen verloren habe, ganz neue Schuhe. Kehren wir zurück zum heutigen Tag. Ich habe also von Madame Dazy geträumt und dabei bin ich aufgewacht. Um 10 Uhr bin ich aufgestanden, war einkaufen, wir haben gegessen. Papa ist heute den ganzen Tag da, er hat sich frei genommen. Dann war ich beim Kurs von Mr. Wood und bis 17 Uhr bei Nicole. Um 19 Uhr war ich zu Hause und bin dann noch einmal einkaufen gegangen. Maman ist zu ihrem Colonial-Kurs, ich habe etwas gegessen und mir alte Klamotten angezogen. Dann hat Papa gegessen und ich habe angefangen, die Fußleisten zu streichen (in blau) mit der kleinen Rolle. Dann habe ich Papa geholfen beim Fensterstreichen. Maman kam schon vorher zurück und ging schlafen. Nach dem Fenster habe ich dann noch die Küchentüre auf der Gangseite gestrichen, bevor ich schlafen ging. Wie lange Papa noch gearbeitet hat, weiß ich nicht, bei mir war es schon 2 Uhr morgens. Samstag, 26. März 1955 Maman ist um 7 Uhr aufgestanden, um 8 Uhr war sie dann fertig, als Papa aufstand. Sie muss Audrey in Dieppe abholen, der Zug fährt um 10 Uhr vom Bahnhof St. Lazare. Maman war so im Stress, um Viertel vor 10 war sie am Bahnhof, um halb zehn ist sie von zuhause fort, um 8 Uhr war sie schon fertig. Noch ein bisschen und sie hätte ihren Zug verpasst. Ich bin um 9 Uhr aufgestanden, weiß nicht, was ich gemacht habe, aber die Zeit ist so schnell vergangen, ein bisschen habe ich noch Papa geholfen. Kurz vor 12 war ich einkaufen und um 13 Uhr haben wir gegessen. Um 13.30 Uhr bin ich dann los, 14.15 Uhr war ich im Studio Wacker, bin also zum Kurs zu spät gekommen. Wir waren zu viert, wir haben sehr, sehr viel gearbeitet. Nach dem Kurs habe ich mir Zeit gelassen und bin um 17.10 Uhr 10 aus dem Studio. Bei Repetto habe ich meine Schuhe abgeholt, gleich zwei Paar. Dann bin ich ganz gemütlich zu Fuß bis zum Bahnhof St. Lazare, wo nach 18 Uhr die Damen ankommen sollten: Maman und Audrey. Obwohl ich mir viel Zeit gelassen habe, war ich schon um 18 Uhr am Bahnhof und musste noch 20 Minuten herumhängen. Um die Zeit zu vertreiben habe ich mir dann eine Schokolade gekauft. Der Zug kam 4 Minuten früher an und ich hätte sie fast übersehen, weil so viele Menschen waren. Maman hat mir dann auf den Rücken geklopft, ich habe die Bekanntschaft von Audrey gemacht und wir sind zum Buffet gegangen. Mit dem 27er-Bus sind wir dann heimgefahren, wir haben gegessen und sind dann schlafen gegangen. Ach ja: Mr. Wood hat mir gesagt, Geneviève werde demnächst Lycette Darsonval ersetzen, er wäre dann der Choreograph und er werde versuchen, mich in die Truppe aufzunehmen.

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Sonntag, 27. März 1955 Plötzlich höre ich ein toc-toc-toc, es ist Maman, ich soll aufstehen! Es war schon 10 Uhr! Ich bin also aufgestanden und in die Küche gegangen, um das Frühstück vorzubereiten für Audrey und mich. Dann habe ich alles ins Zimmer gebracht, aufgedeckt, Audrey ist aufgestanden und wir haben gefrühstückt. Es gab Toast mit Butter und Konfitüre, Tee, Milch, Wasser und Zucker. Dann haben wir uns angezogen und sind einkaufen gegangen. In den Geschäften hat sich Audrey nicht getraut Französisch zu sprechen. Danach bin ich noch schnell in die Messe gegangen. Dann haben wir gegessen, Mémée hat abgewaschen, ich habe abgetrocknet und dann habe ich in meinem Zimmer das Zigeuner-Kostüm anprobiert – im Unterrock, aber ohne Rock. Das macht einen tollen Effekt. Ich bin sehr zufrieden, denn ich habe nicht zugenommen. Man muss also nichts weiter machen. Dann habe ich noch das Tutu probiert, es passt haargenau! Maman hat die Bänder gewechselt auf dem Tambourin und Papa hat den Clown gespielt. Nachdem wir alles zusammengepackt hatten (fast alles!), haben wir Audrey beigebracht, Barbu zu spielen. Das war kompliziert, denn sie spricht ja kein Wort Französisch. So haben wir zunächst mit offenen Karten gespielt und erst später richtig. Aber sie hat es ganz gut kapiert und wenn wir Mittwoch zu Madame Chaudet gehen, kann sie schon mitspielen. Danach hat Maman meine Spitzenschuhe bestickt, ich habe mein Trikot ausgebessert und Tee gemacht. Audrey hatte Hausaufgaben für die Schule, einen englischen Text ins Französische zu übersetzen. Sie macht das ganz gut, das Schriftliche fällt ihr leichter als das Sprechen. Wenn wir reden, versteht sie manchmal nur „ja“ und „nein“, mehr nicht. Mir würde das genauso gehen wenn ich bei ihr zu Hause wäre. Um 21 Uhr haben wir gegessen, Geschirr gespült und sind schlafen gegangen. Audrey liest noch. Ich weiß nicht, was die Eltern machen. Ich nähe noch an meinem Trikot und ich schreibe im Bett an meinem Tagebuch. Montag, 28. März 1955 Diese Nacht habe ich wieder von Madame Dazy geträumt, aber das wäre jetzt zu lang zum Erzählen. Ich bin also um 9.30 Uhr aufgestanden, habe ein Tablett für das Frühstück vorbereitet wie gestern, aber noch mit Spiegeleiern, habe mein Zimmer aufgeräumt, war einkaufen und bin dann zum Kurs von Mr. Wood. Danach habe ich mit Réjane bis 16 Uhr gewartet, dann haben wir mit unserer Pianistin Madame Croisilles im Studio probiert: Réjane ihr Programm für das Vortanzen und ich La Gioconde, La Gipsy und Les Sylphides für die Gala morgen von Carmen Silva. Nach der Probe habe ich Madame Croisilles gefragt, wo sie mich einstufen würde im Vergleich mit dem Training in der Oper. Sie meinte,

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technisch wäre ich auf dem Niveau einer Gruppentänzerin mit Solo, aber wegen meiner Jugend würde man mich nur als Gruppentänzerin einordnen. Ich bin also für mein Alter schon weiter. Um 18 Uhr bin ich nach Hause gekommen, habe es Maman erzählt und bin dann mit Audrey zur Gare de Lyon, um meine Schwester Annie abzuholen, die aus Grenoble kam. Wir haben dort auch Papa getroffen und sind dann zusammen mit Annie etwas trinken gegangen. Zuhause haben wir dann gegessen, Annie hatte viel zu erzählen. Es war schon nach 22 Uhr, da hat sich Papa ans Klavier gesetzt und hat gespielt: „Si tu ne veux pas que ta femme t’embête / Wenn du nicht willst, dass deine Frau dich nervt“. Wir sind erst spät schlafen gegangen. Dienstag, 29. März 1955 Ich bin um 6.30 Uhr aufgestanden und habe mich schnell fertig gemacht, während Maman gefrühstückt hat. Um 8.15 Uhr sind wir los zum Bahnhof St. Lazare, wo wir fünf vor halb unter der großen Standuhr die ganze Truppe treffen sollten. Wir sind dann zusammen losgefahren, mussten noch einmal den Zug wechseln und sind schließlich um 11 Uhr beim Sanatorium, das in einem Schlosspark liegt, eingetroffen. Nachdem die Patienten gegessen hatten, wurde auch für uns (wir waren zwölf ) serviert, ein reichhaltiges Essen. Dann habe ich mich vorbereitet für das Tanzen: Les Sylphides, dann La Gipsy und schließlich noch La Gioconde. Es war gar nicht so schlecht, das kann man schon sagen. Auf der Rückfahrt im Zug habe ich dann Belotte gelernt, ein Kartenspiel, sehr interessant. Ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass ich im dem Schlosspark einen Spaziergang gemacht habe, wunderbar. Beim Abschied am Bahnhof sagte Carmen Silva zu mir: „Auf Wiedersehen im Mai!“ Auf meine Nachfrage erklärte mir Maman später, ich würde im Mai wieder bei Carmen Silva, diesmal in Mamanville, tanzen. Mittwoch, 30. März 1955 Heute bin ich zum Kurs von Mr. Wood gegangen, aber ich hatte eigentlich keine Lust. Er hat versucht, mich aufzuheitern, aber weil ich nicht reagierte, war er dann auch sauer. Mitten im Training hatte ich mir am Fuß wehgetan und ich habe, wie es sich gehört, in der 5. Position aufgehört. Réjane, die Pianistin, hat es gesehen und auch kurz unterbrochen, dann aber weitergemacht. Wood glaubte, ich hätte mich geirrt (wo ich doch wirklich korrekt aufgehört habe!) und meinte zu Réjane, wenn ich mich schon irre, dann soll sie gefälligst nicht unterbrechen. Wood ist einfach unmöglich, wenn man ihn nicht kennt, ist er nicht zu beschreiben. Ich habe also die nächsten Schritte nicht mitgemacht und nun beginnt Wood zu schreien, weil die anderen Mädchen nicht sauber arbeiten,

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und mich tituliert er mit: „Dickschädel!“ usw. Damit man meine Tränen nicht sieht, habe ich den Ballettsaal verlassen und ich habe mich nicht getraut, vorher zurückzukommen. Ich musste also bis 4 Uhr warten, um meine Trainingssachen zu holen. Dann bin ich noch zu Repetto, um die Schuhe für Nicky zu holen. Donnerstag, 31. März 1955 Les bourgeons sont en fleur, Bientôt les arbres seront tous blancs Et fêteront Pâques qui demeure En faisant bruire leurs feuilles d’argent.

Die Knospen gehen schon auf, Bald werden alle Bäume weiß sein. Sie werden jeden Tag Ostern feiern Und mit ihren silbernen Blättern rascheln

M.F. Heute geht der März zu Ende und auch die Regenschauer. Ich hoffe es jedenfalls! Fräulein Moreau, die Direktorin von meiner früheren Schule, ist um 9 Uhr gekommen. Ich musste einen Aufsatz über die Briefe der Marquise de Sévigné schreiben, dann haben wir noch Grammatik gemacht. Ich bin erst nach 12 Uhr von zu Hause weg und kam natürlich zu spät zum 13-Uhr-Kurs. Da war ein junger Mann, so zwischen 20 und 25, der konnte keinen einzigen Schritt, obwohl er schon ein paar Mal mitgemacht hat. Er wurde rot, wenn er nicht weiterwusste. Ich kann ihn verstehen, ein junger Mann unter lauter Mädchen, der nicht tanzen kann, das muss nicht angenehm sein. Mr. Wood war ganz platt, weil ich so gut gearbeitet habe und er meinte, ich solle ruhig einmal in der Woche den Dickschädel spielen, das sei gut für mich. Zu Hause habe ich mich dann schnell umgezogen und wir sind in den Saal Pleyel gegangen zum Ballet de Vala Bodi, das Stück hieß „Mare au diable“, und ich fand es enttäuschend. Außer ihren hübschen Armen haben sie nichts, es gab überhaupt keine Choreographie, also ich war enttäuscht. Annie ist erst nach Mitternacht heimgekommen. Ihr erster Arbeitstag im Krankenhaus war nicht so schlecht, außer dass es gleich einen Todes­fall gegeben hat. Aber das war wohl nicht so schlimm. Freitag, 1. April 1955 Der Tag der Aprilscherze. Bald kommt dann der Tag der Ostereier, schön eingepackt mit viel Schokolade – hmmm! Mittags bin ich zu Wood ins Studio. Der Kurs war sehr gut besucht, darunter – nach Wood – eine sehr wichtige Dame und noch zwei andere Tänzerinnen.

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Am Abend, Maman war beim Roten Kreuz, habe ich mit Audrey im Radio ein Märchen von Hans Christian Andersen gehört. Das war zu seinem 150. Geburtstag. Samstag, 2. April 1955 Das ist der Tag nach dem 1. April. Es ist 5 Minuten nach Mitternacht und ich schlafe noch nicht. In den nächsten Minuten wird meine Schwester ankommen und ich spüre, dass ich wach bleiben muss, denn Maman liest noch und sie wird noch mit ihr sprechen. Wie lange wohl? Ich weiß es nicht. Aber jetzt höre ich den Schlüssel in der Wohnungstüre. Die Katze miaut und Annie schreit: „Mistkatze!“. Ich weiß noch nicht, was los ist, aber ich werde es bald erfahren. Also, die Katze hat den Mülleimer ausgeleert und den ganzen Kaffeesatz im Vorzimmer verteilt. Schließlich schlafe ich doch ein. Um 6 Uhr wache ich auf und der Kater sitzt auf meinem Bett. Da ich wieder eingeschlafen bin, weckt mich Maman, es ist 10.15 Uhr. Mittags im Kurs bei Wood haben wir gut gearbeitet. Nachmittags um 5 Uhr habe ich dann noch eine Stunde bei Madame Croisilles genommen, das war richtig gut. Papa fährt abends mit dem Zug nach St. Bonnet. So haben wir zusammen ein paar Patiencen gespielt und ich habe mir vorgestellt, wenn ich mal ein wenig Geld gewinnen würde, dann möchte ich nach England fahren und mir hübsche Sachen kaufen. Sonntag, 3. April 1955 Um 10.30 Uhr bin ich aufgestanden, geweckt vom Lärm, den meine Schwester gemacht hat, denn sie hatte mir Djinn, unseren Kater, einfach auf den Rücken gesetzt. Schönes Erwachen! Maman hatte wieder einmal ihre Zahnschmerzen und war daher schlecht gelaunt. Ich bin dann mit Annie zur Messe gegangen und am Nachmittag sind wir mit der Metro zum Trocadero gefahren. Dort haben wir die Gärten vom Palais Chaillot besichtigt und das Aquarium mit den Enten. Wir sind dann über die Seine zum Eiffelturm und dort bis auf die zweite Plattform hinauf, 50 Francs pro Person, aber eine herrliche Aussicht. Dann noch über das Marsfeld und mit dem Bus nach Hause, um 19 Uhr waren wir da. Wir haben gegessen und dann Karten gespielt. Um Mitternacht ins Bett. Im August ist dann der Aufenthalt für unsere Sprachstudentin Audrey vorüber, sie kehrt nach London zurück, und ich kann nun im Austausch einige Zeit dort verbringen. Die Sprache hat mich dabei weniger interessiert, mir ging es vor allem um das Ballett. Meinem Vater ist das natürlich bewusst:

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25. August 1955 Charles Faure an seine Tochter Micheline … Ich hoffe, dass du inzwischen Kontakt zur Oper bekommen hast und man auf dich aufmerksam wurde dank deiner Eleganz, deiner Grazie und deinem Bestreben, eines Tages ein Star zu werden – dann wären auch wir sehr zufrieden, und überhaupt deine Mutter, wenn du ein kleines Engagement bekommen könntest, denn, weißt du, sie würde dann gerne ein oder zwei Monate in London verbringen. Erzähl uns ein bisschen von deinem Kurs, von deinen Spaziergängen in London und pass schön auf, wenn dir jemand näherkommt: Ein hübsches Mädchen muss immer auf der Hut sein! 25. August 1955 Micheline an ihre Eltern aus London … Jetzt bin ich schon zwei Tage hier und ich hatte Glück, es war schönes Wetter. Heute Morgen habe ich mit Madame Anna gearbeitet, nicht sehr gut, denn es war mein erster Unterricht seit einem Monat. Abends war ich in Covent Garden, es war die Eröffnungsvorstellung. Morgen werde ich bei zwei Proben zusehen, eine beim Festival Ballet, die andere beim Royal Ballet. Damit ist der Tag ganz schön ausgefüllt. Aber London geht schnell vorbei, und der Alltag in Paris hat wieder begonnen. Er ist ausgefüllt mit Training, Training, Training, daneben tanze ich bei Aufführungen verschiedener Compagnien und natürlich gehe ich in Ballettabende, wann immer es nur möglich ist.

Montag, 28. Mai 1956 Paris Ich habe die Compagnie von Lycette Darsonval gesehen, in den Kulissen des Théâtre de l’Etoile. Lisa hat mich Lycette Darsonval vorgestellt. Dann ist der Bildhauer gekommen, der oft im Studio Wacker bei unserem Training zeichnet. Er hat ein Bild von mir gemacht und hat es mir geschenkt, mit seiner Unterschrift: Yves Talder heißt er, glaube ich, aber so richtig kann ich es nicht lesen. Dann hat er gesagt, ich sei eine große Hoffnung für den Tanz. Darauf hat Lycette ihn gefragt, warum er ihr nichts gesagt hätte, als sie eine Tänzerin gebraucht hat. Er hatte Angst, von Mr. Wood erwischt zu werden. Ich habe dann noch Geneviève und Violette gesehen, die mir nach Lycette noch ein Autogramm in mein Programmheft gegeben haben. Dienstag, 29. Mai 1956 Beim Training hat mir Mr. Wood gesagt, dass gestern bei der Vorstellung einige Leute ihn gefragt hätten, wer denn das junge Mädchen mit ihm sei (also: ich).

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Und auch er hat geantwortet, das wäre eine große Hoffnung für den Tanz. Um 15.30 Uhr habe ich ein Adagio mitgemacht und um 18 Uhr habe ich den Kurs bei Michelle Perrot gemacht und es klappt, ich tanze mit ihr am 4. und 5. August, die Proben beginnen im Juli. Mittwoch, 30. Mai 1956 Heute Morgen hat Maman mit mir geschimpft. Um 13 Uhr habe ich mit Yvonne im Selbstbedienungsrestaurant an der Place Blanche gegessen (sehr gut!), von 15 Uhr bis 16 Uhr hat Mr. Wood begonnen, „Don Quijote“ zu organisieren. Geneviève war da, Mr. Wood hat mit ihr geschimpft, und sie hat ihm widersprochen, denn sie war gar nicht verpflichtet mitzumachen. Donnerstag, 31. Mai 1956 Das war ein aufregender Tag, denn der berühmte Ballettphotograph Serge Lido wollte von mir Photos im Freien machen, bei der Porte Maillot. Ich bin um 6.20 Uhr aufgestanden und um 6.30 Uhr musste ich mich nur noch frisieren. Ich sollte um 8.30 Uhr an der Porte Maillot sein, also um 7.30 Uhr von zu Hause weggehen. Ich habe es nicht geschafft, mich zu frisieren und meine Haare haben mich eine Stunde lang genervt. Eine Metro habe ich verpasst, dann war der Waggon knallvoll und mit meinen Kartons voller Kleider und Kostüme habe ich viel Platz gebraucht, die Leute haben mich alle angesehen! Um 8.25 Uhr war ich an der Porte Maillot und ich war nicht zu spät! Freude! Enttäuschung – ich sehe niemanden! Endlich sehe ich sie. Es hat geschüttet und so konnte man keine Aufnahmen in dem Wäldchen machen, wir mussten in ein Studio gehen. Wir waren dort bis 13 Uhr, um 14 Uhr war ich wieder zu Hause. Die beiden Kurse bei Mr. Wood hatte ich natürlich versäumt. Papa war am Saubermachen in der Küche, er hatte alle Wände und die Türen abgewaschen und wollte jetzt die Wandschränke in Angriff nehmen. Abends habe ich Annie das Essen ans Bett gebracht. Ich hatte Linsen gemacht, aber sie waren nicht genügend gekocht. Freitag, 1. Juni 1956 Um 9 Uhr haben wir heute ein bisschen „Schwanensee“ probiert und „Lakmé“. Das hat ganz gut geklappt. Das Mädchen, für die wir probiert haben, ist nicht gekommen. Um 13 Uhr hat mich Madame Croisilles gesehen und mir gesagt, dass Michelle Perrot mich gut finden werde, aber ich sollte ihr versprechen, sie nie zu verlassen, damit sie auf mich zählen könne für alle Galas. Gestern war Réjanne bei ihr, aber sie hat ihr nicht gefallen. Nicht wegen der Beine, nein, denn sie hat hübsche Beine, sondern wegen der Arme.

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Madame Croisilles hat mir auch gesagt, dass wir morgen um 9 Uhr „Lakmé“ proben in der Rue Pigalle Nr. 18. Wir werden jetzt fast jeden Tag probieren, denn Fräulein Michelle Perrot wird voraussichtlich zwei Galas im Juli haben. Zum Unterricht bei Mr. Wood ist auch Jean Pierre Toma erschienen, nicht als Zuschauer, sondern als Schüler. Dass die Jungens so gerne den Clown spielen! Aber trotzdem, er hat gute Fortschritte gemacht. Zum Erstaunen von allen habe ich im Unterricht auf Spitze drei Touren in der 2. Position gemacht, dann 32 Fouettés, dann noch zwei Touren und sauber abgeschlossen. Wirklich, ich war gut drauf! Um 13 Uhr ist Papa mit mir ins Selbstbedienungsrestaurant gegangen, wo wir gut gegessen haben. Samstag, 2. Juni 1956 Maman ist aus St. Bonnet zurückgekommen. Heute Morgen haben wir nur eine Stunde „Lakmé“ probiert. Das ist anstrengend für die Arme. Michelle Perrot hat mir gesagt, dass meine Arme viel besser geworden seien. Am Donnerstag probieren wir um 9 Uhr, da wird man wieder früh aufstehen müssen. Sonntag, 3. Juni 1956 Papa, Maman und ich, wir haben uns die „13 à Table“ angesehen. Vormittags habe ich ein bisschen Englisch gemacht. Montag, 4. Juni 1956 Beim Unterricht von Mr. Wood hat mir Madame Croisilles gesagt, ich hätte noch nie so gut gearbeitet. Es sieht so aus, dass Catherine nicht bei Michelle Perrot bleiben wird. Sie wird wohl nach der Gala im August weggehen. Dienstag, 5. Juni 1956 Vielleicht macht Catherine nicht die Gala im August? Madame Croisilles hat mir gesagt, ich solle ihre Rollen lernen. Catherine wird nicht tanzen! In den Tagen danach habe ich viel Ärger mit Madame Croisilles gehabt. Ich konnte nicht zur „Kermesse aux étoiles“1 gehen, denn ich hatte die Adresse von Dina verloren und Madame Croisilles sagt, dass Maman diesen Vorwand nur benutzt hat, damit man nicht hingehe. Ein Haufen Geschichten deshalb, schreckliche Sticheleien von Madame Croisilles. Ich bin für nichts mehr gut genug.

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Dreitägiges Festival in den Tuilerien mit Stars von Theater und Film.

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Dienstag; 19. Juni 1956 Von 20 bis 22 Uhr haben wir „Romeo und Julia“ probiert. Ich lerne die Rolle von Evelyne. Mittwoch, 20. Juni 1956 Wir haben „Lakmé“ wiederholt. Danach hat Fräulein Perrot den Pas de trois aus der Tanzsuite wiederholt. Es tanzen Michelle, Jacqueline und Nicole, alle drei von der Opéra. Sie haben sich wegen der Schritte gestritten. Ich bin der Ersatz für Michelle (von der Opéra). Nachtrag: Jetzt bin ich nominiert. Donnerstag, 21. Juni 1956 Heute beginnt der Sommer, aber es ist ziemlich grau zu seiner Begrüßung. Von 19 bis 21 Uhr Probe. Wir haben fast vollständig „Schwanensee“ gelernt. Ich mache den Pas de deux mit Milena. Wir haben den Besuch einer Katze gehabt, schwarz mit weißen Pfoten und weißem Schnäuzchen. Freitag, 22. Juni 1956 Wir, Maman, meine Schwester Annie und ich, waren im Ballett von Jean Babilée. Wir waren in der zweiten Reihe Orchestersitz und da konnte man alle Fehler gut sehen. „Sable“ hätte ein sehr schönes Ballett sein können, aber es fehlte an Leben und Tanz. „Balance à trois“ hat mir sehr gut gefallen und das letzte Ballett „Camélegard“. Ich weiß nicht mehr, wann Zerik, der Ex-Verlobte von Sonia, gekommen ist, um den Kurs anzuschauen. Er soll im Juli wiederkommen um, wie man sagt, mich zu sehen. Aber ich rechne nicht mehr damit, denn es ist selten, dass die Pläne mit Mr. Wood nicht ins Wasser fallen. Freitag, 20. Juli 1956 Ich verlasse Wood. Ich kann nicht mehr. Madame Croisilles hat mir gesagt, dass Mr. Wood mich rauswerfen wollte und dass sie es verhindert habe. Also gehe ich einfach, mindestens hat man mich nicht vor die Türe gesetzt. Ich habe genug, genug, genug. Samstag, 4. August 1956 Charolles 8 Uhr Abreise Gare de Lyon nach Charolles. Die Sitzbänke sind hart, denn es ist die Dritte Klasse. Ankunft um 15 Uhr. Wir sind im Hotel, und wir gehen zum Essen. Michelle Perrot ist verärgert, denn Evelyne hat einen Skandal

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verursacht. Sie hat die Programme ändern lassen, damit ihr Name als Solistin aufscheint. Wir sind beim Abendessen und ich bitte Madame Perrot, die Mutter von Michelle, aufstehen zu dürfen. Ich richte meine Sachen für die Probe und verlasse das Hotel. Im Probensaal ist es ziemlich frisch, und unsere Beine gehorchen uns nicht und das Orchester verzögert alles. Um 1 Uhr nachts gehen wir schlafen. Was soll ich nur machen: Im Hotel schlafen schon alle und wie soll ich morgen geweckt werden? Ich gehe mit Claudine in unser Zimmer, nehme ein Blatt aus meinem Taschenkalender und bringe es runter an die Rezeption. Sonntag, 5. August 1956 Um 9 Uhr wird an die Türe geklopft und ich bereite mich vor, um zur Messe zu gehen. Claudine sagt mir, es sei 10 Uhr, ich gehe runter. Draußen zeigt die Kirchenuhr 10.15 Uhr 15. Ich suche noch eine Apotheke, aber die ist geschlossen, also gehe ich in die Kirche eine Viertelstunde vor der Messe, denn es wäre zu auffällig, wenn ich auf der Straße bleiben würde. Dann kommt die Vorstellung. Michelle Perrot erscheint in der Garderobe und fragt, wer denn da gestern um Erlaubnis gebeten hat, vom Tisch aufzustehen. Ich sage, dass ich das war und sie macht mir Komplimente. Die Vorstellung läuft dann ganz gut. Bei meinem Auftritt bekomme ich Applaus. Aber ich glaube, das ist einfach so üblich. „Weekend“ bekommt viel Beifall, es ist einfach ein fröhliches Ballett („Romeo und Julia“ war nicht im Programm). Ich finde, am Abend dann bei der zweiten Vorstellung ist „Romeo und Julia“ am schlechtesten gelaufen. Es gab so viele Fehler! „Weekend“ musste wiederholt werden! Als wir ins Hotel kamen, gab es Blumen. Um 2 Uhr nachts wurden wir noch bedient. Dann haben die Tänzer angefangen zu singen, das war mir sehr peinlich. Nach dem Essen wurden wir ausgezahlt, ich bekam 12.400 Francs, es war 4 Uhr morgens. Einige Tänzerinnen haben dann noch Champagner getrunken, ich bin ins Bett gegangen. Am nächsten Tag habe ich erfahren, dass Françoise noch mit zwei Tänzern und zwei Herren, die den Champagner spendiert hatten, im Auto weggefahren ist. Ich fand das ungehörig und nicht seriös. Paris Montag, 6. August 1956 Wir haben den Bus verpasst nach Paray-le-Monial, jetzt fahren wir mit dem Auto. Gegen 8 Uhr morgens kommen wir in Paris an, am Bahnhof erwartet mich schon Maman. Noch am gleichen Abend reisen wir ab nach St. Bonnet. Ich reise zum ersten Mal in der Ersten Klasse.

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Dienstag, 7. August 1956 St. Bonnet-en-Champsaur Ich wurde krank und musste mich übergeben, durch das Waggonfenster. Dann nahmen wir den Bus und in Les Barraques angekommen musste ich mich beim Aussteigen wieder übergeben. Endlich in St. Bonnet war Papa da, er brachte uns nach Hause und ich ging bald schlafen. Eines Tages im August hat uns Paul Illy besucht. Ich glaube, es war Liebe auf den ersten Blick, bei ihm und auch bei mir. Ich war an diesem Tag spazieren mit Herrn und Frau Angel im Tal von Valgaudemar. Als wir zurückkamen, standen zwei Autos vor dem Gartentor, das von Madame Chaudet und eine Simca Aronde, beige. Das beige Auto, das war Paul. Großes Geheimnis, mein Herz klopfte ungeduldig zu sehen, wer das war. Auf dem Rückweg vom Spaziergang am Nachmittag hatte ich ein vierblättriges Kleeblatt gefunden. Ich hatte so eine Vorahnung, es würde mir Glück bringen, und ich glaube es immer noch. Wir haben uns eben verliebt. Zwischen zwei Karten von Paul bewahre ich das Kleeblatt jetzt sorgfältig auf. Ich bin vielleicht ein bisschen verrückt … Nun, ich bin zwar vielleicht verliebt, aber er? Denkt er nur an mich? Vielleicht nicht! Liebt er ein anderes Mädchen? Ich möchte es wissen, oh, ich muss es wissen. Oh mein Gott, hilf mir ! Sonntag, 26. August 1956 Heute kann die Familie aus Veynes zum Essen. Sie sind zu fünft, da haben wir einen Tisch und Stühle ausleihen müssen. Es scheint am 9. September in Veynes ein Fest zu geben. Am Abend bin ich mit Maryse zum Fest in St. Julien gegangen. Montag, 27. August 1956 Ich war auf dem Fest und noch nie in meinem Leben habe ich so viel getanzt. Das erste Mal in meinem Leben wurde ich so oft aufgefordert. Um 1 Uhr morgens sind wir erst nach Hause gekommen. Maman und die Katze haben mich schon erwartet. Sonntag, 9. September 1956 Annie und ich, wir können nicht nach Veynes gehen, denn heute sind alle Arbeiter vom Hausbau bei uns. Am Nachmittag habe ich dann doch den Alkohol gespürt, aber nach einem kleinen Schläfchen ging es dann wieder und wir haben immerhin einen schönen Tag verbracht. Paris ist in diesen Ferientagen ganz weit weg. Von meinem Lehrer, Mr. Wood, habe ich mich getrennt – wie es im Herbst weitergehen soll, weiß ich noch nicht so genau, da erhalte ich einen kleinen Brief:

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13. September 1956 Michelle Perrot an Micheline Meine liebe kleine Micheline, in der nächsten Woche beginne ich wieder mit meinen Kursen, Montag 17. und Mittwoch 19. September, 94 rue d’Amsterdam. Alle deine Kameraden von der Compagnie arbeiten wieder mit mir, denn so lerne ich ihre Qualitäten kennen und kann sie in ihnen entsprechenden Rollen einsetzen. Wenn du möchtest, bist du herzlich willkommen. Meine kleine Micheline, ich erinnere mich gerne an dich. Michelle Perrot Sonntag, 16. September 1956 Um 9 Uhr ist der Herr Pfarrer gekommen und hat die beiden Häuser gesegnet. Und dann essen wir. Mit einem Liter Rum machen wir uns über Monique lustig. Wir sehen uns Filme an (das würde Papa gefallen!), denn sie sind wirklich gelungen und herrlich in Farbe. Dann tanze ich ganz erfolgreich – wirklich ein sehr schöner Abend und wir gehen erst um 1 Uhr nachts schlafen. Paris Dienstag, 18. September 1956 Ich bin ganz verzweifelt, denn ich habe im Unterricht bei Madame Rousanne sehr schlecht gearbeitet. Mittwoch, 19. September 1956 Es geht mir immer noch sehr schlecht und ich schaffe die Linksdrehungen nicht. Um 5 Uhr bin ich zum Kurs von Michelle Perrot gegangen und nach dem Kurs habe ich so geweint, dass man mich mit dem Auto nach Hause geschickt hat. Freitag, 21. September 1956 Im Unterricht bei Madame Rousanne habe ich Herrn Toth, den Maler, gesehen und das hat mich so aufgeregt, dass ich fast geweint und den Kurs verlassen hätte. Zu Hause habe ich dann einen Brief an Herrn Toth geschrieben, hatte aber leider keine Adresse von ihm. Montag, 24. September 1956 Heute gehe ich um 2 Uhr zum Kurs von Madame Rousanne. Im Vorbeigehen unten sehe ich Mr. Wood und ich grüße ihn von weitem. Er lächelt und schüttelt den Kopf und sofort ist mein schwarzes Biest wieder erwacht und in der Garderobe heule ich dann wieder. Später am Abend haben wir mit Michelle Perrot an einer Variation aus „Giselle“ gearbeitet. Mein Gott, meine Füße und Beine sind so einwärts, es ist hoffnungslos.

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Mittwoch, 26. September 1956 Michelle Perrot ist heute zur Probe gekommen und hat gut mit mir gearbeitet. Vor allem das En-dehors ist so hart. Um 13 Uhr gehe ich zu Madame Rousanne, aber sie bittet mich bis 14 Uhr zu warten, denn es sind schon mindestens dreißig Teilnehmer. Mit Michelle Perrot haben wir ein Studio gesucht und wir haben nur zu dritt gearbeitet. Kurz vor 14 Uhr bittet mich Michelle, nach unten zu schauen, ob ihre Mutter da sei. Unten habe ich sie nicht gefunden, aber ich habe Mr. Toth gesehen, der mit einer Gruppe sprach, und ich bin schnell wieder raufgegangen. Nach zehn Minuten gehen wir dann wieder runter und ich sehe Jean Blanchard. Ich sage ihm Guten Tag, aber er antwortet kaum. Mein Gott, man muss ganz schlecht über mich geredet haben im Kurs von Mr. Wood. Bei Madame Rousanne habe ich die Stange mitgemacht und ich war wieder verzweifelt. Warum nur? Meine Nerven sind am Ende! Nach 20 Minuten wollte ich weggehen, Madame Rousanne war sehr unzufrieden und hat geschrien und ich habe wieder wie blöd geheult. Dann habe ich Mama getroffen, ich war schlecht gelaunt, aber das ging vorüber und wir haben eine schöne große Handtasche gekauft. Beim Unterricht von Michelle Perrot habe ich nicht sehr gut gearbeitet und habe prompt wieder zu weinen begonnen. Ich kann einfach nicht mehr, bei jeder Kleinigkeit breche ich in Tränen aus. Hoffentlich geht es morgen besser! (Ich glaube, es tut mir leid um den Unterricht bei Mr. Wood, deshalb meine schlechte Laune.) Donnerstag, 27. September 1956 Mittags war ich mit Maman bei Mr. Orlandy, einem ehemaligen Ballettmeister der Opéra. Er war sehr liebenswürdig und meinte, ich sei jetzt im richtigen Alter für die Bühne. Wir haben uns für nächsten Dienstag verabredet um 12.30 Uhr. Ich schreibe gerade so schlecht, weil ich im Bus sitze. Beim Kurs von Madame Rousanne waren Yvette Chauviré, Michelle Perrot und Jean Babilée, der aber nicht mitgemacht hat. Und jetzt gehe ich zu Repetto. Freitag, 28. September 1956 Ich war um 2 Uhr beim Kurs von Madame Rousanne. Leo war auch dort und ich habe gut gearbeitet. Das sage ich von mir selbst! Samstag, 29. September 1956 Heute habe ich zwei Kurse gemacht und eine Probe, ich war kaputt. Um 16 Uhr habe ich Lana gesehen, die mich anrufen wollte. Ihre Mutter und ihr Hund sind krank. Sie hat viele Probleme. Heute ist der erste Unterricht bei Mr. Wood

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nach den Ferien. Es scheint, dass es ihm leid tut, weil ich weg bin. Die Mädchen waren alle sauer auf mich. Lana meinte, ich solle doch zu ihm zurückkommen. Ich will mich gern mit ihm aussprechen, aber das geht nicht beim 14-Uhr-Kurs, das würde zu viel Gerede geben, vielleicht aber um 12 Uhr. Denn einige Schülerinnen sind böse auf mich, und Madame Croisilles würde sicher zu Mr. Wood sagen: „Sehen Sie, jetzt kommt sie wieder“ und bla-bla-bla! Und: Mr.Wood hat ein offenes Ohr für solche Tratschereien. Als ich noch bei ihm war, habe ich ihn oft kritisiert. Ich sagte ihm, ich würde bleiben, weil er ein guter Lehrer ist, aber ich konnte ihn nicht leiden. Jetzt merke ich, wie leid es mir tut, weil er mehr als nur ein guter Lehrer für mich war. Montag, 1. Oktober 1956 Ich habe Lana und Yvonne gesehen. Lana war überzeugt, dass nicht Mr. Wood den Brief geschrieben hatte. Als ich Yvonne den Brief zeigte, meinte sie, ob den nicht Madame Croisilles geschrieben hätte? Ich halte das auch für möglich und Yvonne meinte dann noch, der Brief sei eine sehr intrigante Schrift. Sie kennt sich da ein bisschen aus. Dienstag, 2. Oktober 1956 Ich war bei Mr. Orlandy und habe ihm vorgetanzt. Es hat ihm gefallen, und er meinte, ich solle keinesfalls das Tanzen aufgeben und ich könnte eine große Tänzerin werden. Ich solle nicht in die Provinz gehen und auch nicht auf Tournée, aber ich solle bei Galas tanzen. Dann war ich noch beim Kurs von Madame Rousanne. Mittwoch, 3. Oktober 1956 Im Studio Wacker angekommen treffe ich Dina. Dann ist auch Lana gekommen und Prisca und ich habe mit Mr. Wood gesprochen und auch mit Herrn Toth. Wood fragte mich, ob ich den Kurs mitmache und ich habe ja gesagt. Ich erzählte ihm auch, dass ich ein Vortanzen hatte und er hat eines seiner „Hélas!“ gemacht. Als ich mit den anderen Mädchen wartete, um ins Studio zu gehen, kam Madame Croisilles. Als sie mich sah, ging sie in die andere Garderobe, um Michelle Perrot zu begrüßen. Am Abend sah ich Michelle Perrot und sie meinte: „Man hat dich heute nicht bei Madame Rousanne gesehen?“ Ich antwortete, ich sei zu Mr. Wood gegangen, was ihr überhaupt nicht gefiel, und im Unterricht dann war sie sehr spitz zu mir. Als ich nach Hause kam, hat Maman dann Michelle Perrot angerufen und sie gefragt, ob ich übergeschnappt sei. Fräulein Perrot war sehr enttäuscht von meiner Entscheidung. Sie meinte, Mr. Wood habe keinen

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guten Ruf als Lehrer. Und jetzt mache ich so weiter und gehe zwei- bis dreimal in der Woche zu Mr. Wood. Und ich gehe auch zu Paul Goubé zum AdagioTraining. Das ist sehr interessant, wir lernen die Pas de deux aus dem klassischen Repertoire. Dienstag, 25. Dezember 1956 St. Bonnet-en-Champsaur Beim Spaziergang zum L’Aulagnier musste man mich auf dem Rückweg tragen, denn meine Hände und Füße waren gefroren. Die Handschuhe hatte ich über die Füße gezogen, ich war mit Stöckelschuhen und Regenmantel unterwegs. Man hat sich über mich lustig gemacht. Samstag, 29. Dezember 1956 Die Cousins Illy sind gekommen und haben den ganzen Tag mit uns verbracht. Wir haben viel gelacht. Meine Gefühle für Paul vom August haben sich verstärkt. Das wird langsam gefährlich. Die Cousins hatten sich über unsere Briefe gefreut, denn das ist eine Abwechslung für sie. Paul meinte, er bewundere unsere Schrift, die sehr gut lesbar sei. Ich habe ein bisschen erzählt von der Gegend hier, vom Devoluy und von L’Aiguille. Beim Abschied meinte Paul: „Vielleicht in Paris?“, und er hat sich mehrmals wieder umgedreht. Ich hoffe, er geht nach Paris und nicht nach Algerien. Paris Sonntag, 6. Januar 1957 Heute ist Agnès, das kleine ungarische Flüchtlingsmädchen, eine vierzehnjährige Tänzerin, die bei uns wohnen wird, eingetroffen. Sie ist sehr sympathisch, und sie versteht sehr schnell. Ich denke, sie wird Unterricht bei Fräulein Schwartz nehmen, um ins Konservatorium aufgenommen zu werden. Ihr Vater möchte, dass sie nur einen Lehrer hat. Also kommen Fräulein Perrot oder Mr. Wood nicht in Frage. Von jetzt an essen wir immer im Esszimmer. Montag, 7. Januar 1957 Im Unterricht bei Madame Rousanne waren wir sehr zahlreich und es war Babilée da, der mir sagte, es wäre schön, jemanden arbeiten zu sehen mit einem freundlichen Gesicht. Maman macht mir Spaß, sie ist so neugierig und möchte alles lesen, was ich schreibe. Dienstag, 8. Januar 1957 Jean Babilée war im Kurs von Madame Rousanne und da habe ich hinterher

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die Chance genutzt, um ihn um ein Autogramm zu bitten für ein kleines Buch über ihn. Und jetzt habe ich es! Danach in der Garderobe meinte die Frau von Mr. Goubé, ich hätte schöne Füße, und sie sagte das auch zu Michelle Perrot, aber die hat nicht geantwortet und so getan, als hätte sie es nicht gehört. Später hat Madame Goubé wiederholt, ich würde gut tanzen. Abends bin ich dann wieder deprimiert. Ich möchte tanzen, aber richtig tanzen, vor Publikum, für ein Publikum tanzen und ihm Freude bereiten. Aber wann wird das sein? Sicher nicht gleich morgen, denn die Leute halten mich noch für ein kleines Mädchen. Es ist ja wahr, ich sehe nicht aus wie siebzehn im Trikot, und ich wirke nicht feminin. Ich würde gerne mehr aus mir herausgehen, aber im Kurs kann ich das nicht. Ich habe einen Minderwertigkeitskomplex, der mich behindert, so zu arbeiten, wie ich eigentlich möchte. Es ist nur beim Kurs um 14 Uhr bei Mr. Wood, wo ich nicht so verkrampft bin. Sonst bin ich so gehemmt, ich würde gerne Monsieur Babilée begrüßen, aber ich traue mich nicht. Ich wirke kalt, ich mache einen unmöglichen Eindruck. Ich wünsche mir, irgendwo engagiert zu werden und eine kleine Rolle zu bekommen, ich glaube, das würde mich verändern. Aber was will ich denn: Die, die mich engagieren sollten, finden mich schwächlich. Es scheint, ich wirke ziemlich zerbrechlich. Also? Aber in Wirklichkeit bin ich nicht zerbrechlich, ich habe eine eiserne Gesundheit, und meine Muskeln sind so stark, dass ich kein auswärts zustande bringe, so hart bin ich! Ich bin einwärts, ein kleines Mädchen und ich habe es einfach satt. Alle Welt meint, ich würde einmal eine große Karriere machen, aber was ist wirklich wahr daran? Ich habe Angst. Mittwoch, 9. Januar 1957 Uff! Ich habe wieder Biss! Heute habe ich besser trainiert. Aber ich verstehe einfach nicht, warum ich bei den Relevés immer wieder nachlasse. Ich passe doch so auf! Bei Mr. Wood ging es auch ganz gut. Christiane war da, wir sprachen über Madame Croisilles, und sie findet es gut, dass Mr. Wood sie rausgeschmissen hat. Heute Abend hat Maman mir die Karten gelegt. Die waren gar nicht so schlecht, auch das Horoskop. Hoffentlich trifft alles zu. Donnerstag, 10. Januar 1957 Heute Nacht habe ich von Sonia Arova geträumt, sie war wieder in Paris und hat bei Madame Rousanne trainiert. Ich habe das Armband mit den Affen wiedergefunden. Jean Babilée hat beim Training bis zum Schluss zugesehen. Auch im Unterricht bei Michelle Perrot lief es gut. Nachmittags waren Jeanette und Françoise bei uns, abends dann die ganze Familie. Was ich für Hunger hatte!!

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Und wie geschwätzig ich war, erstaunlich! Ich bin zurzeit sehr gut gelaunt, das muss man ausnutzen. Wir wissen nichts Neues von Agnès, sie konnte noch nicht den Unterricht besuchen. Freitag, 11. Januar 1957 Heute Nacht habe ich von Jean Babilée geträumt. Er war beim Training von Mr. Goubé und als ich eine Arabesque machte, hielt er mein Bein und dann war ich in seiner Compagnie und die Ballette waren merkwürdig. Heute Nachmittag beim Training von Mr. Wood war die Maman von Sonia da und sie meinte, ich hätte seit dem letzten Mal Fortschritte gemacht. Das ist schon ein komischer Zufall: Vor den Weihnachtsferien habe ich um 14 Uhr das Training bei Mr. Wood gemacht und die Maman von Sonia war auch da – erstmals seit einem halben Jahr! Heute ist er wieder da – und wir beide auch. Das ist schon seltsam. Abends war ich nicht beim Training von Paul Goubé, ich gehe morgen um 17 Uhr. Als Agnès vom Französischkurs kam, hat sie erzählt, wie ein ungarischer Junge mit einem französischen Mädchen sprechen wollte und zu ihr gesagt hat: „Guten Tag, guten Tag, wie geht es Ihnen? Büstenhalter“, und da hat ihm das Mädchen eine geknallt. Das hat ihm auch danach noch im Kino weh getan. Samstag, 12. Januar 1957 Heute Nacht habe ich geträumt, ich hätte Paul Illy zu uns nach Hause eingeladen: Annie machte die Tür auf und sagte: „Rate mal, wer da ist“. Ich bin zur Tür gelaufen und habe gerufen: „Paul!“, aber er war es nicht! Ich war sehr enttäuscht von diesem Traum! Das Training heute bei Madame Rousanne hat schlecht begonnen, war dann aber besser. Dann war ich bei Mr. Goubé und zum ersten Mal war das gar nicht so schlecht! Mittwoch, 16. Januar 1957 Ich habe Mr. Wood gefragt, ob Agnès bei ihm umsonst mittrainieren könne, und er hat es abgelehnt. Ich finde das schäbig gegenüber einer Landsmännin, die als Flüchtling kein Geld hat und in einer schwierigen Situation ist. Das Mädchen ist schließlich ganz allein, ihre Eltern sind in Lyon. Und Mr. Wood weigert sich, das kann ich nicht verstehen. Überhaupt, wo Franzosen ihr kostenlos Unterricht geben. Ich finde, das wäre vor allem seine Aufgabe, denn er ist doch auch aus Ungarn! Das ist scheußlich und Mr. Wood wird mich nie mehr in seinem Unterricht sehen!

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Am Nachmittag waren wir bei Olga Darsat, die Agnès 2000 Francs gegeben hat. Morgen werden wir ihr davon ein Paar Schuhe kaufen. Paul Darsat, der Mann von Olga, meinte, ich sei gewachsen und ein hübsches Mädchen und wenn er noch jünger wäre, dann … Donnerstag, 17. Januar 1957 Agnès ist mit mir zum Training bei Michelle Perrot gegangen und hat mitgemacht. Ich hätte mir mehr von ihr erwartet, aber immerhin hat sie ja drei Monate nicht getanzt, also muss man etwas Geduld haben mit ihr. Sie müsste etwas abnehmen, denn sie ist zu schwerfällig. Aber im Training ging es. Freitag, 18. Januar 1957 Im Unterricht bei Madame Rousanne haben wir Fouettés gemacht und ich habe sie mit drei Touren abgeschlossen, alle haben „Oh!“ gesagt. Das hat mir wieder Sicherheit für Sonntag gegeben und ich denke, ich kann es schaffen. Am Abend war Agnès bei Michelle Perrot und ich bei Mr. Goubé. Aber es gab keinen Unterricht, keine Jungen, und wir waren nur zwei Mädchen. Samstag, 19. Januar 1957 Bei Mr. Goubé haben wir Fouettés gemacht, erst einfache und dann 1-1, 1-2, 1-1, 1-2. Ich habe es dreimal geschafft. Sonntag, 20. Januar 1957 Ich habe bei der Feier für die Senioren getanzt. Ich fand es nicht gut. Zunächst habe ich keine Fouettés gemacht, weil der Bühnenboden zu glatt war. Am Ende waren die kleinen alten Damen aber zufrieden, das ist die Hauptsache. Montag, 21. Januar 1957 Im dramatischen Unterricht habe ich die Violaine2 gespielt und ich muss sagen, das war nicht so schlecht. Aber es ist hart, denn diese Rolle ist schon schwierig. Der Lehrer meinte, ich müsste noch die richtigen Gefühle finden und meine Haltung sei noch zu steif und zu korrekt, meine Fußstellung sei gleich in Ordnung gewesen und ich wäre zwar hübsch, aber das sei nicht mein Verdienst. Man ist, wie man ist, was soll man da machen, ich bin rot geworden und habe den Kopf gesenkt. Naja, was solls.

2 Paul Claudel: „L’Annonce faite à Marie“.

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Dienstag, 22. Januar 1957 Ich finde, ich habe nicht schlecht gearbeitet bei Madame Rousanne. Ich habe die Vase zu Michelle gebracht, aber sie war nicht da. Pech gehabt, denn es war schwer zu tragen. Mittwoch, 23. Januar 1957 Beim 10-Uhr-Kurs hat mir Madame Rousanne keine Atempause gelassen. Was ich gelitten habe, ich hatte Tränen in den Augen und statt anschließend zu Mr. Goubé zu gehen, bin ich nach Hause gegangen. Ich war völlig fertig, denn Madame Rousanne hat mir nicht erlaubt, am 11-Uhr-Kurs mitzumachen. Am Nachmittag waren wir in der Medizinischen Fakultät, denn es gab eine Blutspendeaktion für Ungarn. Wir hatten viel Arbeit, denn es gab 280 Blutspender. Donnerstag, 24. Januar 1957 Nach dem Kurs von Madame Rousanne habe ich geweint, ich war verzweifelt, ich hab einfach genug und wenn ich nicht mit dem Tanz begonnen hätte, dann könnte Maman sich elegant anziehen und schöne Kleider kaufen! Yvonne Alexander sagte mir, Mr. Goubé würde ein Pas de cinque einstudieren und ich wäre auch dabei. Meine gute Laune ist vorbei. Ich würde gern nett sein mit Agnès, aber sie regt mich so auf mit ihrem ewigen: „Warum“ und wenn wir mit den Eltern reden, dann gibt es immer etwas, was sie nicht versteht und was man ihr erklären soll. Das ist so lästig! Sie ist ja ganz nett, aber es nervt!. Vielleicht sollte ich rausgehen, das wäre besser. Jedes Mal, wenn ich um 10 Uhr zu Madame Rousanne gehe, muss ich husten. Ich möchte das verhindern, denn es nimmt mir die Luft weg. Ich habe Angst. Freitag, 25. Januar 1957 Ich habe den Unterricht bei Madame Rousanne versäumt, weil ich meine Spitzenschuhe vergessen hatte. Hoffentlich erfährt Maman es nicht! Ich werde die 300 Francs Stück für Stück zur Seite legen und vielleicht kann sich Maman dann ein Kleid kaufen. Das mit dem Geld belastet mich. Wir haben keins und Maman bezahlt meinen teuren Unterricht! Aber was soll ich denn machen: Arbeiten? Aber wo? Ich sehe noch so jung aus, und es gibt keine Arbeit für mich. Ich habe es so satt! Jetzt gehe ich zu Mr. Goubé. Ich weiß nicht wieso, aber heute hätte ich gerne Paul Illy gesehen. Ich habe mir nach dem Unterricht eingebildet, er wäre bei uns zu Hause. Aber es war eine Illusion und eine Enttäuschung! Wenn er bald nach Paris käme, würde mir das

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vielleicht wieder die gute Laune zurückbringen, denn es ist hart, gut gelaunt zu sein, wenn man es gar nicht ist. Um 20 Uhr bin ich nach Hause gekommen. Und dann war ich richtig wütend: Papa hat brutal und völlig unberechtigt mit dem Kater geschimpft. Ich war außer mir und hatte Tränen in den Augen. Ich werde mir von Mémée die Karten legen lassen. Und dann hatte ich vier Asse, und zwar alle zusammen! Samstag, 26. Januar 1957 Im Kurs von Madame Rousanne ging es sehr gut, sie hat mich ganz nach vorne gestellt und jetzt bin ich zufrieden. Dafür sind mir bei Mr. Goubé die Fouettés und vor allem die Entrechats nicht gut gelungen. Ich habe dann abends noch zu Hause daran gearbeitet. Am Abend habe ich mich noch mit Papa gestritten und ich habe es dann abbekommen, obwohl er im Unrecht war. Ich bin außer mir und im Streit mit der ganzen Familie. Ich hab schon wieder genug und würde lieber weggehen, weit weg von hier. Nicht weil ich hier unglücklich wäre, aber meine Eltern sind so gut und jetzt leide ich schrecklich darunter. Ich glaube, eine Trennung wäre für alle das Beste! Agnès wird am Montag die Aufnahmeprüfung für das Conservatoire machen, abends hat sie einen Tanz nach der Variation aus „Schwanensee“ einstudiert. Sonntag, 27. Januar 1957 Am Nachmittag waren die Eltern wählen und dann sind wir zu Theo und Jeanette gefahren. Von 16 bis 22 Uhr abends haben wir nur Fernsehen angeschaut. Auf den Straßen waren gepanzerte Fahrzeuge, aber das Militär wusste nicht, wohin es fahren sollte. Dann sind wir zurück nach Paris mit der Metro und auf das Gemeindeamt wegen der Wahlergebnisse. Dort war eine sehr sympathische Stimmung, bei den nächsten Wahlen gehe ich da wieder hin. Die meisten Stimmen hat Herr Tardieu bekommen, 170.000 und einige. Danach die Kommunisten 72.300. Und wir sind nach Hause ins Bett. Montag, 28. Januar 1957 Um 10 Uhr war ich beim Kurs von Madame Rousanne und weil ich mich nicht gut gefühlt habe, war ich nicht bei Mr. Goubé, ich bin nachmittags nach Hause gegangen. Ich war krank, mir war schlecht und ich habe mich ins Bett gelegt.

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Dienstag, 29. Januar 1957 Heute bin ich nicht zum Kurs gegangen, weil ich einfach zu müde war. Nachmittags hatte ich sicher Fieber, denn mir war kalt, aber mein Kopf war ganz heiß. Mittwoch, 30. Januar 1957 Ich war um 13 Uhr bei Mr. Goubé, er nimmt mich versuchsweise für den Pas de cinque. Probenbeginn ist morgen. Donnerstag, 31. Januar 1957 Der Pas de cinq ist sehr hübsch, aber sehr schwer. An einer Stelle muss man auf Spitze springen, ohne abzusetzen und en arabesque drehen, 12 Takte lang! Bei Michelle haben wir an den Schritten gearbeitet. Das ist sehr hart und am Anfang habe ich es nicht geschafft, aber wenn man hart arbeitet, muss es schon werden. Freitag, 1. Februar 1957 Wir haben jetzt alle den ersten Teil durchgemacht. Im anschließenden Unterricht war ich kaputt. Aber wie gestern habe ich dann doch noch 24 Fouettés gemacht. Agnès hat die Aufnahmeprüfung bestanden, wir werden das noch begießen. Um 18 Uhr war ich nicht bei Mr. Goubé, obwohl ich bereit gewesen wäre. Aber Maman hat mich so geärgert, dass ich zu Hause geblieben bin. Samstag, 2. Februar 1957 Heute ist Chandeleur,3 ich habe mein Crêpe mit einer 100-Francs-Münze umgedreht, das bringt Glück. Um 13 Uhr war ich im Kurs von Madame Rousanne. Ich habe gut gearbeitet. Am Ende des Unterrichts meinte Madame Rousanne, ich sei hübsch im blauen Trikot und ich solle nicht mehr Schwarz tragen, ich sei doch schlank genug. Nicole meinte, ich hätte Fortschritte gemacht und würde die Hüften jetzt viel besser halten. Wir, das heißt Papa und Maman, haben ein Angebot für die Wohnung in Grenoble, also werden sie die verkaufen und dann versuchen, irgendeine kleine alte Hütte in einem Nest an der Côte d’Azur zu finden. Das wäre toll, es beschäftigt die ganze Familie und so werden schon große Pläne geschmiedet. Sonntag, 3. Februar 1957 Zusammen mit Papa haben wir die ganze Wohnung geputzt, alle Fenster und 3 Das katholische Fest Mariä Lichtmess am 2. Februar wird in Frankreich als Fête des Crêpes gefeiert.

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auch die Vorhänge, die schon wieder am Platz sind. Die Wohnung ist jetzt ein Schmuckstück, ganz neu. Das war schon lange nicht mehr so. Am Abend habe ich Wäsche ausgebessert und jetzt bin ich zufrieden mit diesem Tag. Aber es geht alles viel zu schnell vorbei. Montag, 4. Februar 1957 Agnès hat die Aufnahmeprüfung am Konservatorium doch nicht bestanden. Der Direktor hat ihr geraten, das Tanzen aufzugeben, sie werde damit nichts erreichen in Frankreich. Donnerstag, 7. Februar 1957 Und das Theater beginnt von vorne. Maman ist sauer auf mich, sie findet, ich sei gemein zu Agnès. Was will sie eigentlich von mir, was soll ich denn noch tun? Und: Gemein ist nicht das richtige Wort, sie nervt mich einfach. Maman soll doch froh sein, dass ich so lange gut gelaunt war, das passiert mir zum ersten Mal und Agnès ist schon einen Monat bei uns. Das kann hart werden, denn sie wird sicher noch eine ganze Zeit bei uns bleiben. Aber jetzt muss man aufpassen, was man sagt, denn sie versteht schon alles. Ich werde also versuchen, mir Mühe zu geben und netter zu ihr zu sein. Meine arme Maman hat wohl auch schon genug, aber sie zeigt es nicht, sie ist immer freundlich zu Agnès. Aber sie ist auch schon schrecklich erschöpft, denn bis heute ist sie immer unterwegs, um etwas für Agnès zu erreichen. Gerade noch wollte ich mich eigentlich umbringen, aber das wäre feig, ich muss mich zusammennehmen. Das ist hart, aber ich will doch nur mit meiner Familie zusammen sein, in Ruhe und Frieden. Maman ärgert mich. Ich bin schon im Bett, da meint sie, ich müsse noch das Katzenklo putzen. Und das in einem Ton, man könnte glauben, ich wäre eine Fremde. Ich bin mit meinen Nerven am Ende. Und dann sagte sie noch, wenn meine Trainingssachen nicht nass seien, dann sei das der Beweis, dass ich nicht gut gearbeitet hätte. Das übersteigt doch alles! Samstag, 9. Februar 1957 Papa und Maman sind nach Grenoble gefahren, um die Wohnung zu verkaufen. Ab morgen sind wir drei allein im Haus. Sonntag, 10. Februar 1957 Wir waren im Louvre, es gab einen sehr guten Vortrag. Nachmittags habe ich mich mit Korbflechten beschäftigt, ein kleiner Vogelkäfig ist mir gut gelungen. Dann wollte ich mit Annie eine Lampe reparieren, dabei ist zweimal die Siche-

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rung durchgeknallt und wir mussten eine Viertelstunde bei Kerzenlicht zurechtkommen. Montag, 11. Februar 1957 Die Eltern sind zurück, es scheint zu klappen mit dem Verkauf der Wohnung. Vor der Probe heute habe ich mir den Kopf angestoßen, es hat aber nicht weh getan. Dann im Unterricht habe ich die anderen nur zur Hälfte gesehen, das heißt, ich habe sie nur mit dem rechten Auge gesehen und wenn wir Mädchen tanzten, dann war mein rechtes Bein ganz schwach. Nach dem Unterricht hatte ich starke Kopfschmerzen und ich wusste nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Ich habe ein wenig Wasser getrunken, aber davon ist mir dann schlecht geworden. Zur Metro bin ich ganz langsam gegangen, denn bei jedem Schritt dröhnte es im Kopf. In der Metro habe ich dann zwischen zwei Stationen das ganze Wasser wieder ausgespuckt. Zum Glück waren nicht viele Leute im Waggon. Das Appartement ist verkauft. Die Künstleragentur Giulio sucht Tänzerinnen für Israel, die Türkei und Griechenland! Freitag, 1. März 1957 Abends ist Agnès mit ihrem Vater ausgegangen und als sie zurückkam, brachte sie seine Hemden und Pyjamas zum Waschen mit, ich finde, das ist nicht sehr delikat von ihm, er hätte vorher Maman um Erlaubnis fragen sollen, und ich glaube, es gibt genügend Wäschereien in Paris, wo er seine Wäsche hinbringen kann. Agnès gibt das Tanzen auf, ihr Vater will das. Sie habe sich jetzt acht Jahre lang genug amüsiert und müsse jetzt mehr für die Schule arbeiten. Er war sehr enttäuscht, aber für Agnès ist es schon erledigt. Samstag, 2. März 1957 Diese Nacht habe ich von Paul Illy geträumt. Er war zu uns nach Hause gekommen und das war eine Überraschung für mich, als ich vom Tanzkurs heimkam. Wir haben viel über Haushaltsdinge geredet, Maman meinte, ich würde ordentlich bügeln und sei auch in der Küche ganz gut, und Paul schien sich immer mehr für mich zu interessieren und jedes Mal, wenn ich ihn ansah, konnte ich nicht verhindern, dass meine Augen glänzten und das war mir sehr peinlich, denn wenn man mir Komplimente macht, besonders Paul, freut mich das, aber man merkt auch, dass ich etwas verwirrt bin. Man müsste sich mehr beherrschen, aber ich weiß, in dem Augenblick presse ich die Lippen zusammen und

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die Augen glänzen dennoch. Maman kündigte dann noch eine Überraschung an: Paul würde uns morgen zum Essen einladen, Annie und mich, zusammen mit einem seiner Freunde namens Auguste. Was soll man da sagen, ich war wirklich zufrieden. Heute habe ich dann gewartet, aber mein Traum war leider nur ein Traum. Ich hätte mir so gewünscht, beim Heimkommen vom Unterricht Paul anzutreffen! Ich sehe so viele Tänzerinnen, die verheiratet oder verlobt sind, und ich würde es ihnen gerne nachmachen, aber mit 17 Jahren ist man noch zu jung und wahrscheinlich gefalle ich Paul auch gar nicht. Er denkt vielleicht gar nicht mehr an mich, weit dahinten in der Sahara. Ich möchte so gerne lieben und geliebt werden! Tamanrasset,4 da wo Paul jetzt lebt. Tamanrasset, was hast du für ein Gesicht? Bist du groß oder klein? Weißt du, ob Paul verliebt ist? Wen liebt er denn, wenn er wirklich liebt? Oh, mein Gott, ich möchte so gerne, dass ich das wäre. Ich kleines Mädchen begehre da einen Schatz, der mir nie gehören wird. Oh Paul, nur ein kleiner Gedanke an mich und ich wäre zufrieden. Aber meine Gedanken wollen noch mehr, sie übertreiben: an mich zu denken! Sonntag, 3. März 1957 Also: Da war kein Paul heute. Wann denn? Heute Nachmittag haben wir mit den Eltern im Kino: „Michel Strogoff“5 gesehen. Wir mussten zwei Stunden Schlange stehen! Das ist ein sehr schöner Film, sehr gut gespielt und sehr bewegend. Hat mir sehr gut gefallen! Agnès war mit ihrem Papa in Versailles, um 10 Uhr abends ist sie heimgekommen. Mamans schlechte Laune hat sich heute Nachmittag etwas gebessert. Aber dann am Abend hat es wieder angefangen, das ist so lästig. Ich würde mir gern etwas suchen und für einige Zeit ausziehen, das wäre gut für uns alle. Was werde ich wohl heute Nacht träumen? Wahrscheinlich gar nichts! Montag, 4. März 1957 Heute ist es im Unterricht besser gegangen. In der Stunde bei Mr. Goubé war auch Ludmilla Tcherina. Sie hat nicht viel gemacht und ist noch vor dem Ende wieder weg. Jacqueline Toussaint ist schwanger. Mr. Goubé war nicht sehr glücklich darüber, er meinte, eine Tänzerin solle keine Kinder bekommen, sie würde schön aussehen mit ihrem dicken Bauch. Ich bin nicht der Meinung von Mr. Goubé, 4 Provinzhauptstadt im Süden Algeriens. 5 „Der Kurier des Zaren“ (1956) mit Curd Jürgens.

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denn wenn man heiratet, will man doch auch Kinder haben. Er hat wohl keine, glaube ich, und das ist ein Fehler. Dann geht doch sein ganzes Geld später an die Cousins und dafür lohnt sich doch die ganze Arbeit nicht. Na schön, Maman ist wieder wütend auf mich! Agnès hat „Alice im Wunderland“ und „Peter Pan“ gelesen und sie sagte, sie hätte es ohne Wörterbuch und ganz schnell gelesen. Jetzt liest sie gerade „Die kleine Herzogin“.6 Sie braucht eine halbe Stunde für die erste Seite, also sage ich zu ihr: „Immer noch auf der ersten Seite?“ Da meint sie, wenn wir jetzt in Ungarn wären, würden wir zum Lesen auch ein Wörterbuch und genauso viel Zeit brauchen und überhaupt sei das einzige ungarische Wort, das wir kennen malac und das heißt Schwein. Meine Antwort lautet: „Wir sind hier nicht in Ungarn und überhaupt hast du gerade behauptet, du hättest die beiden anderen Bücher ganz schnell lesen können.“ Da werde ich von Maman unterbrochen: Ich soll nicht so reden und die Antwort von Agnès hätte ich verdient und blablabla … jedenfalls ist Maman gegen mich! Man muss auf jedes Wort aufpassen, das man sagt und beim kleinsten Anlass wird man angefahren, puh! Agnès darf freche Antworten geben und wir müssen den Mund halten – das kann doch nicht so weitergehen! Ich bin dann an Agnès vorbei und habe mich nicht entschuldigt und darauf Maman: „Kannst du dich nicht entschuldigen bei Agnès?“ Nein! Sie ist ja schließlich keine Prinzessin. Als die Eltern mal weg waren in Grenoble, da wollte Agnès keine Kartoffeln essen und Annie wollte ihr daher auch keinen Käse geben. Wer die Kartoffeln nicht isst, bekommt auch keinen Käse. Als Maman zurück war, hat sie Annie zunächst Recht gegeben, aber am gleichen Tag, als sie mit Olga telefonierte, meinte sie, Annie sei zu streng und habe Unrecht gehabt. So geht das die ganze Zeit, mal so, mal so! Papa hat auch schon genug und Maman spielt da ein gefährliches Spiel und riskiert den Familienfrieden. Sie will einfach nicht zugeben, dass sie von Herrn Bielek, dem Vater von Agnès, enttäuscht ist, denn das wäre eine Niederlage für sie. Gestern wollte Maman keine Bugnes7 machen, heute, ganz lustig, hat sie welche gemacht. Zusammen mit Annie habe ich sie also gefragt: „Wie kommt das, gestern wolltest du keine machen, heute machst du welche?“, worauf sie uns antwortet, die wären für Agnès, für uns hätte sie keine gemacht. Es ist wirklich hart, wenn das so weitergeht. Aber der ganze Tag war so und ich fürchte mich schon vor morgen. Wenn nur wenigstens Paul da wäre, das wäre schon besser.

6 „La Petite Duchesse“, Jugendbuch von Zénaide Fleuriot, erschienen 1876. 7 Faschingskrapfen.

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Dienstag, 5. März 1957 Morgens um 8.15 Uhr 15 hat Maman mich gerufen. Warum? Denn ich gehe zum Kurs von Madame Rousanne nicht um 10 Uhr, sondern erst um 14 Uhr. Agnès, die noch vor mir schlafen ging, ist auch aufgestanden, weil sie das Rufen hörte. Maman hat sie dann wieder ins Bett geschickt, weil es noch so früh sei, aber ich musste aufbleiben. Ich finde das nicht gerecht. Am Ende des Tages war Maman dann nur noch „Lächeln“. Der Kurs für das Adagio lief sehr gut. Mittwoch, 6. März 1957 Diese Nacht habe ich von Paul geträumt. Wir waren in St. Bonnet und Maman sagte mir, Annie hätte eine Zuneigung für Paul und Paul eine für Annie. Ich bin ganz blass geworden, hatte eine Stricknadel in den Händen, die ich hin und her drehte, am liebsten wäre ich weggelaufen, um nicht meine Enttäuschung zu zeigen, aber dann ließ ich die Nadel fallen und bin weinend am Tisch zusammengebrochen. Da meinte Maman, sie habe das nur erfunden, es sei gar nicht wahr. (Sie wollte wohl nur meine Reaktion sehen). Danach befanden wir uns wieder in Paris. Ich war dabei, den Tee vorzubereiten, es war sehr trübes Wetter, ich verteilte die Tassen, und Paul machte ein komisches Gesicht: der Tee war zu süß. Er hatte aus Versehen meine Tasse mit 4 Stück Zucker genommen. In der Tasse, die ich benutzte, waren auch schon 4 Stück Zucker und damit er nichts merkt, habe ich noch 2 Stück in die Hand genommen und so gegessen. Dann war mein Traum zu Ende. Im Kurs bei Mr. Goubé habe ich viele Drehungen gemacht und das kerzengerade. Ich habe wieder richtig Biss bei der Arbeit. Mit Madame Goubé habe ich über die Opéra Comique gesprochen. Sie meinte, ich sollte Freitag mit Bernard Lemoine sprechen, Erster Solist und Ballettmeister an der Opéra Comique. Das ist mir recht, denn wenn ich dort reinkäme, das wäre toll. Am Nachmittag meinte Papa, wir sollten jetzt den ganzen Ärger wegen Agnès vergessen und nicht mehr sauer sein. Als dann Maman mit Agnès von Olga zurückkam, war sie gut gelaunt und alles lief gut. Mr. Bielek kam und Maman ging hinaus, um ihn zu begrüßen. Da erzählte uns Agnès, dass Maman bei Olga geweint hätte, weil wir so böse mit ihr, Agnès, seien. Jetzt, wo sich gerade alle wieder beruhigt hatten, stiftet Agnès also wieder Unruhe – ich hätte sie umbringen können. Ich bin in mein Zimmer und habe geweint, aber am liebsten hätte ich irgendwas zertrümmert. Annie hat sich da mehr beherrscht, aber sie hat es Papa erzählt, der war sehr verärgert und hat dann mit Maman gesprochen, die alles bestätigt hat. Jetzt haben sie vereinbart, dass über diese Dinge nicht mehr vor

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Agnès gesprochen wird. Agnès ist sehr indiskret und macht Bemerkungen über Sachen, die sie gar nichts angehen. Ein gut erzogenes Mädchen würde das nicht tun. Aber jetzt ist endlich Ruhe und Frieden und alle sind gut gelaunt. Ich habe Schmerzen an der Ferse, war beim Arzt und er vermutet einen Muskeleinriss an der Achillessehne. Ich muss mich schonen. Samstag, 9. März 1957 Heute Morgen waren wir im Krankenhaus und der Professor meinte, ich hätte einen Hohlfuß und solle Einlagen tragen. Am Nachmittag sind wir dann noch zu einem anderen Arzt gegangen und der hat das Gleiche gesagt. Er hat mir noch eine Creme gegeben und jetzt soll ich zehn Tage Pause machen, damit es nicht schlimmer wird. Ich würde gerne wieder einmal auf einer Bühne tanzen, es ist schon so lange her, seit letztem August. Aber was erwartet man von mir, um mich zu engagieren? Ich bin nicht frech genug, ich bin ein anständiges Mädchen. Das waren sie also, die Lehrjahre auf dem Weg zur Erfüllung meines Traumes, Tänzerin zu werden. Das war nicht immer leicht, und es ging auch nur in kleinen Schritten vorwärts. Manchmal ging es auch voll daneben – wie dieses allerletzte Beispiel von einem der zahlreichen Gastspiele zeigt.

Sonntag, 3. November 1957 6 Uhr – Abreise mit dem Bus nach Marseille. 6.45 Uhr – ein Mädchen fehlt, es ist Lisa. Wir fahren ohne sie ab. 7 Uhr – Wir sind an der Porte d’Italie. Monique und Nina sind da und steigen ein, wir fahren weiter. Als wir Paris verlassen, ist mir schlecht. Ich sitze jetzt ganz vorne neben der Türe. Montag, 4. November 1957 1.30 Uhr – In Marseille finden wir das Theater erst nach langer Suche. Dort treffen wir dann den Vater eines Mädchens, der kennt die Hotels, wo wir untergebracht sind. Monique und ich, wir haben unser Zimmer ganz in der Nähe des Theaters und so gehen wir schnell schlafen. 9 Uhr – Das Frühstück wird uns gebracht, Kaffee und zwei Croissants für jede. Monique frühstückt, aber ich kann nur trinken und lass die Croissants liegen, ich habe keinen Hunger und mir ist schlecht. Dann schlafen wir weiter. Mittags finden wir ein kleines, nicht zu teures Restaurant. Inzwischen haben wir auch Madame Rouland getroffen, die verlangt, dass ich um 14 Uhr mit Monique Bronova zum Arzt gehen sollte. Im Restaurant

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habe ich mir eine Suppe bestellt, die ich aber nicht aufessen kann, und Mineralwasser, ich zahle und gehe mit Mireille, die auch dabei war, hinaus – und muss mich übergeben. Es ist schrecklich, ich kann nichts behalten. Ich gehe mit Monique Bronova ins Hotel und wir warten auf den Arzt. Die Probe ist um 14 Uhr und es ist schon eine halbe Stunde später – endlich ist er da. Also: Ich habe eine Magen-Darm-Grippe und Halsentzündung. Er empfiehlt mir, nicht zu tanzen. Aber ich kann doch die erste Vorstellung nicht versäumen? So werde ich also nur bei den „Sylphiden“ und beim „Frühlingsball“ mitmachen. Das ist dann doch sehr mühsam, denn ich habe mich nicht aufgewärmt und ich habe Fieber. Der Bühnenboden ist schrecklich, eine steile Schräge, die auch noch mit Öl präpariert wurde. Es war rutschig, die Schuhe wurden schwarz und sind nicht mehr zu reinigen. In der Vorstellung waren dann 43 Zuschauer. Die haben zwar brav applaudiert, aber das hat die Einnahmen auch nicht verbessert. Die anderen Mädchen sind nach der Vorstellung essen gegangen, ich bin zurück ins Hotel und gleich ins Bett bis zum nächsten Tag. Vom nächsten Tag gibt es dann keine Eintragungen mehr, denn man hat mich inzwischen warm eingepackt und mit dem Zug zurück nach Paris geschickt. Aber so geht es dann weiter: tägliches Training und immer wieder Gastspiele und kleine Auftritte.

Doch allmählich bringen mich auch kleine Schritte meinem Ziel immer näher. Am 28. Mai 1956 war Lycette Darsonval, Primaballerina der Opéra de Paris, in einer Ballettgala aufgetreten, die ich natürlich nicht versäumt hatte. In mein Programmheft mit den von mir gesammelten Autogrammen hat sie damals den schönen Satz geschrieben: Für Micheline mit dem Wunsch, sie bald einmal tanzen zu sehen. Zwei Jahre später, am 13. Februar 1958, ist es dann endlich soweit und in einer Veranstaltung des Unterrichtsministeriums unter dem Titel „Les Dances Caractéristiques“ stehe ich neben Lycette Darsonval als Solistin auf der Bühne – und natürlich auch auf dem Plakat, das ich heute noch aufbewahre. Und jetzt sind wir also im Frühjahr 1958 angekommen, ich habe ein Vertragsangebot vom Théâtre du Casino Municipal d’Enghien-les-Bains mit einer Monatsgage von 45.000 Francs und gleichzeitig das Angebot zu einer Tournee von vier Monaten. Da erscheinen eines Tages zwei Herren im Studio Constant, um ein Training anzusehen. Die beiden Herren kommen von der Staatsoper Stuttgart, Nicholas Beriozoff ist seit

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einem Jahr dort Ballettmeister und Dr. Rolf Badenhausen ist der persönliche Referent des Generalintendanten. Sie verfolgen sehr aufmerksam das Training von Paul Goubé und bitten im Anschluss daran nur mich um ein weiteres Vortanzen. Mit meinem Lehrer Paul Goubé als Partner tanze ich also noch Pas de deux und Variation der Clara aus „Nussknacker“. Ich kann es kaum glauben, aber das Wunder geschieht wirklich und am Ende habe ich einen Vertrag als „Gruppentänzerin mit Solo“ an der Staatsoper Stuttgart in der Tasche. Das heißt, ganz so schnell geht es dann doch nicht, denn ich bin zu diesem Zeitpunkt erst 18 Jahre alt und damit nach französischem Recht noch nicht volljährig. Das war man in Frankreich damals erst mit 21 Jahren, und dieses Gesetz aus der Zeit der Französischen Revolution wurde erst 1974 korrigiert. Mein Vater muss also erst noch schriftlich sein Einverständnis erklären. Aber dann ist es perfekt – mein Vertrag in Stuttgart beginnt am 1. August 1958. Hinweis: Nicholas Beriozoff hat sich bei der Übertragung seines Namens aus der kyrillischen Schrift für diese Version entschieden, die ich daher in den folgenden Kapiteln übernommen habe. Die korrekte und heute häufiger verwendete Form wäre „Beriosow“ (oder „Beriosov“), die auch seine Tochter, die Primaballerina Svetlana Beriosova gewählt hat.

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Abb. 4: 1956 Figurine von Jean Toth für mein Solo „Ungarischer Tanz“

Abb. 5/6: Ein Maler (Yves Talder?) hat oft beim Training im Studio Wacker zugesehen und mich dabei gezeichnet.

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Abb. 7/8: Auch während der Ferien in St. Bonnet wird getanzt und fotografiert.

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Paris 1956

Abb. 9/10: Hinter der Bühne

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Paris 1956

Abb. 11/12: Im Studio

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Abb. 13–16: Was bin ich für ein Typ?

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Paris 1958

Abb. 17: Mit meinem Partner Jean Marès in „Visages du Jazz“, einem Tanzfilm des französischen Fernsehens ORTF (Musik „Parfume Suite“ und „Solitude“ von Duke Ellington)

Abb. 18/19: Zwei Plakate meiner letzten Auftritte in Paris

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Statistik 1: Solo-Auftritte während meiner Ausbildungszeit in Paris

16. Dezember 1951 Boccherini

Grand Amphithéâtre de la Sorbonne Menuet

Danse classique/Solo

Les Arabes

Pas de deux

9. Januar 1954 Saint-Saëns

Preisträgerkonzert La Scène Française Dance de la Gipsy

25. März 1956 Musset

Solo Association Philotechnique

Carmosine

Sprechrolle Les Ballets d’Opéra mit Michelle Perrot

5. August 1956 Chopin

Suite Romantique

Pas de trois

Ignac

Ungarischer Tanz

Solo

Tschaikowsky

Schwanensee

Großer Schwan – Pas de deux Kleiner Schwan – Pas de quatre

Duclos

Weekend à Paris

La fleuriste/Solo

4. Mai 1957

Gala mit Michelle Perrot von der Opéra

Chopin

Suite Romantique

Pas de trois

Lalo

Namouna

La Flûte/Solo

Donizetti

La Favorite

Pas de trois

Debussy

Clair de Lune

Pas de trois

13. Februar 1958 Minkus

Les Danses de Caractère Don Quichotte

Pas de deux

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Statistik 1: Solo-Auftritte während meiner Ausbildungszeit in Paris

22. April 1958 Ives

Théâtre de l’Apollo: Essai de la danse Opus I

26. Juni 1958 Minkus

Nouveau Théâtre de Paris Don Quichotte

5. Oktober 1958 (Sendetermin) Ellington

Pas de quatre

Parfume Suite

Pas de deux RTF/Télévision Pas de deux

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S

tuttgart Hauptbahnhof im August 1958. Da stehen wir nun, ein wenig hilflos, meine Mutter und ich mit unseren Koffern und Taschen. Als Eisenbahnerfamilie sind wir natürlich vertraut mit Bahnhöfen, auch mit sehr großen. Dieser hier ist aber so ganz anders: Er spricht nur deutsch! Das ist eine Sprache, von der wir beide kaum ein Wort kennen. Wie sollen wir jetzt mein Zimmer finden, das die Theaterleitung für mich reserviert hat? Doch die Menschen, amüsiert von unseren bescheidenen Sprechversuchen, sind freundlich und hilfsbereit und so finden wir schließlich eine Straßenbahn, die uns hinaus aus dem Stadtzentrum bringt auf die Höhe, nach Degerloch. Was uns gleich auffällt, das sind die zahlreichen Baustellen und dann, in den Wohnvierteln, die Blumen überall an den Fenstern. Wir erreichen schließlich mein neues Quartier, ein schönes Zimmer bei sehr netten Leuten. Uff – der erste Schritt in der Fremde ist also getan. Ich habe noch etwas Zeit, mich auf den zweiten vorzubereiten, wenn dann am 18. August die Proben für die neue Spielzeit beginnen. Es ist alles sehr aufregend, denn ich bin zum ersten Mal in Deutschland, zum ersten Mal an einem Thea­ter engagiert und nun gleich an einem sehr großen. Das Opernhaus ist wirklich sehr groß, der Zuschauerraum, die Bühne, die Ballettsäle. 28 Tänzerinnen und Tänzer arbeiten hier seit 1957 mit dem Ballettmeister Nicholas Beriozoff und hier beginnt jetzt auch mein neuer Lebensabschnitt. Meine Mutter ist nach wenigen Tagen schon wieder abgereist, aber sie hat mir ihre Lebenserfahrung schriftlich hinterlassen: Arbeit wäre das beste Mittel gegen Heimweh, unbedingt drei Mahlzeiten am Tag, sich nicht zurückziehen, sondern Kontakte suchen und so weiter. Sie erinnert mich auch an meinen Entschluss, alles ertragen zu wollen, nur um tanzen zu dürfen. In meinem ersten Brief an die Eltern in Paris bedanke ich mich.

Samstag, 23. August 1958 Überall im Zimmer finde ich kleine Zettel, auf denen Maman für mich gute Ratschläge und Empfehlungen notiert hat und das macht mir viel Freude. Es ist seltsam, allein zu sein und es ist auch nicht sehr angenehm. Das Training und die Proben laufen gut. Wir haben schon einmal auf der Bühne probiert, aber noch war der Eiserne Vorhang geschlossen! Brr …

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Da spürt man schon die Nervosität vor der ersten Vorstellung, aber noch ist es nicht soweit. Die Vorprobenzeit ist am Theater die intensivste Arbeitsperiode: Da es noch keine Vorstellungen gibt, kann man den ganzen Tag probieren, zum Teil sogar schon auf der Bühne. Wir sollen am 7. September die Spielzeit mit einer Ballettwoche eröffnen, mit „Dornröschen“, einer Wiederaufnahme aus der letzten Spielzeit, und zwei neuen Ballettabenden, einmal „Giselle“ von Adolphe Adam in der Petipa-Choreographie, die Beriozoff übernimmt. Dann gibt es noch einen gemischten Abend mit „Kuss der Fee“ (Strawinsky), „Sylphiden“ (Chopin) und „Bal Champêtre“ (Chabrier). Mit meinem Vertrag als „Gruppentänzerin mit Solo“ muss ich also zunächst die Partien der Werke lernen, die aus der letzten Spielzeit übernommen werden, und gleichzeitig das neue Programm erarbeiten. Aber das geht sehr gut, ich lerne schnell, und ich bin mir bewusst, dass 28 Augenpaare jede meiner Bewegungen und jeden meiner Schritte genau verfolgen werden. Sprachliche Probleme im Ballettsaal gibt es nicht, denn Französisch ist immer noch die internationale Ballettsprache. Ich habe also in „Dornröschen“ (in der Ballettsprache heißt es „La Belle au Bois dormant“ – „Die im Wald schlafende Schöne“) bereits alle Rollen als Begleiterin, Freundin und im Großen Finale gelernt, merke aber, wie Beriozoff nach und nach meinen Platz in der Gruppe mit anderen Tänzerinnen besetzt. Am Ende bleibt dann nur noch ein kleines Solo: der gestiefelte Kater mit weißer Katze. Von allen Aufgaben als Gruppentänzerin bin ich befreit und auch in Balletten, die wir neu einstudieren, habe ich ausschließlich kleine Soloauftritte.

Dienstag, 26. August 1958 Gestern, mitten im Training, fragt mich Meister Beriozoff, ob ich denn keine Fotos von mir hätte, als Tänzerin oder Portrait. Ich sagte ja und da meinte er, ich solle sie gleich besorgen. Ich bin also noch vor Ende des Trainings losmarschiert, hinauf nach Degerloch. Ich hatte mein rosa Kleid an, das war eher schwierig beim Laufen, über eine Stunde hin und zurück. Wieder im Theater, musste ich mich mit dem Umziehen beeilen, denn die Probe hatte schon begonnen, aber ich war noch nicht dran. Beriozoff sagt mir, er braucht das Foto für das Programmheft. Heute war Training um 9 Uhr und danach hat mir Beriozoff gesagt, ich soll den Pas de deux aus „Giselle“ lernen, den unsere Erste Solistin Helga Heinrich mit Hugo Delavalle tanzt. Ich habe das nicht gleich verstanden, denn eigentlich tanzt Helga die Titelrolle in „Giselle“ – allerdings nicht bei den ersten beiden Vorstellungen, denn da haben wir zwei prominente Gäste für Giselle und ihren Partner. Helga sollte wohl in diesen beiden Vorstellungen den sogenannten

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Bauern-Pas-de-deux tanzen – und hat das abgelehnt. Nun tanze ich – und meine Name steht auch schon auf dem Plakat – eine gute Nachricht! Es ist jetzt 16.30 Uhr, heute habe ich das Training am Nachmittag mitgemacht. Ich habe mich so richtig reingehauen und das hat sehr gut getan. Anschließend mache ich ja immer meine Sprünge und Drehungen und die Übungen von Meister Guichot aus Paris. Aber – ich habe noch meinen Spagat zu machen, wartet bitte einen Augenblick, ich mach das gleich hier vor dem Spiegel in meiner Garderobe – so, das hat nicht lange gedauert. Das sind also tolle Neuigkeiten, ich bin in Höchstform und meine Moral auch: kein Wort mehr von „Gruppentänzerin“, ich bin Solistin und dabei ist es dann auch geblieben.

Donnerstag, 28. August 1958 19.30 Uhr, ich bin gerade nach Hause gekommen. Morgen gibt es viel Arbeit: 9.30 Training, 11 Uhr Bal Champêtre, mittags „Sylphiden“, 15 Uhr Training, 17 Uhr „Giselle“1. Akt, 18 Uhr „Giselle“ 2. Akt. Der Pas de quatre, den ich im Bal Champêtre tanze, ist merkwürdig gestrickt, da muss ich meine Beine noch mächtig motivieren. Heute habe ich auch mein Kostüm probiert für den Pas de deux, ich mag es sehr, ein warmes Gelb mit einem maronfarbenen Oberteil. Bei der Kostümprobe hat Beriozoff meinen Namen nicht mehr gewusst und er hat mich Frou-Frou8 genannt, alle haben sehr gelacht. Nach der Probe bin ich noch ein Stück mit Xenia Palley, unserer Primaballerina gegangen. Ich habe sie gefragt, wie denn das Publikum so reagiert in Stuttgart. Sie meinte, es sei zwar immer ausverkauft, aber der Beifall dann eher kühl. Nur wenn sie jemand mögen, dann zeigten sie es auch. Die Hektik der letzten Probentage ist endlich überstanden und am Tag meiner ersten Premiere schreibe ich meinen Eltern:

Sonntag, 7. September 1958 Um 15 Uhr 30: In einer Stunde gehe ich ins Theater, denn wir haben vor der Vorstellung noch ein Training. Ich bin etwas nervös, aber heute Abend wird das vorbei sein. Für die Generalprobe gestern habe ich ein neues Kostüm bekommen, noch viel hübscher, aber das hat auch Zeit gekostet. Ich hatte mich dann geschminkt und bin zur Maske ge8 Mit frou-frou bezeichnet man das leichte Knistern von Seidenkleidern oder auch eine Person, die viel Wirbel erzeugt.

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gangen für die Perücke, doch die war noch nicht fertig! Ich habe also eine Viertelstunde gewartet und gekocht vor Ärger, denn die Generalprobe hatte schon angefangen. Ich bin dann zurück in die Garderobe, um mich anzuziehen, aber ich bin nicht in die neuen Spitzenschuhe gekommen – ich musste die alten nehmen. Im Lautsprecher konnte ich hören, wie mein Auftritt immer näherkam. Dann schnell auf die Bühne, keine Zeit zum Aufwärmen, Hugo, mein Partner, ist stocksauer. Mitten im Pas de deux geht auch noch das Oberteil von meinem Kostüm auf! Nachher meinte Hugo, es wäre gut, wenn ich in Zukunft etwas früher ins Theater käme! Ich weiß nicht mehr, was ich ihm geantwortet habe, aber ich war schließlich schon zwei Stunden vor Beginn im Haus, es war doch nicht meine Schuld! Um 20.15 Uhr: Ich werde jetzt auf die Bühne gehen. Alle sind sehr lieb zu mir, Telegramme, Geschenke, Blumen. Ich habe ein gutes Training gemacht, ganz entspannt, aber das Wichtigste kommt jetzt! Nach der Vorstellung: Es ist vorbei und wir haben viel Erfolg gehabt mit dem Pas de deux, fast so viel wie Giselle – es ist toll. Das Publikum wirkte am Anfang kühl, kein Applaus bis zu unserem Auftritt. Mir scheint, dann sind sie aufgetaut, wir bekamen Applaus mitten im Adagio, wenn ich nach meinen Touren aufs Knie gehe, ganz allein. Dann auch noch vor dem Ende meiner Variation! Beriozoff war zufrieden – ich auch. Der Intendant hat mir gratuliert und auch Herr Badenhausen. Wisst ihr, als ich heute auf dem Weg ins Theater war, gab es ein riesiges Gewitter. Ich wurde nass bis auf die Haut, aber ich war zufrieden, denn ich war sicher, das bringt mir Glück! Ja, nun ist es also endlich soweit: Am 7. September 1958 hat meine erste Spielzeit am Theater begonnen. Es geht gleich richtig los mit einer Ballettwoche: Sonntag, 7. September Montag, 8. September Dienstag, 9. September Mittwoch, 10. September Donnerstag, 11. September Freitag, 12. September Samstag, 13. September

Premiere „Giselle“ „Kuss der Fee“/„Die Sylphiden“/„Bal Champêtre“ Geschlossen „Giselle“ „Dornröschen“ „Giselle“ „Kuss der Fee/Die Sylphiden/Bal Champêtre“

Da ich fast täglich an meine Eltern schreibe, hat meine Mutter wohl Angst bekommen um meine Gesundheit und beim Intendanten interveniert. Jedenfalls antwortet ihr der persönliche Referent des Generalintendanten.

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15. September 1958 Dr. Badenhausen an Madame Faure Sie können versichert sein, dass wir uns um Ihre Tochter kümmern werden und Ihnen sofort Bescheid geben würden, falls irgendetwas passieren sollte, was wir alle nicht hoffen. Sie fühlt sich, wie sie uns sagte, sehr wohl bei uns, und nachdem die Ballettwoche vorbei ist, hat sie auch nur ein- bis zweimal die Woche vorläufig abends zu tanzen. Wir glauben nicht, dass das zu anstrengend für sie sein wird. Die Spielzeit hat also sehr gut begonnen für mich, aber schon taucht ein neues Problem auf: Ich muss unbedingt Deutsch lernen, um meine Kritiken lesen zu können. „Zauberhaft leicht“, „schmiegsam“, „geschmeidig“ – das werden die ersten Vokabeln, die ich mir mühsam aus dem Wörterbuch heraussuche. Zum Glück habe ich bald eine deutsche Kollegin gefunden, die Französisch lernen möchte, und so sitzen wir fast täglich zwischen den Proben in der Kantine – zweisprachig. Die Kantine ist überhaupt einer der wichtigsten Plätze im Theater, das habe ich längst gelernt. Natürlich kann man hier schnell und preiswert essen und trinken, zwischen den Proben, im Trainingszeug oder auch im Kostüm. Aber viel spannender ist ja, wen man hier trifft – praktisch: jeden – und was man hier erfährt – praktisch: alles! Kantinen sind die Informationszentralen der Theater, hier gibt es die wichtigsten Neuigkeiten, aber auch viel Klatsch und Tratsch. So wurden schon ganze Spielpläne in der Kantine entwickelt, aber auch Pläne, die nie zu realisieren waren. So ähnlich geht es mir auch, denn wann immer ich Beriozoff in der Kantine treffe, spricht er von seinen Plänen für mich: Ich soll die Giselle nachstudieren, die Hauptrolle im „Kuss der Fee“ übernehmen (ein Ballett, das mir überhaupt nicht gefällt). Er fragt, welche Rolle in „Schwanensee“ ich kenne, und nach den Gesprächen über „Nussknacker“ (unsere nächste Ballettpremiere) darf ich ihm im Ballettsaal die Variation der Clara vortanzen, so wie ich sie in Paris gelernt habe. Sie ist etwas anders, als die von Beriozoff, aber er meint, ich solle jeden Tag daran arbeiten, denn in einem Punkt sind wir der gleichen Meinung: Die Rolle der Clara im „Nussknacker“ sollte nur von einer Tänzerin ausgeführt werden. Ich muss das kurz erklären: In diesem Ballett bekommt das junge Mädchen Clara zu Weihnachten einen Nussknacker als Geschenk (1. Akt) und sie träumt dann davon (2. Akt). Im 3. Akt gibt es ein großes Divertissement und hier wird Clara traditionell von der Primaballerina getanzt, im Nachspiel ist Clara dann wieder das kleine Mädchen. So ist es auch jetzt geplant, ich tanze das junge Mädchen Clara im 1. und 2. Akt und im Nachspiel, unsere Primaballerina Xenia Palley ist die Clara im 3. Akt, also in dem großen Ballett-Divertissement. Und diesen 3. Akt, den will ich so bald wie möglich auch noch tanzen! Zunächst allerdings bereitet mir die Rolle der Clara ganz andere Sorgen.

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Donnerstag, 30. Oktober 1958 Heute Vormittag Probe für „Nussknacker“. Am Beginn des 2. Aktes komme ich auf die Bühne mit meiner Mutter, die mich zu Bett bringt und jetzt – stellt euch das vor! – soll ich mich auf der Bühne ausziehen und mein Nachthemd anziehen! Hoffentlich fällt denen da noch was anderes ein! Montag, 3. November 1958 Seit gestern arbeite ich an der Variation der Clara, Schritt für Schritt. Das muss perfekt sein, doch es braucht seine Zeit. Die harte Arbeit im Ballettsaal beherrscht den Alltag: das tägliche Training mit 30 Minuten an der Stange und dann noch 75 Minuten, tägliche Proben am Vormittag bis 13 Uhr, am Nachmittag von 17 bis 20 Uhr, Haupt- und Generalproben können bis 15 Uhr dauern, also bis zu vier Stunden, und wann immer es geht, arbeite ich dann für mich allein. Als einziger Ausgleich in den seltenen freien Stunden bleibt mir nur meine Malerei.

Montag, 17. November 1958 Ich kann ein sensationelles Ereignis ankündigen: Heute Vormittag habe ich 5 Pirouetten auf Spitze gedreht und die waren hübsch, aneinandergereiht und sauber abgeschlossen! Ich habe viele Komplimente bekommen. Ich habe dann noch mehrmals vier gemacht und einmal drei en attitude à gauche! Morgen muss ich wieder fünf machen, am besten jeden Tag! Heute habe ich mir einen Aquarellkasten gekauft mit 36 Farben. Eigentlich wollte ich ja das Opernhaus malen, mit dem Schlosspark und dem Teich, aber es ist jetzt schon etwas zu kalt draußen. Wie ihr seht, male ich stattdessen in die Briefe hinein, das ist dann vielleicht schwer zu lesen, aber es sieht toll aus. Auch die Außenseite der Briefe habe ich schon dekoriert, um die Briefmarken herum. Bis jetzt hat die Post noch alles befördert! Wie findet ihr den Briefumschlag? Das Bild heißt „Die ganze Welt als Sputnik“. Mittwoch, 26. November 1958 Heute Vormittag haben wir mit Beriozoff die schwierige Arabesque in Drehung trainiert und das ging schon ganz gut. Dann habe ich noch ganz alleine im Ballettsaal Cabrioles geübt, ich mache eine und – Patatras! Bums! – sitze am Boden, mitten im Kolophonium. Ich hatte mich genau in die Ecke zurückgezogen, wo das Kolophonium liegt, um die andere Probe nicht zu stören. Ich fange noch einmal von vorne an und an der gleichen Stelle: wieder: Patatras! Da meint Berio­

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zoff: „Das ist jetzt aber genug, Micheline!“, und ich antworte ihm: „Aber Meister, ich mach das doch nicht extra!“ – und der ganze Ballettsaal hat gelacht. Oh, ich sah toll aus, ganz weiß von dem Kolophonium, auch die Hände, wenn ich was anfassen wollte, klebte alles. Glücklicherweise habe ich mich nicht verletzt. Das ist mir lange nicht mehr passiert, das war wohl fällig! Donnerstag, 27. November 1958 Heute meinte Herr Beriozoff zu mir, ich solle jetzt die ganze Partie der Clara im „Nussknacker“ lernen, also auch das, was Xenia Palley und Helga Heinrich im Divertissement tanzen, damit die Partie nur von einer Tänzerin dargestellt wird. Den Grand Pas de deux würde ich ja schon kennen und nach Weihnachten würden wir dann daran arbeiten. Oh, wenn das doch wahr würde! Wie ich gehört habe, setzt auch Gisela alle Mittel ein, um die Hauptrolle im „Nussknacker“ zu tanzen. Ganz schön viel Leute, alle für die gleiche Rolle? Montag, 1. Dezember 1958 Ich bin ziemlich sauer, denn gestern hatte ich Probe für die „Sylphides“, anderthalb Stunden und dann noch eine halbe Stunde „Nussknacker“, das, was Xenia tanzt – aber alles ohne Partner, denn Ray ist krank. Eigentlich war ich zufrieden, ich habe gut gearbeitet und ohne Unterbrechung, Beriozoff war auch zufrieden – aber ich war am Ende meiner Kraft. Und heute – wieder kein Ray! Nun hat mir Beriozoff den Gorazd vorgeschlagen, aber der ist überhaupt nicht geeignet für diese Rolle, seine Hebungen sind zu hart, und er ist schrecklich nervös. Warum muss so etwas immer nur mir passieren? Und schon wieder habe ich in Rekordzeit ein Solo übernommen: den Pas de deux im „Tannhäuser“, am 4. Dezember, einen Tag vor meinem Geburtstag.

Freitag, 5. Dezember 1958 Nach dem Training heute ist Beriozoff zu mir gekommen und hat mir gesagt, das sei gestern sehr gut gewesen – und es sei mein Stil gewesen! Ich habe mir schon gedacht, vielleicht hat er absichtlich mit den Proben so lange gewartet, um zu sehen, ob ich fähig bin, in letzter Minute für eine erkrankte Kollegin einzuspringen. Inzwischen habe ich erfahren, dass man bei einer schnellen Übernahme das Recht auf eine zweite Vorstellung hat. Ich habe das Beriozoff gesagt und nun werde ich im Januar noch einmal den Pas de deux im „Tannhäuser“ tanzen.

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Dienstag, 9. Dezember 1958 Gestern haben wir wieder „Giselle“ probiert, mit Ray, wenn er nur nicht krank wird. Denn ich glaube, das war neulich eine Intrige gegen mich, damit ich nicht tanze. Einige Solisten finden wohl, es gehe zu schnell mit mir. Aber es ist ihnen nicht gelungen – ich bin immer noch gesund und munter. Für Weihnachten habe ich alles geregelt, Herr Beriozoff lässt mich für drei bis vier Tage wegfahren. Ich nehme den Zug gleich nach der Vorstellung von „Nussknacker“ und muss am 27. wieder da sein. Mittwoch, 10. Dezember 1958 Heute ist Yvette Chauviré angekommen und hat mit den Proben begonnen. Mein Gott, sie hält sich wohl für die Größte, duzt alle Welt und zu Hugo Delavalle, ihrem Partner, hat sie gesagt, sie sei eine sehr gute Schauspielerin und deshalb müsse er sich mehr anstrengen, sonst werde er zu blass wirken! Als sie hörte, dass es noch einen Pas de deux gibt, wollte sie den streichen lassen, aber Beriozoff hat darauf bestanden. In Zukunft möchte ich 16 Fouettés am Schluss meiner Variation von „Giselle“ machen, aber noch nicht an diesem Samstag, ich will da nichts riskieren. Heute hat es schon ganz gut geklappt, wenn man nichts versucht, kommt man nicht weiter. Für „Dornröschen“ – da weiß man nicht, ob Gisela wieder gesund wird. Ich würde da lieber nur den Blauen Vogel tanzen, ich arbeite schon daran, man weiß ja nie … Sonntag, 14. Dezember 1958 Gestern Abend mit Ray hat alles sehr gut geklappt. Und Yvette Chauviré war wunderbar, so schön und so gut getanzt! Montag, 15. Dezember 1958 Morgen wird ein schwerer Tag: 9.30 Uhr kurzes Training, 10 Uhr Probe „Dornröschen“ bis Mittag, nach einer Viertelstunde Pause alle drei Akte, 14 Uhr alle drei Akte „Nussknacker“! Mittwoch, 17. Dezember 1958 Mein Gott, was für ein Wirbel! Heute tanze ich für Doris im Prolog und Georgette tanzt für mich im 1. Akt und jetzt sind sie alle gegen mich, Solisten und Corps de Ballet. Am Anfang war es allen recht, wenn ich für Erkrankungen eingesprungen bin, weil ich schnell lerne und weil ich in Paris bei meinem Lehrer Paul Goubé die meisten Ballettklassiker studiert hatte. Jetzt aber wird es den

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anderen zu viel, sie regen sich auf, weil ich zu schnell aufsteige, obwohl ich die Jüngste bin. Da gibt es also noch viel Aufregung vor Weihnachten, schließlich muss die Premiere von „Nussknacker“ auf den Januar verschoben werden, weil Bühnenbild und Kostüme nicht rechtzeitig fertig werden. Mir ist das eigentlich egal, Hauptsache, ich kann Weihnachten bei meiner Familie in Paris verbringen. Die Fahrten nach Paris sind ganz wichtig für mich, einfach zum Auftanken. Ich habe das oft gemacht, wenn es mit Proben und Vorstellungen gepasst hat: Samstag um 22.48 Uhr ab Stuttgart, Ankunft in Paris am Sonntag um 9.11 Uhr. Manchmal musste ich dann am gleichen Tag um 20.25 Uhr wieder zurück nach Stuttgart, um am Montag früh beim Training zu sein. Jetzt aber sind es ein paar Tage und so wird Weihnachten in Paris einfach wunderschön, es ist der friedliche Abschluss von fünf harten Monaten in der Fremde, einer Zeit, in der ich in der mir bisher unbekannten Welt des Theaters meinen Platz suchen musste und auch gefunden habe. Der Kampf wird auch im neuen Jahr weitergehen, das ist mir schon bewusst, aber ich habe keine Angst vor der Rückreise nach Stuttgart, vor den Herausforderungen des neuen Jahres.

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Stuttgart 1958

Abb. 20/21: Mein erstes Plakat und das Stuttgarter Ensemble

Abb. 22: Silvester mit meiner Schwester Annie

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in neues Jahr beginnt, es kommen neue Aufgaben, neue Programme, aber der Arbeitsrhythmus bleibt immer der gleiche. Ich werde jetzt einen Monat lang einfach meinen Taschenkalender zitieren mit dem täglichen Probenplan. Daran erkennt man am besten den hohen Arbeitsaufwand, den Tänzerinnen und Tänzer jahraus jahrein bewältigen müssen. Der Jahresbeginn allerdings war noch ganz lustig. Aus Paris ist meine Schwester Annie mitgekommen und wir werden zu Silvester von Meister Beriozoff zu einem Abendessen in einem vornehmen Lokal eingeladen, mit Kaviar und Champagner. Ich mach mir nicht so viel daraus und will vor allem von unserem Gastgeber erfahren, ob er die nächste Spielzeit noch in Stuttgart bleibt. Er meint zu mir: „Das hängt von der nächsten Premiere ab“ – also vom „Nussknacker“ in einer Woche! Annie hat das nicht so interessiert, sie hat mit ihm getanzt und an der Bar Champagner getrunken.

Donnerstag, 1. Januar 1959 Wir sind um 3 Uhr heimgekommen und haben dann den ganzen Tag geschlafen. Freitag, 2. Januar 1959 10 Uhr Training 11.15 Uhr Probe 1. und 2. Akt

„Nussknacker“ 17 Uhr Probe 3. Akt

Samstag, 3. Januar 1959 „Nussknacker“ 9 Uhr Stange 10 Uhr Probe 1., 2. und 3. Akt Montag, 5. Januar 1959 „Nussknacker“ 10 Uhr Training 11.30 Uhr Probe 1.–3. Akt, in Kostüm Mittwoch, 7. Januar 1959 10 Uhr Stange 11 Uhr Bühnenprobe

„Nussknacker“ mit Orchester

Donnerstag, 8. Januar 1959 Generalprobe „Nussknacker“ Heute vor der Generalprobe haben wir endlich das Problem gelöst, wie ich auf der Bühne als die junge Clara mein Kleid ausziehen und ein Nachthemd anziehen kann. Bisher hatte ich ein rosafarbenes Trikot darunter, das sah so aus, als

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hätte ich gar nichts an! Jetzt habe ich ein weißes Trikot, bestickt, sehr hübsch, sieht aus wie „1900“. Freitag, 9. Januar 1959 „Nussknacker“ 20 Uhr Premiere (mit Xenia Palley/Donald Barkley) Samstag, 10. Januar 1959 „Aida“ , „Giselle“ 11 Uhr Probe „Aida“ 11.30 Uhr Probe „Giselle“ 1. 10.30 Uhr Stange und 2. Akt Beriozoff kam heute gut gelaunt in den Ballettsaal, aber im Laufe des Tages hat sich sein Gesicht verfinstert. Er hat mir nichts gesagt über die Vorstellung gestern – enttäuschend für mich. Sonntag, 11. Januar 1959 Mit Annie einen Film über Ballet russe angesehen. 18 Uhr Probe mit Ray (ich habe mit Hugo getanzt, der sehr schlecht gelaunt war) 20 Uhr Vorstellung „Giselle“ (Yvette Chauviré) Montag, 12. Januar 1959 „Nussknacker“ Vormittags Abreise von Annie, das wird traurig sein 10 Uhr Training 11.45 Uhr Probe 20 Uhr Vorstellung 2., 3. Akt Nun ist Annie also wieder abgereist und ich bleibe zurück, allein und traurig. Ich weiß nicht, wie ich diesen Tag hinter mich bringen soll, mein Kopf ist leer. Dienstag, 13. Januar 1959 Ballettfrei, da kann ich im Ballettsaal in Ruhe für mich allein arbeiten. Mittwoch, 14. Januar 1959 „Nussknacker“ 10 Uhr Training 11 Uhr Probe 20 Uhr Vorstellung In der zweiten Vorstellung „Nussknacker“ ist wirklich alles schiefgegangen. Der Prospekt im 1. Akt ging dauernd rauf und runter, wollte nicht verschwinden und das Orchester spielte einfach weiter. Im 2. Akt kamen die „Mäuse“ zu spät auf die Bühne und auch im 3. Akt gab es lauter kleine Pannen. Ich habe nicht schlecht getanzt, aber es war alles ohne Gefühl. Nach der Vorstellung Einladung im Tabaris, wo wir auch Silvester waren. Ich habe mir ein Kleid gekauft und eine neue Frisur zugelegt. Das hat gut gepasst, ich habe viel getanzt.

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Donnerstag, 15. Januar 1959 11 Uhr Training „Nussknacker“ Freitag, 16. Januar 1959 9.30 Uhr Stange 10 Uhr Probe 2. und 3. Akt Heute habe ich den Nachmittagskurs für Kinder auf Spitze mitgemacht und gut gearbeitet. Danach noch mit Gorazd den Pas de deux – bis 17 Uhr! Samstag, 17. Januar 1959 Ballettfrei 17 Uhr Im Ballettsaal Film über Tanz in Amerika. Ich bin um 2.15 Uhr nach Hause gekommen. Es war ein sehr angenehmer Abend. Beim Zeichnen heute ist mir etwas Seltsames passiert. Ich wollte Wellen machen, und es ist ein Auge in Form eines Fisches daraus geworden und plötzlich war es dann ein Gesicht, mit einem orientalischen Schuh zwischen Nase und Schnurrbart. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein hässliches Gesicht in Wirklichkeit existiert. Sonntag, 18. Januar 1959 „Nussknacker“ 19.30 Uhr Vorstellung „Nussknacker“ Wieder ist eine Vorstellung vorbei. Ich bin eigentlich ganz zufrieden, ich finde, dass ich heute nicht schlecht getanzt habe, obwohl wir keine Probe hatten. Ich weiß nicht, woher diese positive Stimmung kommt, morgen wird es wieder vorbei sein. Seit gestern schneit es nicht mehr, aber es ist sehr kalt geworden. Das Theatergebäude sieht phantastisch aus, der zugefrorene See, die Schatten der schwarzen Bäume dahinter, die Wege im Park, die ganz weiß geblieben sind – es ist alles wie verzaubert. Wenn es nicht so kalt wäre, hätte ich den Anblick gerne länger bewundert. In Degerloch, da oben, wo ich zuerst gewohnt habe, da muss es jetzt noch schöner sein, mit dem Wald daneben. Aber ich bin schon froh, jetzt nur zwei Schritte vom Theater entfernt zu wohnen – es ist einfach bequemer! Montag, 19. Januar 1959 10 Uhr Training Morgen soll ich mit Proben für den 3. Akt „Nussknacker“ mit Donald beginnen. Als Reserve! Aber wenn ich es tanze, muss es perfekt sein. Doch es gibt schon so viele Besetzungen für diese Rolle: Xenia, Helga, Gisela und jetzt auch noch Doris?

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Dienstag, 20. Januar 1959 10 Uhr Training 19.30 Uhr Vorstellung „Nussknacker“ (statt „Undine“) Beriozoff hat heute im 1. Akt die Rolle meines Vaters getanzt, weil der Tänzer dieser Rolle (Schreiber) zu spät ins Theater gekommen ist und dann nur den 3. Akt getanzt hat. Mittwoch, 21. Januar 1959 10 Uhr Training Ich habe heute mein gelbes Kleid probiert. Ich werde es umändern nach einer neuen Idee, das ist sehr modern, ich muss das machen. – Ach, ich lasse es doch, wie es ist! Donnerstag, 22. Januar 1959 10 Uhr Training Ich habe mir Tweed gekauft und ein enges Kleid genäht. Aber es ist nicht leicht anzuprobieren. Freitag, 23. Januar 1959 „Nussknacker“ 11.15 Uhr Probe 20 Uhr Vorstellung 10 Uhr Training 2. und 3. Akt Heute bei der Vorstellung habe ich mir im 1. Akt einen Nagel eingetreten. Ich habe mich auf eines der kleinen Mädchen gestützt und konnte ihn wieder herausziehen. Im 2. Akt bin ich mit dem Fuß an dem Stuhl hängengeblieben, der mit einem Seil befestigt ist. Ich habe das Ganze ein paar Zentimeter hinter mir hergezogen. Ich habe die Reaktionen im Publikum gespürt, habe aber getan, als ob nichts wäre. Im 3. Akt ist dann glücklicherweise nichts mehr passiert. Beriozoff sagt mir heute, er habe die Direktion schon informiert darüber, dass ich eines Tages die ganze Partie der Clara tanzen werde. Samstag, 24. Januar 1959 11 Uhr Training Sonntag, 25. Januar 1959 15 Uhr Spanischer Tanz: Susana und José. Im Schauspielhaus in der Kleinen Königstraße. Ich habe 5 Mark bezahlt, weil es keine Freikarten für uns Tänzer gab.

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Montag, 26. Januar 1959 10 Uhr Training, dann Probe für den Opernball (ohne mich). Der Opernball sagt mir nichts, ich werde mich sicher langweilen. Dienstag, 27. Januar 1959 10 Uhr Training Ich habe mein Tweedkleid fertig! „Nussknacker“ Mittwoch, 28. Januar 1959 10 Uhr Training 11.15 Uhr Probe 2. und 3. Akt 20 Uhr 6. Vorstellung von „Nussknacker“ Die Vorstellung ist gut gelaufen für mich. Anfang Februar, denke ich, wird Beriozoff mit einem neuen Programm beginnen. Neue Arbeit auf den Bühnenbrettern! Heute hatte ich viele Komplimente für mein neues Kleid. Man wollte mir nicht glauben, dass ich es selbst entworfen und genäht habe. Jemand hat mir empfohlen, ich solle doch den Tanz aufgeben und mich ganz der Mode widmen, haha! Ich war im französischen Kulturinstitut. Der Direktor hat mir gratuliert zu den guten Kritiken. Ich mag ihn aber nicht, denn er ist sehr gebildet und man muss aufpassen, was man sagt. Und dann hat er eine ziemliche schlechte Vorstellung von Tänzerinnen. Ich habe ihn schon richtig verstanden, aber ich kann das einfach nicht ausstehen! Donnerstag, 29. Januar 1959 10 Uhr Stange, danach Probe für den Opernball, ich bin aber nicht dabei. Heute habe ich meinen Eltern, die mich unbedingt in Frankreich verheiraten wollen, einmal die Meinung gesagt: „Mein Gott, ich habe das Gefühl, es wird alles immer noch komplizierter mit euch. Ich bin eurer Meinung, eine Frau sollte zu ihrem Mann stehen, und ihr wisst, wie sehr ich das Leben in einer Familie schätze – aber das lässt sich nicht mit meinem Beruf als Tänzerin vereinen. Ich liebe beide Welten, aber zur Zeit dominiert bei mir der Tanz, falls mich nicht unfreundliche Kollegen und Kolleginnen von dieser Meinung abbringen. Denn es wird hier heftig gegen mich intrigiert, weil ich zu viele Erfolge und gute Kritiken habe.“ Freitag, 30. Januar 1959 Ballettfrei. Um 14.30 Uhr ist das Kinderballett. Am Nachmittag habe ich mit den Kindern trainiert. Frau Mörike, die Lehrerin, hat mich dann gebeten, eine einfache Schrittfolge vorzuführen. Ich habe das möglichst elegant gemacht und dafür viel Beifall von den Kindern bekommen.

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Samstag, 31. Januar 1959 10 Uhr Stange 11 Uhr Generalprobe für den Opernball, abends dann Opernball Ich bin erst um 7.15 Uhr nach Hause gekommen, obwohl ich mich nicht so besonders gut unterhalten habe. Aber das Theater sah phantastisch aus! Es gab fünf Orchester, im Saal und in den Foyers, überall Blumen und festlich gekleidete Menschen. Sonntag, 1. Februar 1959 8.15 Uhr bin ich ins Bett, um 16.15 Uhr dann aufgestanden. Das war er also, der Januar 1959 mit dem täglichen Trainings- und Probenplan. In Gedanken müsste man das jetzt in jedem Monat ergänzen, in jedem Jahr – und auch an jedem Theater, in jeder Ballettcompagnie. Es gehört einfach dazu in diesem Beruf, es ist ganz normaler Alltag. Wir sind alle daran gewöhnt und schlimm ist es eigentlich nur nach den Sommerferien, beim ersten Training, wenn sich der Körper wieder darauf einstellen muss. Aber es gibt eben auch die schönen Seiten dieses Berufes, die Vorstellungen, vor allem die Premieren und die Feste und Feiern im Haus, ob das nun Silvester ist oder der Opernball. Damals ging es gleich weiter mit dem Fasching – ich werde das nie vergessen. Ich hatte eine Einladung zu einem Faschingsball am Rosenmontag, am 9. Februar war das. Ich hatte mir aus Frankreich mein altes „Zigeunerinnenkostüm“ schicken lassen, hatte es ein bisschen umgearbeitet und ergänzt, eine Maske dazu besorgt und saß fertig kostümiert und geschminkt daheim und wartete auf eine Freundin, die allein den genauen Zeitpunkt und die Adresse der Veranstaltung kannte. Ich wartete den ganzen Abend – vergeblich: Sie hatte mich einfach vergessen. Die Entschädigung für diese Enttäuschung bringt dann aber der nächste Tag, der Faschingsdienstag. Wir machen nur ein halbes Training und dann geht es los, gefeiert wird überall, im Ballettsaal, in der Kantine, in den Garderoben. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gut amüsiert, so viel gelacht, gesungen und herumgetanzt im ganzen Haus. Das hat uns allen damals richtig gut getan, denn wir wussten nicht so recht, wie es mit dem Ballett weitergehen sollte. Es gab Gerüchte, Beriozoff werde uns verlassen, dann wieder war die Rede von Gastchoreographen, niemand wusste Genaueres. In dieser unsicheren Situation war es für mich immer eine Stärkung, wenn ich wenigstens für ein Wochenende nach Hause fahren konnte.

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Samstag, 14. Februar 1959 10 Uhr Training 22.48 Uhr Abreise nach Paris

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11.15 Uhr „Nussknacker“ 1., 2. und 3. Akt

Sonntag, 15. Februar 1959 9.10 Uhr Ankunft in Paris. Ein herrlicher Tag, wir waren alle zusammen. 20.25 Uhr Rückreise nach Stuttgart. Montag, 16. Februar 1959 „Nussknacker“ 10 Uhr Training 11.15 Uhr Probe

19.30 Uhr Vorstellung

Doch dann kommt mein großer Tag. Es ist im März, die letzten zwei Vorstellungen vom „Nussknacker“ sind angesetzt, da erkrankt unsere Erste Solistin Helga Heinrich und die Primaballerina Xenia Palley ist beurlaubt. Am Tag vor der ersten der beiden Vorstellungen holt man mich abends aus dem Bett und wir probieren bis Mitternacht im Ballettsaal. Ich musste ja den Pas de deux im 2. Akt mit Auftritt und Abgang und den Anfang des 3. Aktes und die Änderungen im Grand Pas de deux erst lernen. Als ich am nächsten Morgen wieder ins Theater komme, spüre ich deutlich eine feindliche Atmosphäre, alle sind irgendwie gegen mich. Vielleicht war es Eifersucht, weil man andere nicht berücksichtigt hatte, vielleicht war es aber auch Zweifel daran, ob ich diese Aufgabe bewältigen konnte. Das war eine schwierige Situation, das Training fiel aus, und wir haben nur probiert. Am Abend dann die Vorstellung und ich habe es geschafft, am 11. März 1959 habe ich erstmals eine der Hauptrollen des klassischen Repertoires, die Clara im „Nussknacker“ getanzt – und das ohne Fehler. Nun waren plötzlich alle positiv, Glückwünsche, Blumen und Geschenke ohne Ende. Beriozoff war zufrieden, denn er war ja immer der Meinung, diese Rolle solle nicht auf zwei Tänzerinnen aufgeteilt werden. Er meinte, ich sei „formidable“ gewesen. Zwei Tage später war dann die zweite Vorstellung mit mir, leider war das die letzte Aufführung vom „Nussknacker“ in dieser Spielzeit, denn ein Gastchoreograph für das neue Programm ist schon angekommen. Er war in der Vorstellung, gratuliert mir zum Erfolg und fängt am nächsten Tag mit der Arbeit an: Werner Ulbrich, ein energischer, aber gleichzeitig sehr freundlicher Herr. Er kommt aus der DDR und sucht offensichtlich Kontakt zu Theatern in der Bundesrepublik. Das erste Training mit ihm ist ganz auf spanischen Tanz ausgerichtet. Das ist neu für mich und es interessiert mich, ich mache da gerne mit. Wie sich bald herausstellt, ist für den Ballettabend als Abschluss der „Bolero“ von Ravel vorge-

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sehen. Da bin ich nun doch froh, nicht besetzt zu sein. Warum? Es nervt mich immer, wenn meine tänzerischen Leistungen von Kollegen oder auch von Journalisten mit den Adjektiven „mädchenhaft“ oder „lieblich“ versehen werden, denn ich bin nicht nur lieblich, sondern voller Kraft und Energie – auch als lyrische Tänzerin. Aber es muss ja nicht gleich der „Bolero“ sein! Ich habe in dem neuen Programm eine andere, sehr schöne Aufgabe: Vier Solopaare verkörpern in dem gleichnamigen Ballett von Paul Hindemith die „Vier Temperamente“ melancholisch, sanguinisch, phlegmatisch und cholerisch. Zusammen mit meinem Partner Gerd Praast verkörpere ich die phlegmatische Variation. Es ist wohl eine der erfolgreichsten Ballettmusiken von Hindemith, George Balanchine hat dazu 1946 die erste Choreographie geschaffen. Man behauptet sogar, er habe Hindemith zu dieser Komposition angeregt – ich weiß aber nicht, ob das stimmt. Jedenfalls ist es eine wunderbare Musik für Tänzer und eine schöne Aufgabe für mich, weil mir auch die Choreographie von Ulbrich sehr gut gefällt. Mitten in der Probenarbeit kommt dann eine weitere Aufgabe auf mich zu. Im Mittelpunkt des neuen Ballettabends steht das Ballett „Attis und die Nymphe“ zu Igor Strawinskys Concerto in D für Violine und Orchester. Übrigens: Auch diese Musik hatte George Balanchine schon 1940 in New York für ein Ballett „Balustrade“ choreographiert. Also – für die weibliche Hauptrolle ist natürlich unsere Primaballerina Xenia Palley vorgesehen, die aber nach einigen Probentagen aussteigt, weil sie findet, sie habe in diesem Programm zu wenig Soloauftritte im Vergleich zu den anderen Solistinnen. Den gemeinsamen Bemühungen von Choreograph, Ballettmeister und Generalintendant gelingt es dann endlich, Xenia zu besänftigen. Sie steigt aus „Attis und die Nymphe“ aus, bekommt dafür einen großen Pas de deux (Jean Sibelius: „Der Schwan von Tuonela“) – und ich bekomme die Hauptrolle in „Attis und die Nymphe“: natürlich die Nymphe! Der Choreograph hat die Handlung aus der griechischen Mythologie entlehnt: eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen, die durch das Einschreiten der Göttin Cybele zerstört wird. Ich habe dann sofort meine Eltern gebeten, mir Literatur über die griechische Götterwelt zu schicken, damit ich bei den Proben nicht gänzlich uninformiert dastehe, aber die Rolle, die Musik und die Choreographie haben mich sofort begeistert. Es wird eine wunderbare Zeit, die Arbeit mit dem Choreographen und meinem Partner Donald Barcley. Die Premiere ist dann ein großer Erfolg – Komplimente von allen Seiten.

Samstag, 16. Mai 1959 Am Tag nach der Premiere gab es heute nur ein Training am Abend. Danach meinte Werner Ulbrich zu mir: Alle Welt liebe meine Art zu tanzen. So wie ich

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tanzte, würde man die Geschichte von Attis verstehen, ohne das Programmheft lesen zu müssen, das sei ganz mein Stil, das sei mein Ballett. Er war sehr glücklich – ich war es auch! Nun ist die Welt wieder in Ordnung, es gibt keine Intrigen mehr gegen mich, die Mädchen haben es endlich akzeptiert, ich gehöre jetzt zum Clan der Solisten. Man findet, ich hätte in der letzten Zeit sehr große Fortschritte gemacht. Ich weiß heute, das kam sicher nicht nur vom täglichen Training, das kam von meiner inneren Einstellung. Ich hatte immer Angst, auf der Bühne zu jung zu wirken, und ich habe immer mit viel Herz, viel Leidenschaft gearbeitet. Wenn ich an Xenia denke, sie hatte auf der Bühne eine starke Präsenz, aber sie blieb immer ganz kühl – und das kam gut an beim Publikum, auch mir hat das gefallen. Aber ich bin eben anders, niemals distanziert, sondern immer engagiert und dort, wo es passt, auch gefühlsbetont. Eines Tages, bei einem Gastspiel, tanzte Xenia den Pas de deux aus „Schwanensee“. Mir gefiel die Musik überhaupt nicht, aber die Choreographie war so schön, dass ich am Ende auch die Musik akzeptiert habe. Es ist eben alles Gefühlssache. Kurz vor Ende der Spielzeit kommt dann noch eine weitere Aufgabe für mich – ein Solo bei einem Ballettabend der Noverre-Gesellschaft. Das möchte ich kurz erklären. Mit Beginn der Tätigkeit von Ballettmeister Nicholas Beriozoff in Stuttgart in der Spielzeit 1957/58 und mit seinen Aufführungen der großen Ballettklassiker hat das Interesse des Publikums deutlich zugenommen. Schon bald, im Mai 1958, führt private Initiative daher zur Gründung der „Noverre-Gesellschaft“. Jean Georges Noverre war ein bedeutender Tänzer und Choreograph des 18. Jahrhunderts, ein Aufklärer, der in seinen „Briefen über den Tanz“ auch heute noch gültige Erkenntnisse formuliert hat. Er stammte aus Paris, war damals in ganz Europa begehrt und stand von 1760 bis 1767 im Dienst des Herzogs von Württemberg in Stuttgart. In seinem Namen wird also nun für das Ballett geworben, über das Ballett informiert. Treibende Kraft, Motor und Herz zugleich ist Fritz Höver, der Gründer und dann auch Präsident der Gesellschaft, der konsequent sein Ziel verfolgt: mit Vorträgen und Veranstaltungen ein echtes Ballettpublikum in Stuttgart heranzuziehen. Das Vorhaben ist bestens gelungen, der Erfolg hält bis heute an, was daran zu erkennen ist, dass die sehr zahlreichen Ballettabende in Stuttgart immer schon langfristig ausverkauft sind. Es gibt dazu eine hübsche Geschichte des Generalintendanten Walter Erich Schäfer über seine Verhandlungen mit der Volksbühne – einer Organisation, die dem Theater praktisch alle Montagsvorstellungen einer Spielzeit vorher abkauft und dann vergünstigt an ihre Mitglieder abgibt. Bei den Verhandlungen habe es früher geheißen: „Wieso haben wir in der nächsten Spielzeit schon wieder einen Ballettabend, wir hatten doch erst letztes

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Jahr einen?“ Jetzt klage man: „Warum haben wir in der nächsten Spielzeit nur einen Ballettabend, wir wollten doch zwei haben wie dieses Jahr?“ Fritz Höver war bei meinen Anfängen in Stuttgart eine große Hilfe für mich, er war ein guter Freund und ein phantastischer Streiter für das Ballett. Es ist sehr schade, dass schon bald nach seinem Tod die so verdienstvolle Noverre-Gesellschaft Ende 2018 aufgelöst wurde. Damals jedenfalls war sie noch sehr aktiv und erfolgreich. Ich hatte schon im Herbst 1958 bei einer Veranstaltung mitgewirkt und mir für diesmal eine Überraschung ausgedacht: Ich tanzte, neben einem Walzer aus „Sylphiden“ und dem Bauern-Pas-de-deux aus „Giselle“, eine Variation aus dem Ballett „Esmeralda“ von Cesare Pugni, die der in Frankreich berühmte Tänzer, Choreograph und Tanzpädagoge Yves Brieux mit mir in Paris einstudiert hatte – und alle fanden das sehr reizvoll, aber niemand kannte es, weder die Musik noch die Choreographie. Es wurde ein richtiger Überraschungserfolg – sogar für Beriozoff, der doch wirklich alle Choreographien dieser Welt kannte, und es war ein schöner Abschluss für mein erstes Theaterjahr. Für die neue Spielzeit bin ich dann erst einmal umgezogen, etwas weiter weg vom Theater, aber dafür viel komfortabler. Inzwischen hatte ich auch einen neuen Vertrag unterschrieben – diesmal als Solistin. Bei der Rückkehr aus dem Urlaub fühlte ich mich in Stuttgart wie zu Hause, alle sind freundlich, entspannt – eine große Familie. Dann beginnen die Proben, unser Gastchoreograph Werner Ulbrich will das große Prokofjew-Ballett „Romeo und Julia“ mit uns erarbeiten, ich bin Julias Freundin. Aber schon gibt es Probleme: Unsere Primaballerina ist natürlich Julia und auch die Erste Solistin, die will aber nur tanzen, wenn sie die Premiere bekommt. In einem „vertraulichen“ Gespräch meint Ulbrich zu mir, da Julia 1 oft krank und das mit Julia 2 nicht sicher sei, solle ich auf jeden Fall die Rolle mit studieren. Ich mache das natürlich mit Freuden, auch wenn es dann doch nichts wird, weil beide Julias sehr genau alle Vorstellungen unter sich aufteilen. Schade!

Freitag, 6. November 1959 Heute nach dem Training habe ich noch allein im Ballettsaal an Julias Variation gearbeitet, als Herr Ulbrich vorbeikam. Er wird in zwei Jahren nach Düsseldorf an die Deutsche Oper am Rhein gehen und er hat mir einen Vertrag als Erste Solistin angeboten. Sonntag, 27. Dezember 1959 Heute habe ich in der Stadt Herrn Ulbrich getroffen. Er hat schon mit Dr. Badenhausen über mich gesprochen. Da scheint es jetzt wohl Probleme zu geben. Prima! Das heißt doch, Stuttgart will mich nicht hergeben – youpi!

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Die tägliche Arbeit geht also ständig weiter, neue Programme werden erarbeitet, und die laufenden Vorstellungen müssen jedes Mal vorher probiert werden. Abwechslung bringen da vor allem Gastspiele. In diesem Jahr ist es besonders interessant für mich, denn es gastieren in Stuttgart das Ballet Janine Charrat und das Grand Ballet de Marquis de Cuevas (neuerdings mit dem Zusatz „International“ und auf Englisch). In beiden Companien sind sehr viele französische Tänzerinnen und Tänzer, da gibt es zahlreiche Begegnungen mit alten Bekannten aus Paris, für mich aufregende, herrliche Tage. Aber Gastspiele heißt auch, dass wir gastieren. Das sind zwar meistens nur kleine „Tingeleien“, wie wir das nennen, wenn große Firmen für ihre Betriebsfeiern zu einer Ballett-Gala einladen. Meistens zeigen wir dort Ausschnitte aus unserem laufenden Programm, beliebte Ballettklassiker. Das bedeutet dann: kaum zusätzliche Arbeit, aber auch oft ein schönes Honorar. Nur einmal ist das ganz anders – wir studieren ein neues Ballett ein, was viel Arbeit bedeutet, und wir bekommen nichts bezahlt dafür:

Wir probieren das Ballett, aber was für ein Ballett: Es dauert 15 Minuten, die Musik ist sehr schnell von Anfang bis Ende, ideal, um sich die Beine zu brechen. Xenia hat Fouettés haufenweise, oh-la-la!, Helga Sprünge auf Spitze, Ray und Hugo enorme Sprünge und ich habe Drehungen und Schrittfolgen, dass ich nicht mehr weiß, wo meine Beine sind. Und das alles machen wir praktisch umsonst, denn es ist eine Veranstaltung der Staatsoper. Der Kultusminister von Baden-Württemberg hat fünfzig internationale Germanisten nach Schloss Ludwigsburg eingeladen – und wir werden der Höhepunkt der Veranstaltung sein. Nach der Besichtigung der 200 Jahre alten prächtigen Schlossanlage wurden die Gäste in das Schlosstheater geführt und dann ging der Vorhang auf für unser Ballett, und das war nun wirklich wunderbar. Wir hatten die Kostüme vom „Bal Champêtre“ mit weißen Perücken, das alles vor den alten Originaldekorationen! Die Bühne war gar nicht so klein, ein sehr guter Bühnenboden mit einer leichten Schräge – wie in französischen Theatern. Niemand ist hingefallen, ich habe alle meine Pirouetten erfolgreich abgeliefert. Dann ging es bei Kerzenlicht durch das Schloss zu einem stimmungsvollen Champagnerempfang – wirklich ein großes Erlebnis. Auch die Herren Germanisten waren sehr beeindruckt. In unserem nächsten Ballettabend warten dann zwei große Aufgaben auf mich: ein Pas-de-deux „Duo“ von Beriozoff zur Musik von Benjamin Brittens „Soirées musicales“ und „Le Spectre de la Rose“, eine berühmte Choreographie, die Michael Fokin nach Carl Maria von Webers „Einladung zum Tanz“ 1911 für die Kar­ savina und Nijinsky geschaffen hat. „Le Spectre“ ist der Traum eines jungen Mäd-

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chens, das von einem Ball heimkehrt und nun mit dem „Geist der Rose“ tanzt. Ich habe mir damals die ganze Choreographie aufgeschrieben. Hier ist ein kleiner Ausschnitt vom Anfang:

Acht Takte nach Musikbeginn auf die Bühne gehen, in der Mitte stehen bleiben und die Rose in meiner Hand betrachten. Dann zum Fenster gehen, den Schleier ablegen, in den Sessel setzen und beim Einschlafen die Rose langsam sinken lassen. Nun tritt mein Partner auf, Hugo Delavalle. Tanz des Spectre. Wenn er hinter meinem Sessel steht, hat er noch acht Takte ports de bras. Tiefes Einatmen von mir über vier Takte, weitere vier Takte, um den Kopf nach links zu drehen, vier Takte zum Heben des rechten Armes, vier Takte für beide Arme und acht Takte zum Aufstehen und Nach-vorne-Kommen. Petite menée en arrière (vier Takte), arabesque croisée (vier Takte), promenade en dehors, tomber attitude pliée und das Ganze noch einmal. Dann demi enveloppé, gehen, gehen, kleine arabesque zum Fenster, enveloppé, gehen und arabesque. Nun gehen, gehen, Rücken an Rücken zum anderen Fenster, umdrehen, port de bras und noch einmal, dann promenade au jarret, den Kopf auf die Schulter des Spectre gelehnt, dann vier Schritte, ihn ansehen, dreimal enveloppé und wieder in den Sessel. Neuerlich Tanz des spectre, dann kommt er zu mir und … … so weiter über fünf Seiten. Das Ganze war sehr romantisch, aber nicht leicht zu tanzen. Am Abend war danach Pause, dann folgte gleich der Pas-de-deux-„Duo“, eine richtige Bravour-Nummer. Ich war also ganz schön gefordert mit diesem Programm, das wir diesmal nicht im Theater, sondern in der Liederhalle, einem modernen Konzertsaal mit leichter Bühnenschräge (!) aufführten.

Dienstag, 19. Januar 1960 Oh-là-là! Meine Füße, was die aushalten müssen, diese Blasen! Immerhin, heute ist die Probe ganz gut gelaufen – ich klopfe auf Holz! Fouettés auf einer schrägen Bühne und meine Variation im „Duo“ – alles sehr schnell. Glücklicherweise kann ich morgen noch daran arbeiten. Aber ich bin zufrieden und das gibt mir Kraft. Immer im letzten Augenblick! Premiere ist am 22.! Samstag, 23. Januar 1960 Wir hatten ein tolles Publikum und viel Erfolg. Mein Gott, dieser Applaus – so etwas habe ich noch nie erlebt. Heute und morgen haben wir frei. Ich werde schlafen und dann an meiner Variation arbeiten.

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Dienstag, 26. Januar 1960 Gestern, am Ende vom Adagio im „Duo“ ist an einem Spitzenschuh das Band gerissen. Zum Nähen war dann hinter der Bühne keine Zeit, also habe ich das Band einfach um den Schuh gewickelt und mit einem Klebeband befestigt. Das hat gehalten und sah auch noch ganz hübsch aus! Ganz schön viel zu tun und jetzt steht auch noch der Opernball kurz bevor.

Montag, 1. Februar 1960 Grundsätzlich sollten alle Solisten am Opernball auftreten. Ich werde vielleicht einen Pas de deux mit Hugo tanzen. Aber jetzt gibt es da ein paar Tänzerinnen, die wollen das verhindern. Sie sind neidisch auf meine Erfolge und intrigieren kräftig gegen mich. Mittwoch, 3. Februar 1960 Ich weiß noch nichts wegen des Opernballs. Donnerstag, 4. Februar 1960 Ich tanze nicht beim Opernball. Samstag, 6. Februar 1960 Heute ist der Opernball – und ich tanze mit Ray das „Duo“. Das ganze Theater duftet nach Blumen! Sonntag, 7. Februar 1960 Also, ich habe mich sehr gut unterhalten auf dem Ball. Bis 6 Uhr früh habe ich getanzt. Wir waren sechs Personen, haben sogar noch einen Tisch erobert und dort acht, neun leere Sektflaschen hinterlassen. Aber ich habe kaum zwei Gläser getrunken, ich war also vernünftig. Der Saal war wieder herrlich, weißer Flieder und Tulpen. Auch der schönste Ball geht einmal vorüber, und es beginnt wieder der harte Alltag. Beriozoff hat in diesem Frühjahr dann noch einen großen Ballettabend herausgebracht: Tschaikowskys „Schwanensee“. Die weibliche Hauptrolle, Prinzessin Odette, hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugetraut, aber ich hatte drei sehr schöne Soloaufgaben: den Grande Valse im 1. Akt mit Ray Barra, einen der zwei großen Schwäne mit Georgette Tsinguirides im 2. und 4. Akt und den immer wieder so beliebten Bojarentanz im 3. Akt. Da auch die anderen Programme weiterliefen, hatte ich also reichlich zu tanzen und ich war glücklich.

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Wenn man so in diesen Seiten meiner Erinnerungen blättert, da könnte man nun leicht auf den Gedanken kommen, mein ganzes Leben würde nur aus Tanz bestehen. Natürlich war das immer ganz wichtig für mich, das waren meine Wünsche, meine Kämpfe, meine Ziele: Bewegung und Tanz sind wichtige Teile meines Lebens. Aber da gibt es noch ein anderes und das ist die Malerei. Sie begleitet mich schon seit früher Jugend, betreut und gefördert von meinem Vater, und sie ist ein wichtiger Faktor in meinem Leben geblieben, Ausgleich nach großen körperlichen Anstrengungen, Ausgleich auch nach emotionalen Berg- und Talwanderungen. Es kann durchaus Wochen geben ohne einen Pinselstrich von mir, aber dann genügt ein kleiner Anlass, um einen Malrausch auszulösen. Mein Zimmer in Stuttgart sah aus wie das Bühnenbild im 1. Akt der Oper „La Boheme“: Staffelei, Farben, Pinsel, das ganze Malzubehör und alles auf kleinstem Raum. Wenn mir dann der Blick aus meinem Fenster, den ich unzählige Male festgehalten habe, nicht mehr genügt hat, dann bin ich eben hinausmarschiert in die Natur.

Mittwoch, 24. Februar 1960 Am letzten Montag habe ich am Nachmittag einen Waldspaziergang gemacht. Es war so schönes Wetter, ich habe nicht daran gedacht, dass es noch Schnee geben könnte, also bin ich mit Stöckelschuhen gegangen. Glücklicherweise war der Schnee weder zu hart noch zu weich. Ich hatte meinen Zeichenblock und die Farben mitgenommen und ich habe ein Waldbild gemacht. Ich hatte kein Wasser mit, also habe ich Schnee genommen, später dann meine Spucke. Weil mir zu kalt wurde, bin ich dann ins Theater gegangen, wo ich das Bild fertig gemalt habe. Die weiße Tube war leer, also habe ich es mit Zahncreme versucht, aber das war zu fett. Doch dann mit Schuhcreme ging es sehr gut, das gab schöne Licht­effekte, sehr lebendig, obwohl es nur Bäume waren. Ich bekam viele Komplimente und einer Kollegin gefiel das Bild so gut, ich habe es ihr geschenkt. Nach der Probe dann, zu Hause, habe ich aus der Erinnerung noch einmal das Bild gemalt, diesmal mit einer kleinen Hütte. Es ist ganz anders geworden als das erste, aber ich finde es auch ganz gut gelungen. Da die Farben noch ganz frisch waren in meinem Kopf, habe ich dann noch einmal gemalt, jetzt ist das dritte dem ersten Bild ganz ähnlich. Sonntag, 8. Mai 1960 Heute ist Muttertag in Deutschland. Alle Welt feiert, denn herrliches Wetter begleitet den Tag. In der Stadt ist es ruhig, auch bei uns im Haus: kein Mensch zu hören, nichts. Ich fühle mich schrecklich einsam und so ziehe ich dann am späten Nachmittag los, den Zeichenblock unterm Arm, hinauf auf die Höhen

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von Stuttgart. Es ist immer noch schön und warm, ich lasse mir Zeit, komme durch Winkel, die ich bisher nicht kannte. Es macht mich glücklich, die Schönheit der Stadt aufzunehmen, ein leichter Abendwind und unendliche Ruhe. Auf dem Rückweg, vor dem Schaufenster eines Antiquitätenhändlers, habe ich lange gestanden. Da gab es so viele Dinge, die mir gefallen hätten … Freitag, 17. Juni 1960 Heute Mittag bin ich ganz allein mit der Straßenbahn zum Schloss Solitude gefahren und habe dann einen langen Spaziergang durch die Wälder gemacht. Zu Hause habe ich dann meine Eindrücke gemalt: Bäume, die sich im Wasser spiegeln. Nicht so schlecht, aber es könnte noch besser sein! Mal sehen, was Papa dazu sagt. Damit sind wir nun am Ende meines zweiten Theaterjahres angekommen. Ich durfte mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein. Man hatte mir schöne, interessante Aufgaben anvertraut, die ich mit Erfolg lösen konnte, ich bin in der Compagnie endlich als Solotänzerin anerkannt und mein neuer Solovertrag ist auch bereits unterschrieben.

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Stuttgart 1958/59

Abb. 23: „Giselle“ Bauern-Pas de deux mit Hugo Delavalle

Abb. 24: „Der Nussknacker“, Clara (2. Akt)

Abb. 25: 3. Akt, Grand Pas de deux mit Hugo Delavalle

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Stuttgart 1959

Abb. 26: „Attis und die Nymphe“ mit Donald Barclay

Abb. 27: „Die vier Temperamente“ mit Gerd Praast

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Stuttgart 1960

Abb. 28: „Le Spectre de la Rose“ mit Hugo Delavalle

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Abb. 29: „Duo“ mit Ray Barra

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Abb. 30: „Duo“

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an hatte schon lange darüber geredet, es gab viele unterschiedliche Informationen, falsche und richtige, im Wesentlichen waren es aber doch nur Gerüchte, die von einem Wechsel in der Ballettleitung unseres Hauses zu berichten wussten. Ich habe erst sehr viel später den wahren Ablauf der Geschichte erfahren – in den Erinnerungen des Generalintendanten Walter Erich Schäfer:9 Beriozoff wollte zu seiner Entlastung für die neue Spielzeit wieder einen Gastchoreographen, denn Werner Ulbrich war jetzt Ballettdirektor an der Deutschen Oper am Rhein (Düsseldorf-Duisburg) und kam für eine Gastchoreographie leider nicht mehr in Frage. So machte Beriozoff dem Intendanten zwei Vorschläge, Kenneth MacMillan und John Cranko, junge Choreographen aus London. Da Cranko gerade Zeit hatte, entschied man sich für ihn. Sein Ballett „The Prince of the Pagodas“ zur Musik von Benjamin Britten war im Januar 1957 vom Royal Ballet im Covent Garden sehr erfolgreich aufgeführt worden – mit Svetlana Beriosowa, der Tochter von Nicholas Beriozoff in der weiblichen Hauptrolle. Nun sollte „Der Pagodenprinz“ also auch nach Stuttgart kommen. Obwohl ich den Namen Cranko inzwischen schon gehört hatte und auch vom „Pagodenprinz“ bereits die Rede gewesen war, kommt es für mich völlig überraschend, als mich Beriozoff im Sommer 1960 nach London schickt, um mit seiner Tochter Svetlana am „Pagodenprinz“ zu arbeiten.

19. Juli 1960 Nicholas Beriozoff an Micheline Faure Liebe Micheline, es tut mir sehr leid, dass wir uns nicht getroffen haben. Jedenfalls danke ich Ihnen für den Brief und ich werde Sie in London sehen. Ich werde am 13. August dort sein und wenn Sie am Sonntag, dem 14. kommen, können Sie sofort mit ihrer Rolle im „Pagodenprinz“ beginnen. Schreiben Sie mir Ihre Ankunftszeit, ich werde Ihnen in der Nähe ein Zimmer besorgen. Ich wünsche Ihnen schöne Ferien, viele Grüße N. Beriozoff Sonntag, 14. August 1960 Heute war ich mit Beriozoff bei seiner Tochter Svetlana zum Mittagessen eingela9 Walter Erich Schäfer: „Bühne eines Lebens – Erinnerungen“, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1975.

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den. Was für ein Riesenhaus, nach meiner Meinung viel zu groß! Weiße Mauern wie in einem Schloss, überall schwere dunkelrote Vorhänge, eine Bibliothek mit herrlichen Büchern – aber alles irgendwie ohne Leben, kalt. Montag, 15. August 1960 Heute habe ich das Training mitgemacht, wir waren mindestens vierzig Tänzerinnen, an der Stange hatte man gerade noch 50 Zentimeter Platz, eine klebte an der anderen. Ich habe nicht sehr gut gearbeitet, ich hoffe aber, dass es morgen besser geht. Heute Abend gehe ich in The Royal Ballet zur Eröffnung der Spielzeit. Hoffentlich klappt es diese Woche mit den Proben für „Pagodenprinz“. Dienstag, 16. August 1960 Heute ist großes Programm, um 10 Uhr Training bis 12.30 Uhr, dann Zuschauen bei der Probe des Festival Ballet und um 16 Uhr Probe mit Svetlana für den 3. Akt „Pagodenprinz“. Mittwoch, 17. August 1960 Gestern habe ich toll gearbeitet. Herr Beriozoff, der zugesehen hat, war sehr zufrieden mit mir. Pas de deux und Variation sind wunderschön, aber auch sehr schwierig. Wahrscheinlich soll Helga Heinrich bei uns die Hauptrolle tanzen. Beriozoff meinte zu mir, sie werde es wohl ablehnen und dann sei ich dran. Er findet, das ganze Ballett drehe sich nur um die Hauptrolle, der Rest sei nicht so interessant. Ich werde also den Pas de deux lernen und die Variation. Es ist nicht sicher, dass Cranko nach Stuttgart kommt, um das Ballett einzustudieren. Dann würde Herr Beriozoff eine eigene Choreographie erarbeiten. Ich werde wohl etwas länger in London bleiben müssen, denn Svetlana hat nicht jeden Tag Zeit, um mit mir zu arbeiten. Die arbeitsreichen Tage in London gehen schnell vorüber, und die neue Spielzeit in Stuttgart beginnt mit ganz unterschiedlichen Nachrichten: Mal heißt es, ich werde „Pagodenprinz“ tanzen, dann wieder nicht – es geht ewig hin und her. Dieser September, der hat mich wirklich fertig gemacht und aus lauter Verzweiflung habe ich mich schließlich in die Schneiderei gerettet.

Sonntag, 4. September 1960 Vor ein paar Tagen hatte ich mir einen schönen Kleiderstoff gekauft und gleich ein Schnittmuster dazu. Heute haben sie mich im Theater gefragt, ob ich das

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Kleid in Paris gekauft habe! Alle finden es sehr elegant, ich bin natürlich stolz darauf. In einem Kaufhaus habe ich für die Tochter meines Lehrers Paul Goubé ein Gummitier gefunden, das Quietschgeräusche produziert. Als ich es in der Kantine ausprobiere, haben mich alle ausgelacht: Ich sei wie ein Kind, elegant anziehen und dann Spielsachen kaufen. Es stimmt schon, ich bin ein bisschen verrückt, ich bin nervös und möchte immer nur lachen! Schrecklich! Dienstag, 6. September 1960 Wie mir Ray Barra sagt, möchte Beriozoff, dass wir beide zusammen „Pagodenprinz“ tanzen. Die Proben sollen bald beginnen. Youpi! Für mich ist die Welt also wieder in Ordnung: Beriozoff bleibt Ballettmeister, und ich habe gleich am Beginn der neuen Spielzeit eine schöne, interessante Aufgabe. Ganz anders sieht das meine Mutter, die ja völlig theaterfremd ist und sich für ihre Tochter eine andere, eine ruhige, ausgeglichene Berufswelt wünscht, ohne Aufregungen, ohne Konkurrenzneid, ohne Sensationen oder Enttäuschungen. Obwohl ich meinen neuen Vertrag längst unterschrieben habe, wendet sie sich mit ihren Sorgen wieder einmal an die Theaterleitung. Beruhigend muss Dr. Rolf Badenhausen, der persönliche Referent des Generalintendanten, eingreifen.

Dienstag, 6. September 1960 Dr. Rolf Badenhausen an Madame Faure Sie können versichert sein, dass ich mich auch nach meinem Fortgang von Stuttgart Mitte Oktober um die Arbeit Ihrer Tochter kümmern werde. Ich würde Ihnen raten, dass sie jetzt erst einmal ihre Arbeit wie bisher in Stuttgart fortführt; Anfang November werden wir weitersehen, wie sich das ganze Ballett im übernächsten Jahr hier entwickeln wird. Bisher hat sie in Herrn Beriozoff einen sehr guten Lehrer und Förderer gehabt, bei dem sie sich auch gut entwickeln konnte. Sowie ich weiß, wie sich die Dinge hier entwickeln werden, werde ich mit unserem Generalintendanten sprechen, wie die Aussichten für Ihr Fräulein Tochter im übernächsten Jahr aussehen werden und wer die Leitung des Balletts in Stuttgart übernimmt. Sie können also ganz beruhigt sein, dass Micheline vorläufig in guten Händen ist. Ich verspreche Ihnen, mich früh genug an Sie zu wenden und Ihnen zu berichten, wie die Dinge hier stehen. Meine Mutter ist immer in übergroßer Sorge um mich: Geht es mir nicht gut, schickt sie Hausrezepte oder Vitamintabletten, zur Aufbesserung meiner Garderobe Schnittmuster, Strick- und Stickvorlagen und Lektürevorschläge, um mein Bildungsniveau zu verbessern – alles garniert mit präzisen Verhaltensregeln.

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Manchmal ist das ein bisschen hart, aber immer gut gemeint. Ich berichte dafür seitenlang über mein Leben im Tanz, über die Proben, die Vorstellungen, die Hoffnungen, die Enttäuschungen  – als ob es nichts anderes auf der Welt gibt. Aber mein Leben besteht auch in dieser Zeit nicht nur aus dem Tanz. Von meiner Malerei habe ich schon berichtet, die beschäftigt mich regelmäßig, und gerade in der Stuttgarter Zeit sind ein paar Bilder entstanden, auf die ich heute noch stolz bin, so stolz wie auf meine Modekreationen. Und ich nutze auch die Gelegenheit, an einem Opernhaus engagiert zu sein, um meine spärlichen Opernkenntnisse zu verbessern – mindestens einmal in der Woche gehe ich in die Oper. Das hat allerdings noch einen anderen Grund, denn es gibt da seit einiger Zeit einen jungen Mann an meiner Seite, der sich sehr gut in der Oper auskennt und der mir auf diesem Weg behilflich ist. Als ich meinen Eltern irgendwann ganz vorsichtig von diesem „jungen Mann“ berichte, löst das sofort Alarmstufe Rot aus. Ich versuche aber zu beruhigen und das Ganze möglichst herunterzuspielen, obwohl Robert inzwischen einen wesentlichen Teil meiner Freizeit ausfüllt – er ist auch heute noch der Mann an meiner Seite. Aber schon bin ich wieder beim Thema Tanz, denn auch hier habe ich mir langsam ein neues Gebiet erobert. Gunther Eggert, ein Tänzer aus der Compagnie, hat privat eine kleine Tanzgruppe gegründet und unterrichtet dort Jazzdance, Step und Primitive Dance. Ich bin fleißig mit dabei, es macht Riesenspaß. Doch zurück zum Ernst:

Dienstag, 13. September 1960 Es scheint, dass Cranko doch selbst nach Stuttgart kommt, um den „Pagodenprinz“ einzustudieren. Und natürlich möchte jetzt Xenia die Hauptrolle tanzen! Freitag, 16. September 1960 Heute sagte mir Dr. Badenhausen, dass er meiner Mutter geschrieben habe. Und in der Oper „Capriccio“ von Richard Strauss gebe es eine schöne Rolle für mich. Aber den „Pagodenprinz“ muss ich wohl vergessen. Am 3. Oktober kommt Cranko! Das wird eine anstrengende Zeit, denn die Premiere soll schon am 4. November sein! Doch eine Entscheidung über die Besetzung gibt es immer noch nicht, die will Cranko selbst treffen. Und dann ist er wirklich da, kommt am Vormittag in den Ballettsaal, schaut sich das Training an und eine Probe aus unserem laufenden Repertoire – ohne Kommentar. Für den Nachmittag bestellt er sich nur vier Solisten, Ray Barra und Robert de Warren, unsere Primaballerina Xenia Palley und mich. Es werden sehr intensive Stunden, aber ein Ergebnis wird zunächst nicht bekanntgegeben.

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Freitag, 7. Oktober 1960 Gestern war Cranko beim Training und bei einer Probe dabei, für mich lief es nicht so gut. In der Kantine kam dann Cranko mit Beriozoff an meinen Tisch und stellte mich einem anderen Herrn in seiner Begleitung als „die Tänzerin, die Belle Rose tanzen wird“, vor. Was für eine Überraschung! Ich konnte dann noch mit Beriozoff allein reden, er meinte, Cranko gefalle mein Stil gut. Es würde aber sicher noch viel Ärger mit den anderen Solistinnen geben! Das war also der Tag 1 mit John Cranko! Robert de Warren beschreibt in seiner Autobiographie10 diesen Tag sehr ausführlich, wenn auch mit einigen bissigen Randbemerkungen. Verständlich, denn es hatte sich ja der Vorschlag von Beriozoff durchgesetzt und Ray Barra und ich, wir sollen nun den „Pagodenprinz“ tanzen. Die Probenarbeit beginnt sofort am nächsten Tag.

Mittwoch, 12. Oktober 1960 Ich habe mit Cranko über meine Angst gesprochen, dass ich vielleicht nicht gut genug bin für diese Rolle. Er meinte, er sei sicher, dass ich es schaffen würde. Jetzt sei es vor allem wichtig, alles zu lernen. Es ist sehr schön, mit ihm zu arbeiten. Er hat viel Geduld und erklärt alles bis ins letzte Detail. Das ist kein oberflächliches Choreographieren, das ist eine Arbeit, die echt in die Tiefe geht. Und er spricht fließend Französisch! Donnerstag, 13. Oktober 1960 Gestern Abend haben wir mit Ray von 18.30 bis 21 Uhr gearbeitet. Es ging mir ganz gut, aber heute bin ich total fertig. Sechseinhalb Stunden Probe jeden Tag, das ist viel. Und dann eine schreckliche Nacht, wo ich immer nur tanze – und mich von einer Seite auf die andere drehe. Und heute Abend „Schwanensee“ – meine armen Füße! Samstag, 15. Oktober 1960 Gestern Abend war Cranko zufrieden mit mir, er meinte, ich würde das alles „sehr berührend“ umsetzen. Unser neuer Kollege Robert de Warren, der Svetlana Beriosova von der Arbeit in London kennt, meinte, heute bei der Probe hätte ich getanzt „wie Svetlana“. Na ja! Montag beginnen die Bühnenproben.

10 Robert de Warren: Destiny’s Waltz, New York: Eloquent Books 2009.

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Donnerstag, 20. Oktober 1960 Heute habe ich den Anfang vom 3. Akt gelernt und Ray hat mir nachher erzählt, Beriozoff habe Tränen in den Augen gehabt. Hoffentlich gelingt es mir, auch das Publikum zu rühren. Gestern bei der Bühnenprobe hat der Pas de deux alle begeistert, obwohl ich nicht sehr gut war. Aber die Choreographie ist so herrlich! Meine Füße machen wieder Probleme – und auch meine Nerven. Beriozoff meinte, das passiere jeder Ballerina, vor der Premiere etwas nervös zu werden und ein bisschen zu weinen. Ich solle mir nichts daraus machen. Wirklich, alle behandeln mich so liebevoll. Freitag beginnen die Orchesterproben, Montag ist Hauptprobe. Sonntag, 23. Oktober 1960 Gestern wollte ich zur Probe meine neuen Spitzenschuhe ausprobieren. Das hat so weh getan, dass ich geheult habe. Herr Cranko ist sehr nett zu mir. Er hat mir gesagt, ich solle zwei bis drei Tage nicht mit Spitzenschuhen probieren. Ich habe mich schnell beruhigt. Cranko meint auch, ich solle bei den Proben, wenn viele Leute zusähen, nur an mich selbst denken: Ich bin ich, was andere meinen oder sagen, interessiert mich nicht. Selbst wenn mir etwas nicht gelingt: ICH BIN ICH! Cranko hat Vertrauen zu mir, und ich hoffe, ihn nicht zu enttäuschen. Crankos Choreographie ist kompliziert und so versuche ich am Beginn der Probenzeit einige Notizen als Gedächtnisstütze zu machen. Es war damals noch mühsam, wenn man eine Choreographie aufzeichnen wollte: Es gab kein Video, es gab nur eine sehr komplizierte Tanzschrift nach Laban, die Laban-Notation, und die später sehr erfolgreiche Benesh-Notation wurde gerade erst erfunden. Ich habe mir damit beholfen, die mit mir erarbeiteten Choreographien einfach als Text aufzuschreiben, mit den entsprechenden Bezeichnungen für die einzelnen Figuren und Schrittfolgen in der Sprache des Balletts. Es ist eine komplizierte Sprache, wer sie nicht beherrscht, der wird auch mit einer Übersetzung der Begriffe wenig anfangen können. Hier also als Beispiel meine erste Szene in Crankos Ballett „Der Pagodenprinz“:

Der Narr, mein guter Diener, hat gerade den Zwerg weggeschickt, kniet nun auf der linken Bühnenseite und ruft Belle Rose. Ich trete auf und streichle seine Haare. Er zieht mich zwei Schritte nach hinten, aber ich will nicht. Ich gebe ihm die rechte Hand und mache auf Spitze: Relevé grand rond de jambe, posé dégagé relevé de la droite, noch einmal:

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Grand rond de jambe et dégagé, dann faillite et effectuer, avec la jambe droite un rond de jambe passé dans le jarret, Dann: Arabesque pas de bourrée, saut de basque, tour arabesque, ein kleines Anhalten, dann auf die linke Bühnenseite laufen. Der Narr versucht wieder, mich zu ziehen, ich entziehe ihm die Hand, dann drei Schritte rechts – links – rechts, relevé arabesque relevé arabesque penchée et tirer en arrière – das Ganze zweimal, dann zum Narren laufen. Un tour en dedans, attrapper le pied und vier ports de bras, dann chassé rond de jambe de la droite, de la gauche fini de dos und laissez aller en arrière, pas de bourrée en tournant arrière avant arrière avant, préparation (linke Bühnenseite), pas de bourrée, grand jeté, relevé, degagé de la droite, pas de bourrée en tournant, arabesque, piqué arabesque und das Ganze noch einmal. Beim dritten Mal nur ein grand jeté, nach vorne kommen, zum Narren gehen, ihm pantomimisch „Nein“ sagen, dann unentschieden (linke Bühnenseite), eine Vierteldrehung nach rechts – nach links – nach rechts – nach links, pas, pas et port de bras zum Narren. Das ist natürlich nicht die Aufzeichnung einer Choreographie, das ist nur ein nüchterner, technischer Hilfszettel, eine Gedächtnisstütze vom ersten Probentag, die man später nicht mehr benötigt. Entscheidend ist ja die inhaltliche Aussage einer Choreographie und gerade Cranko hat in seinen Handlungsballetten größten Wert gelegt auf die Darstellung, auf die Entwicklung der Charaktere, und er hat so das doch eher schematische Vokabular des klassischen Balletts mit Leben zu erfüllen versucht. So führt bei ihm ein Pas de deux nicht zum Stillstand der Handlung, sondern im Gegenteil zu einer Intensivierung der menschlichen Beziehungen, etwa wie eine Großaufnahme im Film. Diese Dinge aber, die erarbeitet man in der Probenzeit und die muss man auch nicht aufschreiben, denn sie sind längst persönlicher Besitz geworden. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt bei der choreographischen Arbeit von John Cranko: Es war bei einer Probe für ein anderes Ballett, ich habe Pause, sitze am Rand mit Spitzenschuhen und habe die Füße im rechten Winkel abgebogen, was irgendwie komisch aussieht – antiklassisch. Cranko sieht das und meint: „Das bauen wir gleich ein.“ Und so geschieht es auch – heute ist diese Bewegung

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längst selbstverständlicher Allgemeinbesitz geworden. So ist Cranko immer auf der Suche nach unkonventionellen Elementen, die er dann in seine Choreographie einarbeitet. Und so genügte es auch, wenn er innerhalb einer Gruppe einen Tänzer bewusst mit dem falschen Fuß beginnen lässt, um in kürzester Zeit das sorgfältig aufgebaute Bewegungsuhrwerk einer Choreographie völlig durcheinanderzubringen. Cranko verfügte da über eine besonders subtile Variante britischen Humors. Und dann kommt endlich der Tag der Premiere. Das Interesse ist riesengroß, denn es ist die erste Choreographie von John Cranko in Deutschland. Schon am Morgen spürt man die Veränderung: Hektik und Nervosität im Theater, viele fremde Gesichter, deutsche und ausländische Journalisten, zahlreiche Gäste aus London. Wir auf der Bühne spüren das auch, denn es ist plötzlich ein ganz anderes Publikum als sonst, bei jedem Auftritt der Solisten gibt es einen Begrüßungsapplaus – das hatte es in Stuttgart noch nie gegeben. Auch ich befinde mich da plötzlich in einer neuen Situation: Im 1. Akt, am Ende meiner Variation, bleibe ich nach einer Arabesque mit gesenktem Kopf kniend auf der Bühne, die Musik endet, dann hebe ich den Kopf, mein Partner tritt auf, Musikbeginn. So ist das einstudiert. Nun, bei der Premiere, gibt es nach dem Ende der Musik plötzlich einen Riesenapplaus. Damit habe ich nicht gerechnet und ich weiß auch zunächst nicht, was ich tun soll, bleibe also unbeweglich und warte auf das Ende des Beifalls. Es dauert ewig lange, aber erst dann hebe ich den Kopf, mein Partner tritt auf, es geht weiter. In der Pause kommt Cranko in die Garderobe, umarmt mich und meint: „Ich habe ganz fest die Daumen gedrückt und immer wieder gedacht: Bleib am Boden, rühr dich nicht – und du hast das perfekt gemacht. Du bist eine echte Ballerina!“ Die Premiere wird ein großer Erfolg, auch wenn dann in der Presse vereinzelt leise Kritik an der Choreographie geübt wird. Ich kann mit meinen Kritiken zufrieden sein – bis auf eine einzige. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. November schreibt „ofr“ nur einen einzigen Satz über mich:

Belle Rose ruhte auf den zarten Füßen der anfängerhaften Micheline Faure, die noch so sehr im Puppenklischee steckt, dass das Bedeutungslose ärgerlich wirkt. Mir war natürlich bewusst, dass unsere Aufführung nicht die Qualität der Londoner Produktion mit Svetlana Beriosova haben konnte. Aber nach dieser Kritik, da war ich richtig krank, ich hatte Fieber, mir war schlecht, es war entsetzlich. Bei der zweiten Vorstellung ist mir sogar auf der Bühne schlecht geworden, wir

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mussten meine Variation weglassen, ich war wirklich krank. Natürlich muss man sich in der Öffentlichkeit auch der Kritik stellen, aber ich frage mich manchmal, ob Kritiker sich wirklich bewusst sind, was sie mit ihren Formulierungen anrichten können.

8. Dezember 1960 Cranko sagte mir heute, meine letzte Vorstellung sei wieder sehr gut gewesen und ich hätte es jetzt geschafft, das alles zu verarbeiten. Kurz nach dem „Pagodenprinz“ habe ich gleich noch eine Premiere, die Junge Tänzerin in der Oper „Capriccio“ von Richard Strauss, eine sehr schöne Aufgabe mit drei Tänzen, einem Passepied, einer Gigue und einer Gavotte. Der letzte Monat des Jahres 1960 bringt mir dann noch einmal ein gewaltiges Arbeitsprogramm: „Pagodenprinz“ (1. Dezember). „Capriccio“ (2. Dezember), „Pagodenprinz“ (6. Dezember), „Nussknacker“ (10. Dezember), „Nussknacker“ (12. Dezember), „Pagodenprinz“ (16.  Dezember), „Capriccio“ (21.  Dezember.), „Nussknacker“ (27. Dezember) und schließlich noch „Die Fledermaus“ (31. Dezember). Es war ein wichtiges Jahr für mich, für meine Entwicklung, mit großen Herausforderungen und auch Erfolgen, aber es war auch ein schwieriges Jahr. Zum Jahreswechsel kommt dann das Ende aller Gerüchte, denn nun ist es amtlich: Beriozoff wird Stuttgart verlassen. Obwohl Cranko für seinen „Pagodenprinz“ auch kritische Pressestimmen bekommen hatte, gefiel seine Arbeit, die er im Haus leistete, der Theaterleitung so gut, dass man sich dafür entschied, ihn als Nachfolger von Beriozoff zu engagieren. Beriozoff hatte sich also die Konkurrenz selbst ins Haus geholt. Generalintendant Schäfer beschreibt in seinen Erinnerungen diese Szene:

Es war eines der unangenehmsten und schwierigsten Gespräche meiner Intendantenzeit. Ich legte ihm dar, dass nach der Bekanntschaft mit Cranko es mir besser scheine, wenn dieser bleibe und er, Beriosow, sich nach einer anderen Ballettmeisterstelle umsehe. Beriosow hielt sich ausgezeichnet … Nach kurzer Pause meinte er, unsere weitere Zusammenarbeit habe nur einen Sinn, wenn ich von dem Nutzen seiner Tätigkeit überzeugt sei. Sei ich das nicht, so würde auch er, so leid ihm das tue, eine Trennung für sinnvoller halten. Die Unterredung dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Noch heute habe ich vor seiner Reaktion die größte Hochachtung.

100 Entwicklungen und Veränderungen Montag, 2. Januar 1961 Gestern habe ich nach langer Zeit wieder ein Bild gemalt, abstrakt. Immer wenn ich ein Problem habe, hilft mir die Malerei. Und ich habe jetzt ein Problem: Ich bin traurig über den Abschied von Nicholas Beriozoff, dem ich so viel zu verdanken habe. Cranko wird einen Ballettabend in der Liederhalle machen. Er sagte mir, dass es da viel Arbeit für mich geben werde. Sonntag, 8. Januar 1961 Die Vorstellung vom „Pagodenprinz“ gestern war nur so lala. Cranko fand es gut, aber ich war mit mir nicht so zufrieden. Montag, 23. Januar 1961 Am Samstag hat Cranko ein „Modern“-Training gegeben, nicht so wie Gunther, aber interessant. Auch mit etwas „Primitiv“ – harte Arbeit! Ich muss jetzt unbedingt Bilder aus der Zeit um 1920 finden, denn in dem neuen Ballettabend tanze ich im Badeanzug: Es soll aussehen wie ein Stummfilm. Das passt allerdings gar nicht zu meiner Stimmung jetzt, ich habe eine schreckliche Nervenkrise seit einer Woche, grundlos weine ich den ganzen Tag und wenn ich zum Training gehe, möchte ich am liebsten auch noch weinen. Ich war Anfang Januar so froh – und jetzt diese Reaktion. Ich bin schon ein bisschen blöd, immer von einem Extrem ins andere. Mittwoch, 25. Januar 1961 Gestern hat Cranko das ganze Ballett heftig kritisiert, er war wütend, weil die Vorstellung von „Pagodenprinz“ schlecht gelaufen ist. Er kam nach der Vorstellung, gratulierte zunächst Helga und mir, aber dann ging es los. Ray hat ganz schön was einstecken müssen! Jetzt probieren wir vormittags und abends „Pagodenprinz“. Drei Solisten, die zu einer Ballettpremiere nach Basel fahren wollten, durften nicht weg und mussten probieren. Cranko übertreibt schon etwas, er kritisiert die Solisten vor der Gruppe (mich noch am wenigsten). Heute war er wieder ganz gut gelaunt. In dem neuen Ballettabend für die Liederhalle gibt es zahlreiche Einzelnummern – mit allen Solisten außer Xenia: Tango, Polka, Akrobatisches. Mein Solo heißt „Schnulze“. Am 10. Februar soll der Choreograph Kenneth MacMillan aus London kommen, er wird auch einen Ballettabend in der Liederhalle machen. Ich bleibe auch in der nächsten Spielzeit in Stuttgart, aber ich werde in Zukunft wohl ziemlich kämpfen müssen!

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Das mit dem Kämpfen, das kommt schneller als erwartet. Wir haben „Nussknacker“ wieder aufgenommen und jetzt sollte ich wieder alle Partien der Clara tanzen, das junge Mädchen im Vorspiel und auch die Ballerina im 3. Akt.

Sonntag, 5. Februar 1961 So, die Vorstellung ist gelaufen und ich bin zufrieden. Ich weiß, alle haben geglaubt, ich würde mir den Hals brechen – und dann gab es nur Gratulationen. Es war sicher meine beste Vorstellung. Im Grand Pas de deux im 3. Akt gab es Sonderapplaus, weil ich die Balance so lange gehalten habe. Cranko war sehr zufrieden. Hugo war im Zuschauerraum, er meinte zu Cranko, er habe mich nicht mehr wiedererkannt. Gestern dann für den Opernball habe ich meine Frisur komplett verändert, dazu das schicke Kleid: Es gab viele Komplimente. Cranko erwischte uns einmal im Gedränge und flüsterte mir ins Ohr: „Wie schön du bist heute Abend!“ Das habe ich noch ein paar Mal gehört, das hört man immer gerne. Ich selbst habe nur wenig gesprochen, vielleicht zehn Sätze im Ganzen. Ob ich gerade deshalb so viel Erfolg hatte? Dienstag, 21. Februar 1961 „Schwanensee“ gestern war eine ganz gute Vorstellung. Dabei hatte ich am Vormittag nicht gut probiert, es gab so viele Leute, die zugesehen haben, darunter auch die Assistentin von MacMillan und so habe ich gestern noch geglaubt, diesmal hätte Xenia Palley bei der Besetzung von „Solitaire“ gewonnen. Heute nun sagt mir Cranko, dass ich die Hauptrolle tanzen werde. Damit es nicht so viel Wirbel gibt, will er noch die nächste Vorstellung abwarten, bevor er es bekanntgibt. Youpi! Mittwoch, 8. März 1961 Heute sind alle Proben gut gelaufen – ich bin zufrieden. Wir haben „Solitaire“ ohne Unterbrechung durchgespielt, es dauert eine halbe Stunde. Ganz schön anstrengend! Ich tanze in diesem Ballettabend in drei verschiedenen Choreographien, wechsle also jedes Mal mit der Musik auch den Tanzstil, von „Divertimento (einer klassischen Choreographie von John Cranko auf Musik von Mozart) über „Familienalbum“ (einer burlesken Ballett Pantomime von John Cranko auf Musik von William Walton) bis zu „Solitaire“ (einer modernen Choreographie von Kenneth Macmillan auf Musik von Malcolm Arnold).

102 Entwicklungen und Veränderungen Bei ihren Besuchen in Stuttgart hatte meine Mutter auch Freunde von mir kennengelernt, Salvatore Poddine, einen Tänzer aus unserer Compagnie, verheiratet mit Herta, einer Malerin, beide enge Freunde von John Cranko. Nach der Premiere des Ballettabends in der Liederhalle schreibt Herta an meine Mutter:

Montag, 20. März 1961 Herta Poddine an Madame Faure Ich möchte Ihnen sagen, Micheline war hervorragend bei der Premiere in der Liederhalle. „Solitaire“ hätte man nicht besser machen können. John Cranko ist sehr zufrieden und hat noch viel vor mit ihr, er schätzt die Arbeit mit Micheline. Ihre Tochter ist eine zauberhafte Persönlichkeit, die man am liebsten unter eine Schutzhaube stellen würde. Sie entwickelt sich in kleinen Schritten, aber sie wird noch weit kommen. Das ist ihr selbst wohl gar nicht so bewusst. In „Solitaire“ war sie so berührend! Sie weiß genau, was sie zu tun hat, und ihre Fortschritte seit einem Jahr sind bemerkenswert. John Cranko wird ihr eine große Hilfe sein. Da ich in diesem Jahr sogar Ostern bei den Eltern von Robert verbringe, ist meine Mutter in höchster Alarmbereitschaft und sie schickt eine gute Freundin aus Paris nach Stuttgart. Clara Candiani ist in Frankreich sehr populär als Radiojournalistin mit einer eigenen Sendereihe, eine sozial engagierte und starke Frau. Sie soll also jetzt den „jungen Mann an meiner Seite“ genauer unter die Lupe nehmen. Bei ihrer Ankunft in Stuttgart habe ich gerade Bühnenprobe, also holt Robert sie am Bahnhof ab. Die beiden erkennen sich sofort – und sie verstehen sich prächtig. Wir verbringen also schöne gemeinsame Tage, wir zeigen ihr Stadt und Umgebung, und sie kann mich auch auf der Bühne erleben. Mir wird schnell klar: Diese Prüfung haben wir bestanden, es steht 1:0 für mich.

Sonntag, 9. April 1961 Clara ist großartig, man kann so offen und frei mir ihr reden! Ich habe wieder viel Mut bekommen und neue Angriffsfreude! Sonntag, 16, April 1961 Cranko meint es gut mit mir und so bleibe ich also noch in Stuttgart. Ich glaube, ich kann hier noch viel lernen. Was wohl Clara meinen Eltern über mich erzählt hat? Sonntag, 23. April 1961 Morgen gehe ich zum Arzt und lasse meine Füße behandeln. Cranko hat das vorgeschlagen, denn jetzt wäre es günstig, da man mich aus „Schwanensee“ rausnehmen kann. Immerhin brauche ich danach zehn Tage Ruhe.

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Bei ihrem Besuch in Stuttgart hat Clara Candiani offensichtlich in meinem Denken und Fühlen eine gewisse Veränderung erkannt, wie man aus dem kleinen Gruß, den sie mir später dann aus Paris schickt, vorsichtig herauslesen kann.

Donnerstag, 27. April 1961 Clara Candiani an Micheline Faure Kleiner Sonnenstrahl – bezaubernde Tänzerin – sei glücklich, solide und … gib nicht auf – deinen Tanz! (Nicht nur vor Freude!)! Ich mag dich sehr! Clara Als aufmerksamer und kritischer Journalistin war es Clara Candiani nicht entgangen, dass ich mir Gedanken machte über meine Zukunft als Tänzerin. Bis jetzt war es ja ein sehr erfolgreicher Weg gewesen, geprägt durch harte Arbeit und permanenten Konkurrenzkampf. Wie würde es in Zukunft weitergehen und würde ich auch eines Tages vor der für viele Frauen so entscheidenden Frage stehen: Beruf oder Familie? Es waren nur leise Zweifel, die mich damals beschäftigten, aber sie waren da.

Dienstag, 9. Mai 1961 Gestern habe ich wieder mit Tanzen begonnen, Training und Probe sind gut gelaufen. Montag, 15. Mai 1961 Ich arbeite jetzt an meiner Balance und mache wirklich Fortschritte. Gestern habe ich das ganze Training und die Probe danach auf Spitze gemacht. Meine Füße waren feuerrot. Mittwoch, 14. Juni 1961 Unsere Oper gastiert zurzeit in Strasbourg, Robert ist schon früher gefahren für die technische Einrichtung und Beleuchtung: Ich habe ihn nur einen halben Tag gesehen. Dafür kam das Ballett aus Strasbourg zu uns. Da ich aber eine Einladung für die Vorstellung und den anschließenden Empfang hatte, habe ich mich schick angezogen und bin geschminkt und frisiert ins Theater. Dort dann ein Riesenwirbel um mich, man findet mich „superschick“, „zauberhaft“ und so weiter. Dabei war es für mich ein eher trauriger Tag, weil Robert nicht dabei war. Aber vielleicht hat gerade meine melancholische Grundstimmung diesen Erfolg ausgemacht? Man sollte eben immer seine Gefühle zeigen – außer bei Vertragsverhandlungen! Jedenfalls habe ich an diesem Abend beim Empfang des französischen Konsuls unsere Compagnie gut vertreten – auch ohne zu tanzen.

104 Entwicklungen und Veränderungen Donnerstag, 15. Juni 1961 Das Durcheinander bei uns im Ballett wird immer größer, ein Partner nach dem anderen fällt aus wegen Krankheit. Wir haben genug vom Theater, wir wollen einfach Ferien haben. Aber noch ist es nicht so weit, denn Mitte Juli haben wir noch eine Ballettwoche mit internationalen Gästen. Wir machen uns schon Sorgen, weil wir unsere Repertoirevorstellungen schon lange nicht mehr probiert haben. Freitag, 16. Juni 1961 Heute habe ich mir eine Gemüsemühle gekauft, ein Sieb, vier Salatschüsseln, die man ineinanderstapeln kann, zwölf Küchenhandtücher, drei Staubtücher und einen Plastikgriff zum Fensterputzen. Das sind alles Kleinigkeiten, die man so nach und nach kauft, denn später denkt man nicht mehr daran und irgendwas fehlt immer. Samstag, 9. September 1961 Gestern um 10 Uhr erstes Training und um 15 Uhr erste Probe „Solitaire“. Es ist gut gelaufen, ich habe auf Spitze trainiert und heute habe ich Muskelkater. Das Aufstehen in der Früh ist ein echtes Problem. Ich bin mit Arbeit eingedeckt, täglich von 10 bis 14 Uhr und von 15 bis 20 Uhr. Wir arbeiten an einem neuen abstrakten Ballett von Cranko: „Katalyse“. Mittwoch, 13. September 1961 Robert hat vom sogenannten Zweiten Deutschen Fernsehen, das gerade in Wiesbaden oder Mainz entsteht, ein Angebot für nächstes Jahr erhalten. Falls Robert weggeht von Stuttgart und ich dann dort kein Engagement als Tänzerin finde, könnte ich immer noch Tanz unterrichten? Freitag, 15. September 1961 In der Nähe vom Bühneneingang haben alle Solisten einen eigenen kleinen Briefkasten. Das ist sehr praktisch und für uns war es der schnellste Weg, unsere täglichen Mitteilungen auszutauschen. Da Robert jetzt beim Fernsehen ist und nur noch Gast in der Oper, hat er keinen eigenen Briefkasten mehr im Theater. Nun haben wir uns für meinen Briefkasten einen zweiten Schlüssel machen lassen und das funktioniert ganz gut. Aber es ist schon etwas seltsam, wenn man Post in den eigenen Briefkasten steckt, vor allem, wenn neugierige Kolleginnen dabei zusehen!

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Freitag, 22. September 1961 So, die Vorstellung ist vorüber, ich bin fertig. Es war heute in der „Fledermaus“ wieder ein herrliches, applausfreudiges Publikum. Ich weiß, das ist bei dieser Operette immer so, aber es tut trotzdem gut. Ich war sehr glücklich bei meinem Auftritt, ich gehe die große Treppe hinunter, auf beiden Seiten steht der Chor, man wünscht mir leise „toi-toi- toi“ wenn ich vorbeikomme … Sonntag, 24. September 1961 Gestern war ein schwerer Tag, ich habe „Solitaire“ schlecht getanzt, ich war so verzweifelt. Hoffentlich geht es am 27. besser. Vormittags, vor dem Training, war ich in einem Kaufhaus. Da war ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre, barfuß. Sie zeigte mir einen Nagel, der am Boden lag, den haben wir zusammen aufgehoben. Dann fragte sie nach ihrer Mutter, lief weg und kam mit einem kleinen Buch zurück. Wir haben darin geblättert. Als ich das Buch einmal verkehrt herum hielt, hat sie mich gleich korrigiert. Sie zeigte mir, was da geschrieben steht und was man ausmalen kann. Leider musste ich dann weg ins Theater, schade! Zum Einkaufen bin ich nicht mehr gekommen. Donnerstag, 12. Oktober 1961 Cranko sagte mir, ich solle in „Dornröschen“ den Blauen Vogel tanzen! Youpi! Immer wieder tauchen in diesen Wochen Gedanken auf, wahrscheinlich inspiriert durch meine Mutter, die sich mit der Zeit am Ende einer Tanzkarriere beschäftigen. So gibt es in Frankreich eine Association Française des Maîtres de Danse Classique (AFMDC), die nach entsprechenden beruflichen Leistungen und Prüfungen in Theorie und Praxis ein Diplom mit Lehrberechtigung verleiht. Ich hatte daher an meinen Lehrer Paul Goubé geschrieben und um Rat gefragt.

Dienstag, 7. November 1961 Paul Goubé an Micheline Faure Liebe Micheline, Ihre Mutter hat mit meiner Frau telefoniert und ich habe daher erfahren: Sie sind verliebt. Also. Es freut mich für Sie und ich hoffe, bald zu Ihrer Hochzeit kommen zu können. Wegen der Frage „Professor“ sollten Sie bitte an Madame Sarabelle, 11 rue Poncelet, schreiben, ihr erzählen, dass Sie mehrere Jahre mit mir gearbeitet haben und nun eine Lehrbefähigung in Frankreich anstreben. Sie müssen dafür eine Demonstration mit einer Schülerin machen, die Ihnen Madame Sarabelle bei

106 Entwicklungen und Veränderungen Ihrem Aufenthalt in Paris vorstellen wird. Bereiten Sie eine einfache Anfängerlektion vor. Ich muss jetzt schließen, kleine Micheline, und umarme Sie ganz fest. Paul Goubé. Mittwoch, 15. November 1961 Ich muss mir dringend Fachbücher über Tanz aus Frankreich besorgen für die Prüfung zur Lehrberechtigung. Montag, 27. November 1961 Das Publikum war sehr gut bei der Premiere von „Lady and the Fool“. Nach den Proben hatte ich mir mehr erwartet, aber Marcia und Ray waren wirklich phantastisch. Für mich aber ist „Katalyse“ das beste Stück, ich war total aufgedreht, wie verrückt – und am nächsten Morgen total kaputt, am Boden zerstört. Wir müssen jetzt sehr sparen, denn wenn wir eine Wohnung gefunden haben, müssen wir sie möblieren, und wenn das geschehen ist, dann heiraten wir. Ich bin immer noch ganz weg, dass ich jetzt wirklich meinen Führerschein habe: Ich hatte ja alles mit Tonband auswendig gelernt, und das hat funktioniert – kein Fehler bei der Prüfung. Im Theater hat man mir gratuliert, denn die Führerscheinprüfung ist selbst für Deutsche nicht einfach. Sonntag, 10. Dezember 1961 Ich tanze also den Blauen Vogel. Wir hatten eine Probe, die war für mich ganz toll. Es war das erste Mal mit Hugo und mit allen zusammen. Sonntag, 17. Dezember 1961 Bei dem Galaabend am 1. Januar tanze ich mit Gary den Pas de deux aus „Dornröschen“ und einen Cha-Cha-Cha. Im Dezember 1961 Ich habe alles, um glücklich zu sein, aber immer fehlt mir irgendetwas. Ich verlange zu viel und verstehe das Leben nicht. Warum kann ich nicht mehr tanzen?! Ich habe nicht mehr das Feuer in mir wie früher, ich habe mich verändert. Ich weiß nicht warum, aber ich möchte die Flucht ergreifen, ich möchte weggehen, nicht mehr das Theater sehen. Ich weiß nicht, wohin ich gehen sollte und ob mich das erleichtern würde. Warum bringt mein Kopf immer alles durcheinander? Bin ich nicht normal? Ich weiß nicht, was ich will, weiß nicht, was ich mir wünsche. Immer dieser Satz: Ich weiß nicht!

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Die ersten drei Monate des Jahres 1962 waren wirklich schwierig, ich bin sogar noch in eine kleine Nervenkrise gerutscht. Aber trotz aller offenen Fragen, eines wussten wir genau: Wir wollten heiraten. Wir hatten nur nicht geahnt, wie kompliziert so etwas sein kann. Natürlich war es zunächst ein Papierkrieg, denn eine Französin und ein Österreicher wollten auf einem deutschen Standesamt heiraten: Alle Dokumente bitte zweisprachig! Als der Standesbeamte bei der Trauung bemerkte, dass meine Schwester Annie als Trauzeugin kein Deutsch verstand, wollte er sofort abbrechen. Mit großer Mühe konnten wir ihn davon überzeugen, dass sie natürlich verstanden habe, worum es hier ging. Zwei Tage nach dem Standesamt sollte dann die kirchliche Trauung in der Stiftskirche von St. Peter in Salzburg stattfinden – ein neues Problem: Robert hatte seit seiner Taufe, bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse, nichts mehr für seine religiöse Weiterbildung getan. Für die kirchliche Trauung in Salzburg war das aber eine wesentliche Voraussetzung. Hier konnte uns Roberts Tante Karin Budde helfen. Sie und ihre Familie waren für uns so etwas wie eine Ersatzfamilie geworden. Hier fanden wir immer guten Rat und Unterstützung. Was immer auch passierte – Karin hielt ihre schützenden Hände über unsere Verbindung. Und – ganz wichtig! – mit ihrer zweiten Muttersprache Französisch war Karin ein wichtiges Bindeglied zu meiner Familie in Frankreich. So sammelte sie alle meine Kritiken und schickte die Übersetzungen dann an meine Eltern. Dank ihrer Vermittlung konnte Robert nun bei Herrn Stadtpfarrer Weber in mehreren Sitzungen Versäumtes nachholen – die kirchliche Trauung war gerettet. Aber das größte Problem war dann doch, einen geeigneten Termin zu finden zwischen Roberts Drehtagen und meinen Proben und Vorstellungen. Als wir schließlich für die letzte Aprilwoche eine passende Zeitlücke entdeckt hatten, fixierten wir sofort Standesamt und Kirche. Doch nur kurze Zeit später stellt sich heraus: Genau einen Tag vor dem Standesamt werde ich eine Premiere haben. Man hat mir eine sehr schöne tänzerische Aufgabe anvertraut – die Prinzessin in Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ in der Inszenierung von Günther Rennert (Choreographie Peter Wright). Damit war dann unsere „Hochzeitswoche“ komplett: Dienstag, 24. April

Hauptprobe

„Geschichte vom Soldaten“

Mittwoch, 25. April

Generalprobe

„Geschichte vom Soldaten“

Donnerstag, 26. April

Premiere

„Geschichte vom Soldaten“

Freitag, 27. April

Standesamt Stuttgart, dann Fahrt nach Salzburg

Samstag, 28. April

Kirchliche Trauung in Salzburg, Rückfahrt nach Stuttgart

Sonntag, 29. April

11 Uhr

„Geschichte vom Soldaten“ (2. Vorstellung)

108 Entwicklungen und Veränderungen Wir haben das auch alles einwandfrei absolviert, obwohl es fast noch eine Panne gegeben hätte. Beim Packen für die Fahrt nach Salzburg hatten wir das kostbarste Stück, einen weißen Karton mit dem soeben aus Paris importierten Brautschleier, zunächst auf einem Müllcontainer neben dem Auto abgestellt. Als wir mit dem übrigen Gepäck erscheinen, ist der Karton verschwunden, am Ende der Straße sieht man noch die Bremslichter der Müllabfuhr. Unmittelbar vor unserem totalen Zusammenbruch kommt aus dem Nachbarhaus eine freundliche ältere Dame – mit dem Karton. Sie hatte die Gefahr rechtzeitig erkannt und so im letzten Augenblick unsere Hochzeit gerettet. Nun war also endlich Ruhe, wir waren in der neuen Wohnung, und die neuen Möbel waren auch schon da. Bei der Auswahl hatten wir uns viel Zeit gelassen, denn damals war Stuttgart mit seinen modernen Möbelhäusern ein wahres Einrichtungsparadies in Spitzenqualität: Wir benutzen diese Möbel heute noch. Ich möchte diesen Bericht über unsere turbulente Hochzeit mit einem besonders schönen Glückwunschgedicht abschließen, sollte aber zum besseren Verständnis vorher zwei Dinge erklären: Mein Mann war inzwischen Regisseur in der Unterhaltungsabteilung beim Fernsehen des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart. Sein Arbeitsplatz waren die Fernsehstudios am Killesberg. Ganz in der Nähe dort, mitten in den Weinbergen, hatten wir in einem Neubau eine Terrassenwohnung gemietet. Einen Tag vor der Anlieferung unserer Möbel, die Teppichböden waren schon verlegt, kam infolge eines Installationsfehlers im Schlafzimmer der gesamte Verputz der Decke herunter. Und noch ein Hinweis: Eine der Sendungen meines Mannes heißt „Die schöne Stimme“, eine beliebte Serie mit Opernausschnitten und prominenten Sängern. So viel zum Verständnis des Gedichtes von Gerhard Prager, Autor und Leiter der Unterhaltungsabteilung.

Aus Frankreich kam die junge neue Welle. Sie trieb schon manchen Jüngling in den Hafen. Es schwand ein Mann aus dem Büro als Junggeselle und kehrt zurück, um nun à deux zu schlafen. Und stürzte auch die Decke übers Bette, – der Opernhimmel strahlt imaginär. Im Pas de deux und im Duette hat selbst ein deutscher Neubau noch sein Flair. Man fragt sich nur, wie wird das (sprachlich) enden mit Robert Ha und seiner Micheline. Es hängt ja so viel ab von den Akzenten und wo sie ihre Position beziehn.

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Wird aus der Micheline ’ne Micheliné und bleibt’s bei Robert als dem Herrn im Haus? Wird draus Robért, auf dass er treulich diene, und ist’s mit Róbert Há für immer aus? Wir nehmen an, es gibt ’ne Integrierung, Europa kommt durch diesen Bund voran und er verheißt die reizendste Legierung aus Charme und Geist, Madame und Mann. Und sollten gar noch kleine „Pflanzl“ wachsen, so wünschen wir, sie möchten kräftig blühn, mit „Schönen Stimmen“, schlanken Haxen, Gesang und Tanz durchs Leben ziehn! Wir gratulieren! Gerhard Prager und das gesamte Team der Abteilung Unterhaltung des SDR In diesen aufregenden Wochen und Monaten läuft natürlich die Arbeit im Theater unverändert weiter. Schon im März hatte es die bei Ballettfreunden sehr beliebte Veranstaltung der Noverre-Gesellschaft gegeben, bei der Cranko auf seine witzige Art in die Geheimnisse der Tanzkunst einführte. Gleichzeitig hatte er uns alle eingeladen, falls wir Lust hätten, mit einer eigenen Choreographie teilzunehmen. So gab es schließlich im Programm fünf Uraufführungen – und ich war auch dabei. Meine „Kleine Begegnung“ für eine Tänzerin und einen Tänzer (Myrtha Morena und Gerd Praast) kam sogar ganz gut an:

Eine richtige kleine Dichtung ist Micheline Faure gelungen. Was hat sie für Einfälle, nicht aufgesetzter Gestik, sondern neuer Formenvarianten, die jedoch nicht überborden, sondern ganz eingefangen sind in klare Zeichnung. Sie will nur ein Spielchen: „Kleine Begegnung“ zu Musik von Lukas Foss, die Impulse gibt. Doch was steckt in dieser zeichnerischen Kunst des Weglassens für eine zart-treffsichere Kultur, unverschwommene Lyrik! Das ist jung und führt weiter Stuttgarter Nachrichten, 15. März 1962 Pl Ich weiß nicht, ob ich dieses Lob wirklich verdient habe – gelesen habe ich es immer wieder gerne und es hat mir Mut gemacht, diesen Weg später fortzusetzen. Im Juli bringt Cranko einen schönen Ballettabend heraus mit einer dankbaren Aufgabe für mich zu Alexander Glasunows „Jahreszeiten“, Ende Juli gibt es sogar

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Entwicklungen und Veränderungen

noch einen Galaabend mit internationalen Gästen, Yvette Chauviré und Rudolf Nurejew. Cranko hat inzwischen auch mit den Proben für „Romeo und Julia“ begonnen, mit Marcia Haydée als Julia – ich bin als zweite Besetzung vorgesehen und mit meinem Partner Gary Burne arbeiten wir auch schon an „Coppelia“. Die Weichen für die Zukunft sind also gestellt, die Wege geebnet, wenn nicht – ja, wenn nicht Generalintendant Walter Erich Schäfer meinen Mann eingeladen hätte, mit ihm zusammen an die Wiener Staatsoper zu gehen. Herbert von Karajan fühlt sich mit der Leitung des großen Hauses überfordert, Schäfer soll die Direktion übernehmen – mit Robert als den „Mann an seiner Seite“. Das kommt wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und wir sind auch zunächst einfach ratlos, entscheiden uns aber dann doch für das Abenteuer. John Cranko beurlaubt mich für ein Jahr – ungern! –, und Robert kündigt beim Fernsehen, wir verschließen die schöne neue Wohnung. Die Schlüssel bekommt Andy, der Jüngste der Familie Budde – nicht zum Gießen der Blumen, aber als unser „Verwalter“, der dann regelmäßig in der Wohnung überprüft, ob der Fernseher noch funktioniert. Wir gehen nach Wien.

Entwicklungen und Veränderungen

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Stuttgart 1960

Abb. 31: „Schwanensee“, Grande Valse mit Ray Barra

Abb. 32: „Schwanensee“, Russischer Bojarentanz

Abb. 33: Premierenwünsche von Meister Beriozoff

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Entwicklungen und Veränderungen

Abb. 34: Prinzessin Belle Rose mit dem neuen und dem alten Ballettmeister: John Cranko und Nicholas Beriozoff Abb. 35: „Der Pagodenprinz“, Prinzessin Belle Rose, 1. Akt.

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Abb. 36/37: „Der Pagodenprinz“, Prinzessin Belle Rose, 2. Akt

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Abb. 38: „Der Pagodenprinz“, Prinzessin Belle Rose und der Pagodenprinz Ray Barra, 3. Akt

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Stuttgart 1961

Abb. 39/40: „Divertimento“ mit Alfredo Koellner und John Cranko

Abb. 41: „Familienalbum“

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Abb. 42: „Solitaire“ mit Robert de Warren

Abb. 43/44: „Solitaire“

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Stuttgart 1961/62

Abb. 45: „Katalyse“

Abb. 46: „Geschichte vom Soldaten“, Prinzessin

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Beruf und Familie

D

ie Beurlaubung soll natürlich nicht das Ende meiner Karriere als Tänzerin darstellen, im Gegenteil: Da mein Mann ja mit Walter Erich Schäfer, dem neuen Direktor der Staatsoper nach Wien geht, will ich versuchen, im Ballett der Staatsoper einfach mittrainieren zu können. Das stellt sich allerdings nach kurzer Zeit als ziemlich schwierig heraus. Der Obmann des Balletts erklärt uns, eine Teilnahme am Training sei nach den Bestimmungen des Hauses nicht möglich, da ich ja nicht Mitglied der Compagnie sei. Das Ballett hat zu dieser Zeit keinen Direktor, aber der berühmte Choreograph Aurel von Milloss ist als Gast für einen Ballettabend dort tätig. Da meine Schwiegereltern mit ihm durch eine alte Freundschaft verbunden sind, versuchen wir es auf diesem Weg. Hier ist die Antwort von Aurel von Milloss:

12. Oktober 1962 Aurel von Milloss an Micheline Faure … Ich bin noch nicht der Chef des Wiener Staatsballetts, wie die Zeitungen hierüber berichten wollten. Ich wirke hier jetzt lediglich als Gast, um einen Abend mit meinen Werken zu realisieren. Folglich habe ich keine Möglichkeit, gegen die hier herrschenden Gewohnheiten (ob sie auch Regeln sind, kann ich – seltsamerweise – nicht im authentischen Sinne erfahren! …) vorzugehen. Da es scheint, dass hier keine Ausnahmen gemacht werden, habe ich Herrn Professor Schäfer gebeten, einzugreifen. Er versprach mir, die Angelegenheit insofern besonders wohlwollend zu prüfen, als er Ihren Gatten doch sehr schätzt. Hoffentlich wird es ihm gelingen, da etwas durchzusetzen. Dieses wünsche ich von Herzen, denn ich habe von Ihnen, Madame Micheline, den besten Eindruck und so wünsche ich Ihnen, diese Sorge bald los zu werden. Stets Ihr Aurel von Milloss Aurel von Milloss wird dann 1963 für drei Jahre Ballettdirektor in Wien, aber da sind wir schon wieder weg. Ob er in den folgenden Jahren etwas ändern konnte an der Organisation, weiß ich nicht, es ist aber eher unwahrscheinlich. Unsere Bemühungen sind jedenfalls vergeblich, sie scheitern am Obmann des Staatsopernballetts. Glücklicherweise gibt es in Wien aber noch einen anderen großen Tänzer und Choreographen: Marcel Luipart, zuletzt Ballettdirektor der Bayeri-

120 Beruf und Familie schen Staatsoper und nun Leiter der Tanzabteilung der Staatsakademie Wien. So pilgere ich also hinaus zum Schloss Schönbrunn für mein tägliches Training. Doch schon bald gibt es für mich Abwechslung. Carlton Film dreht für die im April 1963 vorgesehene Eröffnungssendung des ZDF einen großen Tanzfilm in Wien: „Wien und wir im Walzertakt“. Da tauchen plötzlich viele bekannte Gesichter aus der Stuttgarter Zeit wieder auf: Choreograph ist Gunther R. Eggert, bei dem ich meine ersten Erfahrungen in Jazzdance gemacht habe, Regisseur ist Tilo Philipp, ein Kollege meines Mannes beim SDR, auch in der großen Tanzgruppe überall Gesichter aus Stuttgart und schließlich die beiden Solistinnen – Helga Heinrich und ich selbst. Die Proben, die Dreharbeiten in den alten Filmstudios am Rosenhügel, es ist eine schöne Zeit mit vielen Erinnerungen, aber es gibt auch entsetzlich viel Walzer zu tanzen. Was soll’s, ich bin in Österreich und so geht es danach gleich weiter mit dem Walzerkönig. Denn nun meldet sich das österreichische Fernsehen und möchte mit dem TV-Musical „Romy und Julius“ die Frage klären, ob Johann Strauß in der Lage gewesen wäre, Shakespeares „Romeo und Julia“ zu vertonen. Sehr viel österreichische Prominenz ist an der Produktion beteiligt, Karl Farkas (Buch), Herbert Prikopa (Musik), Maria Andergast, Rudolf Carl – sogar Lolita ist dabei, viele Jahre später Nachbarin in Großgmain, sie spielt eine Schlagersängerin. Für mich bleibt auch noch ein Platz mit einer kleinen tänzerischen Aufgabe. Und dann kommt eines Tages ganz überraschend eine Anfrage vom Landestheater Linz. Man plant dort einen Ballettabend mit der „Undine“ von Hans Werner Henze und bietet mir die Titelrolle an. Das ist natürlich sehr aufregend, denn das war eine der Lieblingsrollen von Margot Fonteyn. Sie hat die Uraufführung 1957 in London getanzt, und ich sehe sie heute noch in ihrem Kostüm vor mir. Wie ist man also auf mich gekommen? Die Theaterleitung von Linz hatte in Stuttgart angefragt und dort hatte man mich empfohlen. Ich werde also am 3. Februar 1963 die österreichische Erstaufführung in Linz tanzen, Dirigent ist Leopold Hager, der junge Choreograph Jean Genet kommt als Gast aus der Schweiz. So ist das also: Ich lasse mich in Stuttgart beurlauben, damit ich mit meinem Mann zusammen bleiben kann und nun – wir sind noch nicht einmal ein Jahr verheiratet – inszeniert er in Wien und ich tanze in Linz. So oft es möglich ist, bekomme ich aber Besuch von ihm, auch wenn dieser Winter besonders streng und schneereich ist und es zwischen Wien und Linz noch keine Autobahn gibt. Wenn gar nichts mehr geht, bleibt uns nur noch der Postweg – hier also meine Kommentare aus Linz.

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17. Dezember 1962 Mein erster Probentag ist vorbei. Wir haben meine erste Variation gemacht und dann den Pas de deux nur markiert, weil mein Partner krank ist, er hat Grippe! Hier im Haus gab es in der letzten Zeit großen Krach, weil die Erste Solistin nicht die Undine tanzt, die zweite Rolle der Beatrice nicht tanzen will und wahrscheinlich weggehen wird. Es gibt auch viele Schwierigkeiten mit dem Ballettmeister des Hauses, der angeblich immer die Tänzer braucht und unser Choreograph, Jean Genet, findet keine Zeit zum Probieren! Was ich zu tanzen habe, ist schön und schwer. Die Gruppe ist nicht sehr gut, sie sind zu dick, und die Solisten waren noch nicht da. Morgen habe ich um 10 Uhr Training, dann um 14 Uhr und um 19 Uhr Probe. Es ist jetzt gleich fünf Uhr, ich kann vielleicht ein bisschen malen und um sieben gehe ich einen Zwiebelrostbraten essen. Ich bin ein wenig traurig, aber so ist das Leben. Ich mag eben nicht allein sein! So, genug, ein Tag ist schon vorbei! Dienstag, 18. Dezember 1962 Letzte Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen, dann war ich wütend wegen der Albträume, ich wollte nicht mehr hier bleiben, aber im Lauf des Tages hat sich meine Laune gebessert. Ich werde wohl das Hotel wechseln. Es ist zwar sehr gut, aber gestern am Nachmittag ist das Zimmermädchen reingekommen ohne anzuklopfen! Es schneit, es schneit, und auf den Straßen schmutziger Matsch. Und es ist kalt – heute früh habe ich meine Handschuhe vergessen. Meine armen kleinen Finger waren richtig gefroren. Wir hatten nur ein kurzes Training an der Stange, denn 6 Mädchen fehlten und dann hat der Ballettmeister vom Haus bis 13 Uhr probiert, also konnten wir nichts tun. Ich habe das Gefühl, dass Monsieur Genet ziemlich verzweifelt ist und ich kann ihn auch verstehen, denn wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns. 20. Dezember 1962 Die Proben laufen gut, wir sind jetzt im 2. Akt. Herr Genet hat zu mir gesagt, dass er sich keine Sorgen mache, wir hätten genügend Probenzeit bis zur Premiere. Ich bin auch ein ganz braves Mädchen und esse jeden Tag Steak, die sind sogar sehr gut hier. Aber ich möchte wieder nach Wien zurück und Vorstellungen sehen, ich habe genug davon, in Linz zu sein. Ich möchte auch ein bisschen Frau sein!

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3. Januar 1963 Gestern habe ich bis halb 4 probiert und dann war ich fertig für den ganzen Tag. Heute habe ich um 12 Uhr 15 Training und dann um 13 Uhr Bühnenprobe. Die Ballerina von hier wird die Beatrice tanzen. Sie wollte doch weggehen. Nun hat mir Herr Genet erzählt, dass die Intendanz ihn gefragt habe, ob sie nicht in einer Vorstellung die Undine tanzen könne. Jetzt lernt sie also hinter mir mit und hat mich gefragt, ob ich ihr nicht die Schritte zeigen könne. Ich habe zugesagt, weil ich weiß, wie schwer es ist für eine Tänzerin, nachzulernen. Aber alles, was wir jetzt neu einstudieren, muss sie alleine lernen. 8. Januar 1963 Heute ist der Intendant zu unserer Probe gekommen und wir, mein Partner und ich, haben alles vorgeführt, was schon geht. Es hat sehr gut geklappt, ich war ganz locker. 10. Januar 1963 Nach meiner Probe heute am Vormittag habe ich mir noch das Ende der Hauptprobe von „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ (Ende 2. Akt und 3. Akt) angesehen, brrr!, so ein Kitsch! 15. Januar 1963 Ich bin nicht im Hotel, sondern im Restaurant „Wienerwald“ und warte auf meine Hühnersuppe und auf ein halbes „Wiener Backhendl“. Das Wetter ist schön in Linz, aber ein schrecklicher Wind! Und es ist so kalt, dass mir die Augen tränen, wenn ich draußen bin. So, jetzt habe ich gegessen und werde ins Hotel gehen. Ach ja, wegen der Spitzenschuhe: bitte eine halbe Nummer kleiner, also 32 ½ . Und die Spitze oben nicht rund, sondern flach wegen der Balance und an der Spitze nicht so hart – das macht sonst so viel Krach auf dem Bühnenboden, wie ein Regiment. Heute auf der Probe habe ich den Pas de deux vom 3. Akt gelernt. Das ist schon verrückt: direkt davor habe ich eine Variation von drei Minuten und gleich danach noch eine von zwei Minuten! 16. Januar 1963 Super wegen der englischen Spitzenschuhe, das ist phantastisch. Ja, bitte die Nummer 3D mit der Bezeichnung „12 ½ cm“. Wenn sie D nicht haben, geht auch M oder X. Aber immer mit „12 ½ cm“, rosa.

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Heute Vormittag haben wir auf der Bühne probiert, es war saukalt! Und um fünf habe ich wieder Probe. 16./17. Januar 1963 Ich bin jetzt ganz brav: Ich sitze in der „Stube“ vom Hotel und warte auf ein „Zigeunerrindsfilet“. Die Probe heute Abend war sehr lang, aber Monsieur Genet war sehr zufrieden mit dem letzten Pas de deux, das ist im 3. Akt, wo mein Partner, der „Palemon“ stirbt. Voilà, ich kenne jetzt das ganze Ballett, nun muss man nur noch daran arbeiten, oui, oui! Wir konnten heute am Abend auf der Bühne probieren, weil die Oper auf Gastspiel ist. Nachmittags habe ich ein paar Briefe geschrieben, aber noch nicht an Monsieur Cranko! 18. Januar 1963 Heute habe ich schlechte Laune und ich habe genug von Linz! 22. Januar 1963 Ich habe heute mit dem Kostümdirektor gesprochen, er ist einverstanden mit den englischen Spitzenschuhen, aber ich muss sie selbst besorgen und ihm dann die Rechnung bringen. Bis zur Premiere brauche ich sechs Paar, vier davon müssen bemalt werden. Übrigens, für das Theater ist das interessant, denn sie sind um 60 Schilling billiger! 23. Januar 1963 Hier ist nicht viel los. Gestern habe ich meine Spitzenschuhe bestickt, so intensiv, dass ich keine Zeit mehr zum Zeichnen hatte. 29. Januar 1963 Mir geht es heute ganz gut. Ich habe wieder Mut und das Tanzen liebe ich auch noch! Morgen habe ich erst um 13 Uhr Probe, mit dem richtigen Schiff! Die haben eine Statistin gefunden für mein Kostüm und auch eine Garderobe für mich allein. Prima! Wir haben heute auf dem Schiff probiert. Auf den ersten Blick ist das Bühnenbild scheußlich, aber man gewöhnt sich daran. Der Bühnenteppich ist schrecklich, er macht die Spitzenschuhe kaputt. Ich fürchte, für die Premiere werde ich drei Paar Schuhe brauchen.

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30. Januar 1963 Morgen gehe ich ins Theater, um mir die Beleuchtungsprobe anzusehen. Zur Generalprobe am Samstag kommen schon einige Kritiker, die Premiere am Sonntag ist ausverkauft. Es wird ein schöner Erfolg, auch für mich, obwohl ich mich nie ganz wohl gefühlt habe in dieser Produktion. Das lag sicher nicht am Choreographen, sondern vor allem am Kostüm. Ich habe immer das Kostüm von Margot Fonteyn vor mir gesehen, ein Kleid, etwas Empire, ganz leichte, schleierartige Stoffe, und hier hat man mir einen Gummianzug verpasst mit entsprechender Plastikperücke – entsetzlich. Aber die Zeit in Linz geht langsam zu Ende, es bleiben nur noch die Vorstellungen – und Stuttgart ruft. Schon im Januar, kurz nach dem Probenbeginn in Linz, hatte ich einen Brief von John Cranko erhalten, von Hand geschrieben und in perfektem Französisch. Hier die Übersetzung:

7. Januar 1963 John Cranko an Micheline Faure Liebe Micheline, danke für deinen netten Brief. Du musst entschuldigen, dass ich so spät antworte, aber ich komme soeben aus dem Krankenhaus, wo ich mich einer Operation unterziehen musste. Es ist sehr gut, wenn du im Februar kommst, um mich zu sehen und mit mir zu sprechen, denn wir müssen eine Lösung finden für dich nach deiner Rückkehr. Wir haben eine Einladung nach Edinburgh am Beginn der nächsten Spielzeit. Das Programm dafür muss also unter allen Umständen am Ende dieser Spielzeit fertig sein. Wir gehen sicher mit „Katalyse“ und zwei neuen Balletten, eines macht Peter Wright, eines ich und dann noch eines von Kenneth Macmillan. Ich mache mir Gedanken deinetwegen, denn wenn du nicht bei allen Proben hier bist, dann wird es für dich schwer werden nach deiner Rückkehr in der nächsten Spielzeit. Ich denke aber, wenn du mir deine Pläne mitteilst und wir zusammen darüber sprechen, werden wir auch eine Lösung finden. Ich bin sehr froh, dass du so viel zu tun hast. Es ist auch gut, einmal andere Luft zu atmen, neue Eindrücke aufzunehmen, die dann fruchtbar und anregend sein können. Ich hoffe also bis bald! Dir und Robert also in alter Freundschaft die besten Wünsche für das neue Jahr John Cranko

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Das war eine freundschaftliche Mahnung, die ich aber im Probenstress in Linz nicht ganz ernst genommen habe. Nur kurze Zeit später kommt ein zweiter Brief, nun mit Maschine geschrieben:

24. Januar 1963 John Cranko an Micheline Faure Meine liebe Micheline, ich habe das Gefühl, ich muss ein wenig deutlicher werden, denn du hast wohl die Bedeutung meines letzten Briefes nicht ganz erkannt. Für deine Karriere als Tänzerin solltest du etwas professioneller denken und nicht in den Wolken leben. Als ich nach Stuttgart kam, war deine Technik schwach und deine Ausbildung nicht berühmt. Aber du hast große Fortschritte gemacht und dich entwickelt. Dieser Fortschritt wurde mitten in der letzten Spielzeit unterbrochen durch eine kleine Nervenkrise und durch deine Heirat. In dieser Spielzeit bist du bis heute abwesend, in Wien. Für mich, das habe ich dir schon gesagt, sind die Schulen in Wien nicht sehr gut. Vor deiner Abreise habe ich dir gesagt, wie viel Arbeit noch auf dich wartet, um eine gute Solistin zu werden. Jetzt sagst du mir, du hättest viel gearbeitet (mit wem und wie?) und dass du eine Hauptrolle tanzt in einem Provinztheater. Glaube mir, das wird dir nichts helfen in deiner Karriere, wenn du wirklich eine machen möchtest. Während deiner Abwesenheit haben die anderen Tänzerinnen sehr gut gearbeitet und ich kann ihnen nicht ihre Rollen wegnehmen, nur weil es dir gefällt, wieder zurückzukommen. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass wir vier weitere Solisten haben, die alle technisch stärker sind als du. Verzeih mir, dass ich so deutlich bin, aber in meinem letzten Brief habe ich dich klar und deutlich gebeten, so schnell wie möglich zu kommen. Persönlich mag ich dich sehr gern und du wirst sicher noch eine gute Tänzerin sein. Du hast noch deinen Platz in der Compagnie, aber du musst dich befreien von dieser vagen und unprofessionellen Haltung, und du musst Verständnis zeigen für den Organismus einer Ballettcompagnie. In dieser Spielzeit machen wir noch zwei neue „Ballettabende“ und gehen dann zum Festival nach Edinburgh. Wenn du nicht hier bist und daher deinen Platz verlierst oder wenn deine Technik zu schwach ist, gib nicht mir die Verantwortung. Denke jetzt nicht, ich wäre böswillig oder ich hätte irgendetwas gegen dich, aber du musst verstehen, ich habe als Direktor auch meine Pflichten und eine Verantwortung für die Compagnie. Versuch doch, ein bisschen realistischer zu denken, und erfülle auch deine Pflicht für die Compagnie, die dich sehr gern hat. Herzlichst John Cranko

126 Beruf und Familie Am 30. April ist die letzte Vorstellung in Linz und gleich danach machen wir uns auf den Weg nach Stuttgart. Wir beziehen wieder unsere alte „neue“ Wohnung, die ein Jahr auf uns warten musste. Meine Beurlaubung ist beendet, ich stehe wieder zur Verfügung – aber ich bin im vierten Monat schwanger. Am 8. Oktober 1963 wird unsere Tochter Caroline geboren und zwei Wochen später beginne ich wieder zu trainieren, allerdings nur zu Hause. Mein Vater hatte inzwischen eine Ballettstange konstruiert und in der Diele unserer Wohnung installiert. Sie gehört von nun an zu unserem Mobiliar und wird auch bei den künftigen neun Umzügen immer mit dabei sein. Vier Wochen später trainiere ich dann auch schon im Theater und steige allmählich wieder in meine Repertoirerollen ein. Meine erste Vorstellung wird das Solo in der „Fledermaus“ am Silvesterabend 1963 sein: Alles läuft bestens, glaube ich. Doch die Ballettleitung ist da anderer Meinung. Cranko hatte in der Zwischenzeit die Engländerin Anne Woolliams als stellvertretende Ballettmeisterin und Leiterin der Ballettschule engagiert: Sie ist sicher sehr tüchtig, aber sie kann mich nicht leiden, und ich kann sie auch nicht leiden, unsere Antipathien beruhen auf Gegenseitigkeit, wir können einfach nicht miteinander. Ich gebe gerne zu, dass ich grundsätzlich Schwierigkeiten habe, Frauen als Vorgesetzte zu akzeptieren, aber hier wird es nun wirklich extrem. Ich absolviere mein Training, ich absolviere meine Proben wie früher, aber ich habe auch ein kleines Kind, das zu Hause auf mich wartet. In der für alle Frauen komplizierten Situation zwischen Beruf und Familie eskalieren unsere Auseinandersetzungen sehr schnell zu der Frage „Beruf oder Familie“. Als der Druck für mich zu groß wird, kündige ich kurz entschlossen meinen Vertrag.

Dienstag, 14. Januar 1964 Generalintendant Dr. Schäfer an Micheline Faure Sehr geehrte Frau Faure! Ohne große Freude empfing ich Ihren Brief vom 16.12.1963. Sie wissen, wie sehr ich Sie als Tänzerin schätze und wie sehr ich es bedauere, Sie nicht mehr in unserem Ensemble zu wissen. Ich habe inzwischen in dieser Angelegenheit mit Herrn Cranko eine Reihe von Besprechungen gehabt und bin – obwohl die Worte anders lauten – zu der Überzeugung gekommen, dass eine weitere Zusammenarbeit zwischen Ihnen und ihm kaum ersprießlich wäre. Gerade in Ihrem Beruf muss ja die Arbeit Freude machen und diese Freude, scheint mir, ist schwer wiederherzustellen. Ich muss deshalb, so leid es mir tut, Ihre Kündigung annehmen unter der nochmaligen Versicherung, dass ich diese Entwicklung der Dinge aufs Äußerste bedauere.

Beruf und Familie

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Ich wünsche Ihnen das Beste für Ihren weiteren Lebensweg, für Sie selbst und Ihre Arbeit und bin mit verbindlichen Grüßen Ihr ergebener Prof. Dr. W. E. Schäfer Da mein Vertrag ja noch bis Juli 1964 läuft, geht die Arbeit unter unerfreulichen Umständen weiter und es kommt bald zu einer neuen Machtprobe, als man mich als Ersatz für eine erkrankte Gruppentänzerin einteilt. Ich weigere mich, man droht mir, und der Generalintendant versucht noch einmal zu vermitteln, jetzt sogar mit einem „Eilbrief“:

Montag, 9. März 1964 Generalintendant Dr. Schäfer an Micheline Faure Sehr geehrte Frau Faure! Man erzählte mir von den Schwierigkeiten, die durch die zahlreichen Erkrankungen im Ballett aufgetreten sind, und von der Bitte, die wir an Sie hatten, eine Partie zu tanzen, die man nicht als solistisch bezeichnen kann. Ich bin mir vollkommen darüber klar, dass Sie juristisch im Recht sind. Und wenn ich Sie heute mit freundlichem Ersuchen darum bitte, so werden Sie antworten: Ich bin dazu gebracht worden, meine Position zu kündigen, ich werde diesem Theater nichts mehr zu Gefallen tun. Das alles ist menschlich verständlich. Trotzdem spreche ich an Sie in der besonderen Notlage, in die wir durch sieben Erkrankungen geraten sind, diese Bitte aus, nur von mir persönlich und nur nebenbei mit dem Hinweis, dass ja die Staatstheater sich Ihnen gegenüber nicht nur schlecht, sondern in manchem auch entgegenkommend gezeigt haben und noch zeigen. Sie würden mir selbst einen großen Gefallen tun, wenn Sie in der Überwindung begreiflicher Ressentiments diese Aufgabe übernehmen könnten. Mit verbindlichen Grüßen stets Ihr W. E. Schäfer Es ging um eine Probe am gleichen Tag, und ich wäre der Bitte des Intendanten natürlich gefolgt. Leider erhielt ich den Brief erst am nächsten Tag und da war es dann schon zu spät. Heute tut mir das sehr leid, aber ich musste mir auch erst klar werden über meine eigene Position. Denn diese Verweigerung war nicht etwa eine Absage an meinen Beruf zugunsten meiner Familie – ganz im Gegenteil. Bisher waren es ja meine Eltern in Paris gewesen, die meine Berufspläne trotz Vorbehalten immer unterstützt hatten, nicht ohne mit vorsichtigen kritischen Bemerkungen auf das „eigentliche“ Lebensziel einer Frau hinzuweisen: auf die Gründung einer eigenen Familie. Nun hatte ich meine eigene Familie, aber durch-

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Beruf und Familie

aus nicht die Absicht, deshalb meinen Beruf aufzugeben. Auch wenn meine Karriere in Stuttgart nun beendet war – mein Ziel blieb weiterhin, einen gemeinsamen Weg zu finden für meinen Beruf und für meine Familie. John Cranko hat mit mir in diesen Stunden, Tagen, Wochen und Monaten bis zum Ende meines Vertrages kein Wort mehr gesprochen, kein Blick, kein Händedruck – auch später nicht mehr. Mag sein, dass es mit seiner doch sehr vereinfachten Sicht auf die Lebensumstände von Tänzerinnen zusammenhängt, die er einmal in einem Gespräch so formuliert hat:

„Ballettmädchen sind meistens hübsch und haben eine elegante Figur. Für sie ist die Heirat also kein Problem.“11 Ich mochte John sehr, seine Kreativität, seine Intensität bei der Arbeit. Wir waren befreundet, er war oft bei uns und konnte stundenlang mit Robert diskutieren – aber irgendwie lebte er doch in einer eigenen Welt und hatte daher wohl kein Gefühl für meine schwierige Situation. Es war ein Abschied, der sehr wehgetan hat.

11 Hartmut Regitz „John Cranko“ in „Die Zeit“ vom 6. Juli 1973

Beruf und Familie

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Abb. 47/48: Unsere Hochzeit am 28. April 1962 in Salzburg

Abb. 49: Geburt unserer Tochter Caroline am 8. Oktober 1963 in Stuttgart

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Beruf und Familie

Familienjahre 1963–1971

Abb. 50/51: 1963

Abb. 52: 1964

Abb. 53: 1969, der kleine Bruder

Abb. 54: 1971 mit Stephan und Caroline

Statistik 2: Mein Solo-Repertoire in Stuttgart

September 1958

Adolphe Adam: „Giselle“ Choreographie Nicholas Beriozoff nach Petipa Pas de deux mit Hugo Delavalle Zwei Wilis mit Georgette Tsinguirides Sonderbeifall erzielten erstmals Micheline Faure und Hugo Delavalle mit einem glänzend absolvierten Pas de deux. Neben Delavalles männlich beherrschter Kunst erlebten wir Micheline Faure erstmals als eine grazile, zugleich brillante Tänzerin von anmutiger Leichtigkeit. S-r. Allgemeine Zeitung, 9. September 1958

Oktober 1958

P. I. Tschaikowsky: „La Belle au Bois dormant“ („Dornröschen“) Choreographie Nicholas Beriozoff nach Petipa Weiße Katze mit Gorazd Vospernik

November 1958

Frederic Chopin: „Die Sylphiden“ Choreographie: Nicholas Beriozoff nach Fokin Nocturne Ray Barra und Micheline Faure tanzten den Pas de deux begabt und temperamentvoll. Pl Stuttgarter Nachrichten,15. Dezember 1958

Januar 1959

P. I. Tschaikowsky: „Der Nussknacker“ Choreographie: Nicholas Beriozoff nach Petipa Clara Micheline Faure als liebliches, zartes Double war märchenhaft Alice, unvergleichlich kindlich zart. Stuttgarter Nachrichten, 11. Januar 1959 Pl

Variation Zuckerfee (ab März 1959) Grand Pas de deux mit Hugo Delavalle (ab März 1959) Coda mit Hugo Delavalle (ab März 1959)

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Statistik 2: Mein Solo-Repertoire in Stuttgart

Mai 1959

Igor Strawinsky: „Attis und die Nymphe“ Choreographie: Werner Ulbrich Die Nymphe Paul Hindemith: „Die vier Temperamente“ Choreographie: Werner Ulbrich Das phlegmatische Temperament mit Gerd Praast

Juni 1959

Cesare Pugni: „Esmeralda“ Choreographie: Yves Brieux Variation

Oktober 1959

Prokofjew: „Romeo und Julia“ Choreographie: Werner Ulbrich Julias Freundin

Dezember 1959

Carl Orff: „Trionfo di Afrodite“ Choreographie: Ghita Hager La Sposa mit Ray Barra

Januar 1960

C. M. von Weber: „Le Spectre de la Rose“ Choreographie: Nicholas Beriozoff nach Fokin Das Mädchen mit Hugo Delavalle Micheline Faure begab sich in das mondlichtumflossene Szenarium romantischer Ballettdarstellung. In Michael Fokins „Le spectre de la rose“ war sie das junge, vom Ball heimkehrende Mädchen. Diesem vielleicht schönsten Ballett des Abends gab der vielleicht aussichtsreichste Stern des Ensembles, Micheline Faure, den Glanz sanften Gelöstseins, leicht schwebend, hingebungsvoll. s-r Allgemeine Zeitung, 25. Januar 1960

Benjamin Britten: „Duo“ (Soirèes musicales) Choreographie: Nicholas Beriozoff Pas de deux mit Ray Barra Für Micheline Faure war dieser Abend zweifellos die große Chance ihrer Karriere. Mit ihrer zarten und lieblichen Erscheinung, ihren wunderbaren Füßen, ihrer Musikalität und ihrem eminenten Stilgefühl wächst uns in ihr eine Ballerina von beglückender lyrischer Sensivität heran. Horst Koegler Stuttgarter Zeitung, 23. Januar 1960

Statistik 2: Mein Solo-Repertoire in Stuttgart

April 1960

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P. I. Tschaikowsky: „Schwanensee“ Choreographie: Nicholas Beriozoff Grande Valse mit Ray Barra Zwei große Schwäne mit Georgette Tsinguirides Russischer Bojarentanz Zauberhafter Höhepunkt im Divertissement des 3. Aktes war der Russische Bojarentanz von Micheline Faure, einer französischen Tänzerin, mit sicherem Stilgefühl ausgeführt. Peter Williams Dance and Dancers, Juli 1960

November 1960

Benjamin Britten: „Der Pagodenprinz“ Choreographie: John Cranko Prinzessin Belle Rose Das Publikum dankte sehr herzlich, vor allem der schönen Micheline Faure und dem sympathischen John Cranko. Pl Stuttgarter Nachrichten, 8. November 1960

Richard Strauss: „Capriccio“ Inszenierung: Ernst Poettgen Choreographie: A. Mörike Junge Tänzerin März 1961

W. A. Mozart: „Divertimento“ Choreographie: John Cranko Die Unschuldigen mit Alfredo Koellner William Walton: „Familienalbum“ Choreographie: John Cranko Schnulze Malcolm Arnold: „Solitaire“ Choreographie: Kenneth Macmillan Das junge Mädchen Micheline Faure tanzte die Parabel der Kontaktlosigkeit mit bezaubernder lyrischer Anmut. Kurt Honolka Dabei, Mai 1961

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Statistik 2: Mein Solo-Repertoire in Stuttgart

Juli 1961

P. I. Tschaikowsky: „La Belle au Bois dormant“ („Dornröschen“) Choreographie: Nicholas Beriozoff nach Petipa Waldwiesenfee Die erfreulichste Neuheit ist Micheline Faure als Waldwiesenfee von nicht mehr zu überbietender Anmut. Pl Stuttgarter Nachrichten, 19. Juli 1961

November 1961

Dimitri Schostakowitsch: „Katalyse“ Choreographie: John Cranko Weiße Gruppe mit Hugo Delavalle

Dezember 1961

P. I. Tschaikowsky: „La Belle au Bois dormant“ („Dornröschen“) Choreographie: Nicholas Beriozoff nach Petipa Blauer Vogel mit Hugo Delavalle In den stürmischen Applaus teilten sich mit dem Prinzenpaar die blauen Vögel: Micheline Faure und Hugo Delavalle. Die Schönheit, mit der sich die lyrische Micheline Faure einfügt und auf dem schweren Part vergnügt zu spielen anfängt: sie führte auch dieses prickelnde Brillanzstück mit so wunderbarer Artigkeit und Schönheit aus, dass man sie unbedingt bald im Mittelpunkt als Prinzessin Aurora sehen möchte. Pl Stuttgarter Nachrichten, 30. Dezember 1961

April 1962

Igor Strawinsky: „Die Geschichte vom Soldaten“ Inszenierung: Günther Rennert Choreographie: Peter Wright Die Prinzessin Micheline Faure als Prinzessin bewegte sich, halb Dornröschen, halb Olympia aus Spalanzanis Kabinett mit puppenhafter Grazie durch diese böse Welt, und hier endlich wurde die Geschichte ganz zum Märchen. Ihr Ragtime, voller Humor und spielerischer Leichtigkeit, schien von nichts anderem als von Strawinskys eigenem Geist beseelt. Friedrich Hommel Stuttgarter Zeitung, 28. April 1962

Juli 1962

Alexander Glasunow: „Die Jahreszeiten“ Choreographie: John Cranko Der Sommer mit Alfonso Cata

Neue Wege und neue Ziele

E

in paar Monate läuft mein Vertrag noch, ich mache mein tägliches Training, meine Proben, und ich tanze meine Rollen, wenn sie noch auf dem Spielplan stehen. Aber irgendwie bin ich eben doch eine Art Auslaufmodell, für neue Projekte werde ich natürlich nicht mehr eingesetzt. Das ist keine einfache Zeit für mich am Theater, aber ich habe ja jetzt meine Familie, meinen Mann und unsere kleine Tochter. Wie es weitergehen soll, das weiß ich noch nicht. Muss ich mich jetzt entscheiden zwischen meinem Beruf und meiner Familie? Wenn es in meinem Beruf weitergehen soll, dann als Tänzerin oder als Pädagogin? Es wird nicht leicht sein, für uns beide in der gleichen Stadt eine entsprechende Position zu finden, aber ich versuche es einfach. Doch selbst bei sehr guten persönlichen Kontakten wie etwa bei Serge Golovine, dem Ballettdirektor in Genf, die Antwort ist immer die gleiche:

Mitwoch,8. Juli 1964 Serge Golovine an Micheline Faure … Es war mir eine große Freude, Sie kennenzulernen und ich hätte Sie sehr gerne in meinem Ballett in Genf gehabt. Leider darf ich die mir vorgeschriebene Anzahl von Solisten zurzeit nicht überschreiten. Ich erwarte aber für nächstes Jahr eine Erhöhung der Subventionen und hoffe, dass wir dann zu einem positiveren Ergebnis kommen werden … Serge Golovine Natürlich gibt es auch Angebote, aber die sind entweder uninteressant oder sie würden eine räumliche Trennung unserer Familie bedeuten. Doch irgendwo in meinem Hinterkopf hat sich ja schon seit einiger Zeit der Gedanke an eine pädagogische Tätigkeit eingenistet und so konzentriere ich mich zunächst auf das Prüfungsprogramm für mein Diplom, das ich im März 1965 dann auch erfolgreich abschließe. Die Beschäftigung mit dem Thema Ballett einmal nicht aus der Sicht der praktischen Arbeit im Ballettsaal bringt mir eine wichtige Erkenntnis. Sollte ich eines Tages eine eigene Ballettschule leiten, dann würde ich den praktischen Unterricht von Anbeginn erweitern mit Informationen über das geniale technische System einerseits und über die reizvolle historische Entwicklung dieser Kunstform. Von den Tänzerinnen und Tänzern wird ein Körpereinsatz verlangt, vergleichbar mit dem Hochleistungssport, und gleichzeitig

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Neue Wege und neue Ziele

werden darstellerische und künstlerische Leistungen erwartet und erbracht, die seit Jahrhunderten ihr Publikum finden und begeistern. Auch für mich ist da vieles neu, ich beginne, mich nun auch für Bühnenbild und Kostüm zu interessieren, und da hilft mir jetzt meine Malerei, ich entwerfe eigene Bühnenbilder, kopiere historische Kostüme. Das führt zu einem überraschenden Angebot: Das ambitionierte Theater der Altstadt in Stuttgart überträgt mir die Ausstattung von zwei Produktionen für das Schauspiel: Wolfgang Hildesheimer „Die Verspätung“ und Kurt Tucholsky „Schloss Gripsholm“. Das liegt nun wirklich ganz außerhalb meiner Erfahrungen, aber ich mache es mit einer Freude, die bis heute anhält. Ich bin also schon ganz schön ausgelastet, da fragt eine private Ballettschule in Stuttgart an, ob ich nicht Lust hätte zu unterrichten. Natürlich habe ich Lust und kann so erste pädagogische Erfahrungen sammeln. Doch dann kommt alles ganz anders. Rolf Liebermann, der Intendant der Hamburgischen Staatsoper, hat meinen Mann von Stuttgart abgeworben und auch gleich dafür gesorgt, dass ich beim Ballett in Hamburg mittrainieren kann. Ballettdirektor ist Peter van Dyk, von ihm hängt es dann ab, was sich für mich eventuell daraus entwickelt. Erst sehr viel später erfahre ich von den großen künstlerischen und persönlichen Spannungen zwischen Liebermann und van Dyk, die ja auch später zum Bruch führen. Van Dyk sagt nichts, ist aber offensichtlich nicht daran interessiert, mich in seine Compagnie aufzunehmen – aber er lässt mich mittrainieren. Durch einen persönlichen Kontakt zu Anni Peterka, der Leiterin des Hamburger Fernsehballetts, kann ich auch dort mittrainieren, um den Bezug zu aktuellen Tanzformen nicht zu verlieren. Im Training bin ich also gut ausgelastet, aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man sich im Training auf die täglichen Aufgaben vorbereitet oder ob man nur im Hintergrund einfach mitmachen darf. Mir genügt das nach einiger Zeit nicht mehr und ich gehe für drei Wochen nach Paris zu meinem alten Lehrer Paul Goubé, um wieder einmal „richtig“ zu arbeiten.

Montag, 18. Oktober 1965 Ich habe Mr. Goubé angerufen, und es gibt Training heute um 17 Uhr. Dienstag, 19. Oktober 1965 Oh, es ist so schwer, gestern bin ich fast umgekippt, keine Luft mehr. Heute war es schon besser, aber es geht nur langsam. Goubé hat gesagt, diese Woche dürfe ich nur ein Training machen, nicht alles auf einmal wollen. Ich glaube, er hat recht, denn was wird wenn ich krank werde oder ein Fuß kaputt?

Neue Wege und neue Ziele

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Mittwoch, 20. Oktober 1965 Heute ist der dritte Tag und es war wieder ein bisschen besser. Donnerstag, 21. Oktober 1965 Heute habe ich wieder um 12 Uhr Training und ich habe so viel Muskelkater – aber das macht nichts, Hauptsache, ich bekomme wieder Luft! Freitag, 22. Oktober 1965 Brouh – ich bin tot! Ich bin so viel gelaufen heute nach dem Training. Ich bin zum Thêatre des Champs Elysée gegangen und habe Karten gekauft für Rosella Hightower und Serge Golovine. Aber gelaufen, gelaufen, ich bin um 15.30 Uhr nach Hause gekommen und hab natürlich gleich ein Bad genommen, jetzt geht’s besser. Das Training ist auch jeden Tag ein klein wenig besser gewesen. Nächsten Sonntag tanzt Peter van Dyk mit Chauviré auch im Champs Elysée und am 3. November ist die erste Vorstellung des Hamburger Balletts. Sonntag, 24. Oktober 1965 Gestern habe ich mit meiner Mutter Hightower und Golovine gesehen. Golovine hat nicht viel getanzt, und Hightower hat nicht sehr schön und nicht sehr gut getanzt, aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil wir sehr weit oben saßen. Aber Programm und Choreographie waren auch nicht gut. Nun ja, ich war trotzdem froh, es zu sehen. Dienstag, 26. Oktober 1965 Gestern habe ich schlecht gearbeitet, aber heute war es besser. Es geht so langsam, mein Gott, so langsam. Jeden Tag machen wir neue Schritte, vielleicht geht es deshalb so langsam. Ich muss immer denken: Welcher Muskel soll jetzt arbeiten? Aber es ist ein gutes Training für den Kopf. Donnerstag, 28. Oktober 1965 Oh! Ich bin müde, ich komme vom Training. Es war nicht so schlecht, aber ich habe wieder Muskelkater. Meine Beine sind so schwer, die wollen nicht nach oben. Von dieser Fahrt nach Paris ist mir aber noch eine ganz andere Geschichte in Erinnerung. Ich hatte natürlich meine kleine Caroline mitgenommen und als nun bei einem Halt ein Herr unser Abteil betritt, kräht sie ihm fröhlich entgegen: „Papa, Papa!“, sehr zur Erheiterung der anderen Fahrgäste. Es ist mir furchtbar peinlich,

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Neue Wege und neue Ziele

und ich entschuldige mich tausendmal. Bei jedem Halt an einem Bahnhof, wann immer jemand an unserem Abteil vorbeigeht – ich fange gleich an zu zittern. Aber sie hat es dann nie mehr wiederholt. Diese Reise war dann auch mein letzter Versuch, im professionellen Bereich zu arbeiten. Es bleibt beim „Mittrainieren“ und so nimmt die Familie in diesen Jahren den weitaus größeren Teil meiner Aktivitäten in Anspruch. Wir haben in Hamburg-Volksdorf ein nettes Haus gemietet mit einem Garten, der direkt in Wald übergeht. Da gibt es manchmal sogar Besuch von Rehen, denen unsere Blumen besonders gut schmecken. Das ist wunderschön am Tag, aber nachts dann doch ein wenig unheimlich, vor allem wenn man ganz allein ist. Das kommt in dieser Zeit recht häufig vor, denn Robert ist viel unterwegs mit Gastspielen der Hamburger und auch immer wieder der Stuttgarter Oper.

2. Mai 1966 Es wird langsam hell und mit dem Tag verschwindet die Nacht und meine Angst. Die Vögel machen einen Krach, es ist unvorstelle… oh je, wie schreibt man das? Im Ganzen werden es acht Jahre, in denen für mich die Familie dominiert. Aber auch die Pläne für eine eigene Schule werden immer konkreter. Ich entwickle Lehrpläne, Trainingsformen für verschiedene Altersgruppen und Ansprüche. Natürlich trainiere ich weiter und ebenso natürlich bleibt meine Malerei ein weiterer Schwerpunkt. Ich kann damit meinen Mann unterstützen, der neben dem Theater auch viel Fernsehen macht. So bin ich heute noch stolz auf meine anatomischen Zeichnungen, die für einen Trickfilm über Sänger und Gesangstechnik eingesetzt wurden. Dann aber vergrößert sich unsere Familie, 1969 wird unser Sohn Stephan geboren, wir ziehen um nach Bremerhaven, wo mein Mann als Oberspielleiter nun praktisch jeden Monat eine Inszenierung abzuliefern hat. Während der Proben für ein Stück entwickeln wir meistens schon die Grundzüge für die beiden nächsten Produktionen. Ich sage wir, denn ich darf dabei eine wichtige Rolle spielen. Robert kann mit mir stundenlang über seine Gedanken und Ideen für das nächste Stück diskutieren, ich versuche dann, dies alles in Bildern zu konkretisieren, über die wir weiter sprechen. So entwickeln sich schließlich ganz konkrete Aussagen, die schließlich für Robert eine solide Gesprächsbasis mit den Bühnenbildnern schaffen. Für eine experimentelle Produktion kann ich sogar ein ganzes Programmheft graphisch gestalten. Damit erschöpfen sich aber schon meine Beziehungen zum Theater – trainiert wird zu Hause. Die Pläne für eine eigene Schule sind nun fertig, organisatorische und künstlerische Fragen geklärt, denn es soll ja nicht nur eine Schule sein, sondern ein Zentrum für Tanz

Neue Wege und neue Ziele

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mit Ausstellungen, Vorträgen und Gastkursen prominenter Lehrer. Zunächst kommt es aber noch einmal zu einem Ortswechsel, ich unterrichte für zwei Jahre an einer privaten Ballettschule in Würzburg. Abgesehen von den pädagogischen Erkenntnissenn bei der Arbeit mit unterschiedlichen Altersgruppen ist auch der Einblick in Aufbau und Organisation eines großen Unternehmens mit verschiedenen Unterrichtsorten sehr lehrreich für mich. Es ist nun die Frage nach dem bestgeeigneten Unterrichtsort für unsere eigene Schule die letzte zu treffende Entscheidung. Da mein Mann schon seit einigen Jahren während der Sommerpause der Theater einen Opernkurs in der Internationalen Sommerakademie des Mozarteums in Salzburg leitet und inzwischen in der Heimat seiner Familie ganz gut vernetzt ist, entscheiden wir uns also für Salzburg. Bei mehreren Besuchen studieren wir die Marktlage in Salzburg. Eine tüchtige Maklerin ist für uns auf der Suche nach geeigneten Räumen, die auf jeden Fall eine Bedingung erfüllen müssen: Unterricht und Wohnung müssen am gleichen Platz sein. Ich will nun endlich versuchen, Beruf und Familie gleichwertig nebeneinander leben zu können. Es ist zwar nicht die Erfüllung des Wunschtraumes, den ich mit neun Jahren hatte, aber immerhin – es hat ja doch noch mit Tanz zu tun. Und dann ist es soweit – im Frühjahr 1973 machen wir uns auf den Weg nach Salzburg.

In Salzburg angekommen

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ie Auerspergstraße ist eine Wohn- und Autoparkstraße, kaum Geschäfte, viel Durchgangsverkehr. Aber sie ist nicht weit entfernt vom Mirabellplatz, dem Zentrum der Neustadt. Dort gibt es Parkplätze und eine Tiefgarage, ganz wichtig, wenn man ein Unternehmen aufbauen will, das auf Publikumsverkehr angewiesen ist, auf möglichst viel Publikum. Wir wissen natürlich, dass Salzburg keine Ballettstadt ist, wir haben in der Vergangenheit geforscht, wir haben uns in der Gegenwart umgesehen. Aber mit einem Optimismus, der mir heute fast ein wenig verwegen vorkommen mag, gehen wir an die Arbeit. Ein Rückgebäude mit einem kleinen Garten in der Auerspergstraße soll es also sein, eine aufgelassene Werkstatt für Lederwaren, die sich nun in eine Baustelle verwandelt. Da werkeln sie nun, die Tischler, Glaser, Bodenleger, Installateure, Maler und Elektriker. In kurzer Zeit entsteht ein freundliches, helles Ballettstudio mit einem Ballettsaal von fast 100 Quadratmeter, professionell ausgestattet, mit Garderobe- und Sanitärräumen und einem kleinen Büro. Nicht zu vergessen dabei die Vierzimmerwohnung im ersten Stock, denn nur so lässt sich mein Problem „Beruf und Familie“ erfolgreich bewältigen. Parallel dazu rühren wir die Werbetrommel und werden überrascht von der großzügigen Bereitschaft der Institutionen in Salzburg, uns zu unterstützen: Landesrat Dr. Herbert Moritz, Stadträtin Martha Weiser, Festspielpräsident Josef Kaut, die Salzburger Kulturvereinigung mit Senatsrat Dr. Heinz Klier, die Szene der Jugend mit Alfred Winter und nicht zuletzt die Salzburger Nachrichten mit Frau Kaindl-Hönig. Die Werbung läuft so gut, dass wir am 2. Juli die erste Anmeldung für das Ballettstudio registrieren können, obwohl der Unterrichtsbeginn erst für September vorgesehen ist. Aber davor, zur Zeit der Festspiele im August, planen wir zunächst eine Ausstellung zum Thema „Ballett in Salzburg“. Wir wollen gleich zu Beginn demonstrieren, dass hier nicht nur eine Ballettschule für Kinder eröffnet wird, sondern dass wir das Thema „Ballett“ in allen seinen Ausprägungen in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen, mit eigenen Veranstaltungen, Vorträgen, Sonderkursen und eben auch Ausstellungen. Aber dann kommt es doch ganz anders: Am 26.  Juni 1973 stirbt John Cranko völlig überraschend auf dem Rückflug von einer sehr erfolgreichen Tournee seiner Stuttgarter Compagnie in den USA. Wir disponieren um und eröffnen schließlich am 7. August in unserem Ballettsaal eine „John-Cranko-Gedächtnis-Ausstellung“, in der wir mit

142 In Salzburg angekommen Unterstützung der Stuttgarter Theaterleitung über fünfzig großformatige Photos von Crankos Choreographien für das Stuttgarter Ballett präsentieren. In seiner Eröffnungsrede für die Ausstellung stellt der Generalintendant der Württembergischen Staatstheater, Professor Dr. Walter Erich Schäfer zwar mit Bedauern fest, dass Crankos Arbeiten bisher in Salzburg nicht gezeigt wurden, er hoffe aber nun vor allem auf eine Initiative der Salzburger Festspiele. Diese Hoffnung hat sich bis heute leider nicht erfüllt, erst zehn Jahre später gibt es bei den Festspielen wieder ein Ballettgastspiel, allerdings nicht aus Stuttgart. In den Jahren 1982 und 1986 kann man dann zwei Cranko-Choreographien in Salzburg bewundern: „Romeo und Julia“ und „Onegin“ – auf Einladung der Salzburger Kulturvereinigung! Aber unsere Ausstellung wird ein großer Erfolg, sehr bewegend sind dabei die Gespräche mit Festspielbesuchern aus Stuttgart, mit denen wir gemeinsame Erinnerungen austauschen können. Dann ist es endlich soweit: Am 10. September kann der Unterricht beginnen – mit 17 festen Anmeldungen. Bis zum Jahresende werden es immerhin 120 sein und irgendwann landen wir schließlich bei 600. Wir haben ein sehr breit gefächertes Unterrichtsprogramm entwickelt, das ich natürlich nicht alleine bewältigen kann. So unterstützen mich sehr bald Elisabeth Heymann, eine Absolventin des Orff-Instituts (Elementare Bewegungserziehung für Kinder im Vorschulalter), Edith Trauner (Jazzgymnastik) und Erhard Belonoz (Step). Schwerpunkt unserer Schule ist aber der klassische Tanz, für Schulkinder und Erwachsene, aufgeteilt in alters- und leistungsgleiche Gruppen. Das scheint mir sehr wichtig zu sein, denn Harmonie ist ein wichtiger Aspekt im Klassischen, nicht nur in der Bewegung, sondern auch im Aussehen: kleine Gruppen gleich großer Tänzerinnen, einheitlich gekleidet. Das ist ein gewisser Aufwand, den wir aber in Abstimmung mit der Firma Schachtner in Wien ganz gut bewältigt haben. Und dann habe ich noch einen ganz besonderen Kurs, die tänzerische Gymnastik für Erwachsene. Es ist ein reiner Damenkurs, in den sich kaum einmal ein Mann verirrt, aber diese Damen aus der Salzburger Gesellschaft halten mir viele Jahre die Treue. Ich habe mich richtig gefreut auf diese Stunde, es war fast wie ein Zusammentreffen von guten Bekannten, um nicht zu sagen: von Freunden. Ich habe mich nicht getraut, von „Freundinnen“ zu sprechen, obwohl unsere Klientel fast ausschließlich weiblich ist. Ausnahme: Unser Sohn Stephan ist natürlich im Klassischkurs der Kleinsten mit dabei und mit seinen fünf Jahren der Hahn im Korb. Seine Lieblingsdemonstration: mit Anlauf auf beiden Knien durch den Ballettsaal zu rutschen. Damit war er immer wieder sehr erfolgreich. Seine Schwester Caroline hatte ich gar nicht gefragt, sie war automatisch meine Schülerin geworden. Wenn ich so meine beiden Kinder im Unterricht vor mir hatte und meinen Mann gegenüber im Büro

In Salzburg angekommen

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wusste – falls er nicht gerade im Mozarteum unterrichtete –, in solchen Momenten hatte ich das Gefühl, jetzt endlich meinen Beruf und meine Familie ganz fest im Griff zu haben. Es wird hart gearbeitet bei uns und so stellen sich auch schnell Erfolge ein. Im Mai 1974 dürfen wir eine Feier zum Muttertag im Park von Hellbrunn gestalten und auch ein „Sumsi“-Ballett für Werbeveranstaltungen der Raiffeisenbank rekrutiert sich aus den Reihen der jungen klassischen Tänzerinnen. Unsere größte Veranstaltung ist aber einmal im Jahr das „Ballett-Studio im Kongresshaus“. Das ist zunächst gedacht als Werbeveranstaltung für unsere Schule, aber auch als Rechenschaftsbericht gegenüber den Eltern, denn sie haben ein Recht darauf zu erfahren, wofür sie ein Jahr lang Zeit und Geld investiert haben. Auch meine Investition an Zeit ist da beträchtlich, denn alle Klassen unserer Schule sollen sich entsprechend ihrem Leistungsstand möglichst gleichwertig präsentieren können. Man muss also ein Programm zusammenstellen, das diese Anforderung erfüllt, man muss die geeignete Musik dafür finden und schließlich muss mit den rund achtzig Mitwirkenden dies alles auch noch einstudiert werden. Das so entstandene bunte Programm reicht dann vom Volkstanz über historische Tanzformen bis zum klassischen Tanz, schließt aber auch Beispiele aus dem zeitgenössischen Tanz ebenso wie Jazzdance und Step ein. Wenn einzelne Programmpunkte dann noch eigene Kostüme erfordern, und das sind bei jeder Veranstaltung doch einige, dann setze ich mich eben in den noch freien Nachtstunden hin und entwerfe und nähe – allein! Im Programmheft ist dann ein kleiner Hinweis zu lesen:

Einstudierung und Choreographie stammen – wenn nicht ausdrücklich erwähnt – ebenso wie Kostüme, Bühnenbild und Plakat von Micheline FaurePflanzl. Immerhin! Aber ich muss auch zugeben, am Ende macht es doch Freude, wenn die fast 600 Plätze an Tischen rund um eine große Tanzfläche im Handumdrehen ausverkauft sind, wenn das Programm gut ankommt und man am Ende sogar das Publikum zum Tanzen bringt. Übrigens: Den Reingewinn aus diesen Veranstaltungen haben wir immer der Organisation „Künstler helfen Künstlern“ gespendet. Deren Präsidentin ist damals die Sängerin Lillie Claus-Dostal, Gattin des Komponisten Nico Dostal, die wir so in ihrem „Bemühen um die Betreuung der unverschuldet in Not geratenen Bühnenkünstler und Berufsmusiker von Stadt und Land Salzburg“ unterstützen können. So haben wir mit unserer Veranstaltung auch noch einen kleinen sozialen Beitrag geleistet.

144 In Salzburg angekommen Es war mir immer wichtig, bei diesen Aufführungen im Kongresshaus möglichst alle Schülerinnen aus den einzelnen Klassen einzusetzen. So können auch Leistungsschwächere durch die Aussicht auf einen öffentlichen Auftritt vor Eltern, Großeltern und Freunden deutlich motiviert werden, was dann auch meistens zu einer Leistungssteigerung führt. Aber nicht alle, die über einen längeren Zeitraum bei uns im Ballett-Studio trainieren, wollten dann auch im Kongresshaus auftreten, da gab es doch zu unterschiedliche Motivationen. So wollte etwa die Brauchtumsgruppe der „Salzburger Stierwascher“ vor allem ein Fitnessprogramm haben, kombiniert mit Übungen zur Koordination von Bewegung und Musik. Ganz anders später die Mannschaft der Skispringer des ÖSV. Hier sollte ein klassisches Training für Stabilität und Gleichgewicht sorgen und für die Kontrolle von Bewegungsabläufen. Unserer Tochter Caroline hat das sehr imponiert, junge Sportler in klassischen Posen zu sehen. Sie will dann auch unbedingt Skispringerin werden und protestiert mit einem Brief an Toni Innauer, weil sie es ungerecht findet, dass nur Männer auf die Sprungschanze dürfen. Inzwischen hat sich das zwar längst geändert, aber leider zu spät für unsere Tochter. Schließlich kommen dann auch noch Turnier-Tanzpaare aus dem österreichischen Tanzsportverband zu uns, die sich beim klassischen Training auf Partnerbeziehung und Haltungsfragen konzentrieren wollten. Ich habe also für alle diese sehr unterschiedlichen Interessen auch unterschiedliche Arbeitsprogramme zu entwickeln. Rein klassisch bleibe ich mit diesen recht spannenden und manchmal auch durchaus unterhaltsamen Trainingsprogrammen immer dann, wenn Berufstänzer zu mir kommen. Und sie kommen – aus Wien, aus München und vom Salzburger Landestheater, oft mit einem kleinen Problem, an dem sie mit mir arbeiten wollen. Obwohl unsere Schule ausdrücklich keine „Berufsausbildung“ vermittelt, ist es natürlich eine Freude für mich, mit Profis arbeiten zu können. Dennoch, Ballettmeisterin oder Trainingsleiterin einer großen Compagnie hätte ich nie werden wollen. Schuld daran ist ein gewisser Charakterfehler von mir, denn ich wollte selbst immer die Beste sein. Das war schon beim Training im Ballettsaal so. Während meiner Ausbildung in Paris war ich oft der einzige Teenager unter erwachsenen Profitänzerinnen und -tänzern, das hat meinen Ehrgeiz geweckt. Wenn ein geeigneter Raum zur Verfügung stand, dann habe ich nach dem Training allein weitergearbeitet, denn meine Devise war schon immer: Gut sein allein genügt nicht, du musst besser sein! Hier und jetzt, in meinem eigenen Ballett-Studio, versuche ich also, so gut wie möglich zu sein, um die sehr unterschiedlichen Anforderungen auch erfüllen zu können. Das aber bedeutet: volles Programm und Konzentration, die ganze Woche, von Montag bis zum Wochenende. Doch halt: Das Wochenende ist ja schon reserviert, denn man muss doch das Arbeitsprogramm für die kommende

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Woche planen. Das alles ist wirklich viel Arbeit und Stress, aber ich habe es doch relativ gut geschafft: Das System „Beruf und Familie“ hat tadellos funktioniert. Ich habe es schon früher erwähnt: Bei den Vorbereitungen für unser „BallettStudio“ hatten wir ein wenig in der leider recht mageren Ballettvergangenheit Salzburgs geforscht und dabei dennoch einige interessante Entdeckungen gemacht. So fiel uns ein Photo in die Hände von der Bronzefigur einer Tänzerin mit dem Titel „Derra Moroda“. Wir finden schließlich heraus, dass eine Frederica Derra de Moroda 1923 einen Solo-Tanzabend im Großen Saal des Mozarteums gegeben hatte. Als sie 1950 von ihrer Schwester die Schmederer-Villa in Parsch erbt, zieht sie ganz nach Salzburg und leitet dann in ihrem Haus bis 1967 eine Ballettschule. Was aber nur unter Fachleuten bekannt war: Sie hatte im Laufe ihrer Tanzkarriere eine der größten privaten Sammlungen historischer Tanzdokumente aufgebaut. (Die Sammlung wird heute als Derra-de-Moroda-Dance-Archives von der Universität Salzburg betreut.) Es entsteht sehr schnell ein intensiver persönlicher Kontakt, Frau Derra de Moroda hält dann bei uns Vorträge über historische Tanzformen, sie stellt uns Objekte ihrer eindrucksvollen Sammlung für Ausstellungen zur Verfügung, und sie vermittelt uns Kontakte zu internationalen Tanzspezialisten wie Lilian Harmel (London), Tamara Rauser (Wien) oder Karl-Heinz Taubert (Berlin). Da während der Schulferien im Sommer auch bei uns der normale Unterricht ausfiel, haben wir schon sehr früh damit begonnen, im August anspruchsvolle Sommerkurse vor allem für Erwachsene zu organisieren. Die Unterrichtseinheiten in historischem Tanz, Charaktertanz, Modern Dance und Jazzdance (Gunther-R. Eggert, München) und natürlich auch in klassischem Tanz wurden ergänzt durch Ausstellungen und Vorträge. Das waren dann immer wieder spannende Wochen mit interessanten Begegnungen. Vorträge gibt es natürlich auch im laufenden Schulbetrieb, dann jedoch eher auf die Salzburger Ballettszene fixiert. So haben wir im Lauf der Jahre sämtliche Ballettmeister des Landestheaters eingeladen und ihre Produktionen in Vorträgen und Gesprächsrunden vorgestellt, von Hanna Kammer bis Leo Salaz. Aber zurück zu dem Photo von der Bronzefigur, die, wie wir herausfinden können, von einer Frau Mettig stammt. Die Tirolerin Meta Mettig hatte sich nach einer fünfjährigen soliden Tanzausbildung in München dann doch für einen Beruf als Bildhauerin entschieden. Das zentrale Thema ihres Schaffens war allerdings der Tanz geblieben und so entstand eine Fülle von Bronzefiguren, Darstellungen von Tänzerinnen und Tänzern, denen sie die Namen berühmter Vorbilder oder die Titel bekannter Ballette gab. Auf internationalen Ausstellungen längst gefragt, ist sie in Salzburg, wo sie seit 1938 lebt, praktisch unbekannt. Wir haben dann 1975 in einer Ausstellung „Die Welt des Tanzes“ vierzig ihrer Figuren erstmals in

146 In Salzburg angekommen Salzburg präsentiert – mit großem Erfolg für die Bildhauerin. Unter den Bronzefiguren gab es auch eine „Marcia“ und die Verbindung zu Marcia Haydée vom Stuttgarter Ballett lag also nahe. Als ich Frau Mettig darauf anspreche, erzählt sie mir von einem Besuch John Crankos bei ihr in Salzburg, ein Jahr vor seinem Tod. Mehr war aber leider nicht zu erfahren. Es bleibt nicht bei einer Bildhauerin, wir können noch einige Künstlerinnen, die sich auch für das Thema Tanz interessieren, Malerinnen und Graphikerinnen wie Gerda Düring oder Irma Rafaela Toledo, unserem Publikum nahebringen. Die persönlichen Kontakte zu diesen Künstlerinnen – ja, es waren alles Frauen! – bleiben nicht ohne Folgen für mein eigenes Schaffen. Ich habe ja nicht permanent gemalt, dazu hätte mir meine berufliche Tätigkeit kaum die Zeit gelassen. Aber oft genügt ein kleiner Anlass, ein nicht gleich lösbarer Konflikt oder eine anregende Begegnung, um mich an die Staffelei zu bringen. Nach einem Besuch in der Fondation Vasarely in Aix-en-Provence etwa male ich wochenlang Schachbrettmuster im Stil der Op Art und als ich 1985 in Salzburg im ausgehöhlten ehemaligen Stadtkino in einer Ausstellung der Sammlung Lenz-Schönberg erstmals Nagelwerke von Günther Uecker sehe, kaufe ich auf dem Heimweg sofort Nägel. Im Gegensatz zu Ueckers Werken werden bei mir die Nägel aber immer kleiner, am Ende muss ich sogar mit einer Pinzette arbeiten. Die permanente Klopferei erfreut meine Familie über eine längere Zeit, es klingt damals bei uns wie in einer Schusterwerkstatt. Nun aber hatte ich mit unseren Ausstellungen die Kunstwerke im eigenen Haus, allerdings nur in Ferienzeiten, wenn der Ballettsaal nicht gebraucht wurde. So beginnt für mich eine ganz neue und sehr intensive Malperiode – die Bronzefiguren der Meta Mettig verwandle ich in Rötelstift-Zeichnungen, die bei unseren Besuchern sehr beliebt sind. Schon bald genügt mir das nicht mehr, ich habe die Malerei für mich neu gefunden und sie wird für mich ein herrlicher Ausgleich zum harten Unterrichtsalltag. In den Klassisch-Kursen für Erwachsene haben inzwischen einige Talente aufgezeigt, die an einer intensiveren Zusammenarbeit interessiert sind – alles Laien, Sportstudentinnen, Berufstätige – ein Mann ist auch dabei. So bekommt unser „Ballett-Studio“ schließlich sein eigenes „Studio-Ballett“ mit etwa acht Mitgliedern. Es wird sehr fleißig trainiert, und ich kann bald eigene Choreographien einstudieren – in historischen, klassischen und zeitgenössischen Tanzformen. Wir werden mehrmals zum „Fest in Hellbrunn“ eingeladen, werden bei Festveranstaltungen als Pausenattraktion angekündigt und präsentieren bei der Österreichischen Modewoche im Ausstellungszentrum an einem langen Wochenende im Stundentakt eine getanzte Modenschau für die Firma Cacharel. Die Erfolge machen Mut und so beteiligen wir uns sogar an dem renommierten Internationalen

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Choreographie-Wettbewerb „Le Ballet pour demain“ in Bagnolet, einem Vorort von Paris. Wir haben dreimal teilgenommen, 1976–1978, gewonnen haben wir nie und unser bestes Ergebnis wird ein 7. Platz, bei jeweils etwa fünfzig Teilnehmern. Die Konkurrenz, vor allem aus Paris, ist einfach zu groß und zu gut. Einmal allerdings hätte es fast geklappt. Ich hatte als Musik „Die versunkene Glocke“ aus den Préludes von Debussy in einer Synthesizer-Version von Isao Tomita ausgewählt und meine Tänzerinnen in selbstentworfene Nonnenkostüme gesteckt. Hinterher meinte Violette Verdy, Primaballerina und Vorsitzende der Jury zu mir: „Heute hätten Sie eigentlich den ersten Preis für Ihre Choreographie verdient. Aber die Nonnen! Die Jury war schockiert – das hat man Ihnen nicht verziehen. Schade!“ Ich fand das eher lustig und habe alle diese Wettbewerbstage sehr genossen und viel dabei gelernt. Mein Arbeitsplan ist also bereits gut ausgefüllt, da meldet sich das Mozarteum und bietet mir einen Lehrauftrag für „Bewegungserziehung“. Das ist nun eine ganz andere, neue Aufgabe, denn „Bewegung“ ist bis dahin kein Thema bei der Gesangsausbildung. Der Anfang wird schwierig, viele Widerstände und kein geeigneter Unterrichtsraum – den hatte man ja bisher nicht gebraucht. Doch dann kommt der Neubau am Mirabellplatz und der Architekt setzt alle meine Vorschläge um: Ich bekomme einen perfekten Ballettsaal, um den mich manches Theater beneidet hätte. Nun bleibt es nicht bei den Bewegungsfächern, die verschiedenen Tanzformen nehmen bald einen wichtigen Platz ein, obwohl es ja am Mozarteum keine eigene Tanzausbildung gibt. Das Große Studio wird bald der ideale Aufführungsort für unsere Produktionen, das Repertoire aus Oper, Operette und Musical reicht von Christoph Willibald Gluck bis Leonard Bernstein. Als 1986 Rolf Liebermann die Leitung der Internationalen Sommerakademie des Mozarteums übernimmt und Peter Ustinov einlädt, Mozarts „Le Nozze di Figaro“ zu inszenieren, holt er mich für die Einstudierung des Fandango im 3. Akt. Das wird nicht nur eine amüsante Probenzeit mit Ustinov, es beschert mir auch nach zwanzig Jahren ein Wiedersehen mit Hamburg, denn die Produktion wird anschließend von der Hamburgischen Staatsoper übernommen. Nicht alle Pläne aus dieser Zeit können realisiert werden und so tut es mir noch heute besonders leid um ein Projekt mit dem schönen Titel „Idiotenkapriolen“ von André Heller, das aus organisatorischen Gründen leider abgesagt werden musste. Aber es bleiben viele schöne Erinnerungen aus dieser Zeit und das Schönste dabei: Robert ist ja szenischer Leiter einer Opernklasse am Mozarteum und so können wir erstmals über einen langen Zeitraum zusammenarbeiten, gemeinsame Produktionen auf die Bühne bringen und sogar Gastspielreisen damit unternehmen. Es ist eine wunderbare Zeit der Zusammenarbeit, die zwar viel Kraft kostet, aber auch viel Freude bereitet.

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Abb. 55: 1973 Gedächtnisausstellung John Cranko

Abb. 56: 1974 „Ballett in Salzburg“ mit Friderika Derra de Moroda

Abb. 57: 1975 „Die Welt des Tanzes“ mit der Bildhauerin Meta Mettig

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Abb. 58/59: 1974 Kongresshaus Salzburg

Abb. 60: 1979 „Ballet pour demain“ in Paris-Bagnolet

Statistik 3: Meine Choreographien

1962 Lukas Foss 1975 Ch. W. Gluck 1976 Mozart/Eugen Cicero Sergej Prokowjew 1977 Debussy/Isao Tomita Ralph Benatzky Cole Porter Michael Haydn/Mozart 1978 Debussy/Tomita G. Rossini Josef Bayer 1979 J. Offenbach Scott Joplin Frank Loesser 1980 Michael Haydn 1981 Oskar Nedbal Leonard Bernstein Jerry Bock Vincent Youmans Orazio Vecchi 1982 Franz von Suppé

Kleine Begegnung

Stuttgart

Don Juan

Salzburg

Mozart Peter und der Wolf

Bagnolet/Paris Salzburg

2+1 Meine Schwester und ich Kiss me Kate Salzburg anno 1777

Bagnolet/Paris Salzburg Salzburg Fest in Hellbrunn

Trois Mouvements Der Türke in Italien Die Puppenfee

Bagnolet/Paris Salzburg Salzburg

Orpheus in der Unterwelt Treemonisha Guys and Dolls

Salzburg Salzburg Salzburg

Der Traum

Fest in Hellbrunn

Polenblut West Side Story Anatevka No, no, Nanette Selva di varia Ricreatione

Salzburg Salzburg Salzburg Salzburg Fest in Hellbrunn

Zehn Mädchen und kein Mann

Salzburg, Meran

Statistik 3: Meine Choreographien

1984 Chr. W. Gluck 1986 W. A. Mozart 2002 Carl Orff

Die Chinesinnen

Salzburg, Wien

Le nozze di Figaro

Salzburg, Hamburg

Carmina Burana

Salzburg

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In Salzburg angekommen

Meine Bilder – eine kleine Auswahl

Abb. 61: Rötelzeichnung (1975) nach einer Bronzefigur der Bildhauerin Meta Mettig. 30/40

Abb. 63: „Solitaire“ (2018 ) 40/50 Acryl

Abb. 62: „Feux follets“ (1976) 30/40 Filzstift

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Abb. 64: „Unter Wasser“ (2018) 60/46 Acryl

Abb. 65: „Tänzerin (2018) 35/50 Acryl

Abb. 66: „Mutter mit Kind“ (2018) 32/50 Acryl

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In Salzburg angekommen

Abb. 67: „Madonna“ (2018) 60/45 Acryl

Abb. 69: „Promenade“ (2018) 50/40 Tempera

Abb. 68: „Kleine Pause“ (2018) 40/30 Tempera

In Salzburg angekommen

Abb. 70: „Artisten“ (2018) 30/40 Acryl

Abb. 71: „Unterwegs“ (2018) 51/35 Acryl

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In Salzburg angekommen

Abb. 72: „Im Märchenwald“ (2020) 40/50 Acryl

Abb. 73: „Au secours“ (2019) 100/70 Acryl

Abb. 74: „Windhund“ (2020) 40/60 Acryl

Ausklang

I

rgendwann lässt es sich nicht mehr verheimlichen: Ein Tag hat nur eine bestimmte Stundenzahl, und die Woche hat nur sieben Tage. Unser Ballett-Studio platzt schon aus allen Nähten und mein Arbeitskalender auch. Es stellt sich die Frage, was wir nun tun sollen: vergrößern oder reduzieren? In langen, ernsthaften Diskussionen planen wir zunächst, richtig groß herauszukommen: ein anderer Standort, Altbau oder Neubau, mit mehreren Unterrichtsräumen und viel Platz daneben, auch für eine eigene Ballett-Boutique, neue organisatorische Strukturen unter Fortführung des nun schon bewährten Unterrichtsangebotes, aber ergänzt durch eine offizielle und professionelle Berufsausbildung. Die entsprechenden Diplome besitze ich schon lange, man müsste nur das Lehrerteam entsprechend erweitern. Allerdings, eine Entlastung für mich hätte das kaum gebracht, im Gegenteil, und es wären Investitionen erforderlich geworden, die uns auf viele Jahre weiterhin an das Ballett-Studio gebunden hätten. Ich bin nun in den Vierzigern, es gibt auch kleinere gesundheitliche Probleme, da fällt es dann nicht mehr so leicht, täglich stundenlang vor immer neuen Gruppen zu stehen, vorzutanzen, mitzutanzen und zu korrigieren und daneben auch noch eigene Choreographien zu entwickeln. So entscheiden wir uns schließlich für die bescheidenere Variante – für die Trennung von der Schule und die Übergabe an einen professionellen Nachfolger. Im September 1980 übernimmt Leo Salaz, der Ballettmeister des Landestheaters, unser Ballett-Studio Salzburg. Was macht man, wenn einem plötzlich Freizeit geschenkt wird? Für mich ist das ganz klar, schon seit meiner Kindheit: Ich setze freie Stunden sofort in Bewegung um, in sportliche Bewegung. Als Tänzerin hatte ich da kaum Möglichkeiten, erstens fehlte mir die Zeit und außerdem waren Sportarten mit Verletzungsgefahr sogar vertraglich verboten. Und welcher Sport ist schon risikofrei? Aber seit wir in Salzburg leben, hat sich das deutlich geändert. Als wir unsere Kinder zum Skikurs brachten, da war uns das ewige Warten und das Teetrinken bald zu langweilig. Wir haben also mit dem Skilanglauf angefangen und bald sehr viel Freude damit gehabt. Daneben noch ein bisschen Eislaufen und Hallensport, so kam man ganz gut über die Wintermonate und im Sommer folgten dann Radfahren und Tennis. Jetzt aber hatte ich ganz andere Möglichkeiten und die nutzte ich auch aus. Hier ein paar Beispiele zu meiner Freizeitgestaltung in diesen neuen Lebensabschnitt.

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Ausklang

Sonntag, 27. Januar 1985 Gestern nach Flachau zum Langlaufen, unsere Lieblingsgegend. Ideale Bedingungen, Sonne und blauer Himmel, super Piste. 26 Kilometer sind wir gelaufen und zunächst war es ganz herrlich. Aber auf dem Rückweg kamen wir in einen Schneesturm und die letzten 6 Kilometer geht es nur bergauf – eine Qual. Robert ist heute noch etwas angeschlagen, mir geht es schon wieder ganz gut. Ich habe heute schon 10 Kilometer auf dem Heimtrainer absolviert, um 11 Uhr die Trainerstunde in der Tennishalle vom Point-Hotel und am Nachmittag sechs Runden (= 18 Kilometer) auf unserer Langlaufpiste vor der Haustüre in Anif. Das war ganz lustig, denn bei meiner dritten Runde kam ein junger Mann, der mich natürlich überholt hat. Er wartete dann am Ziel, aber ich bin gleich wieder weiter in die nächste Runde – und er dann auch. So sind wir noch drei Runden gelaufen und haben auch ein bisschen geredet. Das ist doch toll, ich bringe die jungen Leute zum Laufen, damit man ihnen nicht nachsagen kann, eine ältere Frau habe sie überholt ohne anzuhalten! Samstag, 28. September 1985 Gestern mit Kiki Heymann, das war eine richtige Bergtour. Zunächst 6 Kilometer mit dem Rad bis zum Untersberg, dort, wo die verschiedenen Wege hinauf beginnen. Dann den Dopplersteig, Stufen auf Stufen, ohne Ende, ohne Halt, anderthalb Stunden immer nur bergauf. Zum Glück hatten wir genug Getränke mitgenommen. Heute tut mir alles weh und die Familie meint, ich sei verrückt. Das ist vielleicht ein bisschen wahr, aber nach einer Anstrengung fühle ich mich immer gut. Ich freue mich schon auf den ersten Schnee! Donnerstag, 6. November 1986 Ich habe Robert und mich für einen Langlaufkurs in Faistenau angemeldet, drei Tage, organisiert von der Uni. Und zusammen mit Caroline habe ich mich für zwei Gymnastikkurse eingeschrieben, auch von der Uni, im Sportinstitut in Rif. Das ist super, denn am Kursende kann man alle Sportgeräte benutzen, die im Saal stehen, Sprungbrett, Pferd, Parallelbarren, Balken. Wenn ich mich auf die Geräte stürze, fangen die jungen Männer immer an zu lachen, das ist mir egal. Heute habe ich auch mal die Kletterstange versucht! Donnerstag, 13. November 1986 Diesmal haben wir einen Konditionskreislauf gemacht, immer 3 Minuten, ohne Pause. Mir war das zu langweilig und so habe ich einfach weitergemacht, bis der Trainer rief: „Frau Pflanzl, aufhören, Sie machen jetzt schon 6 Minuten!“. Ich

Ausklang

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hatte es gar nicht gemerkt, ich war ganz allein, die anderen konnten schon nicht mehr. Ich bin verrückt, aber das macht nichts. Freitag, 10. März 1989 Heute habe ich bei Caroline meinen ersten Unterricht mit Alpinski gehabt. Warum nicht, wenn man schon eine Tochter hat, die in ihren Semesterferien als Skilehrerin arbeitet? Am Vormittag anderthalb Stunden auf einem kleinen Hügel, ohne Stöcke und immer wieder im Schlittschuhschritt den Berg hinauf. Erste Rutschversuche, ohne hinzufallen! Aber immer in gebückter Haltung, mit ausgestrecktem Hintern. Es gab daneben noch zwei Kurse mit Erwachsenen und irgendwann fragte einer der Lehrer Caroline, was ich denn für einen Sport betreiben würde mit dieser Superkondition. Das hat mir gut getan! Der junge Mann meinte auch, wir könnten ruhig höher hinauf gehen, da wäre auch der Schnee besser. Wir haben also den Sessellift genommen und ich habe mich dann wirklich auf die Piste getraut – ziemlich steil für mein Gefühl! Ich bin natürlich ein paar Mal hingefallen und dann am Ende ganz langsam in die Gruppe eines Skikurses hineingerutscht, habe eine Holländerin umgefahren und mich selbst daneben gesetzt. Ich war aber schnell wieder auf den Beinen und habe gerade noch den Ski der Holländerin, der weggerutscht war, fangen können. Unten angekommen, sind wir gleich wieder raufgefahren und langsam fühlte ich mich sicherer auf meinen Skiern. Nur ist die ganze Ausrüstung so schwer und die ausgeliehenen Skischuhe drückten auf das Schienbein, alles ist voll blauer Flecke. Aber ich habe die Zähne zusammengebissen und am Ende ging es schon ganz gut. Drei Stunden waren wir auf der Piste – vielleicht wieder am nächsten Freitag? Am Mozarteum – dort habe ich inzwischen zehn Wochenstunden – führe ich meine Arbeit noch 13 Jahre weiter. Dann scheint auch hier der richtige Zeitpunkt für einen Abschied gekommen zu sein. Aber ich kann noch dafür sorgen, dass meine Position wieder unter professionellen Aspekten nachbesetzt wird: 1993 übernimmt Peter Breuer, nun neuer und sehr erfolgreicher Ballettchef am Landestheater Salzburg, meine Aufgaben am Mozarteum. Im gleichen Jahr ziehen wir um nach Großgmain in der Nähe von Salzburg. Dort ist ein Zimmer im Haus für mein Training reserviert, mit Ergometer, Trim Disc, Rudergerät, Trampolin und Hanteln verschiedener Größen, Robert nennt es „Die Folterkammer“. Er besucht es höchstens einmal in der Woche, ich bin fast täglich dort. Auch wenn es mit dem Tanz nun endgültig vorbei ist, ich brauche mein tägliches Training, jetzt eben auf Kondition ausgerichtet. Kleine Ausflüge in pädagogische Bereiche finden zwar immer wieder statt, etwa ein Lehrauftrag an

160 Ausklang der Universität Salzburg beim Institut für Sportwissenschaften, ein Tanzkurs für die Herrenmannschaft der österreichischen Skispringer, eine Choreographie für die Faschingsgarde von Großgmain oder ein Seniorentraining; aber das bleiben eben doch Ausnahmen. Im Zentrum steht die sportliche Betätigung und das führt wirklich bis zum Training für ein Sportabzeichen und zur Teilnahme an Tennisturnieren. Das allgemeine Radfahren ist Vergangenheit, da habe ich mich längst spezialisiert auf Rennrad oder Mountainbike und auf beiden Sportgeräten sind meine Leistungen gar nicht so schlecht. Übrigens: Der sogenannte Wiegetritt, also wenn ein Radfahrer zum Beispiel bei starker Steigung aus dem Sattel geht und im Stehen tritt, diese sehr anstrengende Art des Radfahrens heißt in Frankreich à la danseuse! Selbstverständlich bekomme ich wunschgemäß zu meinem 75. Geburtstag ein neues Rennrad und als dann einmal der Sohn unserer Nachbarn, ein sportlich durchtrainierter Teenager, nach einer Radtour mit mir total erschöpft ist, meint er zu meinem Mann: „Deine Frau, die ist ein Atomkraftwerk!“ Solche Reaktionen bestärken mich natürlich in meinen sportlichen Ambitionen, es sind genau die Sprüche, die ich liebe! Und so geht es weiter: Eine der letzten Produktionen von Robert und mir am Mozarteum ist die „Carmina Burana“ von Carl Orff. In den handlungslosen mittelalterlichen Gesangstexten ist sehr viel von „Grün“ die Rede. Obwohl wir beide von Golf keine Ahnung haben, scheint uns das doch ein entscheidender Hinweis zu sein. Wir verbinden also die berühmte Filmgeschichte des amerikanischen Golfers Bagger Vance mit der Musik von Carl Orff, die Bühne im Großen Studio wird zum Golfplatz. Das führt natürlich sofort zu engen Kontakten mit dem Golfclub Salzburg, wir schnuppern in einer Sportart, die uns bisher kaum interessiert hat – und sind begeistert. Nicht nur, weil der Golfclub unsere Aufführung komplett ausstattet und für die Proben einen Trainer zur Verfügung stellt, nein, wir selbst fangen an, Golf zu spielen, und das bis heute mit unverminderter Freude; so intensiv, dass ich sogar auf unserer Terrasse in Großgmain einen kleinen Trainingsplatz eingerichtet habe. Inzwischen spielt die ganze Familie und nun auch schon die dritte Generation: Der junge Mann auf Abbildung 79, der mich beim Golfabschlag beobachtet, ist unser Enkel Alexander, selbst ein echtes Golftalent! Gespielt wird überall in der Umgebung und im Sommer in St. Bonnet, wo wir auf 1200 Meter Seehöhe einen herrlichen Platz ganz in der Nähe haben. Erinnern Sie sich noch an St. Bonnet-en-Champsaur – ich habe im Kapitel 1 darüber erzählt. Auch wenn ich dort inzwischen Golfturniere spiele, dies ist aber nun wirklich die letzte sportliche Herausforderung, auf die ich mich einlasse. Ich betreibe Sport vor allem, um fit zu bleiben, so fit, wie ich es in meiner aktiven Zeit als Tänzerin war. Damit aber jetzt kein falscher Eindruck entsteht: Meine

Ausklang

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Liebe und mein Interesse gehören nach wie vor dem Tanz. Da sind einmal die Erinnerungen an die alten Zeiten. So ist die Freude groß, als im Jahr 2011 aus Stuttgart eine Einladung zu Ballett-Festwochen kommt. Vor fünfzig Jahren, am 1. Januar 1961, hatte John Cranko die Leitung des Stuttgarter Balletts übernommen und das wollte man nun mit eigenen Produktionen und Gastspielen drei Wochen lang feiern. In einem Katalog wurden alle ehemaligen Mitglieder des Balletts seit 1961 aufgelistet und da war der Schock groß, weil hinter den etwa 400 Namen schon so viele Kreuze standen. Dennoch, meinen Partner Ray Barra oder meine Kollegin Georgette Tsinguirides und viele andere wiederzusehen – unvergessliche Augenblicke, in denen nur die schönsten Bilder aus vergangenen Zeiten auftauchen und wie ein Film zum Leben erwachen. Bei den Vorstellungen dieser festlichen Ballettwoche ist es dann für mich sehr berührend, in den Pausen mehrfach von Fremden angesprochen zu werden, die mich nach so vielen Jahren noch immer erkannt haben. Aber man darf nicht nur von der Erinnerung leben. So wie ich mich freue über die Kontakte zu ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, so freue ich mich auch, wenn Menschen, die einmal mit mir gearbeitet, bei mir trainiert haben, dem Tanz treu geblieben sind und mit eigener Schule oder eigener Compagnie dem Tanz neue Impulse gegeben haben. Ich möchte hier nur Editta Braun und Hubert Lepka erwähnen, die auf unterschiedlichen Wegen mit ihrer Kreativität einen wichtigen Platz in der internationalen Kulturszene gefunden haben. Die aktuelle Situation in der Welt des Tanzes ist ja wirklich aufregend. Die Anforderungen an Tänzerinnen und Tänzer sind in den vergangenen Jahren gewaltig gestiegen, ebenso wie die Leistungen, die von den Compagnien erbracht werden müssen. Noch nie war das technische Niveau so hoch wie heute, verbunden mit dem Anspruch auf künstlerische Höchstleistungen, wie sie von den zahlreichen choreographischen Begabungen immer wieder neu gefordert werden. Ich habe diese Entwicklung mit Spannung verfolgt, etwa wie in Stuttgart der Nachwuchs bei den Choreographen gefördert wird – eine Entwicklung, die von der Noverre-Gesellschaft angeregt und dann auch von Cranko fortgeführt wurde. Die Ballettabende in Stuttgart, in Wien oder Zürich sind daher heute noch fester Bestandteil unserer Reisepläne. Nicht zu vergessen: Salzburg. Hier hat Peter Breuer in den Jahren seiner Tätigkeit als Ballettdirektor große Erfolge erzielt und damit viel für die wachsende Beliebtheit dieser einzigartigen Kunstform getan. Wer heute in Salzburg einen Ballettabend besuchen möchte, der muss sich frühzeitig um Karten kümmern, denn das Interesse am Tanz ist deutlich gestiegen – sehr zu meiner Freude, aber das muss ich wohl nicht extra betonen.

162 Ausklang Trotz Konditionstraining, sportlicher Betätigung und intensiver Reisetätigkeit zu den interessantesten Ballettereignissen hält sich der Zeitaufwand in Grenzen. Davon profitiert nun vor allem meine Malerei. Auch wenn ich mich gelegentlich mit anderem Material auseinandersetze und gerne mit Speckstein oder Olivenholz arbeite, das Malen steht immer noch im Zentrum. Meine Themen sind die gleichen geblieben, Impressionen aus der Welt des Tanzes und die Sorge um den Erhalt unserer Umwelt. Schon sehr früh habe ich mich mit Gedanken zum Naturschutz beschäftigt, wie mein kleines „Gedicht“ von 1960 zu zeigen versucht. La joie est dans le ciel

Alles atmet Freude,

Printemps te revoilà

denn der Frühling ist da:

Tes moineaux battent des ailes

Der Flügelschlag der Spatzen sagt uns:

Comme ils sont heureux!

Wie glücklich sie sind!

Que deviendrions nous, moineaux,

Was würde aus uns werden

Si vos ailes n’etaient plus?

ohne eure Flügel?

La terre serait triste

Auf Erden wäre es traurig

Et là haut,

und ganz oben im Himmel

Au plus haut des cieux, que des larmes!

nichts als Tränen!

Oh! Moineaux, pourriez-vous y survivre?

Oh! Ihr Spatzen, könnt ihr nicht überleben?

Liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie mir bis zu dieser letzten Seite gefolgt sind, dann möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Geduld und für das Interesse an meiner Geschichte bedanken: von dem kleinen Mädchen aus dem großen Paris, das sich auf den Weg macht in die fremde weite Welt, um sich den Traum von einer Tanzkarriere zu erfüllen und das auf dem besten Weg dorthin vor der schwierigen Entscheidung steht, mit der so viele Frauen fertig werden müssen – Karriere oder Familie. Ich kann heute leben mit dem Kompromiss, für den ich mich damals entschieden habe, auch wenn meine „Mädchenträume“ etwas anders aussahen. Entscheidend ist doch, dass man seinem Ideal treu bleibt gegen alle Widerstände, dass man mit Energie und Disziplin versucht, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen. Ich habe es jedenfalls versucht und blicke heute in Dankbarkeit zurück auf diese Zeit. Dank auch Ihnen, dass Sie mich auf dieser Reise in die Vergangenheit begleitet haben.

Micheline Faure-Pflanzl

Ausklang

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Abb. 75–78: Ob Speckstein, Leinwand oder Betonrohr – ich bearbeite alles, was mir in die Hände fällt.

164 Ausklang Abb. 79–82: Ob Golf, Tennis, Langlauf oder Rennrad – ich bin noch immer ständig unterwegs.

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Abb. 83: Salzburg 2002: Die letzte Choreographie an der Universität Mozarteum „Carmina Burana“ auf dem Golfplatz Abb. 84: Stuttgart 2011: Die letzte Begegnung mit Fritz Höver, dem Gründer der Noverre-Gesellschaft in Stuttgart

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen in Privatbesitz Briefe von Rolf Badenhausen, Nicholas Beriozoff, Clara Candiani, John Cranko, Serge Golovine, Paul Goubé, Lilian Harmel, Rolf Liebermann, Aurel von Milloss, Michelle Perrot, Herta Poddine, Gerhard Prager, W. E. Schäfer, Karl Heinz Taubert. Micheline Faure: Aufzeichnungen, Briefe, Tagebücher. Sendekopie von „Romy und Julius“, ORF, Februar 1963. Sendekopie von „Wien und wir im Walzertakt“, ZDF, April 1963. Sendekopie von „Salzburg anno 1777“, ORF, August 1977.

Literaturverzeichnis Benesh, Joan: Benesh Dance Notation, Book 1–3. The College of Choreology, London 1955. Boll, André: Jean Babilée. Robert Laffont, Paris 1956. Castil-Blaze: La Danse et les Ballets. Paulin, Paris 1832. Cranko, John: Über den Tanz – Gespräche mit W. E. Schäfer. Fischer Verlag Frankfurt am Main 1974. Derra de Moroda, Friderica: Die Ballettmeister vor, zur Zeit und nach J. G. Noverre, Typoskript, ohne Datum. Fabre, Dominique: Lycette Darsonval. Robert Laffont, Paris 1956. Geitel, Klaus/Kilian, Hannes: John Cranko –Ballett für die Welt. Jan Thorbecke, Sigmaringen 1972. Guest, Ivor: Le Ballett de l’Opéra de Paris. Théâtre National de l’Opéra, Paris, ohne Datum. Henze, Hans Werner: Undine – Tagebuch eines Balletts. Piper, München 1959. Koegler, Horst: Friedrichs Ballettlexikon. Friedrich Verlag, Velber 1972.

168 Quellen- und Literaturverzeichnis Koegler, Horst/ Winkler-Betzendahl,Madeline: Ballett in Stuttgart. Chr. Belser, Stuttgart 1964. Noverre, J. G.: Lettres sur la Danse. Librairie Théâtrale, Paris 1952. Regner, O. F.: Das Ballettbuch. Fischer, Frankfurt am Main 1954. Regner, O. F.: Das neue Ballettbuch. Fischer, Frankfurt am Main 1962. Schäfer, Walter Erich: Bühne des Lebens – Erinnerungen. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart1975. Taubert, Karl Heinz : Höfische Tänze. B. Schott’s Söhne, Mainz 1968. Tugal, Pierre: Jean George Noverre. Henschelverlag, Berlin 1959. de Warren, Robert: Destiny’s Waltz. Eloquent Books. New York 2009. Woolliams, Anne: Ballettsaal. Belser Verlag, Stuttgart 1973.

Bildnachweise

Paris:

Noak Carrau (Abb. 60) Max Erlanger de Rosen (Abb. 9, 10) Serge Lido (Abb. 11–16) RTF (Abb. 17)

Stuttgart:

Hannes Kilian (Abb. 28, 34, 37–39, 45) Pedemonte (Abb. 22) Kurt Rebmann (Abb. 23–27, 29–32, 35, 36, 40–44)

Salzburg:

Manfred Siebinger (Abb. 61–74) Ingrid Tautscher (Abb. 56–59)

Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Personenregister

Alexander, Yvonne Britische Ballerina, verheiratet mit Paul Goubé 41, 48, 57 (Abb. 19)

Bielek, Agnès unser ungarisches Flüchtlingskind 37, 39–49

Arova, Sonia (1927–2001) Ballerina 38

Blanchard, Jean Tänzer 35

Babilée, Jean (1923–2014) Tänzer, Choreograph, Schauspieler 31, 35, 37, 38, 39

Braun, Editta (geb.1958) Tänzerin, Choreographin, „editta braun kompanie“ 161

Badenhausen, Dr. Rolf (1907–1987) Theaterwissenschaftler 50, 64, 65, 80, 93, 94

Breuer, Peter (geb. 1946) Erster Solotänzer, Choreograph, Ballettdirektor 159, 161

Barclay, Donald Solotänzer des Stuttgarter Balletts 72, 73, 87 (Abb.)

Brieux, Yves (1905–1991) Tänzer, Choreograph, Tanzpädagoge 80, 132

Barra, Ray (geb. 1930) Erster Solotänzer des Stuttgarter Balletts 67, 68, 81, 83, 89 (Abb.), 93– 96, 100, 101, 106, 111 (Abb.), 114 (Abb.), 131, 132, 133

Budde meine „Ersatzfamilie“ in Stuttgart 107, 110

Belonoz, Erhard Steplehrer 142 Beriosova, Svetlana (1932–1998) Ballerina des Royal Ballet London 51, 91, 92, 95, 98 Beriozoff, Nicholas (1906–1996) Choreograph, Ballettdirektor in Stuttgart 1957–1960 50, 51, 61–68, 70 (Abb.), 72, 74, 76, 79, 83, 91, 92, 93, 96, 99, 100, 112 (Abb.), 131, 132, 133, 134

Burne, Gary Solotänzer des Stuttgarter Balletts 106, 110 Candiani, Clara (1902–1996) frz. Journalistin 102, 103 Catá, Alfonso (geb. 1937) Solotänzer des Stuttgarter Balletts, Ballettdirektor 134 Chaudet Freunde meiner Familie in Paris 17, 22, 24, 33

Personenregister

Chauviré, Yvette (1917–2016) Primaballerina der Pariser Oper 35, 68, 72, 110 Claus-Dostal, Lillie Sängerin 143 Cranko, John (1927–1973) Choreograph, Ballettdirektor in Stuttgart 1961–1973 91, 94–102, 104, 105, 110, 112 (Abb.), 115 (Abb.), 123-126, 128, 133, 134, 141, 142, 146, 148 (Abb.), 161 Croisilles, Madame Pianistin am Studio Wacker 18, 24, 27, 29, 30, 31, 36, 38

171

Düring, Gerda (1920–1995) Malerin 146 Dyk, Peter van (1929–1997) Solotänzer, Choreograph, Ballett­direktor 136, 137 Eggert, Gunther-R. Tänzer, Choreograph, Regisseur 94, 100, 120, 145 Erhard, Gisela Solotänzein des Stuttgarter Balletts 68, 73 Fonteyn, Margot (1919–1991) Primaballerina Assoluta 120, 124

Darsat, Paul und Olga Freunde meiner Familie in Paris 40, 47, 48

Frédéric-Dupont, Édouard (1902–1995) Präsident des Conseil municipal von Paris 22

Darsonval, Lycette (1912–1996) Primaballerina der Pariser Oper, Ballettmeisterin 16, 18, 23, 28, 50

Genet, Jean Pierre (geb. 1928) Choreograph 120–123

Dazy, Marcelle Solotänzerin der Opéra Comique Paris, Tanzpädagogin 15, 18, 19, 22, 23, 24 Dellavalle, Hugo (geb. 1937) Solotänzer des Stuttgarter Balletts 62, 64, 68, 72, 81, 83, 86 (Abb.), 88 (Abb.), 131, 132, 134 Derra de Moroda, Friderica (1897–1978) Tänzerin, Choreographin, Tanzpädagogin, Tanzforscherin 145, 148 (Abb.)

Golovin, Serge (1924–1998) Solotänzer, Choreograph, Tanz­ pädagoge 135, 137 Goubé, Paul (1912–1979) Erster Solotänzer der Pariser Oper, Tanzpädagoge 16, 37–43, 46, 48, 51, 93, 105, 106, 136 Guichot frz. Choreograph, Ballettmeister 63 Hager, Ghita Choreographin 132 Hager, Leopold (geb. 1935) Dirigent 120

172

Personenregister

Harmel, Lilian (1908–1982) österr. Tänzerin, Choreographin, Tanzpädagogin 145

Klier, Heinz (geb. 1927) Generalsekretär der Salzburger Kulturvereinigung 141

Haydée, Marcia (geb.1937) Primaballerina, Choreographin, Ballettdirektorin 106, 110, 146

Koellner, Alfredo (geb. 1933) Solotänzer des Stuttgarter Balletts 115 (Abb.), 133

Heinrich, Helga (1933–2012) Solotänzerin 62, 67, 73, 77, 80, 81, 92, 100, 120

Laughton, Audrey unsere englische Sprachstudentin 20, 22, 23, 24, 27

Heller, André (geb. 1947) Aktionskünstler 147

Lehman, Maurice Direktor der Opéra Paris 1945–47 und 1951–1955 22

Heymann, Elisabeth (geb. 1952) Tanzpädagogin 142, 158 Hightower, Rosella (1920–2008) amerik. Ballerina 137 Höver, Fritz (1921–2015) Gründer der „Noverre-Gesellschaft“ in Stuttgart 79, 80, 165 (Abb.) Illy, Paul (1930–2020) Geologe 33, 37, 39, 41, 45, 46, 48 Kaindl-Hönig, Gertrude (geb. 1939) Miteigentümerin der „Salzburger Nachrichten“ 141 Kammer, Hanna Choreographin, Ballettmeisterin 145 Karajan, Herbert von (1908–1989) Dirigent 110 Kaupp, Doris (geb. 1940) Tänzerin, Tanzpädagogin 68, 73 Kaut, Josef (1904–1983) Landesrat, Präsident der Salzburger Festspiele (1971–1982) 141

Lemoine, Bernard Solotänzer, Ballettmeister an der Opéra Comique 48 Lepka, Hubert (geb. 1958) Choreograph, Regisseur 161 Lido, Serge (1906–1984) Ballett-Photograph 29 Liebermann, Rolf (1910–1999) Komponist, Intendant 136, 147 Luipart, Marcel (1912–1989) Tänzer, Choreograph, Tanzpädagoge 119 MacMillan, Kenneth (1929–1992) Choreograph 100, 101, 133 Mettig, Meta (1914–2008) Bildhauerin 146, 148 (Abb.) Miloss, Aurel von (1906–1988) Tänzer, Choreograph, Ballettdirektor 119

Personenregister

173

Mörike, Anneliese (1920–2010) Solotänzerin, Ballettmeisterin 75, 133

Poddine, Salvatore (1936–1972) Tänzer, Schauspieler, Theaterleiter 102

Moreau meine Schuldirektorin in Paris 17, 22, 26

Praast, Gerd Solotänzer des Stuttgarter Balletts 78, 87 (Abb.), 109, 132

Morena, Myrtha Solotänzerin des Stuttgarter Balletts 109

Prager, Gerhard (1920–1972) Schriftsteller, Fernsehproduzent 108, 109

Moritz, Herbert (1927–2018) Kulturlandesrat in Salzburg 141 Nurejew, Rudolf (1938–1993) Soltänzer, Choreograph, Ballettdirektor 110 Orlandy Ballettmeister an der Opéra Paris 35, 36 Palley, Xenia (1931–1980) Primaballerina des Stuttgarter Balletts 63, 65, 67, 72, 73, 77–81, 94, 100, 101

Rauser, Tamara (1902–1976) Tänzerin, Tanzpädogogin 145 Regitz, Hartmut (geb. 1943) Autor, Ballettkritiker 8, 128 Rennert, Günther (1911–1978) Regisseur 107, 134 Rousanne, Madame (1894–1958) berühmte Tanzpädagogin im Studio Wacker 16, 34–43 Salaz, Leo (geb. 1938) Tänzer, Choreograph, Ballettmeister 145, 157

Perrot, Michelle (1928–1998) frz. Solotänzerin, Tanzpädagogin 16, 29, 30, 31, 32, 34, 36, 37, 38, 40, 41, 43

Schäfer, Walter Erich (1901–1981) Dramaturg, Schriftsteller, Generalintendant 64, 79, 110, 119, 126, 127, 142

Peterka, Anni (1913–2002) Choreographin, Ballettmeisterin, Fernsehballett NDR

Shearer, Moira (1926–2006) Tänzerin, Schauspielerin 14

Philipp, Tilo Fernsehregisseur 120 Poddine, Herta (1921–1986) Malerin, Graphikerin 102

Silva, Carmen Ballett-Agentin 18, 19, 25 Talder, Yves Bildhauer 28, 52 (Zeichnungen)

174 Personenregister Taubert, Karl-Heinz (1912–1990) Tanzhistoriker, Musikpädagoge 145 Tcherina, Ludmilla (1924–2004) Primaballerina, Choreographin, Schauspielerin, Malerin 46 Toledo, Irma Rafaela (1910–2002) Malerin 146 Toma, Jean-Pierre Solotänzer der Opéra Comique, Schauspieler 30 Toth, Jean (1899–1972) ungarischer Maler 34, 35, 36, 152 (Figurine) Trauner, Edith Lehrerin für Jazzgymnastik 142 Tsinguirides, Georgette (geb. 1928) Solotänzerin, Choreologin, Ballettmeisterin 68, 83, 131, 133 Udaeta, José (1919–2009) span. Tänzer, Choreograph, Duo „Susana y José“ 74 Ulbrich, Werner (1928–1978) Tänzer, Choreograph. Ballettdirektor 77, 78, 80, 91, 132 Ustinov, Peter (1921–2004) Schauspieler, Regisseur 147 Vaussard, Christiane (1923–2011) Primaballerina der Pariser Oper, Tanzpädagogin 16, 21

Verdy, Violette (1933–2016) frz. Ballerina, Choreographin, Balettdirektorin 147 Vospernik, Gorazd Tänzer des Stuttgarter Balletts 67, 73, 131 Warren, Robert de Solotänzer, Choreograph, Ballett­direktor 94, 95, 116 (Abb.) Weiser, Martha (1913–2008) Stadträtin, „Fest in Hellbrunn“ 141 Winter, Alfred (geb. 1946) Gründer und Leiter der „Szene der Jugend“ 141 Wood ungar. Tanzpädagoge 16–19, 21, 23–31, 33–39 Woolliams, Anne (1926–1999) engl. Tänzerin, Ballettmeisterin, Pädagogin 126 Wright, Peter (geb. 1926) Ballettmeister, Choreograph, Ballettdirektor 107, 134