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German Pages 82 Year 2000
REINER TIMMERMANN I LASZLO KISS (Hrsg.)
Ungarn 1956: Reaktionen in Ost und West
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann
Band 91
Ungarn 1956: Reaktionen in Ost und West Herausgegeben von
Heiner Timmermann Laszl6 Kiss
Duncker & Humblot · Berlin
Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, und der ASKO-Europa-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Ungarn 1956: Reaktionen in Ost und West I hrsg. von Heiner Timmermann ; U.szl6 Kiss. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V. ; Bd. 91) ISBN 3-428-10221-5
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humb1ot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-10221-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (sä15efreiem) Papier entsprechend ISO 9706~
Inhaltsverzeichnis Heiner 1immennann Ungarn 1956 - Europa und die Welt .... . . .. ... . . . .... . . .. . ........................ .
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1ibor Hajdu Ungarn im Spannungsfeld zwischen USA und UdSSR
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William Griffith Die USA und der Herbst 1956
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Francoise Sirjacques-Manfrass Die Suez-Krise und der Ungarn-Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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György Litvan Großbritannien, Frankreich und das Suez-Abenteuer im Herbst 1956 in Korrelation zu den Ereignissen in Ungarn
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Erich Wend/ Der Nachbar Österreich -1956 und danach
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Hannes Saarinen Finnische Reaktionen auf den Aufstand in Ungarn 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dan Berindei Einige Aspekte des Echos in Rumänien auf die ungarische Revolution von 1956
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Jürgen Domes Die ungarische Revolution von 1956 als Beginn der Re-Europäisierung Ost-MitteJeuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ungarn 1956- Europa und die Welt Von Heiner Timmermann
Am 21. März 1989 erschien der erste Bericht des Außenpolitischen Ausschusses des britischen Unterhauses zum Thema "Osteuropa und die Sowjetunion". 1 Angesichts des offensichtlichen Wandels der sowjetischen Politik, so in der Einführung, wurde in diesem Bericht versucht, die britische Reaktion und Politik sowie die der westlichen Welt zu formulieren. Entscheidungen und Grundlagen der westlichen Sicherheitspolitik seien neu zu überdenken vor dem Hintergrund der veränderten Politik der UdSSR und ihres Einflusses auf Osteuropa. Daher wurden die sechs anderen Mitgliedsländer des Warschauer Paktes in die Untersuchung mit einbezogen. Der Ausschuß erstellte seinen Bericht auf Grund von Expertenanhörungen, Gutachten sowie Informationsreisen in die betreffenden Länder. Es ist bezeichnend, was zu Ungarn geschrieben wurde: "Unser Besuch in Ungarn im letzten Oktober war beherrscht von politischen Reformdiskussionen. Die ungarischen Führer sehen sich in einer Pionierrolle im osteuropäischen Reformprozeß durch ihre Schritte in Richtung politischer Pluralismus und engerer Verbindungen zum westlichen Handelssystem. Im außenpolitischen Denken der Zukunft führt Ungarn die anderen osteuropäischen Länder an, um als Brücke zwischen Ost und West zu fungieren." 2
Die Periode 1989 I 90 sollte der Höhepunkt politischer Veränderungen der innenund außenpolitischen sowie wirtschaftspolitischen Ordnung in Mitteleuropa werden. Ungarn war das erste Land, das im Zuge der zunehmenden Ost-West-Entspannung in den Demokratisierungsprozeß eintrat. "Wir hatten drei Möglichkeiten: die verrotteten Anlagen zu reparieren - das kostet viel Geld; die Sperranlagen völlig zu erneuern - das ist noch teurer; oder das politische System zu ändern." 3 Diese Worte, die der ungarische Oberst Balasz I House of Commons, Session 1988/89. Foreign Affairs Comrnittee. First Report. Eastern Europe and the Soviet Union. Report together with the Proceedings of the Committee, Minutes of Evidence and Appendices. Ordered by the House of Commons tobe printed 21 March 1989. London. Her Majesty's Stationary Office. 2 Ebenda, S. XXIII. Übersetzung durch den Verfasser. 3 Bemd Kregel: "Der rote Stern ist erloschen. Ungarn und der historische Umbruch in Osteuropa", in: Informationen für die Truppe, 6/90, S. 47-62, hier: S. 47; vgl . ferner: Kurt Kwasny: "Die stille Revolution, Freiheit in Ungarn nach langer Knechtschaft", in: Europäische Wehrkunde, Mai 1990, S. 290-295; ferner: Blue Ribbon Commission. Project Hungary
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Novalei beim Abriß des Eisernen Vorhand an der Grenze zu Österreich im Mai 1989 sprach, dokumentierten den historischen Beginn. Und dann sollten Reformen in rasanter Fahrt die alten Regimes hinwegfegen. "Parlament entthront Parteienstaat" - mit dieser Schlagzeile verkündete die Tageszeitung ,,Magya Nemzet" am 18. Oktober 1989: Die Legislative hat der Nation statt der alten, vom Stalinismus geprägten Verfassung eine neue, demokratische Konstitution gegeben. Die Verfassung verankert die parlamentarische Demokratie, das Mehrparteiensystem und die Marktwirtschaft. "Die Republik Ungarn"- nicht mehr Volksrepublik "ist ein unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat", heißt es in der Verfassung. Und als man sich in Ungarn erstmals am 23. Oktober 1989 zum Gedenktag des Aufstandes gegen den Sozialismus stalinistischer Prägung demonstrierend bekennen durfte, wofür man ein Jahr vorher noch festgenommen wurde, konnte sich die Frage erheben, ob die innnere Umgestaltung nicht viel mehr den Umbruch der internationalen Staatenwelt markierte als die doch beharrenden und sich zäh lösenden Bindungen kodifizierter Verträge. Das Parlament deklarierte das Datum zu einem Gedenktag, einem Tag der Versöhnung, und rief zu Toleranz und Achtung vor Wunden anderer auf. Damals war das seiner Freiheit beraubte, geknebelte und gedemütigte Volk aufgestanden, um nach den eigenen Gesetzen zu leben. Die reinen Absichten brachen aus großer Tiefe hervor, durch die Eruption wurde auch der Unrat an die Oberfläche geschleudert. Wer aber nur diesen sah oder sehen wollte, irrte tragisch. Wie auch diejenigen, die nach der Niederrringung des Aufstandes das Volk durch Terror einschüchterten, tragisch sündigten, erklärte der damalige Ministerpräsident Mik16s Nemeth in einer Fernsehansprache am Vorabend des Jahrestages. Eine zusätzliche historische Symbolik erhielt das Jahresdatum durch die feierliche Proklamation der Republik. Die Kunde von der verfassungsmäßig verankerten Wiedergeburt der Demokratie in Ungarn wurde nach dem Läuten der Mittagsglocken vom provisorischen Staatspräsidenten Matyas Szürös öffentlich verkündet. Bei der Demonstration an den verschiedenen Budapestern Schauplätzen führten jedoch die Massen Regie -jene Menschen, die 33 Jahre warten mußten, um das, was sie als Revolution und Freiheitskampf im Herzen trugen, endlich auch so nennen zu dürfen. Ihr Gedenkkomitee hatte die Choreographie der Feierlichkeiten geplant und mit den Behörden abgestimmt. Der Genius loci der einzelnen Schauplätze und das Wetter, genauso sommerlich wie damals, halfen, auch die Euphorie jenes Tages vor 33 Jahren zu reproduzieren. In dieser von Erinnerungen und Emotionen, Triumph und Trauer erfüllten Atmosphäre nahmen Parolen wie "Nie wieder Kommunismus!" nicht wunder. Die Menge - vor dem Parlament hatten sich am Abend mehr als 100.000 Menschen mit Fackeln und Kerzen versammelt(Hg.): Action Program for ,.Hungary in Transformation to Freedom and Prosperity", Budapest and Washington, April 1990.
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ließ sich zum Skandieren des Aufstandsmottos "Ruskis raus" genau hinreißen wie zu Hochrufen auf Gorbatschow. Die Polizei war bewaffnet. Es kam zu keinerlei Zwischenfällen -so das Fazit vieler ungarischer Zeitungsberichte. Wie kam es zu den Ereignissen von vor 33 Jahren? Wie sahen diese Ereignisse aus? Welche Wirkungen hatten Sie? 1945 wurde Ungarn von den Sowjets besetzt. Gemäß den Vereinbarungen unter den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges wurde es wie alle seine Nachbarstaaten, mit Ausnahme von Österreich, der sowjetischen Einflußzone zugeordnet. Die ungarische Kommunistische Partei festigte beharrlich und mit großem Aufwand ihre Position im Lande. Der Friede von Paris, 10. Februar 1947, der im Wesentlichen die im Frieden von Trianon, 1919, festgelegten Grenzen Ungarns wiederherstellte, verpflichtete Ungarn zu Reparationsleistungen vor allem an die UdSSR und bestätigte die Stationierung sowjetischer Truppen über den Zeitpunkt des Friedens hinaus. Die UdSSR berief sich auf ihre Rechte und zur Sicherung der Verbindungen zu ihren Besatzungstruppen im Ostteil von Österreich. Es ist heute bekannt, daß die UdSSR vor dem Volksaufstand in Ungarn vier Divisionen in ihren ständigen Garnisonen hatte. 4 Im Zuge der Entwicklung des Kalten Krieges beschleunigte Moskau die Eingliederung der als Kriegsbeute erhaltenen europäischen Gebiete in ihren Machtbereich. Nur Jugoslawien verweigerte sich. Vor dem Hintergrund des ideologischmachtpolitischen Kampfes zwischen Tito und Stalin über den sowjetischen Führungsanspruch in dem sich bildenden Ostblock setzte Räkosi die vollständige Unterordnung der ungarischen Politik unter den Willen Stalins durch. Am 20. August 1949 wurde in Ungarn die Volksdemokratie nach sowjetischem Vorbild proklamiert. In einem Schauprozeß ließ er 1949 den Außenminister Rajk unter dem Vorwurf des Titoismus zum Tode verurteilen. Seit der Umwandlung Ungarns in eine kommunistisch gesteuerte Volksrepublik baute Räkosi nach dem Vorbild Stalins seine innenpolitische Machtstellung immer stärker zu einer persönlichen Diktatur aus. Dabei stützte er sich auf eine Staatsschutzbehörde, die mit ihren Agenten das ganze Land überzog. Von August 1952 bis Juli 1953 führte er selbst eine kommunistische Blockregierung. Nach dem Tode Stalins, März 1953, verlor er einen Teil seiner unumschränkten Machtstellung. Imre Nagy, von 1953- 1955 Ministerpräsident an der Spitze einer volksdemokratischen Blockregierung, verkündete eine Politik des "Neuen Kurses", die eine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards und eine stärkere Rechtssicherheit bringen sollte. Er geriet im Gegensatz zu Räkosi, der ihn absetzen und durch Andnis Hegedüs ersetzen ließ. Mit dem Eintritt Ungarns in den Warschauer Pakt, 1955, wurde die weitere Stationierung sowjetischer Truppen in Ungarn neu legitimiert und durch einen Truppenvertrag bestätigt 4 Vgl. Ignac Romsics, Magyarorszag es a nagyhatalmak a 20. Szazaban (Ungarn und die Großmächte im 20. Jahrhundert), Budapest 1995, S. 167: siehe auch Peter Gosztony: "Der Volksaufstand in Ungarn 1956", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37-38/96, S. 3 - 14.
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Nach Einleitung der Entstalinisierung durch den XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 erhielt die Unzufriedenheit in Ungarn neuen Auftrieb. Schriftsteller und Intellektuelle, aber auch Parteikreise verlangten Reformen und ein Ende des Terrorregimes von Rak.osi. Die Parteiführung gab dem öffentlichen Druck nur zögernd nach, ohne zu echten Reformen bereit zu sein. Am 17. Juni 1956 wurde Rak.osi durch Emö Gerös abgelöst. Das Staatsbegräbnis am 6. Oktober 1956 für den rehabilitierten Rajk wurde zur ersten öffentlichen Demonstration gegen das stalinistische Regime. Am 21. I 22. Oktober 1956 kam es zu Studentendemonstrationen für Pressefreiheit, Reiseerlaubnis in den Westen und für Erhöhung des Lebensstandards, am 23. Oktober zu Kundgebungen von über 100.000 Menschen, auf denen Reformen und die Rückkehr des 1955 aus dem ZK ausgeschlossenen Reformkommunisten Irnre Nagy ins öffentliche Leben gefordert wurden. Die Geheimpolizei eröffnete vor dem Rundfunkgebäude das Feuer. Es kam zu Straßenkämpfen, in die sowjetische Truppen eingriffen. Der Aufstand erfaßte alle Bevölkerungsschichten und ging über in eine Bewegung gegen die stalinistische Diktatur und die sowjetische Besatzung in Ungarn. Nagy wurde am 24. Oktober Ministerpräsident, Kadar am 25. Oktober Parteichef. Zunächst appellierten beide an die Aufständischen, ihre Aktionen einzustellen. Ein Großteil der ungarischen Armee und Polizei schwenkte am 25. I 26. Oktober zu den Aufständischen über, und am 26. Oktober kam es zu einem massiven Einsatz sowjetischer Truppen. Das Feuer wurde am 28. Oktober eingestellt. Die folgenden Tage wurden durch wichtige Ereignisse geprägt: Bildung der Nationalgarde, Abschaffung des Einparteiensystems, Gründung politischer Parteien, Bildung einer Koalitionsregierung, Befreiung von Kardinal Mindszenty, Austritt aus dem Warschauer Pakt, Proklamierung der Neutralität, Abkommen der ungarischen Regierung mit der Regierung der UdSSR über den Abzug der sowjetischen Truppen bis zum 31. Oktober, dann Wiedereinmarsch sowjetischer Truppen gegen den Protest der ungarischen Regierung. Am 3. November ging eine Delegation unter Führung des Verteidigungsministers Maleter zu Verhandlungen über den zugesicherten Truppenabzug ins sowjetische Hauptquartier, wo sie um Mittemacht verhaftet wurde. Im Morgengrauen des 4. November griffen sowjetische Truppen alle Zentren der Freiheitskämpfer an. Nagy richtete über den Rundfunk einen Hilferuf an die Vereinten Nationen. Unter sowjetischer Regie wurde durch Kadar, der am 1. November aus Budapest verschwunden war, in Ostungarn eine Gegenregierung gebildet. Dem in die jugoslawische Botschaft geflüchteten Nagy wurde freies Geleit zugesichert. Beim Verlassen des Gebäudes wurde er verhaftet. Es folgte eine Vergeltungswelle von Verhaftungen, Hinrichtungen und Deportationen Nagy und Maleter wurden 1958 hingerichtet. Es kam zu schätzungsweise 2.000 Todesurteilen und bis zu 20.000 Freiheitsstrafen, ca. 25.000 Ungarn und 7.000 Sowjets kamen beim Aufstand zu Tode, rund 200.000 Ungarn flohen in den Westen. 5 5 Zum Gesamtprozeß siehe die nachfolgenden Beiträge in diesem Sammelband und: Emilio Vasari, Die ungarische Revolution 1956. Ursachen, Verlauf, Folgen. Stuttgart 1981; György Litvan/ Janos Bak (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956, Reform - Aufstand- Vergeltung, Wien 1994.
Ungarn 1956- Europa und die Welt
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Europa und die Welt sahen zu und horchten auf im Herbst 1956. Waren es nicht die Forderungen und Manifestationen der Amerikanischen und dann etwas später der Französischen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Freiheit, politischer Partizipation, Menschenwürde, Konstitution, kontrollierter, beschränkter und geteilter Machtausübung, nach deren Erfüllung jetzt verlangt wurde? Die Rückkehr oder Besinnung - dem Grunde nach - auf einen vorstaatlichen Wert von der Menschenwürde? Sicherlich oder möglicherweise hatten nur wenige Akteure dieses theoretisch-philosophische Gerüst als Leitmotiv des Handeins vor Augen. Aber ein solches Leitmotiv muß nicht plakatiert, um als politisches Grundbedürfnis deklariert zu werden. Und insofern kann die Linie von 1956 zu 1989 I 90 gezeichnet werden. In den einleitenden Bemerkungen zu diesem Sammelband an dieser Stelle ein Wort zur Sowjetunion: Am 11 . November 1992 besuchte Je1zin, der russische Staatspräsident, Ungarn. Diesen bewertete er als Beginn einer neuen Ära in den bilateralen Beziehungen . .,Wir können unsere Beziehungen jetzt auf der Grundlage von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt entwickeln", erklärte er. .,Die schreckliche Vergangenheit ist zu Ende. Jelzin erinnerte an gemeinsam durchlebte Schrecken der Vergangenheit. .,Welch bittere Erinnerung blieb nach diesem sogenannten Kommunismus - er ist unser gemeinsames Unglück und unsere gemeinsame Tragödie. Rußland und das russische Volk haben nicht weniger gelitten. Bei uns starben Millionen in dieser Zeit. Wir waren dieselben Geiseln des Kommunismus und seiner Ideologie wie Ungarn, die tschechische Republik, die Slowakei, Polen und andere Länder." Der erstarkende Nationalismus in Rußland und Europa sei die letzte Zuflucht der Kommunisten, ihre Revanche. Jelzin würdigte die rasche Wandlung des Verhältnisses Ungarns zu Rußland von einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer Interessengemeinschaft. Ungarns Ministerpräsident Antall schloß sich dieser Beurteilung an und sah die gegenwärtigen Beziehungen zu Rußland als .,historische Wende" des Verhältnisses. Ungarn, so Antall, habe nicht nur rasch Partei für das demokratische Rußland ergriffen, sondern auch als erstes Land des ehemals kommunistischen Lagers ein bilaterales Abkommen mit dem neuen Rußland unterzeichnet (am 6. Dezember 1991). Antall sprach von der sogenannten ,,Nullösung" -dem Abkommen über den Abzug der russischen Truppen, das einen Verzicht gegenseitiger finanzieller Forderungen enthält - als erstem bedeutenden Ereignis in diesen neuen Beziehungen.6 Die Rede Jelzins vor dem ungarischen Parlament am 11 . November 1992 umfaßte eine historische Tiefendimension, die weit über die bilateralen politischen Beziehungen hinausging (auszugsweise): .,In Rußland gab es immer ein großes, ungefälschtes Interesse für das Leben und die Kultur ihres Landes. Bereits zu Beginn der Staatlichkeit entwickelten sich zwischen Ungarn und Rußland politische und Handelskontak:te. Zu einem der bedeutendsten Momente in 6
Siehe •.Archiv der Gegenwart", 1992, 37301/02.
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Heiner Tirnrnermann der Geschichte der russisch-ungarischen Beziehungen wurde der zwischen Peter dem Großen und Ferenc Rakosi II. gechlossene Freundschaftsbund. Leider, wie es in der Geschichte oft vorkommt, wurden gute Zeiten von den düsteren abgelöst. Ich weiß, daß die Ereignisse der Revolution von 1848/49 und an jene bedauerliche Rolle, die das zaristische Rußland damals gespielt hat, im historischen Gedächtnis des ungarischen Volkes behutsam aufbewahrt werden. Ein wenig mehr als ein Jahrhundert später hat sich etwas Ähnliches wiederholt. Ich spreche über die Tragödie von 1956. Sie wird für immer ein unabwischbarer Fleck auf dem sowjetischen Regime bleiben. Für immer! Die Spuren von Panzerketten, die die Straßen von Budapest, der schönsten Stadt, die ich jemals gesehen habe, durchpflügt haben, haben sich flir ewig in die Seelen derjenigen eingeprägt, denen die Ideale von Freiheit und Demokratie von Bedeutung sind. Ich bin sicher, daß diese Menschen sowohl in Ungarn als auch in Rußland eine Mehrheit bilden. Damals hat die Menschheit noch eine Bestätigung dessen erhalten, daß der Totalitarismus, jede Gewaltherrschaft sich nie im Rahmen eines Staates einschränkt. Sie sind bestrebt, ihre giftigen Fangarme so weit wie möglich hinauszustrecken. Sie kennen weder Grenzen noch moralische Verbote. Es ist bitter zu verstehen, daß auf Befehl von den damaligen Kremlführern auch russische Soldaten in diese tragischen Ereignisse einbezogen wurden. Das geschah zehn Jahre, nach dem sie um den Preis von immensen Opfern Ungarn von der braunen Pest des Faschismus befreit hatten. Aber eine Gewaltideologie wurde von der anderen abgelöst. Ich halte es für sehr symbolisch, daß ausgerechnet das ungarische Volk als erstes gegen die Unterdrückung aufgestanden war. Der nationale Aufstand war nicht umsonst gewesen. Der hat gezeigt, daß nicht nur einzelne Persönlichkeiten, sondern auch ganze Völker zu begreifen beginnen, daß sie ohne Befreiung von der kommunistischen Diktatur keine Zukunft haben. Als Präsident kann ich dieser hohen Versammlung erklären, daß mit dem Kornrnunismus in Rußland endgültig Schluß gernacht wurde. Es wird keine Rückkehr geben. Heute senken wir den Kopf vor den Opfern \IOn 1956. Die Rache des Systems, das damals einen spürbaren Schlag erlitten hatte, war brutal. Sie hat sich nicht auf Ungarn beschränkt. Die neuen GULAG-Häftlinge gab es sowohl in Rußland als auch in den anderen Ländern des sogenannten ,Sozialistischen Lagers'. Die ganze Welt bekam damals eine klare Bestätigung dessen, daß jedes Land nicht nur Helden, sondern auch Henker gebärt. Leider gibt es hier keine Ausnahmen. Die Bürger sowohl Rußlands als auch Ungarns müssen die ganze Wahrheit über jene tragische Zeit wissen. Und sie werden sie unbedingt wissen. Und nicht erst Jahre später, sondern in der nächsten Zeit. Die braucht man nicht um eine trübe Welle der blinden Vergeltung hervorzurufen. Ohne vollständige Wahrheit ist es nicht möglich, Gerechtigkeit wieder herzustellen und eine Befreiung zu erreichen. Ohne vollständige Wahrheit sind solch mächtige Schalthebel des Fortschritts wie das Urteil des Gewissens, der Reue und der Vergebung nicht zu betätigen." 7
Das war ganz sicherlich eine große politische Rede, die um Vergebung, Verständnis und Neubeginn warb, wobei die innenpolitischen Intentionen auch nicht zu leugnen sind. 7 Übersetzung von Herrn Sernjon Beljakow, I. Botschaftssekretär der Botschaft der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland, dem Autor mitgeteilt mit Schreiben vorn 14. Juni 1996, heute Beamter im Außenministerium der Russischen Föderation.
Ungarn 1956- Europa und die Welt
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Parallelität der Ereignisse: Zu der Zeit des ungarischen Befreiungskampfes in den Jahren 1848 I 49 erklärte der ungarische Politiker und Schriftsteller Baron J6zsef Eötvös, daß die Sache der ungarischen nationalen Unabhängigkeit von der deutschen Einigung abhänge. Eine Paraphrasierung sei erlaubt: Der deutsche Einigungsprozeß 1989 I 90 hing bis zu einem gewissen Maße von der verselbständigten ungarischen Außenpolitik ab. Ungarn betrieb ein Stück Deutschlandpolitik.
Ungarn im Spannungsfeld zwischen USA und UdSSR Von Tibor Hajdu
Es ist kein Zufall, wenn in den ungarischen Volksmärchen der verzauberte Königssohn zu den Haupthelden gehört. Weil eigentlich alle Ungarn daran glauben, daß Ungarn solange verzaubert bleibt, bis daß die Welt, Europa und die Großmächte nicht erkennen, wie wichtig, nützlich, konfliktlösend es sein könnte, wenn Ungarn als eine .,Schutzbastion" für Europa agieren würde. Es fragt sich nur, welche Großmacht als erste unseren Zauber erkennen und brechen kann. Der große ungarische Historiker, Balint H6man, Regierungsmitglied vor und während des Zweiten Weltkrieges, wurde als Kriegsverbrecher im Jahre 1946 vor das "Volksgericht" gestellt. Und als er gefragt wurde, warum er eine pronazistische Politik geführt habe, antwortete er: "Ich habe eine Bündnispolitik mit dem Westen, nämlich mit England, immer für eine arme Idee gehalten, weil die Westmächte zu fern von uns sind. Hier konnte man nur mit zwei Mächten rechnen, und zwar mit den Deutschen und Russen ... andernfalls wäre es uns ergangen, wie einst Ferenc Rakosi oder Lajos Kossuth, die ein Bündnis mit den Franzosen, Engländern und Holländern anzuknüpfen probiert haben, was immer dazu geführt hat, daß sie von denen in Stich gelassen wurden, weil die Westmächte keine Interessen an dieser östlichen Hälfte Europas hatten." 1
Darum konnte ein Realpolitiker, der kein Kommunist war, nur Deutschland als Bündnispartner wählen. Nach dem Kriegsende hatte sich die Situation völlig verändert. Deutschland war als Bundesgenosse weggefallen, und nach Hornans Logik konnte ein ungarischer Politiker, ob Kommunist oder nicht, sich entweder mit der Russenherrschaft abfinden, oder den Optionen Rakosis, Kossuths und der anderen Freiheitshelden mit ihrer Westorientierung folgen können, ungeachtet deren momentanen monolithischen Positionen und deren politischen Schwäche. Was die Westmächte betraf, hatten sie in den Nachkriegsjahren mehrmals ihr sehr begrenztes Interesse für Ungarn angedeutet. Das britische Außenministerium, hatte um die Jahreswende 1946/47 mehrmals den westfreundlichen ungarischen Politikern und Diplomaten mitgeteilt, daß es im Interesse Englands sei, wenn die ungarische Politik, die Wahlen und die Verletzung der Menschenrechte usw. nicht wie in Rumänien und Bulgarien verletzt werden würden. Nach Möglichkeit sollten hier noch weitere ' Ferenc Glatz: Nemzeti kultura, kulturalt nemzet. Budapest 1988. S. 307-308.
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Tibor Hajdu
Verbesserungen angestrebt werden 2 • Als der Kalte Krieg begonnen hatte, veränderte sich alles, auch dies. Heute können wir die Zweideutigkeit des Kalten Krieges verstehen. Einerseits die zügellose Propagandakampagnen von beiden Seiten, welche zur Vorbereitung eines dritten Weltkrieges gehören konnten, und andererseits die starke, beiderseitige entschiedene Absage an einen Weltkrieg oder europäischen Krieg. Die Heftigkeit dieser Kampagnen und auch die gelegentlichen Versuche, die Generallinie des Kalten Krieges zu überschreiten, meist seitens Stalins, konnten nicht nur die allgemeinen Beobachter täuschen, sondern auch westliche Publizisten und die politisch Verantwortlichen in den östlichen Satellitenstaaten. Und nicht zufällig ließ sich keine der Supermächte in Versuchung bringen, die örtlichen Krisen, seien diese auch noch so wichtig und heftig gewesen, wie die Berlinkrise oder die jugoslawische Krise, einen wirklichen Krieg zu beginnen3 . Ich kann mich noch erinnern, wie viele Leute unter dem Eindruck des Terrors der Nachkriegsjahre in Ungarn auf einen neuerlichen Weltkrieg gehofft hatten; wahrscheinlich auch in anderen Ländern konnte man Ähnliches beobachten. Solche Hoffnungen wurden zusätzlich durch die gegenseitige Propaganda bestärkt. Zum Beispiel ließ Stalin, selbst in seinem Streben, sein Lager lückenlos einheitlich und monolithisch zu schmieden, das gegnerische Lager als einen einheitlichen Kampfblock schildern, nie ganz erfolgreich, der von dem aggressiven und kampfgierigen US-lmperialismus geführt werde. Wie falsch eine solche Vorstellung auch sein konnte, hatte sie dennoch falsche Hoffnungen in Budapest und anderswo geweckt, z. B., daß die NATO bereit wäre unter amerikanischer Führung, einen Befreiungskrieg für die osteuropäischen Völker zu führen. Ganz im Gegenteil, auch innerhalb der NATO war die Behandlung einer solchen Frage auch nicht ganz ohne Differenzen geblieben. Aber Frankreich und England waren zu sehr mit ihren inneren und Kolonialproblemen beschäftigt, während die USA in europäischen Fragen oft sehr zurückhaltend agierten und bestrebt waren, ihre Verbündeten von der amerikanischen Einschätzung zu überzeugen, nicht immer mit Erfolg. Diese Zweideutigkeiten wurden noch mehr nach Stalins Tod und der Wahl Eisenhowers zum OS-Präsidenten verkompliziert. Stalin hatte keine Vorstellungen und Strategien zur Lage und über die Möglichkeiten Ungarns entwickelt oder gar eine ausgearbeitete Ungarnpolitik gehabt. Irgendwann im Frühling 1947, als die Grenzen des Kalten Krieges sich profiliert hatten und eine "Erstarrung" der neuen politischen Konstellationen eingetreten war, entschied er, Ungarn unter sowjetischer Besetzung zu lassen, auch nach dem Abschluß eines Friedensvertrages zwischen der Sowjetunion und Ungarn. Pub1ic Record Office (London) F0371, 1946-47. Lasz16 Borhi: Soviel Expansionism or American lmperia1ism? American Response to the Sovietization of Hungary. Bennett Kovrig: Liberators: The Great Powers and Hungary in 1956. Tibor Hajdu: Soviel Foreign Policy towards Hungary, 1953 - 1956. In: 20th Century Hungary and the Great Powers. Ed. by lgnac Romsics. New York 1995. 2
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Ungarn im Spannungsfeld zwischen USA und UdSSR
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Von den neuen Dokumenten, die wir aus den Sowjetarchiven zur Verfügung gestellt bekommen haben und somit einsehen konnten, wird unter anderem klar, daß es selbst Rakosis, dem Führer der ungarischen KP ("PdUW"), oder Marschall Woroschilow, Vorsitzender der Allied Control Commission für Ungarn, es bis April 1947 im Verborgenen geblieben war, ob die Sowjetarmee nach der Beendigung des Kriegszustandes Ungarn räumen würde oder nicht. Deshalb war Rakosi nach Moskau geflogen, um Stalin darüber um Auskunft zu bitten. Stalin hatte keine Zeit für Rakoczi und ließ ihn am 29. April 1947 durch seinen Außenminister Molotow wissen: "Solange unsere Truppen in Österreich stationiert sein werden, werden sie auch in Ungarn und Rumänien bleiben. Ein Teil von ihnen bleibt ebenfalls auch nach der Ratifizierung eines Friedensvertrages. Sie werden aber nicht mehr als Besatzungstruppen gelten, das heißt unter anderem, daß sie nicht mehr auf Kosten der ungarischen Regierung stationiert bleiben"4
Nach der Gleichschaltung Ungarns erwartete Stalin die Errichtung des sozialistischen Systems, einfach um seinen Machtbereich einheitlich zu machen. Er kümmerte sich wenig um die Details. Denn augenscheinlich begann Rakosi langsamer und oberflächlicher zu sozialisieren als zum Beispiel die Polen. Es war für Stalin egal geworden, ob das ungarische Volk nicht soviel gequält und gehetzt würde, wie die Völker der anderen Satellitenstaaten. Rakoczi aber, schon in der Schule ein Streber, wollte sich für Moskau als erster Untertan und Verbündeter zeigen. Natürlich war die Lage von Rakosi nicht so einfach - er hatte viele Konkurrenten in der eigenen Partei gehabt. Und noch schlimmer, in der sowjetischen Gesandtschaft waren die Diplomaten und Militärs auch eifrig daran gegangen, ihre Einmischung in die inneren ungarischen Angelegenheiten, von der Landwirtschaft bis zur Belletristik, zu zeigen. Es ist merkwürdig, daß solch ein dogmatischer Linksextremist wie Joseph Revai nach den Berichten der Gesandtschaft und ihrer angeworbenen Denunzianten zu liberal gewesen sein soll, weil er sich geweigert hatte, "bürgerliche" und "nationalistische" Schriftsteller einfach eliminieren zu lassen. In einigen Gesandtschafts-Berichten wurde auch Georg Lukacs als "bürgerlicher Nationalist" bezeichnet, dies knapp vor Stalins Tod. Nach Stalins Begräbnis war die neue Sowjetführung sehr besorgt. Sie führte einige Reformen durch, aber hatte keine Perspektiven für die Zukunft. Das galt nicht nur für Moskau, sondern auch für den neuen sowjetischen Gesandten in Budapest, dem jungen Andropow, einem damaligen Anhänger des starren Suslow. Mit ihren ständigen Einmischungen, bei Rakosi oder später bei Imre Nagy, hatten sie das ungarische kommunistische Regime noch mehr destabilisiert. Der neuen amerikanischen Regierung war bewußt, daß in der sowjetischen Politik ein langsamer Prozeß des ,,Auftauens" vor sich ging. Dulles begann mit einer langsamem und einer sehr bedingten Detente. Von Anfang an meinte er, daß die 4 Hajdu op. cit. 246. S. Mikl6s Kun und Lajos Izsak: Moszkvanak jelentjük. Titkos dokumentumok 1944-1948. Budapest, 1994. S. 195.
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einzige Kriegsgefahr in der Möglichkeit lag, daß die Russen für sich selbst die amerikanische Außenpolitik fehlinterpretieren könnten. Darum sollte die Kremlführung nicht zu sehr ermutigt, aber auch nicht zu sehr abgeschreckt werden. Eisenhower und Du11es sahen das Schicksal der ostmitteleuropäischen Satelliten bloß als eine Nebenfrage der Sowjetpolitik an. Dulles war schon um 1946 geneigt, die Jalta-Politik für fehlerhaft zu halten, aber er hatte auch keine Möglichkeit gesehen, die dort dem Sowjetsystem "übergebenen" Länder aus der sowjetischen Einflußsphäre irgendwie herauszuholen. Deshalb hatten die Amerikaner nach der Neutralisierung Finnlands ebenso wie ihre Verbündeten kein Veto gegen die Aufnahme Ungarns in die UNO eingelegt. Und dies nur ein halbes Jahr nach der Gründung des Warschauer Paktes5 . Und hier sehen wir die zweideutige Ostpolitik von Eisenhower und Dulles, die anders angelegt war als die ihrer Vorgänger. Sie propagierten 1952 in ihrer Wahlkampagne die "Liberation-Politik" und "enrollment" in Mitteleuropa, welche zu sehr "sophisticated" Slogans darstellten. Dulles und seine Kritiker6 versuchten dem Leser verständlich zu machen, daß er nur friedliche "Liberation" gemeint habe. Aber wenn dies nicht einmal eindeutig genug für die Zeitgenossen war, warum sollten wir es glauben? Dulles konnte im Jahre 1955 nicht hoffen, eine Situation anzutreffen, in welcher die Interpretationen seiner sophisticated Nuancen ernstgenommen werden würden. Seine Realpolitik war tatsächlich realistisch genug. Aber man kann nicht wissen, wie sich eine Regierung der Demokraten an seiner Stelle verhalten hätte. Selbst wenn wir wissen, was eine Kennedy-Administration flinf Jahre später in den Tagen der Berlinkrise getan oder nicht getan hat. Auf dem NATO-Treffen am 2. Mai 1957 in Paris sprach er schon über "cautious encouragement of greater satellite independence", d. h. vorsichtige Ermutigung für mehr Unabhängigkeit der Satelliten- genügend sophisticated7 . Es gibt keine Anzeichen dafür, ob die Verbündeten, England und Frankreich, eine genauer definierte Ostpolitik zu dieser Zeit gehabt haben. Die britischen Dokumente von 1956 belegen, daß die Briten in der ersten Hälfte des Jahres 1956 keine Ahnung über die Vorgänge in Ungarn hatten. Ihre Informationen waren dürftig. Und wenn etwas berichtet wurde, waren es solche "Fakten" wie, daß Suslow ein persönlicher Gast auf dem 60. Geburtstagsfest von Imre Nagy war. Ihre Gedanken und Interessen waren anders gelagert, zum Beispiel über die Lösung der SuezKrise. Dieamerikanische Diplomatie und andere Agenturen hatten, wie aus den publizierten Dokumenten ersichtlich ist, die Lage in den Satellitenstaaten zwar unter einer konstanten Beobachtung gehalten, aber bis zum XX. Parteitag der KPdSU 5 Dwight Eisenhower: Waging Peace 1956-1961. Vol. 2. Garden City, N.Y. 1965. Bennett Kovrig: The Myth of Liberation. East-Central Europe in US-Diplomacy and Politics since 1941. Saltimore I London, 1973. 6 Michael Guhin: Dulies, a Statesman and bis Times. New York I London, 1972. 7 Ebenda und Herman Finer: Du lies over Suez. London 1964.
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(Februar 1956) hielten sie sich an der Analyse des Operations Coordinating Board des State Departements vom Dezember 1954. Aus diesem Geheimdokument geht hervor: "Die Position der Sowjets ist momentan solide, und es wird für unmöglich gehalten, daß Bewegungen in irgendeinem großeren Satellitenstaat sich ausdehnen könnten, um diesen Satelliten vom Sowjetblock abtrennen zu können"8 .
Das Dokument konstatiert weiterhin sehr eindeutig: "Ohne eine drastische Wendung im Kräfteverhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion zugunsten von uns ist es sehr unwahrscheinlich, einen größeren Satelliten von ihnen irgendwann abzugewinnen, ohne ein zu großes Kriegsrisiko einzugehen. Es wäre sonst nur auf dem Wege des Verhandeins möglich, aber dann nur im Fall Ostdeutschlands"9 .
Die Westmächte hatten sich nie vor dem ungarischen und dem polnischen Aufstand klargemacht, welche Hoffnungen auf ihnen lasteten. Zwar hatte die Burlapester US-Gesandtschaft wenigstens einmal, am I. Dezember 1955, deutlich gemacht, daß große Ereignisse, wie die Sowjetvisite in Belgrad, der Österreichische Staatsvertrag, das sowjetische Raumfahrtprogramm sowie das Genfer Treffen, beim ungarischen Volk einen großen Optimismus erweckten, nämlich die Hoffnung, daß das Treffen einen Grundstein flir ihre mögliche Befreiung legen würde, wenn diese Ziel auch nicht in der nahen Zukunft zu erreichen wäre 10. Aber diese Informationen verblaßten, da dieser Optimismus dem Skeptizismus nach dem Genfer Treffen wich. Dies galt für politisch verantwortliche Persönlichkeiten, Informanten der Gesandtschaften, nicht ftir das Volk, die "misera plebs Hungaricus", die die eitle Hoffnung hegte, daß die Österreichische Neutralität die ungarische Neutralität fördern könnte. Die Moskauer Führung war besser informiert und hatte die Gefahren signalisiert. Sie war bereit, mit eiserner Hand zuzuschlagen, wenn nötig. Typischerweise hatte Chruschtschow auf dem Treffen des sowjetischen und ungarischen Politbüros am 5. Januar 1955 gesagt: "Sie haben Verdienste, aber Zinowjew oder Rykow hatten auch Verdienste, vielleicht nicht kleinere als ihre, und doch traten wir ihnen scharf gegenüber, als sie für die Partei schädlich geworden waren. Wir werden auch gegen Sie auftreten ... Lesen Sie, was Voice of America schreibt? (Das ist typisch für Chruschtschow, er hat den westlichen Radiosendungen nicht zugehört, sondern in den Geheimnachrichten gelesen.) Sie gefallen der Bourgeoisie sehr. Die hoffen, daß Sie ein Verräter werden. Sie hoffen, daß es nicht nur einen sowjetischen, sondern auch einen ungarischen oder jugoslawischen Sozialismus geben kann. Was Sie geschrieben haben, das sei das schönste Präsent flir die Bourgeoisie. Churchill reibt sich die Hände darüber" 11 • 8
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Foreign Relations of the US 1955-57. Vol. XXV. Eastem Europe. Washington, 1990. EbendaS. 5. Ebenda S. 99- 100.
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Das heißt: die Russen wußten viel, aber hatten sich nur ein wenig besorgt gezeigt. Man wundert sich, wenn man zum Beispiel Andropows Berichte liest, daß er sich so uninteressiert gegenüber den ungarischen Nationalproblemen zeigte. Nach dem Posener Aufstand vom 22.-23. Juni 1956 war ein ,,Roter Gipfel" nach Moskau einberufen worden. Dort sprach Chruschtschow anerkennend über die DDR, über die Verständigung mit Tito und erklärte Polen als das problematischste Mitglied des sozialistischen Lagers. Er deutete jedoch auch unter anderem die schlechte Disziplin der tschechischen und ungarischen Intelligenz an, aber um diese Länder kümmerte er sich weniger 12 . Zwar traten er und Mikojan für die Ablösung Rcikoczis ein, aber mehr deshalb, weil Tito, der in diesen Tagen als besonders wichtig erschien, mitteilte, daß er nie mehr Rcikosi die Hand reichen würde. In Washington befaßte man sich in diesen Tagen sichtlich weniger mit Ungarn. Die CIA war über die Gärung informiert gewesen und erhöhte auch dementsprechend die Agentenaktivität (wenn auch nicht in solchen Ausmaßen, wie sie die offizielle ungarische Lügenpropaganda in den folgenden Jahren verbreitete), aber die maßgebenden leitenden Kreise waren gegen ein ernsthafteres Engagement in Ungarn oder nur für eine Ermunterung der ungarischen Oppositionellen. Die Sitzung des National Security Council Mitte Juli 1956 hatte wirtschaftliche und andere Sanktionen gegen Ungarn in nur sehr gemäßigten Formen genehmigt. Der National Security Council hielt Änderungen in den Satellitenstaaten für eher unwahrscheinlich, hatte sich aber an der zweideutigen Dulles-Politik orientiert: mehr Propaganda, scharfe Deklarationen, keine Aktivitäten. Die Sowjetregierung aber beobachtete die polnische und ungarische Lage schärfer. Und aller Wahrscheinlichkeit nach bereitete sie bereits Sondermaßnahmen vor- die Sowjetarmee im Oktober 1956 schien nicht sehr überrascht zu sein. Die Armee-Einheiten in Ungarn und in der Ukraine kamen nur einige Minuten nach, wenn schon nicht vor der formellen Entscheidung seitens Chruschtschow und Marschall Zhukow über die Militärintervention in Bewegung. Die Rede Chruschtschows auf der Politbürositzung am 24. Oktober, am zweiten Tag des ungarischen Aufstandes 13, zeigte nur, als er zögernd den Befehl zur Intervention gab, bedrängt von Andropow und Gerös (Nachfolger Rlikosis), daß er eher mit einem dem Berliner Aufstand vom Juni 1953 und ähnlichen Demonstrationen rechnete und nicht mit einem wirklichen Volksaufstand. Chruschtschow war offensichtlich mehr mit Polen beschäftigt, weil dieser Satellit größer, strategisch wichtiger und darum als gefährlicher angesehen wurde. Und dies, obwohl die Ereignisse in Ungarn einen viel heftigeren Charakter trugen. Chruschtschow war sehr unge11 Begegnungen der sowjetischen und ungarischen Politbüros, 1954-55, publiziert von Janos M. Rainerund Karoly Urban. In: Multunk (Budapest) 1992. No. 4. 12 Tibor Hajdu: 1956- Magyarorszag a szuperhatalmak jatek-teren. Val6sag (Budapest) 1990. No. 12. 13 Hungary and Poland, 1956. In: Cold War International History Project Bulletin. 5th Issue, Washington 1995.
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halten über Gerö, dem neuen ungarischen Ministerpräsident Hegedüs und war noch bestrebt, die Ungarnkrise mit einem Kompromiß zu lösen. Chruschtschow herrschte den anwesenden Ulbricht böse an, als dieser dessen Detente-Politik kritisierte, mehr ideologische Wachsamkeit und mehr Problemkonsultationen der einzelnen Kommunistischen Parteien einforderte. Was? Wollen Sie die Komintern restaurieren? erwiderte Chruschtschow höhnisch. Moskaus Unsicherheit hatte viele Gründe. Zunächst konnte man keine westlichen Reaktionen wahrnehmen, und man war außerdem nicht dazu bereit, Jugoslawien abermals zu erschrecken. Zwar unterstützten die Parteiführer Bulgariens, der DDR und der Tschechoslowakei, die am 24. Oktober zur Moskauer Sitzung erschienen, die Intervention, doch die Meinung der ebenfalls anwesenden Chinesen (Liu Sao-Chi) war noch nicht klar. Auch nicht die der abwesenden Polen. Die Hauptstütze Chruschtschows war die sowjetische Heeresleitung, nämlich Zhukow und Konew, gewesen. Sie waren bereit, tabu Ia rasa zu schaffen, bevor neuere Komplikationen entstehen würden. Chruschtschow sandte die Politbüro-Mitglieder Mikojan und Suslow nach Budapest, begleitet von General Serow. Während Serow und Andropow wahrscheinlich schon die nächsten Schritte vorbereiteten, waren Mikojan und Suslow bestrebt, mit der Budapester Parteileitung und persönlich mit Imre Nagy eine Verständigung zu erzielen 14 • Das Verhalten von Mikojan und Suslow in diesen Oktobertagen gehört zu den umstrittensten Umständen der Ereignisse. In dieser gefährlichen Situation schienen sie ihren Dogmatismus zu vergessen, waren zuvorkommend, nahmen fast alles an, aber natürlich nur zu einem Zweck - die sowjetische Machtposition zu bewahren. Für Imre Nagy war vielleicht irreführend, daß Mikojan ihm eine persönliche Diktator-Position zubilligte - von Moskau aus wurde aber immer in den Satellitenstaaten eine Einpersonen-Politik betrieben, mit oder ohne Vollmacht; so war es auch mit Gomulka. Als Nagy aber unter dem Druck des Volkes und der anderen Politiker aus dem Warschauer Pakt austreten wollte und dies offen verkündete, wurden die Gespräche gegenstandslos für Moskau, ganz unabhängig davon, was Mikojan versprechen konnte. Chruschtschow berichtete in seinen Memoiren, daß Mikojan wütend war, als er in Moskau schon mit dem neuen Interventionsplan betraut wurde. Übrigens Mikojan, ein kluger Mann, war öfters für andere Entscheidungen, aber wenn die Sache verloren war, saß er schon auf der Gegenseite, wie 1937 auf der ZK-Geheimsitzung, als Bucharin und Rykow praktisch schon zu Tode verurteilt waren. Eine andere Frage ist, in welchem Maße die Entscheidung vom 30. zum 31. Oktober über die neue Intervention von der Suez-Krise beeinflußt wurde. Hier war die US-Regierung besser unterrichtet und reagierte früher. Eisenhower hatte schon am 25. Oktober den ungarischen Freiheitskampf begrüßt, die 14 Die Budapester Berichte von Mikojan, Suslow, Serow, Andropow siehe in: A ,,Jelcindosszie". Szovjet dokumentumok 1956-r61. Hrsg. Eva Ga!, B. Andras Hegedüs, György Litvan und Janos M. Rainer, Budapest, 1993; und auch in: Hianyz6 lapok 1956 törteneteböl. Hrsg. V. Sereda, A. Stikalin. Budapest, 1993.
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Intervention verurteilt, und damit bestätigte er wenigstens den begeisterten Stil der amerikanischen Presseberichte und Radiosendungen. Am 26. Oktober hatte der National Security Council die polnische und ungarische Lage besprochen. Der Chef der CIA, Allen Dulies, war eher pessimistisch. Er dachte, Moskau werde entweder zu einem harten stalinistischen Kurs zurückkehren oder die volle Demokratisierung der Satellitenstaaten tolerieren. Aber auf die letzte Lösung war nicht zu hoffen, da Chruschtschow sehr wahrscheinlich gestürzt und durch eine Marionette, wie Zhukow, ersetzt worden wäre 15 . (Dieses Protokoll lesend, muß man sich wundem, warum für solche oberflächliche Informationen die CIA finanziell so gut ausgestattet wurde). Dulles dachte weiter. Wegen der heftigen Kämpfe in Budapest wüi:den in anderen Satellitenstaaten die Tendenzen zu einem gemäßigten Nationalkommunismus sehr viel mehr gefährdet werden. Die Gehrüder Dulles waren sich darüber einig, daß es zu früh sei, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Harold Stassen, ein Ratgeber für Demobilisierung, beantragte mit dem Einverständnis Eisenhowers, die Russen zu beruhigen, und ihnen deshalb mitzuteilen, daß sich Amerika nicht in die Ereignisse einmischen und die Situation für eine Veränderung des Kräfteverhältnisses ausnutzen zu wollen. Dies erklärte dann offiziell, allerdings in gemäßigter Form, J. F. Dulles in seiner Rede am nächsten Tag in Dallas, am 27. Oktober. Dulles bat den amerikanischen Gesandten in Moskau, Ch. Bohlen, Chruschtschow und Zhukow vom Inhalt seiner Rede in Kenntnis zu setzen und abermals die Nichteinmischung der USA in Ostmitteleuropa zu versichern. Eisenhower bestätigte in einer Radiosendung am 31. Oktober erneut die Thesen der Dulles-Rede. Er bezeichnete sogar die letzte sowjetische Regierungserklärung als einen großen Schritt zum Sieg der Wahrheit und Freundschaft der Vcilker der Welt. Inzwischen brach jedoch der Suez-Konflikt aus, was noch mehr dazu beitrug, daß die ungarischen Freiheitskämpfer und die geöffnete, pluralistische Nagy-Regierung isoliert wurden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der am 27. Oktober schon sein Mißfallen über die Intervention erklärt hatte, vertagte diese Frage, ohne über eine Resolution abzustimmen. Das National Security Council befaßte sich am 1. November nochmals mit den Ereignissen in Ungarn. Die Redner äußerten ihre Bewunderung für den Kampf des ungarischen Volkes, aber im Grunde bewerteten sie die sowjetische Regierungserklärung vom 31. Oktober als positiv. Dementsprechend war auch das Rundtelegramm, welches am nächsten Tag vom Secretary of State an die amerikanischen Gesandtschaften abgesendet wurde, formuliert. Als die französischen und britischen Vertreter am 2. November einen Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat beantragen wollten, wurde das von Dulles abgelehnt. Unter anderem waren auch die Einschätzungen der amerikanischen Behörden und Diplomaten, besonders die Budapester Gesandtschaft, verfehlt. Sie hielten nämlich Nagy bis zum Sturz seiner Regierung für einen kommunistischen Agents Foreign Relations. S. 296.
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ten, der bestenfalls einen Kompromiß zwischen den Freiheitskämpfern und den Russen anstreben würde. Im Westen verstand man zu spät, daß Nagy schon Ende Oktober eine endgültige Wahl treffen mußte, was er auch tat. Der Leser mag meinen, daß ich als ein echter ungarischer Patriot oder Nationalbolschewist alle Verantwortung für die ungarische Tragödie auf die Großmächte abwälzen möchte. Ich bin weit davon entfernt, aber wenn man über die Verantwortung, die Entscheidungen urteilen soll, muß eine scharfe Zäsur zwischen den Politikern und dem revolutionären Volk gemacht werden. Eine Revolution, eine Rebellion oder ein Aufstand ist, wenn es kein straff politisch geführter Putsch ist, instinktiv. Die Volksmassen handeln dann nur nach ihrem Instinkt aus Erbitterung und Verzweiflung. Der revolutionäre Elan wird entweder ermüden oder zerfallen, wenn keine realistischen Ziele erreicht werden, weil keine realistischen und ausgearbeiteten Ziele existieren. Oder sie werden von irgendwelchen Parteien oder anderen politische Gruppen beeinflußt und gelenkt - zum Sieg, zum Tod oder zum Kompromiß. Darum können wir die Westmächte nicht allein verantwortlich machen, weil sie es versäumt haben, mit den Volksmassen diplomatische Kontakte aufzunehmen. Was haben die Westmächte versäumt? Mit den politischen Kräften in Ungarn eine Vereinbarung zu erzielen und zum Beispiel klar den Neutralitätsantrag der Nagy-Regierung zu unterstützen. Aber dazu waren sie nicht bereit. Dazu hat natürlich beigetragen, daß sie Nagy vielleicht für ein "Trojanischen Pferd" gehalten haben, wie ihn z. B. Radio Free Europein einer Sendung am 29. Oktober genannt hat. Wenigstens die Budapester Gesandtschaften hätten mehr Initiative ergreifen müssen, wären sie nicht ganz umorientiert worden. 1993 ist ein Buch von Henry Kissinger erschienen, in welchem ein ganzes Kapitel dem ungarischen Aufstand gewidmet ist. Ohne bedeutende neue Dokumente zu nennen, f;i.llt er ein sehr scharfes Urteil über die Außenpolitik Eisenhowers und Dulles. Er ist in dieser Beziehung sehr viel kompetenter als wir ungarischen Historiker. Aber wir können fragen, warum Experten, wie Professor Kissinger, dem tschechoslowakischen Volk im Jahre 1968 nicht mehr helfen konnten als den ungarischen Patrioten des Jahres 1956? Die Kritik Kissingers muß daher auch auf seine Außenpolitik ausgedehnt werden.
Die USA und der Herbst 1956 Von William Griffith
Aus amerikanischer Sicht war Ungarn vor dem Zweiten Weltkrieg und sogar vor dem Ersten Weltkrieg ein Land, welches die klägliche Definition von Neville Chamberlain über die Tschechoslowakei 1938 am ehesten widerspiegelte: "A far away land, of which we know little". In dieser und vielerlei anderer Hinsicht war Ungarn auch dazu, wenn nicht verdammt, so doch zumindest negativ in den Vereinigten Staaten angesehen, hauptsächlich aus dem Grund, weil Ungarn im Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht auf der Seite der Westalliierten, sondern auf der Seite Deutschlands kämpfte. Aus dem Ersten Weltkrieg war Ungarn als eigenständiges Staatsgebilde hervorgegangen, wobei erhebliche territoriale Verluste zu verzeichnen waren (70 %). Daher war eine Revision Ungarns nur verständlich. Selbst heute noch bestehen gewisse territoriale Ressentiments. Ungarn war für die Amerikaner im Kontrast zu Polen und zur Tschechoslowakei ein Land, das weder im Ersten Weltkrieg noch im Zweiten Weltkrieg auf der amerikanischen Seite war. Der zweite Grund, warum für die Vereinigten Staaten vor und während des Zweiten Weltkrieges Ungarn nicht sehr populär war, war das Regime des Marschall Horthy. Im Gegensatz zu vielen Argumenten aus amerikanischen, linksintellektuellen Kreisen war Horthy kein Faschist, und das Regime war kein faschistisches Regime. Der große englische Gelehrte Sean McCartney sagte einmal: "Das Regime von Horthy war vergleichbar mit der Herrschaft der Whigs in England im 18. Jahrhundert." Aber das galt in Ungarn in der Zwischenkriegszeit als modern. Es gibt weitere Gründe, warum es so schwierig war für Ungarn und die Vereinigten Staaten, sich gegenseitig zu verstehen. Vor allem, weil Amerika seit seiner Gründung einen ungeheuren Optimismus ausstrahlte, während sich Ungarn aus seiner ganzen Geschichte heraus eher pessimistisch interpretierte, zu Recht, wie das Scheitern der Unabhängigkeitsbewegung von 1848 zeigte. 1867 erlangte man zumindest eine Teilunabhängigkeit durch den berühmten Ausgleich. 1918 I 1919 erreichte man die formale Unabhängigkeit, aber man erlitt auch erhebliche Gebietsverluste. Nach 1945 war man wieder nur für kurze Zeit unabhängig. Eine wichtige Zensur bedeutete das Jahr 1956. Die moderne Geschichte Ungarns kann man nicht ohne die Geschichte der ungarischen Juden verstehen. Ich schildere nur ein Beispiel. Der vielleicht berühmteste marxistische Historiker und Philosoph des 20. Jahrhunderts, Georg Lukacs (1885 - 1971), dessen Vater der Generaldirektor
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William Griffith
der Budapester Kreditanstalt war, hieß Georg von Lukacs und unterschrieb auch noch bis 1917 mit diesem Namen. Ein weiteres Beispiel für den Einfluß der ungarischen Juden auf die Politik ihres Landes war die Tatsache, daß während der Zeit des Ersten Weltkrieges der ungarische Verteidigungsminister ein jüdischer Baron war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war, bis auf Imre Nagy, die gesamte Führung der ungarischen Kommunisten jüdischer Herkunft. Einige sollen hier genannt werden: Rakoczi, Gerös, Revan, Farkas u. a. Das mußte dazu führen, daß die ungarischen Nationalisten ganz besonders dem Antisemitismus zugeneigt waren. Dies wurde in Amerika auch nicht gerade positiv empfunden, nicht nur von den amerikanischen Juden. Was waren die Gründe der unterschiedlichen Sichtweisen in Amerika, England und Frankreich bezüglich der Ereignisse in Ungarn 1956 im Vergleich zu Polen? Die übereinstimmende Meinung der Publizisten zu den ungarischen bzw. polnischen Ereignissen von 1956 sieht den Hauptunterschied im Gang der Erhebungen in den Führungspersonen Gomulka und Nagy. Das stimmt aber nicht ganz. Der wirkliche Unterschied bestand zwischen Edward Ochab in Polen und Emö Gerös in Ungarn. Ochab hatte die Macht friedlich an Gomulka übergeben. Gerös hatte die Macht überhaupt nicht an Nagy übergeben wollen. Dazu kam dann die Revolution hinzu. Wenn es in Ungarn jemanden gegeben hätte, wie z. B. Ochab in Polen, dann wäre es vielleicht überhaupt nicht zu einer Revolution gekommen. Nun komme ich auf die direkte amerikanische Außenpolitik im Fall Ungarn zu sprechen. Für uns damals bei .,Radio Free Europe" und in Washington bestand ein Hauptunterschied zwischen Polen und Ungarn, daß es in Polen zwei bedeutende Überläufer gegeben hat. Und zwar 1953 I 54 ein Warschauer Polizist namens Josef Charchow. Und danach, im Juli 1956, der Privatsekretär von Jakub Bermann, die Nummer drei im polnischen Politbüro. Bermann leitete ein Ministerium aus einer ironischen Mischung: Polizei und Kultur. Dieser Privatsekretär war Sven Biala, der später als Politologe an der Columbia-Universität New York lehrte. Aus Ungarn gab es keinen bekannten Überläufer. Und deshalb konnte man zwar damals im Westen ungeheuer viel über Polen, das polnische Politbüro und die Fraktionskämpfe innerhalb des Politbüros erfahren. Hingegen wußte man im Westen fast nichts von den Fraktionskämpfen innerhalb der ungarischen KP. Vor allem wußte man sehr wenig über die Rolle von Irnre Nagy und seine Mitstreiter, wie Ferenc Donath, die so etwas wie eine Fraktion bildeten. Es gibt meines Erachtens noch einige andere Gründe, warum es zur Revolution kam. Gründe, die in Amerika nicht sehr bekannt waren. In Polen kam es nicht zu einiger blutigen Revolution, da mit der Ermordung von 4100 polnischen Offizieren in Katyn und weiteren Massenerschießungen von polnischen Offizieren durch Einheiten des NKWD, und mit dem Kriegsende 1945 fast die gesamte polnische Intelligenz nach dem Warschauer Aufstand vernichtet worden war bzw. einen hohen Blutzoll zahlte. Deshalb schreckte man vor einer blutigen Erhebung zurück. In Ungarn gab es weder ein Katyn noch einen Warschauer Aufstand. Erschwerend
Die USA und der Herbst 1956
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kam für Ungarn das Scheitern der Revolution von 1848 hinzu. Die Erinnerung an diese Revolution war immer noch lebendig, wie eine Begebenheit zu Anfang der ungarischen Revolution von 1956 beweist. Damals kletterte ein junger Dichter auf das Monument von Petöfi und trug eine von Petöfis Dichtungen über die ungarische Revolution von 1848 vor. Dazu kam hinzu, daß es keine "Gegenerinnerungen" wie in Polen gab. Warum aber waren die Vereinigten Staaten im Hinblick auf die ungarische Revolution so schlecht vorbereitet? Immerhin hatte man die Ereignisse in Berlin, 1953, den Pilsener Aufstand in der Tschecheisowie den Juniaufstand von 1956 in Posen beobachten können. Man hätte also wissen müssen, daß in Ungarn eine ähnlich explosive Lage existierte. Vielmehr fürchtete man aber revolutionäre Ereignisse in Polen, weil Polen für die Sowjetunion geostrategisch gesehen viel wichtiger war als Ungarn. Diese Einschätzung teilten sowohl England als auch Frankreich. Die Dimension auf der politischen Führungsebene war zwischen Polen und Ungarn ebenfalls sehr unterschiedlich. Imre Nagy war ein edler Mensch, aber ein unfähiger Politiker. Gomulka war nach westlichen Maßstäben zwar kein edler Mensch, aber er war ein erfolgreicher und fähiger Politiker. Und in dieser Hinsicht war, frei nach Max Weber, Gomulka ein verantwortungsethisch handelnder Mensch. Nagy dagegen handelte gesinnungsethisch. Nach der harten, osteuropäischen Politikschule sowjetischen Typs verlieren die Gesinnungsethiker, und der Sieg gehört den Veranwortungsethikern. Die Gestalt des Imre Nagy ist eher mit Alexander Dubcek zu vergleichen. Sie handelten nach edlen Zielen, waren aber am Ende so erfolglos wie Michail Gorbatschow. Die USA waren auf den ungarischen Aufstand fast völlig unvorbereitet. Die Ereignisse in Ungarn liefen auch ungeheuer schnell in Richtung einer Revolution. Aber man wollte in Amerika, wie in England oder Frankreich, Stabilität. Die Deutschen wollten dies ebenfalls. Stabilität wollen diejenigen die Besitz haben und um ihren Besitz bangen. Stabilität ist deshalb für die Mehrheit ungeheuer wichtig. Die ungenügenden Informationen der USA über die ungarischen Ereignisse resultierten aus der Unterschätzung der nationalen Erniedrigung der Ungarn. Die kulturelle und sprachliche Isolierung Ungarns sowie die daraus notwendig resultierenden Ergebnisse wurden ebenfalls unterschätzt. Hinzu kam die Fehleinschätzung Räkosis und des Politbüros sowie die ,,Zwangsumkehrung aller Werte", wie der Exilungar Mihail Kary einmal sagte. Die Umwertung aller Werte in Sinne von Nietzsche, wobei die ungarischen Kommunisten einerseits Werte verkündeten, aber gegenteilig umsetzten - fand in Ungarn statt. Die Werte des Kommunismus wurden mit Folter, Mord und Gefängnis durchzusetzen versucht. Das wurde durch die Revolution besonders deutlich. Auch für die damals noch wichtigeren amerikanischen Linken war es überraschend, daß es in Ungarn keine Klassenerhebung gab. Es war eher eine nationaldemokratische Revolution der Mehrheit des ungarischen Volkes. Auch in diesem Punkt ist die amerikanische Fehlinterpretation nachweisbar.
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Williarn Griffith
Was wußten die Vereinigten Staaten, und wann wußten sie etwas? Sie wußten nicht viel. Aber eine Schlüsselrolle kam dem Suez-Konflikt zu, der eigentlich separat kulminierte. Suez war für die amerikanische Regierung, für Präsident Eisenhower und besonders für Außenminister John Foster Dulles, eine Herausforderung für ihre Schlüsselrolle im NATO-Bündnis. Denn Suez war ein Abenteuer der Engländer, Franzosen und Israelis gegen den Willen der Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb kam es zu dem vehementen Engagement Eisenhowers, die Engländer und Franzosen aus Suez zurückzuholen. Indem eine Krise des englischen Pfund herbeigeführt wurde, deren Resultat für England verhängnisvoll war, wurde Eisenhower in seinen Aktionen bestärkt, in deren Konsequenzen der Rückzug der Israelis erfolgte. Der Suez-Konflikt beeinflußte nachhaltig die Intensität der amerikanischen Politik bezüglich des Ungarnaufstands. Ungarn war und ist auch heute eher marginal für amerikanische Interessen. Trotz der Popularität der Ereignisse in den USA dachten die politischen Verantwortlichen nie an eine militärische Intervention. Denn eine Intervention hätte die Österreichische Neutralität mehr oder weniger untergraben. Ebenfalls besaß die Sowjetunion ein mittlerweile großes Arsenal an Atomwaffen, die ein viel zu großes Sicherheitsrisiko darstellten, um ein nur marginales Interesse zu verteidigen. Es gab zwar in begrenzten Maßen Diskussionen über eine Intervention in Ungarn. Außer formale und heftige Proteste wurde ein militärischer Schlag nie ernsthaft in Erwägung gezogen.
Die Suez-Krise und der Ungarn-Aufstand Von Francoise Sirjacques-Manfrass
Aus dem "düsteren Jahr 1956", so der Historiker J. Julliard 1, ragen zwei Ereignisse hervor, die fast gleichzeitig stattfanden und jede für sich die zunehmende lnvolvierung Frankreichs in den zwei Konfliktfeldern der Nachkriegszeit konkretisierten. Die Suez-Krise erschien als der Auftakt jenes "definitiven Engagements Frankreichs im Algerienkrieg" (Julliard), der noch wesentlich stärker als der bereits verlorene Indochinakrieg die inneren Spannungen und Konvulsionen der Entkolonisierung auf die Spitze trieben und zur sang- und klanglosen Auflösung des politischen Systems der IV. Republik führten. Der Ungarn-Aufstand wiederum verdeutlicht durch seine Resonanz in der französischen Hauptstadt die zunehmende innenpolitische Involvierung in jenen Ost-West-Konflikt, der bis dahin weitgehend von den Kolonialkonflikten, in die Frankreich verwickelt war, überschattet worden war. Die Suez-Krise, oder besser gesagt, das mißglückte Suez-Abenteuer sowie die Auswirkungen des Ungarn-Aufstands leiteten in Frankreich - jedes für sich und auf seine Art - eine Zäsur ein: Hatte sich Frankreich, das sich gleich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit den Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Kolonien in Indochina konfrontiert sah, in der Verteidigung seines Kolonialreiches in der Illusion gewogen, an den Großmachtstatus der Vorkriegszeit anknüpfen zu können, so bedeutete das quasi doppelte Ultimatum der Weltführungsmächte, das das Suez-Abenteuer beendete, den jähen Abschied vom Großmachttraum. Mit einem Male wurde die Auslöschung der eigenen Machtposition, in der nun von den Siegern des Zweiten Weltkrieges dominierten neuen Weltordnung überdeutlich. Auch der Ungarn-Aufstand führte Frankreich nolens volens in die Realität des Ost-West-Gegensatzes zurück. So zwangen sowohl die Suez-Krise als auch der Ungarn-Aufstand Frankreich dazu, sich nun als europäische Mittelmacht in das globale Verhältnis der nuklearen Weltmächte einzureihen. Etwas überspitzt: die Suez-Krise und der Ungarn-Aufstand leiteten die Rückkehr Frankreichs nach Europa ein, indem sie einerseits die Begrenzung des Handlungsspielraums der europäischen Staaten in der weltweiten Politik signalisierten und deutlich machten, daß diese aufgehört hatten, die internationale Politik als eigenständige Faktoren zu bestimmen, und andererseits auch deutlich machten, ' Siehe J. Julliard: La IV. erne Republique. Paris 1968, S. 376, siehe insbesondere S. 204 ff.
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Francoise Sirjacques-Manfrass
daß sie sich den Spannungen im globalen Verhältnis der Weltmächte kaum entziehen konnten. Mit anderen Worten: die Suez-Krise und die fast gleichzeitige Ungarn-Krise zeigten, daß sich Frankreich nicht in der Verfolgung gegenstandslos gewordener Großmachtträume in die Nische der Weltpolitik zurliekziehen und den Spannungen des Ost-West-Konfliktes entziehen konnte. I. Die Suez-Krise
Das ,.Hineinschlittern" Frankreichs in das Suez-Abenteuer, das zwar - so Grosser - der ,.einzige populäre Krieg" der IV. Republik gewesen ist, doch Frankreich isolierte, es vor der UNO-Vollversammlung zunehmend als Angeklagter erscheinen ließ, und ihm dramatisch zeigte, wie eng die Grenzen seines Handlungsspielraums geworden waren, muß vor dem Hintergrund des Algerienkriegs gesehen werden. Der 1954 ausgebrochene Aufstand in Algerien hatte zwar fast ein Jahr gebraucht, um sich auszuweiten. Doch 1955 griff die ,.Erhebung" (lnsurrection) auf das Hinterland über. Bewaffnete Banden griffen Verwaltungsgebäude und Kasernen der Gendarmerie an, massakrierten Europäer in isolierten Bauernhöfen. Die Spirale von Gewalt und Repression war nicht mehr zu stoppen. Der Bürgerkrieg wütete. Paris, vor kurzem noch im Sumpf des Indochinakrieges steckend, suchte eine politische Lösung, schloß aber von vomherein Verhandlungen mit den ,.Rebellen" aus. Ohnehin lähmte die politische Labilität der Exekutive die Initiative, da die heterogenen Regierungskoalitionen ständig zu stürzen drohten und der fragile Konsens, der ihnen zugrunde lag, ständig in Frage gestellt wurde. Die europäische Bevölkerung in Algerien wollte ohnehin von politischen Lösungen nichts wissen, witterte Verrat und empfing den neuen Ministerpräsidenten, G. Mollet, bei seiner Algerienreise im Februar 1956 mit Tomaten und Eiern, während die aus Indochina geschlagene zurückkehrende Armee, die sich krampfhaft an einer Dolchstoßlegende festhielt und entschlossen war, nicht wieder eine Niederlage einstecken zu müssen, sich in den ,.psychologischen Krieg" und in die ,,Befriedung" stürzte, und einige - wie General Faure - schon 1956 gegen die politische Macht zu konspirieren begannen. Vor diesem Hintergrund brach die Suez-Krise aus. Nasser, der in der arabischen Welt zum Symbol für den Willen zur Unabhängigkeit geworden war, hatte am 26. Juli 1956 den Suez-Kanal und die internationale Suez-Gesellschaft nationalisiert und damit auf die Kündigung eines amerikanischen Kreditangebotes für den Bau des Assuan-Staudammes geantwortet. Gewiß war internationales Recht gebrochen und das freie Durchfahrtsrecht im Kanal, das in den Statuten der Internationalen Gesellschaft verankert war, in Frage gestellt 2 Siehe A. Grosser: La !Vve Republique et sa politique exterieure. Paris 1972, S. 434, insbesondere S. 367 ff.
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worden. Gewiß waren insbesondere englische und französische Interessen verletzt worden. Und in Paris und London waren sofort energische Gegenmaßnahmen, notfalls auch eine militärische Interventionen erwogen worden. Doch die wirklichen Gründe der Bereitschaft zur militärischen Intervention reichten in Paris weit darüber hinaus. Es war schließlich ein Bündel von Motivationen, die, anknüpfend an die Traumata der jüngeren französischen Geschichte über die persönlichen Neigungen des Ministerpräsidenten, aber schließlich doch schwerpunktmäßig um das AlgelienDrama kreisend, den Ausschlag gaben. Nasser erschien als der neue Diktator, der sofort in Paris das ,,München-Trauma" in Erinnerung rief: "Kein Kompromiß mit dem Expansionismus eines Diktators!" dachte nicht nur Guy Mollet Selbst Duverger schrieb am 1. August im ,,Le Monde": "Das Beispiel der Jahre 1933 -1939 ist eindeutig ... man muß in Ägypten militärisch erwidern, wenn alle anderen Mittel ineffizient bleiben" 3 . Ohnehin verkörperte für den Sozialisten Guy Mollet, der in der "republikanischen" Kolonialtradition Frankreichs Aufklärung, Zivilisation und das Überbringen der westlichen Werte sah, Nasser einen obskuren Islam. Die freie Fahrt im Suez-Kanal, aber auch die Entschädigung der keinesfalls nur großen hunderttausend Aktionäre dere Suez-Gesellschaft waren ebensolche Entscheidungsgründe wie der Wunsch, Israel zu helfen. Die Unterstützung Israels war nicht nur eine konstante Zielsetzung der französischen Außenpolitik der IV. Republik, die engen französisch-israelischen Beziehungen waren schon immer in besonderer Weise eine Sache der sozialistischen Partei gewesen. Auch handelte der Ministerpräsident nicht nur ganz im Sinne der Tradition seiner Partei, als er ein möglichst enges Bündnis zu England herstellte, seine eigene ausgesprochene Anglophilie bewog ihn ohnehin dazu, den Schulterschluß zu Großbritannien zu suchen. Doch war "ohne Algerien das französisch-britischisraelische Suez-Abenteuer nicht denkbar"4 • Nasser unterstützte nicht nur den algensehen Befreiungskampf mit panarabischen Parolen. Die algensehe Befreiungsorganisation FNL saß in Kairo, seit April 1956 wurde in Kairo mit der Ankunft der letzten in Algerien verbliebenen Anführer der Befreiungsbewegung Ägypten als Hinterland der "Rebellion" betrachtet, und stand im Verdacht, militärische Hilfe zu leisten, zumindest als Rückzugsort für die in Algelien operierenden Kommandos zu fungieren. Algerienminister Lacoste sagte: "Eine französische Division in Ägypten hat soviel Wert wie vier Divisionen in Nord-Afrika"5 . Erlaubt man Ägypten, sich den Suez-Kanal anzueignen, meinte Außenminister Pineau, werden die algensehen Nationalisten wieder Hoffnung schöpfen. Da Washington eher bemüht war, die Empörung und den Eifer seiner Verbündeten zu bremsen, und Außenminister John Foster Dulles mit allerlei Konferenzen Vgl. A. Grosser: La JVve. Republique. A.a.O., S. 369. Vgl. J. Dülffer: Die französischen Akten zur Außenpolitik 1956/57. in: Francia, Bd. 20/ 3(1993),S. I77. 5 Vgl. A. Grosser, a. a. 0., S. 370. 3
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- zu dritt und zu zweiundzwanzig - und Missionen und Schaffung von Betroffenen-Organisationen den Eindruck vermittelte, sich dem Fait accompli zu beugen, entstand in Paris und London ein geheimer Plan für eine getarnte Intervention, zu der Israel den Vorwand liefern sollte. Israel sollte - sich auf die ägyptisch-jordanischen Kriegsvorbereitungen berufend- in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober mit starken Verbänden auf der Sinai-Halbinsel angreifen und den dort befindlichen Teil der ägyptischen Streitkräfte einkreisen. Frankreich und England sollten dann mit einem Ultimatum sowohl Israel als auch Ägypten auffordern, ihre Truppen sofort zurückzuziehen. In der Annahme, daß diese Aufforderung wirkungslos bleiben würde, sollte dann ein französisch-britisches Expeditionskorps intervenieren, die Suez-Kanal-Zone bombardieren und in Port-Said einmarschieren. Am 6. November sollte alles erledigt sein. Der Plan war in Geheimabsprachen mit den Briten einerseits und mit den Israelis andererseits ausgetüftelt worden. Israels Premier, Ben Gurion, war unter größter Geheimhaltung mit Mollet auf dem Militärflughafen von Villacoublay zusammengetroffen, und Paris spielte die Verbindungsrolle zwischen den drei Beteiligten. Weder das Foreign Office noch der Quai d'Orsay, beide gegen eine Militärintervention, wurden in das Geheimnis eingeweiht. In Paris lief das Unternehmen unter der Verantwortung des Ministers der Nationalen Verteidigung, M. Bourge-Maunoury. Trotz zweier persönlicher Botschaften des OS-Präsidenten Eisenhower griffen, wie vorgesehen, die israelischen Truppen auf der Sinai-Halbinsel an, und am nächsten Tag, dem 30. Oktober, kündigten Eden und Mollet vor ihrem jeweiligen Parlament an, daß Großbritannien und Frankreich die Schlüsselpositionen in der KanalZone besetzen werden, um - so die abgesprochene Begründung - Israelis und Ägypter auseinanderzuhalten, die aufgefordert wurden, sich zurückzuziehen. Während das britische Parlament heftig reagierte und Eden nur 270 Stimmen (gegen 218) für sich erhalten konnte, bewilligten die französischen Abgeordneten mit großer Mehrheit (368 gegen 182- Kommunisten, Progressisten und Poujadisten) das Unternehmen. Am 31. Oktober begannen Bombenangriffe auf die Kanal-Zone. Am 5. November wurden Fallschirmeinheiten abgesetzt, die, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, rasch in Richtung Port-Said und Port-Fouad vorwärtskamen. Washington war am 30. Oktober durch eine französisch-britische Mitteilung über die militärische Intervention informiert worden. Doch am 6. November war in den USA PräsidentschaftswahL Eisenhower suchte die Bestätigung für eine zweite Amtszeit, und man ging davon aus, daß er außenpolitisch nicht voll aktionsfähig sein werde. 6 Ohnehin gingen alle vorausgegangenen Überlegungen von einer "amerikanischen Neutralität" sowie davon aus, daß "die UNO 14 Tage brauchen würde, um sich aufzuregen" 7 . Auch glaubte man, daß die Sowjetunion, deren Vgl. E. Weisenfeld: Frankreichs Geschichte seit dem Krieg. Paris 1980, S. 120 ff. Vgl. M. und S. Bromberger: Les secrets de I' expedition d 'Egypte. Paris 1957, S. 219, sowie A. Grosser, a. a. 0., S. 371. 6
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Panzer-Verbände bereits am 4. November in Budapest einmarschiert waren, mit der Ungarn-Krise beschäftigt, außenpolitisch ebenfalls aktionsunfähig war. Doch reagierte zunächst Washington besonders heftig. Eisenhower rief bereits am 30. Oktober den Weltsicherheitsrat an und legte am 2. November eine Entschließung vor, die die sofortige Einstellung der englisch-französischen Kampfhandlungen verlangte. Einstimmig forderte dann die Generalversammlung der UNO den sofortigen Waffenstillstand und beschloß die Entsendung eines internationalen Kontingents. Am 5. November wiederum richtete Moskau ein Ultimatum an London und Paris, in welchem ziemlich unverhüllt mit der Atombombe, jedenfalls mit der Gefahr "schrecklicher Verwüstungen" gedroht wurde. Erst die englische, dann die französische Regierung entschlossen sich daraufhin, die Kampfhandlungen einzustellen. Nasser war nicht gestürzt worden, was wahrscheinlich das französische und britische Hauptziel gewesen war. 8 Die zum Abzug gezwungene französische Armee sah sich um ihren Sieg betrogen und zog verärgert ab. Frankreich hatte mit einem Schlag die letzten Sympathien in der arabischen Welt verloren. Der Suez-Kanal, in dem die Ägypter Schiffe versenkt hatten, war ftir Monate nicht passierbar, und die europäischen Partner- so der deutsche Kanzler Adenauer, der am 5. November nach Paris eilte, um seine Befürchtungen zu äußern -waren zutiefst verärgert. Doch viel tiefgreifender war die Erkenntnis, daß Frankreich - und Großbritannien - "nichts unternehmen können, wenn die wirklichen Großen sich zusammentun, um es zu verhindern" 9 und daß "die Sicherheit Frankreichs vollständig von dem Bündnis mit den USA abhängt" 10. Es war- so lost Dülffer- "eine Kapitulation der französischen Großmachtambition insgesamt" 11 • Weil sie den Verlust der französischen Machtposition in der bipolaren Weltordnung dramatisch gezeigt hatte, war die Suez-Krise in ihrer Tragweite schließlich viel mehr, als nur ein Epiphänomen jenes Algerien-Kriegs, der zur Auflösung der IV. Republik führen sollte. In der als Demütigung perzipierten "Kapitulation" vor den in seltener Eintracht auftretenden Weltführungsmächten wurzelten schon die Grundlinien jener, dann von de Gaulle angestrebten Politik der Zurückgewinnung des Großmachtstatus. Das für die französische Öffentlichkeit- so in einer Umfrage im Jahre 1957 zufolge 12 - nicht die eigene Regierung, sondern Amerikaner und Russen Schuld an dem Desaster trugen, werde den schon seit dem lndochina-Krieg grassierenden Anti-Amerikanismus noch fördern, der im Zuge der immer wieder auftretenden französisch-amerikanischen Spannungen vor dem Hintergrund des Algerien-Krieges auch immer neuen Auftrieb bekam. Vor allem wurzelten in der s Siehe hierzu J. Dülffer, a. a. 0.; S. 178. 9 Vgl. A. Grosser, a. a. 0., S. 372. IO Vgl.J. Dülffer, a. a. 0., S. 179. II Jbid. 12 Vgl. A. Grosser, a. a. 0., S. 373. 3 Timmennann/ Kiss
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Erfahrung der Grenzen, die die neue bipolare Weltordnung dem eigenen Handlungsspielraum setzte, das Aufbegehren gegen die "doppelte Hegemonie" als Grundlage der Zurückgewinnung des Großmachtstatus und die Angst vor jedem "Kondominium" (so de Gaulle) der Weltmächte, das Paris immer wieder denunzieren wird, wenn seine Interessen an die Bedingungen der Nachkriegs-Weltordnung stoßen würden. Auch war die "Kapitulation" von Suez der schließlich ausschlaggebende Faktor für das Streben nach der Nuklearkapazität Wenngleich die Frage einer atomaren Aufrüstung sich quasi seit 1952 im Zusammenhang mit der Entwicklung der Nuklearenergie stellte und seitdem alle französischen Regierungen insgeheim die technischen Vorbereitungen unterstützt hatten, wirkte die Demütigung von Suez wie ein Peitschenhieb. Man will nie wieder infolge eines Nuklearultimatums vor einer Nuklearmacht kapitulieren müssen. Von da an würde die Nuklearfähigkeit als Voraussetzung und unverzichtbares Instrument der Rückgewinnung des Großmachtstatus erscheinen. Schließlich wurzelte auch in der Suez-Krise das sich infolge des AlgerienKriegs zunehmend eskalierende Spannungsverhältnis Franreichs zur UNO, die de Gaulle später als "das Ding da" apostrophieren sollte.
II. Die Ungarn-Krise Wenngleich in diesem Jahr 1956 die Nord-Süd-Dimension der Konflikte durch die Verwicklung in die Kolonialkriege unvergleichlich realer erschien, als der Ost-West-Gegensatz, dessen Gefährdung der Sicherheit nach der Entstalinisierung und infolge der Entspannung als minimal eingeschätzt wurde, würde der UngarnAufstand zwar nicht die Wahrnehmungen umkehren, Frankreich jedoch unverzüglich durch die innenpolitische Austragung der Ost-West-Konfliktdimension in die Realität des Ost-west-Gegensatzes zurückrufen. Wenn auch die beiden Krisen, die Suez-Krise und der Ungarn-Aufstand zeitlich zusammenfielen, war die erste eine außenpolitische und die andere vor allem eine innenpolitische Krise. Suez stellte mit der Wahrnehmung des Verlusts der eigenen Machtposition eine außenpolitische Zäsur dar. Sie beendete nicht nur die Bestrebungen der französischen KP nach einer Wiederherstellung einer gemeinsamen linken Allianz mit den nicht-kommunistischen linken Parteien, die nicht zuletzt nach der Wende der SFIO (Sozialisten) in den Kolonialfragen erreichbar schien, sich schon in der Konstituierung der "Republikanischen Front" anzudeuten vermochte und die Prämissen für die Wiederherstellung jener sagenumwobenen "Volksfront" der 30er Jahre zu schaffen schien. Sie bedeutete auch den Bruch der Intelligenzia mit einer kommunistischen Partei, die selber gespalten, jedoch im Reflex der bedrohten Minderheiten folgend und sich bedroht fühlend, im Schulterschluß mit der KPdSU erstarrte.
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In der Tat, wenn auch - wie Dülffer anhand der französischen Akten zur Außenpolitik zeigte - die Vorgänge im Ostblock vom Posener Aufstand im Juni 1956 bis zum ungarischen Aufstand von Frankreich als eine "wahre Weltkrise" analysiert wurden 13 , waren die Auswirkungen der Krise vor allem innenpolitisch. Am Abend des 7. November wurde das Gebäude der kommunistischen Tageszeitung ,,L 'Humanite" von der Menge angeriffen, die zuvor am Triumphbogen gegen die sowjetischen Truppen in Budapest demonstriert hatte, dann aber von den Führern einer rechtsextremen Bewegung, die vor dem Hintergrund des Algerien-Kriegs sich erneut formiert hatte, angestachelt, die Gebäude der KP stürmen wollte. Nachdem die kommunistische Führung ihre Mitglieder aus der Pariser Umgebung zur Unterstützung gerufen hatte, mußte das Handgemenge, das zum Straßenkampf zu degenerieren drohte, von der Polizei aufgelöst werden.
Die KPF hatte ihre Stärke gezeigt, war aber mit ihrer bedingungslosen Unterstützung der Sowjetunion in der politischen Landschaft völlig isoliert. Während sich die Intellektuellen von der Partei abwandten, wurden die eher zögerlichen Regungen zur Entstalinisierung jäh abgeblockt, die KPF kapselte sich zunehmend ab. Am anderen Ende der politischen Skala hatte der Ungarn-Aufstand der extremen Rechten die Rückkehr auf die politische Bühne ermöglicht. Eine zunehmende Polarisierung zeichnete sich ab, die mit dem sich intensivierenden Algerien-Krieg fortsetzen sollte. Zunächst zeigten aber die innenpolitischen Auswirkungen des Ungarn-Aufstandes, daß Frankreich nolens volens auch im Ost-West-Gegensatz involviert war. Zwar sollte auf der außen- und sicherheitspolitischen Ebene der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Budapest keine Akzentverschiebung nach sich ziehen. Eher verstärkte sich die Meinung, daß die UdSSR zwar nicht bereit sei, auf einen ihren Satellitenstaaten zu verzichten, daß sie aber wiederum Willens sei, sich an die de facto Teilung Europas zu halten und keine aggressiven Absichten gegenüber Westeuropa hege. Dies ermöglichte wiederum Frankreich, sich auf den AlgerienKrieg zu konzentrieren und guten Gewissens die dort benötigten Truppen aus Deutschland abzuziehen. Die zwei Ereignisse des Jahres 1956, Suez-Krise und Ungarn-Aufstand; die zeitlich zusammenfielen, waren in ihrem Stellenwert und ihrer Tragweite für die französische Außen- und Sicherheitspolitik sicherlich sehr unterschiedlich. Während die Suez-Krise in ein Trauma mündete, das wie das Münchener Abkommen des Jahres 1938 oder der Zusammenbruch des Jahres 1940 langfristig auch die Zielsetzungen der französischen Außenpolitik mitzubestimmen vermochte, blieb der Ungarn-Aufstand über die emotionale Reaktion hinaus in seiner Auswirkung auf die Definition von Politik zunächst begrenzt. Doch beide stellten eine Art Rahmenbedingung der künftigen französischen Außenpolitik dar. In der Kapitulation von Suez wurzelten die späteren Bestrebungen nach der Zurückgewinnung des Groß13
Vgl. J. Dülffer, a. a. 0., S. 180.
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machtstatus. Die Deutung der ungarischen Krise als Bestätigung der Analyse einer zwar ihren Machtbereich beherrschenden, jedoch saturierten Sowjetunion, die keine Expansionsgelüste hegte, würde wiederum de Gaulle, der diese Analyse auch teilte und die Frontstellung des Kalten Krieges als überholt betrachtete, veranlassen, die Rückgewinnung des Großmachtstatus in seinem breit angelegten Konzept der Überwindung der europäischen Teilung zu verankern.
Großbritannien, Frankreich und das Suez-Abenteuer im Herbst 1956 in Korrelation zu den Ereignissen in Ungarn Von György Litvan
Wahrend der trüben Novembertage von 1956, nach der sowjetischen Invasion, hörte man in Budapest wieder und wieder dieselbe Geschichte: die sowjetischen Soldaten, sobald sie Budapest erreichten, suchten sofort den Suez-Kanal oder hielten die Donau für den Kanal. Die Geschichte kam in verschiedensten Variationen vor, hatte aber immer denselben Inhalt: die russischen Generäle wagten den Soldaten nicht zu sagen, daß sie gegen die ungarischen Freiheitsbewegung kämpfen müßten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte diese Geschichte wenig oder gar keine Grundlage. Sie zeigte aber, wie die Ungarn einen Zusammenhang zwischen dem Suez-Abenteuer und ihrer Revolution sahen. Der große französische Schriftsteller Francois Mauriac schrieb in diesen Tagen in seinen Bloc-notes über Guy Mollet und Anthony Eden, die vor dem Ultimatum des sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin zu der Einschätzung neigten: "peut-etre laisseront-ils les bourreaux de Ia Hongrie supporter seuls, desormais, Ia reprobation du monde".
Der ehemalige französische KulturaHaehe in Budapest, M. Guy Turbet Delof, interpretierte Mauriacs und seinen eigenen selbstkritischen Standpunkt wie folgt: "Sans les demels de Ia Russie avec Ia Pologne et Ia Hongrie (mais surtout celle-ci), Ia France et I' Angleterre n' auraient pas ose ,le coup de Suez'. Le ,coup de Suez' (connu le 30 octobre) a declencbe Ia contre-attaque sovietique en Hongrie (4 novembre). -Si cette these etait verifiee, on pourrait dire que Ia Hongrie a ete sacrifiee sur l'autel de l'imperialisme francais."
Unsere Frage ist also, ob dieser gegenseitige Zusammenhang zwischen dem Angriff auf Ägypten und dem Angriff gegen Ungarn eindeutig festgestellt werden kann oder nicht. Der große ungarische Politologe und neben Imre Nagy einer der symbolischen Figuren von 1956, Istvan Bib6, der am 3. November Mitglied der letzten Kabinetts von Nagy wurde, sandte am 4. November durch die Budapester amerikanische Botschaft ein Telegramm dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die wichtigste Hilfe, schrieb er, wäre nicht militärisch, sondern politisch. Der Präsident sollte einerseits die Engländer und die Franzosen, andererseits die Rus-
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sen zum Rückzug überreden. Am nächsten Tag schrieb Eisenhower an einen israelischen Freund: .,You might be interested in a telegram I got from a man who calls hirnself ,Bib6', who stated that he was leading a part of the Hungarian revolt. He thought that they were winning and that the future was bright with promise until the Mid East flared up. This he thought encouraged the Russians to come in and batter down the insurgents. - I quote this only to show that the influence of none of these violent incidents is ever confined to the exact area in which it is located. It is apparent that, rightly or wrongly, certain of the Hungarians will always feel that the Mid East venture denied to them their freedom." Der französische Außenminister, Christian Pineau, dagegen verneinte solchen Zusammenhang auch zehn Jahre später, 4. November 1966, in Le Monde: ,,Les evenements de Hongrie apportaient un element complementaire de confusion dans le jeu diplomatique. A ceux qui pretendent que !es Anglais et les Francais entendaient en profiter pour jouer leur jeu plus librement, je repondrai simplement que Ia nationalisation du canal de Suez et !es menaces egyptiennes contre Israel etaient largement anterieures a l'insurrection hongroise. - En revanche, il n'est pas niable que deux evenements intemationaux d'une teile impotance se deroulant simultanement aient eu des repercussions l'un sur I' autre. Je reserve pour I' avenir I' expose des hypotheses que j' ai faites a ce sujet." Er hat es natürlich nie getan, nie erklärt, wie gerade die anderen französischen, englischen und israelischen Politiker und Generäle, die ihre mögliche Verantwortung in der Auslösung der sowjetischen Invasion bis heute zurückweisen. Nach den widersprüchlichen Behauptungen und Geständnissen bleibt also die Frage, ob es wahr ist, daß die westlichen Großmächte Ungarn im Stich gelassen haben. Und, was noch schlimmer wäre, ob England und Frankreich den ungarischen Aufstand für ihre eigenen imperialistische Zwecke ausgenutzt und mit dem Suez-Abenteuer sogar dem Feinde geholfen hatten? Diese Anschuldigungen hört man bis heute, nicht nur von ungarischer Seite, sondern auch, wie gerade zitiert, von westlichen Beobachtern, Journalisten und Politologen. Um der Wahrheit nachzukommen, müssen wir die Vortage des Angriffs auf Ägypten betrachten und untersuchen, wie die beiden Großmächte auf den ungarischen Aufstand reagierten. Die ersten Nachrichten über den Aufstand überraschten die Regierungen und Diplomaten Großbritanniens und Frankreichs, die zu jener Zeit schon mit der Vorbereitung ihrer militärischen Aktionen beschäftigt waren. Natürlich wußten sie vom ersten Augenblick an, daß die neue osteuropäische Situation, in welcher die Sowjetunion mit den Unruhen in Polen und Ungarn besorgt war, ihren nahöstlichen Plänen entgegenkam. Gerade aber deshalb wollten sie äußerst zurückhaltend und vorsichtig vorgehen. Eine scharfe Dissonanz entstand daher zwischen der öffentlichen Meinung und der in der Öffentlichkeit dieser Länder einerseits und andererseits zwischen den Haltungen der Regierungen und der englischen und französischen Diplomaten vor
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Ort. Die öffentliche Meinung beider Länder, besonders aber die französischen Intellektuellen, reagierten mit großer Sympathie für die ungarische Freiheitsbewegung. Sie begrußten den Mut der ungarischen Bevölkerung im Kampf gegen das post-stalinistische System und gegen das sowjetische Besatzungsregime. Ja, auch die sozialistische Linke war begeistert, da in Ungarn die Initiative, die Führung der Bewegung und die Regierungsgewalt in jenen Tagen in den Händen von Irnre Nagy und seiner Gefährten blieb. Das vermittelte die Hoffnung eines nicht-stalinistischen sozialistischen Systems. Allein die Französische Kommunistische Partei betonte von Anfang an, daß die ungarischen Unruhen eine konterrevolutionäre Bewegung darstellen würden. Die besten Denker der Zeit, wie Raymond Aron, Albert Camus, Michael Polanyi und andere ließen sich aber nicht irreführen. Hannah Arendt schrieb fast zwei Jahre später: "Wenn es je so etwas gegeben hat wie Rosa Luxemburgs ,spontane Revolution', diesen plötzlichen Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst - spontan und nicht herbeigeführt durch Staatsstreich-Techniken, nicht organisiert von einem Apparat berufsmäßiger Verschwörer und professioneller Revolutionäre, ohne die Führung selbst einer Partei, also etwas, was jedermann längst als einen schönen Traum hinter sich gelassen hatte -dann ist es uns vergönnt gewesen, wenigstens Zeuge davon gewesen zu sein".
Auch die in Budapest akkreditierten englischen und französischen Diplomaten spürten ihre politische und moralische Verantwortung. Der britische Gesandte Fry und der Militärattache Cope wie auch der französische Botschafter Jean Paul-Boncour, sein Stellvertreter Quioc sowie der Kulturattache Guy Turbet Delof waren nicht nur äußerst solidarisch und aktiv in allerlei Hilfsaktionen, sondern sie lebten auch mit der Bevölkerung zusammen, sozusagen innerhalb der revolutionären Bewegung. Turbet Delof fuhr mit einem Konvoi nach Wien, um eine glaubwürdige Meldung nach Paris zu senden, und hielt unterwegs in jeder Stadt und jedem Dorf an, um die örtliche Stimmung und Situation kennenzulemen. Ihre Regierungschefs dagegen äußerten sich in einem ganz anderem Ton und Sinn. Außenminister Christian Pineau betonte in einer Rede am 26. Oktober in Paris, daß die westlichen Länder zwar die osteuropäischen Ereignisse begrüßten, sie dürften aber nicht versuchen, diese Situation auszunutzen. Frankreich mochte die neuen west-östlichen Beziehungen noch nicht in Frage stellen und wollte sich in die polnischen und ungarischen Ereignisse nicht einmischen. Anthony Eden und die Mitglieder seiner Regierung, obwohl sie nicht derart prosowjetisch eingestellt waren wie der franzosische Ministerpräsident Guy Mollet, hielten es für ebenso wichtig, die sowjetische Führung nicht zu provozieren. Wie John Foster Dulles am 27. Oktober in Dallas äußerten sich Eden und sein Justizminister dahingehend, daß die britische Regierung keine Absichten habe, die osteuropäischen Ereignisse hinsichtlich der Untergrabung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion auszunutzen.
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Wollten sie aber die osteuropäische Situation nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern auch für eigene Zwecke und Interessen ebenfalls nicht ausnutzen? Hier kommen wir zur Diskussion über die britisch-französisch-israelischen Geheimgespräche, die im Herbst 1956 in Paris stattfanden. Das erste Zusammentreffen, an denen die israelische Außenministerin Golda Meir und General Mojsche Dajan teilnahmen, fand Ende September in ParisSt. Germain statt, also zu einem Zeitpunkt, als man noch nichts von einer kommenden Krise innerhalb des Ostblocks erahnen konnte. Auf dem zweiten Treffen, wo die endgültigen Beschlüsse in Anwesenheit des israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion erreicht wurden, fand vom 22. bis zum 24. Oktober in der Pariser Vorstadt Sevres statt. Wir müssen sofort feststellen, daß von den Verhandlungen gar keine Protokolle vorhanden sind. (Es ist nicht klar, ob sie gar nicht geführt oder vernichtet wurden, oder daß die drei Mächte bis heute die Geheimnisse bewahren.) Doch existieren verschiedene Darstellungen über den Ablauf der Konferenzen, so z. B. das Tagebuch von Ben Gurion, das Tagebuch von Dajan, die Studie von Netanel Lorch: ,,David Ben Gurion and the Sinai Campaign", und das hebräische Buch von Mordechai Bar-on, Sekretär Dajans' "Quarre) and Challenge". Daher wissen wir, daß am 22. Oktober die folgenden Persönlichkeiten anwesend in Sevres waren: Ben Gurion, Dajan, Peres und Nehemia Argov, Ben Gurions Adjutant von der israelischen Seite, und Guy Mollet, Christian Pineau, BourgesMaunoury und dessen diplomatische Mitarbeiter. Der britische Außenminister Selwyn Lloyd hatte sich erst später angeschlossen. Wir wissen auch, daß der Zeitpunkt des israelischen Angriffs hier von einem fernen Novembertag zum 29. Oktober vorverlegt wurde. Das Drängen kam von der französischen (und britischen) Seite, aufgrund dessen, daß sie ihre Truppen und Schiffe nicht länger in einem Alarmzustand halten könnten. Es ist wichtig, daß sich dieser Zeitpunkt während der nächsten Tagen nicht noch einmal änderte. Am 22. Oktober konnten die anwesenden Politiker und Militärs noch nichts von einem kommenden ungarischen Aufstand wissen. Die polnische Krise war aber noch im vollen Gange, und die ungarischen Reformbestrebungen waren auch wohl bekannt. Es gibt keinen Beweis dafür, daß die osteuropäische Situation bei der Auswahl des Angiffstermins eine bedeutende Rolle spielte. Wir wissen jedoch aus mindestens zwei verschiedenen Quellen, daß Außenminister Pineau schon am 22. Oktober einen deutlichen Hinweis auf Osteuropa und auf Moskaus dortige Sorgen gab. Baron und Lorch benutzten sogar fast dieselben Worte, als sie Pineau zitierten. Netanel Lorch schrieb: "Conceming the plan for joint military operations, Ben Gurion had many misgivings. Among them was the risk of Soviet volunteers coming to the Middle East, a risk which was not allayed by Pineau's assertion that the Soviets were fully occupied with the internal problems of the Eastern Bloc which had surfaced in Poland and Hungary."
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Wir können also behaupten daß dieser Gesichtspunkt, wenn auch nicht dominierend, in dem Planungsprozeß vorhanden war, zumindest bei den Franzosen. Selbstverständlich haben die drei Regierungen und ihre militärischen Fachleute die Planung eines gemeinsamen Angriffs früher begonnen und von der osteuropäischen Krisensituation unabhängig fortgesetzt. Aber von anderer Seite betrachtet, waren die Konsequenzen des Suez-Abenteuers unmittelbar spürbar für das kämpfende Ungarn. Erstens wurde die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit binnen weniger Tage von Ungarn zum Nahen Osten abgelenkt. In den großen Blättern der westlichen Welt wanderten die Nachrichten und Berichte über Ungarn von der ersten Seite allmählich in den Hintergrund. Das kann ein jeder in Le Monde oder auch in den englischen und amerikanischen Zeitungen nachvollziehen. Zweitens hatte der Angriff auf Ägypten am 29. Oktober dem sowjetischen Parteipräsidium geholfen, sein verhältnismäßig langes - d. h. einwöchiges - Zögern zu beenden und am 31. Oktober - praktisch am nächsten Tag - die Entscheidung über die bewaffnete Niederwerfung der ungarischen Revolution zu treffen. Vermutlich wäre das Präsidium auch ohne diese kurzfristige Hilfe zur selben Entscheidung gelangt. Es ist aber auch ohne direkte schriftliche Beweise kaum anzuzweifeln, daß für Chruschtschow und seine Kollegen die Entscheidung erleichtert bzw. beschleunigt wurde. Drittens war das ganze Verfahren in den Vereinten Nationen, was "die ungarische Frage" betraf, durch die Suez-Frage beeinflußt und unterdrückt worden. Dem Anschein nach waren die Organe der Vereinten Nationen im November 1956 die Schauplätze eines Konflikts zwischen den drei westlichen Großmächten und der Sowjetunion. Die Tatsache war aber ganz anders. Die USA hatten schon am 25. Oktober beabsichtigt, die ungarische Frage mit ihren Verbündeten gemeinsam bei den Vereinten Nationen vorzubringen. Außenminister Dulles machte am 26. Oktober den Vorschlag, daß die drei Westmächte die Einberufung des Sicherheitsrat verlangen sollten. Die Engländer und die Franzosen weigerten sich aber, da sie - an ihr bald zu beginnendes Suez-Abenteuer denkend - keinen Präzedenzfall für ein Verfahren einer Verurteilung liefern wollten. Am nächsten Tag, also am 27. Oktober, taten sie dennoch diesen Schritt gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, mit denen sie auch während der kommenden Tage in ständiger Konsultation hinter den Kulissen standen. Vor dem Angriff auf Ägypten waren sich die drei Mächte in der Einschätzung einig, daß sie die sowjetische Intervention in Ungarn verurteilen mußten. Sie wollten aber außer feierlicher Deklarationen vorläufig nichts weiter unternehmen, da sie die ungarische Situation, die Lage und Politik der Imre Nagy-Regierung als zu widersprüchlich beurteilten. So geschah es, daß auf der Sitzung des Sicherheitsrates am 28. Oktober die Westmächte nicht einmal einen Resolutionsentwurf eingereicht hatten.
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Nach dem Beginn der Aktionen im Nahen Osten hatte sich die Lage vollständig geändert. Das Hauptziel der Westmächte war nicht mehr die Verurteilung der Sowjetunion, sondern die Ausnutzung der ungarischen Frage für ihre differenzierten Machtinteressen. Großbritannien und Frankreich wollten nunmehr die Behandlung der Ungarn-Frage vom Sicherheitsrat in die Generalversammlung überliefern, in der Hoffnung, daß die gemeinsame Behandlung der zwei Krisen ihre Positionen verbessern könnte. Natürlich war diese Taktik für Ungarn viel günstiger als die vorherige, da in der Generalversammlung kein Vetorecht existierte. Die Sowjetunion konnte somit die Besprechung der Ungarnfrage nicht verhindern. Jetzt aber verhinderten die Amerikaner die Verwirklichung des englisch-franzözischen Planes, da sie das Hauptproblem zu diesem Zeitpunkt in der Lösung des Suez-Konfliktes sahen. Deramerikanische UNO-Botschafter Henry Cabot Lodge hatte nach der zweiten sowjetischen Aggression vom 4. November den britisch-französischen Entwurf -aber ohne die Engländer und die Franzosen- realisiert. So war die Ungarn-Frage endlich - aber zu spät - vom Sicherheitsrat vor der außerordentlichen Generalversammlung gelangt, in der man, wie bekannt, die Sowjetunion zum Rückzug aufforderte und die Untersuchung der ungarischen Frage an eine Sonderkommission übermittelte. Wir wissen sehr wohl, daß nicht einmal die Vereinigten Staaten eine bedeutende Hilfe zur Lösung des ungarischen Problems leisten konnten. (Eine andere Frage ist allerdings, ob die USA vielleicht mehr tun konnten, als sie es letztendlich wirklich taten.) Wir können auch feststellen, daß die globale Zusammenarbeit der Supermächte gerade in diesen Tagen, in diesen Wochen anfing. Es ist also eine Tatsache, daß die Mittelmächte, wie Großbritannien und Frankreich, de facto nur bescheidene Möglichkeiten besaßen, um die osteuropäische Situation entscheidend beeinflussen zu können. Mit ihrem Suez-Abenteuer konnten sie dennoch beeinflussen wenn auch in einer ungünstigen Weise. In den nächsten Monaten versuchten sie, diesen Makel mit ihrer Immigrationspolitik gutzumachen. Wir können unsere Ausführungen mit den Worten von Raymond Aron zusammenfassen. Ende 1957 in seinem Essay "Une revolution antitotalitaire" hat er folgendes geschrieben: "Un an s'est ecoule depuis lesjours tragiques de novembre 1956, ou les tanks russes, par Je fer et par Je feu, reprimaient Ia revolution hongroise, cependant que les avions francais et ang)ais ecrasaient SOUS )es bombes )es aerodromes egyptiens. Les hommes d'etat francais et anglais qui, probablement, jugerent Je moment favorable a leur entreprise, portent Ia responsabilite d'une aberration, que leur insigne mediocrite explique sans l'excuser. Nous avons touche alors Je fond du desespoir politique, revoltes contre tout et contre tous, aussi peu endins a partager Ia vertueuse indignationdes Etats-Unis contre leurs allies qu'a pardonner Je machiavelisme primaire de nos gouvemants. La revolution hongroise appartenait a l'histoire universelle, Ia nationalisation du canal de Suez etait un episode du conflit entre Je monde arabo-musulman et les Occidentaux. L'histoire sera severe non pour les intentions mais pour l'aveuglement des ministres francais et anglais."
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Es ist eine andere Frage, ob ohne ein Suez-Abenteuer Ungarns Freiheit hätte gerettet werden können oder nicht. Das hing im wesentlichen von dem sowjetischamerikanischen Verhältnis ab, und wir dürfen wiederum nicht vergessen, daß das Jalta-Abkommen gerade in diesen Tagen realisiert wurde. Das war die harte Tatsache und Konsequenz der Realpolitik. Der amerikanische Botschafter in Paris, Dillon, sah es anders in seinem Telegramm vom 4. November 1956: ,,Let us not ask for whom the bell tolls in Hungary today. It tolls for us if freedom's holy light is extinguished in blood and iron there. The long dark night of cynism, futility and despair will fold over great parts of Europe and the world. And while we wait for the next light to break which surely will then be very ugly and very atomic, we will hear a growing torrent of tongues in many Iands tuming the deathless glory of Hungary into America's everlasting shame".
Die Aufgabe der Historiker ist natürlich nicht die Anklage, sondern die sorgfältige Forschung und die Klärung der historischen Tatsachen. Wir. dürfen damit nicht aufhören, bis wir eine klare Antwort auf die Hintergründe der Vorbereitung des Suez-Abenteuers erhalten haben.
Der Nachbar Österreich- 1956 und danach Von Erich Wend!
Die Jahre seit 1945 waren jene Zeit, in der die entscheidenden Fundamente der 2. Republik in Österreich gelegt wurden, aber auch jene Zeit, in der die Heldenfiguren und die Legenden entstanden, die das Selbstverständnis Österreichs ermöglicht und nachhaltig geprägt haben. Politische Heldenfiguren Kar! Renner, Theodor Körner, Julius Raab, Leopold Figl, auch der junge Bruno Kreisky, um nur einige zu nennen, hatten es möglich gemacht, daß die alliierten Besatzungstruppen im Herbst 1955 das Land verließen und Österreich seine volle Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität gaben und es damit dem Land ermöglichten, seinen Platz in der Nachkriegsordnung Europas und in der Welt zu finden und selbst zu bestimmen. Kein Ereignis hat diese Selbstbestimmung so nachhaltig geprägt wie die Vorgänge des Herbstes 1956 im östlichen Nachbarland Ungarn, und zwei der wesentlichsten Legenden fanden ihre Vertiefung und Bestätigung während dieser Monate: Österreich als neutrales Land und Österreich als Asylland.
I. Die Grundfragen Als in den Zeitungen die Bilder von Panzern auftauchten, Berichte von Gewalt und Blut, als die Österreicher neue Namen politischer Akteure im Nachbarland lernten, als die ersten Aüchtlinge eintrafen, Kinder in den Schulen, die eine andere Sprache sprachen, als Priester auf ungarisch predigten, entstand Unsicherheit und Angst unter den Menschen, die Krieg und Besatzung miterlebt hatten und überwunden glaubten. Konnte es sein, daß alles zu Ende war, daß wieder einmal Krieg über das Land kam, oder zumindest Besetzung? Ein Wort ging von Mund zu Mund, ein Begriff, der neu war und der nun, manchmal wie eine Beschwörungsformel ausgesprochen wurde zur Abwehr des Bösen: Neutralität! Was war dieses Österreich des Jahres 1956 für ein Land? Welche Herausforderungen stellten die Ereignisse jenseits der Grenze für das Land dar? Würde die noch junge Unabhängigkeit und Souveränität respektiert werden? • Wie würde Österreich selbst, wie andere mit der Neutralität umgehen, würde sie von den Großmächten, vor allem der Sowjetunion, respektiert werden? Oder
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würde eine einseitige Interpretation der Neutralität als Vorwand zum Eingreifen der einen oder anderen Supennacht dienen? • Würde es Flüchtlinge geben? Wie groß würden die Flüchtlingsströme sein? Kann das Land damit fertig werden? • Würde es Versuche von Exil-Ungarn geben, von Österreich aus zu operieren, würde das die Neutralität gefahrden? • Wie sollten die Grenzen geschützt werden? Würde es zu Grenzverletzungen, etwa in der Verfolgung von Flüchtlingen, vor allem durch sowjetische Truppen, kommen, und wie würden diese reagieren, falls Österreich seine Grenzen tatsächlich verteidigte? Mit welchen Kräften sollte denn diese Grenze verteidigt werden? Fragen über Fragen für ein Land, das kaum seine Unabhängigkeit gewonnen hatte, das daranging, seine Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und seinen Platz in der Welt erst finden mußte.
II. Die Befindlichkeiten Österreichs im Jahr 1956 Wollen wir einmal die außen- und sicherheitspolitischen Befindlichkeiten Österreichs näher beschreiben, wie sie sich zu Ende des Jahres 1956 darstellten. Dazu sei ein kurzer historischer Rückgriff auf das Jahr 1955 gestattet, das nicht nur für Österreich von Bedeutung war. Am 15. April 1955 konnte die aus Moskau zurückgekehrte Regierungsdelegation den Österreichern berichten, daß die Sowjetunion in den Staatsvertrag einwilligen würde. Die Besatzungstruppen würden abziehen, die Souveränität würde wiederhergestellt. Österreich hatte zugesagt, jetzt und in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beizutreten und keine Stützpunkte fremder Truppen auf seinem Territorium zuzulassen - immerwährende Neutralität nach Schweizer Vorbild also. Relativ bald nach den Verhandlungen in Moskau, nämlich am 15. Mai 1955, wurde der Staatsvertrag von den Außenministern der Alliierten und Österreich im Wiener Schloß Belvedere unterzeichnet. Genauen Beobachtern der europäischen Nachkriegsgeschichte wird auffallen, daß nur ein Tag vorher die Warschauer Verteidigungsorganisation gegründet wurde. Den Besatzungstruppen in Österreich blieben nach lokrafttreten des Staatsvertrages 90 Tage Zeit zum Abzug aus Österreich. Nachdem Frankreich am 27. Juli ratifiziert hatte, stand das Datum fest: der 25. Oktober. Wieder einen Tag danach, am 26. Oktober 1955, beschloß das Österreichische Parlament das Gesetz zur immerwährenden Neutralität. Mit dem Neutralitätsgesetz, dem ja die Verpflichtung zum Schutz der Neutralität entspricht, war es klar, daß Österreich über Streitkräfte verfügen müsse. Eine Wiederbewaffnungsdiskus-
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sion blieb Österreich also - im Gegensatz zu Deutschland - erspart. Die Rolle der Streitkräfte war indessen nicht unumstritten, wie später noch auszuführen sein wird. Ein wesentlicher Punkt blieb für Österreich - nun auch für seine Außenpolitik voll verantwortlich - noch offen. Im Moskauer Memorandum wurde eine Garantie über die Unverletzlichkeit und Unversehrtheil Österreichischen Territoriums durch die Signatarstaaten von österreichischer Seite begrüßt und eine Zusage abgegeben, sich bei den drei westlichen Alliierten für eine solche Garantie einzusetzen. Österreich setzte sich bereits ab September 1955 sehr nachhaltig dafür ein. Man stieß jedoch auf Ablehnung, auch als später - zum Jahrestag des Moskauer Memorandums - in Izvestija und Prawda diese Zusage eingefordert wurde. Die Westmächte lehnten die Garantie ab, die ja letztlich mit einer Interventionszusage verknüpft gewesen wäre. Außerdem hätte die Garantie wegen der geringen militärischen Verteidigungsmöglichkeiten Österreichs ein militärisches Machtvakuum betroffen.
111. Einschätzung durch die Nachbarn
Natürlich hatte die geringe militärische Stärke auch Konsequenzen in der Einschätzung der Österreichischen Position durch die Nachbarn, im besonderen Maße in der Schweiz, die der Verteidigung einen wesentlich größeren Stellenwert - auch heute noch -bei mißt. Eine Schweizer Stimme meinte gar, daß die Festung Sargans nun eine Festung an der russischen Grenze sei. Auch andere Reaktionen der Nachbarn zeigten, daß die Grenzen zum westlichen Europa deutlicher gezogen wurden. In Deutschland war Adenauer nur langsam von der Ansicht abzubringen, daß das Österreichische Modell für die Sowjets eine Generalprobe für eine deutsche Lösung darstelle, und auch Paul Henry Spaak meinte, die Neutralität würde nicht lange halten. Das Verhältnis zu Italien war wegen des Südtirol-Problems belastet. Im Süden entspannte sich die Situation, nachdem Jugoslawien seine Gebietsforderungen an Kärnten aufgegeben hatte und auch Ungarn die technischen Grenzsperren minderte oder zumindest etwas weiter ins Landesinnere verlegte. Dennoch kam es bei Verfolgung von Aüchtlingen zu Grenzverletzungen. Proteste auf diplomatischen Weg blieben fruchtlos. Dennoch: Mit beginnender Entstalinisierung entspannte sich die Situation. Im internationalen Bereich agierte Österreich einerseits mit wachsendem Selbstbewußtsein, andererseits zögernd und vorsichtig. Die Anerkennung, die Österreich durch die UNO-Mitgliedschaft (übrigens ein fundamentaler Unterschied zum Schweizer Vorbild) und die Mitgliedschaft in der OEEC, der Erfolg, den Abzug der Besatzungstruppen auf Verhandlungs- und Vertragsweg erreicht zu haben, stärkten das Vertrauen in die eigene Handlungsfahigkeit, in den eigenen, unabhängigen Staat und seine Akzeptanz durch die Volkergemeinschaft. Andererseits
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ängstlich bemüht, Geist und Buchstaben des Staatsvertrages, des Moskauer Memorandums und des Neutralitätsgesetzes zu erfüllen, wagte man nicht einmal einen Flirt mit den entstehenden Institutionen der europäischen Integration und war sogar unsicher bei der Annäherung an den Europarat. Andererseits: war das Österreichische Erfolgsmodell nicht geeignet, als Vorbild für die Nachbarstaaten, der Tschechoslowakei und Ungarn, zu dienen? Könnte es eine Lösung geben, die beiden Länder in den Kreis der Neutralen aufzunehmen, da ja die Sowjetunion selbst die Neutralität einiger anderer Länder (Türkei, Iran, Irak) gefordert hat - wäre das Österreichische Modell ein Exportartikel, das zeigen könnte, daß der Ostblock nicht ganz so fest gefügt ist?
IV. Die Ereignisse im Herbst 1956 Vor diesem Hintergrund lief die Ereignisgeschichte der Herbsttage des Jahres 1956 ab, deren Darstellung hier derjenigen von Manfried Raucheosteiner folgt. Eine Depesche der Botschaft aus Budapest am 24. Oktober veranlaßte eine Krisensitzung im Innenministerium in Wien. Die Ereignisse überraschten Wien bei Abwesenheit des Bundeskanzlers und des Außenministers. Trotzdem wurden am Ende der Sitzung erste konkrete Maßnahmen zur Grenzsicherung beschlossen, offenbar übervorsichtig, aber aus der Meinung heraus, daß man einem neutralen Staat keinen Vorwurf machen konnte wegen Vorbereitungen, um seine Grenzen bei einer möglichen Krise im Nachbarland zu schützen. Für die dem Innenminister Oskar Hellmer unterstellten Kräfte der Gendarmerie war es nicht allzu schwer, die notwendigen Verstärkungen der Posten und Bereitstellungen von Geräten zu bewerkstelligen. Das junge Bundesheer und Verteidigungsminister Oskar Graf waren in einer wesentlich schwierigeren Situation. Erst seit etwas mehr als einem Jahr liefen die Vorbereitungen, um die B-Gendarmerie der Besatzungszeit in ein reguläres Heer überzuführen, und erst wenige Tage vorher, am 15. Oktober, wurden die ersten 13.000 Mann im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht eingezogen. Es mangelte an allem, an Ausrüstung, Uniformen. Panzer, Artillerie, ein Großteil der Infanteriewaffen waren von den Alliierten zurückgelassen worden. Die bereitgestellten Truppen verwendeten teils amerikanisches, teils russisches Gerät. Die Stäbe waren zum Teil noch nicht funktionsfähig. Luftraumüberwachung, eine Luftwaffe, Luftabwehr waren praktisch nicht vorhanden. Und schließlich war der Einsatz des Heeres als Assistenzleistung für Gendarmerie und Zollwache definiert worden und daher der Verantwortung der Sicherheitsdirektion unterstellt. Im Befehl an die Gendarmerie waren die notwendigen Maßnahmen aufgezählt: • Bewachung der wichtigsten Grenzübergänge, • Zwei-Mann Patrouillen entlang der österreichisch-ungarischen Grenze,
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• Wahrung der Österreichischen Neutralität, • Besonnenheit und Vermeidung von unüberlegten Handlungen gegenüber dem Nachbarvolk, • Schutz von Flüchtlingen und Asylwerbern sowie • Verteidigung des Österreichischen Bodens, sofern dies notwendig ist. (Also ein Verteidigungsauftrag an die Gendarmerie, obwohl es bereits ein Heer gab!) Das Bundesheer stellte einige Alarmeinheiten sowie ein Flächenflugzeug (eine JAK II) und einen Hubschrauber für eventuelle Erkundungsflüge am nächsten Tag. Der 25. Oktober brachte unbeschadet der nicht ganz klaren Lage in Ungarn keine besonderen Hinweise auf eine Zuspitzung der Situation an der Grenze, so daß die Alarmbereitschaft ftir das Heer - mit Ausnahme zweier Kompanien - aufgehoben wurde. Die Bevölkerung in Ost-Österreich war, besonders in Teilen des Burgenlands, in Sorge, vor allem in Erwartung einer Massenflucht aus Ungarn. Die Regierung in Wien - nun wieder mit Außenminister Figl und Bundeskanzler Raab - hatte andere Sorgen, galt es doch, sich auf einen offiziellen Besuch des stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Mikojan vorzubereiten. Ein zentrales Anliegen Österreichs war es, um eine Reduktion der aus dem Staatsvertrag herrührenden Forderungen der Sowjetunion zu bitten. Außenminister Figl warf die Frage auf: konnte Österreich den Eindruck erwecken, daß es aus der Bedrängnis Ungarns Kapital schlug? Würde es international - vor allem im Westen so verstanden werden? Als sich Figl entschlossen hatte, die Gelegenheit des Mikojan-Besuches nicht für diese Zwecke auszunutzen, sagte die sowjetische Seite den Besuch ab, sehr zur Erleichterung der Österreichischen Seite.
V. Die Reaktion auf den 25. Oktober
An eben jenem 25. Oktober, als es schien, daß Mikojan und Suslov wesentlichen Veränderungen in Ungarn zustimmten, als zwar bekannt wurde, daß der Aufstand auf die Provinz übergegriffen hatte, aber - etwa in Györ - sowjetische Truppen sich aus den Geschehen heraushielten, als auch deutlich war, daß auf ungarischer Seite Maßnahmen getroffen wurden, um Auseinandersetzungen von der Grenze fernzuhalten, kam es zum Blutbad vor dem ungarischen Parlamentsgebäude. Jetzt erfolgte, ziemlich genau 24 Stunden, nachdem die Alarmbereitschaft aufgehoben worden war, die zweite Alarmierung. Die Diskussion dieser letzten Stunden hatte sich mit Fragen der Optik beschäftigt, besonders gegenüber der Sowjetunion. Würde durch die Verlegung von Einheiten des Bundesheeres nicht etwas dramatisiert, was gar nicht dramatisch war? Würde das Signal an die Bevölkerung im Grenzbereich, die nach mehr Schutz ver4 Timmermann I Kiss
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lange, nicht umgedeutet werden in ein Signal, daß mit Zwischenfällen zu rechnen ist? Würde man nicht damit einer eventuellen Propaganda im Ostblock Vorschub leisten? VI. Der erste Jahrestag der Neutralität Aber schließlich war es der 26. Oktober, der erste Geburtstag des nicht mehr besetzten Österreich und der Neutralität! Es galt also, zu zeigen, daß das Land seine neue Rolle ernst nimmt, Neutralität und Unabhängigkeit so gut als möglich zu schützen trachtet und seiner eigenen Verfassung zu entsprechen. In den Festreden des Tages enthielt sich das offizielle Österreich einer eindeutigen Stellungnahme. Der Bundespräsident, Theodor Körner, mahnte, "daß die Freiheit ein kostbares Gut ist, wert unwandelbarer Treue und entschlossener Verteidigungsbereitschaft."
Innenminister Hellmer mahnte in der "Wiener Zeitung" des gleichen Tages: ,,Fürs erste werden wir unseren Grenzschutz verstärken, um unsere Grenzbewohner vor unangenehmen Überraschungen zu bewahren, fürs zweite begrüßen wir die freiheitlichen Regungen, weil die Wiederaufrichtung der Demokratie in Ungarn auch wieder normale Verhältnisse an unserer Ostgrenze herbeiführen würde."
Im Laufe des Tages gab es Gerüchte über Gefechte in Grenznähe, die sich als unrichtig herausstellten. Dafür begannen an einzelnen Stellen, ungarische Aufständische die Grenze zu überschreiten. Jetzt setzte die Verlegung von militärischen Einheiten, diesmal motorisiert, voll ein. Um eine Vorstellung von den Dimensionen zu geben: Die Stärke betrug ca. 2.000 Soldaten (Offiziere und Mannschaften) und 500 Gendarmen. Das Heer hatte folgenden Feuerbefehl: ,,Die Feuereröffnung hat nur dann zu erfolgen, - wenn die Grenze von bewaffneten Einzelpersonen oder Formationen überschritten und der Aufforderung zur Rückkehr über die Grenze oder Niederlegung der Waffen nicht Folge geleistet wird; - unverzüglich dann, wenn von Eindringlingen auf österreichischem Staatsgebiet gegen wen immer das Feuer eröffnet wird"
und richtet sich ausdrücklich auch gegen Truppen der Sowjetunion: - "ist, wenn sie sich nicht zurückziehen und den Kampf fortsetzen, das Feuer zu eröffnen. Die Eindringlinge sind zurückzuwerfen bzw. zu entwaffnen."
Derart ausgestattet, begann die Nacht zum 27. Oktober mit Bangen.
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VII. Die "gute" Nachbarschaft Der nächste Tag brachte den Auftakt zu einer Reihe von unglaublichen, teilweise skurrilen, unerwarteten Ereignissen, die so unvorhersehbar waren, daß sie von österreichischer Seite nur fassungslos registriert werden konnten. Die Ungarn kamen! Gegen 13 Uhr überschritt eine Gruppe von etwa 600 bis 800 Ungarn bei Szentgotthard die Staatsgrenze, darunter Militär, Zollbeamte und Sicherheitspolizei. An der Grenze überreichten sie den Gendarmen eine rot-weiß-grüne Farbe und erklärten ihren Aufmarsch als Freundschaftskundgebung gegenüber dem Österreichischen Volk. Dann zogen sie weiter bis zur Ortschaft Mogersdorf, bereits in intensiven Gesprächen mit österreichischer Zivilbevölkerung vertieft. Schließlich wurden sie bis zum Abend überredet, wieder nach Ungarn zurückzukehren. 15 Personen suchten um politisches Asyl an. Eine Massenflucht hatte also (noch) nicht eingesetzt. In den nächsten Stunden und Tagen mehrten sich die kuriosen Situationen entlang der Grenze. Da sich Österreich genötigt sah, eine Sperrzone im Grenzbereich einzurichten, waren sicherlich zeitweise mehr Ungarn als Österreicher in diesem Gebiet. Manchmal sah es so aus, als ob die Grenze nicht mehr existierte! Am 29. Oktober besuchten rund 3.000 Menschen aus Ungarn die Siedlung Rattersdorf. An der Spitze standen die Bürgermeister von Grenzgemeinden in Ungarn, sie hatten ihre Fahnen und ihre Musik mitgebracht und feierten Verbrüderung mit den Österreichern! In der Gemeinde Lutzmannsburg besichtigten 200 Ungarn die Kirche und nahmen an der Messe teil. Die Sorgfalt bewegte sich von der Grenze weg. Ganz "vorne" begann man ab dem 28. Oktober den Grenzverlauf mit rot-weiß-roten Fähnchen zu markieren. Dahinter nahm man die Sperrzone ernst. Nachdem Hinweise aufgetaucht waren, daß nicht näher bezeichnete Freiheitskämpfer ungarischer Herkunft über Österreich nach Ungarn einreisen wollten, eine absolut notwendige Maßnahme.
VIII. Die Erklärung vom 28. Oktober Auf diplomatischer Ebene setzte Österreich am 28. Oktober zwei wesentliche Schritte. Der neue Botschafter der UdSSR wurde an diesem Sonntag eilig vom Bundespräsidenten in dessen Privatwohnung empfangen, um sein Beglaubigungsschreiben überreichen zu können. Unmittelbar darauf, nach einem Sonderministerrat, konnte es zur formellen Überreichung eines Appells der Österreichischen Regierung an Botschafter Lapin kommen, der, als hoher Diplomat an den Staatsvertragsverhandlungen beteiligt, mit den Österreichischen Verhältnissen bestens vertraut war. Diese Erklärung ist im vollen Wortlaut interessant: ,,Die Österreichische Bundesregierung verfolgt mit schmerzlicher Anteilnahme das nun schon fünf Tage andauernde blutige und verlustreiche Geschehen im benachbarten 4*
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Erich Wendl Ungarn. Sie ersucht die Regierung der UdSSR, mitzuwirken, daß die militärischen Kampfhandlungen abgebrochen werden und das Blutvergießen aufhört. Gestützt auf die durch die Neutralität gesicherte Freiheit und Unabhängigkeit Österreichs, tritt die Österreichische Bundesregierung für eine Norrnalisierung der Verhältnisse in Ungarn mit dem Ziele ein, daß durch die Wiederherstellung der Freiheit im Sinne der Menschenrechte der europäische Friede gestärkt und gesichert werden."
Diese deutliche Erklärung, die auch den West-Alliierten und dem UNO-Sicherheitsrat notifiziert wurde, erfuhr noch eine verbale Ergänzung durch Außenminister Figl. Er versicherte, daß Unbewaffnete, die über die Grenze kamen, nach der Genfer Konvention behandelt würden. Sollten kämpfende Gruppen auf österreichischem Territorium der Aufforderung zur Niederlegung der Waffen nicht nachkommen, so hätten die Österreichischen Streitkräfte den Befehl, den Widerstand zu brechen. Außerdem wurde der Botschafter gebeten, darauf hinzuwirken, daß sowjetische Truppen in Ungarn den Befehl erhielten, den neutralen Österreichischen Boden nicht zu betreten. War dieser, von Botschafter Lapin als "ungewöhnlich" bezeichnete Schritt zu kühn für einen Neutralen? Konnte das Vorbild Schweiz Hilfestellungen oder Hinweise für ,,richtiges" neutrales Verhalten geben? Der Österreichische Gesandte in Bern, Johannes Coreth, sprach darüber am 1. November mit dem Schweizer Bundespräsidenten, Max Petitpierre. Die Österreichische Haltung und die Note vom 28. Oktober erhielt zwar seine Anerkennung, er verhehlte jedoch nicht, daß es der Tradition der Schweiz entspräche, in derartigen Fällen strenge Zurückhaltung zu wahren. Die offizielle Schweiz fand also die Österreichische Haltung zwar bewunderns-, aber nicht nachahmenswert.
IX. Öffentlichkeit der Vorkehrungen Die entschlossene Haltung spiegelte sich in einer Reihe von Maßnahmen wider. Österreich demonstrierte und publizierte seine Vorkehrungen mit besonderer Deutlichkeit in einer Mischung aus Unsicherheit und wachsendem Selbstbewußtsein. Am 30. Oktober wurden die Militärattaches der Staatsvertrags-Staaten zu einem Besuch der Sperrzone eingeladen. Sie sollten nicht nur die militärischen Vorkehrungen sehen, sondern auch zur Kenntnis nehmen, daß nur karitativen Organisationen der Transport von Hilfsgütern nach Ungarn erlaubt war. In der Folge holten die Westalliierten beim Verteidigungsministerium in Wien wiederholt Informationen ein, nur die Sowjetunion verzichtete darauf. Die ungarische Emigration schien nach Wien zu strömen. Im Hinterland, besonders in Wien, verschärften sich die Kontrollen, vor allem gegenüber der immer größer werdenden Zahl von Reisenden. Mit allen Möglichkeiten suchte man zu verhindern, daß von Österreich aus konspirative Kräfte die Entwicklung in Ungarn zu beeinflussen trachteten. Besonderes Aufsehen rief die Einreise von Ferenc Nagy hervor, der 1945 Ministerpräsident Ungarns war und 1947 in den Westen flüchtete.
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Er kam aus Kanada mit einem gültigen Visum, wurde aber nach wenigen Stunden zur Abreise in die Schweiz überredet, zu schnell, um der Propaganda Gelegenheit zu geben, diesen Vorfall gegen Österreich auszunutzen. Auch wurden ab 30. Oktober verschärfte Richtlinien zur Überwachung der Grenze ausgegeben und weitere Straßensperren errichtet, nachdem es Fahrzeugen aus Ungarn gelungen war, ungehindert bis Wien vorzudringen. Auch die bizarren Vorgänge mit der großen Zahl musizierender Grenzgänger wurden unterbunden. Von diesem Tag mehrten sich die sowjetischen Vorwürfe gegen Österreich.
X. Propaganda gegen Österreich Zunächst: Die Botschaft in Moskau wurde darüber informiert, man hätte Beweise, daß "Banden" über Österreich in Westungarn eingedrungen seien. Später, massiv, vor allem im Moskauer Rundfunk, in "Prawda" und "Isvestija". In Stichworten: • Vorgänge von einem amerikanischen Major namens Jackson in der Bundesrepublik Deutschland gesteuert. • Vorbereitungsgespräche mit faschistischen ungarischen Organisationen, insbesondere dem "Rat der 5 Generäle" als höchstes militärisches Gremium; 11.000 Interventionstruppen in Süddeutschland und Österreich stationiert. • Ferenc Nagy überzeugt sich von der Kampfbereitschaft in Salzburg, Linz, Graund ähnliches mehr. Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs, (KPÖ), die "Volksstimme", wußte von Waffenlieferungen zu berichten, die als Rot-Kreuz-Transporte getarnt waren. Der Abend des 1. November mit seinen Berichten über das Ende der sowjetischen Absetzbewegung und der Proklamation der Unabhängigkeit und Neutralität Ungarns durch Imre Nagy bringt eine radikale Änderung der Situation. Jetzt wird es ernst. Aber noch immer bleibt der erwartete Flüchtlingsstrom aus. Vielleicht noch früher als anderswo sah man von der Österreichischen Grenze aus, was wirklich geschah. Sowjetische Panzer riegeln die Straße zwischen Nickelsdorf (dem Österreichischen Grenzort) und Budapest ab. Und um 10 Uhr abends wird es zur Gewißheit: sowjetische Truppen haben, von Norden nach Süden fortschreitend begonnen, die Grenze abzuriegeln. Unter den Flüchtenden, die nach Österreich kommen, sind ungarische Grenzschutztruppen und reguläres Militär. Österreich beginnt, Internierungslager einzurichten und ist überzeugt, auch für Flüchtlinge entsprechend vorgesorgt zu haben. Die sowjetischen Truppen setzten die aufständischen ungarischen Grenzschutzeinheiten unter Druck, die sich offensichtlich immer mehr gegen die Österreichische Grenze zurückzogen -eine nicht ungefahrliche Entwicklung.
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Die Österreichischen Sicherungskräfte wurden auf eine Linie ca. 500 m von der Grenze zurückgezogen, um nicht in Kampfhandlungen unmittelbar an den Grenzpfosten verwickelt zu werden. Trotzdem war die Frage, ob sich die Truppen jenseits der Grenze kämpfend auf Österreichischen Boden zurückziehen würden, nicht geklärt. Eines wurde fast schlagartig klar: Die seltsamen Tanz- und Musikeinlagen im Niemandsland waren unversehens zu Ende.
XI. Humanität und Neutralität Als im Morgengrauen des 4. November neben Budapest Angriffe auf Györ, Szombathely, Sopron, Köszeg und andere Städte begannen, setzte der lange erwartete Flüchtlingsstrom voll ein. Ungarische Soldaten und Zivilisten begannen, in Scharen über die Grenze zu laufen. Sie brachten Berichte von Panzerangriffen auf Sopron. Panzer wurden im Anmarsch auf Szentgotthard gemeldet. Düsenflugzeuge flogen im Tiefflug über die Bereitstellungsräume. Der erste Schwall von Flüchtlingen zeigte, daß die getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen würden. Eine Zählung wurde bald aufgegeben, allerdings ermöglichte die Sperrzone zumindest einen geregelten Abtransport und die Trennung von Soldaten; sie wurden in eilig errichtete Internierungslager gebracht von den Zivilisten. Mit der nahezu gleichzeitig ausgebrochenen Suez-Aktion und Teilmobilisierungen in der CSSR und in Jugoslawien stiegen die Spannungen an der Grenze, zumal sich auf ungarischer Seite regelrechte Gefechte zwischen Sowjets und Aufständischen beobachten ließen. Die Österreichischen Streitkräfte hatten ab 2. November 2782 Offiziere und Mannschaften im Einsatz oder in Bereitschaft. Das Bundesheer hatte auf dem Papier Einsatzpläne erstellt, um einige Brigaden aufzustellen, denen es jedoch vollkommen an Ausrüstung, vom Stiefel bis zur Waffe, gemangelt hätte. Es gab zwar amerikanische Zusagen, aber keine Zeit mehr, auf diese Lieferungen zu warten, eine Situation, die den Generaltruppeninspektor, Oberst Fussenegger, zu dem Vorschlag veranlaßte, die Schweiz um Ausrüstung für zumindest 2 Brigaden zu bitten ("zu schenken, zu leihen oder zu kreditieren"). Diese wäre auch im Interesse der Schweiz gelegen. Ein bestechender Gedanke - die Schweiz sozusagen im Burgenland zu sichern, der aber nicht weiter verfolgt wurde. Österreich mußte sich darauf einstellen, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln auszukommen. Einige Autoren sind der Meinung, daß die Überbetonung des humanitären Prinzips, wie es während der Ungarnkrise in Österreich zu beobachten war, eine Kompensation dafür war, daß militärisch so enge Grenzen gesetzt waren. Eine Diskussion, wie sie in den letzten Jahren geführt wurde - auch in der JugoslawienKrise - kam nicht zustande. Im Gegenteil wurde die Ungarnhilfe ein Gradmesser des Österreichischen Selbstverständnisses und auch der neutralen Haltung. Manfried Rauchensteiner schreibt im Jahre 1981: ,,Nicht in Panzern und Soldaten wurde die Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit gemessen, sondern in Tonnen von Hilfsgütern und den Millionen der Geldspenden."
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Währenddessen stand Österreich weiterhin unter propagandistischem Trommelfeuer aus den Staaten des Warschauer Paktes. Dazu bewahrheiteten sich die Meldungen über Teilmobilisierungen in der Tschechoslowakei, und die Meldungen aus Ungarn verdichteten sich zu dem Hinweis, sowjetische Streitkräfte formierten sich zu einer Zangenbewegung nach Westen, Richtung Burgenland. In der globalen Spannung machte sich in der Wiener Bevölkerung Panik breit. Es kam zu Hamsterkäufen.
XII. Verteidigung oder Grenzschutz? Auch das Verteidigungsministerium reagierte auf das allgemeine Säbelrasseln und wies seine Verbände an, sich auf Verteidigung einzurichten. Angesichts der militärischen Schwäche war der Verteidigungsauftrag geradezu leichtfertig. Der jähe Umschwung in der Stimmung war nicht nur das Resultat einer unklaren weltpolitischen Lage und wechselnder Situationen auf der ungarischen Seite der Grenze. Er war auch das Ergebnis einer Reihe von Österreichischen Befindlichkeiten. Die militärische Spitze hatte sich beim Verteidigungsminister vergeblich um eine Entscheidung angestellt, eine Entscheidung, die er gar nicht treffen konnte. Der Oberbefehlshaber des Österreichischen Bundesheeres, der Bundespräsident, ist an einen Antrag der gesamten Bundesregierung gebunden, und das Plenum des Nationalrates ist zu befassen. Eine schnelle Entscheidung war unter diesen Umständen unmöglich bzw. dem Militär allein überlassen. Der Generaltruppeninspektor, Oberst Fussenegger, hatte seine Entscheidung dem gleichen Österreichischen Dilemma zu verdanken, dem die schwerfällige Regelung mit Regierung, Präsident und Parlament entsprang. Österreich hatte - und hat - zwei Traumata im Verhältnis zu seinen Streitkräften, die ja einerseits im Jahr 1934 auf Arbeiter schossen und andererseits im März 1938, beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht, nach Hause gingen, ohne einen einzigen Schuß abzugeben. Die Regelung, die die Bürgerkriegssituation des Jahres 1934 nicht wiederholbar machen sollte, hätte dazu führen können, daß wieder ein Einmarsch einer anderen Macht ohne Schießbefehl an das Österreichische Militär erfolgen hätte können. XIII. Die Flüchtlingswelle
In den ersten Novembertagen stieg die Zahl der Flüchtlinge dramatisch an. Neben der internationalen Hilfe ging eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft durch das Land. Was auch immer benötigt wurde, es wurde prompt geliefert. In Wien mußten Theater als Spendendepots herhalten. Arbeiter verzichteten auf ihre Löhne, Blutspende-Aufrufe fanden nie gekannten Widerhall, Tausende freiwilliger Helfer arbeiteten in der Organisation mit. Die meisten Flüchtlinge kamen mit kleinem Handgepäck, auf Schleichwegen abseits der sowjetischen Posten. Zwar gab es einen Schießbefehl an die ungari-
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sehen Grenzschützer, die aber, so am 7. November, ihren Österreichischen Kollegen treuherzig versicherten, sie würden nicht auf Flüchtlinge, sondern nur in die Luft schießen. Man möge sich davon nicht beunruhigen lassen. Und außerdem schien es, als ob weder die Russen noch die Kadar-Regierung an einer hermetischen Abriegelung der Grenze interessiert gewesen wären. Immerhin war die Situation für Österreich problematisch. Als der Zustrom aus Ungarn einsetzte, waren noch 114.000 Personen unter dem Schutz der UNO als Flüchtlinge in Österreich registriert. Das gesamte Aufkommen an Flüchtlingen aus Ungarn betrug bis zum Abebben gegen Anfang Februar 1957 etwa 180.000, von denen rund 160.000 in Österreich blieben. Die Flüchtlingsfrage und die humanitäre Hilfe veranlaßten Österreich, am 9. November der Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution vorzulegen, die ohne Gegenstimme angenommen wurde. Stimmenthaltung übten: Albanien, Bulgarien, CSSR, Rumänien Bjelarus, Ukraine, die Sowjetunion und Liberia. Polen und Ungarn stimmten also für die Revolution! Österreich war Ende November ein Land von Flüchtlingen. Unter Hinzurechnung der "alten" Heimatvertriebenen kam auf 30 Österreicher ein Asylant!
XIV. Routine an der Grenze Als nicht einmal 24 Stunden nach dem Verteidigungsbefehl das Österreichische Militär wieder zur Grenzsicherung zurückkehrte, begann eine lange, alltägliche Routine. Überflüge fremder Flugzeuge wurden registriert, aber man gewöhnte sich an wechselnde Situationen an der Grenze, und mehrmals wurde festgehalten, daß auch sowjetisches Militär es vermied, auch nur in die Lage zu kommen, Kampfhandlungen auf österreichisches Gebiet zu tragen. Am 8. November rückten zwei Panzer gegen das Zollgebäude in Hegyeshalom vor. Die Fahrzeuge fuhren parallel zur Grenze, sodaß sie gar nicht in die Verlegenheit gerieten, auf österreichisches Gebiet feuern zu müssen. Die im Haus verbarrikadierten Ungarn zogen sich auf österreichisches Gebiet zurück und wurden von Sicherheitsbeamten entwaffnet. Beide Seiten hatten sich also peinlich korrekt verhalten. Wenige Zeit später erschien sogar der sowjetische Kommandant das Halbzuges am Grenzbalken und bat die Zollbeamten um schriftliche Bestätigung, daß bei der Aktion österreichisches Gebiet nicht verletzt worden sei. Dennoch kam es zu tragischen und auch komischen Ereignissen. Je eines sei hier dargestellt.
XV. Heiter und Ernst Am 9. November verirrten sich zwei sowjetische Soldaten, mit Maschinenpistolen bewaffnet, bei der Ortschaft Mogersdorf auf österreichisches Gebiet und liefen in der Nacht einem Österreichischen Zöllner in die Hände, der sie mit der Taschen-
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Iampe anleuchtete und erschreckte. Einer der beiden Soldaten, der ein wenig deutsch verstand, fragte, ob der Österreicher Schnaps hätte, wie weit es ins nächste Gasthaus sei, und wo der Weg nach Ungarn führe. Sogar das Gewehr des Beamten wurde begutachtet und mit dem fachmännischen Kommentar "stara puska" zurückgegeben. Es gab auch einen Zwischenfall, der lange befürchtet, einmal eintrat. Ein sowjetischer Soldat wurde auf österreichischem Boden von Österreichischen Gendarmen erschossen. Am 23. November waren in der Gegend von Rechnitz zwei sowjetische Soldaten bei der Verfolgung von ungarischen Flüchtlingen auf österreichisches Gebiet gekommen. Zwei Zollwachebeamte versuchten, ihnen entgegenzutreten, wurden aber entwaffnet. Eine zu Hilfe gerufene Gendarmeriepatrouille entwaffnete ihrerseits die beiden Soldaten und begann, sie in Richtung ungarischer Grenze zu eskortieren. Als einer von ihnen, mit dem Namen M.P. Lopatin, zu fliehen versuchte, wurde er nach mehreren Warnschüssen erschossen. Österreich richtete einen scharten Protest an die Adresse der Sowjetunion, der einen Gegenprotest, da ein schon Entwaffneter getötet wurde, hervorrief. Der sowjetische Protest enthielt einen Schadensersatzvorbehalt, aber auch die Versicherung, daß die sowjetischen Truppen strikt angewiesen worden seien, die Unantastbarkeit des Österreichischen Territoriums zu respektieren. Nach diesem letzten Zwischenfall setzte an der Grenze eine gewisse Gewöhnung ein, nicht jeder kleine Zwischenfall wurde hochgespielt, und Anfang Dezember, genauer am 10., kam es auch zu einer Reduzierung der Österreichischen Truppen. Im Januar 1957 kehrten die letzten Einheiten des Bundesheeres in ihre Garnisonen zurück. Bis zum 10. Dezember bewegte sich die Zahl der Flüchtlinge immer noch um täglich 2.000, nach einem Höhepunkt von 8.537 am 23. November. Das Verhalten anderer westeuropäischer Staaten war nicht so unterschiedlich von dem, wie wir es heute gewohnt sind. Bis Anfang Februar wandte Österreich für Unterbringung und Verpflegung einen Betrag von 215 Millionen Schilling auf, internationale Organisationen und das Ausland trugen davon insgesamt ein Drittel. Eine komische Note gewann der Propagandafeldzug gegen Österreich, als der sowjetische Vertreter am 21. November vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen berichtete, daß ungarische Aufständische von Österreich mit Pistolen der Marke "Gasser" ausgerüstet worden seien. Bundeskanzler Raab konnte ganz gemütlich darauf antworten, daß die Firma Gasser ihre Waffenproduktion im Jahr 1917 eingestellt hätte und seitdem, vereinigt mit der Firma Rast, Nähmaschinen der Marke "Rast und Gasser" produziere. Raab konnte sich die Frage nicht verkneifen, ob Nähmaschinen als Geheimwaffe eingesetzt worden wären . . .
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XVI. Herbst 1956: Bedeutung für Österreich Schließlich hatte man erst im Sommer 1955 damit begonnen, die so einfach hingeschriebene Formel von der ,.Neutralität, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird", nach ihrer Bedeutung hin ein wenig auszuloten. Manfried Raucheosteiner fragt ,,Ist es daher angemessen zu sagen: Österreich ist in die Neutralität hineingestolpert? Weit davon entfernt, ein Lippenbekenntnis ablegen zu wollen, hat Österreich dennoch in Unkenntnis immerwährender neutraler Praxis gehandelt."
Dennoch war Österreich einen anderen Weg als die Schweiz gegangen, als es sich zur UNO-Mitgliedschaft entschloß und darin keinen Widerspruch zur Neutralität sehen wollte. Wohl aber standen neutralitätspolitische Überlegungen einer Annäherung an EGKS und später EWG entgegen, wo man auf sowjetischen Widerspruch stieß. In den Jahren 1955 und 1956 war auch der Weg in den Europarat nicht unumstritten und fand in Bundeskanzler Raab einen entschlossenen Gegner, der sich aber dem Wunsch seiner Partei schließlich beugen mußte. Damit war Österreich seit dem I. März 1956 Mitglied des Europarates. In der Beurteilung der Situation ging Österreich mit den Reflexen der Besatzungszeit vor. Innenpolitisch rückten die politischen Parteien zusammen, die gerade begannen, die üblichen Rituale politischer Auseinandersetzungen in einer Demokratie einzuüben, ließen die Gelegenheit einer Budgetdebatte ungenützt und der VdU, der Vorläufer der späteren FPÖ, (der heutigen F-Bewegung Jörg Haiders), zögerte nicht, den außenpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung Anerkennung zu zollen. Einig war man sich in entschlossener Ablehnung des Kommunismus. Die KPÖ, die über ihre Parteizeitung "Volksstimme" die Propaganda der Ostmedien oft kopiert oder sogar antizipiert hatte, mußte ihre Debattenbeiträge zum Budget am 30. Oktober und 6. November vor einem leeren Haus halten. In der Folge errangen die Kommunisten ab den Parlamentswahlen 1959 keinen Sitz mehr. Österreich wurde gelegentlich von der Sowjetunion mit den Imperialisten in einen Topf geworfen, andererseits von den USA kritisiert, wenn es nicht eine scharfe Verurteilung der UdSSR mittragen wollte. Man lernte, daß neutral sein manchmal auch Alleinsein bedeutet, ein Standpunkt, der unter den geänderten Bedingungen der Neunzigerjahre die Neutralitätsdebatte wieder aufleben ließ. Besonders aber der 28. Oktober, die berühmt gewordene Note an den sowjetischen Botschafter Lapin, stellte einen sehr eigenständigen Weg der Österreichischen Neutralität vor, der sich von dem der Schweiz deutlich unterschied. Den völkerrechtlichen und neutralitätspolitischen Erfordernissen wurde Rechnung getragen, im ideologischen Bereich wurde aber keine Veranlassung gesehen, mit Kund-
Der Nachbar Österreich- 1956 und danach
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gebungen von Sympathie und Antipathie hinterm Berg zu halten. Raab wurde nicht müde, die Formel zu wiederholen: ,,Neutralität verpflichtet den Staat, aber nicht den Staatsbürger. Es gibt für Österreich keine Verpflichtung zur ideologischen Neutralität." Noch einmal versuchte Raab, in einer Rundfunkrede am 20. Januar 1957 die Idee von der Neutralität als Exportartikel ins Gespräch zu bringen. Während die Frage nach der Garantie für die Neutralität nach 1956 weder von Österreich noch von der Sowjetunion nochmals gestellt wurde, überlebte die Vorstellung, ein militärisch neutrales Ungarn, das schließlich niemanden bedrohe, wäre eine Alternative. Mikojan, der seinen verschobenen Staatsbesuch am 23. und 24. April 1957 nachholte, erklärte die Österreichische Neutralität zum Sonderfall, wies Raab damit zurück und enttäuschte die Ungarn wohl genau so, wie er Adenauers Deutschland beruhigte. Als Mikojan schließlich am 24. April 1957 bedächtig einen Kranz vor dem sowjetischen Ehrenmal in Wien niederlegte, war auch das Verhältnis zur Sowjetunion wieder korrekt. Und die europäische Nachkriegsordnung, in der ein neutrales Österreich seinen Platz fand und den es deutlich beschrieben hatte, war mehr oder weniger gefestigt, bis in die bewegten Tage des Jahres 1989, die diese Ordnung auflösten. Wahrscheinlich waren die Ereignisse des Jahres 1956 für Österreich nicht weniger bedeutend als Staatsvertrag und Neutralität. Die Angst, die kaum errungene Freiheit könnte verloren gehen, die Notwendigkeit, die Neutralität mit Leben zu erfüllen, haben die unmittelbaren Eindrücke der Besatzungszeit schwächer werden und schließlich verschwinden lassen.
Literaturhinweise Kunnert, Gerhard: Spurensicherung auf dem Österreichischen Weg nach Brüssel, Wien 1992. Raab, Julius: Verantwortung für Österreich (Biographie), Wien 1961. Rauchensteiner, Manfried: Spätherbst 1956 Die Neutralität auf dem Prüfstand, Wien 1981.
Finnische Reaktionen auf den Aufstand in Ungarn 1956 Von Hannes Saarinen
Sowohl für die finnische Öffentlichkeit als auch für die Politiker und Diplomaten, die sich von Berufs wegen mit außenpolitischen Fragen beschäftigten, kam der Aufstand in Ungarn Ende Oktober 1956 unerwartet. Hinzu kam, daß zunächst nur wenig zuverlässige Informationen bis nach Helsinki durchdrangen. Der Geschäftsträger an der finnischen Gesandtschaft in Budapest, Lauri Hjelt, hatte über die ersten kritischen Wochen erst Mitte November drei knappe Berichte an seine Heimatbehörde gesandt. Er hatte sie sachlich kühl als "Gang der Ereignisse", "Betrachtung der Ereignisse" und "Die Situation nach den Besetzungskämpfen" betitelt. Nach Hjelt war man in Ungarn von den Ereignissen überrascht worden. Er sprach dann von drei Phasen, die erste bezeichnete er als "Woche der Straßenkämpfe" (23.- 28. 10.), die zweite als "Woche des Triumphes" (29. 10. - 3. 11.) und die dritte als "Woche der Besetzung" (4.- 10. 11 .). 1 Als Diplomat war erbestrebt, nur die reinen Fakten wiederzugeben. Auch wenn er es vermied, die Sowjetunion direkt zu kritisieren, fällt dennoch auf, daß er von einer "Sowjetbesetzung" sprach und im weiteren die UdSSR als eine "Besatzungsmacht" bezeichnete? Nach Hjelts Beobachtungen wollte die aufständische ungarische Jugend keineswegs eine Rückkehr zum Kapitalismus, sondern ein reformiertes sozialistisches System auf "liberaler und nationalungarischer Basis". Nach ihm handelte es sich also nicht um eine "Gegenrevolution". Hjelt äußerte kaum Verständnis für die entstandene Situation, er sprach sogar einen leichten Tadel aus: Die Ungarn seien von Natur aus "leicht entflammbar und unbedacht". Das Fehlen einer starken Regierungsgewalt habe die Ereignisse in einem "zu schnellen Takt und zu weit treiben lassen". Wie es weitergehen sollte, konnte auch Hjelt nicht vor Ort feststellen. Nach ihm lag die Zukunft Ungarns "im Dunkeln"? Die in Budapest ausgebrochenen Straßenkämpfe waren in finnischen Zeitungen die Hauptnachricht des 25. Oktober. Allzugenaue Informationen konnte man allerdings nicht bieten. Die Überschrift in "Helsingin Sanomat", eines im ganzen Land gelesenen liberalen Blattes und der auflagenstärksten Zeitung Finnlands, lautete: "Blutiger Aufstand in Ungarn, Straßenunruhen in Warschau". Im Leitartikel derselben Zeitung hieß es: 1 Hjelts Bericht vom 10. II. 1956 und vom 14. II. 1956, UM (Archiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Finnlands) 5 C 27. 2 Hjelts Berichte vom 14.11. 1956, vom 21. II. 1956, vom 8. 12. 1956, UM 5 C 27. 3 Hjelts Bericht vom 14. II. 1956, UM 5 C 27.
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,.Hinter dem Eisernen Vorhang hat sich in Ungarn ein Drama abgespielt. Es gleicht den vielen früheren Freiheitsbewegungen in der Geschichte dieses Landes, die mit Gewalt und fremden Truppen niedergeschlagen worden sind." Der Kommentar schloß mit der Versicherung, daß ,.in diesen Tagen das finnische Volk ein tiefes Mitgefühl gegenüber den Leiden und Prüfungen seines ungarischen Brudervolkes empfindet". 4 Das Organ der finnischen Volksdemokraten ,.Vapaa Sana" (Das freie Wort) bezeichnete die Teilnehmer des Aufstandes als Banditen und Konterrevolutionäre. Das Blatt begrüßte einhellig eine Intervention fremder Truppen. 5 Auch das Parteiorgan der Agrarunion ,,Maakansa" sprach in seinem Nachrichtenartikel von einem ,,konterrevolutionären Versuch". 6 Hingegen betrachtete das Organ der finnischen Sozialdemokraten ,.Suomen Sosialidemokraatti" den Aufstand in Ungarn als ,.verzweifelten Versuch" des Volkes, ,.sich vom eisernen Griff des Kommunismus zu lösen und das Land von fremden Fesseln zu befreien". 7 Als dann am 4. November sowjetische Panzer die Straßen in Budapest zu räumen begannen, zollte ,.Suomen Sosiali-demokraatti" noch einmal dem inzwischen niedergeschlagenen ,,kurzen Kampf der Arbeiter, Bauern, der Jugend und der Intelligenz Ungarns gegen den Stalinismus" Anerkennung. Die Zeitung stellte fest, daß das Land nunmehr von einer Gruppe regiert werde, die ,.unterwürfig fremden Panzern" diene. 8 Die konservative ,.Uusi Suomi" sprach von einer ,.Tragödie der gesamten zivilen Welt". 9 Mit Ungarn verband viele Finnen eine positive Grundeinstellung, die in der von Sprachwissenschaftlern im 19. Jahrhundert ausgearbeiteten Sprachverwandtschaft begründet lag. Durch die Entfernung bedingt, existierten auf politischer Ebene wenig unmittelbare Kontakte zwischen den Ländern. Es gab einige Gemeinsamkeiten, aber mehr Unterschiede in der jüngsten Geschichte beider Länder, die sicherlich im Bewußtsein der verantwortlichen finnischen Politiker auch 1956 eine Rolle spielten. Beide Länder waren nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten als Verbündete Deutschlands, mit den entsprechenden Folgen, behandelt worden. Finnland war aber anders als Ungarn von einer Besetzung durch die Sowjetarmee verschont geblieben. Die Folge war, daß Finnland auch später nicht in den sowjetischen Machtbereich geriet und seine westlich-demokratische Verfassung bewahren konnte. Dennoch bestand in Finnland weiterhin eine gewisse Unsicherheit, sowohl im innenpolitischen Sektor als vor allem auch in bezug auf den großen Nachbarn. Die Periode von 1956 bis ins nächste Jahrzehnt ist von einem finnischen Historiker als ,,zeit des Mißtrauens" bezeichnet worden. 10 Innenpolitisch bedeutete das 4
"Helsingin Sanomat" 25. 10. 1956.
s "Vapaa Sana" 26. 10. 1956.
,,Maakansa" 25. 10. 1956. "Suomen Sosialidemokraatti" 28. 10. 1956. s "Suomen Sosialidemokraatti 5. 11. 1956. 9 "Uusi Suorni" 5. 11. 1956.
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Finnische Reaktionen auf den Aufstand in Ungarn 1956
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Jahr eine entscheidende Wende. Anfang des Jahres, im März, durchlebte Finnland eine der schwersten Streikperioden seiner Geschichte. Im Februar wurde ein neuer Staatspräsident gewählt, der Juho Kusti Paasikivi ablösen sollte. Der konservative Paasikivi war der Architekt der neuen vertrauensvollen Beziehungen zur Sowjetunion nach dem Kriege gewesen. Er hatte darin die einzige Chance gesehen, um die innere Selbständigkeit Finnlands zu gewährleisten. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1956 siegte mit nur einer Stimme Mehrheit der Kandidat der Agrarunion ,,Maalaisliitto", Urho Kekkonen. Der unterlegene Gegenkandidat, der Sozialdemokrat Karl-August Fagerholm, wurde aber mit der Bildung einer Koalitionsregierung beauftragt, an der sich auch die Agrarier beteiligten. Damit saßen in der Regierung zwei Parteien, die im vorausgegangenen Arbeitskampf gegensätzliche Seiten unterstützt hatten. Auch außenpolitisch waren die Parteien nicht auf einer Linie. In der neuen Regierung war Ralf Tomgren aus der Schwedischen Volkspartei zum Außenminister ernannt worden. Das Hauptgewicht bei außenpolitischen Entscheidungen kam jedoch dem Staatspräsidenten zu, der laut Verfassung die Richtlinien der finnischen Außenpolitik bestimmt. Während die Sozialdemokraten in den Augen Moskaus als unzuverlässig galten, hatte Kekkonen es verstanden, das Vertrauen des Kreml zu erlangen. Wahrend seiner Zeit als Ministerpräsident kam 1955 ein Vertrag zustande, nach dem die Sowjetunion Finnland das unweit der Hauptstadt gelegene Porkkalagebiet, das 1944 für fünfzig Jahre an die UdSSR gepachtet worden war, vorfristig zurückgab. Ein weiterer Beweis für die verbesserten Beziehungen war, daß Chruschtschow in seiner berühmten Rede während des 20. Parteitages der KPdSU, die den Auslöser für die Ereignisse in Polen und Ungarn bilden sollte, Finnland einen unverhofften Bonus erteilt hatte: Das Land wurde zum ersten Mal von Moskau zu den neutralen Staaten Europas gezählt. Im Sommer kam dann der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Woroschilow, zu einen Staatsbesuch nach Finnland. Bald nach Ausbruch des Aufstandes in Ungarn hatte Kekkonen im Freundeskreis seine tiefe Sorge ausgesprochen, daß die gleichzeitige Suezkrise und die Ereignisse in Budapest die Welt an den Rand eines großen Krieges gebracht hätten. Für ihn war die Situation ähnlich kritisch wie 1939. Deswegen war äußerste Vorsicht angebracht. Wiederholt versicherte Kekkonen dem sowjetischen Botschafter in Helsinki, Lebedew, daß das Geschehen in Ungarn keine Einwirkungen auf die guten Beziehungen zwischen Finnland und der Sowjetunion haben werde. Lebedew ließ es seinerseits nicht an Warnungen fehlen. Kekkonen war andererseits aber bereit, als Vermittler zu dienen und sogar nach Budapest zu reisen, ,.um dem Blutvergießen Einhalt zu bieten". 11 IO Timo Vihavainen, Hyvinvointi Suomi, in: Suomen historian pikkujättiläinen, Porvoo 1987, S. 847. 1t Juhani Suomi, Kriisien aika. Urho Kekkonen 1956-1962, Keuruu 1992, S. 65, 68.
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Dies zeigt, daß auch Kekkonen mit dem ungarischen Volk mitempfand. Aus realpolitischen Einsichten und mit Rücksicht auf die Stellung Finnlands wollte er jedoch die mächtige Sowjetunion nicht vor den Kopf stoßen. In einem Gespräch mit seinem Vorgänger Paasikivi kamen beide überein, daß es keinen Sinn habe, ..Rußland zu schelten", es würde .,uns nichts nützen, sondern schaden". 12 Die Entscheidung der ungarischen Regierung, die Militärallianz mit der Sowjetunion zu verlassen, hielt Kekkonen für unklug. Er versicherte dem sowjetischen Botschafter, daß für Finnland eine einseitige Aufkündigung des 1948 abgeschlossenen Vertrages mit der Sowjetunion über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand weder jetzt noch in Zukunft denkbar wäre.13 Der Agrarier Johannes Virolainen, Minister in der Regierung Fagerholm, hat damals in einer Rede die Haltung seiner Partei folgendermaßen ausgedrückt: ..Es ist klar, daß unsere Herzen wärmstens für das ungarische Volk schlagen, aber wir müssen einen kühlen Kopf bewahren können. Wir dürfen uns nicht zu Demonstrationen gegen die Sowjetunion hinreißen lassen, da solche Demonstrationen uns nichts nützen. Finnland muß seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, wie wir unsere Selbständigkeit bewahren können." 14 Vor der internationalen Öffentlichkeit mußte Finnland vielleicht am sichtbarsten vor der UNO Stellung zu den ungarischen Ereignissen beziehen. Das außenpolitische Dilemma eines nach Neutralität strebenden Staates wie Finnland hatte der populäre finnische Karikaturist "Kari" am Tag der UNO (am 24. 10), in einer Zeichnung so ausgedrückt: Zwischen zwei riesigen Kanonen stehend, weist Hammarskjöld der Symbolfigur Finnlands, einer Jungfrau, einen Platz mit den Worten: ..Willkommen. Der Platz der kleinen neutralen Mächte ist genau hier in der Mitte." 15 Dazu sei noch angemerkt, daß Finnland erst vor einem Jahr, 1955, zur UNO zugelassen worden war, viel zu früh, wie sich Kekkonen einmal privat äußerte. Gerade in der kritischen Phase des Herbstes 1956 nahm eine finnische Delegation nun zum ersten Mal an einer Vollversammlung der UNO teil. Wie auch immer das Land sich entschied, lief es Gefahr, von der Gegenseite als zu anpassungswillig abgestempelt zu werden. Die Nachfragen des finnischen UNO-Gesandten Georg Gripenberg in Helsinki und die an ihn ergangenen Direktiven zeigen, daß die Situation mehr als heikel war. Eigentlich wollte Finnland, mit Rücksicht auf die Sowjetunion, es vermeiden, überhaupt Stellung beziehen zu müssen, andererseits wollten die Finnen auch ihr Gesicht wahren. Insgesamt wurden vor der Vollversammlung der UNO elf Resolutionen zur Ungarnkrise behandelt, von denen die Suomi, S. 65. Suomi, S . 64. 14 Zitiert nach Lauri Haataja, Kekkosen aika, in: Suomen historia, Bd. 8, Espoo 1988, S. 144. 15 .,Helsingin Sanomat" 24. 10. 1956. 12
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Finnen fünf Resolutionen zustimmten. Bei sechs Resolutionen enthielten sie sich der Stimme. 16 Den hauptsächlich von den NATO-Mitgliedern eingebrachten Resolutionen, in denen die Sowjetunion eindeutig als Schuldiger hingestellt wurde, konnte Finnland nicht zustimmen, also enthielt es sich der Stimme. Als Anfang November in New York eine Resolution vor der Vollversammlung debattiert wurde, nach der die Sowjetunion aufgefordert werden sollte, Ungarn zu verlassen, und die nicht nur von NATO-Mitgliedern, sondern auch von Österreich und Jugoslawien unterstüzt wurde, hielt sich Finnland auch hier zurück. Gripenberg befürchtete nun, daß Finnland völlig in die Isolation gerate. 17 Er hielt die finnische Einstellung für allzu vorsichtig, aber er fügte sich den Argumenten Kekkonens. Die Finnen gaben dann eine Stellungnahme vor der UNO ab, die folgenden Kernsatz enthielt: "Die finnische Delegation möchte den inständigen Wunsch aussprechen, daß Ungarn und die Sowjetunion über eine Entfernung der Truppen und über eine Sicherung der menschlichen Grundrechte des ungarischen Volkes in einer solchen Form, die den jahrhundertealten Freiheitstraditionen des ungarischen Volkes entspricht, übereinkommen könnten." 18 Von der finnischen Presse, u. a. "Helsingin Sanomat" und "Uusi Suomi" wurde die abstinente Haltung Finnlands vor der UNO als enttäuschend bezeichnet und offen kritisiert. 19 Die offiziell neutrale Haltung Finnlands bedeutete, daß die Regierung sich zwar an keinen Resolutionen beteiligte, die die Sowjetunion an den Pranger stellten, andererseits aber auch nicht zusammen mit der "Ostgruppe" das sowjetische Eingreifen in Ungarn gutheißen wollte.Z0 Nach dem Historiker Juhani Suomi befürwortete Finnland in der UNO alle Resolutionen, die die Freiheitsrechte des ungarischen Volkes zum Inhalt hatten. Finnland war auch auf Seite derjenigen, die einen Rückzug der sowjetischen Trupppen aus Ungarn wünschten.Z 1 Finnland wurde jedoch in der internationalen Öffentlichkeit Inkonsequenz und Parteinahme vorgeworfen. Es hatte sich einer vorausgegangenen scharfen Resolution zur Suezkrise angeschlossen, es aber bei der im ähnlichen Wortlaut verfaßten Resolution der USA, die nun gegen die sowjetische Intervention in Ungarn gerichtet war, unterlassen, dieser beizupflichten. Die aus außenpolitischen Rücksichten befolgte finnische Neutralität wurde durch ein starkes Engagement im humanistischen Bereich kompensiert. Dem Suorni, S. 66f. Telegramm Gripenbergs vorn 8. II. 1956, UM 113 U2 " Unkarin kysymys YK:ssa" [Die ungarische Frage vor der UNO]. 18 Nach Erklärung des finnischen Außenministeriums an das finnische Nachrichtenbüro STT vom I 0. II . 1956, UM 113 U 2. 19 .,Helsingin Sanomat" 11.11. 1956, "Uusi Suomi" II . II. 1956. 20 Telegramm Törngrens aus New York an das Außenministerium in Helsinki vom 16. II. 1956, UM 113 U 2. 21 Suomi, S . 67. 16
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Generalsekretär der UNO, Dag Hammarskjöld, wurde unterbreitet, daß das Finnische Rote Kreuz mit einer Hilfsspende von 130 Millionen Finnmark rechnete, für die fünfzig Millionen aus dem Staatshaushalt überwiesen werden sollten. 22 Ende November waren bereits Waren -hauptsächlich Medikamente, Lebensmittel, Kleidung - im Werte von 20 Millionen Finnmark zur Linderung der Flüchtlingsnot geliefert worden. 23 Besonders aktiv im Sammeln für das Rote Kreuz waren die Jugendorganisationen der Sozialdemokraten und die finnische konservative Partei "Kokoomus". Am 30. Oktober wurde in vielen finnischen Zeitungen ein Appell zugunsten Ungarns veröffentlicht, den prominente Wissenschaftler und Künstler unterzeichnet hatten, unter ihnen Kustaa Vilkuna, der gleichzeitig ein führendes Mitglied der Finnisch-Ungarischen Gesellschaft war. Als die Flüchtlingswelle aus Ungarn anschwoll, haben die Finnen wie viele andere Völker zur materiellen Unterstützung der Notleidenden beigetragen, aber Flüchtlinge konnte das Land nicht aufnehmen. 24
22 Zum Vergleich: Die Gesamtausgaben des finnischen Staatshaushalts betrugen 1956 278 573 Millionen Finnmark, Nach Suomen taloushistoria, Bd. 3, HelsintO 1983, S. 357. 23 Telegramm des finnischen Außenministeriums an Gripenberg in New York vom 19. II. 1956, UM 113 U 2. 24 Juhani Huotari, Finland and Hungary, 1956, in: Hungary 1956, ed. by Paula Hihnala and Olli Vehviläinen, Tampere 1995, S. 86, 91 .
Einige Aspekte des Echos in Rumänien auf die ungarische Revolution von 1956 Von Dan Berindei
Die revolutionären Ereignisse, die im Herbst 1956 in Ungarn stattfanden, bewirkten ein starkes Echo in Rumänien. Der Oberherrschaft der Sowjetunion ausgeliefert, machte Rumänien nach dem 23. August 1944, als es seine Allianz mit Hitlerdeutschland brach und auf Seiten der Vereinten Nationen trat, mehrere Etappen durch. Auf die Regierungen der Generäle Constantin Sanatescu und Nicolae Radescu folgte am 6. März 1945 die von Petru Groza geführte "Regierung breiter demokratischer Konzentration". Es war im Grunde genommen eine von den Kommunisten dominierte Regierung, die dem König Mihai unter anderem durch die brutale Intervention von Andrei Januarewitsch Vascinski aufgezwungen wurde. Zwei Jahre später wurde die von Gheorghe Tatarescu geführte liberale Dissidenz beseitigt, und am 30. September 1947 wurde König Mihai zur Abdankung gezwungen. Rumänien wurde eine Volksrepublik, und seine Führung geriet vollends in die Hände der Kommunisten. Gheorghe Gheorgiu-Dej gewann das Vertrauen von Stalin und übernahm die Führung der Partei, wobei die Kommunisten, die in der Emigration in Moskau gelebt hatten, von der Spitze beseitigt wurden. In Rumänien kam es zu einem harten, repressiven Regime, das nach dem Tod von Stalin gemildert wurde. Im Jahr 1948 waren Industrie, Banken und Häuser nationalisiert worden. Rumänien war von der Außenwelt vollkommen isoliert. Nachrichten wurden zensiert und manipuliert. Man lebte wie auf einem fremden Planeten! Über die Ereignisse in Berlin 1953 erfuhr man nur sehr wenig in Rumänien. Doch die Ereignisse im Herbst des Jahres 1956 in Polen und Ungarn hatten einen sehr starken Widerhall. Sie erregten Besorgnis innerhalb der Rumänischen Kommunistischen Arbeiterpartei (diesen Namen hatte die Kommunistische Partei nach ihrem Zusammenschluß im Jahre 1948 mit der Sozialdemokratischen Partei angenommen). Gheorghe Gheorghiu-Dej, der die Befürchtung hegte, als Stalinist von potentiellen Gegnern von der Spitze der Partei beseitigt zu werden, war ganz besonders daran interessiert, daß eine "Explosion" wie in Polen und Ungarn nicht auch in Rumänien stattfinde. Die gesamte Führung der Rumänischen Arbeiterpartei zog übrigens die Möglichkeit in Betracht, beseitigt zu werden.
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Dan Berindei
Zwei rumänische Historiker - Cormel Lungu und Mihai Retegan - haben einen Band von Dokumenten vorbereitet, der unter dem Titel "1956. Rumänen im Kontext der antikommunistischen Bewegung" erschien. Freundlicherweise stellten sie mir vorab einige grundlegende Teile ihrer Arbeit zur Verfügung, und dafür spreche ich ihnen hier meinen Dank aus. Es handelt sich um drei unveröffentlichte "Informationsbulletins", die für die Parteiführung bestimmt waren. Die ersten beiden über den 27. und 29. Oktober waren in nur fünf Exemplaren vervielfältigt worden, das dritte- eine Synthese des 6. Novembers- in 14 Exemplaren. Die Informationsbulletins enthalten Reaktionen aus allen Regionen des Landes auf die am 23. Oktober in Ungarn begonnenen Ereignisse. Damals war Rumänien nach sowjetischem Modell in "Rayons" anstelle der traditionellen Kreise aufgeteilt, und die Rayons waren in 15 Regionen gruppiert. Hinzu kam Bukarest, die Hauptstadt des Landes. Die Informationen betrafen Versammlungen der Parteiorganisationen und des Verbandes der Kommunistischen Jugend sowie jene, die mit allen "Werktätigen" in Institutionen und Unternehmen veranstaltet wurden. Sie enthielten Angaben über Wortbeiträge (wobei jene Stellungsnahmen hervorgehoben wurden, die dem kommunistischen Regime gefährlich werden konnten) und allgemeine Informationen über die Stimmung in den verschiedenen Landesteilen alles im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Ungarn. Naturgemäß sind diese Bulletins aus einer den Ereignissen im Nachbarland feindlich gesinnten Haltung zusammengestellt worden, doch, dessen ungeachtet, enthalten sie eine Anzahl besonders wertvoller Informationen. Gemäß der erfolgten Anweisungen waren die Versammlungen für die "lnformierung der Arbeiter und Angestellten im Zusammenhang mit den konterrevolutionären Ereignissen, die in der Volksrepublik Ungarn stattfinden", bestimmt. Selbstverständlich wurde aber auf diese Art und Weise versucht, die Stimmung innerhalb der Bevölkerung festzustellen und Informationen zu sammeln, aufgrund derer Maßnahmen ergriffen werden konnten, um ähnlichen revolutionären Ereignissen, wie jenen in Ungarn, vorzubeugen. Die Bulletins enthalten die Zahl der Versammlungen, die abgehalten wurden- es waren Hunderte am Tag in jeder Region! Mit Hilfe dieser Versammlungen wurde versucht, den Eindruck einer nahezu einstimmigen "Verurteilung" der "konterrevolutionären Aktion in Ungarn" zu erwecken. Gleichzeitig aber enthüllten die Informationen - zwischen den Zeilen und insbesondere anhand der "negativen" Beispiele - die tiefe Unruhe innerhalb der Bevölkerung und eindeutig positive Stellungnahmen gegenüber den revolutionären Aktionen im Nachbarland! Es fehlten auf den Versammlungen auch keineswegs die Beiträge, die bedeutungsschwere Assoziierungen enthielten. So verlangte ein junger Kommunist in den Strungul-Werken in Kronstadt (Brasov), "man solle ihm erklären, ... was für eine Verbindung zwischen den Ereignissen in Berlin, Poznan und Ungarn bestehe". Ein Student fragte in Temeswar (Timisoara), "ob die Aktionen in Ungarn in Verbindung mit denen in Polen stehen", und ein Parteimitglied im Bukarester Transportunternehmen ITB behauptete ironisch: "Was soll man denn mit den Polen machen, wenn sie niemals Genossen und frei sein wollen?"
Aspekte des Echos in Rumänien auf die ungarische Revolution von 1956
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Solche Assoziierungen führten eindeutig und logischerweise zur Schlußfolgerung, daß auch in Rumänien aufgrund der Ähnlichkeit der Lage ähnliche Ereignisse stattfinden könnten. Der stellvertretende Direktor eines Lyzeums im Rayon Odorhei, ein Parteikandidat, erklärte, "was in der Volksrepublik Ungarn geschehen ist, ist richtig, und es ist gut, daß die Revolution begonnen hat". Am Polytechnischen Institut in Temeswar (fimisoara) fragten einige Studenten, "welche der Forderungen der Studenten in Ungarn sind von der Regierung gerecht gelöst worden", und sprachen sich auf diese Weise indirekt für die Forderungen aus. Selbst ein Staatsanwalt in Arad "erklärte, die Ungarn sind richtig vorgegangen". In der Region Konstanza (Constanta) haben Soldaten im Baueinsatz (diese wurden hauptsächlich unter den jungen Menschen rekrutiert, die eine "ungesunde" Herkunft hatten) ihre Feldmützen in die Höhe geworfen, als sie von den Ereignissen in der Volksrepublik Ungarn erfuhren". In Hermannstadt (Sibiu) erklärte ein Parteimitglied, er "ist nicht einverstanden mit der Regierung der Volksrepublik Ungarn, die mit Waffen auf die Arbeiter geschossen hat". In Petrosani wurden Flugzettel gefunden, auf denen stand: "Bürger, steht dem Kampf des ungarischen Volkes bei!" Mancherorts fanden sogar Sabotageaktionen statt. In der Region Großwareiten (Oradea) wurden die Telefonleitungen an mehreren Stellen durchschnitten. In der Haftanstalt in Sathmar (Satu Mare) haben Häftlinge, "als sie von den Ereignissen in Ungarn erfuhren, sich geweigert, die Vorschriften der Haftanstalt einzuhalten". Zweifelsohne war die Zahl jener, die für die Ereignisse in Ungarn unmißverständlich Partei auf den Versammlungen ergriffen, recht gering. Das Risiko war sehr groß. Sogar den Bulletins ist zu entnehmen, daß einige von ihnen gleich verhaftet worden sind. Die Ähnlichkeit der Situationen aber wird immer deutlicher. Ein "Individuum", das die gute Versorgung eines Brotladens auf die Furcht der Behörden zurückführte, erklärte in Piatra Neamt: ,,Jetzt gibt es Brot; ihr habt Angst, es kann euch so ergehen wie in Ungarn". Ein Bauer verfluchte die Parteiführung und sagte: "Es dauert nicht mehr lange, dann ist es bei uns so wie in Ungarn". In der Gemeinde Jugureni im Süden des Landes sagte ein anderer Bauer: "Auch bei uns wird es so geschehen wie in Ungarn". In Baia Mare ging das Gerücht um, daß "die alte Regierung in der Volksrepublik Ungarn geflüchtet ist und jetzt auch die Regierung der Volksrepublik Rumänien flüchten wird". In der Gemeinde Reghea in der Region Großwareilen (Oradea) haben sogar ,,Parteimitglieder eine ungesunde Haltung eingenommen gegenüber dem, was in der Volksrepublik Ungarn geschehen ist", heißt es in einem Bulletin über den 29. Oktober. Ein Offizier in Campulung Moldovenesc in der Bukowina "hat in der Öffentlichkeit gerufen, ,Gott gebe, daß auch bei uns geschieht, was in Ungarn war"'. Zwei Angestellte in Botosani kommentierten am 6. November, nach der Unterdrückung der revolutionären Aktion also, daß "die Ereignisse in Ungarn . . . den Beginn großer Ereignisse in der Welt" darstellen. In der Region Temeswar (Timisoara), im Dorf Cuvin, scheute sich ein Schuldirektor nicht, sogar vor den Schülern zu erklären, daß "auch bei uns bald ein Bauernaufstand wie in Ungarn sein wird". Ein Lokführer stellte fest: "Was
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in Ungarn stattgefunden hat, wird auch bei uns stattfinden". Ein Kommunist in Kronstadt (Brasov) - damals noch Stalin-Stadt - machte ebenfalls eine bedeutungsschwere Bemerkung: "Es soll uns nicht wundem, wenn auch bei uns so etwas geschieht, denn eine Anzahl von Unzulänglichkeiten sind bekannt, und es werden dennoch keine Maßnahmen getroffen". Auch in Oltenien "haben viele derjenigen, die das Wort ergriffen, die schlechte Versorgung der Kooperativen mit den notwendigen Waren kritisiert." Das Problem der Versorgung stand während jener Tage im Mittelpunkt der Bemühungen der Führungsschicht der Rumänischen Arbeiterpartei, da man sich dessen bewußt war, daß die Unzufriedenheit der Bevölkerung - ausgehend von der unzureichenden Versorgung - in gewalttätige Aktionen umschlagen könnte. Es handelte sich bei der schlechten Versorgung um eine Tatsache, die sogar in den Bulletins verdeutlicht wurde: "In der Region", hieß es in einem Bulletin über die Region Suceava, "spürt man das Fehlen von Speiseöl, Reis, Weizenmehl, Mais und Zwiebeln". In den Bulletins wurde auch Kritik laut, betreffend die Art und Weise, wie das Brot und andere Produkte landesweit vertrieben wurden. "Einige Genossen", wird in einem Bulletin die Reaktion von Parteimitgliedern im Strungui-Werk in Kronstadt (Brasov) beschrieben, "haben das Problem der schlechten Versorgung mit Speiseöl, Fett, Mehl, Reis, Wurstwaren u. a. gestellt". In der Region Baia Mare haben in einigen Rayons "die Parteimitglieder verlangt, daß Maßnahmen für eine bessere Versorgung mit Fettstoffen, Teigwaren und Reis getroffen werden". Auch heftige Kritik an der Sowjetunion fehlte nicht - in dem Beschwerdebuch einer Fabrik in Arad wurde die Frage gestellt, "wo ist der Weizen aus der Volksrepublik Rumänien- in der UdSSR?" In Jassy (Iasi) trafen die Parteibehörden, um eine Steigerung der Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden, ,,Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung". In Bukarest reagierten die Behörden auf dieselbe Art und Weise: ,,Infolge der getroffenen Maßnahmen", heißt es in einem Bulletin über Bukarest, "ist der Markt mit ausreichenden Mengen an Brot, Zucker, Speiseöl, Kartoffeln usw. versorgt worden; desgleichen wurde das Essen in den Kantinen verbessert, indem diesen Fleisch besserer Qualität zugeteilt wurde. Aus einer Region wurde gemeldet, daß "große Mengen an Nahrungsgütern verteilt worden sind". Die Verpflichtung der Bauern, sehr hohe Quoten der Getreideproduktion abzuliefern, sorgte ganz besonders für Unzufriedenheit. In der Gemeinde Suata nahe bei Klausenburg (Ciuj) gab es Gerüchte, daß die ,,Rebellion in Ungarn" unter anderem "gegen die Quoten" gerichtet war. "In manchen Versammlungen", hieß es in einem anderen Bulletin, " ... sagten einige Bauern, daß, wenn in der Volksrepublik Ungarn zur Abschaffung der Pflichtabgaben an den Staat geschritten werden kann, warum kann das nicht auch in unserem Land geschehen - unser Land ist fast reicher als Ungarn?". Der Parteisekretär in der Gemeinde Bolgos: "Statt die Gerüchte zu bekämpfen, die im Zusammenhang mit den Quoten zirkulieren, unterstützt sie und diskutiert mit anderen Bauern über die Notwendigkeit, die Quoten abzuschaffen".
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Die Ereignisse in Ungarn führten sogar zur Infragestellung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Unter den in der Region Baia Mare registrierten Gerüchten war auch eines darüber, "daß in Ungarn die SMf (Stationen für Maschinen und Traktoren) aufgelöst wurden und die Bauern nicht mehr in Genossenschaften arbeiten werden. Ebenfalls in der Region Baia Mare "haben sich mehrere Genossenschaftsbauern" in einer Gemeinde "versammelt und darüber geredet, daß die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften abgeschafft werden sollen, bevor auch bei uns die Rebellion beginnt". In der Gemeinde Bezid im Zentrum Siebenbürgens rief ein Bauer: "Wehe den Kommunisten und jenen, die in dieser Gemeinde in die Kollektive eintreten werden!" Ebenfalls in Siebenbürgen, in der Gemeinde Suatu, gab es das Gerücht, daß in Ungarn "der sozialistische Sektor in der Landwirtschaft abgeschafft" werden soll. In der Region Piteste, in der Gemeinde Jugureni, "haben sich 20 Bürger auf dem Gelände der Kollektivwirtschaft versammelt und den Traktor der SMT daran gehindert, weiterzuackern". In manchen Landesteilen wurden sogar klare antikommunistische Stellungsnahmen verzeichnet. In Salonta "wurde ein Plakat mit folgender Inschrift gefunden: ,Achtung! Nieder mit dem Kommunismus, nieder mit dem 7. November'. In einer Gemeinde bewarfen die Bauern den örtlichen Parteisekretär mit Steinen. Im Depot der Rumänischen Eisenbahngesellschaft CFR in Craiova wurde auf eine Wand geschrieben: ,Nieder mit dem Kommunismus! Wir haben die Misere satt'. Eine Inschrift mit ,Nieder mit den Kommunisten' wurde auch in Bukarest entdeckt. In einer Bukarester Kooperative sagte ein Rechtsanwalt: ,,Ihn leite nicht die Partei, die letzte Stunde der Kommunisten hat geschlagen". In einer anderen Kooperative sagte ein Mann, der aus der Partei ausgeschlossen worden war, einem Parteimitglied: ,,Euch Kommunisten hat jetzt der Teufel geholt, es ist aus mit euch". Im Electromagnetica-Betrieb sagten mehrere Arbeiter im Beisein anderer, "daß sie die Misere und das schwere Leben satt hätten" und ,,recht sei den Kommunisten in Ungarn geschehen, daß sie beraubt worden sind". In der Region Crainova verkündete ein Bauer in einem Dorf, daß "die Kommunisten Ungarn verlassen werden". Die Ereignisse in Ungarn bewirkten auch antisowjetische Haltungen und Handlungen, die einerseits den repressiven Eingriff der Roten Armee zur Ursache hatten, andererseits aber auch die tiefe Unzufriedenheit infolge der Anwesenheit der Sowjetarmee in Rumänien. In Kronstadt (Brasov) antwortete der Sekretär der Jungkommunistenorganisation im Werk Stegul Rosu auf Fragen, die ihm gestellt worden waren, und sagte, "daß die Sowjetunion sich in die Angelegenheiten Ungarns nicht hätte einmischen dürfen, weil der Warschauer Pakt solch eine Intervention nur im Falle eines Krieges vorsieht". In der Region Baia Mare haben sogenannte "feindliche Elemente" gegenüber Bürgern behauptet, "wenn die sowjetischen Truppen sich nicht in die Unterdrückung der Rebellion eingemischt hätten, wäre Ungarn heute nicht mehr eine Volksmacht, sondern würde ein echtes ,Freies Ungarn' sein". Auf dem Polytechnischen Institut in Temeswar (Timisoara) fragten einige Studenten während einer Marxismus-Vorlesung, "ob die Hilfeleistung der sowjetischen Truppen nicht in Widerspruch zu den Dokumenten des XX. Kongres-
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ses stehe", und ebenfalls in Temeswar wurde gefragt, "ob die Stationierung von sowjetischen Truppen in Budapest und in der Volksrepublik Rumänien nicht den jüngsten Dokumenten der Sowjetunion widerspricht". Ein Student an der Fakultät für Physik und Mathematik in Bukarest warf auf einer Versammlung die Frage auf, "ob die Anwesenheit der sowjetischen Truppen in Ungarn legal oder eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns sei". In der Region Ploiesti wurde desgleichen die Frage gestellt, "weshalb wurde die Intervention der Sowjetarmee notwendig", in der Region Konstanza (Constanta) ebenfalls. Ein Professor erklärte im Lehrerzimmer einer Schule in der Region Hunedoara: "Was mischen sich die Sowjettruppen in die Angelegenheiten anderer Länder ein, dieser Fall wird zur UNO gelangen, und der Fall Ungarn wird sich auch auf andere Länder ausweiten." Auf einer Versammlung in der Region Bacau wurde die Frage gestellt: "Warum hat die ungarische Regierung die Hilfe der Sowjetarmee angefordert?" Sogenannte "feindliche Elemente" schoben in der Region Temeswar (Timisoara) die Schuld für die Schwierigkeiten in der Versorgung auf "die Anwesenheit der sowjetischen Truppen bei uns im Land", bemerkten, daß in Ungarn "dieselbe Situation" herrsche, und fügten hinzu, "solange die Sowjetarmee das Land nicht verlassen würde, wird die Lage der Massen sich nicht verbessern". In einem Bulletin wird festgestellt, daß "betont feindliche, antisowjetische Haltungen bemerkt werden". In Arad sagte ein Straßenbahnschaffner, der darauf aufmerksam gemacht wurde, zwei sowjetische Offiziere nicht zu überfahren: "Würde ich sie nur alle überfahren". Und ein Arbeiter in der Libertatea-Fabrik fragte: ,,Wie lange werden die Russen bei uns bleiben?" In der Gemeinde Vicovul de Jos in der Bekowina wurde ein Bild von Chruschtschow "zerrissen und beschmiert gefunden, "und auf einer Ecke stand geschrieben: ,Verbrecher"'. In Lugoj wurden 40 handgeschriebene Plakate entdeckt, auf denen stand: "Wir wollen die russische Sprache nicht lernen". Ein Tierarzt in der Bukowinaer Stadt Vatra Dornei "brachte das Gerücht in Umlaur'. daß in Klausenburg (Ciuj) und Arad die Studenten "denselben Weg eingeschlagen haben wie in Ungarn", weil "sie die Beseitigung aus dem Lehrprogramm der russischen Sprache und des Marxismus verlangen". In jener angespannten Atmosphäre herrschten die offiziellen, manipulierten Meldungen vor. Hinzu kamen die Informationen von den ausländischen Rundfunksendern, die von Mensch zu Mensch weitergegeben und verständlicherweise dabei verzerrt wurden. Dann gab es noch die unzähligen Gerüchte. Einige waren aufgrund von Teilwahrheiten entstanden, andere hingegen widerspiegelten die Feindseligkeit gegenüber dem herrschenden Regime sowie den Wunsch nach einer Änderung. In der Gegend um Kronstadt gab es das Gerücht, daß "95 Prozent der Armee der Volksrepublik Ungarn auf Seiten der Rebellen waren und daß die sowjetische Armee, die eingegriffen hatte, geschlagen und in die Donau gedrängt worden ist." Auf dem Bahnhof in Episcopia Bihor wurde auf die Wand geschrieben: "Es lebe König Mihai", und in Cugir, in der Region Hunedoara, "sagte ein Postträger, daß ,nach alldem die Amerikaner auch zu uns kommen werden '". Einige Alarmzeichen gab es auch betreffend Siebenbürgen und gewisse Gebietsansprüche in Verbindung damit. Ein Parteimitglied
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in Großwardein (Oradea) sagte, "daß es das Gerücht gebe, man habe Siebenbürgen abgetreten". Dasselbe Gerücht wurde auch im Dorf Floresti in der Region Klausenburg verzeichnet. Dort wurde behauptet, daß "die in Ungarn veranstaltete Rebellion den Zweck hatte, Siebenbürgen zu übernehmen". Und sogar aus Bukarest wurde dieses Gerücht gemeldet - aus zwei Grundschulen, wo die Kinder kommentierten, "daß die Ungarn Siebenbürgen wegnehmen". Während der angespannten Lage machten sich auch rechtsextremistische Haltungen bemerkbar. In Botosani wurden Hakenkreuze auf vier Häusern festgestellt, und in Bukarest gab es Flugblätter mit Hakenkreuzen und Zeichen der Eisernen Garde. Auch antisemitische Reaktionen wurden verzeichnet. In der Region Baia Mare lief das Gerücht, daß "die Rebellion in Ungarn organisiert worden war, um die Vorherrschaft der Juden innerhalb der Partei und Regierung abzuschütteln." Diejenigen, die positive Stellungen gegenüber der Revolution in Ungarn einnahmen, waren in erster Linie die Studenten. In den Fakultäten in Temeswar "äußerten sich einige Studenten feindlich (und dementsprechend für die Revolte in Ungarn)", heißt es in einem Bulletin, und zwei stellten tendenziöse Fragen". In der Fakultät für Rechtswissenschaften in Bukarest "solidarisierte sich" eine Studentin des ersten Jahrgangs "mit den Studenten in Ungarn und ist der Ansicht, die rumänischen Studenten müßten genauso vorgehen". In Klausenburg (Cluj) wurden drei Studenten eindeutig wegen ihrer Haltung verhaftet, die sie gegenüber den Ereignissen in Ungarn eingenommen hatten. Auf dem Polytechnischen Institut in Jassy (Iasi) rief ein Student und gab auf diese Weise indirekt seine Bewunderung kund: ,,Jene in Ungarn sind Studenten, nicht wir!" Auf dem Bukarester Polytechnikum verlangte ein Professor, Teodor Ionescu, "die Einschränkung der Befugnisse der Kaderdienste". Bezeichnend ist auch die Tatsache, daß Protest und Solidarität mit der Revolution in Ungarn auch bei Parteimitgliedern verzeichnet wurden. Einige Beispiele wurden weiter oben angeführt. In einem Bulletin wird darauf hingewiesen, daß in Bukarest, "auch einige Parteimitglieder feindliche Einstellungen äußern". In Reghea, in der Region Großwardein (Oradea), haben die Parteimitglieder "eine ungesunde Haltung eingenommen gegenüber dem, was in der Volksrepublik Ungarn stattgefunden hat", heißt es in einem anderen Bulletin. In den mehrheitlich von Ungarn bewohnten Gebieten sind die Stellungnahmen eindeutig kategorischer. "In den Parteiversammlungen", heißt es in einem Bulletin, "erklären die Parteimitglieder, daß auch unsere Führer Schlußfolgerungen aus den Ereignissen in Budapest ziehen müssen". In denselben Regionen wird auch von der "chauvinistischen und antisowjetischen Haltung" gesprochen, sowie von der "feindlichen Haltung mancher Parteimitglieder (gegenüber dem herrschenden Regime selbstverständlich)". Die drei Bulletins widerspiegeln "live" die Stimmung in Rumänien anläßtich der revolutionären Ereignisse in Ungarn. Es ist übrigens das erste Mal seit mehr als einem halben Jahrzehnt, daß die Menschen, einige mit großem Mut, ihre Mei-
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nung zum Ausdruck bringen. Was in Ungarn stattgefunden hatte, trug eindeutig dazu bei, daß das ,,Eis gebrochen war". Von jenem Augenblick an wußte man auch in Rumänien, daß dem großen sowjetischen Koloß die Stirn geboten werden kann. Der bekannte Politologe Silviu Brucan ist der Ansicht, daß dieser Augenblick für Gheorghe Ghiorghiu-Dej entscheidend war und ihn davon überzeugte, daß eine grundlegende Umorientierung seiner Politik notwendig sei. Der neue Kurs, den die - kommunistische - Politik Rumäniens allmählich einschlug, war in großem Maße eine Folge der Revolution, aber auch der brutalen und blutigen Unterdrückung durch die Sowjets. In Rumänien hat solch eine Bewegung wie in Polen oder Ungarn nicht stattgefunden. Dafür aber änderte die kommunistische Partei selbst ihre Ausrichtung und erreichte damit im Jahre 1958 den Abzug der Sowjettruppen aus Rumänien. Eine Folge dieser Ausrichtungsänderung war auch die Einmischung von äquidistanten Positionen im ideologischen sowjetisch-chinesischen Konflikt, ebenso die "Unabhängigkeitserklärung" vom April 1964 und die Anfechtung der führenden Rolle der Sowjetunion und ihrer kommunistischen Partei.
Die ungarische Revolution von 1956 als Beginn der Re-Europäisierung Ost-Mitteleuropas Von Jürgen Domes
Verlauf, Unterdrückung sowie unmittelbare und mittelfristige Wirkungen der ungarischen Revolution von 1956 - nur von einem "Aufstand" zu sprechen, scheint mir der Bedeutung der Ereignisse vom 23. Oktober bis zum 4. November 1956 nicht angemessen zu sein - werden in diesem Band von spezialisierten Kennern der Materie dargestellt und analysiert. Ich möchte lediglich einige Gedanken hinsichtlich der weiteren historischen Zusammenhänge der ungarischen Geschehnisse von 1956 vorlegen. Sie mögen als eine Art kulturhistorisch orientierter Zwischenruf verstanden werden. Meine Hypothese lautet: Die ungarische Revolution von 1956 markierte das Scheitern des Versuchs der internationalen kommunistischen Bewegung, den Osten Mitteleuropas gewaltsam von Europa zu lösen. Sie bedeutete deshalb den Beginn des Vorganges der Re-Europäisierung Ost-Mitteleuropas, der in den Jahren 1989 I 90 seinen Abschluß fand. Die Rolle des ungarischen Volkes in diesem Vorgang hat der frühere Außenminister Ungarns, Jeszensky, am 20. August 1991 in seinem Vorwort zu der Broschüre "Hungary: Democracy Reborn" mit den folgenden Worten geschildert: ,,Nachdem sie in unser jetziges Heimatland im Zentrum Europas eingewandert waren, nahmen unsere Vorfahren vor eintausend Jahren das Christentum und seine Institutionen an. So wählten sie den Westen, Europa- und wir Ungarn haben an dieser Entscheidung seither unbeirrt festgehalten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte Stalin, diese unsere Entscheidung rückgängig zu machen. Er zwang uns, ein politisches und wirtschaftliches System anzunehmen, das uns fremd ist. Ungarn war nur einer der vielen Staaten, in denen die Mehrheit des Volkes den Kommunismus als unwillkommen, ja, als abstoßend ansah. Aber in der Revolution von 1956 wurden wir die Pioniere aller Bemühungen, diesen Kommunismus loszuwerden."
Vor dem Hintergrund dieser Sätze möchte ich 1. die zentralen Charakteristika Europas skizzieren; 2. Ungarn anhand dieser Charakteristika als einen integralen Bestandteil Europas identifizieren; 3. die Erfahrung des kommunistischen Anschlags auf die Integrität Europas rekapitulieren und 4. schließlich einige der Konsequenzen nennen, die m. E. aus den Ereignissen von 1956 sowie jenen von 1989 I 90 zu ziehen sind.
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I.
Europa kann zweifellos rein geographisch definiert werden. Es umfaßt dann das Gebiet zwischen dem Atlantik, dem nördlichen Eismeer, dem Ural, dem Kaukasus und dem Mittelmeer. Diese Definition wird der Geschichte Europas, der Realität seiner engen inneren politischen Zusammenhänge, der Grundelemente seiner trotz mannigfaltig variierender Prägungen gemeinsamen Kultur sowie seiner gemeinsamen sozialen und ideengeschichtlichen Entwicklungen jedoch kaum gerecht. Europa ist weit mehr als ein geographischer Raum und eben nicht einfach nur einer unter fünf Kontinenten. Es ist vielmehr der eine Raum unter den fünf Kontinenten, der ungeachtet seiner vielfältig tiefen inneren Gliederungen, einheitliche Traditionen seiner kulturellen Entwicklung aufweist. Diese sind: a) die Tradition der griechischen, streng genommen, der athenischen Antike mit ihren philosophischen ebenso wie mit ihren naturwissenschaftlichen Impulsen; b) die Tradition der römischen, genauer, der lateinischen Kultur, die zum einen die griechische Antike in sich speicherte und zum anderen die Idee der Herrschaft von gesetztem Recht mit einer grammatikalisch besonders durchstrukturierten Sprache verband; c) die Tradition der jüdisch-christlichen Religion, deren Monotheismus und Offenbarung die Natur zu entgöttern und die Herrschaft von menschlicher Vernunft und Phantasie zu entfalten halfen; sowie d) die Tradition der angelsächsischen und französischen Aufklärung mit ihrer Forderung nach kodifizierten, unentziehbaren Menschen- und Bürgerrechten und ihrer Absage an den unbegrenzten Herrschaftanspruch des Staates gegenüber Individuum, Familie und Gesellschaft.
II.
Die Zugehörigkeit Ungarns zu einem Europa, das durch einheitliche, aber zugleich durchaus heterogene Kulturtraditionen definiert wird, wuchs, wie in den zitierten Worten Jeszenszkys angedeutet, nicht aus Entwicklungen, auf welche die Magyaren keinen Einfluß gehabt hätten. Sie ging vielmehr aus einer bewußten Entscheidung ihrer Führungseliten für ein solches Europa vor rund eintausend Jahren hervor. Nach einer mehrere Jahrhunderte währenden Wanderung hatten die Magyaren - ein animistisch-schamanistisch orientiertes zentralasiatisches Nomadenvolk - über den südlichen Ural und die heutige Ukraine kommend zwischen 895 und 897 die pannonische Tiefebene um Donau und Theiß in Besitz genommen, um dort in den kommenden Jahrhunderten seßhaft zu werden. Ihr bereits römisch-katholisch getaufter Großfürst Istvan nahm am 1. Januar 1001 die ihm vom Papst zugesandte Königskrone an und unterstellte sein Volk dem christlichen Glauben in dessen westlicher, lateinischer Version. Im Jahr 1022 trat erstmals der
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ungarische Reichssenat zusammen- nach dem 92 Jahre zuvor gegründeten isländischen Althing das zweitälteste Parlament Europas. Bis zum Jahr 1825 pflegte es seine Debatten in Latein zu führen und so die adaptierte westlich-europäische Kultur dauerhaft zu verinnerlichen. Mit der schriftlichen Fixierung der Rechte des Adels, der freien Bauern, der Bürger sowie der Hintersassen durch den König Kaiman im Jahre 1108 nahm diese in der Tat ihre eigene innerungarische Dimension an. Mit demselben Akt wurde übrigens erstmals im europäischen Raum der Sklavenhandel ins Ausland, wenn auch noch nicht die Sklaverei selbst, verboten. Wie die Niederschrift einer Grabrede auf Pergament belegt, wurde die ungarische Sprache seit Anfang des 13. Jahrhunderts in lateinischen Buchstaben geschrieben. In lateinischer Sprache liegt darüber hinaus die "Altungarische Marlenklage" aus der Mitte des 13. Jahrhunderts vor, eines der ältesten Dokumente ungarischer Literatur. Von 1240 bis 1242 und ebenso im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert stellte Ungarn eine der bedeutendsten Bastionen Europas bei der Abwehr mongolischer und tartanscher Überfalle dar. Für 173 Jahre fiel es gleichwohl unter türkische Fremdherrschaft, um aber 1699 in das europäische Staatensystem zurückzukehren. Ungarn hatte von nun an wieder intensiven Anteil an der europäischen Kulturgeschichte, aus der Literatur und Kunst im Lande ihre Anregungen bezogen, und bald auch wieder regen Anteil an der europäischen Kulturentwicklung, die es zunehmend befruchtete und bereicherte. Beides hatte zwar bereits im 16. Jahrhundert gegolten, wenn wir beispielsweise zum einen an die Lyrik Balassi Balints und zum anderen an die Bildnismalerei des ungarnstämmigen Albrecht Dürer denken, aber Ungarns Beiträge zur Entwicklung Europas sollten sich vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert entfalten. In der Malerei und der bildenden Kunst profitierten wir in hohem Maße von der natürlichen und sicheren Ästhetik der Magyaren, von den Arbeiten Munkacsy Mihalys, Rippl-R6nai J6zsefs, Reti Istvans oder Ivanyi-Grünwald Belas, um nur einige von vielen bedeutenden Malern des ungarischen Realismus und Impressionismus sowie des ungarischen Jugendstils zu nennen, der architektonisch seinen vornehmsten Ausdruck in der Stadt Keeskernet fand. Aus Europas Literatur sind die Namen von Vörösmarty Mihaly, Petöfi Sandor und J6zsef Attila nicht fortzudenken, aus Europas Musik nicht diejenigen von Liszt Ferenc, Bart6k Bela, Koda!y Zoltan und Kaiman Irnre. Nicht eben der geringste Beitrag Ungarns zur europäischen Kulturentwicklung sollte sich auch mit dem Namen Semmelweis Ignac, des "Retters der Mütter", verbinden. III.
Europa ist für uns in Traditionen, also historisch erprobten und eben deshalb überlieferten Konzepten und Praktiken erlaßbar und in seinen Bestandteilen durch die individuelle Leistung von Personen identifizierbar. Gegen dieses beides setzte die internationale kommunistische Bewegung unter bolschewistischer Führung und mit der sowjetischen Roten Armee sowie dem sowjetischen Geheimdienst-
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apparat als den zentralen operativen Instrumenten die Verheißung einer Utopie oder, mit anderen Worten, eine geschichts- und gesellschaftsfremde Zukunftsvision. Sie setzten dagegen den Versuch, die Realisierung dieser Vision durch die Korrektur des historischen Menschen, die Brechung seiner Individualität und die Entwürdigung seiner Persönlichkeit zu erzwingen. Die zentralen Charakteristika jener Kultur, die nach dem Willen der Anhänger der kommunistischen Doktrin Europa zunächst spalten und im Zeitablauf Schritt für Schritt ersetzen sollte, sind: 1. die intellektuelle, organisatorische und politische Vereinheitlichung des gesellschaftlichen Lebens; 2. die idealiter vollständige Kollektivierung der menschlichen Arbeit und die Trivialisierung ihres ethischen Sinns; 3. die Instrumentalisierung von Recht und Gesetz im Hinblick auf die Erfüllung eines vermuteten geschichtlichen Ziels, das mit einem hypothetischen Menschenwillen als übereinstimmend veranschlagt wird, sowie 4. die Entmündigung von Gesellschaft, Familie und Individuum durch eine Elite von vorgeblich Wissenden, die auf konspirative Weise zustandegekommen ist und sich auf diese Weise hinfort auch ergänzt bzw. regeneriert. Überall, wo Kommunisten die Regierungsmacht übernahmen, keineswegs allein innerhalb Europas, sondern in allen Teilen der Welt, innerhalb Europas aber aus historisch-kulturellen Gründen besonders schmerzhaft spürbar, setzten mit dem sogenannten "real existierenden Sozialismus" materielle Unterversorgung und bald allgemeine wirtschaftliche Rückständigkeit, intellektuelle Verarmung und bald allgemeine moralische Verwahrlosung, gesellschaftliche Desintegration und bald auch Zerfall von Familie und Verfall von Persönlichkeit ein. Die Ausbreitung von marxistisch-leninistischen Einpartei-Systemen in der Welt zog eine internationale Akkulturierung der betroffenen Gesellschaften durch Nivellierung von Leistung und Depravierung von Verhaltensweisen nach sich, die, wie die Konzepte und Praktiken kommunistischer Herrschaft, ohne Beispiel in der Geschichte ist. Der Prototyp des sozialistischen Menschen in Polen, Ungarn oder der DDR stand demjenigen in der VR China, Nordvietnam oder Kuba näher als dem Zeitgenossen in Frankreich, Österreich oder in der Bundesrepublik Deutschland. Der VolksChinese, Vietnamese oder Kubaner hatte mehr mit den Volksgenossen im mittelund osteuropäischen Raum gemein als mit den eigenen Landsleuten jenseits des Sozialismus. Das galt und gilt bis heute nicht allein im Hinblick auf die Nomenklatur des Sozialismus, sondern auch und, aus westlicher Sicht sogar vorwiegend, im Hinblick auf das mehr oder weniger unterbewußte Antwortverhalten des sozialistischen Menschen auf die Realität seines Systems.
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IV. Die ungarische Revolution von 1956 war nicht "Konterrevolution" der exproprierten Ausbeuterklasse gegen die Klasse der von ihr vonnals Ausgebeuteten. Sie war vielmehr ein allgemeines gesellschaftliches Aufbegehren gegen eine gewalttätige, doktrinbessene und zugleich leistungsschwache Herrschaftselite. So unmittelbar im Westen ihre Signalwirkung auf die anderen Einpartei-Herrschaften marxistisch-leninistischen Typs im europäischen Raum verstanden worden ist, so unzureichend wurde hier bis heute ihre weltweite Signalwirkung zur Kenntnis genommen. Obwohl das tapfere Aufbegehren des ungarischen Volkes scheiterte, ist kaum ein Blutopfer in der Weltgeschichte weniger sinnlos geblieben als jenes vom Oktober I November 1956. Die internationale kommunistische Bewegung sollte sich von der Erschütterung durch die Ungarn-Krise nicht mehr erholen. Der Gesellschaftskonflikt bildete hinfort das zentrale Trauma marxistischleninistischer Herrschaftseliten. Trotz anders lautender Wahrnehmungen westlicher Beobachter fesselte es Mao Tse-tung von Anfang an in besonderer Weise. In den Reaktionen dieses kommunistischen Führers drückte es aller weiteren Entwicklung sowohl innerhalb der VR China also auch innerhalb der kommunistischen Staatengemeinschaft sein eigenes Gepräge auf. Hier wie dort wurde die ungarische Revolution zu einem unmittelbar zersetzenden Fennent. Ihre Wirkung blieb darauf nicht beschränkt. Die ungarische Revolution bildete ebenso das moralische Fundament des späteren Dissidententurns im Sozialismus. Entsprechend hat der russische Dissident Andrej Amalrik 1977 fonnuliert: ,,Meiner Meinung nach war die ungarische Revolution von 1956 ein Wendepunkt in der Geschichte des kommunistischen Blocks . .. Die Revolution ist zwar niedergeschlagen worden, aber die Ungarn haben bewiesen, daß sie auch mit der Waffe in der Hand standhalten können . .. Die Ereignisse von 1956 in Osteuropa und in der Sowjetunion, die in der ungarischen Revolution ihren Höhepunkt erreichten, haben in mir und meinen Zeitgenossen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Mit vollem Recht nennen wir uns die Generation von 1956. Alles, was wir bisher getan haben, und auch alles, was wir in der Zukunft tun werden: Es baut auf der Grundlage dieses heroischen Jahres 1956 auf." (zit. nach: Emilio Vasari, Die ungarische Revolution von 1956, Stuttgart, 1981, S. 392 f.) Ähnliches läßt sich im Hinblick auf den Vorgang der überwiegend friedlichen Beendigung kommunistischer Herrschaft im europäischen Raum in den Jahren 1989190 feststellen, in dem Ungarn wiederum eine Vorreiterrolle spielte: Alles, was seither im Osten Mitteleuropas geschehen ist und auch alles, was in Zukunft noch zu tun sein wird, vennag auf der Grundlage dieser heroischen Zeit von 1989 I 90 aufzubauen. Was nun uns, die westlichen Zuschauer, betrifft, so stimmt gewiß, daß Dankbarkeit kein Kriterium ist, das in der Politik gilt, so sehr auch das ,,Lafayette, we are here!" der 1917 in Frankreich landenden amerikanischen Soldaten diesem Diktum zu widersprechen scheint. Indes ist offenkundig, daß uns die Rückkehr von Ungarn, Polen, Tschechen, Slowaken, Kroaten und Slowenen und ebenso der Volker der baltischen Staaten nach Europa eine Korrektur unseres
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Raumbewußtseins gebietet. Wir müssen wieder lernen, daß der Wawel von Krakau, der Hradschin und die Karlsbrücke in Prag, die Burg, die Kettenbrücke und das Parlament in Budapest zu uns gehört wie die Westminster Abbey in London, der Are de Triomphe in Paris, das Colosseum in Rom oder der Kaiserdom in Speyer. Eine Korrektur unseres Raumbewußtseins aber erfordert politische Entscheidungen. Sie erfordert die Sanktionierung der Rückkehr jener von der internationalen kommunistischen Bewegung willkürlich abgespaltenen Gesellschaften zu Europa durch Europas Solidarität und Bereitschaft, die Rückkehrer zu reintegrieren. Das ist es zugleich, was die Länder des ostmitteleuropäischen Raumes am dringendsten nötig haben: verbindliche Sicherheitsgarantien für die neu im Entstehen begriffenen Demokratien in der unmittelbaren Gegenwart und die sichere Aussicht auf einen Platz in der Europäischen Union in einer Zukunft, die bereits heute absehbar ist. Entscheidungen, die auf dieses beides hinwirken, entsprechen ohne jeden Zweifel einer gefühlten Gemeinsamkeit innerhalb Europas. In erster Linie aber entsprechen sie der Rationalität unserer Zeit. Das gilt sowohl innerhalb des europäischen Raumes, in dem wir mit jeder Erweiterung der Union gelernt haben, daß der effektive materielle Nutzen alle vermeintlichen Risiken bei weitem hinter sich läßt, als auch in der interkontinentalen Perspektive. Politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität in den ehemals kommunistisch regierten Staaten des europäischen Raumes können dazu beitragen, die historisch erprobten Konzepte und Praktiken Europas weltweit als emotional verbindlich und rational erstrebenswert erscheinen zu lassen. Daß derartige Signale vor allem an die Bevölkerung Chinas angesichts der ganz anders klingenden Signale aus dem Raum der früheren Sowjetunion bei gleichzeitig wachsenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der eigenen Sphäre von größter Bedeutsamkeil sind, ist offenkundig genug, um einer eingehenden Begründung entbehren zu können. Ungeachtet der Tatsache, daß uns manche Kommentatoren aus Politik, Journalismus und Wissenschaft gegenteilige Einsichten verkünden, ist es rational, Demokratie und Wohlstand - Europas innere Vernunft in die Welt hinauszutragen.
Autoren- und Herausgeberverzeichnis Prof. Dr. Dan Berindei
Rumänische Akademie der Wissenschaften, Bukarest
Prof. Dr. em. Jürgen Domes
Universität des Saarlandes- Sulzbach I Saar
Prof. Dr. William Griffith
MIT Boston I München
Prof. Dr. 1ibor Hajdu
Budapest
Prof. Dr. Ldsz/6 Kiss
Ungarisches Institut für internationale Angelegenheiten
Prof. Dr. György Litvan
Budapest
Prof. Dr. Hannes Saarinen
Universität Helsinki
Dr. Francoise Sirjacques-Manfrass
Paris
Prof. Dr. Dr. Heiner Timmermann
Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen I Universität Jena
Dr. Erich Wend/
Europäische Akademie Wien
6 Timmcrmann/ Kiss