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Table of contents :
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Dankeswort
Einleitung: Wohlfahrtsstaatlichkeit und Krise
1. Problemkontext
2. Zielsetzung und Struktur der Arbeit
I. Legitimationsstrategien
1. Schismen: Das Normativitätsproblem der Ökonomie
1.1. Das Neutralitätspostulat und die Folgen
1.1.1. Die Nachfrage nach Gestaltungswissen
1.1.2. Keynes und das Ende von Laisser-faire
1.2. Nutzenvergleiche und Umverteilung
1.3. Die Erfindung normativer Ökonomie
1.3.1. Pareto-Effizienz
2. Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem
2.1. Paretianische Strategien
2.1.1. Der naturrechtliche Ansatz in der Kritik
2.1.2. Wirkliche Freiheit
2.1.3. Kontraktualistischer Paretianismus: Status quo und natürliche Verteilung
2.2. Egalitaristische Strategien
2.2.1. Der Status quo als Legitimationsproblem
II. Realismus und normative Geltungsansprüche
1. Die Herausforderung normativer Theorie durch den libertären Realismus
1.1. Libertärer Realismus
1.1.1. Ist der Antinormativismus ein Realismus?
2. Normative Theorie und demokratische Willensbildung
3. Induktives und deduktives Verfahren
III. Umverteilung – ein Legitimationsmodell
1. Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordneteWohlfahrtsstaat
2. Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma
2.1. Das Autonomie-Paradigma: Eine Skizze
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Umverteilung als Legitimationsproblem
 9783495997598, 3495481559, 9783495481554

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Michael Schefczyk

Umverteilung als Legitimationsproblem STUDIENAUSGABE

BAND 71 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997598

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Zu diesem Buch: Dass die sozialstaatlichen Sicherungssysteme reformbedürftig sind, darüber besteht auch in Deutschland mittlerweile ein gesellschaftsweiter Konsens. Wenig Einmütigkeit herrscht indes bezüglich der Frage, welche theoretisch begründeten Leitbilder einer solchen Reform zugrunde liegen sollen. Die Politikphilosophie ist auf diese Herausforderung vergleichsweise schlecht vorbereitet. Erst vor wenigen Jahren begann in ihrem Rahmen eine differenziertere Auseinandersetzung mit normativen Fragen der Sozialstaatlichkeit. Dabei wurde jedoch gesellschaftstheoretischen Sichtweisen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. ›Umverteilung als Legitimationsproblem‹ verfolgt daher zwei Zielsetzungen. Das Buch unterbreitet zum einen methodische Vorschläge, wie die unterschiedlichen Perspektiven von Politikphilosophie und Gesellschaftstheorie integriert werden können. Zum anderen entwirft es vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher und philosophischer Überlegungen ein neues Legitimationsmodell für staatliche Umverteilung, das dem Gedanken individueller Autonomie einen besonderen Stellenwert zuspricht. Dr. Michael Schefczyk hat VWL und Philosophie studiert. Von 1998 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Seither ist er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politische Philosophie der Universität Zürich.

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Michael Schefczyk Umverteilung als Legitimationsproblem

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 71

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Michael Schefczyk

Umverteilung als Legitimationsproblem

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997598 .

Publiziert mit Untersttzung des Schweizerischen Nationalfonds zur Frderung der wissenschaftlichen Forschung und der Paul Schmitt Gedchtnisstiftung

2. Auflage 2005 Studienausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2003 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Fhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2005 ISBN 3-495-48155-9

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INHALT

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung: Wohlfahrtsstaatlichkeit und Krise . . . . . . . . .

11

1.

Problemkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

2.

Zielsetzung und Struktur der Arbeit . . . . . . . . . . .

34

Dankeswort

I. Legitimationsstrategien 1.

2.

. . . . . . . . . . . . . . . .

43

Schismen: Das Normativitätsproblem der Ökonomie . .

44

1.1. Das Neutralitätspostulat und die Folgen . . 1.1.1. Die Nachfrage nach Gestaltungswissen 1.1.2. Keynes und das Ende von Laisser-faire 1.2. Nutzenvergleiche und Umverteilung . . . . 1.3. Die Erfindung normativer Ökonomie . . . . 1.3.1. Pareto-Effizienz . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

48 56 62 65 68 77

Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem

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. . . . . .

2.1. Paretianische Strategien . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Der naturrechtliche Ansatz in der Kritik 2.1.2. Wirkliche Freiheit . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Kontraktualistischer Paretianismus: Status quo und natürliche Verteilung . . 2.2. Egalitaristische Strategien . . . . . . . . . . . 2.2.1. Der Status quo als Legitimationsproblem

. . . . . .

. . . . . .

. . . 87 . . . 88 . . . 109 . . . 122 . . . 136 . . . 137

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Inhalt

II. Realismus und normative Geltungsansprüche 1.

. . 173

Die Herausforderung normativer Theorie durch den libertären Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1.1. Libertärer Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1.1.1. Ist der Antinormativismus ein Realismus? . . 180

2.

Normative Theorie und demokratische Willensbildung . 195

3.

Induktives und deduktives Verfahren . . . . . . . . . . . 213

III. Umverteilung – ein Legitimationsmodell

. . . . . 233

1.

Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordnete Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . 236

2.

Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma . . . 246 2.1. Das Autonomie-Paradigma: Eine Skizze

. . . . . . 258

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Sachregister

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Michael Schefczyk

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Dankeswort

›Umverteilung als Legitimationsproblem‹ ist eine interdisziplinäre Arbeit. Dass ich zu diesem Unternehmen gelangt bin, hängt vor allem mit meinem Ausbildungsweg zusammen, der mich von der Philosophie zur Ökonomie und zurück geführt hat, über die Stationen München, Köln, Göttingen, Witten/Herdecke und Zürich. Es gilt daher nicht wenigen zu danken. Beginnen möchte ich mit Julian NidaRümelin, der vielleicht am konstantesten Einfluss genommen hat – nicht nur, weil er mich in München auf den Pfad der analytischen Tugend gebracht und mir viel vermittelt hat, woran ich mich nach wie vor orientiere; nicht nur, weil er mich darin bestärkt hat, nach dem Magister in Philosophie auch noch das Ökonomiestudium abzuschließen; sondern auch, weil er mich nach dem Diplom in Köln nach Göttingen und damit wieder in die Philosophie holte. Er setzte sich auch ein für ein Promotions-Stipendium bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, der ich an dieser Stelle nachdrücklich für die gewährte Unterstützung danke. In Göttingen habe ich philosophisch enorm von dem engen Austausch mit Thomas Schmidt und Karl-Reinhard Lohmann profitiert, und ein freundschaftliches Dankeswort an beide ist mehr als angemessen. Karl-Reinhard Lohmann habe ich überdies die Weichenstellung zu verdanken, die mich als Wissenschaftlichen Mitarbeiter an den Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke geführt hat. Bei Birger P. Priddat entstand die Dissertation, die 2001 von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultat der Universität Witten/Herdecke angenommen wurde und die ich hier in überarbeiteter Form der Öffentlichkeit übergebe. Die Zeit an seinem Lehrstuhl war äußerst inspirierend, und mit Dankbarkeit denke ich an die großzügige und unkomplizierte Art, mit der er die Leute machen lässt und ihnen dabei den Rücken freihält. Von dem intellektuellen Klima in Witten/Herdecke habe ich sehr profitiert, und ich denke, ich sollte – neben Birger Priddat – einige beim Namen nennen, von denen ich besonders gelernt habe: A

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Dankeswort

Reinhard Penz, Mark Peacock und Gerhard Wegner. Ihnen allen gilt mein freundschaftlicher Dank. Danken möchte ich auch dem Dekan Michael Hutter, der mir in heikler Situation organisatorisch den Weg freigemacht hat. Mein Pfad hat mich von Witten nach Zürich geführt, wo ich nun bei Georg Kohler Assistent am Lehrstuhl für Politische Philosophie bin. Ihm und den Kollegen am Seminar – allen voran Norbert Anwander, Susanne Boshammer, Andreas Heinle, Urs Marti und Peter Schaber – möchte ich ganz herzlich für die zahllosen Diskussionen danken, aus denen ich ungeheuer viel gelernt habe. Ein spezieller Dank geht an den Corti Visiting Fellow 2002 am Ethik Zentrum der Universität Zürich, Thomas Schmidt, der das gesamte Manuskript scharfsinnig kommentiert hat. Last but not least schulde ich zwei Institutionen Dank für ihre äußerst zügig gewährte finanzielle Unterstützung: Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (SNF) und die Paul Schmitt Gedächtnisstiftung unterstützen diese Publikation mit einem großzügigen Beitrag. Und zuletzt: Ein Dank an Lukas Trabert vom Alber Verlag für Geduld und Entgegenkommen. Zürich, 12. Juni 2003

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EINLEITUNG: WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT UND KRISE

»Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. […] Wir treten […] nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: hier ist die Wahrheit, hier knie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.« (Karl Marx)

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1. Problemkontext

1. Als 1971 John Rawls’ A Theory of Justice erschien, befand sich die politische Welt nach heutiger Zeitrechnung noch im social-democratic age. Es war dies eine Phase des gemäßigten Egalitarismus, der Vollbeschäftigung und der sich abrundenden sozialstaatlichen Absicherung, die in allen parteipolitischen Fraktionen gutgeheißen wurde. 1 Das sozialdemokratische Zeitalter endete zuerst in Großbritannien, dessen wirtschaftliche Nachkriegsentwicklung vergleichsweise unbefriedigend verlaufen war – und zwar im Zentrum: Im Oktober 1976 hielt der damalige Premierminister James Callaghan eine viel zitierte Rede auf dem Labour-Parteitag, in der er mitteilte, die Regierung glaube nicht mehr an die Möglichkeit »that you could just spend your way out of recession«. 2 Callaghan widerrief damit die Grundlagen des wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsvertrags in seiner bis zum damaligen Zeitpunkt verbindlichen Fassung. Den theoretischen Sockel des welfare state consensus der Nachkriegszeit stellte nämlich die Überzeugung, dass Arbeitslosigkeit – das soziale Kernrisiko kapitalistischer Gesellschaften – konjunktureller Natur sei und durch eine mangelnde gesamtgesellschaftliche Nachfrage bewirkt Bereits in den Fünfzigerjahren beschrieb Richard Titmuss die Lage in Großbritannien folgendermaßen: »Since then [1948], successive Governments, Conservative and Labour, have busied themselves with the more effective operation of the various services [of the ›welfare state‹], with extensions here and adjustments there and both parties, in and out of business, have claimed the maintenance of ›The Welfare State‹ as an article of faith.« (Titmuss 1958, 34) 2 »The cosy world we were told would go on forever, where full employment would be guaranteed at the stroke of the Chancellor’s pen, cutting taxes, deficit spending – that cosy world is gone … we used to think that you could just spend your way out of recession to increase employment by cutting taxes and boosting Government spending. I tell you in all candour that that option no longer exists and that insofar as it ever did it worked by injecting inflation into the economy.« (James Callaghan 1976 Conference Speech, zitiert nach Cockett 1994, 187) 1

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Problemkontext

werde; 3 Konjunkturschwankungen seien jedoch »kein unvermeidbares Schicksal und [könnten] durch staatliche Maßnahmen gemildert oder gar völlig behoben werden.« 4 Der Krisendiskurs über den Wohlfahrtsstaat begann demnach nicht als ein Legitimitätsdiskurs. Der Ausgangspunkt bestand vielmehr in dem Eingeständnis, dass die Instrumente der antizyklischen Stabilisierungspolitik an ihre Grenze gestoßen waren und dass damit das staatliche Vollbeschäftigungsversprechen in der bestehenden Form unerfüllbar geworden war. Da der Arbeitsmarkt für den institutionellen Komplex des damaligen Wohlfahrtsstaates zentral war, musste dies Rückwirkungen auf die Architektonik der sozialen Sicherung haben. 5 Keynes hatte bereits Mitte der Zwanzigerjahre die Ansicht vertreten, dass die Grundüberzeugungen des liberalen Kapitalismus im Niedergang begriffen seien. Ihre Plausibilität nehme ab wie die Lautstärke eines sich langsam entfernenden Orchesters. Doch erst eine Dekade später (mit der Veröffentlichung der General Theory) begannen sich die Umrisse eines grundsätzlich neuen Verständnisses der Zuständigund Möglichkeiten staatlicher Steuerung der Wirtschaft klarer abzuzeichnen. Nach anfänglicher Skepsis löste die General Theory eine Art Massenkonversion unter den britischen Ökonomen aus. Bereits im Jahre 1945 hatten ihre Ideen den Weg in die Regierung gefunden, als die Koalition in ihrem White Paper Massenarbeitslosigkeit als ein makroökonomisches Problem definierte, für dessen Bewältigung die Regierung Verantwortung trage. Damit war ein paradigmatischer Wechsel vollzogen. 6 Das politische System sprach sich selbst Fähigkeit und Verantwortung für die makroökonomische Steuerung der Wirtschaft zu. Die enge Verbindung von wohlfahrtsstaatlicher Expansion und keynesianischer Ökonomie legt die Bezeichnung Keynesian welfare state nahe, um die politökonomischen Formbildungen bis in die Siebzigerjahre zu charakterisieren. 7 Der keynesianische Wohlfahrtsstaat Berthold 1988 Felderer & Homburg 1991/1984, 179 5 »[Die] starke Abhängigkeit von der Beschäftigungsentwicklung stellt ein ökonomisches Schlüsseldilemma der sozialstaatlichen Systeme dar.« (Döring 1999, 17) 6 Clarke 1996 7 Jessop 1994 3 4

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EINLEITUNG

sichert die Vollbeschäftigung über die Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage mit geld- und fiskalpolitischen Instrumenten – durch Expansion und Kontraktion der Geldmenge, durch kontrazyklische öffentliche Ausgaben, durch die Regulierung von Konsumausgaben über die Variation von Beiträgen zur Sozialversicherung. Dabei ist entscheidend, dass das soziale Sicherungssystem auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten einer vollbeschäftigten industriellen Gesellschaft in einem stark regulierten weltwirtschaftlichen Umfeld abgestimmt wurde. In der ersten Phase der Nachkriegsentwicklung erwies sich diese politökonomische Struktur als äußerst erfolgreich. Hohes wirtschaftliches Wachstum, Vollbeschäftigung, expandierende Wohlfahrtsstaatlichkeit (und das heißt hohes inländisches Konsumniveau und hohe staatliche Ausgaben für Humankapital) bilden einen sich verstärkenden Zusammenhang, der die Politikziele ›steigendes Sozialprodukt‹ und ›Egalisierung von Einkommen‹ harmonisiert. Unter den wirtschaftlich günstigen Umständen der Nachkriegszeit trugen redistributionsstaatliche Programme zur Konsolidierung der Wirtschaft bei, etwa indem die Arbeitslosenversicherung das Konsumverhalten und damit die Binnennachfrage verstetigt, 8 oder das Erziehungssystem und die gesetzliche Unfallversicherung9 die Akkumulation und Erhaltung von Humankapital fördern. 10 In einer Volkswirtschaft, die sich in der Nähe des Vollbeschäftigungsgleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt befindet, wirkt die gesetzliche Arbeitslosenversicherung für die abhängig Beschäftigten bei konjunkturellen Schwankungen stabilisierend. In Phasen der konjunkturellen Überhitzung steigen die Beiträge und – bei entsprechendem Ausgabegebaren des Staates – vermindert sich die gesamtgesellschaftliche effektive Nachfrage. Dies wirkt in gewünschter »I find strong evidence that unemployment insurance does smooth individual consumption, and that the magnitude of such consumption smoothing is nontrivial. In the absence of UI [unemployment insurance], I estimate that the consumption of the unemployed would fall by 22 percent – over three times the average fall in the presence of this public program.« (Gruber 1997, 203) 9 Risa 1995 10 »By cushioning people against adverse economic shocks and facilitating life-cycle transfers, welfare states gave people greater opportunities to make appropriate matches between jobs and workers, rather than putting employers and employees under pressure to accept the first match that occurred. In this and other ways – such as provision of state education – welfare states helped to promote human capital and productivity growth.« (Snower 2000, 45) 8

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Problemkontext

Weise dämpfend auf die konjunkturelle Entwicklung. Das Umgekehrte gilt in Phasen konjunktureller Abkühlung. Hier führt die Auszahlung von Leistungen zu einer Stabilisierung der effektiven Nachfrage. Die gesetzliche Arbeitslosenversicherung entfaltet somit – unter günstigen Bedingungen – eine automatische Verstetigungswirkung für die wirtschaftliche Entwicklung. Pointiert könnte man sagen, dass darin im keynesianischen Wohlfahrtsstaat ihr hauptsächlicher Versicherungseffekt für die abhängig Beschäftigten bestehen sollte. Ende der Sechziger fiel das Resümee der stabilisierungspolitischen Erfahrungen so überwältigend positiv aus, dass es angemessen erschien, vom Ende des Konjunkturzyklus zu sprechen. 11 Man war – im Großen und Ganzen – zu der Überzeugung gelangt, dass die staatlichen Umverteilungsaktivitäten die inhärente Instabilität kapitalistischer Marktwirtschaften bewältigen und überdies Spielräume eröffnen für die Verfolgung emanzipatorischer und egalitaristischer Politiken. »In the light of the Keynesian doctrine of economic policy, the welfare state came to be seen not so much as a burden imposed upon the economy, but as a built-in economic and political stabilizer which could help to regenerate the forces of economic growth and prevent the economy from spiralling downward into deep recessions.« 12

2. Nach allgemeiner Ansicht war die ›Verschränkung‹ von Staat und Gesellschaft keine Folge reversibler politischer Entscheidungen, sondern eine aus den strukturellen Eigenarten des Kapitalismus folgende Entwicklung. Der ›organisierte Kapitalismus‹ (gekennzeichnet durch staatliche Intervention ›in die wachsenden Funktionslücken des Marktes‹ und die Ausbreitung oligopolistischer Marktstrukturen) trete an die Stelle des liberalen Konkurrenzkapitalismus. Dieser Übergang war aus marxistischer Sicht notwendig, aber defizitär, insofern er die Allokation knapper Ressourcen nicht politisch plante und damit zuließ, dass »sich die gesamtgesellschaftlichen Prioritäten naturwüchsig, nämlich als Nebenfolgen privater Unternehmensstrategien, herausbilden« 13 und nicht als Ergebnis vernünftigen kollektiKrugman 1999, 12: »By the late 1960s many started to believe that the business cycle was no longer a major problem; even Richard Nixon promised to ›fine-tune‹ the economy.« 12 Offe 1984, 148 13 Habermas 1973, 51 11

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EINLEITUNG

ven Entscheidens. Ob der ›Antagonismus zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Mehrprodukts‹ durch den organisierten Kapitalismus dauerhaft stabilisiert werde oder der Vergesellschaftung der Produktionsmittel weichen werde (und wenn Letzteres: ob dies revolutionär oder evolutionär geschehe) – dies waren leidenschaftlich debattierte Fragen. 14 Unabhängig von den jeweiligen Antworten war man sich jedoch einig, dass die angemessene Analyseperspektive soziale, politische und wirtschaftliche Problemlagen auf strukturelle Widersprüche des kapitalistischen Systems beziehen müsse und dass alle zu beobachtenden gesellschaftlichen Phänomene systematisch als Ausdruck der »adaptiven Selbsttransformation des Systems« 15 zu verstehen seien. Planifikation, keynesianische Makrosteuerung, »sozialdemokratische Reformpolitik, wohlfahrtsstaatliche Daseinsvorsorge, pluralistische oder korporativistische Organisation des Klassenkompromisses, rüstungsintensive Technologiepolitik, multinationale Großunternehmen und bürokratisierte Interessengruppen« konnten so unter dem Stichwort der Selbstadaption des Kapitalismus verhandelt werden. 16 Die Überzeugung, dass die Verschränkung von Staat und GeFührende marxistische Theoretiker jener Tage hielten die Frage offen, beispielsweise Offe 1972, 21: »Der Vorschlag nämlich, die inhärente Selbstwidersprüchlichkeit sowohl zum begrifflichen Konstituens von ›Kapitalismus‹ wie zum Bezugspunkt einer Analyse kapitalistischer Systeme zu machen, impliziert für sich genommen keinerlei Spekulation über die langfristige historische Überlebensfähigkeit dieser Formation. Dieser Vorschlag beabsichtigt lediglich, einen Rahmen für die funktionale Analyse historischer Transformationen innerhalb kapitalistischer Systeme zu etablieren […]« 15 Offe 1972, 25 16 »Eine Theorie des Spätkapitalismus muss versuchen, folgende Fragen zu klären. Zunächst: – bieten die Strukturen des Spätkapitalismus Raum für eine evolutionäre Selbstaufhebung des Widerspruchs einer vergesellschafteten Produktion für nicht verallgemeinerbare Ziele? – wenn ja, welche Entwicklungsdynamik führt in diese Richtung? – wenn nein, welches sind die Krisentendenzen, in denen sich der temporär verdrängte, aber ungelöste Klassenantagonismus äußert? Sodann: – reichen die Strukturen des Spätkapitalismus aus, um die ökonomische Krise auf Dauer abzufangen? – wenn nein, führt die ökonomische Krise, wie es Marx erwartet hat, über die soziale Krise zur politischen, mit anderen Worten: kann es im Weltmaßstab einen revolutionären Klassenkampf geben? – wenn nein, wohin wird die ökonomische Krise verschoben? […] Ich sehe im Augenblick keine Möglichkeit, die Frage nach den Chancen der Selbsttransformierung des Spätkapitalismus mit triftigen Argumenten zu entscheiden. Aber ich schließe die Möglichkeit nicht aus, dass die ökonomische Krise auf die Dauer abgefangen werden kann, obgleich nur in der Weise, dass die kontradiktorischen Steuerungsimperative, die sich im Zwang zur Kapitalverwertung durchsetzen, eine Reihe anderer Krisentendenzen erzeugen.« (Habermas 1973, 59, 60) 14

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Problemkontext

sellschaft eine Überwindung des Kapitalismus der liberalen Phase darstelle, war jedoch keineswegs auf marxistische Analysen beschränkt. Der privatwirtschaftliche Verkehr in der Industriegesellschaft schien in so hohem Maße von hoheitlichen Ordnungsleistungen abhängig, dass sich eigene Formen wenn nicht der Verstaatlichung, so zumindest der Kollektivierung der Wirtschaft herausbildeten und als angemessen und modern angesehen wurden. In der deutschen Soziologie versuchte vor allem Schelsky diese neue politikökonomische Formation mit dem Begriff der Technokratie zu umschreiben. Technokratisch sind Gesellschaften, in denen Herrschaft nachpluralistisch durch eine autoritär-administrative Struktur ausgeübt wird. Zwei Elemente zeichnen sie vor allem aus: »die umfassende Zuständigkeit des Staatsapparates für die Lösung aller gesellschaftlichen Teilprobleme und die Schlichtung sozialer Konflikte einerseits, durch den Verlust von Partizipationschancen und demokratischen Teilhaberechten andererseits, an deren Stelle jener mysteriöse ›Sachzwang‹ getreten sei, der als Steuerungszentrum des politisch-administrativen Prozesses angesprochen wird.« 17

Die Loyalitätsbeschaffung dieses Systems arbeitet – so die These – nicht auf der Grundlage demokratischer Mobilisierung und Partizipation, sondern durch »distributive Pazifisierung«. 18 Von marxistischer Seite, namentlich in Habermas’ Schrift Wissenschaft und Technik als ›Ideologie‹, wurde allerdings bezweifelt, dass die sozialen Entschädigungsleistungen auf Dauer den Loyalitätsbedarf des politischen Systems zu decken vermöchten. Der ›spätkapitalistische Wohlfahrts- und Daseinsvorsorgestaat‹ gerät zum ›Subjekt sämtlicher für die Stabilität des Systems relevanten Reformund Anpassungsstrategien‹ ; nur innerhalb der ökonomischen Sphäre könne er aber auf die Anreizsteuerung setzen. »Ein technokratischer Staatsapparat ist deshalb bei der Erfüllung seiner Regulierungsfunktionen auf Hilfsquellen angewiesen, die er im ›vorpolitischen‹ Bereich kultureller Disziplinierungen und tradierter Interesseninterpretationen vorfinden muss.« 19

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Offe 1972, 107 Offe 1972, 113 Offe 1972, 114 A

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EINLEITUNG

Gesellschaft – so die These – wird durch den spätkapitalistischen Staat zur Hilfsagentur politischer Steuerung degradiert. Einer solchen Analyse muss liberales Insistieren auf eine regelgebundene Eingrenzung hoheitlicher Macht als theoretisch zurückgeblieben gelten. Neben der Vorstellung, unregulierte Wettbewerbsmärkte seien keine Orte spontaner Ordnungsentstehung und Selbstregulierung, sondern tendierten zur Anomie, 20 kam die Theorie monopolistischer Konkurrenz dem Gedanken des Supremats der Politik entgegen. Zunächst von Joan Robinson und E. S. Chamberlin entwickelt, kritisierte sie nicht, dass atomistischer Wettbewerb zu Chaos führe, sondern stellte fest, dass er – falls er überhaupt jemals bestehe – dazu tendiere, in monopolistische oder oligopolistische Marktstrukturen überzugehen. Wer die Theorie monopolistischer Konkurrenz anerkannte, opferte die Möglichkeit, die kapitalistische Ordnung mit Hinweis auf die Pareto-Optimalität des Wettbewerbsgleichgewichts zu rechtfertigen. Die Ausbeutung von Monopolmacht durch private Wirtschaftssubjekte wurde zu einem Faktor, mit dem zu rechnen war, und es lag nahe, die politische Kontrolle dieser Macht – in letzter Instanz: deren Verstaatlichung – zu fordern. 21 In eine ähnliche Richtung wirkten Konvergenztheorien, deren Prototyp Schumpeter in Capitalism, Socialism, and Democracy entwickelte. Im siebten Kapitel über den ›Prozess der schöpferischen Zerstörung‹ argumentiert Schumpeter, Innovationswettbewerb und nicht Preiskonkurrenz sei wesentlich für das Verständnis des Kapitalismus. Dies führte ihn einerseits zu einer neuen Beurteilung der Bedeutung produktionseinschränkender Maßnahmen. Wenn die etablierten monopolistischen Jüngst bei Ulrich & Maak 2000, 14: »Besonders die entfesselte Eigendynamik der globalen Finanz- und Kapitalmärkte – manche sprechen vom ›wild gewordenen KasinoKapitalismus‹ – und die scheinbar unaufhaltsame Welle gigantomanischer Firmenfusionen entlarven die derzeit tonangebenden Wirtschaftspolitiker als Zauberlehrlinge in Goethes Sinn: Die ›Geister‹, die sie mit ihrer Politik der internationalen ›Liberalisierung‹ und ›Deregulierung‹ riefen, werden sie nun anscheinend nicht mehr los und sie haben sie – entgegen ihren jahrelangen Beteuerungen – ganz offensichtlich in keiner Weise unter Kontrolle.« 21 Myrdals Beyond the Welfare State kombinierte die Chaos- und die MarktmachtArgumentation für staatliche Intervention. In der Zusammenfassung bei Sandmo 1991, 220: »Public intervention in the market mechanism therefore becomes necessary both (as we would say today) for efficiency and equity reasons; first ›to prevent the actual disorganisation of society which would result from the organisation of the individual markets‹ and second, in order to prevent those who have acquired a strong bargaining power from exploiting the others.« 20

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Problemkontext

oder oligopolistischen Anbieter dem Druck von Neuerungen auf die bestehende Struktur einer Industrie ausgesetzt sind, so diszipliniert dies die Nutzung ihrer Marktmacht. Sie sind gezwungen, Monopolgewinne in Forschung und Entwicklung zu investieren und damit die Ausdehnung von Produktions- und Konsummöglichkeiten voranzutreiben. Schumpeter war überzeugt, »dass die Großunternehmung zum kräftigsten Motor dieses Fortschritts [des Innovationswettbewerbs] und insbesondere der langfristigen Ausdehnung der Gesamtproduktion geworden ist […] Es ist deshalb ein Fehler, die Theorie der staatlichen Regulierung der Industrie auf das Prinzip zu gründen, dass die Großunternehmung so arbeiten sollte, wie die entsprechende Industrie es bei vollkommener Konkurrenz täte.« 22

Die Konzentration wirtschaftlicher Macht in großen Unternehmen hat nun aber nach Schumpeter bedeutende Rückwirkungen. Es kommt zu einer Mechanisierung und Bürokratisierung technologischen Fortschritts, so dass der genuin kapitalistische Persönlichkeitstypus, der des Unternehmers, seine soziale Funktion verliert. »Dies erschüttert […] die Stellung der gesamten bürgerlichen Schicht […] Die wahren Schrittmacher des Sozialismus waren nicht die Intellektuellen und Agitatoren, die ihn predigten, sondern die Vanderbilts, Carnegies und Rockefellers.« 23

Schumpeters Begründung für die These, Großunternehmen seien Wegbereiter des Sozialismus, hebt unter anderem auf den Einfluss kleiner und mittlerer Unternehmertypen auf das Wahlverhalten ihrer Mitarbeiter (er spricht von der ›Vorarbeiterklasse‹) ab. Der Unternehmer personifiziert liberal-kapitalistische Kerninstitutionen, wie Vertragsfreiheit und Privateigentum; über seinen persönlichen Einfluss wird das politische Verhalten der Vorarbeiterklasse gelenkt. Entfällt diese Lenkung, so entfallen die politischen Stützen, auf denen der institutionelle Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft ruht. Nun sieht der Bourgeois, »dass die rationalistische Einstellung nicht vor den Vollmachten von Königen und Päpsten Halt macht, sondern weiterschreitet zur Attacke gegen das Privateigentum und das ganze Schema von bürgerlichen Werten.« 24

22 23 24

Schumpeter 1942/1993, 174, 175 Schumpeter 1942/1993, 217, 218 Schumpeter 1942/1993, 231 A

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EINLEITUNG

So weit in groben Umrissen das schumpetersche Szenario. Von gänzlich anderen Ausgangspunkten und mit einer gehörig verschiedenen Argumentation gelangte er zu derselben Schlussfolgerung wie der Marxismus: »dem kapitalistischen System wohnt eine Tendenz zur Selbstzerstörung inne […]«. 25 Alle genannten Dimensionen greifen in der Überzeugung von der Obsoletheit der Theorie des klassischen Liberalismus ineinander: Die These, dass die Unternehmerfunktion obsolet geworden sei und durch Planungsroutinen des Managements und der Administration ersetzt werde; 26 die Vermutung, dass sich die Verflechtung zwischen hoheitlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren in einem Maße verstärken wird, welches die Unterscheidung zwischen privater oder politischer Verfügung über Produktionsmittel (Kapitalismus oder Sozialismus) relativiert; die Auffassung, dass die Zurückdrängung des liberalen Kapitalismus Ergebnis eines irreversiblen historischen Lernprozesses war: »The dominant account that prevailed into the 1970s was strongly pro-welfare and could be seen as a social-democratic variant of the Whig interpretation of history. This chronicles the magnificent journey whereby, as reform succeeded reform, we arrived at that largely satisfactory state which is the present.« 27

3. Diese Einschätzung änderte sich im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig in den Jahren nach der ersten Ölkrise, während derer die Verwundbarkeit des keynesianischen Wohlfahrtsstaates für makroökonomische Schocks deutlich wurde. Seine Institutionen sind auf die Verstetigung der wirtschaftlichen Entwicklung in Industriegesellschaften abgestellt. Angesichts der Preisentwicklung auf den Rohölmärkten, der demographischen Entwicklungen, des technologiSchumpeter 1942/1993, 261 »In 1968 John Kenneth Galbraith wrote, ›With the rise of the modern corporation, the emergence of the organization required by modern technology and planning and the divorce of the owner of capital from control of the enterprise, the entrepreneur no longer exists as an individual person in the mature industrial enterprise.‹ […] The information industries, however, shook up the industrial order. […] this provided fertile ground for free-market ideas, even the libertarianism of Wired. […] In the 1990s the old idea that wealth is the product of virtue, or at least of creativity, made a comeback.« (Krugman 1999, 14, 15) 27 Hirst 1994, 158 25 26

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schen und organisationalen Wandels wurde aber gerade der auf Verstetigung angelegte Charakter sozialstaatlicher Arrangements zum Problem. Sie waren geschaffen worden, um Lebensbedingungen innerhalb industrieller Klassengesellschaften gegen konjunkturelle Schwankungen abzuschirmen. Technologische und arbeitsorganisatorische Entwicklungen sowie veränderte weltwirtschaftliche Parameter forderten nun allerdings strukturelle Anpassungen, das heißt genau jene radikale Veränderung von Lebensbedingungen, die der wohlfahrtsstaatliche Gesellschaftsvertrag ausschließen sollte. Mit Ausnahme Großbritanniens haben die europäischen Wohlfahrtsstaaten auf den spürbar werdenden Problemdruck strukturkonservativ reagiert und erst in den Neunzigerjahren verstärkt Reformen eingeleitet. Das Beispiel Schwedens ist besonders interessant, weil es lange Zeit als Paradefall für die gleichzeitige Erreichbarkeit einer egalitären Einkommensverteilung und eines starken wirtschaftlichen Wachstums unter kapitalistischen Rahmenbedingungen einstand. Seit Anfang der Achtzigerjahre waren Anzeichen einer tiefen strukturellen Krise in Schweden erkennbar: Die Produktivität wuchs nur noch langsam, die Inflationsrate und das staatliche Budgetdefizit waren hoch, was zu häufigen Währungsabwertungen führte. Zwischen 1990 und 1993 fiel dann die industrielle Produktion in Schweden um 17 %, um einen Wert also, der ungefähr dem Einbruch während der Großen Depression entsprach; als Folge stieg die Arbeitslosenquote – wenn die in Programmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik Beschäftigten eingerechnet werden – auf 14 %. Die schwedische Regierung reagierte auf diese Entwicklung unter anderem mit der Einsetzung einer Kommission, der führende Ökonomen des Landes angehörten. 28 Sie wurde damit beauftragt, Hypothesen über die Ursachen der wirtschaftlichen Krise Schwedens zu formulieren. Im Jahre 1994 erschien ihr international stark beachteter Bericht unter dem Titel Turning Sweden Around. Neben dem Aufweis einer Reihe vermeidbarer Fehler der makroökonomischen Politik – wie dem inkonsistenten Versuch, die Währung stabil zu halten, ohne die Inflation zu kontrollieren – übte die Gruppe unter Federführung von Assar Lindbeck grundsätzliche ordnungspolitische Kritik am Wohlfahrtsstaat. Als zentrale Ursachen der Ineffizienz der schwedischen Wirtschaft machte sie sowohl die gesetzliche Regulie28

Kritik und Metakritik des Kommissionsberichts bieten: Korpi 1996, Agell 1996. A

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rung der Arbeitsmärkte sowie die Lohnpolitik der Tarifparteien aus als auch ein großzügiges Sozialsystem, das mit einem hohem Niveau an Staatsausgaben und einem entsprechend belastenden Steuer- und Abgabensystem einhergeht. 29 Die solidarische Lohnpolitik hat im Verbund mit einem stark progressiv ausgestalteten Steuer- und Transfersystem zu einer ungewöhnlich egalitären Einkommensverteilung geführt. Doch wurden mit der Umverteilung von hoch zu niedrig qualifizierten Arbeitnehmern insgesamt die Anreize zu Investitionen in das Humankapital geschwächt. 30 Die ökonomische Krise Schwedens wurde als eine politisch erzeugte Krise diagnostiziert, die eine selbstzerstörerische Dynamik in Gang setze. Den Ausbau des öffentlichen Sektors hatte man vornehmlich mit dem Ziel betrieben, Stabilität des ökonomischen Status zu gewährleisten und Sicherungen gegenüber Marktkontingenzen verfügbar zu machen. Doch die institutionellen Strukturen können die erhoffte Abschirmung gegen makroökonomische Schocks gar nicht leisten. Die Umverteilungsanstrengungen der Politik – so der Grundgedanke des Berichts – haben die Effizienz des Marktsystems gestört, indem sie Investitionen durch Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik verhinderten, damit aber die Entstehung von Arbeitslosigkeit förderten und die fiskalische Überlastung durch Kompensationszahlungen auslösten: »The public sector, therefore, has tended to undermine its own foundations.« 31

Die von Turning Sweden Around propagierte Problembeschreibung wurde während der Neunzigerjahre zunehmend in ganz Europa akzeptiert: Institutionen, die zur Sicherung gegen marktspezifische Risiken konstruiert wurden und unter entsprechenden Voraussetzungen die Produktivität einer Volkswirtschaft steigern können, erwiesen sich als Krisenverstärker. Die Verlangsamung wirtschaftlichen Wachstums konnte durch staatliche Intervention ebenso wenig aufgefangen werden wie die anschwellende Arbeitslosigkeit. Steigende Sozialausgaben verstärken vielmehr die Krisentendenzen, indem »In particular, wage formation tends to conflict with the need for a flexible labor market, because relative wages have to a large extent become tools for redistributive ambitions.« (Lindbeck et al. 1994, 7) 30 »Der Zusammenbruch der zentralen Lohnpolitik zu Ende der 80er Jahre war dann auch mit einem beträchtlichen Anstieg der Einkommensdifferenzen verbunden.« (Berthold & Hank 1999, 63) 31 Lindbeck et al. 1994, 14 29

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sie negativ auf das wirtschaftliche Anreizsystem einwirken. Während die Arbeitslosenrate in den Vereinigten Staaten nach dem Ende der Rezession wieder auf das vorherige Niveau zurückkehrte, blieb sie in wirtschaftlich wichtigen europäischen Staaten unverändert hoch. Dies hat nach Snower insbesondere damit zu tun, dass keynesianische Sozialstaaten Marktrisiken auf eine Weise konsolidieren, die tendenziell im Schadensfall die Leistung der Kompensation unmöglich macht: »Thus the welfare state does not provide social insurance. It redistributes, and thus does not insure. On this account, the welfare state becomes particularly vulnerable to adverse macroeconomic shocks. These shocks increase the number of people requiring transfers and reduce the number paying taxes, and thus they make a generous welfare state unaffordable. It is well-known that the free market mechanism does not provide insurance against macroeconomic shocks (for then it is impossible to offset the bad risks by good risks). What is less well known is that the state cannot do so either.« 32

4. Während Dennis Snower auf die Unfähigkeit des keynesianischen Wohlfahrtsstaates verweist, makroökonomische Schocks zu verarbeiten, heben Bob Jessop und Franz-Xaver Kaufmann auf die Transformation der Produktionsbasis und soziokulturelle Wandlungen ab, um die These seiner Obsoletheit zu begründen. 33 Für den in der Tradition der neo-marxistischen Staatstheorie stehenden Jessop ist der keynesianische Wohlfahrtsstaat die politische Organisationsform des fordianischen Kapitalismus, der sich durch standardisierte Massenproduktion, einen hohen Grad an vertikaler Integration und starken politischen Einfluss der gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiterschaft auszeichnet. Indessen sei die kapitalistische Entwicklung in die post-fordistische Phase eingetreten. An die Stelle der standardisierten Massenproduktion tritt eine an hochgradig ausdifferenzierten Konsummustern orientierte Wirtschaft, die neue organisationale Formen hervorbringt. Dauerhafte arbeitsvertragliche Verhältnisse verlieren gegenüber projektbezogenen Werkverträgen an Bedeutung. Damit entfallen auch die Konstanzannahmen des keynesianischen Wohlfahrtsstaates. Unter diesen Bedingungen kann Vollbeschäftigung nicht durch makroökonomisches Nachfragemanagement, sondern allein durch »a flexible and permanently innovative 32 33

Snower 2000, 46 Jessop 1994; Kaufmann 1997 A

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pattern of accumulation« 34 erreicht werden. Der nach-fordistische Staat passt sich diesen neuen Anforderungen des ökonomischen Unterbaus an, indem er Produktivitätsfortschritte fördert »in order to strengthen as far as possible the structural competitiveness of the national economy by intervening on the supply-side; and to subordinate social policy to the needs of labour market flexibility and/or the constraints of international competition. In this sense it marks a clear break with the KWS [Keynesian Welfare State] as domestic full employment is de-prioritised in favour of international competitiveness and redistributive welfare rights take second place to a productivist re-ordering of social policy.« 35

Diese neue Staatsform bezeichnet Jessop als Schumpeterian workfare state. 5. Die Kritik am Sozialstaat und Hinweise auf seine Reformbedürftigkeit wurden im sozialdemokratischen Spektrum der Wissenschaft zunächst überwiegend als ein Ruf nach seiner Abschaffung aufgenommen und mit entschlossenen Bekundungen beantwortet, das historische Erbe gegen modische Ideologien zu verteidigen. Manche sahen allerdings, dass es um mehr ging als einen mood swing des Zeitgeistes, und gestanden zu, dass wohlfahrtsstaatliche Institutionen in der bestehenden Form langfristig nicht würden gehalten werden können. Da man nach wie vor überzeugt war, dass sie Funktionsbedingungen kapitalistischer Marktwirtschaften darstellen, ergab sich ein aporetisches Analyse-Szenario. Denn wenn die marktliberale Kritik stichhaltig war und der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus seine eigenen Grundlagen untergräbt – dann war damit keineswegs gezeigt, dass ein fortgeschrittener Kapitalismus ohne Wohlfahrtsstaatlichkeit überhaupt möglich ist. Claus Offe brachte diese Aporie Anfang der Achtzigerjahre folgendermaßen auf den Punkt: »Even more significant, however, is the second failure of the conservative analysis; its failure to demonstrate that ›advanced-capitalism-minus-thewelfare-state‹ would actually be a workable model. The reasons why it is not, and consequently why the neo-laissez-faire ideology would be a very dangerous cure even if it could be administered, are fairly obvious. In the absence of large-scale state-subsidized housing, public education and health services, as well as extensive compulsory social security schemes, the working of an industrial economy would be simply inconceivable. […] the sudden disappea34 35

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Jessop 1994, 19 Jessop 1994, 24

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rance of the welfare state would leave the system in a state of exploding conflict and anarchy. […] The contradiction is that while capitalism cannot coexist with, neither can it exist without, the welfare state.« 36

Offe gehorcht hier noch dem spätmarxistischen Analyse-Schema, wenn er systematisch nach Grundwidersprüchen Ausschau hält. Weder mit dem noch ohne den Wohlfahrtsstaat könne der Kapitalismus existieren. Freilich wird hier die Problembeschreibung bewusst dramatisch zugespitzt. Denn die marktliberale Kritik verwies auf die Notwendigkeit einer Transformation und wollte nicht auf die Abschaffung jeglicher sozialer Sicherung staatlicherseits hinaus – und wo sie auf mehr aus gewesen sein mag (wie im Falle Thatchers), setzten ihr die politischen Präferenzen der Bevölkerung klare Grenzen. 37 Damit verschob sich die Aufmerksamkeit im Laufe der Achtziger und Neunziger von dem großen Substantiv ›Wohlfahrtsstaatlichkeit‹ auf das Kleingedruckte: Welche sozialstaatliche Institution leistet in welcher Weise einen dauerhaft durchzuhaltenden Beitrag zur Stabilisierung und Humanisierung des Kapitalismus? Das Ende des Keynesian welfare state consensus bedeutet also nicht das Ende des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus. Es geht vielmehr um die Konsequenzen veränderter wirtschaftlicher, sozialer und theoretischer Parameter für die institutionelle Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Für diese Einschätzung spricht, dass die fortgeschrittenen Wirtschaftsnationen ausnahmslos – in der einen oder anderen Form – ein öffentliches Schulsystem und Gesundheitswesen sowie Sozialversicherungen in staatlicher Regie aufgebaut haben und die Schwellenländer im Begriff sind, dies zu tun; es gibt nur wenige Indizien dafür, dass sich Wohlfahrtsstaatlichkeit als solche überlebt hätte. 38 Der moderne Kapitalismus ist und wird auf absehOffe 1984, 148, 153 Eine gewisse Berühmtheit erlangte ihre Beteuerung, das National Health Service sei »save in our hands«. »Despite Reagan and Thatcher’s electoral success, polls consistently indicated that each was perceived to treat the poor unfairly. Popular hostility to programs for the poor, which had helped to elect Reagan and Thatcher, dissipated rapidly. The recognition that equity concerns posed a potential threat to their political support forced both leaders into a series of retreats from efforts to directly cut programs benefiting the poor. […] the means-tested programs are highly visible symbols of a government’s attitude toward the poor. Both Reagan and Thatcher learned that cutting these programs risked tarnishing their images on important issues.« (Pierson 1994, 127) 38 Zu den emerging welfare states siehe Beiträge in: Esping-Andersen 1996. 36 37

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bare Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit ein welfare state capitalism bleiben – allerdings mit Gestaltungsmerkmalen, die sich vom Wohlfahrtsstaat keynesianischer Prägung unterscheiden. Die Stichworte der politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte sind entsprechend Begriffe wie ›Reform‹ und ›Restrukturierung‹ und nicht ›Abschaffung‹ oder ›Delegitimierung‹ des Sozialstaats. Und meine Generalhypothese lautet im Anschluss an Bob Jessop, dass sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ein schumpeterianischer Wohlfahrtsstaat durchsetzen wird – ein Wohlfahrtsstaat mithin, der institutionelle Instrumente benutzt, die auf eine Ermöglichung autonomer Lebensführung in einem von permanentem strukturellem Wandel geprägten gesellschaftlichen Umfeld ausgelegt sind. Ziel dieser Arbeit ist es, plausibel zu machen, dass eine solche politökonomische Formation normativ – unter spezifischen Bedingungen – gerechtfertigt ist. 6. Welche theoretischen Mittel sind nötig, um diesem Ziel näher zu kommen? Der natürliche Ausgangspunkt liegt hier sicherlich in der philosophischen Gerechtigkeitstheorie, namentlich bei Rawls. Anders als beim Rechtsstaat war die Entwicklung des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus der politikphilosophischen Legitimation vorausgeeilt. 39 Im Erscheinungsjahr von A Theory of Justice trat die Expansion der Sozialstaatlichkeit international gerade in ihre Hochphase. Das Begründungsdefizit der wohlfahrtsstaatlichen Praxis schien nun durch eine nachgereichte Legitimation grundsätzlich behoben. 40 Rawls hatte – nach Auffassung vieler Interpreten – eine theoretische Rechtfertigung dafür geliefert, dass Ungleichheit und die private Verfügung über Produktionsmittel im Rahmen eines kapitalistischen Wohlfahrtsstaates unter spezifischen Bedingungen als Kersting 2000, 58 Rawls hatte sich in dieser Hinsicht vorsichtiger ausgedrückt, als er rezipiert wurde. Ihm zufolge ist es nicht Aufgabe der Gerechtigkeitstheorie, die Frage zu entscheiden, ob die Produktionsmittel in privatem oder öffentlichem Eigentum stehen sollten: »Die Frage, ob Privateigentum oder Sozialismus, bleibt offen; die Grundsätze der Gerechtigkeit dürften von verschiedenen Grundstrukturen erfüllt werden.« (Rawls 1971/1979, 291) Insofern geschah es gegen seine Absicht, wenn darüber spekuliert wurde, ob er in A Theory of Justice einen wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus oder eine Form von Marktsozialismus habe verteidigen wollen. Er wollte weder das eine noch das andere, ging es ihm doch erklärtermaßen um die Ausformulierung einer Theorie, die solche Fragen offen lässt. In Justice as Fairness gibt Rawls dieses Zurückhaltung auf und spricht sich – einen Begriff des Ökonomen James Meade aufgreifend – für das Gesellschaftsideal einer Eigentümer-Demokratie aus.

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gerecht akzeptiert werden können. Allerdings sah sich die als Apologie des Sozialstaats wahrgenommene Konzeption von Rawls schon bald einer doppelten Herausforderung ausgesetzt. Auf der einen Seite erschien 1974 Nozicks Anarchy, State, and Utopia, ein Buch, das ideologisch von völlig anderem Zuschnitt war als die Arbeit von Rawls. Nozick legte kein geschlossenes Werk vor, sondern eher eine Sammlung inspirierter Einzelstudien, die sich gleichwohl zu einem Gesamtbild fügten: dem eines radikal-libertären Politikverständnisses. Inhaltlich griff er Motive von Locke auf, methodisch wählte er nicht, wie Rawls, eine makrotheoretische Perspektive auf die gesellschaftliche Grundstruktur, sondern eine von natürlichen individuellen Rechten ausgehende Mikroanalyse. Damit erhöhte Nozick die Anschlussfähigkeit der Gerechtigkeitstheorie an Verfahrensweisen und Argumentationstechniken des allgemeinen philosophischen Diskurses. Auf der anderen Seite konkurrierte Buchanans The Limits of Liberty von 1975 mit dem Entwurf von Rawls. Buchanans Buch hat innerhalb der philosophischen Diskussion weniger Aufmerksamkeit erregt. Anders als Anarchy, State, and Utopia war es durch die wirtschaftspolitische Agenda des klassischen Liberalismus bestimmt. In einer an Hobbes anknüpfenden Argumentation fragt Buchanan, wie der leviathanischen Macht des wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus Grenzen gesetzt werden können. Die inhaltliche Radikalität, der Ausbildungshintergrund des Autors und insgesamt die Machart des Buches führten dazu, dass die philosophische Debatte sich ungleich stärker für Anarchy, State, and Utopia interessierte, obwohl es einen vergleichsweise schwachen Bezug zur gesellschaftstheoretischen und politischen Diskussion hatte. Es ist wohl nicht zuletzt Nozicks Insistieren auf micro-tests geschuldet, dass sich die gerechtigkeitstheoretische Debatte immer mehr von gesellschaftstheoretischen Fragestellungen und Modellbildungen absetzte und sich zu einer Normwissenschaft entwickelte, die von Intuitionen über gerechte Verteilungen ausgeht. Dieser Trend hat sich völlig unabhängig von den jeweiligen ideologischen Orientierungen durchgesetzt und gilt für Egalitaristen wie für Anti-Egalitaristen gleichermaßen. Gerechtigkeitstheorie als Normwissenschaft geht davon aus, dass es so etwas gibt wie Konstruktionsprinzipien einer gerechten Gesellschaft, die weitgehend unabhängig von gesellschaftstheoretischen Beschreibungen gefunden werden können. Die Theorie einer gerechten Gesellschaft kann als Theorie einer idealen GesellA

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schaft entwickelt werden. Den Gesellschaftswissenschaften wird die auxiliare Aufgabe angewiesen, institutionelle Arrangements zu finden, die eine bestmögliche Annäherung an das Ideal erlauben, das die Gerechtigkeitstheorie vorgibt. Mit anderen Worten, die von Rawls eingeleitete (aber später von ihm nicht weiter verfolgte) Theorieentwicklung deutet Politikphilosophie als reine Normwissenschaft, die mit der Explikation abstrakter moralischer Intuitionen befasst ist. Dass Nozicks Buch nur einen schwachen Bezug zur politischen Realität hat, schien sich (aus Sicht der Politikphilosophie) mit dem Machterwerb der Regierungen Reagan oder Thatcher schlagartig zu ändern. Durch ihn erlangte Nozick den unverdienten Nimbus eines Vordenkers der neuen Rechten. Zwischen dem konservativen Zeitgeist und Nozicks Apologie des reinen Rechtsschutzstaates sahen viele ein tiefes Einverständnis, und es entstand der Eindruck, wer Nozick zurückweise, habe damit auch die Kritik an sozialstaatlichen Arrangements abgewehrt. Die Aufwertung Nozicks hat dazu geführt, dass mit seiner Erledigung die normative Sozialstaatskritik als ganze erledigt schien. Mit anderen Worten, bis in die Neunzigerjahre tendierte die Politikphilosophie überwiegend zu einer apologetischen Haltung gegenüber den etablierten Formen der Sozialstaatlichkeit, verknüpft zuweilen mit anti-zyklischen Forderungen nach deren Ausbau. 41 Fragwürdig an dieser Haltung ist, dass sie die Legitimationskrise des Wohlfahrtsstaates allein als Ergebnis einer verlorenen intellektuellen Hegemonie und gewandelter normativer Einstellungen ansieht und entsprechend auf der Ebene rein normativer Argumente bewältigen will. Diese Krise ist jedoch ein weitaus komplexeres Phänomen und gehört auch in den Kontext der fiskalischen und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten, in welche die bestehenden Arrangements geraten sind. Soll diese Dimension im Blickfeld der Theorie gehalten werden, so erweist sich der analytische Kontext der philosophischen Gerechtigkeitstheorie als unzureichend.

In dieser Hinsicht exemplarisch: Dworkin 1983. Nancy Fraser hat in den Neunzigerjahren einen neuen Diskussionsstrang innerhalb der linken Politikphilosophie eröffnet, indem sie eine Umstellung der postsozialistischen politischen Grammatik von Gleichheitsforderungen auf Forderungen nach Anerkennung diagnostizierte. Seyla Benhabib 1999 hat meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, dass Forderungen nach Anerkennung im fraserschen Sinne mit Umverteilungsforderungen verknüpft sind.

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Das Syndrom einer Normwissenschaft ohne Gesellschaftstheorie erinnert an eine Kritik, die Hegel unter dem Eindruck der Französischen Revolution geübt hatte. Der Standpunkt eines ›abstrakten Sollens‹ und der politische Terror bildeten für ihn eine Wirkungseinheit, die notwendige Affektabfuhr eines Normativismus, der den weltlichen Dingen ahnungslos, hilflos und zuletzt blindwütig brutal gegenübersteht. Marx folgte ihm in dieser Haltung, und zu seinen ungebrochen aktuellen Einsichten dürfte gehören, dass die Form des politischen Philosophierens sich wandeln müsse: Normative und gesellschaftsanalytische Probleme sind nur simultan zu bearbeiten, und dies hat Einfluss auf den kategorialen Apparat. Die Überzeugung, dass zwischen sozialwissenschaftlichen Beschreibungen von Sachverhalten, Mechanismen, Strukturen einerseits und Aussagen über das politisch oder moralisch Wünschenswerte andererseits eine natürliche Einheit besteht, scheint einleuchtend genug. 42 Denn ohne diese Beschreibungen wissen die änderungswilligen Akteure buchstäblich nicht, was sie ändern. Sie haben keine angemessene Vorstellung des Zustandes, in dem ›die Welt‹ sich befindet, ihre Ideen über das, was diesen Zustand erklärt, sind unzureichend, ihre Bewertungen der Lage verfehlt, und überdies haben sie keine akzeptable Auffassung über die Aussichten einer gezielten Intervention in den Weltzustand: Sie kennen weder die möglichen Ansatzpunkte für die Umsetzung ihrer Vorstellungen, noch wissen sie um die Schwierigkeiten – Hindernisse oder kontraproduktiven Effekte –, mit denen zu rechnen ist. 7. Auf der anderen Seite ist es der Gesellschaftstheorie, insbesondere der Ökonomie, nach wie vor nicht gelungen, ihr Normativitätsproblem zu lösen. Kurz nach der Jahrhundertwende wurden an der Universität Cambridge auf Betreiben von Alfred Marshall Wirtschaftswissenschaft und Philosophie im Prüfungszusammenhang entflochten, und die eigenständige Entwicklung beider Disziplinen nahm ihren Lauf. Mit einiger Wahrscheinlichkeit haben die Protagonisten dieser Scheidung die dadurch ausgelösten Folgeprobleme unterschätzt. Insofern das Projekt ›Ausdifferenzierung‹ von der Hoffnung auf Produktivitätsgewinne durch Arbeitsteilung getragen worden war, erwies es sich als Fehlschlag. Denn die verschiedenen Stellen im arbeitsteiligen Prozess ›Philosophie‹ und ›Gesellschafts42

Skyrms 1996, 109 A

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theorie‹ begannen zunächst ihre eigene Komplexität zu steigern und erstellten in der Folge Leistungen, die mit denen der anderen Seite zunehmend inkompatibel wurden. Damit entstand für die politischen Akteure ein interessanter Handlungsspielraum. Die Inkompatibilität des gesellschaftstheoretischen und des philosophisch-normativen Codes eröffnete die Chance der unsystematischen Signalauswahl – gerade rechtzeitig zur Öffnung des politischen Systems für die Massen und zu dem damit einhergehenden Komplexitätszuwachs der Politik, die nun nicht mehr mit der liberalen Programmierung ›Schutz von Eigentum und Vertragsfreiheit‹ durchkam. Die normativ neutralisierte Wirtschaftswissenschaft – dies zeigte sich erstmals in der Tariff Reform Campaign von 1903 – hatte einer interventionistischen Politik nicht viel entgegenzusetzen, die nun beispielsweise begann, mit Zöllen politisch-normative Ziele wie ›Stärkung der Einheit des Imperiums‹ zu verfolgen. Just während die universitäre Trennung von der Philosophie als normativer Disziplin vollzogen wurde, verlor der Laisser-faire-Gedanke selbst in Großbritannien zusehends an Einfluss, also dort, wo er traditionell die größte Wirkung auf die Wirtschaftspolitik entfaltet hatte. Die Wirtschaftswissenschaften fanden sich in der Situation wieder, als politische Ratgeber nachgefragt und benötigt zu werden, eben als sie die volle Emanzipation von philosophisch-normativen Fragestellungen annoncierten. Die Entwicklung des interventionistischen Staates wurde somit nicht durch die Systematik dessen begleitet, was die klassische politische Ökonomie angelegt hatte: eine positive und normative Analyse umgreifende Moralwissenschaft. 43 Für die Ökonomie beginnt eine Geschichte methodologischer Verlegenheiten, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Teils versucht man, das Normativitätsproblem durch das Zweck-Mittel-Schema zu bewältigen. Die offensichtlichen Unzulänglichkeiten dieser Lösung führten jedoch bereits in den Dreißigerjahren zur Entwicklung der paretianischen Wohlfahrtsökonomie als einer eigenständigen normativen Theorie innerhalb der WirtschaftsHartmut Kliemt schreibt, die Britischen Moralisten »hätten die uns vertraute scharfe disziplinäre Aufteilung zwischen einzelnen moralwissenschaftlichen Gebieten eher merkwürdig gefunden. Es war für sie klar, dass das gleiche Modell menschlichen Verhaltens in allen Bereichen der Moralwissenschaft unterschiedslos Anwendung finden und damit diese Disziplinen eine natürliche Einheit bilden mussten.« (Kliemt 1993a, 281). Bereits bei Adam Smith wirkten allerdings starke zentrifugale Kräfte zwischen Moraltheorie und Ökonomie, und von einem einheitlichen Verhaltensmodell in A Theory of Moral Sentiments und Wealth of Nations kann keine Rede sein.

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wissenschaft. Diesmal kam der Impuls aus Oxford und nicht aus Cambridge. John Hicks beschwor 1939 wörtlich die Gefahr eines sanften Todes der Ökonomie, ›the euthanasia of our science‹, wenn die positivistische Methodologie fordere, dass sie sich in allen politischen Entscheidungsfragen neutral verhalten müsse. Er suchte daher ein normatives Kriterium, das einen integralen Bestandteil der Ökonomie selbst bildete, ›an integral part of economics‹, und fand es im Begriff der Effizienz. Die Autarkiebestrebungen der Ökonomie waren somit durchaus erfolgreicher als die der Philosophie – denn sie verfügte über beides: über ein geschlossenes Beschreibungs- und Bewertungssystem, das unabhängig von den Beiträgen anderer Disziplinen arbeiten kann und zudem bemerkenswert resistent ist gegenüber externer Kritik. Freilich lag bald nach der Etablierung des Paretianismus offen zutage, dass hier eine reduzierte Form von Politikphilosophie fest in die Ökonomie eingebaut worden war. Die Ökonomie bemühte sich jedoch rasch um eine Normalisierung der Situation. So hielt Paul Samuelson 1954 in Foundations of Economic Analysis dem Paretianismus in einer eigentümlichen Formulierung zugute, ›relative wertfrei‹ 44 zu sein, weil sich die ursprüngliche Einschätzung, das ParetoKriterium sei wertneutral, nicht durchhalten ließ. Insgesamt waren die Manöver, mit denen die Ökonomie gegen eine neuerliche Allianz mit philosophischer Reflexion abgeschirmt werden sollte, jedoch nicht überzeugend. Erst die Herausbildung heterodoxer Strömungen, namentlich der Constitutional Political Economy, die sich als eine Synthese klassischer politischer Ökonomie und kontraktualistischer Philosophie versteht, machte erklärtermaßen die Separierung der Fächer rückgängig und reanimierte den Gedanken der Moralwissenschaft oder, wie man vielleicht besser sagen sollte, einer umfassenden Sozialphilosophie liberaler Prägung. Ähnliches gilt für Entwicklungen innerhalb der Österreichischen Schule. Jedoch verbinden sich Constitutional Political Economy und Österreichische Schule – wie ich im Laufe der Arbeit an verschiedenen Stellen zeigen werde – entschieden mit handlungstheoretischen, normativen und metaethischen Annahmen, die den Gedankenaustausch mit der zeitgenössischen Philosophie eher blockieren als fördern. Das ändert aber nichts daran, dass es unter anderem diesen heterodoxen Strömungen zu verdanken ist, wenn die disziplinären Grenzen, die 44

Samuelson zitiert nach Hackmann 1987 (das Kursive i. O. deutsch) A

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positivistische Denkweisen gezogen hatten, wieder zugunsten des moralwissenschaftlichen Projektes relativiert wurden. 8. Auf philosophischer Seite ist man an dem Nachweis interessiert, dass die in der Ökonomie unternommenen Versuche einer reduktionistischen Abschließung des normativen Diskurses scheitern müssen. So wird die These über die Unbegründbarkeit von Werturteilen angegriffen oder das ökonomische Rationalitätsverständnis als zu eng kritisiert, um den normativen Diskurs über die Legitimation von Umverteilung wieder für das Gerechtigkeits-Kriterium zu öffnen. Dies löst aber nicht das Problem der Anschlussfähigkeit des gerechtigkeitstheoretischen Diskurses an die Gesellschaftswissenschaft oder die Problemwahrnehmungen politischer Akteure, das so lange besteht, wie sich die Gerechtigkeitstheorie als Theorie idealer Welten versteht oder – wie Brennan und Hamlin es ausdrücken – als desirability approach. 45 Gerechtigkeitstheorie ist somit dem Einwand ausgesetzt, dass sich Umverteilung als Legitimationsproblem sinnvoll nur im Ausgang von – dem Anspruch nach – realistischen Beschreibungen stellen lässt. Es ist entscheidend, den realistischen Einwand gegen eine nicht auf den Effizienzbegriff eingeschränkte normative Theorie richtig zu justieren. Die Forderung nach einer realistischen Einschätzung von Gesellschaft wird häufig verstanden als Skepsis gegenüber dem Gedanken normativer Theorie überhaupt. Realismus ist für viele gleichbedeutend mit Antinormativismus, etwa im Sinne Gordon Tullocks, der von moralischen Prinzipien sagt, sie hätten einen wichtigen politischen Effekt: Sie etablierten einen Markt für Scheingründe. Ähnlich skeptisch gegenüber den Potentialen normativer Theorie äußert sich Niklas Luhmann, wenn er die Wirtschaftsethik als Symptom einer harmlosen, aber lästigen Krankheit bezeichnet: der Appellitis; oder Brian Skyrms, welcher der Philosophie rät, zunächst die Gesellschaft beschreiben zu lernen, bevor sie anfange, ihr Vorschriften zu machen. Bedenken gegenüber der Abstraktheit oder den unzulässigen Simplifikationen normativer Theorien müssen aber nicht notgedrungen zur Skepsis gegenüber der Begründbarkeit oder gesellschaftlichen Relevanz von normativen Geltungs»Liberalism, egalitarianism, socialism, communism and feminism all share the characteristic focus on a particular conceptualisation of the good or the right, and all attempt to derive political prescriptions from consideration of that concept. The desirability approach represents the best developed approach to normative theorising […]« (Brennan & Hamlin 1995, 281–282)

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ansprüchen führen. Die Kritik an dem bereits von Hegel kritisierten ›Standpunkt des abstrakten Sollens‹ wäre auf diesem Wege zu weit getrieben worden. Die richtige Replik auf den Normativismus der Gerechtigkeitstheorie scheint mir darin zu liegen, das deduktive Verfahren aufzugeben und durch ein induktives zu ersetzen. Das induktive Verfahren der Politikphilosophie knüpft an vergleichsweise komplexe Modelle institutioneller Strukturen an. Ich greife hier die Konstruktion von Idealtypen wohlfahrtsstaatlicher Ordnung auf, wie sie, in je unterschiedlicher Weise, von Alan Peacock, Robert Goodin und Gøsta Esping-Andersen entwickelt wurden. Die Autoren zeigen, dass die drei Grundformen von Wohlfahrtsstaatlichkeit – liberales, emanzipatorisch-sozialdemokratisches und konservativ-kommunitaristisches Modell – nicht aus abstrakten normativen Prinzipien abgeleitet werden, sondern in ein Geflecht von mehr oder weniger stimmigen Überzeugungen eingelagert sind über das Funktionieren des politischen und wirtschaftlichen Prozesses, über die Ursache des sozialpolitischen Problems, über die Möglichkeiten, Gesellschaft zu steuern und – last but not least – über die dabei maßgeblichen Werte und Ziele. Die vorliegende Untersuchung erarbeitet im letzten Teil die Skizze eines neuen Idealtyps wohlfahrtsstaatlicher Ordnung, den ich in Abgrenzung zum liberalen, sozialdemokratischen und konservativen Modell das Autonomie-Paradigma nenne.

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2. Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zu der Frage zu leisten, für welche Form staatlicher Umverteilungspolitik überzeugende normative Gründe sprechen. Insofern kann sie als ein – wenn auch abstrakter und indirekter – Beitrag zur Debatte um die Reform des Wohlfahrtsstaates gelesen werden. Im Vorangegangenen habe ich angedeutet, dass weder die Gerechtigkeitstheorie noch die normative Ökonomie unmittelbar auf Fragen institutioneller Gestaltung und Umgestaltung angewendet werden können. Ich habe es daher nötig gefunden, vergleichsweise viel Arbeit in die Reflexion von Problemen zu investieren, die sich aus methodologischen Haltungen und wissenschaftsorganisatorischen Entscheidungen ergeben haben. Die methodische Hauptbotschaft lautet, dass die Frage nach Umverteilung als Legitimationsproblem nur im Rahmen dichter normativer Modelle angemessen gestellt werden kann. Normative Aussagen über Umverteilung müssen – meine ich – in einen gesellschaftsanalytischen Modellkontext eingelagert werden. Die normative Hauptbotschaft lautet, dass Umverteilungsinstitutionen im Kern der Produktion und Reproduktion von individueller Autonomie dienen sollen. Das Eingangskapitel ›Schismen. Das Normativitätsproblem der Ökonomie‹ rekonstruiert zum einen theoriegeschichtlich spezielle Episoden der Entstehung paretianischer Ökonomie und gibt eine Lesart ihrer Vorgeschichte; in diese Rekonstruktion ist eine wirtschaftshistorische Parallelgeschichte eingewoben, die Korrelationen methodologischer und zeitgeschichtlicher Entwicklungen konstruiert. Die Parallelgeschichte handelt von dem simultanen Ende der Laisserfaire-Wirtschaftspolitik und des methodologischen Neutralitätspostulats. Obwohl die Ökonomie zum Zeitpunkt der systematischen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung mit dem Paretianismus über eine eigene normative Theorie verfügte, hat dieser in der Gründungsphase des Wohlfahrtsstaates (im Gegensatz zu heute) keine Rolle ge34

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Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

spielt. Nicht normative, sondern positive, namentlich keynesianische, Theorie hat die frühe Expansionsphase angeleitet; Keynes wiederum hat bereits in den Zwanzigerjahren Anliegen (liberal socialism) und Losungen (end of laissez faire) formuliert, ohne die der New-Deal-Liberalismus von Rawls bis Waldron kaum denkbar wäre. Dieser Teil der Arbeit heißt ›Schismen‹, weil er die zur Vorgeschichte des Paretianismus gehörende Abspaltung der Ökonomie von der Philosophie (das erste Schisma) auf die Differenzen zwischen Liberalen und Libertären (das zweite Schisma) bezieht. Zwischen beiden Schismen scheint es ein Entsprechungsverhältnis zu geben, das für die Bewertung von Umverteilung unmittelbar relevant ist. Es folgt mit ›Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem‹ eine Darstellung paradigmatischer Positionen der Philosophie. ›Der naturrechtliche Ansatz in der Kritik‹ stellt zunächst die radikale Umverteilungskritik Nozicks und die gegen sie erhobenen Einwände dar. (A) Eine Art von Einwand beruht auf der These, dass bestimmte Formen von Umverteilungspolitik durch moralische Rechte auf und Pflichten zur Hilfsleistung gerechtfertigt sind; wenn die Erfüllung dieser Rechte bzw. Pflichten staatlich erzwungen wird, stellt dies keine Verletzung des Gebots dar, Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zwecke zu behandeln. Nozicks Kritik liegt, diesem Einwand zufolge, eine Moraltheorie mit einem völlig ungenügenden Verständnis von natürlichen Rechten und Pflichten zugrunde. (B) Die zweite Replik verfährt als immanente Kritik und argumentiert, Nozick habe verkannt, dass aus dem von ihm anerkannten lockeschen Vorbehalt Kompensationspflichten entsprängen, mit denen sich die üblichen Institutionen des Sozialstaates rechtfertigen ließen. 1 (C) Eine dritte Art von Einwand stellt auf den Freiheitsbegriff ab und kritisiert den libertären Freiheitsbegriff von Nozick und Hayek als einen Fetischismus der Rechte. Dieser Kritik ist der Abschnitt ›Wirkliche Freiheit‹ gewidmet. (D & E) Ein weiterer Typ von Erwiderung weist die Vorstellung ›natürlicher Rechte‹ zurück. Rechte von Individuen bestehen nicht unabhängig von jeglicher Staatlichkeit, sondern werden durch diese gestiftet. Zu prüfen sei daher, ob (und wenn ja: welche Form von) Umverteilungspolitik sich als Bestandteil eines zustimmungsfähigen 1

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EINLEITUNG

Gesellschaftsvertrages rekonstruieren lasse. Unter den möglichen kontraktualistischen Repliken auf Nozicks naturrechtlichen Ansatz sind zwei unterschiedliche Formen besonders wichtig: der libertäre Entwurf von Buchanan (D) und der egalitaristische von Rawls (E). Buchanans Ansatz wird in ›Kontraktualistischer Paretianismus: Status quo und natürliche Verteilung‹ dargestellt, der von Rawls in ›Der Status quo als Legitimationsproblem‹. Das Schlechterstellungsverbot besagt in Buchanans Auslegung, dass Individuen keine Zustandsänderungen zugemutet werden dürfen, die nicht ihren Präferenzen entsprechen. Allerdings sind hier wichtige Qualifikationen anzubringen. Buchanan zufolge gilt das Schlechterstellungsverbot überhaupt erst mit der Errichtung einer gemeinsamen rechtlichen Ordnung. Die Vorstellung ›fairer Ausgangsbedingungen‹ fällt ebenso wie die ›natürlicher Rechte‹ der Metaphysikkritik anheim. Gegen Buchanan wende ich ein, dass Fragen der Verteilung von Erträgen vernünftigerweise bereits vor dem Eintritt in den Zivilzustand reflektiert würden, und zwar unter Rückgriff auf Gerechtigkeitsvorstellungen. Ein solcher Rückgriff erweist sich deshalb als nötig, weil der Appell an das Eigeninteresse der Parteien nicht ausreicht, um eine für alle ex ante akzeptable und ex post stabile Verhandlungslösung auf Grundlage einer ›natürlichen Verteilung‹ zu bestimmen. Der Übergang zu Rawls ist daher nicht allein und nicht vorrangig dadurch motiviert, dass Buchanans Theorie moralisch nicht überzeugt, sondern dass sie keine einsichtige Lösung für das Verteilungsproblem zu geben vermag. Gesellschaftliche Verteilungskonflikte erzeugen das Bedürfnis nach einer Argumentationsregel, die von den Ursachen der Uneinigkeit zu abstrahieren erlaubt. Ich werde darlegen, dass der Forderungsgehalt des Differenzprinzips (bei Berücksichtigung empirischer Daten und Modelle) auf eine politökonomische Struktur hinausläuft, die Rawls im Anschluss an James Meade property-owning democracy nennt. Selbst wenn Rawls’ Lösung des Problems einer Legitimation des Status quo unter den Bedingungen idealer Theorie akzeptiert wird, ist ihr normativer Status damit noch nicht gesichert. Denn der Gedankengang von Rawls steht im Zeichen einer Reihe idealisierender und normalisierender Modellannahmen. Er beansprucht keine realistische Sicht der Motivation von realen Akteuren oder der Eigenschaf36

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Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

ten realer politischer Prozesse. Daher sieht er sich dem Einwand ausgesetzt, der normativen Theorie mehr zuzutrauen, als realistischerweise von ihr erwartet werden kann. Im Kapitel ›Realismus und normative Geltungsansprüche‹ setze ich mich daher mit Überlegungen auseinander, denen zufolge der Status normativer Theorie und deren Politikempfehlungen sich grundlegend ändern, wenn ein realistischer Standpunkt eingenommen wird. Dies ist zugleich die Reprise des schon in ›Schismen‹ angeklungenen Themas der Differenz zwischen Liberalen und Libertären. Libertären Realismus nenne ich ein in der Ökonomie verbreitetes Überzeugungsmuster, das gegenüber den Geltungsansprüchen der normativen Theorie und des demokratischen Prozesses skeptisch eingestellt ist, und zwar nicht aufgrund naturrechtlicher Überzeugungen, sondern aufgrund einer – dem Anspruch nach – realistischen Sicht menschlicher Interaktion im Allgemeinen und politischer Angelegenheiten im Besonderen. Der libertäre Realismus, nicht Nozicks Anarchy, State, and Utopia bildet meines Erachtens die politisch wirksame intellektuelle Herausforderung für die Legitimation der Umverteilung. Das Kapitel ›Realismus und normative Geltungsansprüche‹ gilt der Klärung des Verhältnisses erstens von normativer Theorie und realistischer Kritik des Wohlfahrtsstaates und zweitens von normativ-theoretischer und demokratischer Legitimation. In der Neuen Politischen Ökonomie werden wohlfahrtsstaatliche Arrangements überwiegend als Ergebnis der Nutzung hoheitlicher Macht durch eigeninteressierte Akteure gesehen. Vereinfacht gesagt lautet die These: Während Gerechtigkeitstheorien fordern, die Situation der am wenigsten Begünstigten zu verbessern, bestimmen in Mehrheitsdemokratien faktisch die Interessen der Medianwähler die Struktur politischer Institutionen – und diese decken sich typischerweise nicht mit der Erfüllung jener Forderung. Die Arbeit würdigt den Wunsch, normative Theorie auf realistische Standpunkte zu stellen, lehnt jedoch den pauschalen Antinormativismus der Neuen Politischen Ökonomie ab. Mein Vorschlag lautet, folgende Strategie für die normative Analyse politischer Institutionen zu benutzen: Wenn einem externen Beobachter eine Institution (aufgrund einer normativen Theorie wie des libertären Realismus) illegitim erscheint, so wird diese augenscheinliche Illegitimität nicht auf Irrationalität, böse Absichten, die Logik des politischen Prozesses oder historische Kontingenzen zurückgeführt. Vielmehr wird die Existenz von Gründen – normativ oder positiv – angenommen, welche die bestehenden InstiA

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EINLEITUNG

tutionen gut begründet erscheinen lassen – Gründe, die möglicherweise von Externen schwer zu beobachten sind. Diese Präsumtion ist als eine Suchregel zu verstehen, nicht als eine quasi-hegelianische Annahme über die Vernünftigkeit der Wirklichkeit. Unter Rückgriff auf den rawlsschen Gedanken vom Überlegungsgleichgewicht werde ich argumentieren, dass in demokratischen Institutionen deskriptives und präskriptives Wissen verkörpert ist – und dass jede normative Theorie weniger komplex ist als dieses institutionell verkörperte Wissen. Umgekehrt ist institutionell verkörpertes normatives Wissen weniger systematisch als das normativer Theorie. Demokratischer Prozess und normative Theorie sind insofern konkurrierende Modi der Generierung von Geltungsansprüchen. Eine Theoriebildung, die sich dessen bewusst ist, wird daher zwischen den Gründen, die demokratisch legitimierte Institutionen fundieren, und den Prinzipien normativer Modelle – wie Rawls schreibt – ›hin- und hergehen‹. Legitimationsmodelle von Umverteilung werden überprüft, indem das von ihnen beschriebene Ideal an institutionell verkörpertem Wissen überprüft wird, einem Wissen, das seinerseits Gegenstand der Kritik durch das Legitimationsmodell ist. Der abschließende Abschnitt des zweiten Teils, ›Induktives und deduktives Verfahren‹, bietet eine Kritik der in der Gerechtigkeitstheorie üblichen Neutralisierungsstrategie. Die Neutralisierungsstrategie versucht normative Theorie gegenüber empirischen Geltungsansprüchen abzuschirmen. Leitend ist dabei die Vorstellung, die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft könnten fixiert werden, ohne zugleich die Institutionen einer solchen Gesellschaft zu benennen. Politikphilosophie wird derart in eine Normwissenschaft überführt, die Implikationen von Gerechtigkeitsintuitionen bestimmt. Der Generaleinwand lautet: Wünschbarkeitsansätze sind in normativer und in positiver Hinsicht unterkomplex. Die Arbeit wirbt daher für ein induktives Verfahren, das nicht von Intuitionen und Prinzipien, sondern von (mehr oder weniger) kohärenten Überzeugungsmustern ausgeht. Ich unterscheide ›dichte‹ und ›dünne‹ gesellschaftstheoretische Modelle. 2 Beispiele für dichte Modelle sind Ich benutze diesen Begriff in Analogie zu der Rede von thick concepts, mit der Bernard Williams Wertungen bezeichnet, die mit komplexen Beschreibungen verknüpft sind. »The way these notions are applied is determined by what the world is like (for instance, by how someone has behaved), and yet, at the same time, their application usually involves a certain valuation of the situation, of persons or actions. Moreover, they usually (though not necessarily directly) provide reasons for action.« (Williams 1985, 129–130)

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Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

sozialwissenschaftliche Idealtypen, Beispiele für dünne Modelle spieltheoretische Strukturen. Den politikphilosophischen Legitimationsdiskurs an dichte Modelle anzuschließen, hat einen Relevanz-, einen Referenz-, einen Operationalisierungs- und einen Pluralitätstoleranz-Vorteil. Das Abrücken vom desirability approach, von der Konstruktion abstrakter Idealwelten, bringt die Aufgabe mit sich, empirisch dichtere Beschreibungen von Wohlfahrtsstaatlichkeit zu geben. Dieser Aufgabe stellt sich Teil III: ›Umverteilung – ein Legitimationsmodell‹. Wohlfahrtsstaatlichkeit wird in der soziologischen und politologischen Literatur in drei Typen gruppiert, die unterschiedlichen welfare philosophies (Alan Peacock) entsprechen. Die Krise des Wohlfahrtsstaates analysiere ich entsprechend als eine Krise der etablierten welfare philosophies. In ›Normative Theorie und demokratische Willensbildung‹ argumentiere ich, dass Hayeks Idee von der Dispersion des Wissens auch auf den Prozess politischer Gestaltung auszudehnen ist. Für demokratische Gesellschaften ist es angemessen, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates unter der systematischen Annahme zu analysieren, dass die etablierten Institutionen vernünftige Problemlösungen darstellen. Im ersten Abschnitt ›Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordnete Wohlfahrtsstaat‹ möchte ich entsprechend kurz darlegen, (i) worin sich wohlfahrtsstaatliche von armenrechtlichen Formen sozialer Sicherung unterscheiden, (ii) warum der Sozialstaat sich gegen armenrechtliche Sozialpolitik universell durchgesetzt hat und (iii) welche seiner grundlegenden Gestaltungsmerkmale aus Sicht armenrechtlicher (und klassisch liberaler) Denkweisen als ungerecht erscheinen. Nach dieser groben Orientierung über die grundlegenden Strukturprinzipien von Wohlfahrtsstaatlichkeit gibt ›Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma‹ zunächst eine kurze Übersicht über die sozialwissenschaftliche Lehre von den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaats-Typen. Anschließend werde ich die Idee eines ›Autonomie-Paradigmas der Sozialpolitik‹ vorstellen. Es stellt den Versuch dar, das Problem der Legitimation von Umverteilung im Rahmen eines totalen induktiven Verfahrens anzugehen. Da ich das Autonomie-Paradigma als liberale Sozialphilosophie betrachte, werde ich besonderes Augenmerk auf die Frage richten, wie es sich zu konventionellen liberalen Positionen verhält. Eine weitere Abgrenzung betrifft Gründe, die für den wohlfahrtsstaatlichen A

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EINLEITUNG

Kapitalismus keynesianischer Prägung im Rahmen des so genannten ›emanzipatorischen Paradigmas‹ vorgetragen werden. Diesem in Europa einflussreichen Paradigma halte ich in normativer Hinsicht vor, dass es sich vorrangig um die Stabilisierung des Status abhängiger Arbeit müht. Die Idee einer Integration in staatliche Vorsorge- und Versorge-Systeme von der Krippe bis zum Grab ergänzt die Abhängigkeit im Arbeitsverhältnis durch die Abhängigkeit vom staatlichen Leistungssystem. Jürgen Habermas hat diese eigentümliche Mischung aus Freiheitschancen und Fremdbestimmung als ›sozialstaatlichen Paternalismus‹ apostrophiert. 3 Das Kapitel ›Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma‹ gibt die Skizze eines Systems, das Freiheit als Selbsttätigkeit begreift. Die moralische Basis sozialer Transfers besteht in der Sicherung von Bedingungen, unter denen eine selbsttätige Existenz möglich ist. Eine Konsequenz der Begründung von Transfers durch den Status von Menschen als zugleich abhängigen und autonomen Wesen besteht darin, dass soziale Leistungen nicht als passiver, unbedingter und unbefristeter Leistungsempfang gestaltet werden können. Sie sind vielmehr in eine telelogische Struktur eingebettet: Ziel ist die Herstellung der Bedingungen von Autonomie. Welfare philosophies enthalten Theorien über die Entstehung des sozialpolitischen Problems. Das Autonomie-Paradigma unterscheidet ein traditionelles und ein spezifisches sozialpolitisches Problem kapitalistischer Gesellschaften. Moderne (kapitalistische) soziale Unsicherheit resultiert aus den Rückwirkungen der Güter- auf die Arbeitsmärkte. Der Grundprozess, der für die Produktion von Unsicherheit auf den Arbeitsmärkten verantwortlich ist, zeichnet auch für die eminente Produktivität kapitalistischer Marktwirtschaften verantwortlich: Schumpeters Formulierung von der schöpferischen Zerstörung hat dies bildlich auf den Punkt gebracht. Die Zusammengehörigkeit von Wohlstands- und Risikoproduktion rechtfertigt die Rede von einem ›kapitalistischen Gesellschaftsvertrag‹. Die Distribution von Anpassungskosten wirtschaftlichen Wandels ist eine poliGanz ähnlich Hirst 1994, 166: »In fact, however good or bad the service delivery personnel are, citizens have little access to these institutions other than in the capacity of clients, as objects of administration. They have no control over the content or the delivery of welfare services. The result is that they relate to them as passive consumers […] Bureaucracy takes away citizens’ responsibility and numbs their response to the need of others.«

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Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

tisch zu gestaltende Größe – dies ist das spezifische Gestaltungsproblem von Sozialpolitik in kapitalistischen Gesellschaften. Es betrifft nicht Kranke, Alte und Verletzte, sondern Arbeitsfähige, die aus konjunkturellen oder strukturellen Gründen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt mehr erlangen. Das von dem liberalen Paradigma verfolgte Ziel der elementaren Subsistenzsicherung und das vom emanzipatorischen Paradigma vertretene Ideal eines gesicherten hohen Konsumniveaus abhängig Arbeitender verkennen letztlich beide den Charakter sozialer Unsicherheit in kapitalistischen Gesellschaften. Im Rahmen des Autonomie-Paradigmas haben Institutionen sozialer Sicherung die Aufgabe, die kapitalistische Systemunsicherheit fair und effizient zu verteilen. Dies erfordert aber die Anerkenntnis vonseiten aller gesellschaftlichen Gruppen, dass eine solche Unsicherheit besteht und dass sie durch Sicherungsinstitutionen nicht eliminiert, sondern moderiert wird. Im Anschluss an die Skizze der Ursache des sozialpolitischen Problems werden kurz alternative Reformvorschläge zur Arbeitsmarktpolitik berührt. Die Arbeitsmarkt-Situation in der Bundesrepublik trägt Züge, die sich durch die Formel Kompensation für Exklusion beschreiben lässt. Die angelsächsische Bewältigungsstrategie besteht darin, Systemrisiken zu internalisieren und zu privatisieren. Das Autonomie-Paradigma strebt Internalisierung ohne Privatisierung an. Es scheint nicht angemessen, dass die Lasten flexibilisierter Arbeitsmärkte zum Privatproblem schlecht ausgebildeter Arbeitskräfte erklärt werden. In den skandinavischen Ländern sind Reformprozesse in Gang gesetzt worden, die dem Grundsinn des Autonomie-Paradigmas entsprechen und der Eindimensionalität der angelsächsischen Strategie entgegenwirken. Der Akzent wird hier auf einen frühen Zeitraum im Lebenszyklus gesetzt, auf Phasen der Investition in Humankapital. Die Bürgerschaft gewinnt so, was nicht nur von Kant als Voraussetzung eines souveränen politischen Urteils und eines selbst bestimmten Lebens betrachtet wurde: einen Grad an wirtschaftlicher Unabhängigkeit.

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I. LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

»Wir befinden uns jetzt mitten in Deutschland! Wir werden Metaphysik treiben müssen, wo und während wir politische Ökonomie treiben.« (Karl Marx)

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1. Schismen: Das Normativitätsproblem der Ökonomie

1. Die Bearbeitung von Legitimitätsfragen gehört nach vorherrschendem Verständnis nicht zum Pensum der Wirtschaftswissenschaften. Zwar gelten die positivistischen Voraussetzungen dieser Ansicht in der methodologischen (und methodologisch reflektierten) Literatur als überholt, doch ihre Konsequenzen im Muster akademischer Arbeitsteilung bestehen weiterhin fort. Die daraus resultierenden Nachteile sind keineswegs von nur akademischem Interesse. Denn durch die im Namen wertneutraler Wissenschaftlichkeit betriebene Abspaltung der Ökonomie von der Politikphilosophie ist es schwieriger geworden, Fragen politischer Gestaltung befriedigend zu behandeln. Die Folgeprobleme der disziplinären Trennung offenbaren sich im Feld der ›Legitimation des Sozialstaats‹ besonders scharf. Klarerweise berührt dieses Thema normative und positive, gesellschaftstheoretische und politikphilosophische Wissensressourcen. Doch die Ausdifferenzierung der Theoriesprachen hat dazu geführt, dass nicht allein die Untersuchungsbereiche getrennt wurden, sondern unverträgliche Analyseperspektiven sich entwickelt haben. Die Auffassungen über das, was Akteure motiviert, worin Werte bestehen, was als guter Handlungsgrund gilt, wie die gesellschaftliche Wertschöpfung oder der politische Prozess funktionieren, sind so unterschiedlich, dass ein fruchtbares transdisziplinäres Gespräch kaum noch möglich scheint. Was die Trennung der Wissensbereiche zusätzlich verschärft, ist die Tatsache, dass sich das Muster akademischer Arbeitsteilung in konträren Auslegungen des Liberalismus fortsetzt. Dies ist insofern eine Verschärfung, als es zu einer ideologischen Abschließung der getrennten Bereiche kommt. Auf diese Weise ist die eigentümliche Situation entstanden, dass der Liberalismus der Ökonomen ins rechte Spektrum, der Liberalismus der Philosophen ins linke Spektrum 44

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Schismen: Das Normativitätsproblem der Ökonomie

gewandert ist. Der Bereich, für den die jeweilige Seite Expertenstatus besitzt, wird ergänzt durch laienhafte Vorstellungen über das jeweils andere Feld. Gegen die – eigentlich selbstverständliche – Einsicht, dass beide Seiten unter komplementären Defiziten leiden, gelingt den Kombattanten jedoch eine erstaunlich gute Abschirmung. So schreibt Jeremy Waldron: »For one thing, many liberals will argue that right-wing economists have abused and wrongfully appropriated the language of freedom: they affect to be concerned with freedom generally, but it turns out to be the freedom of only a few businessmen that they are worried about and not the freedom of those they exploit or those constrained by the enforcement of their property rights. Freedom for the few, these liberals will say, is an unattractive political ideal since, under plausible assumptions, it means oppression and constraint for the many. A more attractive ideal would be equal freedom for everyone.« 1

Und in umgekehrte Richtung läuft der Vorwurf, hier vorgetragen von Richard Posner: »I have offered reasons for doubting that academic writing and university teaching about morality are likely to influence, directly or indirectly, people’s behavior for the good. […] Nagel is a Christian rigorist manqué, who wants people to feel bad about not being supermoral – about not always telling the truth, about not giving away their money to the undeserving poor, and about not making other sacrifices that don’t come naturally to people.« 2

Der Jurist und Philosoph Waldron wirft dem Liberalismus der Ökonomen vor, den Begriff der Freiheit auf plumpe Weise zu ideologischen Zwecken zu missbrauchen, der Jurist und Ökonom Posner hält dem Liberalismus der Philosophen vor, ein weltfremder Moralismus zu sein. Dies sind drastische Beispiele, und natürlich werden die Differenzen häufig sachlicher und differenzierter benannt. Die Polemik bringt aber das Problem, um das es mir geht, auf wünschbar deutliche Weise zum Ausdruck: Die Weigerung einzugestehen, dass die eigene Position, um vollständig begründet sein zu können, auf Wissensressourcen der Gegenseite zugreifen müsste. Stattdessen denunziert man diejenigen Aspekte des anderen Wissensbereiches, der, vom eigenen Standpunkt aus gesehen, als defizitär erscheint. Während Autoren wie Jeremy Waldron und Ronald Dworkin den Gehalt des libe-

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

ralism mit einer Affirmation wohlfahrtsstaatlicher Programme 3 identifizieren und das Plädoyer für die Freiheit der ökonomischen Sphäre zu einem konservativen Anliegen erklären, 4 beklagen in umgekehrter Richtung die als Vertreter der ›new right‹ Apostrophierten, dass die ursprüngliche Bedeutung des Liberalismuskonzeptes in der Ära des New Deal in sein Gegenteil verkehrt worden sei. An die Stelle des Gedankens individueller Freiheit und der daraus folgenden Notwendigkeit der Begrenzung staatlicher Eingriffsmacht sei die Idee umfassender staatlicher Daseinsvorsorge und Durchdringung der Gesellschaft getreten. Liberalism sei sozialdemokratischer Etatismus unter falschem Namen. 5 Beiden Charakterisierungen ist gemeinsam, dass sie die jeweils andere Position nicht als mögliche Interpretation des liberalen Grundgedankens anerkennen. Diese Situation möchte ich das liberale Schisma nennen. 2. Dass sich der Liberalismus im Laufe des letzten Jahrhunderts zu einer Familie von politischen Weltanschauungen entwickelt hat, deren Mitglieder über das politische Spektrum weit verstreut sind, führe ich vornehmlich auf die Trennung von politischer Philosophie und Gesellschaftstheorie, insbesondere Ökonomie, zurück. Die tiefen Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Freiheitsbegriffs oder das angemessene Akteursmodell, durch die Differenzen innerhalb des Liberalismus häufig erklärt werden, scheinen mir Epiphänomene dieser Entwicklung zu sein. Der Grundvorgang besteht in der Entscheidung, Beschreibungstheorie und Bewertungstheorie, philosophisch-rechtliche und gesellschaftstheoretisch-funktionale »Liberals insist that government has a responsibility to reduce economic inequality, both through its management of the economy and through welfare programs that redistribute wealth to soften the impact of poverty.« (Dworkin 1983, 1) – »[…] collective provision for welfare is associated now with the idea of social citizenship, and is taken to be comparable in status and importance to other aspects of citizenship such as the right to own property and the right to vote.« (Waldron 1988/1993, 273–274) 4 »Certainly a strong commitment to liberty in the economic sphere is more likely to be associated with political conservatism than with liberalism, particularly as those terms are understood in North America.« (Waldron 1987/1993, 37) 5 Rowley 1992, 23–24: »In essence, positive freedom is the philosophy of liberal democrats as currently preached in the United States which has developed subtly from a doctrine of freedom into a doctrine of authority and of Marxists who rely upon it as a justification for autocracy.« Klagen über die Usurpation des Wortes liberalism durch die Apologeten des Wohlfahrtsstaates finden sich unter anderem bei Charles Murray und Milton Friedman. Sie fügen sich jedoch überwiegend der Definitionsmacht ihrer Opponenten, die ihnen die Bezeichnung libertarians zugewiesen hat. 3

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Schismen: Das Normativitätsproblem der Ökonomie

Perspektive zu trennen. Im Folgenden möchte ich daher zwischen dem (politikphilosophischen) P-Liberalismus und dem (gesellschaftstheoretischen) G-Liberalismus unterscheiden. Warum ist diese Differenzierung nötig? Wenn Waldron in der antietatistischen Ausrichtung der neoliberalen Ökonomie im Effekt eine Fortschreibung der Klassenherrschaft sieht, dann macht er dies ausschließlich am Freiheitsbegriff fest. Er werde ungerechtfertigterweise durch jene appropriiert, die dabei lediglich an den Schutz von Eigentumstiteln und privatrechtlichen Verträgen dächten. 6 Daraus folgert er, dass die Freiheit, um die es den Libertären gehe, die Freiheit der Besitzenden sei, einschließlich der Freiheit, die Besitzlosen auszubeuten, indem sie ihnen die Kooperationsbedingungen diktieren. Wenn dies alles zuträfe, wäre es sicher berechtigt, den so Beschriebenen den Titel des Liberalismus ganz zu entziehen. Doch eine solche ideologiekritische Kennzeichnung des Marktliberalismus bleibt notgedrungen oberflächlich, weil sie die Frage, ob von der politischen Kontrolle der Ressourcenströme innerhalb der Gesellschaft Bedrohungen individueller Freiheit oder der gesellschaftlichen Wohlfahrt insgesamt ausgehen könnten, a limine zurückweist: Die Problemstellung, um die es libertären Autoren wie Friedrich von Hayek und Milton Friedman zu tun ist, wird einfach beiseite geschoben, um an deren Stelle die Unterstellung treten zu lassen, es gehe um die Legitimation von Ausbeutungsmotiven. Zuweilen äußern Marktliberale ihre Unzufriedenheit mit der Verkennung der Beweggründe ihrer politischen Forderungen, die keineswegs auf einem verkürzten normativen Standpunkt beruhen müssen, der nur Effizienzüberlegungen zulässt und die Interessenlage der Kapitalbesitzer privilegiert. Vielmehr ergeben sich ihre Positionen – so sagen sie – aus einer Betrachtung der Effekte, die normativ inspirierte Programme tatsächlich oder vermutlich haben. 7 Wie zum Beispiel Robert Barro: »I would describe my philosophy – the one that I have adopted and shaped since the early 1970s and that guides this book – as libertarian (or classical liberal), rather than conservative or Republican. […] My view is not anarchic; I believe that government has some key functions, notably to define and protect property rights.« (Barro 1998, xiii). Der Schutz von Eigentumsrechten ist als Voraussetzung ökonomischen Wachstums das zentrale Thema in Barros Ausführungen; siehe: Barro 1998, 21 (politische Implikationen der endogenen Wachstumstheorie), 29 (ökonomische Evaluation von Sezessionsbestrebungen) etc. 7 »This book reflects a certain degree of frustration, perhaps exasperation, in getting people who advocate constraints on markets to see that so many of the arguments made 6

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

Aus Sicht der P-Liberalen stellt es sich so dar: Indem das Akteursmodell, der Rationalitätsbegriff oder das Freiheitskonzept zurückgewiesen wird, folgt notwendig auch die Zurückweisung der auf solcher Grundlage gewonnenen Aussagen über Gesellschaft. Darin liegt ein Grund für die Popularität von Angriffen auf das ökonomische Verhaltensmodell. Aus der Sicht des G-Liberalismus sind diese Zurückweisungen jedoch viel weniger zwingend als für ihre Proponenten. Anders als diese bewerten sie den Gebrauch ihrer Konzepte vor dem Hintergrund ihrer Forschungspraxis: angesichts der Schwierigkeit, Gesellschaft überhaupt beschreibbar zu machen. Akteursmodell, Rationalitätsbegriff oder Freiheitskonzept haben sich im Kontext einer vielschichtigen Forschungspraxis in ihren Augen als brauchbar erwiesen. Sie liefern – dem G-Liberalismus zufolge – die besten zurzeit verfügbaren Beschreibungen. Man wäre gegebenenfalls bereit, sie für bessere Beschreibungen aufzugeben, aber man ist nicht bereit, sie aufzugeben, weil sie Standards nicht entsprechen, die unabhängig von jeglicher Forschungspraxis kreiert wurden. Der P-Liberalismus lässt sich dagegen als der Versuch verstehen, ohne Gesellschaftstheorie zu normativen Aussagen über die Gesellschaft zu gelangen. 8 Entsprechend wird die Auseinandersetzung mit dem G-Liberalismus auf rein konzeptioneller Grundlage geführt. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

1.1. Das Neutralitätspostulat und die Folgen 3. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die akademisch-institutionelle Trennung der Ökonomie von der Philosophie endgültig vollzogen wurde, trug dies der Differenz zwischen explanatorischer und against this or that form of market control are, at their foundation, motivated by […] fairness concerns.« (McKenzie 1987, 12) 8 Besonders offensiv verfährt in dieser Hinsicht Thomas Nagel: »Intuitive dissatisfaction is an essential resource in political theory.« (Nagel 1991, 7) Nagel hält intuitive Unzufriedenheit auch dann für wichtig, wenn sich ihr Grund nicht auf den Begriff bringen lässt. Dennoch kommt er auf dieser Grundlage zu starken politischen Aussagen: »To some extent this dissatisfaction has been met by increasing the government functions of mutual aid, through the development of the welfare state and a social democratic version of liberal theory. But the vast inequalities of wealth and power which even the more egalitarian versions of such systems continue to generate are really incompatible with an adequate response to the impartial attitude which is the first manifestation of the impersonal standpoint.« (Nagel 1991, 58)

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Schismen: Das Normativitätsproblem der Ökonomie

normativer Theorie Rechnung, auf die methodologische Traktate seit Nassau Senior und John Stuart Mill hingewiesen hatten. Die Ausgliederung aus dem fächerübergreifenden Prüfungszusammenhang der Moral Science stellte die konsequente Fortsetzung der Bemühung dar, die sozialphilosophischen Ursprünge der Ökonomie hinter sich zu lassen und in die Gruppe der exakten Wissenschaften vorzudringen – deren Aufgabe ist nicht, politische Ratschläge zu erteilen oder Normen zu begründen, sondern Regelmäßigkeiten und Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. 9 »Not a single syllable of advice« wollte Nassau Seniors Outline of the Science of Political Economy von 1836 der Wirtschaftswissenschaft gestatten. Seine erfolgreiche Tätigkeit als wirtschaftspolitischer Berater hat er nicht als Widerspruch zu der nachdrücklichen Ablehnung eines das Normative umgreifenden Verständnisses der Ökonomie aufgefasst. Bedarf für so etwas wie Theorie der Wirtschaftspolitik, Integrative Wirtschaftsethik oder normative Ökonomie konnte er jedenfalls nicht erkennen. Auch für einen heterodoxen Ökonomen des 19. Jahrhunderts wie Karl Marx war es selbstverständlich, sich als Wissenschaftler zu verstehen und den Kapitalismus nicht bloß als ungerecht zu verwerfen, sondern sein unabwendbares Ende vorauszusagen. 10 Die Ambition der Ökonomen des 19. Jahrhunderts ging in Richtung der Etablierung einer respektablen positiven Wissenschaft, und für ein Projekt wie »normative Ökonomie« hätte man wenig Verständnis gehabt. Denn die Notwendigkeit der Abgrenzung von Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie machte vor allem Mill 1843/44 an der Alfred Marshall war eine Schlüsselfigur für diese Entwicklung. Bei der Einrichtung einer eigenständigen, von umfassenden Fragestellungen der praktischen Philosophie abgekoppelten Ausbildung und Prüfung in Ökonomie gab er entscheidende Impulse. Bis zum endgültigen Erfolg dieser Bemühung 1903 war die Politische Ökonomie Teil des Moral Science Tripos oder des History Tripos. Siehe: Marshall 1897. 10 »The fact that capitalism is just (by the standards appropriate to capitalist production) provides no real defense of capitalist society. Likewise, the fact that it could be condemned as unjust by applying some foreign standard constitutes no valid criticism of capitalist relations. The rational content of proletarian moral ideologies consists in the real proletarian interests represented by these ideologies. And the nonmoral goods which will come about as a result of the victory of these interests in the historical struggle. Marx prefers to criticize capitalism directly in terms of this rational content, and sees no point in presenting his criticism in the mystified form they would assume in a moral ideology.« (Wood 1981, 139) Der Status des Gerechtigkeitskonzepts für die marxsche Kapitalismusanalyse ist ein intensiv debattiertes Thema. Siehe neben Wood u. a.: Elster 1985/1994, 166 ff., Miller 1984, 15 ff. 9

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Sein-Sollen-Differenz fest: 11 Eine Aussage über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Sachverhaltes muss anders begründet werden, als eine Präskription begründet werden müsste, wenn sie denn begründbar wäre. Wenn definitionsgemäß Ökonomie als Sozialwissenschaft nur Feststellungen über Bestehendes, nicht aber über Gesolltes trifft, dann ist normative Ökonomie versehentlich oder absichtlich ein falsch deklariertes Projekt. Der Punkt, um den es in der Methodologie der klassischen Periode ging, war nicht, dass Werturteile für positive Analyse in keiner Weise eine Rolle spielen dürften; der Punkt war, dass zwei Domänen von Begründungen zu unterscheiden sind und dass es natürlich ist, scope and method der Disziplinen entlang der Grenzen dieser Domänen zu bestimmen. 12 »A scientific observer or reasoner, merely as such, is not an adviser for practice. His part is only to show that certain consequences follow from certain causes, and that to obtain certain ends, certain means are the most effectual. Whether the ends themselves are such as ought to be pursued, and if so, in what cases and to how great a length, it is no part of his business as a cultivator of science to decide, and science alone will never qualify him for the decision.« 13

4. Die Preisgabe des Anspruchs, politisches Handeln in einem umfassenden Sinne orientieren und institutionelle Arrangements rechtfertigen zu können, hat auf methodologischer Ebene einige Dekaden vor der marginalistischen Revolution eingesetzt und ist von dem Erfolg oder Misserfolg der mit ihr eingeleiteten Entwicklung unabhän»The one [science] deals in facts, the other [art] in precepts. Science is a collection of truths; art, a body of rules, or directions for conduct. The language of science is, This is, or, This is not; This does, or does not, happen. The language of art is, Do this; Avoid that. Science takes cognisance of a phenomenon, and endeavours to discover its law; art proposes to itself an end, and looks out for means to effect it.« (Mill 1844/1967, 312) 12 Den Streitgegenstand umschreibt bündig Machlup: »While for some the distinction [between positive and normative economics] refers to a boundary between two branches of a science, for others ›normative science‹ is a contradiction in terms, the discourse of norms or values being by definition nonscientific.« (Machlup 1969/1993, 199) Letzteres gilt sicher für Mill und Senior. Die Nichtwissenschaftlichkeit des Diskurses über Normen oder Werte zu behaupten, heißt allerdings keineswegs, von ihrer Unbegründbarkeit auszugehen. Präskriptionen können auch von denen als rational begründbar angesehen werden, die davon ausgehen, dass sie definitionsgemäß keinen Wahrheitswert haben. Für eine non-kognitivistische, aber rationale Moralbegründung exemplarisch: Hare 1952/1983, Hare 1963, Hare 1981. 13 Mill 1843/1974, 950 11

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gig. Dies wird häufig verkannt, so dass Autoren, die an einer stärker (von normativen Erwägungen) kontrollierten gesellschaftlichen Dynamik interessiert sind, wie Peter Ulrich 14 , zu der Auffassung gelangen, die Ökonomie habe sich – orientiert an der Physik als Beispiel vorbildlicher Wissenschaftlichkeit 15 – um 1870 auf ein reduktionistisches Verständnis von Rationalität festgelegt. Dieses Verständnis spiegele letztlich die »Sachzwanglogik« eines Marktgeschehens, das nicht mehr in ein umfassendes Konzept des normativ Wünschenswerten eingebettet sei. »Die Konsequenz ist die schon erwähnte Zwei-Welten-Konzeption von reiner Ökonomik einerseits und ihr ›sachfremd‹ gegenüberstehender Ethik andererseits.« 16

Mit anderen Worten, das Plädoyer der Methodologie der klassischen Periode, Political Economy als Sozialwissenschaft zu betreiben und nicht als eine umgreifende Wohlfahrtslehre, erfüllt nach Ulrich eine ideologische Funktion: So wie die Ökonomie sich von der Philosophie löse, so die Marktwirtschaft von der Lebenswelt. Diese Parallelaktion verstärke die unpersönliche Herrschaft des kapitalistischen Systems. In soziologischer Hinsicht mag diese Anschauung stichhaltig sein oder nicht, sachlich gesehen folgt jedoch aus dem logisch-methodologischen Argument keine substantielle Hypothese darüber, dass die kapitalistische Entwicklung eigengesetzlich und »ethisch nicht reglementierbar« sei, wie es bei Weber heißt. 17 Für solche Art Steuerungsskepsis finden sich in den Texten, in denen die Abspaltung von der Philosophie erstmalig gefordert wird, wenig Hinweise – und es be»Als sozialökonomisch rational kann jede Handlung oder jede Institution gelten, die freie und mündige Bürger in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Form der Wertschöpfung bestimmt haben könnten.« (Ulrich 1997, 123) 15 Zur Kritik des Physikalismus beziehungsweise Modernismus der Ökonomie: McCloskey 1985; eine abrechnende Kritik der Ökonomie im Geiste des Physikalismus bietet dagegen: Rosenberg 1992. 16 Ulrich 1997, 106. Ähnlich in Ulrich & Maak 2000, 13: »Doch das Selbstverständnis und die erkenntnisleitende Perspektive der heutigen, neoklassisch geprägten Ökonomik sind völlig anders. Sie vertritt eine ›reine‹ Systemperspektive der Marktwirtschaft, und das meint: Sie analysiert nunmehr die seltsam unpersönliche Funktionslogik des marktwirtschaftlichen Systems – die ›reine‹, angeblich wertfreie und interessenneutrale ökonomische Logik des Marktes, gleichsam in einem ›sozialen Vakuum‹ gedacht.« 17 »Im Gegensatz zu allen anderen Herrschaftsformen ist die ökonomische Kapitalherrschaft ihres ›unpersönlichen‹ Charakters halber ethisch nicht reglementierbar. Sie tritt schon äußerlich meist in einer derart ›indirekten‹ Form auf, dass man den eigentlichen 14

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deutet einen Kategorienfehler, methodologische Argumente und substanzielle sozialwissenschaftliche Thesen miteinander zu vermengen. Mills Überlegung, wie gesagt, hob auf die Is-Ought-Distinktion ab, Senior hingegen machte eher Erwägungen geltend, die auf die Komplexität politischer Gestaltungsprobleme hinwiesen und auf die Nützlichkeit einer Konzentration der Theorie auf spezifische Aspekte. »We believe that by confining our own and the reader’s attention to the Nature, Production, Distribution of Wealth, we shall produce a more clear, and complete, and instructive work than if we allowed ourselves to wander into the more interesting and more important, but far less definite, fields by which the comparatively narrow path of Political Economy is surrounded.« 18

Senior ist dabei keineswegs entgangen, dass das Absehen von der umgreifenden Fragestellung, welche Bedeutung Produktion und Verteilung von Wohlstand für das gesellschaftlich Gute letztlich haben, eigene Probleme mit sich bringt – jedoch verortete er die synthetische Funktion, die Zusammenfassung aller jener Aspekte, die für eine politische Gestaltungsentscheidung maßgeblich sind, im politischen Prozess selbst, oder wie Senior sagt: Das politisch-normative Urteil ist ein Privileg der statesmen. Hinter dem Zedieren des normativen Anspruchs stand die simple Einsicht, dass eine Einzeldisziplin sich bei Urteilen über das, was gut für die Gesellschaft ist, zurückhalten muss, weil sie sich definitionsgemäß auf Ausschnitte des politischen Problemkomplexes beschränkt. Ihre Nützlichkeit hat eine derart restringierte Forschung in negativer Hinsicht: Sie sagt der Politik nicht, was gut wäre zu tun, sondern was gut wäre zu unterlassen. Sie stellt Wissen über allgemeine Prinzipien bereit »which is fatal to neglect, but neither advisable, nor perhaps practicable to use as the sole, or even the principal, guides in the actual conduct of affairs.« 19

Die praktische Relevanz der Ökonomie als reiner Sozialwissenschaft besteht mithin darin, der Politik ihre Möglichkeiten und deren Gren-

›Herrscher‹ gar nicht greifen und daher ihm auch nicht ethische Zumutungen stellen kann.« (Weber 1922/1985, 708) 18 Senior 1836/1965, 2 19 Senior 1836/1965, 3

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zen aufzuzeigen, und nicht darin, ihr Empfehlungen auf der Grundlage normativer Theorie zu unterbreiten. In der Methodologie der Klassik führt »der Wunsch, einen logischen Fehler zu vermeiden, in Verbindung mit der Forderung nach einer praktisch verwendbaren Wissenschaft [noch nicht] zu der Anschauung, eine Normativierung der Sozialwissenschaft sei notwendig.« 20

Das Problem, auf das Ulrich hinweisen möchte – die systematische Konzentration auf Effizienz als eines (wirtschafts)politischen Legitimationskonzepts im Rahmen ökonomischer Beratungspraxis – lässt sich nicht auf die Rechnung der Klassiker setzen, sondern geht auf das Konto einer erst hundert Jahre später einsetzenden Entwicklung: der paretianischen Wohlfahrtsökonomie. 5. Durch die von Senior vorgeschlagene Beschränkung der Ökonomie auf einzelwissenschaftliche Analyse und die Preisgabe einer umfassenden politischen Gestaltungsperspektive wird die Rolle der normativen Beurteilung an die politischen Akteure zurückgespielt. Fortan sollte die Wirtschaftswissenschaft ein normativ neutrales Unterfangen darstellen, das mit beliebigen ethischen Systemen kombinierbar sei. »Political Economy stands apart from all particular systems of social and industrial existence. It has nothing to do with laissez-faire any more than with paternal government, or with systems of status. It stands apart from all particular systems, and is, moreover, absolutely neutral as between all.« 21

Im 19. Jahrhundert ist diese Position – ich möchte sie die Neutralitätsposition nennen – besonders forciert von Cairnes 1888 vertreten worden, im 20. wurde sie nachdrücklich und einflussreich in Robbins’ Essay on the Nature & Significance of Economic Science (1932) und Friedmans On the Methodology of Positive Economics (1953) aufgegriffen. Entsprechende Auskünfte finden sich seither in zahllosen Texten zu der Theorie der Wirtschaftspolitik oder der modernen Wohlfahrtstheorie, die damit zu erkennen geben, dass sie normative Ökonomie nicht im Sinne einer Begründung normativer Urteile verstehen, sondern im Sinne einer Implikationsanalyse und

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Konsequenzenabschätzung politisch-normativer Gestaltungsvorschläge. 22 Implikationenanalyse und Konsequenzenabschätzung kann lediglich einen notwendigen, keinen hinreichenden Teil der Begründung eines normativen Anspruchs bilden. Die Neutralitätsposition führt so entweder zu einem rein instrumentell-dezisionistischen Verständnis normativer Ökonomie oder fordert ihre Integration in den umfassenden Zusammenhang der praktischen Philosophie. Ersteres war der Pfad, den Robbins in den Dreißigern einschlug. Persönlich fühlte sich Robbins zu einer utilitaristischen politischen Ethik hingezogen. Sein Essay on the Nature & Significance of Economic Science wies aber darauf hin, dass der Utilitarismus keineswegs in der Ökonomie eine wissenschaftliche Grundlage finde. Er äußerte sich auch durchaus skeptisch, was die vernünftige Begründbarkeit des Utilitarismus, ja jeder normativen Theorie angeht. Offenbar sah er keine Möglichkeit einer rationalen Verständigung über politische Zielsetzungen und verortete Rationalität daher gänzlich auf der Ebene der Mittelwahl: »In the rough-and-tumble of political struggle, differences of opinion may arise either as a result of differences about ends or as a result of differences about the means of attaining ends. Now, as regards the first type of difference, neither Economics nor any other science can provide any solvent. If we disagree about ends it is a case of thy blood or mine – or live and let live, according to the importance of the difference, or the relative strength of our opponents. But, if we disagree about means, then scientific analysis can often help us to resolve our differences.« 23 Pars pro toto: »The reader may wonder who is behind or ›runs‹ the social welfare function. As indicated earlier one may think in terms of a social planner (or a parliament) who acts as if he (it) is equipped with a social welfare function […] Alternatively, the reader may prefer to think in terms of his own social welfare function. That is, draw the social welfare indifference curves in a way that is consistent with your own value judgements.« (Johansson 1991, 29); – Ferner: »In any case, normative analysis which leads to policy conclusions regarding what the government should or should not do involves ethical values, irrespective of whether these values are held by researchers, the policy maker, or someone else.« (Johansson-Stenman 1998, 265) Abweichend Sen: »Welfare economics deals with the basis of normative judgements, the foundations of evaluative measurement, and the conceptual underpinnings of policy-making in economics«. (Sen 1996, 50) Johansson rechtfertigt dagegen den Nutzen des Konzepts einer sozialen Wohlfahrtsfunktion mit der Idee der Implikationsanalyse. »After all, they [social welfare functions] help us to understand what ethical premises advocates of various ›welfare schools‹ use in arriving at their standpoints.« (Johansson 1991, 39) 23 Robbins 1932/1984, 150 22

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Die Passage, in der sich diese Ausführung findet, richtet sich gegen die in Hawtreys The Economic Problem und Hobsons Wealth and Life vorgetragene Vorstellung, Ökonomie solle auf einer soliden Grundlage moralischer Werte betrieben werden. Der Erfolg dieses Unterfangens wäre an Voraussetzungen gebunden, die Robbins als unerfüllbar ansah: Es müsste möglich sein, Werte rational, also ohne willkürliche Setzung, in den grundbegrifflichen Apparat einzuführen. Da aber jede Ethisierung der Ökonomie nach Robbins’ damaliger Ansicht willkürliche Setzungen enthalten müsste, würde dies ihren Status als Wissenschaft bedrohen, eine Lehre, die er unter anderem aus dem Scheitern des deutschen Sonderweges in der Ökonomie, dem Historismus, gezogen hatte: »No one who had ploughed through the turgid mass of German work in this field could doubt the desirability of keeping philosophy in its proper place.« 24

Die Ablehnung normativer Ökonomie stricto sensu 25 stand somit bei Robbins auf einer anderen Grundlage als in der Methodologie der klassischen Periode, insofern er sie mit einer dezisionistischen These verband. John Stuart Mill hatte dagegen lediglich bezweifelt, dass die Begründung normativer Ansprüche in einer Sozialwissenschaft wie der Politischen Ökonomie ihren systematische Ort haben kann, und unterschied daher zwischen science und art. 26 Damit war jedoch keineswegs die Annahme verbunden, normative Ansprüche seien unbegründbar und ließen sich letzten Endes auf die Freund-Feind-Unterscheidung zuspitzen. Trotz ihres letztlich dezisionistischen Charakters erbringt die Ökonomie Robbins zufolge eine Rationalisierungsleistung für den Robbins 1938, 639 Von normativer Ökonomie stricto sensu spreche ich, wo ein bestimmtes normatives Kriterium as ›integral part of economics‹ (Hicks) betrachtet wird. Das Zweck-MittelSchema beansprucht dagegen normative Neutralität gegenüber politischen Zielvorgaben. 26 Mill charakterisiert das Verhältnis zwischen science und art folgendermaßen: »The art proposes to itself an end to be attained, defines the end, hands it over to the science. The science receives it, considers it as a phenomenon or effect to be studied, and having investigated its causes and conditions, sends it back to art with a theorem of the combinations of circumstances by which it could be produced. Art then examines these combinations of circumstances, and according as any of them are or are not in human power, pronounces the end attainable or not. The only one of the premises, therefore, which art supplies, is the original major premise, which asserts that the attainment of the given end is desirable.« (Mill 1843/1974, 944) 24 25

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politisch-normativen Diskurs. Sie besteht nach seinem Zweck-Mittel-Schema in zweierlei: Zum einen untersucht sie, ob und gegebenenfalls mit welchen Mitteln eine politische Zielsetzung erreichbar ist. Sie hat in dieser Gebrauchsweise den Charakter einer Machbarkeitsstudie, die auf der Grundlage positiver Theorie Aussagen über Steuerungs- und Interventionspotenziale formuliert. Zum anderen – und dies dürfte auch nach Robbins die wichtigere Verwendungsweise sein – stellt Ökonomie Interdependenzwissen über Ziele zur Verfügung. Wenn er sagt: »Economics is not concerned with ends as such« 27 , so meint dies nicht, Ökonomie sei reine Mittelforschung und beschäftige sich nicht mit Zwecksetzungen als solchen; vielmehr besteht eine ökonomische Problemformulierung nach Robbins darin, zu verdeutlichen, dass mit dem Ergreifen einer Möglichkeit andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden. »In pure Economics we examine the implication of the existence of scarce means with alternative uses.« 28

Die systematische Analyse des Knappheitsaspektes wirft somit Licht auf mögliche Unverträglichkeiten oder Ergänzungen zwischen Zielen. Ein sozialtechnologisches Verständnis des praktischen Nutzens von Ökonomie, wie es Robbins vertritt, geht somit davon aus, dass ökonomische Analysen Rückwirkungen auf das Zielsystem der politischen Akteure haben können, indem sie Interdependenzwissen in Gestalt von Opportunitäts-Kosten-Relationen zwischen Handlungsweisen erarbeiten. Dabei kann dem Schema eine eigenständige normative Funktion zuwachsen, da Entscheidungen, die Kostenrelationen unzureichend spezifizieren, in normativer Hinsicht häufig fragwürdig sein werden. 1.1.1. Die Nachfrage nach Gestaltungswissen 6. So stichhaltig die methodologischen Einwände der klassischen Periode auch gewesen sein mögen: Nach Sidgwick waren und blieben die meisten britischen Ökonomen des 19. und beginnenden 20. JahrRobbins 1932/1984, 24 Robbins 1932/1984, 83. »The economist is not concerned with ends as such. He is concerned with the way in which the attainment of ends is limited. The ends may be noble or they may be base. […] But if the attainment of one set of ends involves the sacrifice of others, then it has an economic aspect.«

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hunderts überzeugt, dass ihre Disziplin die wissenschaftliche Begründung einer politischen Weltanschauung, des Laisser-faire, liefere. Dies hatte ihm zufolge unter anderem mit zwei als außerordentlich erfolgreich bewerteten institutionellen Reformen zu tun: der Abschaffung der Zölle auf Getreide auf der einen, der Neuausrichtung der Armengesetzgebung auf der anderen Seite. Der Wohlstand, der auf die Zollreform folgte, sei von den Gebildeten als beeindruckender Beweis der Vernünftigkeit jener Prinzipien angesehen worden, auf denen Freihandel beruhe, schrieb Sidgwick. 29 Ähnlich imponierend wirkten die Erfolge des Poor Law Amendment Act, den Chadwick als »the first great piece of legislation based on scientific or economic principles« 30 bezeichnete. Die gebildeten Engländer der damaligen Zeit sahen offensichtlich keinen Anlass, zwischen den Grundsätzen einer liberalen Wirtschaftspolitik und den ›Gesetzen der Politischen Ökonomie‹ einen unüberbrückbaren Abgrund zu sehen; schließlich war ihr Zusammenstimmen eine Angelegenheit praktischer Gewissheit. 31 Sie durften sich dabei im Einklang fühlen mit der Absicht Smiths, einen praktischen Zweck – »to enrich both the people and the sovereign« – in wissenschaftlicher Weise zu fördern. Smith beschrieb nicht nur das System von Produktion, Distribution und Austausch, sondern machte plausibel, dass seine Leistung durch staatliche Interventionen wie Preis- und Mengenkontrollen unter gewöhnlichen Bedingungen nicht verbessert werden kann. Ökonomie erübrigte insofern eine Theorie der Wirtschaftspolitik; die Beratungsleistung der wirtschaftswissenschaftlichen Experten konnte darauf beschränkt werden, die Inhaber hoheitlicher Macht über die Funktionsweise des Preissystems in Kenntnis zu setzen und von Eingriffen in den Marktprozess abzuhalten. 32 Die von Cairnes und Nassau Senior herausgestrichene logische Unabhängigkeit der Ökonomie von normativen Überzeugungen änderte insofern als solche nichts an dem marktliberalen Konsens. So Sidgwick 1901/1969, 1 Zitiert nach Finer 1952, 69. 31 Sidgwick 1901/1969, 13 32 Hajo Riese legt in ideologiekritischer Manier die Methodologie der klassischen Periode als eine Immunisierung der politischen und normativen Grundlagen aus, »die vor allem in einer liberalen Deutung des Wirtschaftens bestehen.« (Riese 1975, 13–14) Methodologische Positionen, wie die Mills, seien der Ausfluss »der orthodoxen Interpretation des Wirtschaftsablaufs«. (loc cit 21) 29 30

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konnte der methodologische Vorbehalt leicht als pedantisch empfunden werden, als Ausdruck einer Tatsache, die allen bekannt war und deren Betonung am Zustand der Welt und der Wissenschaft nichts änderte: Wohl auch deshalb hatte Methodologie jenen von Roy Harrod in den Dreißigerjahren kolportierten Ruf: »Speculations upon methodology are famous for platitude and prolixity.« 33

Immerhin wirkte die Methodologie jedoch stark genug, dass sich Ökonomen wie Alfred Marshall verpflichtet fühlten, die Rolle von beobachtenden Experten und liberal gesinnten Bürgern gegeneinander abzugrenzen, 34 oder, wie Arthur Pigou, fallweise als Autoren wissenschaftlicher oder ethischer Arbeiten aufzutreten, je nachdem, ob politische Präferenzen geäußert wurden oder nicht. Pigou annoncierte The Economics of Welfare als »strictly positive study«, die sagt, »what is and tends to be«, und sich nicht mit der Frage beschäftigt, »what ought to be«. 35 Die Arbeit, die der Wohlfahrtsökonomie ihren Namen gab, wollte also durchaus nicht das sein, was heute unter diesem Titel geführt wird: normative Ökonomie. 36 Sowohl die Unterscheidung Pigous zwischen Ökonomie und Ethik als auch die Marshalls zwischen der Rolle des Ökonomen als Wissenschaftler und als Bürger unterstellte die Einheit und normative Neutralität der positiHarrod 1938, 383 »It is true that an economist, like any other citizen, may give his own judgement as to the best solution of various practical problems, just as an engineer may give his opinion as to the right method of financing the Panama canal. But in such cases the counsel bears only the authority of the individual who gives it; he does not speak with the voice of his science. And the economist has to be specially careful to make this clear; because much misunderstanding as to the scope of his science, and undue claims to authority on practical matters have often been put forward on its behalf.« (Marshall 1885/1925, 165) 35 Pigou 1920/1950, 5 36 »It thus appears that Welfare Economics, as Pigou conceived it, was something much wider than the welfare economics of the Second school. […] It was the classical theory of Production and Distribution which Pigou was taking over and turning into the Economics of Welfare. The Economics of Welfare is The Wealth of Nations in a new guise.« (Hicks 1975/1981, 223) Einiges spricht dafür, dass Pigou die Idee, es könne neben der positiven eine normative Ökonomie geben, gänzlich ablehnte, da er die Frage »What ought to be done?« gänzlich der Ethik zuschlug und entsprechend seine Principles & Methods of Industrial Peace als eine ethische Studie bezeichnete, eben weil sie Handlungsempfehlungen aussprach. Siehe: Pigou 1905, 3. Eine ähnliche Position bezog Pigou in seiner Schrift Economics in Practice: »He [the economist] must necessarily base himself in part upon judgements about what is good and what is bad, what is better and what is worse, thus trespassing on the domain of ethics.« (Pigou 1935, 107) 33 34

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ven Analyse, die im 20. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt wurde. Das Neutralitätspostulat der Methodologie der klassischen Periode war gewissermaßen im Schutz eines Konsenses über die Richtigkeit der Laisser-faire-Prinzipien und die Einheit positiver Ökonomie entstanden. 7. Wenn Roy Harrod 1938 feststellte, dass als Konsequenz von Robbins’ Essay Freihandel oder der Repeal of the Corn Laws nicht mehr gerechtfertigt werden könne, also Dinge, die im Großbritannien des 19. Jahrhunderts als paradigmatisch für wirtschaftspolitisch vernünftiges Handeln angesehen worden waren, so brachte dies zum Ausdruck, dass der liberale Konsens seine Selbstverständlichkeit verloren hatte und die Neutralitätsposition nicht mehr zufrieden stellen konnte. 37 Letztere stieß an ihre Grenzen, weil die politischen Akteure sich zur Erfüllung der ihnen von der klassischen Methodologie zugemuteten Aufgabe mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität gar nicht mehr in der Lage sahen und sie eben die Beratungsleistung nachfragten, die ihnen der wissenschaftliche Purismus verweigerte. 38 Oder genauer ausgedrückt: Die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch in Großbritannien einsetzende Expansion wirtschaftspolitischer Eingriffskompetenz schuf Nachfrage für einen Post-Laisser-faire-Typus ökonomischer Beratung. Diese vorsichtigere Formulierung hat den Vorzug, die Frage offen zu halten, ob das langsame Schwächerwerden der Verbindlichkeit liberaler Prinzipien »Next, economists, even the most theoretical, have been prone to give advice on the basis of theory. And I believe that economists would claim that much of the advice so given since Adam Smith has been valid. A type of the advice I have in mind, though this by no means covers the whole field, is the recommendation of Free Trade.« (Harrod 1938, 387) »Consider the Repeal of the Corn Laws. This tended to reduce the value of a specific factor of production – land. It can no doubt be shown that the gain to the community as a whole exceeded the loss to the landlords – but only if individuals are treated in some sense as equal. Otherwise how can the loss to some – and that there was a loss can hardly be denied – be compared with the general gain? If the incomparability of utility to different individuals is strictly pressed, not only are the prescriptions of the welfare school ruled out, but all prescriptions whatever. The economist as an adviser is completely stultified, and unless his speculations be regarded as of paramount aesthetic value, he had better be suppressed completely. No; some sort of postulate of equality has to be assumed.« (loc cit 396–397) 38 »[…] there can be no doubt that the interest of Adam Smith’s book for ordinary readers is largely due to the decisiveness with which he offers to statesmen the kind of practical counsel which, according to Senior and Cairnes, he ought carefully to have abstained from giving.« (Sidgwick 1901/1969, 28) 37

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Ausdruck einer Entwicklungsnotwendigkeit kapitalistischer Systeme war oder die Konsequenz eines Bemächtigungswillens politischer Unternehmer oder eine Mischform beider Prozesse. 39 Wie immer diese Frage beantwortet wird – Tatsache ist, dass der zunehmende Interventionismus sowohl den Widerspruch liberal gesinnter Ökonomen herausforderte – als auch einen Markt für wirtschaftspolitische Legitimation staatlichen Eingreifens entstehen ließ – und damit eine neue Qualität von innerdisziplinärer Meinungsverschiedenheit. Versuche, diese Entwicklung zu leugnen oder aufzuhalten, indem – wie bei Alfred Marshall – jegliche politische Verwicklung der Ökonomie abgelehnt wurde oder – wie bei Pigou 40 – die neutrale Wahrheit gegenüber den Adjektivökonomien beschworen wurde – solche Versuche konnten keine Aussicht auf Erfolg haben. Der interventionistische Staat stellte eine intellektuelle (und möglicherweise auch karrierebezogene) Herausforderung dar, die viele zeitgenössische Ökonomen bereit waren anzunehmen. Eine erste große, öffentlich ausgetragene Experten-Konfrontation zwischen Liberalen und Interventionisten erlebte Großbritannien im Jahre 1903 mit der Tariff Reform Campaign. Im Jahre 1897 hatte Staatssekretär Joseph Chamberlain angeregt, den sozialen und politischen Zusammenhalt des Empire durch Zollbegünstigungen zu stärken. Sein Vorschlag war bereits einige Jahre im Umlauf, als der Finanzminister Charles Ritchie 1903 – sehr zum Ärger Chamberlains – in seinem Budget den einzigen Zoll strich, der die Möglichkeit einer Für die erste Option schlechthin klassisch: Keynes 1926/1972. Eine besonders scharfe und undifferenzierte Verurteilung von Sozialversicherungen und Schulspeisungen, die insbesondere durch die – nota bene – liberale Asquith-Administration eingeführt wurden, findet sich bei Cockett: »For the first time, the State took it upon itself to tax its citizens in order to fulfil a specific collectivist, social aim, that of ›social welfare‹. All the legislation passed in the fourteen years before the First World War, by politicians of both the Conservative and the Liberal Party – whether in the name of ›Social Welfare‹, ›National Efficiency‹ or ›Industrial Rationalization‹ – represented a distinct and accelerating step towards the Fabian collectivist State, and, as Shaw later put it, the Fabian policy was to support and take advantage of every legislative step towards Collectivism no matter what quarter it came from, nor how little its promoters dreamt that they were advocating an instalment of Socialism.« (Cockett 1994, 15) 40 Im alten Pathos der Neutralität warnte Pigou junge Ökonomen vor den Gefahren politischer Beteiligung: »As a conservative economist or a liberal economist or a labour economist he has much more chance of standing near the centre of action than he has as an economist without adjectives. But for the student to yield to that temptation is an intellectual crime. It is to sell his birthright in the household of truth for a mess of political pottage.« (Pigou 1935, 10) 39

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Begünstigung geboten hätte. Der Streit im Kabinett war zu einer öffentlich debattierten Angelegenheit geworden, als sich am 15. August 1903 in der Times führende Ökonomen mit einem offenen Brief zu Wort meldeten, der unter dem Titel Manifesto of the Fourteen Economists bekannt wurde. Das Manifest verteidigte Freihandelsprinzipien und erklärte, die Überzeugungen der Unterzeichner auszudrücken »on certain matters of more or less technical character connected with the fiscal proposals which now occupy the attention of the country«.

Der im Einklang mit der Methodologie der klassischen Periode stehende Anspruch, rein technische und insofern unpolitische Analysen vorzulegen, blieb nicht unangefochten. In einer Artikelserie in der Times verteidigte der damalige Direktor der London School of Economics, Hewins, den Vorschlag Chamberlains. 41 Mit der Tariff Reform Debate wurde so für die Öffentlichkeit deutlich, dass Freihandelsprinzipien nicht selbstevident, sondern Gegenstand mehr oder weniger vernünftiger Meinungsverschiedenheiten zwischen Experten sind. Sie forderte zum einen die Hegemonie des klassischen Liberalismus heraus, zum anderen machte sie die Schwäche der klassischen Methodologie und ihrer Idee einer normativen Neutralität der Ökonomie deutlich. Die seit der Jahrhundertwende zunehmende Verflechtung von Staat und Gesellschaft ließ den Gedanken einer wertfreien und normativ neutralen Wissenschaft 42 anachronistisch erscheinen, weil politisches Handeln ebenso wie politisches Unterlassen implizit oder explizit auf Legitimationskriterien Bezug nimmt. Anhänger eines stärkeren Interventionismus wie Gunnar Myrdal kritisierten Wertfreiheit darüber hinaus als ein inkonsistentes Ideal, da bereits die analytischen Grundkategorien Wertentscheidungen zum Ausdruck brächten, die es offen zu legen gelte. Damit war der politische Charakter der klassischen Idee unpolitischer Wissenschaft behauptet und Hewins repräsentierte den neuen Typus des Post-Laissez-faire-Ökonomen und war stolz, die LSE zu einer praxisnahen Hochschule entwickelt zu haben, die beratungstaugliche Ökonomen (fabianisch-interventionistischer Prägung) ausbildete. Siehe hierzu: Deane 1990. 42 Zur Wertfreiheitsfrage immer noch empfehlenswert: Rudner 1953, Hutchison 1964, Klappholz 1964. Ferner: Kirzner 1994. Im obigen Satz bezieht sich ›werturteilsfrei‹ auf ›das eigentliche Werturteilsproblem‹, »d. h. also die Frage, inwieweit sozialwissenschaftliche Aussagen selbst den Charakter von Werturteilen haben müssen.« (Albert 1992, 87) 41

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einem neuen Verständnis der Verquickung von ›Erkenntnis und Interesse‹ der Weg bereitet: »Ökonomische Theorie ist Wohlfahrtstheorie«. 43

8. Die akademisch-institutionelle Ablösung der Wirtschaftswissenschaft von der Philosophie um die vorletzte Jahrhundertwende war somit bereits in der Phase ihres endgültigen Vollzuges fragwürdig. Das Neutralitätspostulat büßte zunehmend seine Überzeugungskraft ein, der liberale Konsens löste sich auf und die Politik kreierte einen ständig wachsenden Beratungsbedarf. Es entstand eine Situation, in der die Staaten der westlichen Welt ohne Orientierung an normativer Theorie expandierten. Während die Rechtfertigung der Rechtsstaatlichkeit vorlag, bevor Rechtsstaaten historisch sich entwickelten, entdeckte die »Philosophie den Sozialstaat erst als Problem […], nachdem der Sozialstaat selbst schon längst Wirklichkeit geworden war.« 44 Ähnliches gilt nicht nur für die Philosophie, sondern für normative Theorie allgemein. 45 Für die Expansion des Wohlfahrtsstaates waren zweifellos normative Erwägungen und Werturteile erheblich, aber sie standen untereinander in einem eher schwachen systematischen Zusammenhang, so dass die institutionellen Arrangements nicht auf ihre Kohärenz hin untersucht werden konnten. So war es denn nicht eine ›normative Hintergrundtheorie‹, sondern die keynessche Makroökonomie, von der wesentliche Impulse für die Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit ausgingen. 1.1.2. Keynes und das Ende von Laisser-faire 9. Eingeleitet wurde das liberale Schisma durch den Niedergang des Laisser-faire-Gedankens, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts Riese 1975, 30 Kersting 2000, 58 (Kursiv-Setzung aufgehoben) 45 Aus Sicht paretianischer Wohlfahrtsökonomie charakterisiert Sandmo die Argumente zugunsten wohlfahrtsstaatlicher Expansion in Skandinavien wie folgt: »There was little systematic discussion of the merits and weaknesses of the market mechanism, and one finds little awareness of the incentive problems that would emerge from largescale interventionism in the market mechanism. The principle of consumer sovereignty was not regarded as a central element in the evaluation of economic welfare. The process of policy formation was not seen as a unilateral transformation of preferences into policies, but also as an attempt on the part of the political leadership to influence individual preferences to take more account of social concerns.« (Sandmo 1991, 222) 43 44

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zunehmend an Einfluss verlor. Für den Fall Großbritanniens hat Richard Cockett den Beginn dieses Klimawechsels auf das Jahr 1884 datiert, das Jahr, in dem die Fabian Society gegründet wurde. 46 Ihre Gründungsmitglieder Beatrice und Sydney Webb sowie George Bernard Shaw planten die Fabian Society als eine Organisation, die schrittweise die politischen Eliten Großbritanniens für das Ideal eines durch staatliche Intervention humanisierten Kapitalismus gewinnen sollte. An die Stelle des naturwüchsigen Gewinnstrebens privat-egoistischer Kapitalisten sollte die bewusste Verfolgung des Gemeinwohls durch die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger treten. Die verfolgte Strategie der allmählichen Durchdringung war so erfolgreich, dass Friedrich von Hayek in den Dreißigerjahren von der Fabian Generation 47 sprach. Es ist für jene Periode typisch, wenn auch die intellektuelle Entwicklung eines wichtigen Liberalen wie Lionel Robbins ausgehend von einer fabianisch-sozialistischen Gesinnung begann. Die Fabian Society strebte insbesondere Einfluss auf die Liberal Party an, von der in der Folge die entscheidenden Impulse für den Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates ausgingen: Sozialversicherungen, Schulspeisungen und andere Wohlfahrtsmaßnahmen wurden – wenige Jahre zuvor undenkbar – von der liberalen Asquith-Regierung eingeführt; und es waren zwei Mitglieder der Liberal Party, William Beveridge und John Maynard Keynes, welche die konzeptionellen Grundlagen des britischen Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit legten. Wie ist die überlegene Attraktionskraft des Etatismus auch für Anhänger liberaler Werte zu erklären? Was hat die politischen Eliten für Ideen fabianischer Prägung empfänglich gemacht? Zum einen sicherlich die sich durchsetzende Auffassung, dass die Gesellschaft (verstanden als die Sphäre nichthoheitlicher Interaktionen) kollektiv gewünschte Güter und Leistungen – insbesondere solche, die dem Aufbau und der Erhaltung von Humankapital dienen – nur in unzureichendem Maße bereitstellt; in diesem Sinne lassen sich die frühen Initiativen zugunsten von Sozialversicherung, Schulpflicht und -speisung auslegen. Zum anderen die spätestens in den Dreißigern Cockett 1994, 14 »The people who call for a further extension of government controls of economic life have certainly ceased to be in any way intellectual path-breakers – they are most definitely the spirit of the age, the ultimate product of the revolutionary spirit of an earlier generation – the Fabian Generation.« (Hayek Inaugural Lecture, zitiert nach Cockett 1994, 32)

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auch nichtmarxistischen Ökonomen sich aufdrängende Sicht, dass der Kapitalismus schwere zyklische Krisen durchläuft und damit nicht nur humanitäre Verheerungen anrichtet, sondern die Stabilität der gesamten politökonomischen Struktur bedroht. Die soziale Frage, die inhärente Instabilität der kapitalistischen Entwicklung und die Wechselwirkung beider Probleme legten vielen Liberalen eine Preisgabe der geschlossenen weltanschaulichen Positionen des 19. Jahrhunderts nahe. Es war vor allem das Werk von John Maynard Keynes, das den Transformationsprozess des liberalen Gedankens in diesem Sinne vorangetrieben hat. Liberalism im Sinne von Dworkin oder Waldron wäre ohne dessen Arbeit kaum denkbar. Keynes hat nicht allein in dem ökonomischen Teil seines Werkes die Grundlagen der makroökonomischen Stabilisierungspolitik gelegt, also des wirtschaftspolitischen Rückgrats der Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern in dem philosophischen auch die entsprechende Neukalibrierung des Liberalismusbegriffs gefordert. Im Werk von Keynes, so könnte man sagen, erlangt das liberale Schisma eine explizite, intellektuelle Gestalt, insofern er von der Unhaltbarkeit der überkommenen Synthese von liberaler Politik und liberaler Ökonomie ausging. Das Stichwort, das Keynes einführte, lautete »liberaler Sozialismus«, die Verbindung eines starken, die Wirtschaft stabilisierenden und regulierenden Staates mit dem traditionellen bürgerrechtlichen Anliegen des Liberalismus, eine Synthese, die sich später in den beiden rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätzen in philosophisch systematisierter Form niederschlägt. »The question is whether we are prepared to move out of the nineteenth-century laissez-faire state into an era of liberal socialism, by which I mean a system where we can act as an organised community for common purposes and to promote economic and social justice, whilst respecting and protecting the individual – his freedom of choice, his faith, his mind and its expression, his enterprise and his property.« 48

Keynes’ Formulierungsweise legt nahe, das, was er den liberalen Sozialismus nennt, als eine Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus anzusehen, als eine Bewahrung seiner Anliegen und zugleich Zitiert nach Cockett 1994, 36. »The transition from economic anarchy to a régime which deliberately aims at controlling and directing economic forces in the interests of social justice and social stability will present enormous difficulties both technical and political. I suggest, nevertheless, that the true destiny of New Liberalism is to seek their solution.« (Keynes 1925/1972, 305)

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als eine Überbietung seiner Hoffnungen. Der liberale Sozialismus vermöge sowohl die Individuen zu schützen und zu respektieren als auch die Gemeinschaft im Sinne eines gemeinsamen Zwecks zu organisieren. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht weiter mit der Frage beschäftigen, was sich hinter der Formel von der »organised community for common purposes« verbirgt oder was mit »liberal socialism« im Einzelnen gemeint sein könnte. Im Abschnitt ›Wohlfahrtsstaatlichkeit und Krise‹ bin ich auf den Einfluss der keynesschen Makroökonomie auf die Gestaltungsmerkmale des Nachkriegs-Wohlfahrtsstaates bereits eingegangen. Hier geht es jedoch um die Frage, wie, warum und in welcher Form sich neben der Neutralitätsposition der Gedanke einer genuin ökonomischen Legitimation staatlichen Handelns etablieren konnte.

1.2. Nutzenvergleiche und Umverteilung Lionel Robbins’ 1932 erschienener Essay on the Nature and Significance of Economic Science stellt einen Einschnitt in der Theoriegeschichte der Ökonomie dar. Bis in die Dreißigerjahre war ein Gutteil der Ökonomen davon überzeugt, die Umverteilung von Einkommen und Vermögen ließe sich auf rein wissenschaftlich-ökonomische Weise begründen. Die Legitimation der Einkommenssteuer-Progression schien auf wertfreier Basis möglich und fiel insofern nicht unter das Verdikt der Neutralitätsposition. Maßgeblich für diese Überzeugung war, dass der Nutzen einer zusätzlichen Einkommenseinheit für eine vermögende Person offensichtlich geringer ist als für eine mittellose; wird der einen genommen und der anderen gegeben, so kann dies eine Zunahme der Nutzenmenge in der Bevölkerung bedeuten. Stellt sich die Regierung auf den Standpunkt einer unparteilichen Beobachterin, so wird sie diese Zunahme wünschen. Denn sie ist indifferent gegenüber dem Verlust des einen und dem Gewinn des anderen. Ihr Standpunkt liegt über den Parteien, und dies führt sie dazu, für eine ausgeglichenere Verteilung von Vermögen und Einkommen zu sorgen. Die voranstehende Überlegung könnte man als das ›utilitaristische Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstandes‹ bezeichnen. Natürlich lässt es in dieser simplen Form zahlreiche Fragen offen: Wie zum Beispiel verhält sich die Nutzenbetrachtung zu anderen wichtigen sozialen Gütern wie Freiheiten und Rechten? Oder A

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lässt sich auch der Wert von Freiheiten und Rechten in einem einheitlichen Nutzenindex abbilden? Aber unabhängig von den fälligen Differenzierungen und Klärungen scheint die Position des Utilitarismus des gesunden Menschenverstandes grundsätzlich verständlich: Eine zusätzliche Einkommenseinheit stiftet für unterschiedlich wohlhabende Personen einen unterschiedlich intensiven Nutzen; die Regierung sollte (a) einen unparteilichen Standpunkt einnehmen und (b) den Nutzen der Bevölkerung maximieren. Robbins’ Buch von 1932 hatte nun entscheidenden Anteil daran, dass diese Begründung der Umverteilungspolitik ihre Selbstverständlichkeit verlor. 49 Sein Argument war denkbar einfach: 50 In westlichen Demokratien, so Robbins, gehen wir davon aus, dass Personen in ähnlichen Umständen gleiche Befriedigung erfahren. Aber diese Annahme können wir nicht wissenschaftlich validieren. Die Nutzenempfindungen der einen und die der anderen Person gehören gewissermaßen zwei unterschiedlichen subjektiven Welten an und es gibt keinen objektiven Maßstab, mit dem sie vergleichbar gemacht werden könnten. Das Fehlen des objektiven Maßstabs ist hier das Entscheidende: Natürlich wissen wir, dass X, der von einem Querschläger getroffen wurde, schlechter dran ist als der neben ihm stehende Y, der verschont blieb. Aber wir können nicht wissenschaftlich feststellen, um wie viel schlechter, und entsprechend fehlt eine Grundlage für die Verrechnung von Nutzen. Utilitaristische Umverteilung beruht auf dem Gedanken gleicher Nutzenproduktivität. 51 Doch woher weiß man um dessen Richtigkeit?

Zwar schreibt Frank Hahn 1982, 187: »The economic theory of public policy is relentlessly utilitarian: policies are ranked by their utility consequences.« Aber insgesamt scheint mir Ngs Einschätzung zuzutreffen: »[…] most economists still doubt the possibility of the measurement of cardinal utility and believe in the meaninglessness or normative nature of interpersonal comparisons of utility.« (Ng 1997, 1852) 50 Robbins 1932/1984, 140; siehe auch: Robbins 1938, 636. 51 Diese Annahme ist notwendig, damit der Utilitarismus egalitaristische Konsequenzen freisetzt. »That utilitarianism can lead to all kinds of inequality«, demonstriert Mirrlees 1982, 76. Wenn zwei Individuen, Tom und Dick, dieselbe Nutzenfunktion von Einkommen und Arbeit haben, aber Toms Produktivität doppelt so groß ist wie Dicks, so würde eine perfekt informierte utilitaristische Regierung dafür sorgen, dass Tom mehr arbeitet und weniger verdient als Dick. Die Beweislage ändert sich, wenn die Regierung nicht perfekt informiert ist und Arbeitsproduktivität nur indirekt beobachtet werden kann. Unter diesen Umständen würde ein utilitaristisches Regime zulassen, dass Tom eine größere Nutzenmenge realisiert. 49

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»And, indeed, if the representative of some other civilization were to assure us that we were wrong, that members of his caste (or his race) were capable of experiencing ten times as much satisfaction from given incomes as members of an inferior caste (or an ›inferior‹ race), we could not refute him.« 52

Dass jener Repräsentant nicht wissenschaftlich widerlegt werden kann, war jedoch für Robbins kein Grund, an ›Nutzen‹ als einem Bewertungskriterium sozialer Zustände zu zweifeln. Sein Argument war methodologisch, nicht gegen den Utilitarismus gerichtet. Er hatte – dem Positivismus seiner Tage entsprechend – Verifizierbarkeit durch innere oder äußere Beobachtung als Kriterium der Wissenschaftlichkeit eingeführt; da interpersonelle Nutzenvergleiche in diesem Sinne nicht verifizierbar sind, hatte er sie für unwissenschaftlich erklärt; 53 wenn sie also überhaupt Sinn haben sollten, dann müssten sie nach Robbins präskriptiven Charakters sein. 54 Pigous The Economics of Welfare wäre demzufolge also keineswegs ein rein wissenschaftliches, sondern auch ein ethisches Buch. So weit die von Robbins vorgelegte Analyse – aber was war letztlich Umstürzlerisches an seiner Entdeckung? Auch vor Robbins hatten Ökonomen darauf hingewiesen, dass wirtschaftspolitische Handlungs- und Gestaltungsempfehlungen letztlich von Normen oder Werturteilen abhängen, die nicht innerhalb der Ökonomie begründet werden. Auch Pigou hatte in seiner Antrittsvorlesung die Studenten ermuntert, sich mit Ethik zu beschäftigen, und von der wechselseitigen Abhängigkeit beider Disziplinen gesprochen. 55 Robbins 1932/1984, 140 Moderne Utilitaristen wie James Mirrlees umgehen das Problem interpersoneller Vergleichbarkeit, indem sie von Modellgesellschaften isomorpher Individuen ausgehen und die in diesem Kontext gewonnen Aussagen verallgemeinern. Siehe: Mirrlees 1982. 54 Dass interpersonelle Nutzenvergleiche Werturteile seien oder enthielten, bestreitet Little 1950, 67–83, allerdings auf der Grundlage einer überholten Metaethik. Stichhaltig ist jedoch sein Hinweis, dass eine Aussage der Form »A ist glücklicher als B« eine deskriptive Aussage ist. Die Kriterien, aufgrund derer externe Beobachter ein solches Urteil begründen, sind möglicherweise unzuverlässig oder fragwürdig. Aber dies macht sie nicht zu ›Werturteilen‹. Es ist daher vorgeschlagen worden zu sagen, interpersonelle Nutzenvergleiche seien in bestimmten Hinsichten ›wie Werturteile‹ ; siehe: Möller 1983, 36. 55 »Economics and Ethics are mutually dependent. The practical art of social service requires them both. The first is hand-maid to the second. It is essential for the full fruitfulness in practice of either of them that the other should progress. May I add that it is an urgent need for the economist that he be also a student of Ethics?« (Pigou 1908, 13– 14) 52 53

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Robbins zeigte sich über den Effekt seiner Arbeit selbst verwundert, zumal er noch nicht einmal für Protektionismus geworben oder gegen die Einkommenssteuer-Progression geredet hatte. In einem auf Roy Harrod reagierenden Artikel hielt Robbins 1938 mit gelindem Erstaunen fest: »All that I was doing was only to recognize that, in a field of generalizations hitherto thought to involve no normative elements, there were in fact such elements concealed.« 56

Alles, worum es ihm ging, betonte er nachträglich, war »the due place of philosophy in the general scheme of social studies« 57 zu bestimmen und ihre Unverzichtbarkeit für die praktische Verwendung der Ökonomie herauszustellen. Dies war nun aber alles andere als ein sensationelles oder anstößiges Anliegen. Vergleicht man jedoch die Tonlage des Essay mit dem viktorianischen Moralismus von Pigou und Marshall als den führenden Mitgliedern der Cambridge School, so lässt sich der durchdringende Effekt seiner Ausführungen auf die Disziplin nachvollziehen. Robbins strich jegliches moral commitment aus seinem Text und erzeugte damit den Eindruck dezisionistischer Beliebigkeit. Der häufige Gebrauch des Wortes ›arbitrary‹ mit Bezug auf value judgements musste den Eindruck hinterlassen, dass Robbins nicht an die rationale Begründbarkeit normativer Aussagen außerhalb der Reichweite des Zweck-MittelSchemas glaubte. Die zeitgenössisch-positivistische Philosophie, die Ethik als Feld vernünftiger Meinungsverschiedenheit abgeschrieben hatte, verstärkte diese Tendenz; und im Kontext der Erfahrung zugespitzter ideologischer Konflikte in den Dreißigerjahren war sie überzeugender als Hoffnungen auf die konsensbildende Kraft praktischer Vernunft.

1.3. Die Erfindung normativer Ökonomie 1. Robbins’ Argumentation richtete sich nicht gegen den Utilitarismus, sondern gegen die Idee, dass utilitaristische Präskriptionen Robbins 1938, 638 »Would it not be better, I asked myself, quite frankly to acknowledge that the postulate of equal capacity for satisfaction came from outside, that it rested upon ethical principle rather than upon scientific sense« (Robbins, 1938, 639)

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direkt aus der Ökonomie ableitbar seien. 58 Vor dem Hintergrund der Neutralitätsposition kam dies jedoch einer Entwertung des Utilitarismus gleich. Dessen Statusverlust kräftigte die Position von liberalen Individualisten und Umverteilungsskeptikern, in deren Ausführungen die auf Robbins zurückgeführte These von der ›Unmöglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche‹ gleichsam zum Dogma geronnen ist. Von der Feststellung, interpersonelle Nutzenvergleiche seien nicht wissenschaftlich validierbar (und daher Werturteile), gingen viele, unter ihnen Autoren wie Israel Kirzner oder Murray Rothbard, dazu über, die Sinnlosigkeit der Vergleiche zu statuieren und damit ›Nutzen‹ als Bewertungskriterium gänzlich zu verwerfen. 59 Es ist nicht ganz einfach, genau anzugeben, was Kirzner und Rothbard mit ihrer Sinnlosigkeitsbehauptung meinen, aber es ist klar, was ihrer Meinung nach daraus folgt: die Hinfälligkeit des Utilitarismus. 60 Wirkungsgeschichtlich gingen also von Robbins’ Essay zwei Impulse aus: Auf methodologischer Ebene forderte er, den Status von Präskriptionen innerhalb der Ökonomie zu überdenken, auf normativer Ebene schwächte er die Reputation des Utilitarismus und stärkte indirekt individualistische Ansätze: auf der einen Seite den individualrechtlichen Liberalismus in der lockeschen Tradition, auf der anderen Seite den vertragstheoretischen Liberalismus der hobbesschen Linie. Letzterer wiederum erfährt Stützung durch die methodologische Entwicklung, die – unter anderem – durch den Essay induziert wurde: die Heraufkunft der paretianischen Ökonomie. »It was not possible to say that economic science showed that free trade was justifiable, that inequality should be mitigated, that the income tax should be graduated, and so forth.« (Robbins 1938, 637) 59 »From the perspective of the methodological individualism which nourishes Austrian Economics, the idea of aggregating utility is simply meaningless (not just wrong).« (Kirzner 1998, 291) 60 Wenn Kirzner meinte, dass Sätze über die mentalen Zustände anderer bedeutungslos seien, so befände er sich wohl im Irrtum. Solche Sätze sind nicht rätselhafter als Sätze über eigene mentale Zustände. Denn ob ich in einem solchen Zustand bin oder du es bist, ist für die Beschreibung der Welt irrelevant: »that is to say, if you and I just changed places, the world would be no different in its universal properties.« (Hare 1981, 123) Zudem: Wenn die mentalen Zustände anderer unbegreiflich wären – wie wären es die eigenen zu anderen Zeitpunkten? »[…] even if we say nothing about other people’s preferences, our whole governance of our lives depends on the solution of a problem of which knowledge of other people’s preferences is a special case: the problem of truly and with confidence representing to ourselves experiences which are now absent.« (Hare 1981, 126) 58

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2. Unter den ersten, die systematische Konsequenzen aus der methodologischen Problemlage zogen, war Nicholas Kaldor. Seine kurze Arbeit Welfare Propositions of Economics and Interpersonal Comparisons of Utility bezweifelte nicht die Triftigkeit der robbinsschen Aussagen über den Status interpersoneller Nutzenvergleiche. Jedoch teilte er keineswegs seine Auffassung über die Konsequenzen dieser Position für Wohlfahrtsökonomie und politische Beratung. Das Thema, ob die Ökonomie als Wissenschaft Handlungsempfehlungen geben könne, sei von dem der interpersonellen Vergleichbarkeit sorgfältig zu unterscheiden. Insofern habe man sich, nach Kaldor, getäuscht, wenn man angenommen habe, »that the status of prescriptions necessarily depends on the status of the comparisons« 61 , eine Sichtweise, die er bei Harrod entdeckt haben wollte. Interessanterweise nahmen seine Überlegungen eine Distinktion aus The Economics of Welfare auf, die zwischen Produktion und Distribution. Was die Produktionsseite anbelange, bewege sich die ökonomische Legitimation institutioneller Arrangements auf sicherem Grund, sofern klare Aussagen über Auswirkungen auf das Volkseinkommen getroffen werden könnten. Führe ein solches Arrangement zu einem Wachstum des Volkseinkommens, so sei es wünschenswert. »Here the economist is on sure ground; the scientific status of his prescription is unquestionable, provided that the basic postulate of economics, that each individual prefers more to less, a greater satisfaction to a lesser one, is granted.« 62

Wenn jedes Individuum mehr gegenüber weniger bevorzugt, dann kann auf strikt individualistischer Grundlage und ohne Voraussetzung der interpersonellen Addierbarkeit von Nutzen ein größeres Volkseinkommen A als besser eingestuft werden als ein geringeres B. Denn es ist dann möglich, das Einkommen A so zu verteilen, dass es jede mögliche Distribution von B entscheidungstheoretisch dominiert. Werden nun noch die Kosten der Redistribution berücksichtigt, so lässt sich folgern: »Only if the increase in total income is sufficient to compensate for such losses, and still leaves something over to the rest of the community, can it be said to be ›justified‹ without resort to interpersonal comparisons.« 63 61 62 63

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Die Pointe dieser Überlegung besteht nicht darin, dass jemandes Rechte durch staatliches Handeln verletzt werden, wenn mögliche Verluste infolge solchen Eingreifens nicht in vollem Umfang ausgeglichen werden und sie daher aus individueller Perspektive nicht zustimmungsfähig sind; sondern darin, ein zugleich – wie Kaldor annimmt – wertneutrales und von interpersonellen Nutzenvergleichen unabhängiges Kriterium für die Evaluation von wirtschaftspolitischem Handeln bereitzustellen, das keinerlei Bezugnahme auf individuelle Rechte impliziert. Konsequenterweise erklärt er es daher auch für eine Frage politischer Zweckmäßigkeit, ob Kompensationen tatsächlich vorgenommen werden. Es ist zuweilen gefragt worden, wie das Bestehen des Kompensationstests etwas legitimieren könne, wenn nicht zugleich wirkliche Umverteilung gefordert werde. Eine sehr berechtigte Frage – doch geht sie implizit von dem Gedanken des Rechts von Individuen auf den Verteilungs-Status-Quo aus, ein Gedanke, der in Kaldors Überlegungen keine Rolle spielt. Sein Argument lautet im Kern, dass der Satz »that each individual prefers more to less« im Zusammenhang mit Aussagen über die Effekte einer Politik auf das Volkseinkommen ausreicht, um zu ökonomischen Präskriptionen zu gelangen und die Richtigkeit paradigmatischer Fälle, wie The Repeal of the Corn Laws, zu erweisen. 64 Verglichen werden Ausprägungen einer Aggregatgröße, des Volkseinkommens, hinsichtlich ihres Potentials bezüglich der Nutzensituation von Individuen. Mit Blick auf Fragen der Einkommensverteilung hingegen verfügt die Ökonomie über kein eigenständiges Bewertungskriterium, sondern bewegt sich innerhalb des Zweck-Mittel-Schemas: »All that economics can, and should, do in this field, is to show, given the pattern of income distribution desired, which is the most convenient way of bringing it about.« 65

Der kaldorsche Vorstoß schien zunächst einen gangbaren Ausweg aus der Verlegenheit ökonomischer Beratung zu bieten, indem er beides versprach: wissenschaftliche Seriosität und ein präskriptives Kriterium. So entschieden er auch vorgetragen wurde, seine Schwäche war deutlich sichtbar. Eine Aussage über Maßnahmen, die geeig»It can be demonstrated, however, that in the classical argument for free trade no such arbitrary elements [i. e. value judgements] are involved at all.« (Kaldor 1939, 549) 65 Kaldor 1939, 552 64

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net sind, das Volkseinkommen zu vermehren, ist nichts weiter als eben dies; will man zu einer politischen Empfehlung gelangen, müssen aber alle politisch-normativ relevanten Konsequenzen gegeneinander abgewogen werden. Mit anderen Worten, die Ausklammerung von Distributionsfragen aus der ökonomischen Expertise macht deren Präskriptionen normativ und politisch wertlos. Wenn ökonomische Handlungsempfehlungen politisch entscheidende Bewertungsdimensionen einfach ignorieren, können sie, die Empfehlungen, aus den Expertisen verlustlos herausgekürzt werden. Informativ sind für die Entscheidungsträger dann lediglich die bereitgestellten Hypothesen über Fakten und Mechanismen. Nützlicher ist es aber, die ökonomische Expertise von Beginn an auf das politisch verfolgte Zielsystem festzulegen – Kaldors Vorschlag erbrachte also in seiner ursprünglichen Fassung keinen wesentlichen Forschritt, insofern er sich weigerte, das Verhältnis von Distribution und Produktion normativ zu spezifizieren. Allerdings war in seinem Begriff der Kompensation eine Lösungsmöglichkeit der Schwierigkeit bereits angelegt. Es bedurfte nun lediglich des zusätzlichen Schritts, Kompensationstest und Pareto-Prinzip (genauer gesagt: die hinter dem Pareto-Prinzip stehende normative Intuition) zusammenzubringen. 3. Ein wichtiges Zwischenglied hatte Harrod eingefügt, als er vorschlug, die Ökonomie auf eine präferentialistische Grundlage zu stellen: »The economic good is […] the preferred.« 66

In diesem dichten Satz vollzog sich eine konzeptionelle Revolution. Harrod koppelte die Ökonomie mit einer Theorie des Guten, die weniger voraussetzungsreich war als der klassische Utilitarismus und weniger altfränkisch als der Perfektionismus, mit dem Marshall liebäugelte, 67 die zugleich zusammenstimmte mit der ordinalistiHarrod 1939, 390 In seiner Antrittsvorlesung – »this characteristically Victorian manifesto« (Coats) – hatte Marshall die wohltuende Wirkung der Ökonomie für die Gesellschaft herausgestrichen. Dabei dachte er nicht etwa allein an die Bereitstellung konzeptioneller Instrumente, die eine rationale Beilegung von Meinungsverschiedenheiten ermöglichen. Vielmehr habe die Ausbildung darüber hinaus die Aufgabe, exzellente Charaktere heranzubilden; siehe: Marshall 1985/1925. Von der Wünschbarkeit des verfeinerten und noblen Lebens ist in Harrods Präferentialismus nicht mehr die Rede, wenn es lapidar

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schen Nachfragetheorie, mit dem Prinzip der Konsumentensouveränität und dem politisch-liberalen Grundsatz, dass die Individuen selbst das Recht haben sollen, zu entscheiden, was gut für sie ist. Indem er die Ökonomie auf eine umgreifende Theorie des Guten aufzubauen vorschlug, durchschnitt er zugleich den Problemknoten, mit dessen Lösung sich Pigou letztlich erfolglos geplagt hatte: Wie sich economic welfare von Wohlfahrt in einem umfassenden Sinne abgrenzen lasse. Und – last but not least – unterbreitete er eine Deutung, von der er fand, dass sie die Intentionen der Klassiker adäquat zum Ausdruck bringe: »If we may adopt Professor Robbins’ method of regarding the inner structure of thought rather than the verbal formulation of it, this choice of a criterion may be attributed to Adam Smith.« 68

Kombiniert man nun Harrods Präferentialismus mit dem kaldorschen Kompensationskriterium, so wandelt sich dessen Status: Es ist jetzt nicht mehr ein Test darauf, ob eine Aggregatgröße ökonomischwissenschaftlich als besser betrachtet werden kann als eine andere; vielmehr fungiert es nun als umfassendes Kriterium für die Legitimität oder Illegitimität eines wirtschaftspolitischen Eingriffs. Ökonomisch gut ist eine Zustandsänderung, wenn die Individuen sie präferieren. Unter der Annahme, dass interpersonelle Nutzenvergleiche wissenschaftlich unzulässig sind, heißt dies, dass mindestens ein Betroffener etwas bevorzugt und alle anderen ihm gegenüber zumindest gleichgültig sind, um von ihm sagen zu können, es sei ökonomisch gut. Wenn das ökonomisch Gute durch das von Individuen Präferierte definiert ist, so impliziert dies, im Gegensatz zu der von Kaldor vertretenen Auffassung, eine Aussage über die Legitimität staatlicher Eingriffe in die gesellschaftlichen Verteilungspositionen. 4. Hicks The Foundation of Welfare Economics konnte auf diese Entwicklung aufbauen. Der Artikel setzt mit einer Beschreibung des Relativismus-Problems an, in das die Disziplin nach der damals üblichen Einschätzung durch Robbins Essay geraten war: Wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen heißt: »The [economic] criterion may be defined dogmatically as follows: If an individual prefers a commodity or service X to Y, it is economically better that he should have it. Similarly, if the individual prefers work X to Y, or dislikes it less, it is economically better that he should do it.« (Harrod 1938, 389–390) 68 Harrod 1938, 389–390 A

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»can possess no validity for anyone who lives outside the circle in which these values find acceptance. Positive economics can be, and ought to be, the same for all men; one’s welfare economics will inevitably be different according as one is a liberal or a socialist, a nationalist or an internationalist, a christian or a pagan. It cannot be denied that this latter view is in fact widely accepted. If it is intellectually valid, then of course it ought to be accepted; and I must admit that I should have subscribed to it myself not so long ago. But it is a rather dreadful thing to have to accept. […] economic positivism might easily become an excuse for the shirking of live issues, very conducive to the euthanasia of our science.« 69

Dieser düsteren Diagnose der Lage, in die präskriptive Ökonomie durch die Kritik an der utilitaristischen Tradition geraten ist, folgt die Ankündigung der »main lines of the new welfare economics«, die das Fach bis heute prägen. Neu war unter anderem die von Hicks gewählte Argumentationsstrategie, die das ökonomische Bewertungskriterium aus dem Begriff der Ökonomie herleiten will: Ökonomie, verstanden als eine Theorie »which exhibits a system in which people co-operate with one another in order to satisfy their wants.« 70 Entsprechend nahm er nicht mehr Bezug auf praktische Philosophie als den systematischen Ort der Begründung von Normen, sondern fragte, welches Problem Ökonomie eigentlich bearbeitet. Das ökonomische Problem einer Gesellschaft sei ganz analog zu dem eines Individuums »endeavouring to satisfy his tastes as far as possible in view of the obstacles to satisfaction which confront him. Looking at society as a whole, the obstacles are technical obstacles – the limited amount of productive power available, and the technical limits to the amount of production this productive power will yield.« 71

Wer nun diese Charakterisierung des ökonomischen Problems anerkenne, müsse konsequenterweise zustimmen, dass Ökonomie notwendigerweise einen normativen Teil umfasse, »because the subject-matter of our study is something which is defined relatively to a purpose. […] The task of examining the efficiency […] of any

Hicks 1939, 696 Hicks 1939, 698. Diese Strategie ist von Kirzner in seinen Bemühungen, ein mit den Anschauungen der Österreichischen Schule kompatibles Bewertungskriterium zu entwickeln, kopiert worden. Siehe: Kirzner 1992, Kirzner 1998 sowie Klein 1997. 71 Hicks 1939, 698 69 70

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given economic organization is thus one which we should like to regard as an integral part of economics.« 72

Und die Möglichkeit von Aussagen über die Effizienz des ökonomischen Systems – hier konnte sich Hicks auf die Vorarbeit von Kaldor berufen – hängt für die paradigmatischen Fälle ökonomisch vernünftiger Institutionen nicht von interpersonellen Nutzenvergleichen ab. Damit schien ihm der Bestand »[of] the more important part of welfare economics« 73 gesichert. Konzis formuliert er nicht nur ein neues normatives Beurteilungskriterium für wirtschaftspolitisches Handeln, sondern weist zugleich dessen Begrenztheit auf: Überprüfe, ob Maßnahmen verfügbar sind, mit deren Hilfe die Position wirtschaftlicher Akteure verbessert werden könnte, ohne die anderer zu verschlechtern! Kommt es zu der Schlechterstellung einer Gruppe und zu der Besserstellung einer anderen, so überprüfe, ob die Gewinne der einen die Verluste der anderen aufwiegen! 74 Kann ein NettoWohlfahrtsgewinn realisiert werden, so führe die Maßnahme aus! Allerdings, und dies markiert die Grenze des Kriteriums, können mehrere Kaldor-Hicks-Verbesserungspfade offen stehen, die zu unterschiedlichen Punkten auf der frontier führen – diese unterschiedlichen Punkte entsprechen »differences in the distribution of social wealth« 75 , und das Effizienzkriterium kann nicht festlegen, welche dieser Verteilungen zu bevorzugen und, entsprechend, welcher Pfad einzuschlagen ist. Damit hatte Hicks bereits das Problem der Unterbestimmtheit des Ansatzes bezüglich optimaler Zustände berührt, das man später mit dem Konzept der ›sozialen Präferenzfunktion‹ aufzulösen hoffte. 76

Hicks 1939, 699 (Hervorhebung von mir) Hicks 1939, 700 74 »Thus no simple economic reform can be a permitted reorganisation in our sense, because it always inflicts a loss of some sort upon some people. Nevertheless, this does not prevent us from applying our criteria to the case of private enterprise, because we can always suppose that special measures are taken through the public revenue to compensate those people who are damaged. A ›permitted reorganisation‹ must thus be taken from now on to mean a reorganisation which will allow of compensation being paid, and which will yet show a net advantage.« (Hicks 1939, 706) 75 Hicks 1939, 701 76 Bergson 1938. »The literature on social welfare functions can be seen as an attempt to provide criteria for social choice in cases where the notion of Pareto optimum is an insufficient basis of judgement.« (Rutherford 1994, 153) 72 73

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5. Hicks’ Herleitung des Pareto-Prinzips aus dem Begriff der Ökonomie hat viele Kommentatoren zu der Aussage geführt, es sei ›wertneutral‹. 77 Mit ›Wertneutralität‹ ist hier gemeint, dass die normativen Urteile, die sich auf Grundlage des Paretianismus fällen lassen, nicht von subjektiven Vorlieben der Wissenschaftler abhängen. Für diese Deutung spricht zunächst, dass es Hicks’ Anspruch war zu zeigen, dass es Ökonomen nicht freistehe, Effizienz durch ein Bewertungskriterium zu ersetzen, das ihnen persönlich wichtiger sei – soziale Gerechtigkeit beispielsweise. Damit trat er Robbins’ dezisionistischer Auslegung des Ursprungs (wirtschafts)politischer Meinungsverschiedenheiten entgegen, die der Einheit positiver Theorie den ›Polytheismus letzter Werte‹ (Weber) gegenüberstellte. Zugleich widersprach Hicks aber einer Position, wie sie später von Friedman populär gemacht wurde: dass der Gedanke, Auseinandersetzungen über letzte Wertungen seien nicht argumentativ beizulegen, zwar zutreffe; dass aber in vielen – wenn nicht in allen wesentlichen – Fällen politische Konflikte eben nicht auf unterschiedliche Wertvorstellungen, sondern auf widerstreitende Überzeugungen bezüglich Fakten und Wirkungszusammenhängen zurückgingen. Konsens über Wirtschaftspolitik sei daher von den Fortschritten der positiven Theorie in viel höherem Masse abhängig als von denen der normativen. 78 Hicks’ Einwand gegen beide Positionen bestand darin, dass Ökonomen als Ökonomen auf einen bestimmten normativen Gesichtspunkt festgelegt sind, der sich aus dem Charakter der Wissenschaft als einer allgemeinen Theorie des Knappheitsproblems ergibt. Der Effizienzbegriff ist ein »integral part of economics« (Hicks).

Kritisch hierzu: Rothenberg 1961, Peacock & Rowley 1975. »I venture the judgment, however, that currently in the Western World, and especially in the United States, differences about economic policy among disinterested citizens derive predominantly from different predictions about the economic consequences of taking action – differences that in principle can be eliminated by the progress of positive economics – rather than from fundamental differences in basic values, differences about which men can ultimately only fight. […] If this judgment is valid, it means that a consensus on ›correct‹ economic policy depends much less on the progress of normative economics proper than on the progress of a positive economics yielding conclusions that are, and deserve to be, widely accepted. It means also that a major reason for distinguishing positive economics sharply from normative economics is precisely the contribution that can thereby be made to agreement about policy.« (Friedman 1954, 5, 6–7)

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1.3.1. Pareto-Effizienz 6. Die Entwicklung der Grundlagen normativer Ökonomie durch Hicks hat der Disziplin eine interessante Alternative zu der Neutralitätsposition eröffnet, in deren Rahmen auch Robbins noch dachte: Die Ökonomie war für ihn eine positive Wissenschaft, die Instrumente und Implikationen analysiert; begründete Zwecke werden ihr durch die Philosophie, gegebenenfalls auch durch den demokratischen Willen vorgegeben. Die Frage nach den normativen Grundlagen der Umverteilungspolitik wird damit an externe Instanzen delegiert. 79 Mit dem Konzept der Pareto-Effizienz verfügte die Ökonomie jedoch (wieder) über die Möglichkeit, eigenständige wirtschaftspolitische Gestaltungsempfehlungen vorzutragen. Indes haben sich die politischen Gewichte gegenüber dem Utilitarismus verschoben, weil sich Forderungen nach egalitaristischer Umverteilung mit dem Pareto-Prinzip nicht (zumindest nicht auf direktem Wege) begründen lassen. Und genau deshalb halten viele die paretianische Ökonomie für politisch und moralisch bedenklich. »A society in which some people lead lives of great luxury while others live in acute misery can still be Pareto optimal if the agony of the deprived cannot be reduced without cutting into the ecstasy of the affluent. A state can be Pareto optimal and still be sickeningly iniquitous.« 80

Nicht nur Amartya Sen ist unwohl bei dem Gedanken, dass die paretianische Ökonomie keine Grundlage bietet, den von ihm beschriebenen Zustand zu kritisieren. Sein Bedenken wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass sich die ursprünglich von Hicks gehegte Überzeugung als unhaltbar erwies, das Pareto-Kriterium setze keine externen Werturteile voraus. Damit drohte auch der Vorzug gegenüber der utilitaristischen Ökonomie zu entfallen. Man ging nun im paretianischen Lager dazu über, das Kriterium zum Gegenstand eines Konsenses zwischen allen vernünftigen Leuten zu erklären, 81 weil es jedermann billigen müsse; gebräuchlich ist auch die Rede, dass die

Nach wie vor bewegen sich viele Ökonomen innerhalb dieses Musters. Soziale Präferenzfunktionen werden überwiegend als Darstellungen der Einstellung einer Gesellschaft gedeutet – sie bilden exogene Präferenzen ab. 80 Sen 1996, 53 81 Hackmann 1987 79

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Werturteile des Pareto-Prinzips ›schwach‹ seien. 82 Was genau soll damit gesagt sein? Schwäche kann im Fall von Werturteilen zum einen meinen, dass sie keinem ernsthaften moralischen Widerspruch ausgesetzt sind. Das Zitat Sens dürfte verdeutlichen, dass das Pareto-Kriterium nicht in diesem Sinne schwach ist. In welchem aber dann? Ein ›schwaches Werturteil‹ könnte auch meinen, dass es – im Gegensatz zu ›starken Werturteilen‹ – zwingend oder besonders gut begründbar wäre. Der Vorzug des schwachen Werturteils besteht also nicht darin, dass alle es teilen, sondern dass alle es teilen, sobald sie vorurteilslos und gegenüber guten Begründungen aufgeschlossen nachdenken. Die Unterscheidung zwischen einem starken und einem schwachen Vernunftbegriff passt in diesen Zusammenhang. Als einen starken Vernunftbegriff bezeichnen Ernst Tugendhat und andere den Vernunftbegriff der philosophischen Tradition, 83 den sie für obsolet, für metaphysisch halten. In diesem Verständnis hieße dann die Rede von ›schwachen Werturteilen‹, dass sie auf einem nichtmetaphysischen Vernunftbegriff beruhen, im Gegensatz zu starken Werturteilen, die metaphysische Voraussetzungen beanspruchen. Gegen Sens moralische Bedenken wäre demzufolge einzuwenden, dass er seine Verteilungspräferenzen nicht rational begründen könnte. Sein Unwohlsein folgt aus seinen Vorlieben und aus nichts anderem.

Dass Schwäche als solche ein Qualitätskriterium von Werturteilen sein soll, verwundert Peacock 1997a, 29: »Economists, understandably, on the whole have kept clear of philosophical discussion of the nature and status of value judgments. The result has been interesting. Although it has become widely accepted that statements about the ›welfare‹ of individuals in a community are normative, attempts have been made to confer a special status on particular value judgments, notably those associated with Paretian welfare economics. Thus a form of Paretian welfare economics has been supported (e. g. by Archibald and Hennipman – see Blaug, 1980) because it appears to minimize propositions that need to be made.« 83 Pars pro toto die Darstellung von Stefan Gosepath 1992, 12: »Nach Hegel gab es in der philosophischen Beschäftigung mit Vernunft einen Bruch. Die Idealisierung einer objektiven Vernunft verlor ihre Glaubwürdigkeit. […] Der Begriff der Vernunft steht nun unter Metaphysikverdacht, während der der Rationalität wissenschaftlicher Forschung zugänglich scheint. […] ›Rationalität‹ bezeichnet also nur ›subjektive Vernunft‹, d. h. das Vermögen von Menschen, vernünftig zu denken und zu handeln, und nicht ›objektive Vernunft‹, d. h. die Vernünftigkeit der Welt selber und den Inbegriff der intelligiblen Weltstrukturen, so wie es ein Hauptstrom der abendländischen Metaphysik bis zu Hegel verstand.« 82

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»Innerhalb des Umverteilungsdenkens gibt es keinen Ausweg aus der Sackgasse umstrittener Werturteile.« 84

7. Letzteres scheint tatsächlich die Überzeugung vieler Ökonomen zu sein, und dies macht in ihren Augen den paretianischen Ansatz gerade wertvoll. Er bietet – im Gegensatz zu den starken und angeblich arbiträren Werturteilen der Politikphilosophie – ein Fundament für die rationale Begründung von institutionellen Arrangements. Die ›Dekonstruktion der Umverteilungskategorie‹ wird als ein wichtiger Beitrag zur Rationalisierung des politischen Diskurses angesehen. 85 Das Pareto-Prinzip selbst sagt nichts darüber aus, ob staatlichen Eingriffen auch andere normative Erwägungen zugrunde gelegt werden können. Zur Kla¨rung des Pareto-Prinzips: (1) Präferentialistische Theorie des Guten. Das Gute ist das individuell Präferierte. 86 (2) Präferenzsouveränität. Präferenzen sind Attribute von Personen. Keine externe Instanz kann anstelle einer Person entscheiden, was sie präferiert, was gut für sie ist. (3) Gemeinwohl. Das Gemeinwohl lässt sich als eine (ordinale) Funktion darstellen, in welche die Nutzenzustände der Mitglieder eines Kollektivs als Argumente eingehen.

W = W(U1, U2, …, US) (4) Pareto-inklusiver Präferentialismus. Wenn die Nutzensituation mindestens eines Individuums Ii aus I1 , I2 , …, IS in Situation B besser ist als in A und für kein Mitglied Ii aus I1 , I2 , …, IS schlechter, so ist Situation B besser als Situation A: W ist eine monoton steigende Funktion. 87

Den Paretianismus möchte ich als Position verstehen, die das ParetoPrinzip zur alleinigen Grundlage für die Rechtfertigung staatlichen Handeln macht. Eine solche Verwendung des Pareto-Prinzips ist aber Pies 2000, 243 Pies 2000 86 »Value is then not an inherent characteristic of things or states of affairs, not something existing as part of the ontological furniture of the universe in a manner quite independent of persons and their activities. Rather, value is created or determined through preference. Values are products of our affections.« (Gauthier 1986, 47) 87 Sen spricht von Pareto-inclusive-Welfarism. »Social welfare is an increasing function of personal utility levels, thus satisfying both welfarism and the Pareto preference rule.« (Sen 1979a, 538) 84 85

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nicht zwingend. Es kann mit anderen normativen Gesichtspunkten kombiniert werden. Allerdings muss dann geklärt werden, wie sich das Pareto-Prinzip zu anderen Prinzipien verhält. Eine sehr abgeschwächte Auslegung lässt Zielkonflikte zwischen den Forderungen des Pareto-Prinzips und solchen der Gerechtigkeit zu und empfiehlt, diese Konflikte im Rahmen demokratischer Verfahren zu entscheiden. Eine stärkere Ausdeutung fordert, dass alle staatlichen Maßnahmen das Pareto-Prinzip erfüllen müssen; um zwischen unterschiedlichen Pareto-Verbesserungen auszuwählen, können aber andere normative Prinzipien herangezogen werden. Diese Deutung lehnt die Rede von einem Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit ab: Die gerechten sozialen Zustände sind eine Teilmenge der effizienten sozialen Zustände. In der ökonomischen Literatur wird nicht immer deutlich, ob das Pareto-Prinzip als das alleinige Rechtfertigungsprinzip betrachtet wird oder als eines unter anderen. Es ist entsprechend nicht immer klar, ob paretianisch argumentiert wird oder nicht. Unter anderem folgende Optionen sind im Umlauf: Wenn Zielkonflikte zwischen Effizienz und Gerechtigkeit zugelassen werden: Variante I: Die Regierung darf Maßnahmen ergreifen, die Pareto-Verbesserungen darstellen, sofern dies mit anderen normativen Prinzipien vereinbar ist. Variante II: Die Regierung muss alle Maßnahmen ergreifen, die ParetoVerbesserungen darstellen, sofern dies mit anderen normativen Prinzipien vereinbar ist. 88 Wenn Zielkonflikte abgelehnt werden: Variante III: Die Regierung wählt aus der Menge der Pareto-Verbesserungen die gerechten aus. Paretianische Auslegungen Variante IV: Die Regierung darf ausschließlich Maßnahmen ergreifen, die Pareto-Verbesserungen darstellen, muss dies aber nicht tun. 89 »Die Wirtschaftswissenschaftler sind stets auf der Suche nach Pareto-Verbesserungen. Die Vorstellung, dass alle Maßnahmen, die eine Pareto-Verbesserung bewirken, unbedingt empfehlenswert sind, wird als Pareto-Prinzip bezeichnet.« (Stiglitz & Schönfelder 1986/1989, 62) 89 Diese Version findet sich beispielsweise in Buchanan 1991, 100: »This stance allows the political economist to infer, by hypothesis, a shortfall in potential well-being when he or she observes politicized barriers to voluntary exchanges among persons, but it does not allow the derivative normative inference that such barries should necessarily be removed by a presumed benevolent government.« (Hervorhebung von mir) 88

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Variante V: Die Regierung muss Maßnahmen ergreifen, die Pareto-Verbesserungen darstellen. Andere Maßnahmen darf sie nicht ergreifen.

Dass die Regierung Maßnahmen ergreifen darf, durch die sich niemand aus I1 , I2 , …, IS schlechter, aber mindestens ein Mitglied aus I1 , I2 , …, IS besser stellt, scheint tatsächlich unstrittig und in diesem Sinne schwach. Die Zurückweisung dieser Forderung würde nämlich gegen das Dominanzprinzip der Entscheidungstheorie verstoßen. Dieses Prinzip besagt, dass eine Alternative in einer multiattributiven Entscheidungssituation einer anderen vorgezogen werden sollte, wenn sie in mindestens einem Attribut besser, in allen anderen Attributen gleich gut ist. Nimmt man nun an, Personen könnten aus Sicht der entscheidenden Regierung als Attribute betrachtet werden, so laufen Variante I, II und III auf eine Anwendung des Dominanzprinzips hinaus. Wer also Variante I, II und III zurückwiese, würde eine Rationalitätsregel missachten. Dass Variante I von ›dürfen‹ spricht, Variante II jedoch ›muss‹ fordert, kann entsprechend auf unterschiedliche Auffassungen über den normativen Status von Rationalitätsregeln zurückgeführt werden. 90 Schwach sind Variante I und II, insofern offen gelassen wird, wie das Pareto-Prinzip sich zu anderen Werten, Rechten oder Zielen verhält, die staatliches Handeln anleiten. Variante I und Variante II setzen ein ›Dürfen‹ oder ›Müssen‹ für die Regierung, aber schließen nicht aus, dass diesem ›Dürfen‹ oder ›Müssen‹ andere Präskriptionen entgegenstehen können. Variante IV und Variante V erlauben dies nicht. Das Pareto-Prinzip wird hier zur alleinigen Grundlage der Legitimation erklärt. Diese Verschärfung wird damit begründet, dass alle anderen Begründungsstrategien – naturrechtliche, gerechtigkeitstheoretische, utilitaristische, kantianische, diskurstheoretische – von metaphysischen Annahmen Gebrauch machten, die ›in der Moderne‹ nicht mehr zeitgemäß seien. Die paretianische Strategie wird so zum Fluchtpunkt jeglicher rationalen Rechtfertigung. Entsprechend müssen sich das System sozialer Sicherung und die mit ihm verbundenen Umverteilungen durch den wechselseitigen Vorteil aller Beteiligten rechtfertigen lassen. Wenn Nicholas Rescher bestreitet, dass der Übergang Rescher versteht das Prinzip wie folgt: »Whenever one alternative represents an over-all distribution of utilities (to the members of a society) that is Pareto optimal within a set of its rivals, then the ›socially rational‹ thing to do is to prefer this alternative over the rest.« (Rescher 1979, 169–170)

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von einer völligen Gleichverteilung des individuellen Nutzens zu einer Situation, in der ein Individuum aus I1 , I2 , …, IS eine tausendfach bessere Nutzenposition erlange, rational geboten sei, und dabei an den Gerechtigkeitssinn appelliert, so ist dies aus Sicht von Variante IV und V Ausdruck begrifflicher Willkür. 91 8. Wie dringlich Sens moralische Kritik am Pareto-Prinzip ist, hängt also davon ab, auf welche seiner Versionen sie bezogen wird. In seinen schwachen Auslegungen wird der Vorwurf, das Prinzip biete keine Basis für Umverteilungspolitik, als nicht besonders beunruhigend aufgenommen werden – ist doch zugestanden, dass andere Prinzipien, Werte oder Zwecke es ergänzen und gegebenenfalls überwiegen. In diesem Fall enthielte Sens Hinweis lediglich die Aufforderung, das Verhältnis des Prinzips zu Überlegungen der Verteilungsgerechtigkeit zu klären. Anders steht es mit Variante IV und V, die dem Rechtfertigungsprädikat ›X ist eine Pareto-Verbesserung‹ Monopolstatus zuweisen. Gestützt wird dies vornehmlich durch Anschauungen über menschliche Motivation, über das Gute und über den Vernunftbegriff. Kant war überzeugt, es gebe Handlungen, zu denen Menschen verpflichtet seien, ganz unabhängig davon, ob sie persönlich einen Nutzen von ihrer Ausübung hätten: die moralischen. Moralische Handlungen sind nicht nur hypothetisch (in Abhängigkeit von eigenen Zielsetzungen), sondern kategorisch geboten. Die menschliche Vernunft ist in der Lage, das Prinzip dieser kategorischen Gebote festzusetzen, und sie kann zeigen, warum sie von jedem unbedingt befolgt werden sollten. Für Kant verhielt sich eine unmoralische Person unvernünftig. Viele moderne Philosophen, wie Ernst Tugendhat, sehen in dieser engen Verknüpfung von Vernunft und Moral bei Kant »eine Irreführung durch Missbrauch eines Wortes«. 92 Denn wenn jemand unmoralisch handele, würde normalerweise niemand von ihm sagen wollen, er sei qua Unmoral unvernünftig. Unvernünftig nenne man eine unmoralische Handlung lediglich aufgrund der absehbaren KonRescher fragt: »Is one deficient in rationality (or ›social rationality‹) in failing to concede this preferability? Surely not. Even if one puts envy aside as unworthy of being taken into account, there remains that part of the ›sense of justice‹ which involves at least some modest infusion of egalitarianism (in some guise or other).« (Rescher 1979, 173–174) 92 Tugendhat 1981/1984, 70; stark an Kant orientiert ist hingegen Tugendhat 1993. 91

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sequenzen, sofern sie durch den Handelnden selbst als missliebig bewertet würden. Ein modernes Verständnis praktischer Rationalität hebt demzufolge ab auf Motive des Individuums und nicht auf Eigenschaften von Handlungen, wie Unparteilichkeit oder Verallgemeinerbarkeit. Variante IV und V sind in dem Kontext dieser philosophischen Diskussionen zu sehen. Wenn es von einer legitimen hoheitlichen Handlung fordert, dass sie zu niemandes Schlechterstellung führt, so steht dahinter der Gedanke, dass es nichts gäbe, was eine solche Schlechterstellung rational rechtfertigen könnte. Wie wird aber dann die von Sen aufgeworfene Problemstellung bewältigt? Bedeutet dies, Umverteilungsmaßnahmen zulasten der im Überfluss Lebenden und zugunsten der Verhungernden seien nicht vernünftig zu rechtfertigen?

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2. Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem

»The most typical libertarian complaint is that the State forces you to do things simply for others, for example, to pay for things to supply others’ needs.« (Narveson)

Das vorangegangene Kapitel diente vor allem der Darstellung der verwickelten Vorgeschichte des heute vorherrschenden Verständnisses der Ökonomie als einer Wissenschaft, die über ein internes Bewertungskriterium von Zuständen und Handlungen verfügt. Es waren – wie gesehen – vornehmlich methodologische und erkenntniskritische, nicht etwa politische Erwägungen, die dem Gedanken der Pareto-Effizienz eine privilegierte Position innerhalb der Ökonomie gesichert haben und zu einer Abdrängung des ›utilitaristischen Umverteilungsarguments des gesunden Menschenverstandes‹ führten. Maßgeblich für dieses (bis in die Dreißigerjahre in der Ökonomie weitgehend akzeptierte) Argument war, dass der Nutzen einer zusätzlichen Einkommenseinheit für eine vermögende Person offensichtlich geringer ist als für eine mittellose; wird der einen genommen und der anderen gegeben, so kann dies eine Zunahme der Nutzenmenge in der Bevölkerung bedeuten. Stellt sich die Regierung auf den Standpunkt einer unparteilichen Beobachterin, so wird sie diese Zunahme wünschen. Denn sie ist indifferent gegenüber dem Verlust des einen und dem Gewinn des anderen. Ihr Standpunkt liegt über dem der Parteien, und dies führt sie dazu, für eine ausgeglichenere Verteilung von Vermögen und Einkommen zu sorgen. Die Entwertung dieses Arguments durch allgemeine Vorbehalte gegenüber interpersonellen Nutzenvergleichen hat die Ökonomie in eine gänzlich andere Richtung gelenkt, insofern sie nun auf ein Bewertungskriterium setzte, das die Schlechterstellung von Individuen verbot und so Umverteilung tendenziell mit einem Vorbehalt versah; oder – vorsichtiger und angemessener formuliert – insofern sie Umverteilungspolitik nicht mehr ohne weiteres mit der Autorität einer wirt84

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schaftswissenschaftlichen Handlungsempfehlung zu begründen erlaubte. Dass Redistribution nicht mehr kurz und direkt utilitaristisch begründet werden konnte, hieß allerdings nicht, die Wirtschaftswissenschaft hätte sich generell gegen sie ausgesprochen. Aus Umverteilung war jedoch ein komplexeres Legitimationsproblem geworden, insofern sie im Rahmen der Ökonomie nur noch zu empfehlen war, wenn demonstriert werden konnte, dass sie nicht gegen das Schlechterstellungsverbot des Pareto-Prinzips verstößt; und selbst wenn aus ökonomischer Sicht Umverteilungspolitik kritisch bewertet wurde, war damit keineswegs ein insgesamt ablehnendes Urteil festgelegt. Wer im Sinne der schwachen Auslegung des Prinzips davon ausging, dass es neben der Pareto-Effizienz noch andere relevante Bewertungsgesichtspunkte zu berücksichtigen gibt, insbesondere Gerechtigkeit, konnte auf Abwägungen zwischen beiden Dimensionen beharren. Dass Gerechtigkeitserwägungen und Effizienzansprüche zu widerstreitenden Bewertungen von Institutionen oder Zuständen führen, hat nicht nur in zahlreiche ökonomische Veröffentlichungen und in zahllose öffentliche Verlautbarungen Eingang gefunden; es wird auch zumeist anerkannt, dass Abwägungen zwischen beiden Zielen nötig sind und in den Aufgabenbereich der demokratischen Politik gehören. 1 Mit der schwachen Auslegung des Prinzips konkurriert aber die starke, die einen Abgleich zwischen Forderungen der Umverteilung und solchen der Pareto-Effizienz grundsätzlich ablehnt, weil jeder solche Abgleich die Verletzung des Schlechterstellungsverbots mit sich bringen muss und dies als ungerecht erachtet wird. Die Zielkonfliktanalyse wird abgelehnt, weil das Prinzip in der starken Fassung selbst eine Gerechtigkeitskonzeption enthält, und zwar – nach Meinung der Proponenten – die einzig begründbare. Die unterschiedlichen Auslegungen des Pareto-Prinzips spiegeln noch einmal den alten Konflikt über die Frage, welche Rolle die Ökonomie im politischen Prozess spielen sollte: die einer Beraterin, die Aussagen macht über die Form von Zielkonflikten, die letztlich in demokratischen Verfahren entschieden werden müssen; oder die einer Verteidigerin von normativen Positionen gegen die Bedrohung, die demokratische Verfahren im Namen der Gerechtigkeit darstellen. Mit der Frage nach dem Status, den das im Pareto-Prinzip enthaltene Verbot der Schlechterstellung von Individuen haben soll, wird die Ökonomie 1

Siehe zum Thema ›Effizienz und Gerechtigkeit‹ : Schefczyk & Priddat 2000. A

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von der abgespaltenen Philosophie abermals heimgesucht. Sie reagiert auf dieses Problem in unterschiedlicher Weise (indem sie Zielkonflikte zwischen Effizienz und Gerechtigkeit zu entscheiden in die Zuständigkeit der demokratischen Verfahren rechnet oder eben nicht), aber sie kann es nicht oder nur in begrenztem Maße begrifflich austragen. Dieses Problem zu entschärfen versucht eine Analysestrategie, die zuweilen als ›paretianische Rechtfertigung der Sozialpolitik‹ oder kurz als ›paretianische Sozialpolitik‹ bezeichnet wird. 2 Zur ›paretianischen Sozialpolitik‹ sind wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen zu zählen, die Umverteilungspolitik rechtfertigen, weil und insoweit sie effizient ist, also nicht gegen das paretianische Schlechterstellungsverbot verstößt. Die Attraktivität dieser Strategie liegt auf der Hand: Sie verspricht, Umverteilung mit Hilfe des genuin ökonomischen Bewertungskriteriums zu legitimieren und so den Konflikt mit moralischen Intuitionen zu vermeiden. 3 Wenn dieses Programm durchführbar ist und sich zeigen lässt, dass die Gestaltungsempfehlungen im Namen von Gerechtigkeit oder Effizienz weitgehend konvergieren, dann bedeutet dies zugleich eine Aufwertung der beraterischen Autorität der Ökonomie. Die Legitimation von Umverteilungspolitik scheint nicht mehr auf den Appell an Gerechtigkeitsintuitionen angewiesen zu sein, sondern kann auf die solide Basis von Gesellschaftstheorie und Effizienzgedanken gestellt werden. So richtig es ist, dass die ›paretianische Sozialpolitik‹ zu einer Entschärfung von ›ideologischen‹ Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Bewertung konkreter Institutionen beitragen kann, leistet sie doch nichts, um das zugrunde liegende Normativitätsproblem zu lösen. Wenn sie darlegt, dass bestimmte Formen von Umverteilungspolitik das paretianische Schlechterstellungsverbot nicht verletzen, hat sie noch nichts darüber ausgesagt, was dieses Verbot gerecht macht oder wie Institutionen zu bewerten wären, die es verletzten. Ihr Vorschlag ist einer zur Güte: dass diese Fragen bezüglich bestimmter institutioneller Strukturen ausgeklammert werden können.

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Ich übernehme den Begriff ›paretianische Sozialpolitik‹ von Hübner 1994. Pars pro toto: Fuest 2000.

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Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem

2.1. Paretianische Strategien Letztlich drängt aber das Problem der Legitimation von Umverteilungspolitik unausweichlich auf eine Klärung des Status, der dem Schlechterstellungsverbot zukommen soll. Und eine solche Klärung ist nur innerhalb der Politischen Philosophie denkbar. In diesem Kapitel werden daher zwei zentrale Möglichkeiten vorgestellt, diese Aufgabe anzugehen. Die eine besteht darin, das Schlechterstellungsverbot auf Ansprüche und Rechte zu beziehen, die den Individuen unabhängig von staatlicher Ordnung zukommen, während man bei der anderen annimmt, von individuellen Ansprüchen und Rechten könne erst mit der Etablierung staatlicher Ordnung gesprochen werden. Für die eine Option steht der naturrechtliche Ansatz von Robert Nozick, für die andere der Kontraktualismus von James Buchanan. Beide Arten von Theorien unter dem Titel ›paretianische Strategien‹ abzuhandeln, mag ungewöhnlich sein. Es ist durch den Umstand veranlasst, dass für Nozick und Buchanan das im Pareto-Prinzip enthaltene Schlechterstellungsverbot auf je unterschiedliche Art Verbindlichkeit beansprucht. Dies unterscheidet sie von egalitaristischen Strategien, in denen die Legitimität von Umverteilungspolitik nicht in vergleichbarer Weise durch individuelle Ansprüche auf Statuserhalt eingeschränkt wird. In der Ökonomie wird das Schlechterstellungsverbot typischerweise auf die Situation unmittelbar vor der Zustandsänderung bezogen und an der Nutzensituation der Betroffenen festgemacht. Im klassischen Testfall der Corn Laws lautete die Frage, ob eine gesetzgeberische Maßnahme legitim sein könne, die für einen Teil der Bevölkerung zu einer Verschlechterung der Nutzensituation führe. Eine nahe liegende Erläuterung dieses Verbots scheint zu sein, dass Maßnahmen, durch die sich die Situation von Individuen verschlechtert, Schädigungen gleichkommen und dass die gesetzgebende Körperschaft damit individuelle Rechte verletzt. Die moralische Grundlage des Pareto-Prinzips wäre demnach das Verbot, Individuen zu schädigen. So nahe liegend wie diese Erläuterung ist aber die Frage, unter welchen Voraussetzungen Schlechterstellungen verbotenen Schädigungen gleichzusetzen sind; und ob es – moralisch gesehen – zu rechtfertigen ist, die Situation unmittelbar vor der Maßnahme als Referenzpunkt der Legitimitätsfrage zu wählen, ohne zu klären, ob diese Situation selbst gerecht war. Die erste Frage fordert, die unspezifische Vorstellung einer verA

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schlechterten Nutzensituation spezifischer zu fassen und anzugeben, welche gerechtfertigten Ansprüche wie betroffen sein müssen, damit man von Handlungen sagen kann, sie seien moralisch verbotene Schädigungen. Die zweite Frage verlangt eine Fixierung des Bezugspunktes, hinsichtlich dessen Urteile über die Besser- oder Schlechterstellung von Individuen gefällt werden, so dass es möglich wird, eine ungerechte Schädigung von der gerechten Korrektur einer Ungerechtigkeit zu unterscheiden. 2.1.1. Der naturrechtliche Ansatz in der Kritik 1. Als ›naturrechtlichen Ansatz‹ bezeichne ich die Verknüpfung des paretianischen Schlechterstellungsverbots mit dem Gedanken, dass Individuen über natürliche Rechte verfügen, die durch die staatliche Ordnung geachtet und geschützt werden müssen. 4 Eine besonders radikale moderne Variante dieses Ansatzes bietet Robert Nozicks Anarchy, State, and Utopia. Während Lionel Robbins seine Vorbehalte gegen interpersonelle Nutzenvergleiche vor allem mit epistemischen Überlegungen begründete, sieht Nozick im ›utilitaristischen Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstands‹ einen ontologischen Irrtum am Werk. Die soziale Welt setze sich zusammen aus Individuen mit ihren individuellen Leben; eine staatlich erzwungene Umverteilung von einem zum anderen Individuum könne keinen ›allgemeinen Nutzen‹ steigern, weil es keine soziale Ganzheit gebe, für die sich solcher Nutzen realisiere. Alles, was bei einer erzwungenen Umverteilung geschehe, sei, dass ein Individuum benutzt werde und das andere profitiere. »Nothing more. What happens is that something is done to him for the sake of others. Talk of an overall social good covers this up. (Intentionally?) To use a person in this way does not sufficiently respect and take account of the fact that he is a separate person, that his is the only life he has. He does not get some overbalancing good from his sacrifice, and no one is entitled to force this upon him – least of all a state or government that claims his allegiance (as other individuals do not) and that therefore scrupulously must be neutral between its citizens.« 5 Liberale Rechte werden hier als Einschränkungen kollektiver Entscheidungen gedeutet: »Rights do not determine a social ordering but instead set the constraint within which a social choice is to be made, by excluding certain alternatives, fixing others.« (Nozick 1974/1999, 166) 5 Nozick 1974/1999, 33 4

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Robbins waren Bedenken bezüglich der Umverteilung von Nutzen gekommen, weil ihm zweifelhaft geworden war, dass sich das Messproblem wissenschaftlich angemessen lösen lasse; Nozick hingegen würde Umverteilungspolitik selbst dann ablehnen, wenn sich Nutzen interpersonell perfekt vergleichen ließe, weil sie notwendigerweise gegen das Instrumentalisierungsverbot verstoßen müsste. Das Neutralitätsgebot für staatliches Handeln würde daher – entgegen der utilitaristischen Auffassung – durch Umverteilung verletzt werden. Sie brächte keine Unparteilichkeit gegenüber dem ›Ort‹ zum Ausdruck, an dem sich eine Nutzeneinheit realisierte, sondern eine Parteilichkeit zugunsten einer spezifischen Klasse von Individuen: den ›schlechter Gestellten‹. So wie eine Privatperson nicht das Recht hat, eine andere Privatperson gegen ihren Willen zu Leistungen zu zwingen, so missbraucht der Staat seine Macht, wenn er die Besteuerungskompetenz für Umverteilungszwecke nutzt. Denn für den Staat gelten in seinem Verhältnis zu den Bürgern nach Nozick dieselben moralischen Restriktionen wie für die Verhältnisse von Privatleuten untereinander. Sowenig jemand seinen Nachbarn mit Drohungen dazu zwingen darf, ihm die Kohlen aus dem Keller zu holen oder den Garten umzugraben, sowenig darf der Staat seinen Zwangsapparat dazu einsetzen, Einkommen und Vermögen zwischen Individuen umzuverteilen. Seine Aufgabe besteht vielmehr ausschließlich darin, diese moralischen Restriktion durchzusetzen und seinerseits zu beachten. 6 Dies beantwortet, in vorläufiger Annäherung, die erste Frage, die oben gestellt worden war: Ungerecht geschädigt wird eine Person nach Nozick durch alle staatlichen Handlungen, die gegen das Instrumentalisierungsverbot verstoßen oder jemandes Leben und Gesundheit angreifen. Nozicks naturrechtlicher Ansatz arbeitet also mit einer ungewöhnlich scharfen Fassung des Schlechterstellungsverbots. Hoheitliche Eingriffe in individuelle Eigentumsrechte gelten grundsätzlich als unerlaubt; steuerfinanzierte Umverteilungspolitik wird moralisch auf eine Stufe mit Zwangsarbeit gestellt. 7 »Moral philosophy sets the background for, and boundaries of, political philosophy. What persons may do through the apparatus of a state, or do to establish such an apparatus. The moral prohibitions it is permissible to enforce are the source of whatever legitimacy the state’s fundamental coercive power has.« (Nozick 1974/1999, 6) 7 »From the point of view of an entitlement theory, redistribution is a serious matter 6

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Es sollte angemerkt werden, dass Nozicks Modell legitimes staatliches Handeln einerseits stärker einschränkt als das ParetoPrinzip, das die Möglichkeit der Kompensation von primär schlechter Gestellten offen lässt. So erschiene es im Sinne des Prinzips als legitim, jemandes Eigentum zu enteignen, wenn dies mit Nutzenzuwächsen für andere verbunden ist, die groß genug ausfallen, um die betroffene Person angemessen zu entschädigen. Diese hätte kein Recht, sich der Enteignung zu widersetzen, sofern ihr Verlust durch eine Entschädigungszahlung kompensiert wird. Die Schlechterstellung wird also an der Nutzensituation festgemacht. Bei Nozick besteht die Schlechterstellung hingegen in der Verletzung eines unbedingten Rechts, das sich nicht auf ein bestimmtes Nutzenniveau bezieht, sondern auf die Verfügung über eine Sache. Die Enteignung ist also in jedem Falle eine unerlaubte Schädigung. Ist in dieser Hinsicht Nozicks Konzept strenger als das ParetoPrinzip, so ist es in anderen Fällen laxer. So greift die Einführung oder Abschaffung von Zöllen nicht in die legitimen Eigentumstitel der Bürgerschaft im Sinne Nozicks ein und ist ihm zufolge ohne weiteres erlaubt. Aus Sicht des Pareto-Prinzips stellt sich die Lage anders dar: Da Zölle differentielle Auswirkungen auf die Wohlfahrtspositionen von Personen haben, müsste ihre Einführung oder Abschaffung mit der Kompensation der Verlierer durch die Gewinner einhergehen. Indirekte Umverteilungswirkungen von Gesetzen würden dagegen im naturrechtlichen Ansatz – anders als im Paretianismus der Ökonomie, aber auch im Egalitarismus von Rawls – gar nicht unter das Schlechterstellungsverbot fallen. Nozick konzentriert sich entsprechend auf die Legitimität direkter staatlicher Eingriffe in die Eigentumsposition von Individuen, insbesondere für Fragen der redistributiven Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Dem weiten Schädigungsbegriff des Pareto-Prinzips, der auf den Status quo bezogene Erwartungen und Vorteile schützt, entspricht eine – im Vergleich zu Nozick – weit gehende Zuschreibung staatlicher Eingriffskompetenz; dass Nozicks Schädigungsbegriff und seine Bestimmung des Umfangs legitimen Staatshandelns enger sind, ergibt sich aus seiner Vorstellung, bestimmte Handlungen müssten verboten und nicht etwa nur – wie beim Kaldor-Hicks-Kriterium – mit indeed, involving, as it does, the violation of people’s rights. […] Taxation of earnings from labor is on a par with forced labor.« (Nozick 1974/1999, 169)

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einem Preis in Gestalt einer Kompensationszahlung versehen sein. 8 Zum einen ist er der Meinung, dass es unabhängig von Märkten, Verhandlungen und zwanglosen Vertragsabschlüssen keine adäquate Methode gebe, um die Höhe der Kompensationszahlung zu bestimmen. Würde man die Übertretung von Rechten grundsätzlich erlauben (gesetzt, dass Kompensation gezahlt würde), so würde dies zu einer unfairen Verteilung der Erträge sozialer Kooperation führen. 9 Zum anderen würde aber eine soziale Welt ohne strikte Verbote zweifellos Schrecken auslösen und unserer Vorstellung von dem, was Rechte sind, zuwiderlaufen. 10 Das primäre Ziel von Rechten besteht daher darin, Unantastbarkeit zu garantieren, und nicht, einen Preis für Übergriffe festzusetzen. In der ökonomischen Interpretation des Schlechterstellungsverbots wird diese Eigenschaft von Rechten verkannt. 2. Hinsichtlich der zweiten Frage nach dem Referenzpunkt für Schlechterstellungsurteile ist nach Nozick der Rückgang auf ein anarchisches Szenario nötig. Wenn die Legitimität staatlichen Handelns auf der Grundlage einer Moraltheorie beurteilt werden soll, die von unverbrüchlichen individuellen Rechten ausgeht, so ist zunächst zu klären, ob Entstehung und Bestand eines Staates ohne Verletzung jener Rechte überhaupt denkbar ist. Es reichte nach Nozick nicht aus, dass ein bestehender Staat das Instrumentalisierungsverbot beachtete, um von ihm sagen zu können, er wäre legitim. Vielmehr muss auch seine Entstehung mit den natürlichen Rechten von Individuen vereinbar sein. In einer an Locke orientierten Beschreibung des Zustands ohne staatliche Gewalt nimmt Nozick an, dass Eigentumsrechte an Sachen unabhängig von einer staatlich sanktionierten Rechtsordnung entstehen können. Da Eigentum zu den unbedingt zu schützenden natürlichen Rechten des Individuums gehört, darf die Entstehungsgeschichte eines legitimen Staates im Prinzip nicht mit der Verletzung von individuellen Eigentumsrechten verbunden sein. Wenn eine Person im vorstaatlichen Zustand Eigentum durch legitime ursprüngliche Aneignung gewinnt, so erwirbt sie ein Recht, »Are others forbidden to perform actions that transgress the boundary or encroach upon the circumscribed area, or are they permitted to perform such actions provided that they compensate the person whose boundary has been crossed?« (Nozick 1974/1999, 57) 9 Nozick 1974/1999, 64–65 10 Nozick 1974/1999, 65–71 8

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in das nicht eingegriffen werden darf. Sie verliert dieses Recht nur, wenn sie es freiwillig abtritt. Nozick geht davon aus, dass eine Verteilung von Eigentumstiteln gerecht ist, wenn sie frei von verbotenen Eingriffen zustande kam, das heißt, wenn die Regeln gerechter ursprünglicher Aneignung und die Regeln gerechten Transfers an keiner Stelle verletzt wurden. Da er verbotene Handlungen mit falschen Prämissen vergleicht und eine Analogie herstellt zwischen Wahrheitswert-erhaltenden Schlüssen und Gerechtigkeits-erhaltenden Eigentumsübertragungen, scheint er davon auszugehen, dass eine historisch weit zurückliegende Ungerechtigkeit ausreichen könnte, um die Eigentumsverteilung insgesamt ungerecht werden zu lassen. Wohl weil dies zur Folge hätte, dass eine unüberschaubare Menge an Eigentumstiteln fragwürdig würde, bleibt er in der Frage nach dem korrekten Bezugspunkt seiner historischen Gerechtigkeitsprinzipien unbestimmt. 11 Dies ist allerdings keine Kleinigkeit, weil damit eine nicht-willkürliche Anwendung der Prinzipien auf tatsächliche Verteilungssituationen unmöglich wird. Nozicks Theorie ist historisch, insofern sie Gerechtigkeitsurteile über eine Verteilung davon abhängig macht, auf welchem Wege sie zustande gekommen ist. 12 Sie sieht Gerechtigkeit nicht durch ein bestimmtes Verteilungsmuster definiert, sondern durch die Regelgerechtigkeit der Handlungen aller Akteure. Wurden die Regeln gerechter ursprünglicher Aneignung und gerechten Transfers eingehalten, so ist das Eigentum einer Person gerecht; gilt dies für alle Individuen, so ist es die Verteilung insgesamt. Ohne eine Festlegung des Ausgangspunktes, von dem die Überprüfung der Regelgerechtigkeit des Eigentumserwerbs und -transfers auszugehen hätte, ist der naturrechtliche Ansatz folglich gerechtigkeitstheoretisch leer. Nozicks Theorie bietet also keine Grundlage, um die Gerechtigkeit einer gegebenen Eigentumsverteilung zu beurteilen. 3. Wenn zugestanden wird, dass Nozicks Entwurf gerechtigkeitstheoretisch unterbestimmt ist, also nicht ausreicht, um zu Urteilen »If past injustice has shaped present holdings in various ways, some identifiable and some not, what now, if anything, ought to be done to rectify these injustices? What obligations do the performers of injustice have toward those whose position is worse than it would have been had the injustice not been done? […] How far must one go in wiping clean the historical slate of injustices?« (Nozick 1974/1999, 152) 12 »The entitlement theory of justice is historical; whether a distribution is just depends upon how it came about.« (Nozick 1974/1999, 153) 11

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über die Gerechtigkeit einer gegebenen Verteilungssituation zu gelangen, so ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass er als Theorie über die Grenzen legitimer Staatsgewalt arbeitsfähig sein könnte. Nozick Doppelthese lautet ja, ein Staat, der ausschließlich den Schutz der lockeschen Individualrechte zur Aufgabe habe, sei legitim, da er ohne Verletzung eben jener Rechte hätte entstehen können; 13 jede darüber hinaus gehende staatliche Kompetenz verletze hingegen notwendigerweise individuelle Rechte und sei daher illegitim. 14 Für das Urteil über die Illegitimität einer Redistributionspolitik, die spezifische Verteilungsmuster erreichen will, benötigt Nozick kaum Wissen über die Entstehung der bestehenden Eigentumsverteilung. Dies scheint dafür zu sprechen, dass sein Argument für den Minimal- und gegen den Umverteilungsstaat von der gerechtigkeitstheoretischen Unterbestimmtheit seines Entwurfs nicht unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wird. Es sollen im Folgenden zwei zusammengehörige Überlegungen erörtert werden, die eine zentrale Stellung für Nozicks Ablehnung staatlicher Umverteilung einnehmen: das Wilt-Chamberlain-Argument und das Parteilichkeits-Argument. Letzteres kulminiert in der Behauptung, die redistributive Besteuerung von Erwerbseinkommen stehe auf einer Stufe mit Zwangsarbeit. Zunächst eine allgemeine Vorbemerkung: Wenn Nozick von Umverteilung spricht, so denkt er dabei ausschließlich an Maßnahmen, die durch Verteilungsziele begründet werden, und nicht allgemein an die Verteilungswirkungen hoheitlichen Handelns. Hätte beispielsweise in einem nozickschen Minimalstaat die Entscheidung, eine Polizeikaserne von einem in ein anderes Quartier zu verlegen, Auswirkungen auf den Wert der Liegenschaften in den betroffenen Vierteln, so könnte gefragt werden, ob diese ›Umverteilung des Nutzens‹ gerecht oder normativ erwünscht ist. Das Pareto-Prinzip würde gegebenenfalls die Entschädigung der Verlierer durch die Gewinner der Standortentscheidung fordern. Nozicks Begriff der Umverteilung ist allerdings enger. Ob eine Institution als redistributiv bezeichnet wird, hängt bei ihm davon ab, ob mit ihr redistributive Ziele verfolgt Siehe hierzu die Bemerkungen zu ›fundamental potential explanations‹ in: Nozick 1974/1999, 6–9. 14 »The minimal state is the most extensive state that can be justified. Any state more extensive violates people’s rights.« (Nozick 1974/1999, 149) 13

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werden. 15 Was Nozick also ablehnt, wenn er gegen staatliche Umverteilung argumentiert, sind Institutionen, die auf eine ›richtige Verteilung von Ressourcen‹ im Sinne spezifischer distributiver Muster abzwecken. Der Gegenstand von Nozicks Kritik ließe sich als ›Quotenpolitik‹ bezeichnen. 16 Der Quotenpolitik liegen implizit oder explizit Vorstellungen darüber zugrunde, wie das richtige Verteilungsmuster für gesellschaftliche Güter und Positionen aussieht; und sie ergreift Maßnahmen, um die faktische der gerechten Verteilung anzunähern. Das ›utilitaristische Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstandes‹ verlangt in diesem Sinne Quotenpolitik. Ein wichtiges Merkmal der so verstandenen Quotenpolitik besteht nach Nozick in ihrem a-historischen Charakter. Abweichungen vom Quotenziel können sich daraus ergeben, dass Individuen in der Vergangenheit Handlungen vollzogen haben, aus denen ihnen gerechte Ansprüche erwachsen. Die politische Korrektur dieser Abweichung schließt folglich die Verletzung solcher gerechtfertigten Ansprüche ein. Nozick legt Wert auf die Feststellung, dass es den gewöhnlichen Intuitionen zuwiderläuft, bei der Beurteilung der Gerechtigkeit einer Verteilung gänzlich von deren Entstehung zu abstrahieren. 17 Das Wilt-Chamberlain-Argument will darüber hinaus zeigen, dass Quotenpolitik zu einer illegitimen Korrektur der Konsequenzen freier Entscheidungen führen müsse. Es beginnt mit der Annahme, die Ressourcenverteilung einer Gesellschaft entspreche zum Ausgangszeitpunkt den Quotenvorstellungen. Nun stelle man sich vor, dass es – als Konsequenz einer Menge legitimer Verfügungen über die eigenen Ressourcen – zu einer Abweichung vom Quotenziel komme. Nozick konstruiert hier die Geschichte von dem beliebten Basketballspieler Wilt Chamberlain, für dessen Auftritt die Zuschauer zusätzlich einen geringen Betrag berappen. Er ist seinen Preis wert und niemand bereut, für ihn gesondert gezahlt zu haben. In der Summe führen die Bonusbeiträge für Chamberlain jedoch zu einem beträchtlichen Zusatzeinkommen, so dass die resultierende Verteilung nicht mehr dem Quotenziel entspricht. Nozick 1974/1999, 27 Als Quotenpolitik bezeichne ich eine Politik, die Nozicks ›patterned distributional principles‹ umzusetzen strebt. 17 Nozick 1974/1999, 154–155 15 16

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»If D1 was a just distribution, and people voluntarily moved from it to D2, tranferring parts of their shares they were given under D1 (what was it for if not to do something with it?), isn’t D2 also just? […] The general point by the Wilt Chamberlain example […] is that no end-state principle or distributional patterned principle of justice can be continuously realized without continuous interference with people’s lives.« 18

Quotenpolitik – so die Botschaft – interferiert mit dem Leben der Leute. Hinsichtlich der entscheidenden Frage, ob eine solche kontinuierliche Einmischung individuelle Rechte verletze, äußert sich Nozick an dieser Stelle nicht explizit. Ich gehe davon aus, dass er mit dem Argument zunächst einen anderen Kritikpunkt herausarbeiten möchte, der in der zitierten Frage anklingt. Inwiefern kann die Abweichung von politisch gewünschten Verteilungsmustern überhaupt als ungerecht bezeichnet werden, wenn sie sich aus den freiwilligen Transaktionen Erwachsener ergibt? Wie kann etwas ungerecht sein, wenn es das Resultat einer Menge freier Entscheidungen darstellt? Nozick zieht hier nicht in Erwägung, dass Personen neben Präferenzen über ihre Freizeitgestaltung auch solche über die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen haben könnten. Sie sind gerne bereit, einen kleinen Zusatzbetrag zu zahlen, um einen außergewöhnlichen Spieler zu sehen; sie sind aber nicht damit einverstanden, dass dieser Spieler durch die vielen Anhänger unverschämt reich wird, und meinen daher, ein Teil seines Einkommens solle durch den Staat umverteilt werden. Decken sich die Verteilungspräferenzen der Leute mit denen der Quotenpolitik, so besteht für sie kein Grund, die Redistribution als Einmischung in ihre Entscheidungsfreiheit zu beklagen. Es erschiene insofern aus ihrer Sicht nicht als kritikwürdig, dass ein Verteilungsmuster nur durch permanente staatliche Eingriffe aufrechterhalten werden könnte, die Resultate freier Entscheidungen korrigierten. Denn die Eingriffe beziehen sich auf nicht-intendierte Aspekte der Entscheidung. Aus demselben Grund akzeptiert man Abgasvorschriften: Niemand würde es für überzeugend halten, wenn gesagt würde, Abgasvorschriften seien eine kritikwürdige Störung individueller Freiheit im Namen einer Quotenpolitik, weil der Schadstoffgehalt in der Luft Resultat einer Menge freier Konsumentscheidungen sei. Eben weil die Aggregation von individuell gewünschten Handlungen zu unerwünschten Ergebnissen führen kann, erscheint es aus Sicht der Individuen nicht unvernünftig, den 18

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Staat mit der Kompetenz auszustatten, die entsprechenden Handlungen zu verbieten oder deren Ergebnisse zu ändern. Es könnte aber sein, dass die Umverteilung die individuellen Rechte von Chamberlain verletzt. Tatsächlich erschiene es ungerecht, wenn der Eingriff in seinen erworbenen Reichtum für ihn nicht erwartbar gewesen wäre. Es stellte sich dann die Frage, mit welchem Recht ihm Einkommen entzogen wird, das ihm aufgrund einer Menge von Verträgen zugekommen ist. Dies ist aber alles andere als der relevante Fall von Verteilungspolitik, bei der die entsprechenden Quotenziele und Regeln bekannt sind, bevor die Verträge geschlossen werden. Bekannt ist daher auch, dass Einkommen entsprechend belastet werden. Daher dürfte es angemessener sein, zu sagen, die Quotenpolitik strukturiere freie Entscheidungen durch entsprechende Regeln, als zu sagen, sie interferiere mit ihr. 19 Mit dem WiltChamberlain-Argument und der Losung ›Liberty upsets patterns‹ ist also bislang wenig für Nozicks Standpunkt gewonnen. Er braucht daher ein zusätzliches Argument. 4. Das Argument muss in Verbindung mit einer weiteren Überlegung Nozicks betrachtet werden, die zeigen soll, dass die Beeinflussung des Verteilungsmusters durch die Besteuerung von erarbeitetem Einkommen auf Zwangsarbeit hinauslaufe. Wenn Nozick von ›taxation of earnings from labor‹ schreibt, so hat er dabei allgemein redistributive Eingriffe in das durch eigene Arbeit erworbene Eigentum im Auge. Das Argument betrifft insofern eine wichtige Klasse von Eigentumstiteln, klammert aber beispielsweise Schenkungen, Erbschaften oder Zinseinkommen aus. Dass ein umverteilender Eingriff in diese Eigentumstitel grundsätzlich ungerecht wäre, lässt sich mit Nozicks historischen Gerechtigkeitsprinzipien – wie gesagt – wegen der Unterbestimmtheit der Theorie nicht begründen. Entweder müsste Nozick verlangen, ein Eigentumstitel bräuchte, um als gerecht zu gelten, einen lücken- und makellosen Stammbaum von der ursprünglichen Appropriation bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Gerechtigkeitsurteile scheiterten dann wohl in unzähligen Fällen an mangelnder historischer Information. Oder er bräuchte eine Präsumtion, der zufolge unter definierten Bedingungen Titel als gerecht an»Citizens understand that when they take part in social cooperation, their property and wealth, and their share of what they help to produce, are subject to the taxes, say, which background institutions are known to impose.« (Rawls 2001, 52)

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zusehen wären, auch wenn kein vollständiger Stammbaum vorläge – eine solche Präsumtion führt er aber nicht ein. Wohl aus diesem Grund konzentriert sich Nozick auf den Versuch, zu demonstrieren, dass Redistributionspolitik, die in das erarbeitete Einkommen eingreift, nicht nur mit der Freiheit interferiert, sondern – schwerwiegender – das individuelle Recht verletzt, nicht zur Arbeit gezwungen zu werden. Das Argument von Nozick folgt folgendem Grundgedanken: Wenn jemandem ein Teil seines Einkommens durch redistributive Steuern genommen wird, lässt sich dies so beschreiben, als habe er einen Teil seiner Arbeitszeit nicht für sich, sondern für eine andere Person gearbeitet. Derartige Steuern geben den Empfängern gleichsam ein Eigentumsrecht an denjenigen, die für die Steuer aufkommen. 20 Dieser Gleichsetzung könnte entgegengehalten werden, dass ein Steuersystem das Einkommen bis zu einer gewissen, oberhalb des Minimums liegenden Höhe freistellen könnte. Wenn erst oberhalb der festgesetzten Schwelle Steuern erhoben werden, so lässt sich die Parallele zur Zwangsarbeit kaum aufrechterhalten. Denn allen steht die Entscheidung offen, genau so viel zu arbeiten, wie für das definierte Minimum notwendig ist, aber nicht mehr. Nozick hält dies allerdings für eine unplausible Entgegnung. Dass denjenigen, die mehr verdienen wollen als das Minimum, hoheitlicher Gewalt in Gestalt von Steuerzahlungen ausgesetzt seien, erlaube nicht mehr, die Entscheidungssituation als zwanglos zu beschreiben. Hinzu komme, dass ein solches Besteuerungssystem mit Freistellung des Minimums gegen das Gebot liberaler Neutralität verstoße. Es behandele nämlich Personen mit der Präferenz für eine geringere Güterausstattung und mehr Freizeit anders als Personen mit der Präferenz für eine reichhaltigere Güterausstattung und weniger Freizeit. 21 Ein dem liberalen Neutralitätsprinzip verpflichteter Staat müsse daher, wenn er das be»End-state and most patterned principles of distributive justice institute (partial) ownership by others of people and their actions and labor. These principles involve a shift from the classical liberals’ notion of self-ownership to a notion of (partial) property rights in other people.« (Nozick 1974/1999, 172) 21 »Why should the man who prefers seeing a movie (and who has to earn money for a ticket) be open to the required call to aid the needy, while the person who prefers looking at a sunset (and hence need earn no extra money) is not? Indeed, isn’t it surprising that redistributionists choose to ignore the man whose pleasures are so easily attainable without extra labor, while adding yet another burden to the poor unfortunate who must work for his pleasures?« (Nozick 1974/1999, 170) 20

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schriebene Steuersystem einführe, zugleich eine Arbeitspflicht verhängen. Auf ›patterned principles of distributive justice‹ gestützte Quotenpolitik führt somit nach Nozick unvermeidlich zu der teilweisen Aneignung anderer Personen. »Considerations such as these confront end-state and other patterned conceptions of justice with the question of whether the actions necessary to achieve the selected pattern don’t themselves violate moral side constraints.« 22

Was ist von Nozicks Überlegungen zu halten? Ich möchte vier prototypische Antworten auf seine Einschätzung erörtern, Umverteilungspolitik verstoße unvermeidlich gegen das Instrumentalisierungsverbot. (A) Eine erste Reaktion besteht in der These, dass bestimmte Formen von Umverteilungspolitik durch moralische Rechte auf bzw. Pflichten zur Hilfeleistung gerechtfertigt sind. Wenn die Erfüllung dieser Rechte und Pflichten staatlich erzwungen wird, stellt dies keine Verletzung des Gebots dar, Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zwecke zu behandeln. Nozicks Kritik liegt, diesem Einwand zufolge, eine Moraltheorie mit einem völlig ungenügenden Verständnis von natürlichen Rechten und Pflichten zugrunde. (B) Die zweite Replik verfährt als immanente Kritik und argumentiert, Nozick habe verkannt, dass aus dem von ihm anerkannten lockeschen Vorbehalt Kompensationspflichten entsprängen, mit denen sich die üblichen Institutionen des Sozialstaates rechtfertigen ließen. 23 (C) Eine dritte Art von Einwand stellt auf den Freiheitsbegriff ab und kritisiert den libertären Freiheitsbegriff von Nozick und Hayek als einen Fetischismus der Rechte. (D & E) Ein weiterer Typ von Erwiderung weist die Vorstellung ›natürlicher Rechte‹ zurück und entzieht damit der Argumentation Nozicks die Grundlage. Rechte von Individuen bestehen nicht unabhängig von jeglicher Staatlichkeit, sondern werden durch diese gestiftet. Zu prüfen sei daher, ob (und wenn ja: welche Form von) Umverteilungspolitik sich als Bestandteil eines zustimmungsfähigen Gesellschaftsvertrages rekonstruieren lasse. Unter den möglichen kontraktualistischen Repliken auf Nozicks naturrechtlichen Ansatz 22 23

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sind zwei unterschiedliche Formen besonders wichtig: der libertäre Entwurf von Buchanan (D) und der egalitaristische von Rawls (E). Im laufenden Kapitel ›Paretianische Strategien‹ werde ich nur (A), (B), (C) und (D) besprechen (wobei (D) in dem Unterkapitel ›Kontraktualistischer Paretianismus‹ abgehandelt wird), während ich (E) im nächsten Kapitel ›Der Status quo als Legitimationsproblem‹ aufnehme. 5. Ich möchte den Einwand (A) an dieser Stelle nicht in seinen philosophischen Feinheiten nachverfolgen, sondern in einer eher groben Weise wiedergeben. Ihm liegt eine starke moralische Intuition zugrunde, die konzeptionell in unterschiedlicher Form gefasst werden kann. Sie besteht darin, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen moralischen Anspruch auf materielle Unterstützung haben. Da dieser Anspruch offensichtlich die Beanspruchung der Ressourcen anderer Personen impliziert, kann er ein ›property right in persons‹ stiften. Der Charakter dieses Anspruchs wird – wie gesagt – in recht unterschiedlicher Weise bestimmt. Er wird teils auf den Begriff der Pflicht (zu altruistischem oder solidarischem Handeln) 24 gestützt (a), teils auf eine durch absolute Standards definierte Gerechtigkeitsvorstellung oder – nahe verwandt – auf das Konzept sozialer Grundoder Menschenrechte (b). Zunächst zu (a): Es gibt einen moralischen Kern der Redistributionspolitik, der auch von umverteilungsskeptischen Autoren wie Hayek zugestanden wird. In The Constitution of Liberty macht er darauf aufmerksam, dass in der westlichen Welt seit langem eine Pflicht der Gemeinschaft anerkannt sei, den Opfern wirtschaftlichen Elends beizustehen. 25 Beistandspflichten begründen Ansprüche auf die Fähigkeiten und Ressourcen anderer und überwiegen das Prinzip der Freiwilligkeit und des Eigentumsschutzes: Die Hilfspflicht der Gemeinschaft ist nach Hayek die moralische Grundlage sozialstaatlichen Zwangs. Er war darüber hinaus der Meinung, dass redistributive Politik eine funktionale Notwendigkeit moderner Gesellschaften ist. Mit dem Wachstum der Städte und der erhöhten Mobilität der Zum Thema ›Solidarität‹ : Schuyt 1998 »In the Western world some provision for those threatened by the extremes of indigence or starvation due to circumstances beyond their control has long been accepted as a duty of the community.« (Hayek 1960, 285)

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Bevölkerung entstand nach Hayek der Bedarf, die ursprünglich nachbarschaftlichen Hilfsnetzwerke zu ergänzen. Die moderne Sozialhilfe sei letztlich nichts anderes als das alte Armenrecht, angepasst an die Bedürfnisse einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Sie sei nicht nur moralisch geboten, sondern entspreche auch dem Selbstinteresse der besser Gestellten, die sich nur so vor Verzweiflungskriminalität schützen könnten. 26 In verhältnismäßig wohlhabenden Gesellschaft ist es nach Hayek angemessen, die Sozialhilfe nicht auf das absolut Lebensnotwendige zu beschränken. Vielmehr müsse sie den vorherrschenden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen entsprechend ausgestaltet werden. Man könnte von einem ›schwachen Egalitarismus‹ Hayeks sprechen, insofern er einen relationalen Armutsmaßstab anerkennt. Aus seiner Sicht der Sozialhilfe als Kerninstitution jeglichen Sicherungssystems ergeben sich nun Hayek zufolge weitere institutionelle Konsequenzen. Denn, so die Überlegung, durch die Bereitstellung von Sozialhilfe ändert sich das Verhalten der Individuen. Sie werden jetzt weniger investieren, um sich gegen Verarmung bei Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit oder Familiengründung zu schützen: »[…] it seems an obvious corollary to compel them to insure (or otherwise provide) against those common hazards of life. The justification in this case is not that people should be coerced to do what is in their individual interest but that, by neglecting to make provision, they would become a charge to the public. Similarly, we require motorists to insure against third-party risks, not in their interest but in the interest of others who might be harmed by their action.« 27

Sozialstaatlicher Zwang wird hier in einer mehrschichtigen Argumentation legitimiert. Der Ausgangspunkt bezieht sich auf eine moralische Intuition, die bereits dem Armenrecht zugrunde lag: dass es Beistandspflichten der Gemeinschaft gegenüber Menschen in wirtschaftlicher Not gibt. Zwar ist das Bestehen einer Beistandspflicht für relational Arme moralisch weniger evident als für absolut Arme. Gleichwohl scheint Hayek überzeugt, dass die Sozialhilfe letztlich

Interessant sind in diesem Zusammenhang empirische Untersuchung der Korrelation zwischen dem Ausmaß sozialstaatlicher Leistungen und der Menge an Eigentumsdelikten. Hierzu: Alber 2001. 27 Hayek 1960, 286 26

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eine Verallgemeinerung und Entdifferenzierung jenes im moralischen Bewusstsein tief verankerten Impulses darstelle. 28 Den Aufbau von Sozialversicherungen begründet er hingegen als Bewältigung eines Folgeproblems dieses sozialrechtlichen Minimalkonsenses. Signifikanterweise benutzt er kein Argument, das auf die Rationalitätsdefizite der zu Versichernden abhebt, sondern auf deren strategisch-rationales Verhalten. Daraus folgt das Recht des Staates, die Mitgliedschaft in Sozialversicherungen zu erzwingen. Denn nur so wird sichergestellt, dass die Kosten mangelnder Vorsorge gegen das Verarmungsrisiko nicht auf die Gemeinschaft abgewälzt werden können. Die beschriebenen Formen institutionellen Zwangs genügen nach seiner Einschätzung den strengsten liberalen Anforderungen, da sie die gerechten Ansprüche der Individuen in bestmöglicher Weise respektierten. 29 Worin besteht dann für Hayek überhaupt das Problem sozialstaatlichen Zwangs? Nicht der Versicherungszwang als solcher, sondern die Kontrolle der Sozialversicherung durch den Staat ist für Hayek der bedenkliche Punkt. Die Sicherungsinstitutionen können nun dazu benutzt werden, nicht nur zwischen Risiko-, sondern auch zwischen Einkommensgruppen umzuverteilen. Während Nozick jegliche erzwungene Redistribution ablehnt, wendet sich Hayek lediglich gegen die Implementierung eines starken Egalitarismus durch den Sozialstaat. Die Umverteilung im Namen gerechter Verteilung und die Umstellung von Geberpflichten auf umfangreiche, bedingungslose Empfängerrechte hält er für Raub im Gewande der Rechtlichkeit. Entsprechend kritisch sieht er den Gebrauch des Begriffs ›Sozialver-

Arnold Gehlen hat im Anschluss an Konrad Lorenz ausgeführt, dass es eine physiologische Grundlage des sorgenden Verhaltens für Notleidende und Hilflose gebe, dass allerdings diese altruistischen Empfindungen mit anderen konkurrierten und insofern der institutionellen Absicherung bedürften, um zuverlässig handlungswirksam werden zu können. Gehlen geht davon aus, dass die Schutz- und Pflegereaktion im Verhältnis zu kleinen Kindern durch eine Entdifferenzierung des Auslösemechanismus verallgemeinert werden kann: »Verpflichtungsgefühle gegenüber unsichtbaren Partnern wären die Folge. Dabei vermindert sich allerdings die Zuverlässigkeit der Reaktion […] Der leidenschaftlich handelnde Impuls einer Nächstenliebe verläuft von innen her ohne das Bewusstsein eines Sollens, das als Stimme des Gewissens erst laut wird, wenn eine innere Hemmung ihn nicht zur Tat kommen ließ.« (Gehlen 1969/1981, 56, 58–59) 29 Hayek 1960, 286 28

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sicherung‹, weil das Prinzip der risikogerechten Prämienkalkulation nicht angewendet wird. Mit Hayek müsste demnach zweierlei gegenüber Nozick vermerkt werden: (i) Der Liberalismus – verstanden als eine politische Philosophie, die den staatlichen Zwang gegenüber Individuen zu minimieren strebt 30 – muss anerkennen, dass moralische Pflichten gegenüber Notleidenden bestehen. (ii) Deren hoheitliche Erzwingung verstößt nicht gegen liberale Prinzipien, da diese als Lösung von Kollektivgutund Moral-hazard-Problemen gerechtfertigt werden kann. Inwiefern Hayek meinte, sozialstaatliche Institutionen lösten Moral-hazard-Probleme, habe ich bereits referiert. Zum Kollektivgut-Problem muss kurz eine auf Milton Friedman zurückgehende Überlegung nachgetragen werden. Friedman hat dargelegt, dass sozialstaatliche Institutionen im Rahmen der traditionellen Marktversagenslehre zu begründen sind und der Voluntarismus unter plausiblen Annahmen versagen muss. 31 Sein zentraler Punkt lautete, dass Altruismus notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür ist, dass es zu legitimer Umverteilung kommt. Er nimmt an, den wohlhabenderen Mitgliedern der Gesellschaft sei das Wohlergehen der Ärmeren nicht gleichgültig. Der Anblick von Elend sei ihnen quälend oder sie würden moralische Beistandspflichten anerkennen oder an elementare soziale Rechte glauben. Selbst wenn alle Wohlhabenden von solchen Überzeugungen und Einstellungen beseelt wären, könnte es zu einem Unterangebot an wohltätigen Handlungen kommen: dann nämlich, wenn die Altruisten Wert darauf legen, dass den Elenden geholfen wird, aber nicht darauf bestehen, selbst die Helfenden zu sein. 32 Unter diesen Umständen hat die Linderung von Armut den Charakter eines (lokalen) öffentlichen Gutes und sollte vom Staat angeboten werden. Hayek 1960, 133–147 Friedman 1962/1998; Hochman & Rodgers 1969. Der Voluntarismus fordert, die Lösung der sozialen Probleme freiwilligen gesellschaftlichen Initiativen zu überlassen. Zum Voluntarismus allgemein: Davies 1997. 32 Friedman 1962/1998, 191: »It can be argued that private charity is insufficient because the benefits from it accrue to people other than those who make the gifts […] I am distressed by the sight of poverty; I am benefited by its alleviation; but I am benefited equally whether I or someone else pays for its alleviation; the benefits of other people’s charity therefore partly accrue to me.« 30 31

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(b) Der Einwand (A), dass Nozicks Kritik an Umverteilung von einem unzureichenden Begriff elementarer moralischer Rechte und Pflichten ausgehe, wird – wie gesagt – noch in weiteren Varianten vorgetragen. Während Hayek auf Beistandspflichten der Gemeinschaft im Rahmen einer staatlichen Zwang minimierenden Konzeption abhebt, knüpfen andere Ansätze an einen durch absolute Standards definierten Gerechtigkeitsbegriff an (oder an soziale Menschen- oder Grundrechte), ohne einem liberalen Minimierungsprogramm verpflichtet zu sein. Schematisch kann der Grundgedanke eines solchen Konzepts folgendermaßen dargestellt werden: 1. Alle Personen (Pi) haben einen gerechten Anspruch auf einen angemessenen Lebensstandard X. 2. X gilt als erfüllt, wenn eine Person Pa über eine Mindestmenge von Möglichkeiten Mi verfügt. 33 3. Wenn eine Person Pb nicht über die Mindestmenge von Möglichkeiten Mi verfügt, dann haben alle Personen aus Pi, die über mehr als die Mindestmenge verfügen, die Pflicht, Bedingungen der Möglichkeiten Mi an Pb zu transferieren. 4. Gerechter staatlicher Zwang sorgt für die Erfüllung der Rechte gemäß (1) und der Pflichten gemäß (3). Gegen Nozick wird hier geltend gemacht, dass es keine Instrumentalisierung darstelle, wenn Personen durch öffentliche Regeln dazu gezwungen würden, ihren moralischen Verpflichtungen nachzukommen. 34 Dieser Punkt wird noch verstärkt durch den Hinweis, dass alle Personen diese Rechte und Pflichten haben – Verpflichtete und Berechtigte sind nicht mit starren Designatoren gekennzeichnet, wie Zur Konkretisierung dieses Punktes folgende Passage: »Die elementaren Standards der Gerechtigkeit garantieren allen Menschen menschenwürdige Lebensbedingungen. Sie verlangen etwa, dass jeder Mensch Zugang zu Nahrung, Obdach und medizinischer Grundversorgung haben muss. Sie fordern, dass in jedem menschlichen Leben Raum für private wie politische Autonomie, Besonderung und persönliche Nahbeziehungen sein soll. Sie verlangen, dass jeder Mensch sich seiner Gesellschaft zugehörig, als ›einer von uns‹, fühlen können soll. Diese Standards geben absolute Erfüllungswerte vor, die allerdings noch kulturspezifisch zu konkretisieren sind. So führt zum Beispiel die kulturspezifische Konkretisierung des Rechtes auf soziale Zugehörigkeit in Arbeitsgesellschaften, und nur in diesen, zu einem Recht auf Arbeit.« (Krebs 2000, 18) 34 »Persons are not treated as mere means, nor is their rationally justifiable freedom violated, when they are taxed in order to support the positive rights to basic well-being of other persons who are suffering from economic privation. For the principle underlying the taxation of the affluent to help others is concerned with protecting equally the rights of all persons, including the affluent.« (Gewirth 1996, 46–47) 33

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das beispielsweise der Fall wäre, wenn der weiße Teil der Bevölkerung unterhaltspflichtig für den schwarzen wäre (oder umgekehrt). Hier könnte tatsächlich gefragt werden, ob die Zweckformel respektiert würde. Ein Problem dieser Ansätze besteht darin, dass nicht alles, was zu einem menschenwürdigen Leben gehört, geeigneter Gegenstand rechtlicher Garantien sein kann. Anspruchsrechte wirken sich auf die Motivation von Individuen aus, produktive Anstrengungen zu unternehmen, so dass reflektiert werden muss, ob die Gewährung bestimmter individueller Rechte die Basis ihrer kollektiven Erfüllbarkeit untergräbt. Die Zusprechung sozialer Rechte kann kaum ohne eine Theorie über die Produktionsbedingungen von Wohlstand auskommen, die zugleich berücksichtigt, wie sich die fraglichen Rechte auf jene Bedingungen auswirken. Der Mangel von Gerechtigkeitstheorien dieser Machart ist also nicht – wie Nozick meinte –, dass sie sich ungebührlich auf die Rechte der Empfänger konzentrierten und nicht nach denen der Geber fragten; der Mangel besteht vielmehr darin, dass nicht gefragt wird, wie Rechte soziale und wirtschaftliche Interaktion determinieren und unter welchen Bedingungen sie dauerhaft erfüllbar sind. Nicht dass sie rechtliche Interdependenzen missachten, ist ihnen vorzuwerfen, sondern dass sie keine gesellschaftstheoretische Wirkungsanalyse vornehmen. An einigen Stellen hat Nozick immerhin diesen Punkt mit Recht herausgestellt – wenn auch mit klarer ideologischer Indienststellung. Für eine kapitalistische Marktwirtschaft, in der die Verteilungssituation von unzähligen souveränen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte abhängt, 35 müssen Eigentumsrechte eine zentrale Stellung innerhalb der Gerechtigkeitstheorie haben. Denn diese regeln im Wesentlichen die Verteilung der Produktionserträge; und unter ihrer Voraussetzung werden die produktiven Anstrengungen überhaupt erst aufgenommen. Daher folgt man einem irreführenden Bild, wenn eine gerechte Güterverteilung eingefordert wird, so als seien die Güter nicht bereits mit gerechtfertigten Ansprüchen belegt. 36 Daraus ist zum einen die Konsequenz zu ziehen, dass Gerechtigkeitstheorien nicht auf der Ebene der Verteilung, sondern auf der von 35 36

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Institutionen und ihrer Verteilungswirkungen ansetzen müssen; sie heben auf Verfahrens- und nicht auf allokative Gerechtigkeit ab; 37 zum anderen wird damit aber auch klar, dass eine überzeugungskräftige Theorie elementarer sozialer und ökonomischer Rechte eingebettet sein muss in eine gesellschaftstheoretische Analyse über Wirkungen eben dieser Rechte auf die Produktionssphäre. 6. Die zweite Replik (B) auf Nozicks Zurückweisung der Umverteilung – hatte ich gesagt – verfährt als immanente Kritik und argumentiert, er habe verkannt, dass aus dem von ihm akzeptierten lockeschen Vorbehalt Kompensationspflichten entsprängen, mit denen sich die üblichen Institutionen des Sozialstaates rechtfertigen ließen. 38 Nozick lehnt nämlich nicht jegliche Form hoheitlich erzwungener Redistribution ab. Zwar stellt er Umverteilung im Namen von Idealen der Verteilungsgerechtigkeit als illegitime Ausübung von Zwang moralisch auf eine Stufe mit Diebstahl und Erpressung. Da jedoch der Staat ihm zufolge die Aufgabe hat, individuelle Rechte zu schützen und durchzusetzen, hat er auch für die Korrektur von Eigentumsverteilungen zu sorgen, die aus der Verletzung individueller Rechte resultieren. 39 So folgt aus Nozicks Arbeit, dass die Erzwingung von Transfers an die indianische und afroamerikanische Bevölkerung der Vereinigten Staaten gefordert sein könnte, um Unrecht aus Diebstahl, Vertreibung, Vertragsbruch, Verschleppung und Versklavung zu kompensieren. Der kontraktualistische Ansatz, wie ihn James Buchanan vertritt, ist für solche Ansprüche weit weniger zugänglich. Die Verteilung der Güter im Naturzustand reflektiert die Stärke und das Geschick der Akteure, aber auch einfache Zufälle. 40 Buchanan folgt Hobbes in der Ansicht, dass die Unterscheidung zwiDieser Punkt wird von Rawls klar gesehen, nicht immer jedoch von seinen Interpreten: »The problem of distributive justice in justice as fairness is always this: how are the institutions of the basic structure to be regulated as one unified scheme of institutions so that a fair, efficient, and productive system of social cooperation can be maintained over time, from one generation to the next? Contrast this with the very different problem of how a given bundle of commodities is to be distributed, or allocated, among various individuals whose particular needs, desires, and preferences are known to us, and who have not cooperated in any way to produce those commodities. This second problem is that of allocative justice.« (Rawls 2001, 50) 38 Steinvorth 1999 39 Nozick 1974/1999, 151 40 Buchanan 1975, 23–25 37

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schen Recht und Unrecht im Naturzustand haltlos ist. Die Verteilung im Naturzustand ist, wie sie ist. Die Definition der Eigentumsrechte im Gesellschaftsvertrag geschieht auf der Basis der natural distribution. Eine Korrektur der natürlichen Verteilung wäre nach dieser Vorstellung ungerecht, weil sie – wie wir sehen werden – gegen Buchanans Auslegung des Schlechterstellungsverbots verstieße. Ganz anders der naturrechtliche Ansatz von Nozick: Ein gerechter Staat darf die natürlichen individuellen Rechte nicht verletzen und hat – kommt es zu solchen Verletzungen – für Wiedergutmachung zu sorgen. Umverteilung als Kompensation von Unrecht gehört somit zu den Aufgaben eines nozickschen Staates. Ein weiterer potentieller Grund für Umverteilung innerhalb des naturrechtlichen Ansatzes ergibt sich aus den Legitimitätsbedingungen gerechter ursprünglicher Aneignung. Nozick nimmt Lockes Gedanken auf, es komme zum rechtmäßigen Erwerb von Eigentum, indem jemand einen herrenlosen Gegenstand bearbeite. Da die Grenzen von Gegenständen nicht eindeutig definiert sind, hängt der Umfang einer Inbesitznahme von Konventionen ab. Es muss zumindest implizite kollektive Übereinkünfte darüber geben, was, wie viel davon und für wie lange mit der Arbeit erworben wird. Wenn diese Konventionen in Kraft sind, entscheidet sich die Frage der Rechtmäßigkeit einer Inbesitznahme nach Locke daran, ob genug Güter für andere bleiben – der so genannte lockesche Vorbehalt. Er enthält die intuitiv einleuchtende Forderung, dass Aneignungsakte nicht übermäßig sein dürfen – was sicher dann der Fall wäre, wenn sie ohne zwingenden Grund das Recht anderer auf Subsistenzmittel missachten würden. Wie ist aber die Menge derjenigen zu bestimmen, deren Recht auf ausreichende Güterausstattung durch die Appropriation gewahrt bleiben muss? Angenommen, eine Gruppe von Siedlern hätte eine herrenlose Insel vollständig aufgeteilt und wäre dabei dem lockeschen Vorbehalt gerecht geworden. Rechnet man nun Nachgeborene und Neuankömmlinge in die Menge derjenigen, für die der Vorbehalt beachtet werden muss, so ergibt sich offensichtlich ein Problem. Die vollständige Aufteilung des Landes unter den Siedlern wird dann anscheinend unmittelbar illegitim, weil nicht genug Güter für andere im Gemeineigentum belassen wurden. Manche haben daraus geschlossen, der lockesche Vorbehalt könne niemals erfüllt sein: Daher sei entweder die Theorie unangemessen oder jegliche reine Privateigentums-Ordnung widerrechtlich. 106

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Nozick hat aus diesem Grunde vorgeschlagen, den lockeschen Vorbehalt nicht als einen Anspruch auf Güter auszulegen, sondern als ein Schlechterstellungsverbot im Sinne des ökonomischen ParetoPrinzips. Aneignungsakte sind legitim, wenn sie die Nutzensituation anderer nicht verschlechtern. Die Tatsache, dass es für Neuankömmlinge und Nachgeborene kein Gemeineigentum an natürlichen Ressourcen mehr zu appropriieren gibt, reicht demzufolge nicht aus, um sagen zu können, die Eigentumsordnung sei illegitim. Vielmehr sei zu prüfen, ob sich die Neuankömmlinge und Nachgeborenen durch die Privateigentumsordnung insgesamt besser oder schlechter stellen als in dem Zustand ohne Privateigentum. Und hier kommt Nozick zu einem ähnlichen Schluss wie schon Locke: Die Privateigentumsordnung entziehe den Einzelnen zwar die Möglichkeit ursprünglicher Aneignung, doch weil erst in ihrem Rahmen die gewaltige Wohlstandsentwicklung durch die Bearbeitung von natürlichen Ressourcen einsetze, seien selbst die Ärmsten der Gesellschaft mehr als kompensiert. Der König eines großen und fruchtbaren Gebiets in Amerika nähre und kleide sich schlechter als ein Tagelöhner in England, verlautbarte der § 41 von Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung. 41 Ulrich Steinvorth hat im Anschluss an Arbeiten von Hillel Steiner dieser Einschätzung widersprochen. Anders als Nozick sieht Steinvorth das lockesche Proviso durch die Privateigentumsordnung grundsätzlich verletzt, insofern sie den Individuen ihren Anteil am Gemeineigentum natürlicher Ressourcen vorenthält. Zum einen wirft er Nozick wegen der Anwendung des ökonomischen Pareto-Prinzips Inkonsequenz und einen Verrat am libertären Grundgedanken vor. Dieser laute, dass Umverteilung allein durch die schuldhafte Verletzung eines Rechts ausgelöst werden könne. Daher gehe es darum, ob die private Aneignung natürlicher Ressourcen berechtigt sei, nicht ob sie nütze. 42 Zum anderen täusche sich Nozick aber, wenn er sage, der Anteil natürlicher Ressourcen an der Gesamt»[…] the proviso will not play a very important role in the activities of protective agencies and will not provide a significant opportunity for future state action.« (Nozick 1974/1999, 182) 42 »Erkennt man das Gemeineigentum von Naturgütern an, dann ist ihre Mehraneignung unberechtigt. Wenn Nozick […] nutzenorientiert argumentiert, ist das nicht nur ein Widerspruch, sondern zeigt die Schwäche seines Urteils über die Rolle natürlicher Ressourcen.« (Steinvorth 1999, 122) 41

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wertschöpfung sei zu vernachlässigen. Diese Annahme sei im Falle Lockes berechtigt gewesen, weil es noch unbebauten Boden in Amerika gegeben habe. Unter heutigen Umständen sei er es nicht. Jeder Mensch hat insofern moralisches Anrecht auf ein Vermögen an natürlichen Ressourcen. »Wenn aller Reichtum in einer Gesellschaft den beiden Quellen Natur und Arbeit entspringt, wird auch in allen Gütern und dem sie vertretenden Geld und Kapital ein Natur- und ein Arbeitswertanteil enthalten sein. Je reicher jemand ist, desto mehr Anteil hat er nach dieser Überlegung auch am Naturwert und damit am Gemeineigentum, von dem er doch nicht mehr haben dürfte als jeder andere.« 43

Bei allen Zweifeln hinsichtlich der Tragweite der Begründungsidee von Steinvorth ist sein Einwand gegen Nozick nicht von der Hand zu weisen. Zwar dürfte dieser wohl mit der Behauptung richtig liegen, dass Produktivität und Wohlstand mit der privaten Appropriation steigen und die Durchschnittseinkommen im Laufe der Geschichte exorbitant gestiegen sind. Steinvorth meint aber zu Recht, diese Überlegung sei für einen Libertären irrelevant, da er nicht nach dem durchschnittlichen Nutzen und der ›Generalkompensation‹, sondern nach individuellen Rechten frage. 44 Nozick zählt eine Reihe positiver Effekte des Privateigentums auf, beginnend bei der Allokation von Produktionsmitteln bei den produktivsten Nutzern über die Ermutigung innovativen Verhaltens und endend mit der Eröffnung von Arbeitsmöglichkeiten »for unpopular persons who don’t have to convince any one person or small group to hire them, and so on. These considerations enter a Lockean theory to support the claim that appropriation of private property satisfies the intent behind the ›enough and as good left over‹ proviso, not as a utilitarian justification of property. They enter to rebut the claim that because the proviso is violated no natural right to private property can arise by a Lockean process.« 45

Dass die von Nozick vorgenommenen Nutzenbetrachtungen keine utilitaristischen Kalkulationen darstellen, sondern eine Prüfung, ob dem lockeschen Vorbehalt Genüge geleistet wurde, spielt aber für Steinvorth 1999, 219 »Es geht […] überhaupt nicht darum, ob die private Güteraneignung die Bedürfnisse und Interessen der Menschen optimal befriedigen oder ihnen nützen kann, sondern darum, ob sie berechtigt ist, wie klein ihr Wert immer sein mag.« (Steinvorth 1999, 122) 45 Nozick 1974/1999, 177 43 44

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den Einwand Steinvorths keine Rolle. Nozick müsste vielmehr demonstrieren, dass die Privateigentumsordnung garantiert, dass jedes Individuum durch sie besser gestellt ist als ohne sie – eine solche Garantie schlösse aber das Zugeständnis ein, dass Umverteilungspolitik legitim sein kann. 2.1.2. Wirkliche Freiheit 7. Kommen wir nun zu dem dritten der gegen Nozick gerichteten Einwände: dem Argument, dass seine Überlegungen auf einem defizitären Verständnis von Freiheit beruhen. Um dieses Argument – das seinem Anspruch nach innerhalb des libertären Bezugsrahmens verbleibt – angemessen zu würdigen, ist ein kurzer Blick auf das zentrale Anliegen des liberalen Freiheitsgedankens hilfreich. Wenn es ein Projekt gegeben hat, das konstitutiv für den Liberalismus in seiner klassischen Form gewesen ist, dann war es die Abwehr hoheitlicher Versuche, für die Wohlfahrt der Bürger durch Steuerung der Gesellschaft zu sorgen. In Reaktion auf die Herrschaftsanmaßungen des Absolutismus hat der klassische Liberalismus die Vorstellung einer staatlich unbeaufsichtigten Gesellschaft selbst sorgender Individuen oder Haushalte entwickelt. Mit existentialistischem Pathos gesprochen: Er hat das Bild einer Gesellschaft entworfen, für die es am besten ist, zur Freiheit verurteilt zu sein. Die sozialistischen und sozialdemokratischen Kritiker haben dem Liberalismus vorgehalten, in Sachen Freiheit nur halbe Sache zu machen. Denn die liberalen Schutz- und Abwehrrechte hätten zwar die Befreiung von den ständischen Fesseln und paternalistischer Bevormundung gebracht; doch sei der Wert der bürgerlichen Freiheiten ungleich über die Gesellschaft verteilt. George Bernard Shaw, Mitgründer der Fabian Society, hat dies mit dem Sarkasmus auf den Punkt gebracht, Bettler und Millionär genössen beide die gleiche Freiheit, unter Brücken zu übernachten. Rechtliche Freiheiten können bei sehr ungleicher Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands faktisch wertlos sein. Muss dies nicht Rückwirkungen auf das Verständnis einer freien Gesellschaft haben? Der Begriff Freiheit birgt das Potential tiefer weltanschaulicher Differenzen. Er lässt sich sowohl im Sinne der Wahlmöglichkeit als auch in dem der Freiheit von Zwang verstehen. Beide Bedeutungsdimensionen gehören zu der Art, in der von Freiheit umgangssprachlich die Rede ist. Diese Mehrdeutigkeit ermöglicht es sowohl den VerA

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fechtern als auch den Kritikern wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, ihr Programm im Namen der Freiheit vorzutragen. Die einen sehen Einrichtungen des Sozialstaats als Form von Entmündigung und Enteignung, die anderen als Bedingungen der gleichen Freiheit aller. 8. Philippe van Parijs hat in Real Freedom for All zu begründen versucht, dass Libertäre wie von Hayek und Nozick den Begriff der Freiheit lediglich usurpiert hätten. Der Libertarismus der Rechten sei kein wirklicher, kein real libertarianism und ihr Freiheitsbegriff kein real freedom. Van Parijs versucht, seine politischen Kontrahenten auf eigenem Feld zu schlagen, indem er sich – anders als andere zeitgenössische Linke – auf Freiheit, nicht auf Gerechtigkeit beruft, um einen bestimmten Typus von Sozialstaatlichkeit zu begründen. Er ist nicht der Erste, der auf diesen Gedanken gekommen ist – doch der wohl profilierteste zeitgenössische Philosoph, der ihn ausformuliert. Für einen klassischen Liberalen wie Friedrich von Hayek meint Freiheit die Abwesenheit von willkürlichem Zwang. Freiheit ist »the state in which a man is not subject to coercion by the arbitrary will of another or others«.46

Demnach war eine Person P in ihrem Handeln frei, wenn sie eine Handlung h aus freien Stücken in Angriff nahm und durch niemanden an der Durchführung von h gehindert wurde. Für dieses Verständnis von Freiheit spielt es keine Rolle, ob P’s Wille neurotisch war, von falschen Annahmen ausging oder ob P viele oder wenige Optionen zur Auswahl hatte. Entscheidend ist, dass sie h ohne Zwang einer anderen Person unternahm. 47 Was heißt es aber, von einer anderen Person zu etwas gezwungen zu werden? Ist es Zwang, wenn ein Angreifer den Verteidiger durch seine Spielweise dazu nötig, ihn besonders eng zu decken – obwohl der Verteidiger möglicherweise etwas größeren Abstand bevorzugen würde? Oder wenn ein neuer Autohändler die alteingesessenen dazu veranlasst, ihren Kundenservice zu verbessern und ihre Preise zu senken – obwohl ihnen die alten Praktiken und Preise lieber waren? Sollte man von Zwang sprechen, wenn der zu vermutende Besucherandrang mich zu sofortigem HanHayek 1960, 11 »As a matter of fact, English provides us with two different words to make the necessary distinction: while we can legitimately say that we have been compelled by circumstances to do this or that, we presuppose a human agent if we say that we have been coerced.« (Hayek 1960, 133)

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deln veranlasst – obwohl ich doch lieber zu einem späteren Zeitpunkt mich um Karten kümmerte? Wohl kaum. Doch übt in beiden Fällen der Wille anderer Einfluss auf Handlungsoptionen aus – der Wille des einen steht gewissermaßen unter dem des anderen. Wie soll also die Grundintuition Hayeks formuliert werden, ohne dass von Gegenspielern, Konkurrenten und Mitinteressenten gesagt werden muss, dass sie unsere Freiheit raubten? Mein Definitionsvorschlag ist folgender: Zwang ist die intentionale Erhöhung der Kosten von Handlungsoptionen anderer. 48 Eine (juristische oder natürliche) Person P übt auf Aktor A Zwang aus, wenn sie (1) eine Konsequenz der Form ankündigt: »Wenn A h ausführt, dann droht die Sanktion S«, und (2) A damit rechnet, dass P S tatsächlich verhängt, wenn sie feststellt, dass h. Dabei ist es durchaus möglich, dass A sich täuscht und P gar nicht in der Lage wäre, S zu vollziehen. Zwang kommt dann durch die (unbegründete) Furcht vor einer Sanktion zustande. Eine Sanktion kann in der Androhung von Gewalt, aber auch in der Verweigerung des Zugangs bestehen. Letzteres verleiht dem Monopolisten Sanktionspotential, der über ein lebenswichtiges Gut verfügt. Wer Sanktionen androht, tut dies entweder, um die Kosten der Handlungsoptionen anderer so zu beeinflussen, dass deren Ausübung unwahrscheinlicher wird (wie das Strafrecht); oder um ein gewünschtes Verhalten herbeizuführen; oder um einen ungewöhnlich hohen Preis für ein bestimmtes Gut zu erzielen. Zur Ausübung von Zwang kommt es jedoch auch, wenn P direkt auf A einwirkt, um ihn an h zu hindern oder zu h zu bewegen. 9. Hayek meint, wem an einer freiheitlichen Gesellschaft gelegen sei, der müsse dafür eintreten, dass Menschen so wenig wie irgend möglich dem willkürlichen Zwang anderer ausgesetzt seien. Wenn er Freiheit auf die Freiheit von der Willkür anderer einschränkt, so Auf die Spezifikation »intentional« kommt es hier entscheidend an. Van Parijs’ These – »coercion is the restriction of a person’s opportunity set« (van Parijs 1995, 20) – verzichtet auf die Intentionalität und impliziert, dass jemand, der vor mir in der Warteschlange steht und die letzte Karte kauft, Zwang auf mich ausübt – obwohl er diese Karte nicht kaufte um der Verschlechterung meiner Handlungsoptionen willen. Dies deckt sich nicht mit meinen linguistischen Intuitionen über die richtige Verwendung des Wortes ›Zwang‹. 48

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nimmt er implizit an, dass Personen der eigenen Willkür immer dann folgen können, wenn sie nicht durch andere daran gehindert werden. Er bestreitet also, dass es einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Freiheit und der Menge an Wahlmöglichkeiten gibt. Was Hayeks Freiheitsverständnis auszeichnet, das ist die Beschränkung des Begriffs auf die Relation zwischen Aktoren. Freiheit ist der Gegenbegriff zu Zwang und nicht zum Fehlen wählbarer Alternativen. Sie hat daher auch nichts mit Partizipationsrechten zu tun. Eine Person ohne Stimmrecht kann sehr wohl frei sein, ebenso jemand ohne materielle Ressourcen. Innere Zwänge, Irrationalität, Orientierungslosigkeit, Unerfahrenheit können jemanden unglücklich machen und ihn sein vergangenes Tun bereuen lassen. Aber dies hat nach von Hayek nichts mit seinem Status als freie Person zu schaffen. Deweys und Commons’ Deutung von Freiheit als Macht erklärt er in diesem Kontext für eine besonders unheilvolle Begriffsverwirrung. Es sei wichtig zu verstehen, dass wir gleichzeitig frei und elend sein könnten. Freiheit heiße nicht: alle guten Dinge. 49 Hayek besteht nun darüber hinaus darauf, den Begriff Zwang möglichst eng anzuwenden. Das Eigentumsrecht schafft – Hayek sieht dies sehr wohl – für Monopolisten die Möglichkeit der gewaltfreien Zwangsausübung. Allerdings scheint er zu fürchten, dass dies als Anlass genommen werden könnte, Verhandlungsmacht als Index von Freiheit auszulegen, eine Konsequenz, die er unbedingt vermeiden möchte. Daher betont er: »Coercion should be carefully distinguished from the conditions or terms on which our fellow men are willing to render us specific services or benefits. It is only in very exceptional circumstances that the sole control of a service or resource which is essential to us would confer upon another the power of true coercion.«50

Die paradigmatischen Fälle von Unfreiheit, die er in The Constitution of Liberty nennt, haben alle einen Bezug auf die Ausübung oder Androhung von Gewalt, sei sie physisch (durch bewaffnete Banden und die Vertreter der Staatsmacht) oder psychisch (»guile and malice may well find the means of coercing the physically stronger«). 51 Den Begriff der Freiheit bezieht er daher nicht auf jegliche Form von Zwang, Hayek 1960, 18: »Above all, however, we must recognize that we may be free and yet miserable. Liberty does not mean all good things or the absence of all evils.« 50 Hayek 1960, 135 51 Hayek 1960, 138 49

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sondern auf die »more severe forms«, deren intuitive Bestimmung er offensichtlich als unproblematisch ansieht. Von Hayeks Distinktionen bleiben relativ unscharf. Die oben gegebene Erläuterung von Zwang als Drohung, die Kosten von Handlungsoptionen anderer zu erhöhen, erweist sich jedoch als hilfreich, um die Weigerung, ein Kooperationsverhältnis einzugehen, von der Ausübung von Zwang zu unterscheiden. Zunächst: Die Nennung von Bedingungen, unter denen eine Partei bereit ist, mit anderen zu kooperieren, gehört zu den elementaren und schützenswerten Freiheitsrechten. Wenn der Dorfbäcker sich weigert, Brötchen zu dem von mir gewünschten Preis zu verkaufen, so stellt dies keine Einschränkung meiner Freiheit dar. Etwas anderes ist es, wenn seine Weigerung in der Absicht geschieht, meine Handlungen zu steuern. Geschieht die Weigerung eines Aktors A, eine Kooperation mit einem anderen B einzugehen oder fortzusetzen, in der Absicht, B’s Menge an Handlungsmöglichkeiten zu verkleinern (und ist A damit erfolgreich), so muss man von Zwang sprechen. Hayek propagiert eine Gesellschaft, in der die Freiheit von schlimmem Zwang maximiert wird. Eine solche Gesellschaft schützt alle Mitglieder rechtlich vor der willkürlichen Androhung oder Ausübung von physischer oder psychischer Gewalt. Sie definiert zu diesem Zweck eine Sphäre, innerhalb derer eine Person durch den Willen anderer nicht gewaltsam bedrängt werden darf, und die staatliche Zwangsmacht hat die Aufgabe, diese Sphäre zu schützen. Freiheit ist somit ein in die Rechtssphäre gehöriger Begriff, er bezeichnet eine hoheitlich garantierte Erlaubnis, innerhalb bestimmter Grenzen zu tun und zu unterlassen. Ob und in welchem Umfang Freiheit als Rechtserlaubnis durch eine Person genutzt werden kann, ist nach von Hayek eine wichtige Frage, aber keine, die auf den Freiheitsbegriff führte. 10. Philippe van Parijs hat gegen das hayeksche Freiheitsverständnis eingewendet, dass es die Substanz des Freiheitsbegriffs aushöhle. Es ersetze das Interesse an Freiheit durch einen Fetischismus der Rechte. Um diese Behauptung zu veranschaulichen, schlägt van Parijs folgendes Gedankenexperiment vor:

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»[…] just think of an island which happens to be owned, for whatever reason, fully consistent with the libertarian characterization of a free society given above, 52 by one of its inhabitants. Providing it is difficult or expensive enough to leave the island, the owner can impose on the other inhabitants any conditions she fancies. If they are to be allowed to earn their livelihood, they may have to work abysmally long hours, for example, or give up their religion, or wear scarlet underwear. On a libertarian account […] such a society would not cease to be free. On any intuitively defensible interpretation of the ideal of a free society, on the other hand, this is plain nonsense. What lies at the root of this clash between so-called libertarianism and what we feel is implied by a genuine concern with people’s freedom?« 53

Van Parijs behauptet hier, dass Libertäre – zu denen er Hayek sicherlich zählt – die von ihm geschilderte Gesellschaft eine freie nennen würden, da annahmegemäß die Eigentumsverhältnisse auf rechtlichem Wege zustande gekommen wären und Zwang eben nur indirekt, durch das Diktieren von Zugangsbedingungen, ausgeübt würde. Doch dass ein Monopolist, wie ihn van Parijs beschreibt, freiheitseinschränkenden Zwang ausübt – auch von Hayek käme nicht auf die Idee, das zu bestreiten. Denn die Monopolmacht wird in der Absicht benutzt, die Kosten von Handlungsoptionen anderer zu beeinflussen. Zwar will er den Begriff Zwang eng angewendet sehen, aber wenn ein Monopolist über die Macht verfügt, andere zur Aufgabe ihrer Religion zu zwingen oder scarlet underwear zu tragen, so würde wohl kaum ein Libertärer von einer solchen Gesellschaft sagen, sie sei frei. So schreibt Hayek: »Since coercion is the control of the essential data of an individual’s action by another, it can be prevented only by enabling the individual to secure for himself some private sphere where he is protected against such interference. The assurance that he can count on certain facts not being deliberately shaped by another can be given to him only by some authority that has the necessary power.« 54

Die Umschreibung einer Privatsphäre nennt Sachverhalte, die kein anderer befugt ist zu bestimmen. Was auch immer das Beispiel von van Parijs zeigt, eines zeigt es sicher nicht: Dass der Freiheitsbegriff im hayekschen Sinne nicht erlaubt, die Vorschrift, scarlet underwear Van Parijs bezieht sich hier auf Nozicks »justice in acquisition« und »justice in transfer«. 53 Van Parijs 1995, 14 54 Hayek 1960, 139 52

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zu tragen oder die Religion zu wechseln, als Freiheitsberaubung zu kritisieren. Die Rede von einer freien Gesellschaft ist für ihn bezogen auf strukturelle Merkmale des Rechtssystems, die klarerweise despotische Praktiken ausschließen. Damit ist aber der von van Parijs erhobene Anspruch einer Kritik des libertären Freiheitskonzepts in jedem Fall zu offensiv formuliert. Das von ihm konstruierte Beispiel ist nicht geeignet, alle Mitglieder der Familie libertärer Freiheitskonzeptionen in Schwierigkeiten zu bringen. Treffender ist van Parijs’ Argument im Falle Nozicks. In Anarchy, State, and Utopia gilt eine Gesellschaft als frei, wenn sie aus einer bruchlosen Kette rechtlich gültiger, freiwilliger Vereinbarungen hervorgeht. Wenn am Ende einer solchen Kette einer Person alles Lebenswichtige gehört, so ändert sich dadurch grundsätzlich nichts an ihrem Recht, allen anderen Bedingungen zu nennen, unter denen sie zur Kooperation bereit ist. Dass sie über ungeheure Verhandlungsmacht verfügt, ist laut van Parijs für Nozick ohne Belang. »This is why a libertarian had to call the island of our tale a free society, however despotic its owner’s rule. Such counterintuitive implications clearly make the moralized conception of freedom untenable, and ›libertarianism‹ a misleading label. Libertarians should rather be called rights-fetishists.« 55

Doch auch Nozick setzt der Ausübung von Verhandlungsmacht Grenzen. So präsentiert er im Zusammenhang seiner Diskussion des lockeschen Provisos den Fall des Wasserlochs in der Wüste – und die generelle Tendenz ist sicherlich, Relativierungen von Eigentumsrechten unter derartigen Bedingungen zuzulassen. Das Gedankenexperiment leistet also sicherlich weniger, als van Parijs beabsichtigt. Es zeigt kaum die Absurdität eines Libertarismus, der Freiheit als Abwesenheit von Zwang und nicht als Vielfalt von Wahlmöglichkeiten versteht. 11. Noch ein weiterer Einwand gegen das Gedankenexperiment von der abgelegenen Insel ist zu erörtern. Er ergibt sich aus dem unscheinbaren Zusatz ›for whatever reason‹ in der zitierten Passage. 56 Mit ihm suggeriert van Parijs, dass sein Argument alle denkbaren Entstehungsursachen für die ungleiche Ressourcenverteilung beVan Parijs 1995, 15 »[…] just think of an island which happens to be owned, for whatever reason, fully consistent with the libertarian characterization of a free society given above, by one of its inhabitants.« (van Parijs 1995, 14)

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trifft. Doch daran lässt sich füglich zweifeln. Der Zusatz enthält bereits den Ausschluss des für libertäre Positionen schlechterdings konstitutiven Gedankens, dass auf Wissen über die Genese einer Verteilungssituation bei deren normativer Beurteilung nicht verzichtet werden kann. Angenommen, der Besitzer der van Parijs’schen Insel wäre früher einmal einer von vielen Schiffseignern gewesen. Durch eine Mischung aus Glück und Geschick wäre er im Laufe der Jahre zu einem wohlhabenden Mann geworden, der begonnen hätte, neben dem Handel auch Finanzgeschäfte mit den anderen Schiffeignern zu treiben. Gegen entsprechende Sicherheiten wäre er bereit gewesen, Schiffe anderer Insulaner auszustatten. Der Zufall hätte es gewollt, dass deren Expeditionen alle gescheitert wären und so die Insel samt aller Schiffe nach und nach auf rechtmäßigem Wege in die Hände des jetzigen Inselbesitzers gefallen wäre. Niemand wurde getäuscht oder betrogen. Niemand wurde zu etwas gegen seinen Willen gezwungen. Die Eigentumsverteilung ist das Resultat einer Menge von freiwilligen Entscheidungen auf der Grundlage gängiger Rationalitätsregeln. Wäre es tatsächlich abwegig, die Inselgesellschaft frei zu nennen? Betrachtet man lediglich die Wahlmöglichkeiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt, dann fällt die Antwort sicherlich bejahend aus. Bis auf den Inseldespoten hat niemand viel Auswahl. Wenn man annimmt, dass kein gewaltsamer Umsturz der Verhältnisse möglich ist, so bleibt nur der Tod oder die Unterwerfung unter den Despotenwillen. Doch wie angemessen wäre eine solche, sich ganz auf die gegenwärtige Situation beziehende Beurteilung? Sie wäre es, wenn deren Genese irrelevant wäre. Allerdings ist sie dies nach der üblichen Meinung nicht. Wenn jemand aus freien Stücken eine gefährliche Expedition unternimmt, etwa die Eigernordwand im Winter durchsteigt, so ist er für schwierige Situationen, in die er gerät, selbst verantwortlich. 57 Er hat keinen moralischen Anspruch auf die Hilfe anderer, es sei denn, diese hätten ihm vorher Hilfe zugesagt. In ähnlicher Weise würde von den Insulanern gelten, dass sie sich nicht beklagen dürfIn der philosophischen Literatur finden sich hingegen abweichende Ansichten. Dass »Bürger einer großen Nation mit vielen geografischen Unterschieden wie die Vereinigten Staaten«, die ihr »Haus in einer überschwemmungsgefährdeten Ebene, in der Nähe des Andreasgrabens oder im Zentrum eines Tornadogebiets« errichten, »die Risiken einer Flut, eines Erdbebens oder eines verheerenden Sturms« selbst zu tragen hätten, hält sie nicht für akzeptabel. Siehe: Anderson 1999/2000, 129.

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ten. Freilich, so könnte mit van Parijs eingewendet werden, ist es eines, ob die Insulaner frei sind, ein anderes, ob sie sich beklagen dürfen. Wer eine formal korrekt zustande gekommene Despotie für moralisch legitim hält, der macht eben aus Recht einen Fetisch und ist kein wirklicher Liebhaber der Freiheit. Was in diesem Vorwurf ausgeblendet bleibt, das ist die Frage, ob Rechtlichkeit und Freiheitlichkeit in dem gegebenen Beispiel überhaupt unterschieden werden können. Das Recht, um das es geht, entspricht ja dem Willen der Unterworfenen. Sie haben sich ex ante für Handlungsmöglichkeiten (und die Übernahme von Risiken) entschieden, die sie ex post bereuen. Bedingung der Möglichkeit der Ausübung jener ex ante gewünschten Möglichkeiten war jedoch das ernsthafte Versprechen, ex post auch die ungünstigen Ausgänge zu akzeptieren. Eine Relativierung dieses Prinzips bedeutet zum einen die Aushöhlung jeglicher Rechtlichkeit, ein Ergebnis, das van Parijs nicht wünschen dürfte. Zum anderen missachtet sie die Intertemporalität von Personen, die ihre Freiheit zur Strukturierung zukünftiger Optionen gebrauchen und sich an diese Strukturierung – um ihrer Identität als Personen willen – binden. Van Parijs könnte nun sagen, dass Versprechen, die einen derartigen Ausgang haben können, nichtig sind. Aber eine solche Einschränkung der Ex-ante- um der Ex-post-Freiheit willen ist nicht besonders überzeugend. Erstens gehört zur Freiheit wesentlich die Freiheit zu bestimmen, welche Art und Intensität von Risiko man wünscht. Zweitens ist ex ante eben nicht sicher, ob es zu einer Expost-Einschränkung von Freiheit überhaupt kommen wird. Die Behauptung, Versprechen, die eine Verringerung der eigenen Handlungsmöglichkeiten zur Folge haben könnten, wären unwirksam, hat somit keine große Überzeugungskraft. Van Parijs könnte nun stattdessen behauptet, dass regelgeleitetes Handeln in der Gesellschaft Ähnlichkeit mit Brettspielen habe. Alle Spielzüge sind regelgerecht auszuführen, aber es gibt Endpunkte, an denen neu begonnen werden muss. Die Inseldespotie sei so ein Fall, bei dem die verbleibenden Spielmöglichkeiten der Parteien so begrenzt seien, dass nur eine Neuverteilung in Frage komme. Allerdings fragt sich, wie brauchbar dieser Vergleich ist. Denn während bei Brettspielen das Spielende durch die Regeln fixiert ist, wären in der Gesellschaft Ende und Neuanfang nur durch allseitige Zustimmung herbeizuführen. Die Finanzierung riskanter Unternehmen ruht aber auf der Voraussetzung, dass das Spiel nicht dann beendet A

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wird, wenn eine für den Mitspieler ungünstige Konsequenz aufgetreten ist. Auch diese Erwiderung von van Parijs wäre somit nicht überzeugend. Eine dritte Möglichkeit bestünde nun darin, Freiheit als einen holistischen Terminus zu verwenden, der sich auf strukturelle Eigenschaften einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt bezieht. Es würde keine Rolle spielen, auf welchem Wege diese Eigenschaften zustande kommen. Liegen sie vor, so gilt eine Gesellschaft als unfrei, und eine wahrhaft an Freiheit interessierte Haltung würde ihre Reform fordern. Angenommen, ein solches holistisches Konzept ließe sich im Einzelnen ausführen – es wäre sicherlich nicht das, was van Parijs angibt anzustreben: eine wahrhaft libertäre Position. Wenn er sagt: »Freedom is of paramount importance: we want – or at any rate many of us want – our society to be a free society« 58 ,

so hat die der Freiheit beigemessene Wichtigkeit ihren Grund in der Möglichkeit, bezüglich des eigenen Lebens autonome Entscheidungen zu treffen. Eine Gesellschaft kann nicht frei sein, wenn sie ihren Mitgliedern nicht so etwas wie die freie Verfügung über das eigene Leben (van Parijs spricht von self-ownership) garantiert. Wenn aber der Gebrauch des Freiheitsbegriffs mit gutem Grund so eng an den Gedanken der Autonomie gebunden wird (wie bei van Parijs), so sprengt dies den holistischen Standpunkt. Denn sobald Individuen erlaubt wird, Entscheidungen auf der Grundlage ihrer eigenen Vorlieben zu treffen, sind strukturelle Eigenschaften der Gesellschaft unter plausiblen Bedingungen nur aufrechtzuerhalten, wenn jene Entscheidungen auf kontinuierlicher Basis von den Inhabern hoheitlicher Macht korrigiert werden: Liberty – wie Nozicks Wilt-Chamberlain-Beispiel plausibel macht – upsets patterns. 59 Eine politische Philosophie, welche die Erhaltung von Mustern wichtiger findet als die Sicherung der Resultate freier Entscheidungen, gewichtet somit andere Ziele stärker als Freiheit. Mit diesem dritten Versuch, seine Einschätzung von der Illegitimität der Inseldespotie zu retten, würde van Parijs den Kontext einer liberalen, am Begriff individueller Freiheit ansetzenden Theorie gänzlich verlassen. Mit gutem Grund betont er: 58 59

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Van Parijs 1995, 5 Nozick 1974/1999, 160–164

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»What we must mean by a (maximally) free society is a society whose members are (maximally) free.« 60

Was aber bedeutet für ihn individuelle Freiheit, wenn er freiwillige Entscheidungen als legitimitätsstiftende Ursachen von Verteilungssituationen außer Acht lässt? 12. Van Parijs bezeichnet sein eigenes Anliegen als echten Libertarismus – im Gegensatz zum unechten, rechtsfetischistischen der Nozicks und von Hayeks. Freiheit, so hält er zunächst fest, kann nicht in bloßer Freiwilligkeit bestehen. Denn der Wille jeder Person ist bis zu einem gewissen Grade formbar. Aus der Psychologie ist bekannt, dass Menschen häufig dazu neigen, ihr Wollen mit der gegebenen Situation in Übereinstimmung zu bringen – und nicht umgekehrt. Der Mechanismus adaptiver Präferenzbildung hat den Vorzug, die Menschen in unabänderlichen Lagen zufriedener zu machen, aber den Nachteil, sie Veränderungsmöglichkeiten missachten zu lassen. Wenn Freiheit bloße Freiwilligkeit bedeutet, also die Möglichkeit, dasjenige zu tun, was man aktuell will, so besteht kein Anlass zu Bedenken gegenüber adaptiv gebildeten Präferenzen. Präferenzen sind, wie sie sind; wer aufgrund ihrer zu handeln vermag, heißt frei – eine Gesellschaft, in der alle ihren Präferenzen folgen können, ist eine freie Gesellschaft. Der naheliegende Einwand lautet natürlich, dass mit gekonnten Techniken der Manipulation und Selbstmanipulation selbst Sklaven dazu gebracht werden könnten, ihr Los gutzuheißen und zu finden, sie täten genau das, was sie tun wollten. Ein plausibles Freiheitsverständnis sollte diese Möglichkeit ausschließen. Hinter diesem Einwand steht eine grundsätzliche Überlegung: Freiheit verliert ihren Wert als normatives Beurteilungskriterium von gesellschaftlichen Zuständen, wenn sie mit dem Handeln gemäß gegebenen Präferenzen gleichgesetzt wird. Denn diese Präferenzen wurden unter den gesellschaftlichen Restriktionen gebildet, die es zu beurteilen gilt. Der für van Parijs entscheidende Punkt ist nun, dass damit der Begriff der Menge an Handlungsmöglichkeiten ins Spiel kommt. Wenn es um die Beurteilung einer Gesellschaft geht, richtet sich die Frage auf die Auswahl von Restriktionen – also auf das Problem, welche Menge an Handlungsmöglichkeiten bevorzugt wird. Eine Person heißt ihm entsprechend frei, wenn sie nicht daran gehindert wird zu 60

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tun, was sie möglicherweise wollen könnte. Dies entspreche einem echten Libertarismus: »It stipulates that being free consists in not being prevented from doing not just what one wants to do, but whatever one might want to do.« 61

Der echte Libertarismus will entsprechend wirkliche Freiheit, die aus drei Elementen bestehe: Sicherheit vor der Gewaltausübung anderer, Selbstverfügung im Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit und einen Optionsraum, der angemessene Wahlmöglichkeiten zwischen Lebensformen erlaubt. »Unlike the formal freedom, the opportunity, and hence the real freedom, to do whatever one might want to do can only be a matter of degree. The ideal of a free society must therefore be expressed as a society whose members are maximally free – in a sense to be specified shortly – rather than simply free.« 62

13. Angenommen, der echte Libertarist van parijsscher Prägung hätte damit Recht, dass Freiheit im Sinne von Wahlmöglichkeit eher ein erstrebenswertes politisches Ziel darstelle als Freiheit im Sinne der Zwangfreiheit; dass also der Freiheitsbegriff als Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Zustände nur taugt, wenn er den real verfügbaren Optionsraum der Bevölkerung berücksichtigt. Was würde daraus für die Einschätzung der politökonomischen Struktur folgen? Welche Gesellschaft erfüllt am besten das Ideal maximaler Freiheit? Ein ›rechtsfetischistischer Libertärer‹ könnte immerhin die These vertreten, dass die Freiheit, die van Parijs meint, unter gewissen, empirisch plausiblen Bedingungen maximiert wird in einer Gesellschaft, deren Regierung sich auf die Garantie von Zwangfreiheit beschränkt. Dass dies nicht das Ergebnis ist, zu dem van Parijs gelangen möchte und gelangt, hängt unter anderem damit zusammen, dass van Parijs seinen echten Libertarismus mit einem egalitaristischen Motiv anreichert. Eine freie Gesellschaft zeichne sich durch eine gesicherte Rechtsordnung aus, welche die allgemeine Handlungsfreiheit sichere. Darüber hinaus garantiere sie jeder Person die größtmögliche Chance zu tun, was immer sie tun möchte. Die Lage derjenigen mit den geringsten Optionen sei dabei maßgeblich. Frei sei eine Gesellschaft, in der die Handlungsmöglichkeiten der am 61 62

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Van Parijs 1995, 19 Van Parijs 1995, 23

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schlechtesten gestellten Mitglieder maximiert würden, unter der Voraussetzung, dass Rechtssicherheit bestehe und die formellen Freiheitsrechte des Individuums allgemein respektiert seien. Mit dem egalitaristischen Motiv bringt van Parijs eine neue Schwierigkeit auf. Bislang hatte sich die Erörterung um ein rein begriffliches Problem gedreht, um die Frage nämlich, wie der Freiheitsbegriff sinnvollerweise gebraucht werden sollte. Die egalitaristische Vorrangregel bereitet aber die Einforderung eines Steuer-TransferSystems vor. Damit wird das Feld begrifflicher Klärungen verlassen und das normativer Aussagen über die politökonomische Struktur betreten. Es stellt sich ein altbekanntes Problem: Wie weit reicht der durch den Freiheitsbegriff legitimierbare Zwang? Van Parijs’ Egalitarismus entscheidet diese Frage ohne viel Federlesens. Dass die Maximierung von Handlungsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen der Gesellschaft mit der Beschneidung der Handlungsmöglichkeiten anderer Gruppen einhergeht, wird gar nicht als Legitimationsproblem aufgebracht – und zwar deshalb nicht, weil van Parijs sich weigert, die Kompatibilität einer staatlich gleichermaßen gewährten Freiheit von Zwang und Freiheit der Wahl zu überprüfen. 63 Die Beschränkung auf den egalitaristischen Aspekt, also die als freiheitsermöglichend gesetzte, gesellschaftlich garantierte Ressourcenausstattung relegiert den libertären Ansatz der Studie und lässt an dessen Stelle eine holistische Vorstellung der ›freien Gesellschaft‹ treten, die an der Verteilung materieller Ressourcen orientiert ist. »Put bluntly, our ideal requires us to raise the lowest incomes as much as is compatible with a ban on forced labour.« 64

Klammert man die Frage, ob sich ein unbedingtes Grundeinkommen auf anderem Wege legitimieren lässt, aus – van Parijs’ Versuch, es als Forderung eines echten Libertarismus darzustellen, der seine rechtsfetischistischen Leidenschaften hinter sich gelassen hat, erscheint voreilig. Selbst diejenigen, die den Optionsraum in freiheitstheoretischer Hinsicht als notwendiges begriffliches Komplement ansehen, sind damit nicht auf die Auffassung festgelegt, es sei Aufgabe des Er gesteht zwar zu, dass Konflikte bestehen können, bemerkt auch, »that a free society should give a priority to security over self-ownership, and to self-ownership over leximin opportunity.« (van Parijs 1995, 26) Doch da er sich in dem Buch auf die Dimension des Optionsraums beschränke, gehe er auf dieses Thema nicht weiter ein. 64 Van Parijs 1995, 33 63

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Staates, ein unbedingtes Grundeinkommen zu zahlen, wie van Parijs fordert. So war von Hayek überzeugt, dass – auf die Bevölkerung als ganze gesehen – der Freiheit zu wählen am besten gedient ist, wenn sich der Staat auf die Garantie der Freiheit von Zwang konzentriert. Dass van Parijs von freiheitstheoretischen Auffassungen unvermerkt zu politikphilosophischen Aussagen übergeht, bezeugt entweder die irrtümliche Auffassung, das eine folge direkt aus dem anderen; oder es zeigt (und dies scheint mir das Wahrscheinlichere), dass es sich um eine gekünstelte Begründungsstrategie für eine Institution handelt, die dem Autor einleuchtet. Wäre van Parijs wirklich an echtem Libertarismus interessiert, hätte er kaum die Frage beiseite schieben können, in welchem Verhältnis die Freiheiten zueinander stehen. 14. Eine wirklich an Freiheit interessierte Kritik des Libertarismus hätte, so scheint mir, bei dem einfachen Befund anzusetzen, dass Freiheit Handlungs- und Urteilsfähigkeit voraussetzt und dass die Herstellung dieser Vermögen Transfers erfordert. Die libertäre Literatur tendiert dazu, zu übersehen, dass Freiheit ein gesellschaftlich produziertes Vermögen darstellt und Individuen ein moralisches Recht auf entsprechende Produktionsbedingungen haben; dass ferner individuelle Freiheit schutzbedürftig ist und die Rechtsgemeinschaft Normierungen festlegen muss, unter welchen Bedingungen welche Form von Schutz geboten ist. Die rein rechtliche Freiheit von Privatsphäre und allgemeiner Handlungserlaubnis hat für Personen keinen Wert, die nicht voll handlungs- und urteilsfähig sind. Die Rechtsgemeinschaft hat daher einerseits eine Garantenstellung für Sorgeleistungen zugunsten von Heranwachsenden, Behinderten und Hinfälligen, aber auch vielfältige Schutzfunktionen in Märkten, deren Komplexität das durchschnittliche Urteilsvermögen übersteigen. Diese Einwände gegen das libertäre Freiheitsverständnis scheinen einfach und einleuchtend. Van Parijs’ Idee der Freiheit als Wahlmöglichkeit verkürzt Freiheit jedoch auf maximale Konsumfreiheit. Der letzte Teil der vorliegenden Arbeit wird diesen Punkt vertiefen. 2.1.3. Kontraktualistischer Paretianismus: Status quo und natürliche Verteilung 15. Das ›utilitaristische Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstandes‹ hat nichts Anstößiges darin erkannt, dass Re122

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distributionspolitik im ersten Schritt notwendigerweise die Lage der Geber verschlechtert. Es setzt dabei voraus, dass Nutzen eine Größe ist, die zwischen Personen verglichen und zu einer Gesamtheit aggregiert werden kann. Diese Voraussetzungen verstehen sich jedoch keineswegs von selbst. Insbesondere der Gedanke eines zu maximierenden Gesamtnutzens ist zunehmend als schlechte Metaphysik in die Kritik geraten, und mit ihm die Grundlage utilitaristischer Umverteilungslegitimation. Für Libertäre wie Nozick und Narveson heißt hoheitliche Umverteilung schlicht, einer Person zu nehmen und einer anderen zu geben, ohne dass dieser Vorgang als ›Änderung des Gesamtnutzens‹ beschrieben werden könnte. Ob diese Zurückweisung des einfachen utilitaristischen Arguments die Forderung nach dem Ende der Umverteilungspolitik einschließt, hängt wesentlich von der Auslegung des Schlechterstellungsverbots ab. In deren Rahmen sind vor allem drei Fragen zu beantworten: (1) Worin bestehen Schlechterstellungen? (2) Welcher Referenzpunkt ist zu wählen? (3) Gibt es konkurrierende normative Gesichtspunkte? In der ökonomischen Diskussion versucht die paretianische Sozialpolitik, (3) auszuklammern; Schlechterstellungen legt sie als negative Änderung der Nutzensituation aus (1), während sie als Referenzpunkt die Situation unmittelbar vor einer Maßnahme wählt (2). Der naturrechtliche Ansatz von Nozick hingegen deutet Schlechterstellungen als Verletzungen individueller Rechte (1); als Referenzpunkt dient im Prinzip 65 eine anarchische Situation (2), die Berücksichtigung konkurrierender normativer Gesichtspunkte wird von ihm abgelehnt (3). Die bislang erörterten Einwände gegen Nozicks Umverteilungskritik bezogen sich auf (3) und wiesen darauf hin, dass neben individuellen Eigentumsrechten auch Beistandspflichten oder Ansprüche auf Hilfe zu berücksichtigen sind; oder sie setzten – wie Steinvorth – immanent an und argumentierten, dass Umverteilung nach Nozicks eigenem Konzept gerechtfertigt ist, um die Legitimität der Eigentumsordnung zu sichern. Der ›kontraktualistische Ansatz‹ stellt dagegen die Berechtigung der nozickschen Antwort auf (1) in Frage: Schlechterstellungen – so die These der Herausforderer – könnten Ich schreibe ›im Prinzip‹, weil Nozicks Ansatz – wie ausgeführt – gerechtigkeitstheoretisch unterbestimmt ist.

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nicht als Verletzungen natürlicher Rechte ausgelegt werden, weil es solche Rechte nicht gebe – ihre Setzung sei nicht weniger metaphysisch und willkürlich als die eines zu maximierenden Gesamtnutzens. Die Freiheitsrechte des Individuums sind nichts anderes als Produkte einer – durch Zustimmung zu legitimierenden – staatlichen Gewalt. Maßgeblich für diese an Hobbes anschließenden kontraktualistischen Bestrebungen innerhalb der Wirtschaftswissenschaft waren die Arbeiten von James Buchanan. Sein Projekt einer Constitutional Political Economy versteht sich ausdrücklich als eine Synthese aus klassischer Politischer Ökonomie und vertragstheoretischer Tradition. Buchanan ist, ähnlich wie Hayek, zu dem Schluss gekommen, dass die Preisgabe des Utilitarismus auch auf die Form und Problemstellung der Ökonomie Auswirkungen haben muss. Die Standardökonomie definiert das ökonomische Problem als eine Maximierungsaufgabe. Knappe Ressourcen sollen in optimaler Weise genutzt werden, um gegebene Ziele zu erreichen. Die Annahme einer für alle Individuen geteilten Nutzenfunktion übergeht aber die ›Getrenntheit der Individuen‹ genauso wie das ›utilitaristische Argument des gesunden Menschenverstandes‹. Jedes einzelne Individuum ist Quelle von Werten, und diese disparaten Werte können nicht zu einem Maximanden zusammengefasst werden. Deshalb orientiert sich das Ökonomieverständnis von Buchanans Constitutional Political Economy nicht am Maximierungs-, sondern am Tauschparadigma. Die Basisoperation des Wirtschaftens ist nicht die Allokation und Optimierung von Ressourcen unter Knappheitsbedingungen, sondern der Austausch von Gütern auf der Grundlage individueller Präferenzen. Unter einigen idealisierenden Annahmen (Eigentumsrechte sind definiert, die Parteien sind vollständig informiert, die Transaktion ist kostenlos) führt Tausch zu Pareto-optimalen Ergebnissen – diese Ergebnisse sind aber durch keine externe Instanz zu antizipieren. 66 Durch die Umstellung des Grundverständnisses von Allokation auf Tausch eröffnet sich für Buchanan eine Anschlussmöglichkeit an die Tradition der Politischen Philosophie und die kontraktualistische Rechtfertigung gesellschaftlicher Regeln. So wie auf Gütermärkten Waren ausgetauscht werden, so in der politischen Sphäre der Verzicht auf Handlungsmöglichkeiten oder Anteile an den Kosten kol-

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lektiver Güter. 67 Der Verzicht auf regelinkonforme Handlungsweisen bezeichnet die Kostenseite, das Verschontbleiben von diesen die Nutzenseite der Ordnung. Der Nachteil, etwas nicht mehr tun zu dürfen, wird getauscht gegen den Vorteil, von Handlungen dieses Typs nicht mehr betroffen zu sein. Eine rationale Person wird einer Ordnung dann (und nur dann) zustimmen, wenn ihr deren Regeln (unter der Annahme vollständiger Konformität) Nettonutzen einbringen. Was Buchanan an Hobbes festmachen will, ist vor allem zweierlei: zum einen die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums und seiner Freiheit, 68 zum anderen den politischen Charakter von Rechten – individuelle Rechte verlieren bei ihm den sakrosankten Status, den sie innerhalb der Tradition des naturrechtlichen Liberalismus genießen. 69 Wenn der kontraktualistische Ansatz den Gedanken natürlicher Rechte des Individuums ablehnt (ferner die damit verknüpfte Vorstellung, der Staat sei grundsätzlich als Bedrohung individueller Freiheit zu begreifen), so bedeutet dies nicht die Aufgabe eines beim Individuum ansetzenden normativen Standpunktes. Im Gegensatz zu Nozick wählt der Kontraktualismus allerdings eine Theorie des Guten als Basis der normativen Systematik. Er spricht den Individuen keine ursprünglichen Rechte zu, sondern erklärt sie zu den alleinigen Quellen von Werten. Ganz im Sinne des Präferentialismus der Ökonomie soll die gesamte normative Sphäre – Werte, Rechte, Pflichten, Tugenden und ihre Interdependenzen – auf die Präferenzen von Individuen zurückgeführt werden; und ähnlich wie die Verhaltensmodelle der Ökonomie arbeitet der buchanansche Kontraktualismus auf der Grundlage einer konsequenzialistischen Konzeption von Rationalität und einer egoistischen Theorie der Motivation. Transaktionen der Marktsphäre werden definitionsgemäß nicht durch Dritte angeordnet. Sie beruhen auf der rationalen Erwartung wechselseitiger Vorteile – auch wenn sich diese Erwartung nicht für alle erfüllen mag und die Vorteile nicht für alle gleich ausfallen. Verträge zwischen Privaten sind bindend, weil ihnen alle aus freien Stücken zuBuchanan 1987, 246; Buchanan 1990/1991, 5–6 Vgl. Homann & Pies 1991; Kliemt 1993 69 »The contractarian derives all values from individual participants in the community and rejects externally defined sources of value, including ›natural rights‹.« (Brennan & Buchanan 1985/2000, 25) 67 68

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stimmen. Die philosophische Vertragstheorie überträgt diesen Gedanken der Gründung einer Verbindlichkeit unter Gleichen auf den Gehorsamsanspruch der hoheitlichen Macht: Das Recht des Souveräns, Regeln zu setzen und deren Nichtbefolgung zu bestrafen, beruht auf der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen dazu, dass er über diese Kompetenzen verfügen solle. 70 Bei Licht betrachtet erweist sich aber, dass die Normativität von Herrschaft einen anderen Grund haben muss als die Normativität von privaten Verträgen. Private Verträge sind wechselseitige Versprechen, Versprechen wiederum normativ bindende Willenserklärungen. Jemand ist an einen Vertrag gebunden, weil er auf normativ verbindliche Weise seinen Willen erklärt hat. Die Kontraktualisten nehmen in der Regel nicht an, dass die Herrschaftsunterworfenen dem Souverän ihren Gehorsam tatsächlich versprochen hätten. Sie leiten Zustimmung vielmehr aus einer Fiktion ab: Welche Zustände herrschten, wenn keine hoheitliche Macht bestünde? Wäre ein Übergang von diesem herrschaftslosen Zustand in einen herrschaftlich geordneten für alle von Vorteil? Welcher Form von Herrschaft würden die Subjekte ihre Zustimmung erteilen? Entspricht die tatsächlich bestehende Ordnung derjenigen, auf die man sich im Naturzustand rationalerweise einigen würde? Die Befugnisse des Souveräns werden daraufhin betrachtet, ob sie Gegenstand rationaler Zustimmung aller hätten sein können, weil sie für alle vorteilhaft wären. Damit ist das, was einem Vertrag Verbindlichkeit verleiht, nicht das, was einem Sozialvertrag Verbindlichkeit verleiht. Niemand kann jemanden zum Kauf einer Sache zwingen, indem er nachweist, die Sache sei für ihn von Vorteil. Ohne seine wirkliche Zustimmung kommt keine Verbindlichkeit zustande. Die Sozialvertragstheorie unterstellt hingegen, dass what it would be rational to do auch etwas ist, was die Erzwingung sozialer Arrangements rechtfertigt. Es ist insofern nicht zutreffend, wenn Zustimmung zum Legitimationskriterium des Kontraktualismus erklärt wird. Tatsächlich geschieht die Rechtfertigung durch den mit einer bloßen Zustimmungsvermutung verbundenen Rationalitätserweis. Während andere Ansätze von der Unwiderleglichkeit der ZuBuchanan 1987, 247: »The political analogue to decentralized trading among individuals must be that feature common over all exchanges, which is agreement among the individuals who participate. The unanimity rule for collective choice is the political analogue to freedom of exchange of partitionable goods in markets.«

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stimmungsvermutung ausgehen, interpretiert Buchanan die Aussagen der Vertragstheorie als normative Hypothese, die durch die Entscheidungen realer politischer Akteure falsifiziert werden könne. Normativ verbindlich wird die Zustimmungsvermutung des Rationalitätsnachweises erst durch empirische Validierung. 16. Das Legitimationsproblem der Umverteilungspolitik stellt sich im kontraktualistischen Ansatz nicht mehr vor dem Hintergrund des Forderungsgehalts natürlicher Rechte, sondern wird in eine Frage rationaler Regelwahl übersetzt: Staatlich erzwungene Redistribution wäre gerecht, wenn sie Regeln entspräche, die rationale Akteure unter spezifischen Bedingungen wählen würden. Die Präferenzen der Akteure über Regeln hängen, wie die über Güter, nicht zuletzt von Informationen über die eigene Position in der Gesellschaft ab. Entsprechend wird man erwarten, dass Personen, die wissen, dass sie von den Umverteilungsregeln belastet werden, ihre Zustimmung verweigern, während die potenziellen Empfänger die Regeln gutheißen. Umverteilungsinstitutionen scheinen daher unmittelbar an dem Legitimationsproblem zu scheitern, und zwar nicht wegen ihrer Inkompatibilität mit individuellen Rechten, sondern aufgrund der Unmöglichkeit, die allgemeine Zustimmung rationaler Akteure zu beschaffen. Ein solcher Schluss kommt aber voreilig. Allgemeine gesellschaftliche Regeln sollen für eine vergleichsweise lange Zeit gelten und eine Vielzahl von Fällen abdecken. Die Daten, hinsichtlich derer Präferenzen über Regeln formuliert werden, können sich ändern. Ein Student wünscht sich das gut ausgebaute Mietrecht, das er als späterer Hausbesitzer verflucht. Jemand Gesundes mit gut bezahlter Stelle mag einen ausgebauten Sozialstaat ablehnen, dessen Leistungen er jedoch als kranker Arbeitsloser gerne in Anspruch nähme. Ob Umverteilungsregeln rational zustimmungsfähig sind, hängt also nicht nur von der aktuellen Lage einer Person und den entsprechenden Präferenzen ab, sondern von Einschätzungen über die Wahrscheinlichkeit, mit der sich diese Lage ändern könnte. Das ›utilitaristische Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstandes‹ war in die Krise geraten, weil es interpersonelle Nutzenvergleiche anstellte, die als wissenschaftlich fragwürdig galten. Der kontraktualistische Ansatz überwindet diese Schwierigkeit, indem er interpersonelle in intrapersonelle Vergleiche übersetzt: Der interpersonelle Rollentausch wird übertragen in den intertemporalen Rollentausch. Unsicherheit über die eigenen PosiA

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tionen im Lebenszyklus lässt es für rationale Personen unter bestimmten Bedingungen zustimmungsfähig erscheinen, Regeln über soziale Sicherungen in das Institutionensystem zu inkorporieren. Umverteilungspolitik wird im kontraktualistischen Ansatz also durch das rationale Eigeninteresse legitimiert und nicht durch Rechte oder Werte. Darin erkennen nicht nur viele Ökonomen den Vorzug des buchananschen Kontraktualismus. Anders als der naturrechtliche Ansatz, der mit individuellen Rechten ökonomiefremde Größen in das Modell einführt, bewegt sich Buchanan ganz im Rahmen des ökonomischen Modells. Mit der beabsichtigten Rückführung der gesamten normativen Sphäre auf den Präferenzbegriff ergibt sich ein harmonisches Passungsverhältnis zu dem Paretianismus der Ökonomie. Überdies bietet er durch die Anknüpfung an die Sozialvertragstheorie einen überzeugenderen Referenzpunkt für die Legitimitätsfrage an als die Ökonomie, die das Pareto-Prinzip jeweils auf die Situation unmittelbar vor einem geplanten Eingriff anwendet. Gegenüber Rawls hat Buchanans Konzept aus Sicht der Ökonomie den Vorteil, die in der Entscheidungssituation über die Grundstruktur der Gesellschaft verfügbaren Informationen nicht künstlich zu verknappen, wie Rawls dies tut. 71 Die Argumentationsregel ›Urzustand‹ verbietet den Subjekten, von Informationen Gebrauch zu machen, über die sie tatsächlich verfügen. Dies ist nach Buchanan entweder irrational oder – wie bei Rawls – Ausdruck bestimmter Auffassungen über notwendige moralische Restriktionen der Entscheidungssituation. Buchanan möchte eine Belastung seines Legitimationsmodells mit zusätzlichen normativen Konzepten vermeiden und strebt daher an, die Forderung der Unparteilichkeit in Aussagen über die Unsicherheit der eigenen Aussichten zu übersetzen: Rawls’ veil of ignorance wird zum veil of uncertainty. »Die Realitätsnähe des Schleiers der Unsicherheit bringt aus ökonomischer Sicht durchaus Vorteile mit sich. So können sozialstaatliche Maßnahmen, die sich auf dieser vertragstheoretischen Basis begründen lassen, zugleich als jene Aktivitäten interpretiert werden, die in tatsächlichem (wechselseitigem) Eigeninteresse aller Beteiligten durchgeführt werden (sollen). Es gelingt dann sehr viel leichter, eine Brücke zwischen den normativen und den positiven Teilen einer sozialstaatlichen Gesamtkonzeption zu schlagen, als wenn – wie etwa bei Rawls – Ergebnisse aus Gleichheitsannahmen hergeleitet werden. Deren grundsätzlich fiktiver Charakter stellt Wirtschaftswissenschaftler vor größere Probleme bei der Klärung von demokratischen und ökonomischen Implementationsprozeduren, da hier ein deutlicher Unterschied entstehen kann zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was realisierbar wäre.« (Volkert 2000, 13)

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17. Vertragstheorien müssen verdeutlichen, what the parties bring to the bargaining table, wie es bei Gauthier heißt. 72 Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten, die Verhandlungsmasse der Individuen bei der Sozialvertragsverhandlung zu definieren. Zum einen kann ein fiktiver Zustand als Ausgangspunkt gewählt werden (Naturzustand oder Urzustand), zum anderen die tatsächliche Rechtsposition im Status quo. Letzteres möchte ich unechte, Ersteres echte Vertragstheorie nennen. Unechte Vertragstheorien unterscheiden sich von dem einfachen Paretianismus der Ökonomie lediglich dadurch, dass sie allgemeine Regeln von langer Geltungsdauer zum Gegenstand haben und keine einfachen gesetzgeberischen oder administrativen Maßnahmen. Buchanans Werk umfasst sowohl Motive einer echten als auch einer unechten Vertragstheorie, ohne dass der Autor das Verhältnis beider Ansätze zueinander thematisiert, geschweige denn geklärt hätte. 73 Da Buchanan auf die echte Vertragstheorie in The Limits of Liberty nicht mehr zurückgekommen ist, könnte man vermuten, es habe sich um einen Ergänzungsversuch gehandelt, der für die zentrale Legitimationsstrategie keine tragende Funktion gehabt habe. Das entscheidende Theoriestück sei mit der unechten Vertragstheorie gegeben, wie sie beispielsweise in The Reason of Rules entwickelt werde, ein Buch, in dem die Zustimmungsforderung konsequent auf den Status quo bezogen wird. Mir scheint dagegen, dass für Buchanan die Argumentation von The Limits of Liberty eine mehr als beiläufige Rolle spielt. Aufgabe der dort vorgelegten Naturzustandskonstruktion ist es, Umverteilungsforderungen zu neutralisieren, die nicht durch das Modell eigeninteressierter Wahl von Regeln im Status quo gedeckt sind. Die ›realistische Sicht‹ der Entstehung der Eigentumsordnung dient der Abwehr viel weiter gehender Umverteilungsansprüche, die folgen, wenn im Stile von Rawls argumentiert wird. Die in dieser Hinsicht entscheidende Aussage in The Limits of Liberty lautet, dass der Gesellschaftsvertrag an die faktisch gegebene Verteilung im Naturzustand anknüpft und daher jede beliebige Eigentumsverteilung akzeptiert werden muss. Da Buchanan Hobbes in der Annahme folgt, dass erst nach der Etablierung einer politischen Ordnung zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterschieden werden kann, ver72 73

Gauthier 1986, 222 Vgl. Schmidt 2000, 101 FN 41 A

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

mag die Ausgangsverteilung der Rechte und Ressourcen ihm zufolge nicht ungerecht zu sein, wie ungleich sie immer sein mag. 74 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der buchanansche Versuch, alle Ansprüche zurückzuweisen, die nicht durch Status quo-bezogene Vorteilserwägungen aller Parteien legitimiert sind, wenig überzeugend ausfällt. Mein Einwand lautet, dass sich die Vertragsschlussparteien im buchananschen Naturzustand nicht – wie Buchanan annimmt – damit begnügen werden, Abrüstungsvorteile zu realisieren. Vielmehr werden sie, einen – aus ihrer Sicht – gerechten Anteil an der Vergesellschaftungsprämie einfordern. Daher ist die an Hobbes anschließende Annahme, dass erst nach der Etablierung des Gesellschaftsvertrages die Frage nach Gerechtigkeit gestellt werden kann, selbst im buchananschen Szenario unplausibel. Wenn bereits in der Verhandlung über den Sozialvertrag die Frage der gerechten Verteilung aufgebracht wird und die Rückführung von Gerechtigkeit auf Rechtlichkeit nicht überzeugt, so entfällt das entscheidende Argument Buchanans für die Einschränkung von Umverteilungsforderungen auf Status quo-bezogene Vorteilserwägungen. 18. In The Limits of Liberty operiert Buchanan mit dem Modell einer Zwei-Personen-Welt mit einem knappen natürlichen Gut, um das die Parteien konkurrieren. Beide haben Grund, räuberische Übergriffe der jeweils anderen Seite zu befürchten sowie selber solche zu unternehmen, und investieren daher in Waffen. Im Laufe ihrer kriegerischen Interaktionen wird sich ein Verteilungsmuster stabilisieren, das Buchanan das natürliche nennt, insofern es von Zufällen und der respektiven Stärke der Parteien abhängt. Annahmegemäß kann sich keine Partei jetzt mehr durch räuberische Aktivitäten verbessern, und es wird für beide Seiten attraktiv, die Waffen niederzulegen. Denn mit ihnen können keine zusätzlichen Vorteile errungen werden, ohne sie würden aber Ressourcen frei, die für andere, höher geschätzte Zwecke eingesetzt werden könnten. Wäre ein glaubwürdiger Verzicht auf Gewaltmittel auszuhandeln, so würde dies für beide Parteien vorteilhaft sein – die einzige Möglichkeit, ihre Lage überhaupt noch zu verbessern. Der buchanansche Gesell»Having moved from primitive possession based on physical strength to security of possession based on mutual advantage (relative to a free-for-all), he simply freezes the process at that point. Any further changes in property rules must come about by unanimous consent.« (Barry 1989, 174)

74

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Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem

schaftsvertrag ist somit ein primordialer Abrüstungsvertrag, der die natürliche Verteilung in eine rechtliche Eigentumsordnung überführt: »Whatever might be the characteristics of this distribution, whether rough symmetry prevails or whether one participant becomes a consumption giant and the other a pygmy, and even if all of x is secured by one party, both parties will be made better off if agreement can be reached. […] The specific distribution of rights that comes in the initial leap from anarchy is directly linked to the relative commands over goods and the relative freedom of behavior enjoyed by the separate persons in the previously existing natural state. In Hobbes’s model, there are, by inference, considerable differences among separate persons in a precontract setting. To the extent that such differences exist, postcontract inequality in property and human rights must be predicted.« 75

Die Ungleichheit der natürlichen Verteilung wird in eine von Ungleichheit geprägte Rechts- und Eigentumsordnung übersetzt. Welchen Grund sollten aber die Parteien haben, sich an den ausgehandelten Abrüstungsvertrag zu halten, wenn dieser die unterschiedliche Stärke der Parteien im Naturzustand abbildet? David Gauthier hat überzeugend dargelegt, dass die Antwort lauten muss: keinen. 76 Angenommen, von dem natürlichen Gut G, um das die Parteien in Buchanans Modellwelt konkurrieren, könne sich die Partei A im Naturzustand die Menge x durch Raub von Partei B sichern. Die Parteien schliessen einen buchananschen Abrüstungsvertrag ab, der vorsieht, dass B, wie gehabt, die Menge x an A abliefert. Wenn sich nun B weigert, dies zu tun, steht A vor der Wahl, die Lage entweder zu akzeptieren oder sich Gewaltmittel zu beschaffen, um B drohen zu können. A muss also abwägen, ob der erwartete Verlust aus der glaubwürdigen Androhung oder tatsächlichen Ausübung von Gewalt – mit der Folge einer Rückkehr in den Naturzustand – geringer ist als der Nutzenentgang aus der Menge x. Da B diese Kalkulation voraussieht, wird sie genau so viel von G einbehalten, dass sich für A die Gewaltandrohung nicht lohnt. Daraus folgt aber, dass ein Gesellschaftsvertrag, der auf der Grundlage der natürlichen Verteilung abgeschlossen wird, von vornherein nicht stabil sein kann. Die unterlegene Partei B hat vielmehr die Möglichkeit, die Verteilung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. 75 76

Buchanan 1975, 24–25, 25 Gauthier 1984, 193–198 A

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

Buchanan geht von einem äußerst einfach strukturierten Modell des Naturzustands aus, in dem G den Parteien zufällt und sie ihren Anteil nur durch Raub beeinflussen können. Realistischerweise sollte aber angenommen werden, dass Ressourcen erwirtschaftet werden müssen, also ihre verfügbare Menge dem Arbeitseinsatz der Parteien entsprechend variiert. Die Anstrengung der unterlegenen Partei B wird dabei von den Erwartungen über das Verhalten von A abhängen. Wenn beispielsweise A das von B Angebaute, Gepflückte oder Eingesammelte in der Vorperiode bis auf die für die Subsistenz von B nötige Menge x appropriiert hätte, so hätte B keinen Anreiz, in der laufenden Periode mehr als x zu erwirtschaften. A könnte ihn mit dem Tode bedrohen, aber unter der Annahme, dass sie rational ist, wäre diese Drohung bereits unglaubwürdig, wenn B einen marginalen Überschuss an sie abträte. Die Tatsache, dass der Arbeitseinsatz von B von Erwartungen über x abhängt, ändert den Charakter der Verhandlungssituation grundlegend. Um diesen Fall zu betrachten, ändere ich das ursprüngliche Modell Buchanans etwas ab. In diesem erweiterten Modell besteht die Gesellschaft aus vier Gruppen A, B, C und D, die ein Gut G, zum Beispiel Kartoffeln, produzieren. Im Naturzustand sind A, B, C und D neben dem Kartoffelanbau ausschließlich mit kriegerischen Aktivitäten beschäftigt, um möglichst viel von G zu erobern. Dank seiner relativen Überlegenheit in Gewaltausübung kann A von B, C und D jeweils zusätzliche Einheiten des Gutes G abschöpfen. Alle vier Parteien wenden jeweils eine Einheit von G für Gewaltmittel auf, jeweils eine Einheit brauchen sie für das nackte Überleben. Es hat sich im Laufe der Zeit eine natürliche Verteilung herausgebildet, in der G folgendermaßen verteilt ist: Zustand/Gruppe

A

B

C

D

Gesamt

Natu¨rliche Verteilung

12

8

3

1

24

Würden die Aufwendungen für Gewaltmittel eingespart, so stünden sich alle Gruppen unmittelbar besser.

132

Zustand/Gruppe

A

B

C

D

Gesamt

Abru¨stungsvertrag

13

9

4

2

28

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Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem

Es sei aber bekannt, dass der durch die Abrüstung zu realisierende Gewinn für alle Parteien größer ausfiele, weil die Produktivität durch Kooperation steigen würde. Angenommen, die Parteien würden davon ausgehen, dass 72 Einheiten hergestellt werden könnten, wenn sich A, B, C und D jeweils auf eine Teiltätigkeit beim Kartoffelanbau spezialisieren würden; die gesamte Vergesellschaftungsrente beträgt demnach 48 Einheiten. In den Gesellschaftsvertrags-Beratungen zwischen A, B, C und D herrscht erwartungsgemäß Uneinigkeit über die Aufteilung dieser Rente. Partei A und B stellen sich beispielsweise hinter die Auffassung, die natürliche Verteilung sei der angemessene Ausgangspunkt für die Verhandlung. Die Aufteilung der Zugewinne durch gesellschaftliche Kooperation müsse den jeweiligen Anteilen am Gesamtprodukt im Naturzustand entsprechen, also für A ½, für B 1⁄3, für C 1⁄8 und für D 1⁄24. Daraus ergibt sich bei insgesamt 72 Einheiten: Vorschlag I: A = 36 Einheiten, B = 24 Einheiten, C = 9 Einheiten, D = 3 Einheiten

Dagegen erklären C und D, sie würden keiner Regelung zustimmen, in der die Früchte der friedlichen Kooperation ungleich verteilt würden. Uneinigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, ob es akzeptabel sei, dass die natürliche Verteilung nicht angetastet werde. Die einen wollen lediglich erreichen, dass der durch die Arbeitsteilung erreichte Zugewinn zu gleichen Teilen zugewiesen werde, also für A, B, C und D jeweils 12 Einheiten. Daraus ergibt sich bei insgesamt 48 Einheiten Zugewinn: Vorschlag II: A = 24 Einheiten, B = 20 Einheiten, C = 15 Einheiten, D = 13 Einheiten

Dieser Vorschlag geht den anderen aber nicht weit genug. Sie halten nämlich die natürliche Verteilung hinsichtlich der Frage nach der angemessenen Zuweisung der Kooperationserträge für völlig bedeutungslos und fordern entsprechend eine egalitäre Lösung. Daraus ergibt sich bei insgesamt 72 Einheiten: Vorschlag III: A, B, C, D = 18 Einheiten

Mit diesen Vorschlägen erscheinen also die Parteien bei der Verhandlung.

A

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

Vorschla¨ge zur Verteilung von Kooperationsertra¨gen zu Beginn der Verhandlung Zustand/Gruppe

A

B

C

D

Gesamt

Natu¨rliche Verteilung

12

8

3

1

24

Abru¨stungsvertrag

13

9

4

2

28

Vorschlag I

36

24

9

3

72

Vorschlag II

24

20

15

13

72

Vorschlag III

18

18

18

18

72

Die Präferenzordnungen lauten: • A: I>II>III>Naturzustand • B: I>II>III>Naturzustand • C: III>II>I>Naturzustand • D: III>II>I>Naturzustand A und B sowie C und D bringen die Vorschläge jeweils in dieselbe Rangordnung. Da die Fraktionen unterschiedliche Vorstellungen über die beste Lösung haben, wird sich die Suche nach einem Kompromiss auf den Vorschlag II konzentrieren, der für alle Beteiligten die zweitbeste Lösung darstellt. Während jedoch der Übergang von I zu II für C und D mit Gewinnen und für B mit einem vergleichsweise geringen Verlust verbunden wäre, müsste A immerhin 12 Einheiten abgeben. Er könnte sich daher auf den Standpunkt stellen, dass es illegitim sei, wenn er den Löwenanteil der Opportunitätskosten des Kompromissvorschlags tragen müsse, zumal er die stärkste Partei im Naturzustand gewesen sei und nicht etwa die Friedensgewinnler C oder D. A hält es für gerecht, dass jede Partei dasselbe Opportunitätskosten-Opfer erbringt. 77 A, B, C und D vergleichen also das jeweils maximal Erreichbare mit dem, was der Kompromissvorschlag für sie vorsieht: Opportunitätskosten-Opfer: A = 12, B = 4, C = 3, D = 5 Einheiten

A fordert nun, das Opfer gleichzusetzen, so dass jede Partei 6 Einheiten von ihrer Idealvorstellung abweichen muss. Daraus ergibt sich der 77

134

Vgl. Gauthier 1986, 129 ff.

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A’s Verbesserungsvorschlag: A = 30, B = 18, C = 12, D = 12 Einheiten

Da sich durch seinen Vorschlag die Situationen von B, C und D gegenüber II verschlechtern, besteht wenig Hoffnung darauf, dass die anderem ihm beipflichten, zumal Vorschlag III im Vergleich zu ihm plötzlich attraktiver aussieht, weil sich B durch den Übergang nicht verschlechtern würde. C und D finden, sie hätten ohnehin wenig Grund, weniger als gleiche Anteile zu fordern. Die natürliche Verteilung sei kein geeigneter Referenzpunkt für die Verhandlungen, weil der gesellschaftliche Reichtum nach Regeln der Kooperation erwirtschaftet werde. Im Rahmen der Arbeitsteilung sei zwar grundsätzlich denkbar, dass unterschiedliche Beiträge unterschiedlich entlohnt würden (wobei die Voraussetzungen dafür in der Modellgesellschaft nicht gegeben sind); abwegig und willkürlich sei aber, die Zuweisung der Erträge an die natürliche Verteilung zu binden. C’s und D’s Verbesserungsvorschlag = Vorschlag III: A, B, C, D = 18 Einheiten

Es ist nicht nötig, die Fiktion von der Gesellschaftsvertrags-Verhandlung weiter auszumalen; der Punkt, um den es mir geht, dürfte deutlich geworden sein. Buchanan vertritt in The Limits of Liberty die These, dass ein rationaler Gerechtigkeitsdiskurs erst mit der Etablierung einer Rechts- und Eigentumsordnung einsetzen kann. 78 Die Frage nach der Gerechtigkeit des Status quo lehnt er ab, weil nach seiner Vorstellung von Gerechtigkeit erst gesprochen werden kann, nachdem die sich im Naturzustand ergebende Verteilung der Ressourcen rechtlich fixiert wurde. Dass sich die Ungerechtigkeit der Ausgangssituation auf wechselseitig verbindliche Vereinbarungen vererben könnte, erklärt er für absurd, einen Missbrauch der Sprache. 79 Die voranstehende Fiktion einer Gesellschaftsvertrags-Verhandlung zeigt, dass Fragen der Verteilung von Erträgen vernünftigerweise bereits vor dem Eintritt in den Zivilzustand reflektiert würden, und zwar unter Rückgriff auf Vorstellungen von dem, was gerecht wäre. Ein solcher Rückgriff erweist sich aber bereits deshalb als nötig, weil der Appell an das Eigeninteresse der Parteien nicht

78 79

An dieser Sicht hält er auch fest in Brennan & Buchanan 1985/2000, 108 ff. Brennan & Buchanan 1985/2000, 114 A

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

ausreicht, um eine für alle akzeptable Verhandlungslösung zu bestimmen.

2.2. Egalitaristische Strategien »Was wir erfahren, ist, dass die Ackersknechte nicht beabsichtigen, die bestehenden Verhältnisse der Produktion und des Verkehrs irgendwie zu ändern, sondern bloß dem Gutsbesitzer so viel abzuzwingen, als er mehr ausgibt als sie. Dass diese Differenz der Dépensen, auf die Masse der Proletarier verteilt, jedem Einzelnen nur eine Bagatelle abwerfen und seine Lage nicht im mindesten verbessern würde, das ist unserm wohlmeinenden Bonhomme gleichgültig.« (Karl Marx)

Das Schlechterstellungsverbot besagt in Buchanans Auslegung, dass Individuen keine Zustandsänderungen zugemutet werden dürfen, die nicht ihren Präferenzen entsprechen. Allerdings sind hier zwei wichtige Qualifikationen anzubringen. (a) Zum einen gilt nach Buchanan das Schlechterstellungsverbot überhaupt erst mit der Errichtung einer gemeinsamen rechtlichen Ordnung. Der paretianische Kontraktualismus Buchanans deutet es nicht – wie Nozick – vor dem Hintergrund einer Theorie natürlicher Rechte. Eine solche Theorie hält ihm zufolge der aufklärerischen Kritik nicht stand. In das Zentrum der gesamten normativen Sphäre sei vielmehr das Individuum mit seinen Präferenzen zu rücken. Es hat folglich keinen Sinn, das normative Vokabular auf den Naturzustand anzuwenden, und es bestehen auch keine Kompensations- oder Restitutionsansprüche unabhängig von wechselseitig bindenden Vereinbarung auf der Grundlage der faktischen Gegebenheiten. Gerechtigkeit und Fairness sind Begriffe, für die Buchanan nur innerhalb gegebener und wechselseitig anerkannter Regeln eine sinnvolle Anwendung sieht. Die Vorstellung ›fairer Ausgangsbedingungen‹ fällt ebenso wie die ›natürlicher Rechte‹ der Metaphysikkritik anheim. (b) Zum anderen wird der Präferenzbegriff eng ausgelegt – nicht jede Maßnahme, die jemand nicht möchte, verstößt gegen das Verbot der Schlechterstellung. Die Nutzensituation eines Individuums muss vielmehr hinsichtlich einer interpersonell rechenbaren Größe beschrieben werden, um überhaupt zu Aussagen gelangen zu können wie der, Preis- und Mengenregulationen seien ungut, weil sie zu Wohlfahrtsverlusten führten. Um solches sagen zu können, muss eine interpersonelle Vergleichbarkeit gewährende Metrik zur Hand sein. 136

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Philosophische Antworten auf das Legitimationsproblem

2.2.1. Der Status quo als Legitimationsproblem 1. Dieses Kapitel nimmt nun die These auf, mit der das letzte schloss: Fragen der Verteilung von Erträgen würden vernünftigerweise bereits vor dem Eintritt in den Zivilzustand reflektiert, und zwar unter Rückgriff auf Gerechtigkeitsvorstellungen. Ein solcher Rückgriff erweist sich deshalb als nötig, weil der Appell an das Eigeninteresse der Parteien nicht ausreicht, um eine für alle ex ante akzeptable und ex post stabile Verhandlungslösung auf Grundlage einer ›natürlichen Verteilung‹ zu bestimmen. Es will nicht recht einleuchten, dass – wie Buchanan annimmt – die aus dem natürlichen Kräfteverhältnis der Naturzustandsparteien sich ergebende Verteilung im staatlichen Zustand fixiert würde, nicht zuletzt, weil sich nicht von selbst versteht, was ›fixieren‹ in diesem Zusammenhang bedeuten soll: Die Fixierung der im Naturzustand gegebenen Verteilungsrelationen oder die Fixierung der natürlichen Ressourcenausstattung bei egalitärer Verteilung der Kooperationserträge. So wenig, wie sich von selbst versteht, wie und was fixiert werden soll, so wenig versteht sich von selbst, dass überhaupt die natürliche Verteilung – in welcher Weise immer – in den Zivilzustand übertragen werden soll. Warum sollen sich die Parteien überhaupt noch an dieser Situation orientieren, wenn sie dabei sind, in eine gänzlich neuartige und in jedem Fall bessere einzutreten? An diesen Fragen und Überlegungen scheint deutlich zu werden, dass die Parteien unausweichlich in Meinungsverschiedenheiten über die für ihre Verhandlung relevanten Gesichtspunkte geraten werden; sie werden daher zu der Einsicht gelangen, dass sie nur weiterkommen, wenn sie sich über die Argumentationsregeln klar werden, die das Nachdenken über Gerechtigkeit regulieren. Während es aus Sicht seiner Anhänger so scheint, als sei Buchanan gegenüber Rawls der Vorzug zu geben, weil er weniger voraussetzungsreich argumentiere und sein Konzept mit weniger normativen Annahmen auflade als dieser, legen die vorangegangenen Überlegungen eine andere Beschreibung nahe. Denn der Ausgangspunkt von Rawls’ A Theory of Justice ist der Befund, dass Gesellschaft als ein System wechselseitig vorteilhafter Kooperation zugleich von dem Konflikt über die Verteilung der Erträge geprägt sei. Dieser Konflikt äußert sich auch auf der Ebene disparater Gerechtigkeitsvorstellungen, die prima facie allesamt vernünftig wirken, aber nicht allesamt richtig und handlungsleitend sein können. Rawls’ einleuchtende These lauA

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

tete, dass die Vorstellungen über Gerechtigkeit durch Informationen über die eigene gesellschaftliche Lage beeinflusst würden und dass Aussicht auf Einigung bestehe, wenn eben diese Informationen im Reflexionsprozess neutralisiert würden. Der berühmte veil of ignorance hat demnach nicht allein – möglicherweise noch nicht einmal vorrangig – die Funktion, den Einfluss unverdienter Vorteile auf die gesellschaftliche Güterverteilung zu blockieren. Dies ist eine, in moralischer Hinsicht, wünschenswerte Eigenschaft, die ihn jedoch keineswegs – wie von Parteigängern Buchanans gerne behauptet – ›unrealistischer‹ macht. Seine Anwendung wird vielmehr durch die realistische Annahme einleuchtend, dass Verteilungskonflikte unter Rückgriff auf strittige Gerechtigkeitskonzepte ausgetragen werden und bloße Erwartungsunsicherheit – Buchanans veil of uncertainty – nicht ausreicht, um Einigungen über gesellschaftliche Regeln zu erreichen. Die Teilnehmer der Verhandlungen werden somit zur Einnahme einer Perspektive gezwungen, in der sie Gesellschaft als ein Kooperationssystem betrachten, das den je individuellen Interessenlagen eine privilegierte Stellung bei der Beurteilung von Verteilungsfragen verweigert. Sie müssen – mit anderen Worten – über die gesellschaftlichen Regeln unter dem Gesichtspunkt fairer Zusammenarbeit reflektieren und dabei die Frage beantworten, inwiefern Regeln, die zu ökonomischer und sozialer Ungleichheit führen, gerechtfertigt sein können. Rawls’ Urzustand ist ein Mittel der Darstellung für Gerechtigkeitsargumente: »Erstens ist er ein Modell für das, was wir (hier und jetzt) als faire Bedingungen für die Modalitäten der zu vereinbarenden sozialen Kooperation erachten (diese Fairness wird in der Symmetrie der Situation der Parteien gespiegelt). Zweitens ist er ein Modell für das, was wir (hier und jetzt) als vernünftige Einschränkungen der Gründe ansehen, die bei der Argumentation für Gerechtigkeitsprinzipien zur Regulierung der Grundstruktur verwendet werden dürfen.« 80

Die Gerechtigkeitsprinzipien werden aus dem als Argumentationsregel verstandenen Urzustand nicht abgeleitet. Vielmehr wird die Regel angewendet auf eine Liste mit Vorschlägen für Gerechtigkeitsprinzipien, wie sie sich für den oben betrachteten Fall einer buchananschen Naturzustands-Verhandlung aufschreiben ließe. Falle das Gründe-Saldo zugunsten eines Eintrages auf der Liste von Gerech80

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Rawls 2001/2003, 140

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tigkeitsprinzipien aus, so sei die Argumentation abgeschlossen, und der Eintrag gelte als angenommen. 81 Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit kann und will daher nicht beanspruchen, abschließend zu sein, weil ihre Wahl der beiden Prinzipien lediglich dadurch begründet ist, dass sie den besten Eintrag auf der Liste darstellen. 82 2. Wie Buchanan glaubt Rawls nicht, dass es möglich sei, die Gerechtigkeit von Verteilungen unabhängig von den institutionellen Regelungen zu beurteilen, unter denen sie zustande gekommen sind. Während dies im Fall Buchanans aus der hobbesschen Ansicht folgt, Gerechtigkeit bezeichne das Einhalten von wechselseitig anerkannten Regeln, nimmt Rawls auf die Tatsache Bezug, dass nur verteilt werden kann, was zuvor produziert wurde. Sein Punkt ist weniger gerechtigkeits- als gesellschaftstheoretisch. Güter und Ressourcen sind nicht einfach ›kollektiv verfügbar‹, sondern werden in Strukturen sozialer Kooperation erzeugt. Da Produktion unter Regeln über die Verteilung von Erträgen stattfindet, gehört der vorhandene gesellschaftliche Reichtum bereits jemandem. Eben deshalb darf die Beurteilung der Gerechtigkeit einer Verteilung nie von den Erwartungen absehen, die mit der Produktion von vornherein verbunden waren. Rawls hält aus diesem Grund die Anwendung der Idee allokativer Gerechtigkeit auf ganze Gesellschaften für unmöglich. 83 Was immer die Meriten des nozickschen Wilt-Chamberlain-Arguments sein mögen, es trifft Rawls nicht, da es diesem um die Rechtfertigung von Regeln, nicht um die von Verteilungen zu tun ist; ebenso unangemessen wäre es, Nozicks Spott gegen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit, sie behandelten den gesellschaftlichen Reichtum, als sei es Manna aus dem Himmel, auf Rawls auszudehnen: Rawls weist – wie gesagt – Konzepte allokativer Gerechtigkeit ebenso zurück wie Nozick. Seinem Konzept von Verfahrensgerechtigkeit zufolge ist jede Verteilung gerecht, die sich aus dem Operieren gerechter InstituRawls 2001/2003, 154 Rawls 2001/2003, 137 83 Dem Problem der Verteilungsgerechtigkeit im Sinne von Rawls »ist das völlig andersartige Problem gegenüberzustellen, bei dem es darum geht, wie ein gegebenes Warenbündel auf verschiedene Individuen verteilt oder ihnen zugewiesen werden soll, wobei uns die spezifischen Bedürfnisse, Wünsche und Präferenzen dieser Individuen – die bei der Produktion dieser Waren in keiner Weise zusammengearbeitet haben – bekannt sind. Dieses zweite Problem ist das der allokativen Gerechtigkeit.« (Rawls 2001/2003, 88) 81 82

A

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tionen ergibt und so zu gerechtfertigten Ansprüchen der Gesellschaftsmitglieder führt. 84 Gegenüber dem buchananschen Modell von Verfahrensgerechtigkeit, bei dem die Parteien lediglich ihre in der natürlichen Verteilung gesicherten Ressourcen zum Verhandlungstisch bringen und eine auf je eigenen Interessen basierte Einigung aushandeln, setzt Rawls auf die Idee einer zwischen Freien und Gleichen geführten Argumentation für gerechte Institutionen. Im Folgenden möchte ich mich einem Teilaspekt dieser Idee widmen, nämlich der letzten von Rawls vorgelegten Fassung seiner Rechtfertigung des Differenzprinzips; auf die anderen Bestandteile seiner beiden gekoppelten Gerechtigkeitsprinzipien werde ich nur zu sprechen kommen, sofern es in diesem Rahmen notwendig ist. Anders als die Garantie eines sozialen Minimums hinsichtlich der Grundbedürfnisse aller Bürger zählt Rawls das Differenzprinzip nicht zu den wesentlichen Verfassungselementen einer gerechten Gesellschaft, sondern betrachtet sie als Stabilisator einer gerechten Ordnung. 85 Stabilisator, insofern Rawls das Prinzip als notwendig erachtet, um die Aufhäufung großer Vermögen und wirtschaftlicher Macht zu blockieren, von der eine Bedrohung für die faire Chancengleichheit und den fairen Wert der politischen Freiheiten ausgeht. 86 Die Struktur der Argumentation zugunsten des Differenzprinzips ähnelt in den Grundzügen Buchanans Überlegung, Umverteilung sei als eine Versicherung gegen Einkommensrisiken zu verstehen. Die Rekonstruktion von Umverteilung als Versicherung und die damit vollzogene Übersetzung des utilitaristischen Nutzenarguments in ein intertemporales Eigennutzenargument überwindet nicht nur die libertäre Einschätzung, der zufolge Umverteilung notwendig gegen das Instrumentalisierungsverbot verstoße. Denn wenn Umverteilungsregeln die in einer dynamischen Gesellschaft für alle Individuen bestehenden Einkommensrisiken abbauen, so können sie als für alle zustimmungsfähig betrachtet werden. Versicherungen haben aus ökonomischer Sicht überdies den interessanten Vorzug, dass die Konsolidierung von Risiken effizienzsteigernd wirkt. Da eine Person am Beginn ihres Erwerbslebens nur unsichere Schätzungen ihres Lebenseinkommens abgeben kann, wird sie es aus der Ex-ante-Perspek84 85 86

140

Rawls 2001/2003, 88–90, 95, 121 Rawls 2001/2003, 85 Rawls 2001/2003, 93

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tive gutheißen, wenn die Einkommensrisiken der Population gepoolt werden, und bereit sein, entsprechende Beiträge zu leisten; aus der Ex-post-Sicht – also mit schwindender Einkommensunsicherheit – schwindet auch die Bereitschaft zur Beitragsleistung. Wenn also Menschen, die ihr Erwerbsleben vor sich haben, eine Entscheidung über die gewünschte politökonomische Ordnung zu treffen hätten, so würden sie aus schlichtem Eigeninteresse an der Konsolidierung von Erwerbsrisiken ein soziales Sicherungssystem beschließen. Je sicherer Personen aber ausschließen können, von sozialen Risiken bedroht zu sein, desto geringer wird ihre Zustimmungsbereitschaft sein. Es stellt sich aber die Frage, ob es normativ akzeptabel ist, Umverteilungsansprüche von kontingentem Wissen über individuelle Aussichten abhängig zu machen. Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat sie verneint und daher den ›realistischen Versicherungsgedanken‹ von Buchanan aufgegeben, um zum ›normativen Versicherungsgedanken‹ von Rawls überzugehen. Da durch Informationen über die eigene Herkunft und genetische Ausstattung die Erwartungen und Risikoschätzungen beeinflusst würden, gehe Buchanans veil of uncertainty nicht weit genug. Zwar könne der Gedanke von der Umverteilung als Versicherung festgehalten werden, aber er müsse gleichsam kontrafaktisch gefasst werden. Durch Rawls’ veil of ignorance wird es möglich, die Modellgesellschaft so strukturieren, als seien faktisch bereits bestehende ›Schadenstatbestände‹ noch nicht eingetreten. Weil den Parteien bei der Entscheidung über die Regeln gesellschaftlicher Zusammenarbeit keine Informationen über ihre soziale Situation oder ihre natürliche Begabungen zur Verfügung stehen, 87 wird eine Einigung auf Umverteilungsinstitutionen denkbar, die entsprechende Benachteiligungen ›versichern‹. Die Rekonstruktion von Umverteilung mithilfe des Versicherungsarguments bekommt zusätzlich Nachdruck durch statistische Studien, die dafür sprechen, dass Einkommen eine Zufallsgröße darstellt. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass Einkommensungleichheit weder durch »Man kann nun einwenden, dass auch der Zwanzigjährige typischerweise nicht in einer reinen Ex-ante-Situation ist. Mit seiner Ausbildung, seinem genetischen und materiellen Erbe ist sein Lebenserfolg schon zum Teil determiniert. Das ist natürlich richtig. Aber auch in diesem Fall kann man wenigstens aus theoretischer Sicht noch weiter zurückgreifen. […] Bei einer Entscheidung hinter dem rawlsschen ›Schleier des Unwissens‹ müsste man wohl die gesamte Umverteilungsaktivität als Versicherung bezeichnen.« (Sinn 1988, 65–66)

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den familiären Hintergrund noch durch die Ausbildungsleistungen, die intellektuelle Kapazität oder irgendeinen anderen Faktor hinreichend erklärt wird. 88 Daraus hat beispielsweise Hal Varian den Schluss gezogen, dass das Lebenseinkommen wesentlich von Zufällen bestimmt wird. 89 Dass Einkommen eine zufallsverteilte Größe ist, bedeutet, dass der rawlssche Schleier des Nichtwissens in geringerem Maße als normatives Konstrukt verstanden werden muss als zuweilen angenommen. Wenn Informationen über den familiären Hintergrund und über die anderen genannten Faktoren nicht erlauben, eine zuverlässige Schätzung über die individuellen Einkommensaussichten zu geben, dann ist das Motiv, sie zu übergehen, nicht unbedingt normativ. Ihre Nichtberücksichtigung folgt einfach aus ihrer Unbrauchbarkeit für eine zuverlässige Abschätzung individueller Risiken. Haben Jencks, Varian und Sinn Recht, so sind selbst Zwanzigjährige nicht in der Lage, ihre Erwerbsbiografie zuverlässig zu prognostizieren; deshalb wünschen sie Absicherung gegen Einkommensfluktuationen durch einen umverteilenden Staat. Umgekehrt gilt: Wenn sich Zwanzigjährige hinsichtlich ihres Lebenseinkommens nicht in einer von Unsicherheit geprägten Ex-ante-Situation befinden, so handelt es sich bei ihm auch nicht um eine versicherbare Größe. Denn nur zufällige Ereignisse können versichert werden – daran würde auch die Idee des Schleiers nichts ändern. 90 Auf Grundlage dieser Argumente werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass die Informationssituation der Entscheider hinter einem veil of uncertainty und einem veil of ignorance konvergieren. Wenn das Lebenseinkommen eine reine Zufallsgröße darstellt, so scheint es rational, bei der Entscheidung über den Gesellschaftsvertrag von Informationen über die individuelle Lage im Status quo abzusehen und von einer symmetrisch strukturierten Situation auszugehen. Diese Erstmals bei Jencks 1972; eine neuere Untersuchung bieten: Cowell & Jenkins 1995. Varian argumentiert gegen die Annahme von Mirrlees, hohes Einkommen gehe auf hohe Fähigkeiten zurück, die durch die Regierung nicht direkt beobachtet werden könnten. Mirrlees zeigt, dass unter dieser Annahme der Grenzsteuersatz für Bezieher hoher Einkommen null sein sollte. Varian schließt dagegen: »If income contains a random component then a system of redistributive taxation will contribute to reducing the variance of after-tax income. The design of an optimal program of redistributive taxation must weigh the benefits from this ›social insurance‹ against the deadweight costs of a tax on transactions.« (Varian 1980, 66) 90 Eisen 1988, 119 88 89

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Überlegung kommt dem Befund entgegen, dass die Parteien im buchananschen Naturzustand nicht umhin können, in ihrer Argumentation für institutionelle Regelungen von ihrer eigenen Lage zu abstrahieren, wenn sie eine Einigung erzielen möchten. Es ist insofern vernünftig, aber auch rational, die von Rawls vorgeschlagene Argumentationsregel zu akzeptieren. 91 Damit ist aber noch nicht geklärt, welche Prinzipien für eine gerechte gesellschaftliche Grundstruktur unter solchen Bedingungen vernünftigerweise gewählt werden sollten. Rawls hat auch in der letzten Fassung seiner Gerechtigkeitstheorie daran festgehalten, dass sich die Parteien hinsichtlich der Regelung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten für das Differenzprinzip entscheiden würden, auch wenn er den Status seiner Argumentation zuletzt vorsichtiger bestimmt hat. 92 Ich werde zunächst darstellen, was sich über den Forderungsgehalt des Differenzprinzips sagen lässt, und anschließend seine Argumente dafür prüfen, dass ein derart spezifiziertes Prinzip im Urzustand bevorzugt werden würde. Mit der Analyse des Forderungsgehalts zu beginnen, scheint mir geboten, weil normative Prinzipien hinsichtlich ihrer praktischen Implikationen getestet werden müssen. Um einen Grundsatz beurteilen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, welche Zustände oder Handlungsanweisungen aus ihm folgen würden. 3. Rawls ist vorgeworfen worden, sein Konzept führe zur Legitimation exzessiver oder ungerechter Umverteilungsforderungen, da es die Bewertung politökonomischer Regime ausschließlich von der Situation der am wenigsten Begünstigten abhängig mache (sofern dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz Genüge getan sei). Viele halten eine solche Position für unannehmbar, da sie den Wert der Freiheit der restlichen Gesellschaftsmitglieder nicht angemessen berücksichtigt finden. Je nach Eingrenzung der am schlechtesten Gestellten und je nach empirischen Bedingungen kann deren exklusive Berücksichtigung massive Redistributionen auslösen – zumindest scheint dies so in isolierter Betrachtung. Ein geläufiger Vorwurf gegen das Differenzprinzip lautet entsprechend, es rechtfertige beliebig hohe VerlusRawls beansprucht lediglich, die Argumentationsregel sei vernünftig. Das auf Jencks, Varian und andere gestützte Argument für die Rationalität der Regel benutzt er nicht. Siehe: Rawls 2001/2003, 134 92 Rawls 2001/2003, 154 91

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te der besser Gestellten, solange sie zu – wie gering auch immer ausfallenden – Verbesserungen für die weniger Begünstigten führten. »So kann es ohne Frage medizinische Verfahren geben, welche Menschen gerade noch, aber mit wenig Befriedigung am Leben erhalten und doch so teuer sind, dass sie die übrige Bevölkerung in Armut versinken zu lassen. Anscheinend würde ein Maximin-Prinzip die Anwendung solcher Verfahren zur Folge haben.« 93

Rawls hat in der Theory diese Art von Vorbehalt antizipiert. Die Möglichkeit, dass die Begünstigten eine Milliarde opfern müssten, damit sich »die Aussichten der am schlechtesten Gestellten um einen Pfennig ändern«, 94 ist auch er nicht bereit als legitim zu akzeptieren. Statt eine so genannte stop-loss provision einzuführen, 95 verweist er darauf, dass »[t]he possibilities which the objection envisages cannot arise in real cases; the feasible set is so restricted that they are excluded.« 96

Mit der Rede von real cases bezieht sich Rawls nicht auf empirisch Vorfindliches, sondern auf das Modell einer wohl geordneten Gesellschaft; und unter den von Rawls getroffenen Modellannahmen, so der Gegeneinwand, sei das Differenzprinzip nicht in einer Weise fordernd, wie dies mitunter eingeschätzt wird. (a) Erstens strebt Rawls’ Methode an, Grenzfälle systematisch auszuschließen und die Reflexion auf das Normale und Normierte zu konzentrieren. Auf das von Arrow aufgeworfene Problem besonderer medizinischer Bedürfnisse, die im Primärgüterindex nicht vorkämen, 97 hat Rawls repliziert, dass seine Theorie annehme Arrow 1973/1977, 208. Arrow führt diesen Einwand an, sieht aber sehr wohl Rawls’‹ mögliche Replik. 94 Rawls 1971/1979, 181–182 95 »A stop-loss provision would specify that a state is not obligated to exceed a defined relative cost in order to enable any given person to enjoy an adequate standard of living. Hence, a state – even a state in favorable circumstances – might fail to enable some very needy people to enjoy an adequate standard of living without thereby abridging their rights.« (Copp 1992, 245) 96 Rawls 1971, 158 97 Der Punkt bei Arrow 1973/1977 war, dass Primärgüter ein unzureichender Index für das Wohlergehen einer Person sind, weil beispielsweise besonderer Bedarf nicht berücksichtigt wird. Diese Kritik wurde allgemein als treffend anerkannt und gab Anlass zu zahlreichen Klärungsversuchen. Ich sehe mit Rawls nur ein Scheinproblem. Die vorgeschlagenen Alternativen (welfarism, capability approach) sind (wie ich hier nur behaupten möchte) mit geradezu exzessiven Schwierigkeiten verbunden. 93

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»that all citizens have physical and psychological capacities within a certain normal range.« 98

Dahinter steht aber nicht – wie Wolff vermutet 99 – der Versuch, die Theorie zu immunisieren. Die Orientierung am Normalen und Normierten ergibt sich vielmehr aus dem Bemühen, überhaupt etwas über Kriterien zur Beurteilung von gesellschaftlichen Grundstrukturen zu sagen, ohne a limine unerfüllbare Informationsbedingungen zu formulieren. Wenn Rawls sagt: »We are not required to examine citizens’ psychological attitudes or their comparative levels of well-being« 100 ,

so nicht, weil er bezweifelte, dass es letztlich um das Wohlergehen von Personen gehe und nicht um deren Güterausstattung. Er setzt aber voraus, dass Primärgüter als Allzweckgüter unter normalen Umständen für das Wohlergehen von Personen erheblich sind. Diese Normierung stellt einerseits eine pragmatische Vereinfachung im Sinne administrativer Verfahren dar, andererseits manifestiert sich in ihr eine liberale Haltung, die dem Staat die direkte und umfassende Zuständigkeit für das Wohlergehen der Bürger abspricht. 101 (b) Einwände, das Differenzprinzip führe zu unplausiblen Umverteilungsforderungen, verkennen darüber hinaus zumeist, dass Rawls das Prinzip normativ nicht isoliert betrachtet und rechtfertigt, sondern dass seine beiden Gerechtigkeitsgrundsätze als Einheit genommen und mit konkurrierenden Grundsätzen verglichen werden. 102 In einer wohl geordneten Gesellschaft garantiert das lexikalisch vorrangige erste Gerechtigkeitsprinzip gleiche Freiheit und Zugänglichkeit gesellschaftlicher Positionen. Unter dieser Vorausset-

Rawls 1982, 168 Robert Paul Wolff hat an Rawls kritisiert: »[I]n his book, Rawls sets aside […] thought-experiments, stipulating that his principles are to be applied only to the basic structure of a society as a whole. […] Some critics have complained – I think with justification – that by ruling out micro-tests in which our intuitions are strong and the multiplicity of factors conceptually manageable, Rawls has overprotected his theory to the point of vacuity« (Wolff 1977, 196) 100 Rawls 1982, 163 101 Rawls geht hier natürlich nicht so weit wie Wilhelm von Humboldt, der alle auf die positive Wohlfahrt abzweckenden Einrichtungen für schädlich hielt. Doch weist er – liberal genug – zumindest eine direkte Verantwortung des Staates für das Wohlergehen selbst (nicht nur für die Schaffung von Bedingungen des Wohlergehens) zurück. 102 Rawls 2001/2003, 156 98 99

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zung ist es aber äußerst unwahrscheinlich,103 dass die Begünstigten eine Milliarde opfern müssten, damit sich »die Aussichten der am schlechtesten Gestellten um einen Pfennig ändern«. 104 Hinter der Behandlung der Gerechtigkeitsprinzipien als Einheit steht unter anderem die Überlegung, dass es zu einer gerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und Chancen nur kommen kann, wenn die Institutionen des wirtschaftlichen und des politischen Lebens entsprechend aufeinander abgestimmt sind. Bestimmte Vorstellungen des gemeinen Verstandes von Verteilungsgerechtigkeit seien in verschiedenen Institutionen verkörpert, schreibt Rawls, und ihr Ausgleich obliege dem Rahmensystem als ganzem: Eine wettbewerbliche Marktordnung entspricht beispielsweise dem Gedanken der Leistungsgerechtigkeit, das Handeln der Umverteilungs-Abteilung dem der Bedarfsgerechtigkeit. »The relevant point here is that certain precepts tend to be associated with specific institutions. It is left to the background system as a whole to determine how these precepts are balanced. Since the principles of justice regulate the whole structure, they also regulate the balance of precepts.« 105

Diese holistische Konzeption ist auch bei der Bestimmung des Forderungsgehalts zu beachten, der mit dem Differenzprinzip verbunden ist. 4. Das Differenzprinzip fordert von einer gerechten Grundstruktur die Maximierung der Aussichten der am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft. 106 Die lexikalische Vorrangigkeit des ersten Prinzips stellt sicher, dass es nicht zu einer ›Versklavung der produktivsten Mitglieder der Gesellschaft‹ kommen kann. Es würde gegen den Vorrang der Freiheit verstoßen, wenn ein Arbeitszwang für

Rawls 2001/2003, 112–114 Rawls 1971/1979, 181–182 105 Rawls 1971, 276–277 106 Genauer gesagt, unterscheidet Rawls 1971, 78–79 zwischen einem ganz gerechten System, das die Aussichten maximiert, und einem alles in allem gerechten System: »The second case is that in which the expectations of all those better off at least contribute to the welfare of the more unfortunate. That is, if their expectations were decreased, the prospects of the least advantaged would likewise fall. Yet the maximum is not yet achieved. Even higher expectations for the more advantaged would raise the expectations of those in the lowest position. Such a scheme is, I shall say, just throughout, but not the best just arrangement.« 103 104

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die Leistungsfähigsten verhängt werden würde. 107 Da die Aussichten der schlechter gestellten Mitglieder der Gesellschaft aber (unter anderem) von deren Entscheidungen über das eigene Arbeitsangebot abhängen, kann das Differenzprinzip höchstens ein lokales Maximum verlangen. Wenn bei gegebenem Arbeitsangebot verschiedene Grundstrukturen mit entsprechenden Primärgüter-Verteilungen möglich sind, so ist diejenige als besser zu bewerten, welche die Aussichten der am schlechtesten Gestellten maximiert. Es geht im Kern um eine Idee von Reziprozität und nicht um eine der Optimierung. Von zwei (in allen anderen relevanten Hinsichten identischen) Gesellschaften soll diejenige als besser gelten, die den am wenigsten Begünstigten die umfangreichere Primärgüter-Ausstattung bereitstellt. Was zählt, ist die absolute Ausstattung, nicht die relative. 108 Rawls weicht damit von Varianten des Egalitarismus ab, die Gleichheit für einen hochrangigen Wert halten und folglich die Wichtigkeit der Relation verschiedener individueller Ausstattungen betonen. Hinsichtlich der Frage, ob Ungleichheit ein intrinsisches Übel darstellt, äußert sich Rawls eher tentativ: Sie sei schon »als solche beinahe verkehrt«, weil in einem Statussystem nicht jede Person den höchsten Rang einnehmen könne. 109 Ungleichheit führe zu Hierarchie und zu ungleicher Achtung. Rawls wägt aber die instrumentellen und intrinsischen Nachteile der Ungleichheit gegen den Umstand ab, dass sie – ökonomisch gesprochen – einen Produktionsfaktor darstellt, ähnlich wie Kapital, Arbeit oder Risiko. Die Produktivität der Ungleichheit führt ihn insgesamt dazu, Ungleichheit in Kauf zu nehmen, wenn sie für die am schlechtesten Gestellten mit Verbesserungen der absoluten Situation einhergehe. Kommen wir nochmals auf den Vorwurf zurück, das Differenzprinzip führe zu ungerechten Umverteilungsansprüchen, auf den Rawls entgegnet hat, unter seinen Rawls 2001/2003, 108 Rawls unterstellt, dass die Nutzenfunktionen rationaler Entscheider nicht interdependent sind. Die Angemessenheit dieser Annahme bestreitet Birnbacher 1988, 109: »Zahlreiche empirische Hinweise sprechen für die ›Hypothese des relativen Einkommens‹, nach der der Nutzen weniger vom absoluten Einkommensniveau als von dem relativen Niveau des Einkommens in Bezug auf andere Mitglieder derselben Gruppe abhängt. Danach war das Nutzenniveau der oberen Sozialschichten vergangener Generationen nicht wesentlich geringer als das der heutigen Oberschicht, auch wenn es auf einem aus heutiger Sicht ärmlichen materiellen Lebensstandard beruhte.« 109 Rawls 2001/2003, 205; im amerikanischen Original heißt es: »But is the inequality wrong or unjust in itself? It is close to being wrong or unjust in itself in that in a status system, not everyone can have the highest rank.« (Rawls 2001, 131) 107 108

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Modellannahmen könne es zu den beklagten Phänomenen nicht kommen. Fälle wie besondere Bedürftigkeit hatte Rawls durch seine ›Normalisierungspostulate‹ ausgeschlossen. Damit ist aber noch nicht die Frage erledigt, ob nicht auch in einem normalisierten Modell mit einer Population von Arbeitsfähigen in einer vollbeschäftigten Volkswirtschaft übermäßige Umverteilungen aus dem Differenzprinzip folgen können. Könnte es nicht sein, dass die Aussichten der Mitglieder der am wenigsten und die Aussichten der Mitglieder der am meisten begünstigten Gruppe derart verknüpft sind, dass die vom Differenzprinzip verlangten Opfer unseren Gerechtigkeitsintuitionen widersprechen? Rawls setzt in seinem Modell voraus, dass soziale Kooperation produktiv ist – sie stellt, mit anderen Worten, kein Nullsummenspiel dar, bei dem eine Partei nur Gewinne erzielen kann, indem sie einer anderen Verluste zufügt. Vielmehr gewinnen alle Beteiligten durch die Kooperation. Rawls bezeichnet diese Eigenschaft mit der Formulierung, die Aussichten der am schlechtesten und der am besten Gestellten seien verkettet (im amerikanischen Original schreibt Rawls von der chain connection [CC]). Ferner postuliert Rawls, dass es keine Änderung der Aussichten einer repräsentativen Person gibt derart, dass die Aussichten der anderen repräsentativen Personen unverändert bleiben. Diese Eigenschaft bezeichnet er als Kopplung (im Original close-knittedness [CK]). Wir betrachten nun den Fall, dass die vier übrigen Arten von Grundgütern vollkommen gerecht verteilt sind und sich allein die Frage stellt, wie Einkommen und Vermögen der unterschiedlichen Gruppen miteinander verknüpft sein sollen. 110 Abbildung 1 zeigt, wie die Einkommen der am schlechtesten gestellten Gruppe A in Relation zu den Einkommen der am besten gestellten Gruppe R bei konstantem Arbeitsangebot verlaufen.

Abbildung 1: Einkommenskurve 110

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Zur Grundgüterliste: Rawls 2001/2003, 100–101.

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Das Differenzprinzip fordert, die Grundstruktur so zu gestalten, dass die Einkommen der Gruppe A maximiert werden. Dies ist in Punkt a der Fall. Nähert man sich dem Punkt von links an, sieht man, dass das Differenzprinzip bei einem flachen Verlauf der Einkommenskurve E in der Nähe von Punkt a sehr große Nutzenzuwächse für die ohnehin schon begünstigte Gruppe R erlaubt (Fall I). Geht man hingegen rechts auf der Kurve über Punkt a hinaus, so werden der Gruppe R durch das Differenzprinzip große Einkommenszuwächse vorenthalten, die für Gruppe A nur relativ geringfügige Einbußen brächten (Fall II). Gegen beide Implikationen ließe sich einwenden, dass sie gegen Gerechtigkeitsintuitionen verstießen. Rawls hat dem entgegnet, dass in einer in allen Hinsichten gerechten Gesellschaft ein solcher Verlauf der Einkommenskurve nicht aufkommen könne. Fall I sei dadurch ausgeschlossen, dass der Grundsatz der fairen Chancengleichheit für Konkurrenz innerhalb der Gruppe R sorge, die hinreichend sei, um einen steileren Verlauf der Einkommenskurve links von Punkt a zu gewährleisten. Fall II sei unplausibel, weil bei beträchtlichen Gewinnen für die Gruppe R mit hoher Wahrscheinlichkeit ein institutionelles Dispositiv verfügbar wäre, um so umzuverteilen, dass die Gruppe A nicht schlechter gestellt würde. 111 5. Die Plausibilisierung von Aussagen im Rahmen eines einfach strukturierten Modells allein reicht jedoch noch nicht aus, um den Forderungsgehalt des Differenzprinzips zu bestimmen. Rawls betont, dass die Anwendung des Prinzips die Verarbeitung komplexer empirischer Sachverhalte erforderlich mache, hinsichtlich derer »stets vernünftige Meinungsverschiedenheiten möglich« seien. 112 Um Verlauf und Lage der Einkommenskurve zu bestimmen, müssten adäquate Modelle und entsprechende Daten konsultiert werden, eine Aufgabe, die sicherlich über das hinausgeht, was normalerweise von der Gerechtigkeitstheorie verlangt wird. Konsequenterweise muss Rawls allerdings von dieser Erwartung abweichen, weil ohne Daten und Modelle unklar bleibt, was das Prinzip eigentlich verlangt. Hierin unterscheidet es sich von traditionell egalitaristischen oder libertären Prinzipien, deren Gehalt ohne spezielles empirisches Wissen extrahiert werden kann und in Bezug auf die keine Unklarheiten aufkommen, welche politökonomische Grundstruktur sie auszeichnen. 111 112

Rawls 2001/2003, 112–114 Rawls 2001/2003, 86 A

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Rawls’ Konzept hingegen ist als Verteidigung des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates, des Marktsozialismus, der Eigentümer-Demokratie, aber sogar der Laissez-Faire-Kapitalismus ausgelegt worden. 113 Durch Justice as Fairness. A Restatement ist die Frage des Ideals zwar geklärt (Rawls propagiert eine ›Eigentümer-Demokratie‹), aber der Bezug zwischen Differenzprinzip und Gesellschaftsideal muss durch empirische Modelle gesichert werden. Im Folgenden möchte ich (in eher provisorischer Weise) zeigen, dass die Aussichten der am schlechtesten gestellten Gruppe der Gesellschaft – unter spezifischen Annahmen – durch eine Umverteilung von Produktivkräften und Humankapital maximiert werden könnten; dass also – unter spezifischen Annahmen – das Differenzprinzip tatsächlich in Richtung der Eigentümer-Demokratie weisen würde. Um den Forderungsgehalt des Differenzprinzips näher zu bestimmen, braucht es eine Vorstellung von den Aussichten der am wenigsten Begünstigten in konkurrierenden politökonomischen Strukturen. Schauen wir auf Rawls’ (spärliche) Bemerkungen zu dem Thema. 114 Eine ideale rawlssche Modellgesellschaft möge aus drei repräsentativen Mitgliedern bestehen: dem am schlechtesten Gestellten A, dem mit mittleren Einkommen ausgestatteten M und dem am besten Gestellten R (siehe folgende Abbildung 2). Es gibt keine sich überlappenden Generationen. Die Legislaturperiode der idealen rawlsschen Regierung entspricht der Lebensdauer der repräsentativen Personen. Die Regierung hat dafür zu sorgen, dass die Primärgüter-Ausstattung von A unter den gegebenen Restriktionen durch die Grundstruktur maximiert wird. Angenommen, die Regierung geht davon aus, CC zwischen den Aussichten der drei repräsentativen Personen sei gegeben, das heißt, dass immer dann, wenn die Aussichten von A sich verbesserten, auch die von M und R dies täten. Dann sind alle Positions-Verbesserungen für A Pareto-Verbesserungen für die Modellgesellschaft. Ist die maximale Aussicht von A (in Punkt a) erreicht, so ist auch der gerechte Zustand erreicht, ohne dass sich die Aussichten einer repräsentativen Person verschlechtert hätten. An der Abbildung lässt sich außerdem ablesen, dass CK vorliegt. Dadurch kann ausgeschlossen werden, dass die relative Position von A

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Shapiro 1995 Rawls 1971, 76–83

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gegenüber M oder R sich verschlechtert, ohne dass seine absolute Position berührt ist.

Abbildung 2: Chain Connection und Close-Knittedness

CC und CK haben den Status von Modellannahmen. Rawls versucht nicht, sie empirisch zu plausibilisieren. 115 Was können wir empirisch über die Korrelation der Aussichten von A, M und R vermuten? Angenommen, R sei der repräsentative Kapitalist, A der repräsentative Arbeiter. Eine ideale rawlssche Regierung, welche die Aussichten von A maximiere, untersuche, ob die Bedingungen für gerechte Transfers vorlägen. Das Prinzip gerechter Transfers (PT) besagt, dass Umverteilung von R und M zu A (bei gegebenem Arbeitsangebot) vorzunehmen ist, wenn dadurch die Aussichten von A verbessert werden. Die Regierung betrachte drei Perioden und nehme eine langfristige Perspektive ein – das heißt, sie maximiere die Aussichten von A über alle betrachteten Perioden. 116 PT schließt daher nicht aus, dass Transfers unterlassen werden, obwohl sich die Situation von A in der betrachteten Periode durch Redistribution verbessern ließe. Die Produktion der Modellwirtschaft soll durch eine Cobb-Douglas-Funktion repräsentiert werden. Umverteilung in der ersten Periode würde zu einer Verbesserung der Situation von A in 115 Er betont zudem, dass für die Geltung des Differenzprinzips nichts davon abhänge, dass diese speziellen Bedingungen erfüllt seien. Dieser Versuch einer Abkopplung der Geltung eines Prinzips von empirischen Bedingungen scheint indes fragwürdig. Denn wie kann über Geltung entschieden werden, wenn die Implikationen nicht bekannt sind? Und wie sollen die Implikationen bestimmt werden, wenn keine empirisch falsifizierbaren Aussagen zugelassen werden? 116 Rawls 1982, 164: »[…] the least advantaged are defined as those who have the lowest index of primary goods, when their prospects are viewed over a complete life.«

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der ersten Periode führen und sich – wie ich annehmen will – negativ auf Investitionen und Sparen von R auswirken. 117 Dadurch verringert sich das Wachstum in den folgenden Perioden – und die Aussichten von A in langer Frist verschlechtern sich. Es wird in sozialpolitischen Debatten häufig übersehen: »Compound interest is a wonderful thing. Young workers in an inegalitarian society growing at 5 % a year making half the wages of those in an egalitarian society growing at 0.5 % a year will catch up in 16 years, and by time of their retirement, will have four times the income.« 118

Die rawlssche Regierung würde in diesem Szenario erst in der letzten Periode umverteilen, sich also gemäß dem entwicklungspolitischen Slogan verhalten, der Wachstum vor Umverteilung empfiehlt. 119 Die Wachstum-vor-Umverteilung-Empfehlung beruht auf zwei Teilthesen: Dass Umverteilung in der Ausgangsperiode sich negativ auf das Wachstum auswirkt (Teilthese I) und dass sich die Ungleichheit im Laufe wirtschaftlichen Wachstums verringert. Beide Teilthesen haben sich jedoch nicht bestätigt. Weder ist es richtig, dass Umverteilung in der Ausgangsperiode das Wachstum bremst, noch hat sich bestätigt, dass die Ungleichheit auf längere Sicht wieder abnimmt (Teilthese II). Zu Teilthese II: Seit den Siebzigerjahren nimmt die Ungleichheit in den wichtigsten Wirtschaftsnationen entgegen der kuznetschen Voraussage wieder zu; außergewöhnlich scharf ausgeprägt ist dieser 117 Es handelt sich hier zwar um eine ökonomische Elementarlehre. Empirisch ist die negative Wirkung der Umverteilung auf das Sparverhalten jedoch bezweifelt worden, z. B. bei Samuelson & Nordhaus 1998, 438. 118 Hausman 1998, 75 119 Ulrich Menzel 1992, 114 schreibt, dieser Slogan sei »im Sinne der kuznetschen U-Hypothese […] zuerst Wachstum, sogar auf Kosten zunehmender Ungleichheit, anzustreben und eine Umverteilung erst später nachfolgen zu lassen (growth first, redistribution later).« Üblicherweise versteht man unter der Kuznet-Hypothese jedoch eine Aussage über die Einkommensentwicklung beim Übergang von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft. Zunächst nimmt die Einkommensungleichheit zu, weil Personen aus dem agrarischen in den industriellen Sektor abwandern, in dem höhere Einkommen gezahlt werden. Mit der stetigen Zunahme der Beschäftigung im Industrie-Sektor vermindert sich die Ungleichheit jedoch wieder. Daher die u-förmige Entwicklungskurve. Siehe: Atkinson 1997, 301. Der beschriebene Mechanismus ist unabhängig von Umverteilungsaktivitäten des Staates, spielte allerdings für die Tarif-Politik in Skandinavien eine Rolle. Siehe: Moene & Wallerstein 1998, 231–232.

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Trend in Großbritannien. 120 Sieht man einmal von politischen Faktoren ab, so hat es zum einen eine signifikante Verschiebung der Nachfrage auf den Arbeitsmärkten von unqualifizierter zu qualifizierter Arbeit gegeben – wobei strittig ist, ob diese Nachfrage-Verschiebung in den entwickelten Volkswirtschaften durch die Liberalisierung des Welthandels, durch technologische Entwicklungen oder beides bedingt ist. 121 Darüber hinaus vermutet Atkinson, dass die Zunahme der Einkommensungleichheit nicht zuletzt auf veränderte soziale Normen zurückzuführen sei. 122 Wichtiger für die rawlssche Regierung ist Teilthese I, dass Umverteilung in der Ausgangsperiode das Wachstum bremst und mithin auf lange Frist die Aussichten der am wenigsten Begünstigten verschlechtert. Alle in jüngerer Zeit erstellten makroökonomischen Studien haben zum Ergebnis, dass die durchschnittliche wirtschaftliche Wachstumsrate und verschiedene Ungleichheitsmaße negativ korreliert sind. 123 Besonderes Interesse hat der Vergleich Süd-Koreas und der Philippinen auf sich gezogen, weil die makroökonomischen Ausgangsvoraussetzungen beider Länder in den Sechzigerjahren ähnlich waren (Pro-Kopf-Einkommen, Pro-Kopf-Investitionen, durchschnittliche Sparrate). Allerdings waren die Einkommen auf den Philippinen deutlich ungleicher verteilt als in Süd-Korea, wo zu Beginn der Industrialisierung die Einkommen durch Landreformen relativ stark homogenisiert wurden. 124 Über die folgenden drei Jahrzehnte verfünffachte sich die Produktion in Süd-Korea, während sie sich auf den Philippinen lediglich verdoppelte. Das Land mit der ungleicheren Verteilung wuchs also – entgegen der Voraussage der Standard-Modelle – deutlich langsamer. 125 Die zur Zeit besten verfügbaren Daten und Modelle – so möchte Atkinson 1997 Gegen den auf die Liberalisierung des Welthandels abhebenden Ansatz spricht vor allem, dass der Anteil von Importen aus Niedriglohnländern zu gering ist, um die Einkommensdispersion zu erklären. Siehe den Übersichtsartikel von Burtless 1995 122 Atkinson 1997, 311: »It may, for exogenous reasons, have become socially acceptable to have larger wage differentials within the workplace. Or the exogenous shift in demand may have interacted with the endogenous determination of social norms.« 123 Aghion et al. 1999. Das ist eine für makroökonomische Studien bemerkenswerte Einhelligkeit. Man vergleiche das unbestimmte Bild bezüglich der Korrelation von wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung und wirtschaftlichem Wachstum, das Atkinson 1999, 21–49 in groben Zügen skizziert. 124 Menzel 1992, 114–115 125 Aghion et al. 1999, 1616 120 121

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ich folgern – sprechen dafür, dass Umverteilung in der Ausgangsperiode, durch welche die Ungleichheit der Vermögensverteilung vermindert wird, das wirtschaftliche Wachstum und die langfristigen Aussichten von A fördern kann. 126 Die ideale rawlssche Regierung, der es um eine Maximierung der langfristigen Aussichten von A zu tun ist, müsste auf Grundlage der genannten Daten und Erklärungsansätze zu dem Schluss kommen, dass die Ungleichheit der Vermögensverteilung in der Ausgangsperiode vermindert werden sollte. * Wie ist diese Positiv-Korrelation von Gleichheit und Wachstum zu erklären? Erstens werden – auch von Rawls – die negativen Auswirkungen von Einkommens- und Vermögensungleichheiten auf die Akkumulation von Humankapital genannt. 127 Transfers und öffentliche Ausgaben, die zu einer verbesserten Ernährung der Arbeitskräfte, Mütter oder Schulkinder führen, Vorschriften zum Arbeitsschutz, Alphabetisierung sind offensichtliche Kandidaten für eine Politik, die simultan Gleichheit und Effizienz fördert. 128 Weniger offensichtlich sind Überlegungen, die sich auf die Bedeutung des Status bei ungleicher Wohlstandsverteilung beziehen. Statuswünsche können zu einer wachstumsvermindernden Verdrängung von vermögenslosen Hochbegabten durch vermögende Minderbegabte führen. 129 Eine wichtige informationsökonomische Argumentation hebt dagegen auf Kreditmarkt-bedingte Unterinvestitionen in Humankapital ab. 130 Personen ohne Sicherheiten werden höhere Zinsen bezahlen müssen als Personen mit Sicherheiten – die Investitionen der vermögenslosen Personen in Humankapital werden daher suboptimal sein. 131 126 Wichtig ist festzuhalten, dass es hier um eine redistribution of assets und nicht um eine redistribution of income dreht. Persson & Tabellini 1994 argumentieren, inequality of assets führe in Demokratien zu Wachstumseinbussen, eben weil es zur redistribution of income komme. 127 Chiu 1998; Niggle 1998; Bardhan 1996 128 Die Aufhebung von rechtlicher Diskriminierung braucht hier nicht genannt zu werden – sie wird durch das erste rawlssche Gerechtigkeitsprinzip gefordert. 129 Fershtman et al. 1996 130 Galor & Zeira 1993 waren die Ersten, die den positiven Zusammenhang zwischen Gleichheit und Wachstum über Humankapitalinvestitionen und Unvollkommenheiten von Kredit- und Kapitalmärkten zu erklären versuchten. 131 Freeman 1996, 1057

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Eine verwandte Überlegung bezieht sich allgemein auf die Möglichkeiten von vermögenslosen Personen, Projekte durch Kredite zu finanzieren. Karla Hoff fasst als Resultat theoretischer Betrachtung zusammen: »When an individual who undertakes a project knows more about his success probability than lenders do, there may exist a critical wealth level such that individuals whose wealth is below the critical level do not borrow and do not invest in projects.« 132

Die Idee ist folgende: Angenommen, in einer Modellwirtschaft hätten alle Investitionsprojekte dieselbe Auszahlung, unterschieden sich aber in ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit. Ferner sei angenommen, dass die Projekte durch Kredit finanziert würden und dass der Kredit im Misserfolgsfall nicht zurückgezahlt werden könnte. Da der Kreditgeber das Risiko des Scheiterns trägt und – anders als der Kreditnehmer – nicht die Erfolgswahrscheinlichkeit der Projekte kennt, so wird der Zinssatz die durchschnittliche Bankrottwahrscheinlichkeit spiegeln. Dadurch kommt es zu einer Quersubventionierung der schlechten durch die guten Projekte. Je geringer das Vermögen eines Projektemachers, desto geringer auch die Erfolgswahrscheinlichkeit, bei der er noch bereit sein wird, ein Projekt in Angriff zu nehmen. Die Kreditgeber werden daher das Vermögen als Schätzer für die Reservations-Wahrscheinlichkeit des Projektemachers benutzen und die Zinsen für die Kreditnehmer entsprechend fixieren. Sinkt der Ausgangswohlstand einer Person unter eine bestimmte Schwelle, so schätzt der Kreditgeber die Reservations-Wahrscheinlichkeit als so gering und fixiert den Zins so hoch, dass es nicht mehr zum Projektemachen kommt. Karla Hoff empfiehlt folgende politische Maßnahme: »In a setting of adverse selection where the marginal borrower has the lowest quality project, a transfer to low-wealth individuals strictly dominates a credit subsidy or loan guarantee. A transfer can increase both overall efficiency and the welfare of the low-wealth individuals, but a credit subsidy or loan guarantee cannot.« 133

Das Argument ist hier, dass Kreditgarantien und -subventionen die Kreditnehmer nicht dazu anreizen, ihre private Information über die Erfolgswahrscheinlichkeit des Projektes offen zu legen, Vermögens132 133

Hoff 1998, 338 Hoff 1998, 338 A

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transfers hingegen schon. Soweit zu verschiedenen Erklärungsansätzen für die positive Korrelation von Gleichheit und Wachstum, die für eine Bestimmung des präskriptiven Gehalts des Differenzprinzips von Belang sind. * Die ideale rawlssche Regierung, der es um eine Maximierung der langfristigen Aussichten von A zu tun ist, müsste – hatte ich geschrieben – auf Grundlage der oben angeführten Daten und Erklärungsansätze zu dem Schluss kommen, dass die Ungleichheit der Vermögensverteilung in der Ausgangsperiode vermindert werden sollte. Wie würde sie die laufende Umverteilung von Einkommen bewerten? Rawls’ diesbezügliche Überlegungen orientieren sich an dem Topos vom Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gleichheit. Wenn Transfers an die am schlechtesten Gestellten über eine allgemeine Konsum- oder Einkommenssteuer finanziert würden, so implizierte jede Erhöhung des Minimums eine Erhöhung der Steuern. Es werde schließlich ein Punkt erreicht, an dem die höhere Steuerlast sich negativ auf Sparverhalten und Arbeitsangebot auswirke derart, »that the prospects of the least advantaged in the present generation are no longer improved but begin to decline. In either event the correct minimum has been reached. The difference principle is satisfied and no further increase is called for.« 134

Die negative Wirkung der Umverteilung auf die langfristigen Aussichten von A setzt der Gleichheit Grenzen. 135 Rawls geht in der zitieren Passage davon aus, dass diese negativen Auswirkungen bereits in der gegenwärtigen Generation wirksam werden – das Problem lässt sich somit mit den Mitteln des Differenzprinzips beantworten. Schließt sich die ideale rawlssche Regierung dieser Argumentation

Rawls 1971, 286, (Hervorhebung von mir) »Auf den ersten Blick könnte es […] scheinen, als verlangte das Unterschiedsprinzip ein sehr hohes Existenzminimum. Man stellt sich naheliegenderweise vor, der größere Reichtum der Bevorzugten müsse so lange verringert werden, bis schließlich jeder fast das gleiche Einkommen hat. Doch das ist eine falsche Vorstellung, wenn sie auch unter besonderen Umständen gültig sein mag. Bei der Anwendung des Unterschiedsprinzips muss man die langfristigen Aussichten der am wenigsten Bevorzugten unter Einschluss der späteren Generationen betrachten.« (Rawls 1971/1979, 319–320) 134 135

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an, so orientiert sie sich bei der Gestaltung des Steuer-Transfer-Systems an der Reaktionsfunktion von Arbeitsangebot und Sparverhalten auf die Besteuerung. Rawls geht im Rahmen idealer Theorie von vollständiger Gesetzestreue aus. Ideale Theorie kann insofern von der Frage der Steuerehrlichkeit und Steuerumgehung abstrahieren. Angenommen, die ideale rawlssche Regierung habe es mit einer nichtidealen Bevölkerung zu tun und müsse daher mit dem Problem der non-compliance rechnen. Sie wird dann auch empirische Daten über die Auswirkung der Grenzsteuersätze auf das Steueraufkommen in verschiedenen Gruppen berücksichtigen. Für die höchste Einkommensgruppe hat sich die Vermutung bestätigt, dass eine Herabsetzung des Grenzsteuersatzes zu einer Erhöhung des Beitrags zum gesamten Steueraufkommen führt. Eine Heraufsetzung des Grenzsteuersatzes vermindert dagegen die Höhe des von der höchsten Einkommensgruppe erklärten Einkommens – damit aber scheinbar die bestehende Ungleichheit der Einkommensverteilung. Die rawlssche Regierung könnte sich insofern unter nichtidealen Bedingungen dem Ergebnis von Robert Barro anschließen: »[H]igher tax rates would induce the rich to report enough less income so that the taxes paid by this group would probably fall. Although measured inequality would decline, this soaking of the rich would not benefit the poor – unless the poor would feel better simply because the rich were worse off.« 136

Bislang hat die rawlssche Regierung bei ihren Überlegungen das Problem des intergenerationellen Sparens ausgeklammert. Wie wird die Umverteilung innerhalb einer Generation durch die Tatsache eingeschränkt, dass sie die Aussichten folgender Generationen beeinflusst? Hier stellt sich für die Regierung zunächst die grundsätzliche Frage, inwiefern das Verhältnis zwischen Generationen überhaupt auf den Begriff der Gerechtigkeit sich beziehen lässt. Zu den Anwendungsbedingungen des Gerechtigkeitsbegriffes zählt Rawls »the normal conditions under which human cooperation is both possible and necessary. […] These conditions may be divided into two kinds. First, there are the objective circumstances which make human cooperation both possible and necessary. Thus, many individuals coexist together at the same time on a definite geographical territory.« 137

136 137

Barro 1998, 118 Rawls 1971, 126 A

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Das Verhältnis der Generationen zueinander erfüllt offenbar nicht alle der von Rawls aufgeführten objektiven Anwendungsbedingungen des Gerechtigkeitsbegriffs. Mit späteren Generationen können keine Kooperationsverhältnisse bestehen, also hat es auch keinen Sinn, von einer ›Gerechtigkeit zwischen den Generationen‹ zu sprechen. In dieser auf Hume zurückgehende Lehre von den circumstances of justice schlägt sich die Idee nieder, Gerechtigkeit regele gesellschaftliche Zusammenarbeit zu wechselseitigem Vorteil – wobei Rawls ›wechselseitigen Vorteil‹ durch das Differenzprinzip interpretiert sehen möchte. Die Einsinnigkeit der Zeit erlaubt diese Reziprozitätsbeziehung nicht, so dass die rawlssche Regierung hier vor der Entscheidung steht, entweder auf eine Anwendung des Gerechtigkeitskonzepts zu verzichten oder dieses Konzept zu revidieren. Rawls entschloss sich zu Letzterem, was laut Brian Barry zur Konsequenz hat, dass in der Theory of Justice zwei Begriffe von Gerechtigkeit miteinander interferieren: ein Reziprozitätskonzept und ein Unparteilichkeitskonzept. 138 Beide Konzepte beeinflussen seine Stellungnahmen zum Problem intergenerationeller Gerechtigkeit, so dass es nicht zu einem kohärenten Gesamtbild kommt. Zunächst versucht Rawls die für das Reziprozitätskonzept konstitutive Aussage zu konservieren, dass die repräsentative Person im Urzustand keine Verpflichtungen gegenüber Außenstehenden hat. 139 Die Irrelevanz der Interessen Außenstehender macht die Wahl im Urzustand zu einer rationalen – und Rawls möchte von der Theory sagen können, sie sei ein Zweig der Theorie rationaler Entscheidung, moral geometry im strengen Sinne des Wortes. 140 Er postuliert daher, dass die repräsentative Person im Urzustand Deputierte einer kontinuierlichen Traditionslinie sei und die Interessen zumindest zweier Generationen berücksichtige. »For example, we may think of the parties as heads of families, and therefore as having a desire to further the welfare of their nearest descendants.« 141 Barry 1989, 179 ff. Die Literatur ist sich einig, dass die Entscheidung im Urzustand von einer repräsentativen Person gefällt werden kann. Barry 1989, 196: »All the commentators on Rawls have seen that it is of no significance how many people there are in the original position as Rawls constructs it. However many there are, they all have the same information about things in general and about themselves in particular and thus face exactly the same decision-making problem.« 140 Rawls 1971, 121,126 141 Rawls 1971, 126 138 139

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Rawls deutet die circumstances of justice also mit Blick auf die konfliktträchtige Kooperation von Familienoberhäuptern und hofft so die Vorstellung von Gerechtigkeit als einer ausschließlich an den eigenen Interessen orientierten Wahl unter geeigneten Informationsrestriktionen bewahren zu können. 142 Die Parteien wollen immer noch ausschließlich ihr eigenes Wohlergehen fördern (freilich unter der erschwerten Bedingung, nicht zu wissen, wer sie sind), nur, dass zu ihrem Wohlergehen nun auch die Sorge um ihre unmittelbaren Nachkommen gehören soll. Das Problem dieser Konstruktion besteht darin, dass der Planungshorizont der idealen rawlsschen Regierung entsprechend der Reichweite altruistischer Gefühle der Parteien im Urzustand gewählt werden wird – Rawls bringt die Zahl von zwei Generationen ins Spiel. Rawls trägt aber noch eine zweite Überlegung vor, die nicht auf den Altruismus der versammelten Familienoberhäupter abhebt, sondern auf die natürliche Pflicht, gerechte Institutionen zu schaffen und zu erhalten. Um dieses historische Ziel zu erreichen, sind die Anstrengungen vieler Generationen vonnöten. Gerechte Institutionen setzen einen gewissen Wohlstand voraus, der nur in längeren geschichtlichen Zeiträumen akkumuliert zu werden vermag. Akkumulation ist somit eine natürliche Pflicht der Gerechtigkeit. 143 Sobald ein Wohlstandsniveau erreicht ist, das für die Schaffung gerechter Institutionen und für einen fairen Wert der Freiheit ausreicht, wirkt das Prinzip gerechten Sparens nicht mehr als Einschränkung der aus dem Differenzprinzip folgenden Umverteilungsforderung: Das Differenzprinzip wird nicht ewig durch die Akkumulationsforderung gebunden. Sobald gerechte Institutionen bestehen, muss es in vollem Umfang angewendet werden, sofern dies mit dem Fortbestand jener Institutionen vereinbar ist – und das kann durchaus Nullwachstum bedeuten. Früheren Generationen können keine Opfer abverlangt werden, einfach damit die späteren wohlhabender sind, wie dies aus einem utilitaristischen Konzept folgen mag. Der Akkumulationsprozess hat folglich ein klar bezeichnetes Telos. 144 Barry 1989, 190 Rawls 1971, 289: »The just savings principle can be regarded as an understanding between generations to carry their fair share of the burden of realizing and preserving a just society. The end of the savings process is set up in advance. […] The savings principle represents an interpretation, arrived at in the original position, of the previously accepted natural duty to uphold and to further just institutions.« 144 »Es ist ein Merkmal des Differenzprinzips, dass es nicht verlangt, ständiges Wirt142 143

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Wir wissen damit aber immer noch nicht viel über den Reflexionsprozess im Urzustand und die allgemeinen Eigenschaften des gerechten Spargrundsatzes. Es war die Rede von einem fairen Anteil, den die Generationen zu tragen hätten, damit eine gerechte Grundstruktur möglich wird. Was bestimmt aber, ob ein Anteil fair ist oder nicht? Die geforderte Akkumulationsrate hängt unter anderem davon ab, wie schnell ein Wohlstandsniveau erreicht werden soll, das für die Schaffung und Aufrechterhaltung gerechter Institutionen ausreicht. Die rawlssche Regierung wird fragen müssen, welche zeitliche Vorgabe mit welchen Plänen für Akkumulationsraten in den jeweiligen Generationen kombinierbar ist und welches Schema die repräsentative Person im Urzustand unter der Voraussetzung akzeptabel findet, selbst nicht zu wissen, welcher Generation sie angehören wird. Aus etwas undurchsichtigen Gründen fordert Rawls, dass der gerechte Spargrundsatz eine für alle Generationen gleiche Akkumulationsrate diktieren solle. 145 Plausibler scheint Barrys Vorschlag einer »rate of accumulation starting low to reflect the great sacrifice represented by net savings, then rising as affluence increases, and finally falling again asymptotically to zero as the importance of increased consumption to the good life becomes less and less.« 146

Die rawlssche Regierung könnte sich daher auf den Standpunkt stellen, dass die Aussichten von A in der Frühphase der wirtschaftlichen Entwicklung durch Einkommensumverteilung verbessert werden müssen, auch wenn dies zu einer verminderten Akkumulationsrate führt. Mit steigendem Wohlstand nimmt die begrenzende Wirkung des gerechten Spargrundsatzes für die Umverteilung innerhalb einer Generation zu, um wieder zu fallen, soweit dies mit der dauerhaften Erhaltung gerechter Institutionen verträglich ist. schaftswachstum müsse von Generation zu Generation unbegrenzt die Erwartungen der (an Einkommen und Vermögen gemessen) am wenigsten Begünstigten maximieren. […] Was das Differenzprinzip tatsächlich verlangt, ist, wie wir gesehen haben, folgendes: Während einer angemessenen Zeitspanne sollen die Unterschiede zwischen den bei der Erzeugung des Sozialprodukts verdienten Einkommen und Vermögen so beschaffen sein, dass, wenn die berechtigten Erwartungen der Bessergestellten geringer wären, die der schlechter Gestellten ebenfalls geringer wären.« (Rawls 2001/2003, 246) 145 »[…] the persons in the original position are to ask themselves how much they would be willing to save at each stage of advance on the assumption that all other generations are to save at the same rates.« (Rawls 1971, 287) 146 Barry 1989, 198

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Da aber Grund zu der Annahme besteht, dass zwischen Vermögensumverteilung und den Aussichten nachfolgender Generationen kein Zielkonflikt besteht, wird die rawlssche Regierung die Aussichten der am schlechtesten Gestellten nicht durch Einkommensumverteilungen zu erreichen versuchen. Die Argumentation von Rawls zugunsten einer Demokratie mit Eigentumsbesitz kann somit ergänzt werden. Es ist nicht nur so, dass sie – im Gegensatz zum kapitalistischen Wohlfahrtsstaat – der Tendenz entgegenwirkt, »dass ein kleiner Teil der Gesellschaft die Wirtschaft und indirekt auch die Politik steuert.« 147

Durch die von Rawls’ Ideal der Gesellschaft vorgesehene »Gewährleistung eines weit verbreiteten Besitzes von Produktivkräften und Humankapital (d. h. Bildung und geschulte Fertigkeiten)« 148

wird nicht allein das System der Grundfreiheiten und die faire Chancengleichheit gesichert, sondern auch die Forderung des Differenzprinzips eingelöst. 6. Die Rede von Ungerechtigkeit setzt im landläufigen Verständnis einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Tun oder Unterlassen des einen und dem Zustand des anderen voraus. Doch von welcher Art soll dieser kausalen Zusammenhang sein? Wenn jemand Reiches alle verbliebenen Kuchen aufkauft und an seine Enten verfüttert, dann ist sein Aufkaufen und Verfüttern ursächlich dafür, dass die Armen keinen Kuchen mehr essen können. Doch ist sein Tun ungerecht? Er könnte sich auf den Standpunkt des naturrechtlichen Paretianismus stellen, dass er sein Vermögen rechtmäßig erworben und kein Recht der Armen verletzt habe; und dass es nicht ungerecht sein könne, wenn er sein Geld ausgebe, so wie er es wünsche. 149 Möglicherweise fügt er noch hinzu, dass er von dem Problem der welfare dependency gehört habe und die Situation der Armen durch seine Wohltätigkeit nicht verschlimmern wolle. Außerdem denke er, ein wesentlicher Unterschied zwischen Menschen und Enten sei es, dass es Erstere entwürdige, gefüttert zu werden, Letztere hingegen nicht; Rawls 2001/2003, 216 Rawls 2001/2003, 217 149 Gauthier 1986, 218: »The rich man may feast on caviar and champagne, while the poor woman starves at his gate. And she may not even take the crumbs from his table, it that would deprive him of his pleasure in feeding them to his birds.« 147 148

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und Würde sei etwas, was er persönlich immer zu respektieren bemüht sei. Der naturrechtliche Ansatz fordert also einen kausalen Zusammenhang, der eine Schuldzuschreibung erlaubt. Der traditionelle Egalitarismus hält dagegen, dass krasse Ungleichheit der Verteilung von Lebenschancen als solche ungerecht sei, ganz gleichgültig, ob die Inhaber der guten Chancen an den schlechten Chancen anderer schuld seien oder nicht. Das Gerechtigkeitsurteil bezieht sich auf die gesellschaftliche Grundstruktur, nicht auf das Verhalten von Individuen. Eine Gesellschaft, in der Menschen hungern und die Reichen ihr Geld an die Enten verfüttern, sei falsch und ungerecht, völlig einerlei, wie es zu dieser Situation gekommen sei. Entsprechend verlangt der Egalitarismus lediglich einen schwachen kausalen Zusammenhang in dem Sinne, dass der Konsum und das Verfügungsrecht einer Person Ursache dafür ist, dass eine andere Person von Konsum und Verfügungsrecht ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten, das Faktum des räumlichen, rechtlichen und zeitlichen Zusammenseins reicht aus, um Verteilungen hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit zu betrachten. An dieser egalitaristischen Grundhaltung nimmt Rawls eine wichtige Qualifikation vor. Gleichheit, so sein Gedanke, firmiert nicht als hochrangiger intrinsischer Wert. Egalitarismus ist bei Rawls nicht vornehmlich die Sorge um Gleichheit, sondern um die Verbesserung der Aussichten der am wenigsten Begünstigten und den ›fairen Wert der politischen und bürgerlichen Freiheiten‹. Wenn daher eine ungleiche Gesellschaft den am schlechtesten gestellten Mitgliedern materiell bessere Aussichten böte als eine vollkommen gleiche und das System der Grundfreiheiten nicht in Mitleidenschaft gezogen würde, so wäre es irrational, Ungleichheit abzulehnen. Denn es hieße, eine absolute Verbesserung der relevanten Situation auszuschlagen, um eine relative Verschlechterung zu vermeiden. Erst mit Rawls rückt daher eine egalitaristische Legitimation des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus in den Bereich des Denkbaren ein. Der traditionelle Egalitarismus eines G. A. Cohen hält Ungleichheit grundsätzlich für ungerecht und ist eben deshalb mit der Affirmation einer kapitalistischen Produktionsordnung unverträglich. 150 Das Gut ›Gleichheit‹ kann unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen 150

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nicht auf die zugleich triviale und autoritäre Weise hergestellt werden, dass Administrationen gleiche Einkommen zuweisen. Verfügen Individuen über das Recht, Entscheidungen über die Produktion und Transaktion wirtschaftlicher Leistungen im Rahmen der Gesetze souverän zu treffen, und erzielen sie in Abhängigkeit von dem Erfolg dieser Entscheidungen Einkommen, so bedeutet dies die grundsätzliche Anerkenntnis eines Ungleichheiten hervorbringenden Mechanismus – wobei das Ausmaß dieser Ungleichheit politisch (über das Steuer-Transfer-System) beeinflusst werden kann. Aber in welchem Umfang, auf welche Weise und mit welchen Auswirkungen auf den primären Distributionsmodus, dies sind Fragen, die bereits komplexe gesellschaftstheoretische Modelle beanspruchen. John Rawls’ A Theory of Justice stellt insofern das vielschichtige Unternehmen dar, Egalitarismus, Ungleichheit und Marktwirtschaft mit Privateigentum in eine neuartige Konstellation zu bringen. Der Wert Gleichheit soll als mit Ungleichheit vereinbar erwiesen werden, wirtschaftliche Freiheit mit der Vorstellung eines gerechten Verteilungsmusters. Auf den voranstehenden Seiten habe ich ausgeführt, dass der Forderungsgehalt des Differenzprinzips (bei Berücksichtigung empirischer Daten und Modelle) auf eine politökonomische Struktur hinausläuft, die Rawls im Anschluss an James Meade property-owning democracy nennt. Rawls’ Argumentation für das Differenzprinzip will zeigen, dass es im paarweisen Vergleich mit konkurrierenden Prinzipien das überwiegende Gewicht der Gründe auf seiner Seite habe. Ich möchte mich hier nur mit dem so genannten ›zweiten grundlegenden Vergleich‹ beschäftigen. Rawls stellt in diesem Vergleich zwei Alternativen gegenüber: Auf der einen Seite seine beiden als Einheit aufgefassten Gerechtigkeitsprinzipien, auf der anderen Seite eine Alternative, die mit den beiden Grundsätzen identisch ist, außer dass das Differenzprinzip »durch das mit einem geeigneten sozialen Minimum verknüpfte Prinzip des durchschnittlichen Nutzens« 151 ergänzt wird. Mit Rawls unterstelle ich, dieses zweite Gerechtigkeitsprinzip habe als Gesellschaftsideal den kapitalistischen Wohlfahrtsstaat. 152 Rawls 2001/2003, 189 »Ein soziales Minimum, das nur diese wesentlichen Bedürfnisse abdeckt, mag zwar den Anforderungen eines kapitalistischen Wohlfahrtsstaates genügen, aber es ist nicht 151 152

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Wird die von Rawls vorgeschlagene Argumentationsregel ›Urzustand‹ akzeptiert, so setzt die Abwägung der Optionen bei der Tatsache an, dass die entscheidenden Parteien als symmetrisch betrachtet werden; sie wissen, dass die gewählten Prinzipien für freie und gleiche Bürger gelten werden. Aus der Symmetrie der Entscheider ergibt sich Gleichverteilung als natürlicher Ausgangspunkt der Reflexion; da Rawls Ungleichheit als Produktionsfaktor ansieht, können ungleiche Verteilungen zur Besserstellung aller Parteien führen. Die Einkommensfunktion hat jedoch, wie wir in Abbildung 1 sahen, einen Maximalpunkt a – das Differenzprinzip fordert, die Grundstruktur so einzurichten, dass dieser Punkt erreicht wird, während das eingeschränkte Nutzenprinzip erlaubt, über ihn hinauszugehen, gesetzt, dass ein soziales Minimum garantiert wird. Für das Differenzprinzip spricht nun nach Rawls, dass es eine Vorstellung von Wechselseitigkeit zum Ausdruck bringt, die im eingeschränkten Nutzenprinzip nicht enthalten ist. Diese Reziprozität folgt dem Gedanken, dass »soziale Institutionen keine zufälligen Gegebenheiten ausnutzen dürfen, die mit angeborenen Talenten, sozialer Ausgangsposition und im Laufe des Lebens eintretenden Glückfällen oder Pechsträhnen zusammenhängen, außer insofern es allen – einschließlich den am wenigsten Begünstigten – Gewinn bringt.« 153

Der hier formulierte Gedanke ist häufig ausschließlich als Manifestation einer moralischen Intuition ausgelegt worden, der zufolge niemand seine angeborenen Talente in einem moralischen Sinne verdient habe – und deshalb auch niemand ein besonderes moralisches Anrecht auf die aus ihnen folgenden Erträge geltend machen könne. Rawls hat hier aber weniger die Distinktion ›verdient/unverdient‹ im Auge als vielmehr den Umstand, dass soziale Kooperation in einem System der Arbeitsteilung organisiert wird, dessen Produktivität auf der Spezialisierung von Vermögen beruht. Das Wohlergehen aller beruht auf dieser Ausdifferenzierung, und dies bildet den funktionalen Grund der Reziprozität. Die Vielfalt ausgebildeter Vermögen muss

ausreichend für eine Demokratie mit Eigentumsbesitz […], in der die Prinzipien der Fairness-Konzeption der Gerechtigkeit verwirklicht sind.« (Rawls 2001/2003, 204) 153 Rawls 2001/2003, 195

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»deshalb als gemeinschaftliches Guthaben angesehen werden, weil sie zahlreiche Ergänzungsmöglichkeiten der verschiedenen Talente ermöglicht, wenn diese in angemessener Weise organisiert sind, um jene Unterschiede nutzbar zu machen. […] Das haben die Ökonomen schon lange gewusst und mit Hilfe des Theorems der komparativen Vorteile formuliert.« 154

Das Prinzip des eingeschränkten Nutzens trägt dieser im System der Arbeitsteilung angelegten Reziprozität nicht Rechnung und droht daher psychische Spannungen zu produzieren, »die zu Instabilitäten führen können«. 155 Die Entkopplung der Vorteilszuwächse für unterschiedlich positionierte Gruppen verstößt gegen die Tatsache, dass in einem ausdifferenzierten System von Spezialisierung tiefe reziproke Abhängigkeiten bestehen, die naheliegenderweise in Ansprüche auf reziproke Vorteile übersetzt werden. Da eine solche Entkopplung für die schlechter Gestellten schwer zu akzeptieren ist, werden sie mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht bereit sein, dem eingeschränkten Nutzenprinzip zu entsprechen. Es besteht die Gefahr, dass sie gegen die Missachtung der Reziprozität mit Gewalt protestieren oder sich verdrossen von der aktiven Teilnahme in der Gesellschaft zurückziehen. Nur das Differenzprinzip garantiert nach Rawls, dass sich »die am wenigsten Begünstigten als der politischen Gemeinschaft zugehörig fühlen und die öffentliche Kultur mit ihren Idealen und Prinzipien als für sie selbst bedeutsam sehen.« 156

Das aus der Idee der Reziprozität folgende Differenzprinzip ist also nach Rawls vor allem deshalb attraktiv, weil es allen erlaubt, sich als vollgültige Mitglieder der sozialen Welt zu sehen. 7. Robert Nozick hatte in Anarchy, State, and Utopia als Erster Anstoß an Rawls’ Formulierung genommen, dass die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache zu betrachten sei. 157 Diese Kritik ist jüngst in der deutschsprachigen Philosophie in rhetorisch teilweise sehr zugespitzter Form wieder aufgenommen worden. 158 Wenn Rawls davon spreche, natürliche Gaben einer Person seien eine ›Gemeinschaftssache‹, so verstoße er gegen die tiefe Einsicht, dass Freiheit das volle Recht der Verfügung 154 155 156 157 158

Rawls 2001/2003, 125 Rawls 2001/2003, 199 Rawls 2001/2003, 203 Nozick 1974/1999, 213–231 Steinvorth 1999; Kersting 2000, 2002 A

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über die eigene Person voraussetze. Eine Lesart unterstellt Rawls sogar, er erkläre die Individuen zum Eigentum des Kollektivs: »Das Fremdbesitzmodell [der Begabung] findet sich häufig in antiliberalen, kollektivistischen Ethiken, etwa in der Volksgemeinschaftsethik des Nationalsozialismus […] Auch Rawls ist ein Anhänger des Fremdbesitzmodells, wenn er die Begabungen als Gemeinschaftssache betrachtet und den enteigneten Individuen statt des selbstbesitzbegründeten prä-konstitutionellen Verdienstrechtes nur noch institutionenbegründete vernünftige Erwartungen auf einen Anteil der durch die Institutionen festgelegten Verteilung der kooperativ erwirtschafteten Güter einräumt.« 159

Trotz der äußerst fragwürdigen Assoziation mit VolksgemeinschaftsIdeologien macht Kersting hier auf einen Klärungsbedarf aufmerksam: Was genau meint Rawls, wenn er sagt, das Differenzprinzip sei ein Übereinkommen, die Verteilung der natürlichen Talente als Gemeinschaftssache zu betrachten? Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich einen ebenfalls in diesem Zusammenhang aufgebrachten Einwand von Ulrich Steinvorth einflechten. Rawls, so argumentiert er, verwickele sich mit dem Common-asset-Gedanken in einen Widerspruch. Denn zum einen setze er voraus, dass (1) soziale und natürliche Zufallsvariablen festlegten, was aus einem Menschen werde. Zum anderen (2) wolle er natürlich keineswegs den Gedanken aufgeben, dass Menschen für ihr Handeln selbst verantwortlich seien. Dies folge aber aus (1), und »daher ist sein Argument inkonsistent«. 160 Dieser Einwand ist subtiler als der Kerstings, scheint aber ebenfalls am vernünftigen Kern des rawlsschen Gedankens vorbeizuzielen. Steinvorth und Kersting unterstellen Rawls, er sehe die ›natürliche und soziale Lotterie‹ als ungerecht an. 161 Tatsächlich weist Rawls mit der Wendung ›arbitrary from a moral point of view‹ oder ›arbitrary from a moral perspective‹ auf einen logischen Sachverhalt hin.

Kersting 2000, 143–144 Steinvorth 1999, 112. Siehe auch: Nozick 1974/1999, 214. 161 »Der Verfechter der liberalen Gleichheit und der Verfechter der natürlichen oder liberalen Freiheit fechten für dieselbe Sache: für das Recht, unbehindert von sozialen Barrieren über sich und seine Vermögen zu verfügen. Sie kämpfen beide gegen das Unrecht einer sozialen Lotterie, die die Betätigung der eigenen Fähigkeiten behindert.« (Steinvorth 1999, 111) 159 160

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»Die ungleiche Vererbung von Vermögen ist an sich so wenig ungerecht wie die ungleiche Vererbung von Intelligenz.« 162

Es ist einfach ein Umstand in der Welt, wie Niederschlagsmenge oder Erdbebenneigung. Wenn aber die Verteilung natürlicher Vermögen ein Zustand in der Welt ist, so lassen sich aus ihm keine Rechte ableiten, betreffen diese nun die Eigentumsordnung oder das SteuerTransfer-System. Rawls’ Argument trägt schlicht der Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse Rechnung. Ein solcher Fehlschluss bestünde darin, aus einem Faktum (wie dem Verfügen über eine Fähigkeit) ein Anrecht ableiten zu wollen. »Im § 17 der Theorie heißt es, dass wir unseren Ort in der Verteilung angeborener Talente nicht verdienen (im Sinne von ›moralisch verdienen‹). Diese Behauptung ist als moralischer Gemeinplatz gemeint. Wer würde sie bestreiten? Glauben die Menschen denn wirklich, dass sie es (moralisch) verdient haben, mit höheren Begabungen geboren zu werden? […] Glauben sie, sie hätten es verdient, nicht in eine ärmere, sondern in eine reichere Familie hineingeboren zu werden? Nein.« 163

Die Betonung von ›nicht verdient‹ liegt bei Rawls auf ›verdient‹ und nicht auf ›nicht‹. Was nun bei Kersting die ›totalitaristischen Assoziationen‹ auslöst, das ist der Umstand, dass Rawls nicht nur die Verteilung der natürlichen Gaben für eine moralisch arbiträre Tatsache hält, sondern dass er auch den Gedanken natürlicher Eigentumsrechte von Individuen ablehnt. Aber – so möchte man begütigend einwirken – dies ist sicherlich nicht Gelüsten nach totaler Vergemeinschaftung aller Individuen geschuldet, sondern der rawlsschen Begründungskonzeption. Die gesellschaftliche Grundstruktur soll ja unter Bezug auf das Urzustandsargument legitimiert werden – Eigentumsrechte können in dieser Systematik nicht einfach als natürliche Rechte eingeführt werden. Die Frage ist daher, welche Prinzipien unter Freien und Gleichen für die Verteilung der gesellschaftlichen Kooperationserträge Anerkennung finden (würden), wenn unter anderem bekannt ist, dass natürliche Begabungen moralisch kontingent verteilt sind. Rawls’ These lautet bekanntlich, die Wahl fiele auf den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz, der zum einen faire Chancengleichheit fordert und zum anderen soziale und ökonomische Ungleichheit nur gelten lässt, sofern dies den am wenigsten be162 163

Rawls 1971/1979, 311–312 Rawls 2001/2003, 123–124 A

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günstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringt; und – nota bene – dessen Anwendung darf die im Sinne des ersten Grundsatzes rechtlich zu garantierende psychische und physische Integrität der Person nicht verletzen. A Theory of Justice hat mit Bedacht nicht deine und meine Eigenschaften zum Gemeinschaftseigentum erklärt (woher käme dieses Eigentumsrecht?), sondern davon gesprochen, dass die Verteilung der natürlichen Begabungen vom Differenzprinzip als Gemeinschaftssache betrachtet wird. Es handelt sich also bei der Rede vom common asset nicht um ein fundierendes ›Lehrstück‹, sondern um eine Sichtweise, die nach Rawls im Differenzprinzip enthalten ist; das Differenzprinzip selbst nimmt jedoch überhaupt nicht direkt Bezug auf jemandes natürliche oder nicht-natürliche Gaben, sondern auf seine im Rahmen eines Grundgüterindex bestimmte Wohlfahrtsposition (es unterscheidet entsprechend nicht zwischen ›verdienter‹ und ›unverdienter‹ Ungleichheit). Daher kann und will Rawls auch nicht die völlige Aufhebung der aus natürlichen Ausstattungen resultierenden sozialen Ungleichheiten fordern. Vielmehr fordert er, dass diese Unterschiede auch den am wenigsten Begünstigten zugute kommen. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass sich in bestimmten Fällen aus der Betrachtung einer Sachlage allein eine moralische Einschätzung von Eigentumsverletzungen aufdrängen kann. Ein Siedler, der herrenloses Land urbar macht, ein Haus baut, Möbel zimmert, sieht alle diese Dinge ›natürlicherweise‹ als sein Eigen an. Die rechtlichen Eigentumsverhältnisse fließen gleichsam aus der Sachlage, so dass man mit Blick auf einen solchen Fall von ›verdienstethischem Naturalismus‹ sprechen könnte, wie Kersting dies tut. Doch enden die Intuitionen über die richtige Zuordnung von Eigentumsrechten, wenn Leistungen aus komplexen und anonymen Kooperationsverhältnissen hervorgehen. Für die Theorien der frühen Neuzeit war Landnahme und -bebauung sowie die Inbesitznahme und Ausbeutung natürlicher Ressourcen der Inbegriff des Eigentumserwerbs. Für entwickelte kapitalistische Märkte werden die auf dieser Grundlage gewonnenen Vorstellungen ursprünglicher Appropriation allerdings weitgehend unbrauchbar, unter anderem weil das ökonomische Schlüsseleigentum in Wissen besteht, das kooperativ hervorgebracht und kollektiv gehalten wird. Die Eigentumsverhältnisse bezüglich kooperativ hervorgebrachten und kollektiv gehaltenen Wissens fließen nicht aus der Sachlage, wie bei der Inbesitznah168

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me natürlicher Ressourcen oder dem individuellen Erstellen einer Leistung. Alle Schritte in dem System der Arbeitsteilung werden gleichermaßen benötigt, aber nicht alle werden gleich entlohnt. Rawls fragt nun, unter welchen Bedingungen diese Ungleichheit als gerechtfertigt gelten kann. Welche Gründe könnten die mitunter dramatischen Einkommensdifferenzen rechtfertigen? Unabhängig davon, wie diese Frage zu beantworten wäre – eines lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen: Wenn es solche guten Gründe gäbe, bestünden sie nicht in natürlichen Rechten. Denn selbst wenn ein natürliches Recht auf den Marktwert der eigenen Begabungen existierte, hinge dieser Wert von kollektiv verbindlichen Regeln über Art und Umfang der Eigentumsrechte ab – und wir verfügen über keine befriedigende Theorie ursprünglicher Appropriation, die uns etwas darüber sagte, wie die Erträge arbeitsteiliger Produktion auf legitime Weise zugewiesen werden. Unabhängig von kollektiv verbindlichen Regeln hat daher die Rede von ›gerechten Früchten der eigenen Arbeit‹ in arbeitsteiligen Gesellschaften wenig Sinn. 164 8. Für Rawls’ Argumentation zugunsten des Differenzprinzips hängt nichts Wesentliches von der Unterscheidung zwischen ›verdienten‹ und ›unverdienten‹ Vorteilen ab. Der moderne Egalitarismus wird häufig als Position gekennzeichnet, die ausschließen möchte, dass unverdiente Nachteile Einfluss auf das Wohlergehen oder die Lebensaussichten von Personen haben. In diesem Sinne hat Dworkin von gerechten Regeln über die Ressourcenverteilung verlangt, sie sollten anstrengungsabhängig sein, aber ausstattungsunabhängig; sie sollten – mit anderen Worten – die materiellen Möglichkeiten an moralische Kriterien binden. 165 Diese Idee leistet der Common-sense164 »There is no sense to the idea that talents can simply be exercised by those who own them apart from any social framework whatsoever. And there is no sense to the idea that there is a natural phenomenon called ›reaping the benefits of one’s talents‹ which is understood apart from the social arrangements and institutions that define one’s relationships to other people.« (Waldron 1988, 404) 165 Rawls weist die Idee, Gerechtigkeit bestünde in einer Verteilung gemäß Verdienst, scharf zurück. »Der gemeine Menschenverstand neigt zu der Auffassung, dass Einkommen und Vermögen und die Güter des Lebens überhaupt gemäß dem Verdienst verteilt werden sollen.« (Rawls 1971/1979, 344) Aber: »Ein solcher Grundsatz würde im Urzustand nicht beschlossen werden; das entsprechende Kriterium schiene gar nicht definierbar zu sein.« (Rawls 1971/1979, 345)

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LEGITIMATIONSSTRATEGIEN

Vorstellung von Verdienstlichkeit Genüge. In gleicher Weise äußert sich Stefan Gosepath: »Ungleiche Anteile an Gütern sind dann fair, wenn sie erarbeitet sind und verdientermaßen zufließen, das heißt, wenn sie sich aus den Entscheidungen und absichtlichen Handlungen der Betreffenden ergeben. Unfair ist die Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund willkürlicher und unverdienter Unterschiede in den sozialen Umständen und natürlichen Gaben.« 166

Hier stellen sich zwei Fragen. (a) Die eine lautet, ob nicht auch unverdiente Vorteile moralische Anrechte begründen. Vorteile, die jemand durch seine soziale Herkunft erlangt, sind zwar unverdient, aber nicht unbedingt deplorabel oder unverbindlich. Selbst wenn Karrierevoraussetzungen, wie gute Sprachbeherrschung und feine Umgangsformen, soziale und persönliche Tugenden mit Einkommen und Vermögen des Elternhauses korrelieren würden, wären doch Einkommen und Vermögen nicht die Ursachen jener Begabungen. Vielmehr spiegelt sich in ihnen die persönliche Bereitschaft und Fähigkeit von Eltern, Bedingungen zu schaffen, unter denen die genannten Eigenschaften erworben werden können. Von diesen Ursachen besserer Aussichten lässt sich sicher nicht sagen, sie seien moralisch unverbindlich. Wenn dies so ist, fragt sich, mit welchem Recht Staaten mit den moralischen Entscheidungen von Familienangehörigen interferieren. Übertritt der Staat hier nicht die Grenze, die ihm durch liberale Rechte gezogen ist? (b) Zum anderen ergibt sich aus der Forderung nach anstrengungsabhängigen, aber ausstattungsunabhängigen Institutionen, dass das Steuer-Transfer-System so gestaltet werden muss, dass der verdiente Einkommens- und Vermögensanteil unangetastet bleibt und der bloß zugefallene umverteilt wird. Dies scheint mit nicht unbeträchtlichen administrativen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Beide Punkte sprechen dafür, der Unterscheidung ›verdient/unverdient‹ bei der Rechtfertigung von Umverteilung keine allzu große Bedeutung beizumessen. Das ist – wie gesehen – auch nicht nötig. Wenn zwischen dem voraussichtlichen eigenen Lebenseinkommen, der sozialen Herkunft und den natürlichen Begabungen, wie der Intelligenz und Ähnlichem, keine signifikante Korrelation existiert, dann steht das Steuer-Transfer-System folglich auch nicht vor dem Problem, zwischen verdientem und unverdientem Anteil unterschei166

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Gosepath 1998, 177

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den zu müssen. Redistribution lässt sich dann als eine echte Versicherung gegen Einkommensrisiken interpretieren. 9. Rawls’ Lösung des Problems einer Legitimation des Status quo führt – wie wir gesehen haben – auf das Ideal der Eigentümer-Demokratie. Die Zurückweisung jeglicher Umverteilung durch den naturrechtlichen Paretianismus von Nozick hat sich ebenso wenig als überzeugend erwiesen wie der buchanansche Versuch, das Problem des Status quo gänzlich aus der gerechtigkeitstheoretischen Reflexion auszuklammern. Gesellschaftliche Verteilungskonflikte erzeugen das Bedürfnis nach einer Argumentationsregel, die von den Ursachen der Uneinigkeit zu abstrahieren erlaubt. Doch auch wenn man den Überlegungen von Rawls bezüglich der Eigenschaften einer solchen Argumentationsregel folgt und sich ihm überdies anschließt hinsichtlich der (aufgrund der Argumentationsregel) zu favorisierenden politökonomischen Ordnung: selbst dann ist noch gänzlich ungeklärt, welche Erwartungen realistischerweise an die Empfehlungen normativer Theorie geknüpft werden können. Der Gedankengang von Rawls steht im Zeichen einer Reihe idealisierender und normalisierender Modellannahmen. Er beansprucht keine realistische Sicht der Motivation von realen Akteuren oder der Eigenschaften realer politischer Prozesse. Im folgenden Kapitel möchte ich daher Überlegungen aufnehmen, denen zufolge der Status normativer Theorie und deren Politikempfehlungen sich grundlegend ändern, wenn ein realistischer Standpunkt eingenommen wird.

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II. REALISMUS UND NORMATIVE GELTUNGSANSPRÜCHE

»It is a capital mistake to theorise before one has the data.« (Sherlock Holmes)

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1. Die Herausforderung normativer Theorie durch den libertären Realismus

1. Mitte der Achtzigerjahre stellte Jürgen Habermas einen ungewöhnlichen Zusammenhang her: Er brachte die »Krise des Wohlfahrtsstaates« mit einer »Erschöpfung utopischer Energien« in Verbindung. Es sehe so aus, schrieb er, »als seien die utopischen Energien aufgezehrt, als hätten sie sich vom geschichtlichen Denken zurückgezogen«. 1 Auf philosophischer Ebene manifestiere sich dieses Phänomen im Erfolg der vernunftkritischen Philosophen von Heidegger bis Derrida. Diese hätten aus den dysfunktionalen Nebenfolgen gesellschaftlicher und technologischer Modernisierung den Schluss gezogen, das Projekt der Moderne als solches sei an ein Ende gelangt. An die Stelle utopischen, auf die Fortsetzung des emanzipatorischen Programms setzenden Denkens sei die Analyse einer aussichtslosen Dialektik der Aufklärung getreten. 2 Habermas hält dies für einen verhängnisvollen Fehler. Die gegenwärtigen Erfahrungen der Krise beglaubigten nämlich nicht die Unmöglichkeit der Utopie als solcher. »An ein Ende gelangt ist vielmehr eine bestimmte Utopie, die sich in der Vergangenheit um das Potential der Arbeitsgesellschaft kristallisiert hat.« 3

Auf dieser Utopie, die von der Befreiung des Menschen von heteronomer Arbeit handele, beruhe auch der Sozialstaat. In einer forcierten Form spricht die arbeitsgesellschaftliche Utopie von einer Aufhebung der Warenform der Arbeitskraft, einer Überführung von Arbeit in Selbsttätigkeit. Die Wohlfahrtsstaaten der westlichen Welt hätten diese Utopie dagegen in einer abgeschwächten Weise verfolgt, indem sie angetreten wären, die Arbeitsmärkte durch politisch-recht1 2 3

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Habermas 1985, 143 Eine ausführliche Darlegung dieses Zusammenhangs bietet: Habermas 1986. Habermas 1985, 145

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liche Interventionen zu humanisieren: Zum einen durch Kompensationen für Risiken, die mit abhängiger Arbeit verbunden sind (Erwerbslosigkeit, Unfälle, Krankheit, Altersarmut), zum anderen durch wirtschaftspolitische Interventionen, durch die Konjunkturschwankungen moderiert werden sollten. 2. Erläutert man ›Utopie‹ als Vorstellung eines zukünftigen gesellschaftlichen Zustandes, der durch politisches Handeln herbeigeführt werden könnte, so mag deren Kritik zum einen aus einer skeptischen Einschätzung der Möglichkeiten politischer Gestaltung resultieren, zum anderen aus einer Ablehnung der Ideale, um die es einer gegebenen Utopie zu tun ist. Mit anderen Worten, es gilt eine antiutopische und eine gegenutopische Kritik von Utopien zu unterscheiden. Habermas sagt in seinem Beitrag nicht viel über die liberale Tradition oder die liberale Ökonomie, aber er streift sie unter dem Rubrum ›Neokonservatismus‹. Neokonservativ nennt er die politische Ausrichtung der Thatcher- und Reagan-Administration sowie die der Regierung Kohl. Die neokonservative Reaktion auf die Krise des Wohlfahrtsstaates hält Habermas für antiutopisch, insofern sie nicht aus einem normativ begründbaren Ideal von Gesellschaft hervorgehe, sondern allenfalls (scheinbar) pragmatische Lösungen für (vornehmlich) fiskalische Probleme produziere. Scheinbar pragmatisch, weil befürchtet werden müsse, dass die Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses Funktionslücken hinterlasse, die nur durch Repression oder Verwahrlosung zu schließen seien. 4 Normativ wirft dies nach Habermas ohnehin Fragen auf; überdies ist aber ihm zufolge unsicher, ob eine solche Strategie des utopielosen Retrenchment funktionieren kann. 5 Ganz ähnliche Stellungnahmen hat Habermas auch in jüngeren Schriften abgegeben. 6

Habermas 1985, 154–155 Rückblickend lässt sich sagen, dass weder in Großbritannien noch in den Vereinigten Staaten die Sozialquote drastisch vermindert oder die Struktur des Wohlfahrtsstaates grundlegend geändert wurde. »In neither country has there been a marked curtailment of social expenditure or a radical shift toward residualization. […] The Thatcher government did have some success in reducing the political influence of welfare state supporters – and of unions in particular – but its overall record could not be regarded as one of notable systematic retrenchment.« (Pierson 1994, 131) 6 Habermas 1996, 1998 4 5

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»Die Antworten der […] Neokonservativen bewegen sich im Medium eines Zeitgeistes, der nur noch defensiv ist; sie drücken ein Geschichtsbewusstsein aus, das seiner utopischen Dimension beraubt ist.« 7

3. Die These von der Utopielosigkeit und antiutopischen Ausrichtung liberaler Ökonomie ist nicht unbegründet. Die Public-ChoiceSchule, die Verfassungsökonomik, der ökonomische Ansatz zur Analyse menschlichen Verhaltens haben auf je eigene Weise Affinitäten zu einer liberalen politischen Programmatik, aber sie betonen je verschieden ihre Distanz zum Normativismus der Politischen Philosophie oder der Wohlfahrtsökonomie – und erst recht zur Tradition utopischen Denkens. Here and now, sagt Buchanan, sei der Ansatzpunkt jeglicher Reformanstrengung, aber auch jeglicher politischen Legitimation. Konsens über Regeln wird nicht, wie bei Habermas, als Ergebnis eines wahrheitsanalogen Geltungsdiskurses unter idealen Bedingungen gedacht, sondern als gelingender Kompromiss unter hinreichend restringierten Informationsbedingungen. 8 Während die buchanansche Verfassungsökonomie normativen Begründungen und moralischen Motiven 9 Bedeutung zugesteht (wenn auch in einer gegenüber der politischen Philosophie und dem utopischen Denken abgeschwächten Form), nehmen sie in der Public-Choice-Schule den Charakter einer bloßen Kaschierung von Machtinteressen an.

1.1. Libertärer Realismus 4. Ein Verständnis der libertären Positionen kann nicht ohne Berücksichtigung der teils impliziten, teils expliziten universalhistorischen Perspektive gelingen, der zufolge die Appropriierung von Ressourcen Ziel und Entstehungsursache hoheitlicher Macht ist. Ich bezeichne diese Perspektive als libertären Realismus. Während ein (ebenfalls libertärer) Autor wie Nozick davon ausgeht, dass Schutzorganisationen sich als Agenten getreu dem Auftrag der Prinzipale verhalten werden, nimmt der libertäre Realismus eine Interessendivergenz zwischen beiden an. Die Konzentration von Machtmitteln generiert neue strategische Optionen für die Schutz7 8 9

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Habermas 1985, 157 Buchanan 1989/1991, 51–64; Habermas 1999, 271–318 Buchanan 1991a, 153–157; Brennan & Buchanan 1985/1993, 177–198

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organisationen. Statt der Erfüllung des ursprünglichen Auftrags bietet sich die Möglichkeit, Erträge produktiver Kooperationen zum Nutzen der Organisation abzuschöpfen. Dieser Analyseperspektive entspricht es, die Genese des Staates nicht als Resultat normorientierter Handlungen zu betrachten, sondern als das Ergebnis von Gewalt und Unterwerfung. In diesem Sinne bezeichnet Gordon Tullock das an der Maximierung des Autokratennutzens ausgerichtete Regime als den historischen Normalfall von politischer Herrschaft. 10; 11 In Modellen der Neuen Politischen Ökonomie wird entsprechend gefragt, unter welchen Bedingungen Gewaltmonopolisten darauf verzichten werden, ihre Zwangsmittel zur Appropriierung der gesellschaftlichen Ressourcen zu benutzen, sich also nicht als reine »Kleptokraten« verhalten werden. Entscheidend für die libertäre Sicht ist nun, dass sich – wenn überhaupt – Ausbeutung als der gewöhnliche Funktionsmodus des Politischen nur über institutionelle Arrangements ändern lässt, die dem Appropriierungstreben der Inhaber hoheitlicher Macht Grenzen auferlegen. 12 Als die angemessene Analyseperspektive wird allerdings weiterhin angesehen, dass politische Gewalt – wann immer mög»[T]he dominant form of government in the world today is dictatorship« (Tullock 1994, 141). Er äußert diese Ansicht auch in Tullock 1987, passim. 11 Der Blick in Geschichtsbücher und in Berichte über die zeitgenössische Weltpolitik zeigt, dass diese Sicht nicht völlig abwegig ist. Leben und Vermögen von Privatleuten waren und sind durch die Willkür der Gewaltmonopolisten- oder -oligopolisten kaum weniger bedroht als durch die Nachstellungen von Piraten und anderen outlaws. Die europäischen Pionierunternehmer des 14. und 15. Jahrhunderts sahen sich im Erfolgsfall dem Risiko der Einkerkerung und Enteignung, schlimmstenfalls der Ermordung der ganzen Familie ausgesetzt. »Der Aderlass der ersten Bankiers-Generationen«, schreibt der Historiker Hellmut Diwald, »war erschreckend gewesen. Die Templer, denen niemals ein Vergehen hatte nachgewiesen werden können, hatte der französische König verhaften, foltern, hinrichten lassen – aus Geldgier und Neid. Die Florentiner Bankhäuser der Acciaiuoli, Peruzzi und Bardi – gerühmt in Europa als die ›Säulen der Christenheit‹ – hatten dem englischen König ungeheure Beträge für seinen Krieg gegen Schottland und die Rüstungen gegen Frankreich vor dem Hundertjährigen Krieg vorgeschossen. Als der Fälligkeitstermin herangerückt war, hatte Eduard III. die Rückerstattung verweigert, einerseits wegen Zahlungsunfähigkeit, andererseits aus Zahlungsunwilligkeit. Deswegen waren 1343 in Florenz die Peruzzi und andere Geldinstitute zusammengebrochen, hatte drei Jahre später auch der Finanzgigant Bardi Bankrott erklären müssen.« (Diwald o. J., 214) 12 »Our approach is based on the idea that, insofar as this pursuit of self-interest does take place, it should be taken into account in the organization of the political constitution. Only in this way can the institutional setting for collective choice-making be con10

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lich – genutzt werden wird, um die Kontrolle über Erträge produktiver Tätigkeiten anderer zu erlangen: Entweder indem ihnen die übermäßige Finanzierung von staatlich produzierten Gütern zugemutet wird oder indem ihnen Ressourcen entzogen werden, um sie direkt an andere zu transferieren. Ausbeutung wird daher zu einer zentralen analytischen Kategorie, allerdings nicht im Sinne einer marxistischen Arbeitswertlehre. Vielmehr bezeichnet sie die Nutzung hoheitlicher Macht, um die Leistung von Beiträgen in einer Höhe zu erzwingen, welche die Zahlungsbereitschaft für die Ziele staatlicher Tätigkeit übersteigt. Während in totalitären Staaten die Beitragsleistungen durch direkte Ausübung rechtsförmiger Gewalt erzwungen werden, nimmt die Ausbeutung in demokratischen Regimen subtilere Formen an, indem Informationsasymmetrien 13 und Probleme kollektiver Mobilisierung durch Partikularinteressen ausgenutzt werden. 14 Dabei können (a) Ziele gefördert werden, die unter Bedingungen vollständiger Information keine demokratischen Mehrheiten auf sich versammeln würden, oder (b) Mittel zur Erreichung mehrheitsfähiger Ziele institutionalisiert werden, die Lasten ungerecht verteilen und bei entsprechender Information durch die Wählerschaft nicht gewünscht würden. Ein Beispiel für (a) bietet die Protektion von wirtschaftlichen Sonderinteressen durch Schutzzölle, für (b) die Finanzierung von Transfers in die ostdeutschen Länder durch Steueraufschläge auf die Einkommen abhängig Beschäftigter. Der libertäre Realismus supponiert, dass sowohl (a) als auch (b) im normalen demokratischen Prozess erfüllt sind: Gruppen, die den politischen Entscheidungsprozess zu kontrollieren vermögen, versuchen, objektiv (das heißt unter hinreichend guten Informationsbedingungen) nicht mehrheitsfähige Ziele zu fördern oder die Lasten von mehrheitsfähigen Zielen auf andere Gruppen abzuwälzen oder beides. Von einer Position, die als heuristischer Realismus bezeichnet werden könnte, unterscheidet den libertären Realismus, dass er (a) structed so as to confine the exploitation of man by man within acceptable limits.« (Buchanan & Tullock 1965/1983, 305) 13 »Eine erste Ursache für die Macht der Interessenverbände, staatliche Maßnahmen zu beeinflussen, ist darauf zurückzuführen, dass Wähler, Parteien und Regierungen Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen haben und die Interessenorganisationen fähig sind, wichtige Informationen über bestimmte Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft zu liefern und in ihrem Sinne zu beeinflussen.« (Bernholz & Breyer 1972/1994, 169) 14 Olson 1965/1968

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und (b) nicht als Suchregeln versteht, um Verzerrungen in der Repräsentation kollektiver Interessen systematisch aufzuspüren, sondern als eine Aussage über die politische Realität in demokratischen Gesellschaften. 15 Als Remedur gegen die asymmetrische Repräsentation von Interessen durch den politischen Prozess wird empfohlen, Staatstätigkeit nur in solchen Fällen zuzulassen, in denen Leistungen nicht zwanglos durch gesellschaftliche Akteure, wie Unternehmen, Vereine, Stiftungen, Bürgerinitiativen oder Haushalte erbracht werden können. Der Gebrauch politischer Macht zu Ausbeutungszwecken soll somit durch eine Hegung staatlicher Eingriffskompetenz abgewehrt werden. Hegung muss aber nicht auf dem radikalen Wege der Beschränkung auf rechtsstaatliche Sicherungsaufgaben und das Angebot öffentlicher Güter geschehen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Bindung der Politik an konkrete konstitutionelle Regeln, durch welche die Kosten der Bildung von Mehrheitskoalitionen steigen und entsprechend die Nachfrage auf dem Markt für politischen Einfluss abnimmt. Die Konkretheit der konstitutionellen Regeln ist unabdingbar, weil andernfalls deren Gehalt in einer reinen Mehrheitsdemokratie durch arbiträre und instabile Verteilungskoalitionen bestimmt werden kann. 16 Gegen Jeremy Waldrons Einschätzung wäre somit festzuhalten, 17 dass die Würdigung eines politischen Programms, das economic liberties schützen möchte, nur geschehen kann, wenn zwei Gefahrentypen gegeneinander abgewogen werden: die Gefahr der Ausbeutung durch die Inhaber überlegener wirtschaftlicher Macht auf Märkten gegenüber der Gefahr der Ausbeutung durch die Inhaber hoheitlicher Macht in Herrschaftsverhältnissen. Komplementäre perspektivische Verkürzungen liegen dann vor, wenn das Bestehen der einen oder der anderen Gefahr a limine bestritten wird. Eine klassische Analyse bietet: Buchanan & Tullock 1965/1983, 283–295. Blankart 1991/1994, 87–89 17 Waldron 1987/1993, 37, 38: »For one thing, many liberals will argue that right-wing economists have abused and wrongfully appropriated the language of freedom: they affect to be concerned with freedom generally, but it turns out to be the freedom of only a few businessmen that they are worried about and not the freedom of those they exploit or those constrained by the enforcement of their property rights. Freedom for the few, these liberals will say, is an unattractive political ideal since, under plausible assumptions, it means oppression and constraint for the many. A more attractive ideal would be equal freedom for everyone.« 15 16

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Noch ein letzter Punkt: Es ist wichtig zu sehen, dass der libertäre Realismus von gänzlich anderen Problemformulierungen ausgeht als der naturrechtliche Nozicks. Dessen Ausbeutungsbegriff fußt auf der Idee, dass – mit entsprechendem historischen Wissen – für jede Person bestimmt werden könnte, auf welche Güter und Leistungen sie ein Recht hätte. Dieses Recht wird gestiftet durch die komplette Serie legitimer Akquisitionen und Transfers sowie die Menge der Entschädigungen, die einer Person aufgrund erlittenen Unrechts zustehen. Wird in diese Rechtsposition – im Namen welcher (normativen) Ziele auch immer – eingegriffen, so schließt dies eine Verletzung der primordialen Rechte von Individuen ein. Der libertäre Realismus wählt eine völlig andere Perspektive. Er behauptet nicht, dass redistributive Besteuerung und Zwangsarbeit moralisch auf einer Stufe stehen. Vielmehr geht er davon aus, dass grundsätzlich beliebige politökonomische Systeme gerechtfertigt werden können, wenn dies den Präferenzen der Rechtsunterworfenen entspricht. Der Ausbeutungsbegriff nimmt entsprechend nicht Bezug auf primordiale Rechte, sondern auf den Gedanken der Freiwilligkeit, gegen den sowohl in der Ziel- als auch in der Mittelwahl verstoßen werden kann. Dies ist jedoch letztlich eine Frage der realen Zustimmung oder Ablehnung unter geeigneten Regeln. 1.1.1. Ist der Antinormativismus ein Realismus? 5. Der von Waldron als reaktionär gescholtene Antietatismus von Marktliberalen 18 stellt sich in anderem Licht dar, wenn dessen universalhistorische und politiktheoretische Sichtweise mit in Betracht gezogen wird. In der starken Diskontierung der Bedeutung von normativen Orientierungen für das tatsächliche politische Handeln ergeben sich Berührungspunkte mit dem Realismus der historischen Materialisten, möglicherweise sogar mit der machttheoretischen Perspektive Foucaults. Freilich macht der libertäre Realismus weder von dem Konzept der Klasse Gebrauch (dem steht – aus seiner Sicht – das Problem der Konstitution kollektiver Interessen entgegen), noch konstruiert er eine funktionalistische Erklärung für das Verhältnis von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur ist die Einschätzung verbreitet, dass der libertäre Realismus der modernen politischen Ökonomie 18

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Siehe Teil I, 1: ›Schismen‹

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die legitime Fortsetzung des klassischen Liberalismus darstelle. Realistisch ist es ihr zufolge, der prozesspolitischen Umsetzung von Normen zu misstrauen und als das zentrale Problem des Politischen die gleichzeitige Sicherung des Rechts durch und gegen den Staat zu kennzeichnen. Sie nähert sich dem Staatsideal des klassischen Liberalismus somit aus Richtung einer Skepsis gegenüber den Ansprüchen normativer Theorie an – und dies scheint ihr besondere Stärke und Überzeugungskraft zu verleihen. Für Gordon Tullock oder Richard Posner 19 gehört die Rede über künftige Möglichkeiten ›eines kollektiv besseren […] Lebens‹ oder ›soziale Gerechtigkeit‹ in eine die wirklichen Verhältnisse verschleiernde politische Phraseologie. »Moral principles«, schreibt Gordon Tullock, »do have one political effect: they create a market for rationalizations.« 20 Ein Markt für Rationalisierung ist ein Markt, auf dem Scheingründe gehandelt werden, um den Interessen, um die es eigentlich geht, das Ansehen der allgemeinen Wünschbarkeit zu verschaffen. Empirisch gestützt wird diese Anschauung Tullocks beispielsweise durch die Tatsache, dass ein bedeutender Teil der staatlichen Transfers nicht etwa an die Bedürftigen gehe, sondern an die Mittelklasse. 21 Entsprechend sei das wesentliche Motiv für hoheitliche Einkommenstransfers einfach, dass einflussreiche gesellschaftliche Gruppen Ressourcen wollten und dieses Ziel mit Hilfe staatlicher Macht erzwängen. 22 Aus dieser Annahme folgt die Hypothese, dass staatliche Umverteilungsprogramme keine klare Richtung bezüglich sozialer Gruppen aufweisen, sondern die vielfachen Kontingenzen politischer Mehrheitsbildung spiegeln, eine Hypothese, die durch empirische Befunde weitgehend gestützt wird. 23 Dass Wohlfahrtsstaaten ihre erklärten Umverteilungsziele, also insbesondere die Verbesserung der Situation der untersten Einkommensgruppe, nur unzulänglich erreiPosner 1999, passim Tullock 1983, 26 21 Gouyette & Pestieau 1999 22 »All of this may sound hypocritical, and I suppose it does meet the formal meaning of that term, but I do not think there is any conscious hypocrisy. We live in a society in which everyone talks as if they want to redistribute a great deal, but in which people, in fact, redistribute very little to the poor.« (Tullock 1983, 76) 23 »[…] the most salient feature of this process of redistribution is probably its lack of a single-directional flow.« (Mueller 1989, 332) 19 20

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chen, dass vielmehr die mittleren Einkommensschichten es sind, die am meisten begünstigt werden, wird durch die empirische Forschung länderübergreifend bestätigt. 24 Aus der Ineffizienz bestehender Verteilungsarrangements lässt sich zwar nicht schließen, dass die ihnen zugrunde liegenden Begründungen illusionär, vorgeschoben oder in anderer Weise inadäquat seien. Der Befund reicht jedoch aus, der These Nachdruck zu verleihen, dass die motivationalen Bedingungen nicht gegeben seien, unter denen diese Forderungen verwirklicht werden könnten. Mit anderen Worten, er lässt sich als Ausdruck eines elementaren und unabänderlichen strukturellen Hindernisses und nicht als Manifestation eines Umsetzungsdefizits deuten. Was aus Sicht normativer Theorie als Ineffizienz erscheint, wird als die verhehlte Absicht der wohlfahrtsstaatlichen Intervention ausgelegt. Das Defizit normativer Theorie besteht demnach aus Sicht des libertären Realismus darin, die motivationalen Tatsachen einer Welt zu ignorieren, in der die Eigeninteressen von Akteuren konfligieren. Der Non-Interventionismus der Public-Choice-Ökonomie ergibt sich in dieser Lesart aus einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Begründbarkeit politischer Umverteilungsansprüche angesichts realer und machtpolitisch auszutragender Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Da sich das Handeln realer Akteure durchgängig an den eigenen Interessen orientiere, habe politische Legitimation nur dann Relevanz, wenn sie interessenkompatible Lösungen von Konflikten entwickle. Daraus ergibt sich, was Buchanan einmal »the simple logic of agreement on Pareto-relevant reform« nannte. 25 Sie stellt Zustimmung sicher, indem sie allen einen Nettovorteil verDies hat eine Reihe von Ursachen. Zum einen den so genannten Matthäus-Effekt, dem zufolge denen gegeben wird, die bereits haben. Angehörige der Mittelschichten sind besser als die eigentliche Zielgruppe über staatliche Subventionen informiert. »For cultural and institutional reasons, well-off social groups often benefit from social provisions intended for households belonging to disadvantaged groups.« (Gouyette & Pestieau 1999, 539). Zum anderen wird die Legislation von den Interessenpositionen der Mittelklasse in einer Weise geprägt, die durch das Medianwähler-Modell approximiert werden kann. Zuletzt ist mit politischen Gestaltungsfehlern und dadurch bewirkten kontraintentionalen Effekten auch im Sozialbereich zu rechnen. Einen speziellen Fall von Kontraintentionalität (besonders wichtig für klassische Liberale in der Tradition Tocquevilles) stellt die Verdrängung von privat-altruistischer durch staatliche Umverteilung dar. Siehe hierzu: Goodin 1993 sowie Hochman & Rogers 1969 25 Buchanan 1991, 101 24

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spricht. Das Bestechende dieser Logik scheint zu sein, dass sie nicht nur Legitimität beschafft, sondern auch Durchsetzbarkeit garantiert. Reformen, die allen einen Nettovorteil verheißen, werden von rationalen Akteuren angestrebt werden. 26 Pareto-verbessernde Reformen umreißen die Menge kollektiver Entscheidungen, auf die sich rationale Akteure zwanglos einigen würden. Die Frage, ob die Einengung des Legitimationsmodells auf Pareto-Verbesserungen eine angemessene Repräsentation liberaler Grundüberzeugungen darstellt, möchte ich zurückstellen. Hier geht es mir um eine Erörterung der Aussage, dass die Skepsis der modernen politischen Ökonomie gegenüber normativen Argumenten, die über das Prinzip der Pareto-Verbesserung hinausgehen, realistisch sei, der Gebrauch solcher Argumente hingegen weltfremd, utopisch, naiv. Diese Aussage wird damit begründet, dass rationale Akteure nicht motiviert werden können, gemäß derartigen Argumenten zu handeln. Da diese etwas verlangten, was jene nicht könnten, seien sie nicht gültig. Entscheidend ist, den Status des Gesagten angemessen zu bestimmen. Denn der motivationale Einwand wird nicht empirisch begründet, sondern in das Erklärungsmuster der Theorie eingelassen. Er ist, um Kant zu paraphrasieren, a priori und unabhängig von aller Erfahrung gewiss. Es ist grundsätzlich methodologisch nicht anstößig, empirische Sachverhalte entlang der Linien apriorischer Annahmen zu erklären. Allerdings kann für diese theoretische Operation nicht a priori der Vorzug reklamiert werden, sie sei realistisch. Was als der Realismus der modernen politischen Ökonomie apostrophiert wird, ist – streng genommen – eine theoretische Annahme über menschliche Motivation, die a limine nicht realistischer ist als das in normativer Theorie Vorausgesetzte. Man muss diesen Punkt sogar offensiver vertreten: Das Wahlparadoxon und andere Beispiele zeigen, dass dem Erklärungsanspruch einer nicht-tautologischen Theorie ökonomisch-rationalen Verhaltens enge Grenzen gesetzt sind.

Dies freilich ist eine vereinfachende Aussage: Buchanan weist darauf hin, dass Pareto-verbessernde Reformen blockiert werden können (a) durch normative Überzeugungen oder (b) Versuche, politische Ziele durch Zusammenbringen von politischen Interessenkoalitionen zu erreichen. Im ersteren Fall werden Kompensationen als moralisch inakzeptabel betrachtet, im zweiten wird die Legitimationsproblematik in eine der Machtausübung überführt. Siehe: Buchanan 1991, 102–105

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6. Unter einer tautologischen Theorie ökonomisch-rationalen Verhaltens verstehe ich eine, die beliebige Sachverhalte als Objekte von Präferenzen zulässt und lediglich behauptet, dass Akteure aus einer Menge solcher Objekte dasjenige auswählen, das ihnen am besten erscheint. Objekte von Präferenzen können in diesem Verständnis Konsumgüter, Reiserouten, Finanzierungsmöglichkeiten, Raumaufteilungen, Mannschaftsaufstellungen, Ehepartner, letztlich auch Gründe, Werte und Normen sein. Die Möglichkeit einer Ausdehnung des Präferenzkonzeptes auf Gründe ist interessant, insofern sie eine deliberative Dimension in den Präferenzbegriff einführt. Gründe sind Objekte abwägender Urteile, die in ihrem Verhältnis, ihrer Triftigkeit, ihrem relativen Gewicht bestimmt und zu einer abschließenden Entscheidung gebracht werden müssen. Da dieses abschließende Urteilen über Gründe selbst als ein Präferieren beschrieben werden kann, lassen sich Gründe formal als Objekte von Präferenzen repräsentieren. Die Bildung einer Präferenz hat dann den Charakter der Antwort auf eine praktische Frage der Form: Was ist (in S für P) am besten zu tun? Sie geschähe demnach im »Vorgriff auf die Richtigkeit«. 27 Die tautologische Interpretation ökonomisch-rationalen Verhaltens legt sich jedoch nicht auf die These fest, dass daraus ein inhärenter Rechtfertigungsbezug allen Handelns folgt. Vielmehr geht es ihr um eine Neutralisierung möglicher Einwände gegen die Anwendung einer ›extremal theory‹, das heißt einer Theorie, die das Verhalten der Variablen eines Systems als die Lösung eines Maximierungsproblems beschreibt. 28 Um den Anspruch des ökonomischen Ansatzes zur Analyse menschlichen Verhaltens in seiner Allgemeinheit aufrechterhalten zu können, wird die Nutzenfunktion für beliebige Argumente geöffnet – beansprucht wird dabei nicht die realistische Beschreibung von Verhalten, sondern eine instrumentell brauchbare Approximation. 29 Doch diese formale Gebrauchsweise ist nicht das, was dem libertären Realismus vorschwebt. Eigennutz ist hier in einem engeren Sinne als das Verfügen über eine Menge sozialer Primärgüter – Eigentum, Macht, Status – gemeint. Im Gegensatz zum Instrumentalismus des Kohler 1988, 83 und passim Rosenberg 1992, 229–34 29 Friedman 1954. Eine gute realistische Re-interpretation des friedmanschen Instrumentalismus bieten: Gibbard & Varian 1978. 27 28

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Becker-Ansatzes sind es diese Motive, um die es Handelnden geht und die erklären, warum sie tun, was sie tun. Damit ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass auch andere Motive eine schwache Wirksamkeit entfalten, namentlich im Niedrigkostenbereich. 30 Wenn die Befolgung normativer Vorschriften nicht mit hohen Kosten verbunden ist, so Kirchgässner, üben sie auf die Handelnden eine hinreichende motivationale Kraft aus. Diese schwache motivationale Kraft wird als Ergebnis von sozialen Konditionierungen angesehen. Ähnlich Dennis Mueller: »What we normally describe as ethical behavior is inherently no more or less selfish than what we call selfish behavior. It is a conditional response to certain stimuli governed by past reinforcements experience. There are several advantages to using behavioral psychology to explain ethical behavior. First, it allows us to work with a single conceptualization of man, a conceptualization consistent with the selfish-egoism postulate underlying both economics and public choice. Second, it allows us to develop a purely positive theory of behavior, free from normative prescripts that often accompany the Jekyll and Hyde view of man.« 31

Dieser Versuch, Standardeinwände gegen die ökonomische Handlungstheorie zu entkräften, indem Elemente der Verhaltenspsychologie integriert werden, ist jedoch mit eigenen Problemen verbunden. Denn der Hinweis auf die Konditionierung von Verhaltensweisen könnte zwar gegebenenfalls durchsichtig machen, warum Präskriptionen befolgt werden, die den Erwerb bestimmter Primärgüter nicht fördern oder diesem sogar entgegenstehen. Doch damit wird klarerweise die (wohl unauflösliche) Schwierigkeit produziert, ein durch Dispositionen bedingtes Verhalten als rationale Wahl beschreiben zu müssen. Während Tullocks Antinormativismus sich aus einer realistisch interpretierten Theorie ökonomisch-rationalen Handelns ergibt, die normative Argumente in erster Linie als Verbrämungen von Interessenpositionen deutet (Motivationseinwand), machen Libertäre wie Kirzner und Rothbard politontologische Vorbehalte gegen (wohlfahrts)staatliche Intervention geltend. So sagt Kirzner von der Idee, das Gemeinwohl bestehe in der Maximierung des Gesamtnutzens (und von der dabei vorausgesetzten Aggregierbarkeit individueller Nutzenzustände), sie sei »simply meaningless (not just

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Kirchgässner 1993 Mueller 1989, 363 A

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wrong)«. 32 Derselbe Vorwurf trifft auch das, was ich als das ›utilitaristische Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstandes‹ umschrieben hatte. Murray N. Rothbard vertritt eine ähnliche Ansicht wie Kirzner, wenn er statuiert: »individual ends are bound to conflict, and therefore any additive concept of social efficiency is meaningless«. 33 Legendär sind auch von Hayeks Anschauungen über die Bedeutungslosigkeit des Begriffs sozialer Gerechtigkeit. 34 Politontologisch sind diese libertären Positionen, insofern sie den in Frage stehenden normativen Konzepten eine Referenz absprechen: Diese handeln von nichts, haben allerdings eine performative Funktion. 35 Konzepte wie ›Effizienz‹ oder ›Gerechtigkeit‹ sind Worte, mit denen sich im politischen Sprachspiel Dinge erreichen lassen, indem sie einen Anschein von Gehalt erwecken. 36 Der politontologische und der Motivationseinwand greifen ineinander, sind aber voneinander zu unterscheiden. Wer aus methodologischen Gründen oder aus solchen eines hard-nosed realism normative Konzepte bestimmter Art zurückweist, weil sie sich innerhalb eines Kalküls ökonomisch-rationaler Akteure nicht rekonstruieren lassen, ist keineswegs auf die politontologische These festgelegt, jene Konzepte seien in einem strengen Sinne bedeutungslos, ohne Referenz. Jedoch gelten sie den Anhängern des Motivationseinwandes als bedeutungslos im Sinne von irrelevant, ohne Einfluss auf das Handeln von realen oder modelltheoretisch konstruierten Akteuren. Der politontologische Einwand bietet insofern eine Verschärfung der liKirzner 1998, 291 Rothbard 1979, 90 34 Hayek 1980/1981 II, 93–145 35 Nach Austins klassischer Analyse ist eine Äußerung performativ, die »wie eine Aussage aussieht und in grammatikalischer Hinsicht wohl auch als Aussage eingestuft würde, die zwar weder wahr noch falsch, aber auch nicht unsinnig ist«. (Austin 1961/1986, 307) 36 Eine gegenüber der Begründbarkeit normativer Aussagen skeptische Theorie bietet der Emotivismus von Stevenson 1944. Ihm zufolge eignet moralischen Termini eine geschichtlich entstandene emotive Kraft, die ihren Benutzern ermöglichen kann, Einstellungswechsel im motivationalen Zustand des Gegenüber zu bewirken. Die Position gilt allgemein durch den universalen Präskriptivismus Hares als widerlegt, der die Begründbarkeit moralischer Aussagen unter non-kognitivistischen Voraussetzungen erweist. Eine Ehrenrettung des Emotivismus unternehmen Schaber & Wolf 1998, 117– 123. 32 33

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bertären Bedenken gegenüber staatlicher Intervention, insofern er nicht nur das Fehlen kausaler Voraussetzung zur Erfüllung normativer Ziele behauptet, sondern diese Ziele selbst als bedeutungsleer desavouieren will. 7. Eine dritte Art von Vorbehalt gilt nicht der Bedeutung von Begriffen wie ›Effizienz‹ und ›Gerechtigkeit‹ oder den motivationalen Bedingungen, unter denen effiziente oder gerechte institutionelle Arrangements verwirklicht werden könnten, sondern dem Problem der Erkennbarkeit solcher Arrangements. Von Hayek hat diesen Zusammenhang als Erster mit aller Klarheit zu Bewusstsein gebracht. 37 Naheliegenderweise lässt sich von einem epistemischen Vorbehalt sprechen. Er wird beispielsweise von Richard E. Wagner erhoben. Er glaubt nicht, dass wohlfahrtsökonomische Konzepte, wie ›Marktversagen‹, bedeutungslos seien. Allerdings fehle das Wissen, um sie sinnvoll politisch zu operationalisieren. »Expositions of welfare economics typically assume that the analysis possesses knowledge that is in no one’s capacity to possess. A well-intentioned administrator of a corrective state would face a vexing problem because the knowledge he would need to act responsibly and effectively does not exist in any one place, but rather is divided and dispersed among market participants.« 38

Der epistemische Einwand wird in unterschiedlich starken Versionen vertreten. In seiner radikalen Fassung besagt er, dass politisches Markt-Steuerungswissen in seiner benötigten Form aus prinzipiellen Gründen für die Inhaber hoheitlicher Macht nicht verfügbar sein kann, insbesondere weil die Kreativität der Marktakteure durch notwendigerweise deterministische ökonomische Modelle nicht antizipiert zu werden vermag. 39 Dieser Punkt ist von der durch von Hayek Hayek 1937, 1945 Wagner 1996, 20 39 Wird der starke epistemische Einwand vertreten, so verliert die Unterscheidung zum politontologischen Vorbehalt zwar an Gewicht, wird jedoch nicht bedeutungsleer – so wenig, wie der metaphysische Realismus durch den Hinweis hinfällig wird, dass Erkenntnisse Konstruktionen sind. Diese Verwechslung unterläuft nach Searle selbst einem Denker vom Rang Putnams: »Genau genommen ist der Realismus mit jeder Wahrheitstheorie vereinbar, weil er eine Theorie der Ontologie und nicht der Bedeutung von ›wahr‹ ist. […] Richtig verstanden ist der Realismus keine These darüber, wie die Welt tatsächlich ist. Wir könnten uns völlig im Irrtum darüber befinden, wie die 37 38

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inaugurierten Tradition stark gemacht und in den Arbeiten Shackles philosophisch vertieft worden. »To suppose that choices-to-come are thus predetermined destroys the meaning of choice, robbing human choices of all power of their own. The notion of choice would be empty and the act of choice sterile. A nondeterminist view of history requires us to suppose that a choice can be in some respects exempt from governance by antecedent thought or contemporary circumstances, that a choice can be in some respects an uncaused cause.« 40

8. Die Skepsis des libertären Realismus gegenüber normativen Gründen und Begründungen hindert ihn nicht daran, den Schutz von individuellen Rechten auf Eigentum sowie auf die Ausführung aller Handlungen, die andere nicht schädigen (also nicht betrügerisch oder gewaltsam sind) zur zentralen Aufgabe des Staates zu erklären. Die Anerkennung solcher basalen Rechte setzt den libertären Realismus der Frage nach deren Begründung aus, eine Aufgabe, der er konsequenterweise nicht mit Verweis auf naturrechtliche Konzepte beizukommen versucht. Vielmehr wird die Wünschbarkeit des Schutzes von Eigentumsrechten im Wesentlichen mit dem Hinweis plausibel gemacht, dass er sich in positiver Weise auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirke. Den Hintergrund für diese Hypothese bildet unter anderem die endogene Theorie wirtschaftlichen Wachstums. Während die neoklassische Wachstumstheorie der Sechzigerjahre das langfristige Wachstum als durch zwei exogene Größen – den technologischen Fortschritt und das Bevölkerungswachstum – determiniert ansah, integriert die endogene Theorie politische Determinanten in das Modell. Die wohl wichtigste politische Implikation der endogenen Wachstumsmodelle bestand nach verbreiteter Lesart in dem Hinweis auf die Wichtigkeit von Anreizen für technologische Innovationen. Wenn potentielle Innovatoren nicht die Möglichkeit haben, den Nutzen der Neuerung zu internalisieren, werden sie auf kreative Tätigkeiten entweder ganz verzichten oder an Orte abwanWelt in allen ihren Einzelheiten ist, und der Realismus könnte immer noch wahr sein. Realismus ist die Ansicht, dass es eine Seinsweise der Dinge gibt, die von allen menschlichen Repräsentationen logisch unabhängig ist. Der Realismus sagt nicht, wie die Dinge sind, sondern nur, dass es eine Seinsweise der Dinge gibt. Und mit ›Dingen‹ in den vorangehenden beiden Sätzen sind nicht materielle Objekte oder überhaupt Objekte gemeint. Es ist, wie das ›es‹ in ›es regnet‹, kein Ausdruck, der sich auf einen Gegenstand bezieht.« (Searle 1995/1997, 163–164, 165) 40 Shackle 1986, 282

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dern, an denen sie entsprechende Bedingungen vorfinden. 41 Damit kam eine alte Einsicht Schumpeters zu neuen Ehren, der zufolge technologischer Fortschritt mit der Nutzung temporärer Monopole durch Innovatoren einhergeht. Die neue Wachstumstheorie verstärkte damit den ökonomischen Gemeinplatz, dass ungeklärte oder staatlich nicht wirksam garantierte Eigentumsrechte die Investitionsbereitschaft (im Grenzfall auf Null) senken. Investoren müssen sich auf die Verbindlichkeit der rechtlichen Regeln und politischen Zusagen verlassen können, die als Rahmenbedingungen für ihre Entscheidung maßgeblich waren. Daher hängen Erfolg und Entwicklung einer durch die Investitionsentscheidungen privater Kapitalbesitzer geprägten Wirtschaft unter anderem wesentlich davon ab, ob die glaubwürdige Einschränkung hoheitlicher Eingriffsmacht gelingt. Unterstützung erhält diese Sicht zum einen durch die wirtschaftshistorischen Analysen von Douglass North, der verschiedentlich die gravierenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung Spaniens und Englands (sowie der ehemals spanischen und englischen Kolonien in den beiden Amerikas) mit den unterschiedlichen politischen Risiken in den beiden Reichen erklärt hat. Die Revolution von 1688 schaffte das Recht der Krone auf einseitige Änderung von Vertragsbestimmungen ab: Ex-post-Änderungen bedurften nun der Zustimmung des Parlaments. Und da das Parlament die Interessen der besitzenden Klasse vertrat, war damit der königlichen Willkür eine wirksame Grenze gesetzt. In den darauf folgenden Jahren änderte sich die Lage auf dem Kapitalmarkt drastisch. Während es den Stuarts wegen hoher Risikoprämien nicht gelang, Liquidität zu den gewünschten Bedingungen zu beschaffen, konnte die Regierung nach der Revolution die chronischen Finanzengpässe überwinden: »Following the Glorious Revolution, however, not only did the government become financially solvent, but it gained access to an unprecedented level of funds. In just nine years (from 1688 to 1697), government borrowing increaDie endogene Wachstumstheorie wurde für die Rechtfertigung recht unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Gesinnungen herangezogen. Der britische Finanzminister Gordon Brown äußerte sich etwa 1994 überzeugt, mithilfe der endogenen Wachstumstheorie ließen sich auch Industriepolitik und Arbeitsmarktregulierungen rechtfertigen. Zur Kritik: Barro 1998, 18.

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sed by more than an order of magnitude. This sharp change in the willingness of lenders to supply funds must reflect a substantial increase in the perceived commitment by the government to honor its agreements.« 42

Nichts dergleichen gelang in Spanien, wo die politischen Institutionen Anreize setzten, in ökonomisch unproduktive Rent-seeking-Aktivitäten zu investieren, und so auf lange Sicht für die schwache wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich waren. Douglass North verallgemeinert solche historischen Analysen in der Feststellung: »Third World countries are poor because the institutional constraints define a set of payoffs to political/economic activity that do not encourage productive activity.« 43

Der libertäre Realismus würde mit seinen eigenen Voraussetzungen in Konflikt geraten, wenn er davon ausginge, dass der Umstand, dass der Schutz von Eigentumsrechten die wirtschaftliche Entwicklung fördere, als solcher ein Handlungsmotiv für reale Akteure abgeben könne. Douglass North nimmt entsprechend nicht an, dass der Wachstumspfad des angelsächsischen Raums möglich wurde, weil die relevanten gesellschaftlichen Akteure sich einig geworden waren über die rechtlichen Voraussetzungen nachhaltigen Wirtschaftswachstums. Vielmehr waren die Anreize eigeninteressierten Handelns so verteilt, dass ein Prozess inkrementellen Wandels in Gang gesetzt wurde, der sich ex post als günstig erwies. In den Kontext des libertären Realismus passen des Weiteren modelltheoretische Betrachtungen, die die Begrenzung politischer Macht North & Weingast 1989, 805. Wortgleich in North 1990, 139. North 1990, 110. Damit ist die Frage, wie das Bestehen der speziellen institutional constraints zu erklären ist, noch nicht entschieden. Manche Autoren, unter ihnen John Rawls, ziehen aus der Einsicht in die Wichtigkeit politischer Faktoren für die wirtschaftliche Entwicklung die Konsequenz, jedes Land trage weitgehend selbst Verantwortung für das eigene Wohlergehen. So schreibt Rawls: »As I see it the point of the institution of property is that, unless a definite agent is given responsibility for maintaining an asset and bears the loss for not doing so, that asset tends to deteriorate. […] As I noted in the Introduction, they are to recognize that they cannot make up for their irresponsibility in caring for their land and its natural resources by conquest in war or by migrating into other people’s territory without their consent.« (Rawls 1999, 39) Rawls geht hier offensichtlich davon aus, dass zum einen Nationen wie Individuen betrachtet werden können, die für sich selbst Verantwortung tragen, und dass zum anderen Phänomene wie Migration oder Krieg aus dem Versagen in der Übernahme solcher Verantwortung zu erklären sind. Beide Annahmen sind fragwürdig.

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als Ergebnis einer rationalen Selbstbindung der Regierung deuten. Auch hier resultieren rechtliche Beschränkungen der Gewaltmonopolisten nicht aus normativen Gründen, sondern aus Überlegungen, die sich ausschließlich auf den wirtschaftlichen Status der jeweiligen Partei beziehen. So kann beispielsweise gezeigt werden, dass asymmetrische Information den Ausbeutungsmöglichkeiten selbst einer Regierung Grenzen auferlegt, die sämtliche Macht auf sich konzentriert; 44 oder dass eine »unsichtbare Hand« dafür sorgt, dass aus dem einfachen Banditen ein König wird, der öffentliche Güter anbietet; oder dass eine Mehrheit die Minderheit nicht zum Äußersten ausbeuten wird, auch wenn sie nicht das geringste Interesse an deren Wohlergehen hat. 45 Der libertäre Realismus strebt in jedem Falle Erklärungen an, die eine Respektierung von Eigentumsrechten als Ergebnis von Prozessen spontaner Ordnung darstellen, deren Dynamik durch die Interaktion eigeninteressierter Akteure bestimmt wird – Normativität wird entsprechend (um eine Formulierung von Karl Homann aufzunehmen) positiv abgearbeitet. 9. Eigentumsrechte sind aus der Sicht des libertären Realismus ein unproblematischer Fokus normativer Aufmerksamkeit, insofern sie weder durch den motivationalen noch durch den politontologischen oder den epistemischen Einwand getroffen werden. Der motivationale Einwand wird abgewehrt, indem die Respektierung von Eigentumsrechten als nicht-intendiertes Resultat gesellschaftlicher Inter»Incomplete information provides an endogenous commitment device for the extortionist not to extort all rents from his citizens. It solves the hold-up problem in extortion and allows for some positive private investment even with an extortionist who has unlimited extortion power and cannot commit on a tax policy prior to private investment taking place.« (Konrad 1998, 15) 45 »In short, an ›invisible hand‹ gives a roving bandit an incentive to make himself a public-good-providing king. The same invisible hand also influences democratic societies. Suppose the majority in control of a democracy acts with self-interest and that no constitutional constraints keep it from taking income from the minority for itself. If those who make up this majority earn some market income, the majority will, even if it has no concern whatever for the minority, best serve its interests by limiting redistribution from the minority to itself and by providing public goods for the entire society. Because the majority not only controls the fisc but also earns market income, it has a more encompassing interest in society than an autocrat. We prove below that an optimizing majority in control of a society necessarily redistributes less income to itself than a self-interested autocrat would have redistributed to himself.« (McGuire & Olson 1996, 73) 44

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aktion analysiert wird. Zustände, die aus normativer Sicht wünschenswert erscheinen, sind nicht durch normgesteuertes Handeln hervorgebracht worden – folglich kann an der Hypothese festgehalten werden, dass reale Akteure durch normative Gründe nicht zum Handeln bewegt zu werden vermögen. Der politontologische Einwand entfällt, weil sich die normative Beurteilung aus der Betrachtung eines Zusammenhangs zwischen der Gewährung eines Rechts (auf privates Eigentum) und einer Aggregatgröße (materieller Wohlstand einer Gesellschaft) ergibt und dieser Zusammenhang kaum als meaningless oder unverständlich angesehen werden kann. Ähnliches gilt für den epistemischen Einwand. Der normative Anspruch des libertären Realismus scheint – gemessen an seinen eigenen Standards – unanstößig. Bemerkenswert sind nun die Konsequenzen für dessen Einschätzung der Demokratie. Gleich zu Beginn kann man festhalten, dass der Gedanke kollektiver Willensbildung – im Gegensatz zur demokratietheoretischen Tradition des Vernunftrechts – für den libertären Realismus eine höchstens nachgeordnete Bedeutung einnehmen kann. Während im Vernunftrecht die demokratische Willensbildung Ursprung liberaler Freiheitsrechte ist, betrachtet der libertäre Realismus sie als ein Verfahren unter anderen, um über Produktionsbedingungen und die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen zu entscheiden. Solche Entscheidungsverfahren können mehr oder weniger gut sein – Qualitätsmaßstab ist für libertäre Realisten der erzielbare Wohlstand. »The things that wealth makes possible – not only luxury goods but also leisure and modern medicine, and even departments of philosophy – are major ingredients of most people’s happiness, so that wealth maximization is an important – conceivably the only effective – social instrument of utility maximization. […] Wealth is the value in dollars or dollar equivalents … of everything in society. It is measured by what people are willing to pay for something or, if they already own it, what they demand in money to give it up. The only kind of preference that counts in a system of wealth maximization is thus one that is backed up by money – in other words, that is registered in a market.« 46

Gemessen an diesem Maßstab verliert die Demokratie viel von ihrer Attraktivität. Was die empirische Seite betrifft, so ist deren Auswir46

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Posner, zitiert nach Rowley 1992, 21.

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kung auf das wirtschaftliche Wachstum unbestimmt. Die LipsetHypothese, die eine starke Korrelation zwischen Prosperität und Demokratie statuiert, kann als gesichert gelten. 47 Unklar ist jedoch, ob demokratische Regime das wirtschaftliche Wachstum fördern oder behindern. Hier geht bei liberalen Realisten die Vermutung in die Richtung, dass sich Umverteilungskoalitionen in entwickelten Demokratien wachstumshemmend auswirken, während die Eroberung des Haushaltsrechts durch das in den Parlamenten vertretene Bürgertum auf die fiskalische Disziplin (und die Respektierung des Eigentumsrechts) zunächst positiven Einfluss hatte – damit aber wachstumsfördernd war. »Democratic institutions provide a check on governmental power and thereby limit the potential of public officials to amass personal wealth and carry out unpopular policies«,

schreibt Robert Barro. 48 Den privaten Inhabern von Produktionsmitteln, die durch demokratische Institutionen vor der obrigkeitlichen Willkür geschützt wurden, droht eine komplementäre Gefahr in Gestalt einer Ausweitung politischer Rechte. Das Parlament gerät von einem Instrument der Abwehr fiskalischer Willkür zu einer Umverteilungsmaschine. Der Gefahr unpopulärer Entscheidungen der Regierung, wie Monopolgewährung für Günstlinge des Regimes, Enteignungen, Steuererhöhungen, Prohibitivzölle, entspricht die Gefahr der populären Entscheidungen, wie Subventionen, Sozialpolitik, Lohn- und Preiskontrollen, Regulierung der Arbeitsmärkte. Parlamente haben insofern für den klassischen Liberalismus (wie Barro ihn versteht) einen ambivalenten Status: Sie haben historisch gesehen sowohl die Bedeutung wirksamen Schutzes als auch wirksamer Bedrohung von Privateigentum und wirtschaftlicher Freiheit. Entsprechend hat Demokratie einen lediglich instrumentellen Wert, sofern sie eine glaubwürdige Bindung des politischen Entscheidungsprozesses an Regeln bewirken kann. Lässt sich dies in einem autokratischen Regime wirkungsvoller erreichen, so vermag dies die Loyalität zur Demokratie auf die Probe zu stellen: »Authoritarian regimes may partially avoid these drawbacks of democracy. Moreover, nothing in principle prevents non-democratic governments from maintaining economic freedoms and private property. A dictator does not 47 48

Barro 1999 Barro 1998, 51 A

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have to engage in central planning. Examples of autocracies that have expanded economic freedoms include the Pinochet government in Chile, the Fujimori administration in Peru, the shah’s regime in Iran, and several previous and current governments in East Asia.« 49

Indem die Definition und der Schutz von Eigentumsrechten zur Kernfunktion des Staates avanciert, verliert die Demokratie ihren Status als Ideal politischer Herrschaft an den Rechtsschutzstaat. 50 Für den libertären Realismus spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass die Rechte des Souveräns durch ein autokratisches oder oligarchisches Regime übernommen werden, solange es seine Politik dem vorgegebenen rechtlichen Programms gemäß gestaltet. Die Regierung könnte den Charakter eines aus Juristen und Ökonomen zusammengesetzten Expertengremiums haben, das Entscheidungen darüber fällt, ob neue Umweltdaten gesetzgeberische Anpassungsleistungen erfordern – und das entsprechend dem wirtschaftlichen Erfolg einer Volkswirtschaft entlohnt wird. »It is possible for a dictator to govern in a liberal way. And it is also possible that a democracy governs with a total lack of liberalism. My personal preference is for a liberal dictator and not for a democratic government lacking in liberalism.« 51

Barro 1998, 50 »A measure of the rule of law has substantial explanatory power for economic growth. However, the connection between political freedom and the rule of law is unclear […]« (Barro 1998, 72) 51 Hayek, zitiert nach Arneson 1993, 145. 49 50

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2. Normative Theorie und demokratische Willensbildung

1. Politontologischer, epistemischer und Motivationseinwand haben im libertären Realismus den Schutz von Vertragsfreiheit, Leben und Eigentum als normatives caput mortuum zurückgelassen. Das normative Programm der libertären Realisten könnte durch einen prinzipientreuen Diktator ebenso gut erfüllt werden wie durch eine von Interessen und Meinungen der Mehrheit gesteuerte demokratische Willensbildung. Es geht hier nicht um die Frage, wie viele Libertäre tatsächlich die Ersetzung des Parlamentes durch einen liberalen Diktator fordern oder gutheißen würden. Wichtig ist mir nur festzuhalten, dass sie dem demokratischen Prozess einen lediglich instrumentellen Status zumessen und dass ihnen zufolge andere Instrumente das Programm des Liberalismus unter speziellen empirischen Bedingungen besser erfüllen könnten. Der Vorteil der Demokratie wird in den vergleichsweise guten Möglichkeiten gesehen, Machtmissbrauch zu verhüten, der Nachteil in der Pseudo-Legitimation von Individualrechtsverletzungen durch parlamentarische Mehrheiten. Die Skepsis gegenüber den Möglichkeiten normativer Theorie und ein instrumentelles Verständnis des demokratischen Prozesses greifen sichtlich ineinander. Eben weil in den theoretischen und gesellschaftlichen Diskursen über Möglichkeiten kollektiver Ordnungen keine validen Geltungsansprüche generiert werden können, wird im libertären Realismus der (im demokratischen Prozess durch die Gesellschaft programmierte) Staat auf die Erfüllung individualrechtlicher Vorgaben verpflichtet und beschränkt. 2. Mit dem staatsskeptischen Grundimpuls des Liberalismus ist nicht notwendigerweise eine Anthropologie des Wirtschaftsbürgers oder eine perspektivische Verengung auf die Marktsphäre verbunden, wie es republikanische Autoren von Rousseau bis Habermas kriA

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tisieren. Eine solche Verengung ist für den libertären Realismus kennzeichnend, doch nicht für den Liberalismus insgesamt. Wenn Habermas schreibt, nach liberaler Auffassung erscheine »die Gesellschaft als System des marktwirtschaftlich strukturierten Verkehrs der Privatpersonen und ihrer gesellschaftlichen Arbeit« 1 , so unterschlägt dies die auch von klassischen Liberalen durchaus eingerechnete Sphäre freier, nicht von Gewinninteressen geleiteter Interaktion. Vereine, Klubs, Bürgerinitiativen, Wohngemeinschaften, Kleinfamilien und soziale Bewegungen gehören durchaus zur Gesellschaft des klassischen Liberalismus, und es ist insofern (selbst für Milton Friedman) unzutreffend, dass er allein von einem marktwirtschaftlich strukturierten Verkehr der Privatpersonen spreche. 2 Allerdings besteht der Liberalismus darauf, dass gesellschaftliche Assoziationen in einem wohlgeordneten Staat ihre Ziele grundsätzlich auf der Ebene nichthoheitlicher Mittel verfolgen und nur unter speziellen Auflagen damit rechnen dürfen, dass der Staat sekundiert. Schlagwortartig gesprochen, sollen soziale Probleme von nachbarschaftlichen Hilfsnetzwerken und friendly societies angegangen werden, nicht durch den Einsatz der Staatsmacht, die – nach liberaler Ansicht – zu ihrer Lösung weder befähigt noch befugt ist. Es ist also nicht so, dass der Liberalismus als solcher auf ein defizitäres Verständnis von Gesellschaft vereidigt wäre, welches öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse sowie gesellschaftliche Assoziationen und Initiativen ausschlösse. Doch wird der Staat – wie gesagt – nicht als geeignetes Medium angesehen, um soziale Anliegen zu verfolgen: Skepsis gegenüber normativer Theorie heißt in diesem Kontext, dass der Liberalismus grundsätzlich annimmt, die Rechtfertigungsanforderung für den Gebrauch hoheitlicher Macht – Einstimmigkeit – sei nur für wenige politische Materien zu erfüllen. Eben daher sollten öffentliche Angelegenheiten – wo möglich – im Medium freiwilliger Assoziationen und Dissoziationen geregelt werHabermas 1996, 277 Diesen Punkt hat Will Kymlicka vorbildlich in seiner Metakritik der kommunitaristischen Liberalismuskritik herausgearbeitet: »Seit Jahrhunderten betonen die Liberalen die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, doch die Kommunitaristen scheinen immer noch davon auszugehen, dass alles Soziale zur Sphäre des Politischen gerechnet werden müsse. Sie haben sich nicht mit der liberalen Sorge auseinander gesetzt, dass der Staat wegen seines umfassenden Charakters und seiner Zwangsmittel ein besonders ungeeignetes Forum für die von ihnen gewünschte wirklich gemeinschaftliche Überlegung und Bindung ist.« (1990/1996, 190)

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den. Wohlgemerkt: Gegen die Konsolidierung einer immer mehr Funktionen auf sich konzentrierenden Nationalstaatlichkeit stemmten sich nicht nur klassische Liberale, sondern auch voluntaristische Sozialisten vergeblich. Paul Hirst hat jüngst darauf hingewiesen, dass die Etablierung des Wohlfahrtsstaates innerhalb der Labour Party durchaus umstritten war und man dort keineswegs durchgängig von der Notwendigkeit staatlicher Lösungen sozialer Probleme ausging. 3 3. Habermas macht jedoch im Zuge seiner Modernisierung des republikanischen Projekts noch ein weiteres, stichhaltigeres Bedenken gegen den Libertarismus geltend. Das Recht – so der Gedanke – sei Manifestation eines kollektiven Willens- und Meinungsbildungsprozesses, der sich nicht auf den Interessenabgleich zwischen Privatinteressen zurückführen lasse. »Die Existenzberechtigung des Staates liegt nicht primär im Schutz gleicher subjektiver Rechte, sondern in der Gewährleistung eines inklusiven Meinungs- und Willensbildungsprozesses, in dem sich freie und gleiche Bürger darüber verständigen, welche Ziele und Normen im gemeinsamen Interesse aller liegen. Damit wird dem republikanischen Staatsbürger mehr zugemutet als die Orientierung am jeweils eigenen Interesse.« 4

Habermas schaltet hier ein Argument gegen das liberale Politikverständnis ein, das nicht in der (bestreitbaren) Behauptung, Liberale verkennten Gesellschaft als Markt, noch aufgeht. Im demokratischen Willensbildungsprozess solle es darum gehen, ein gemeinsames Interesse freier und gleicher Bürger festzustellen oder zu konstituieren. Die Ausübung öffentlicher Autonomie in der Partizipation an demokratischen Prozessen ist Habermas zufolge Voraussetzung für den Genuss privater Autonomie. Die libertäre Vorstellung, es könne im Prinzip einen rechtsstaatlichen Diktator geben, gilt ihm mithin als

»The final triumph of collectivism in Britain, in particular, came late. Not only liberals but also many in the Labour Movement feared central state control of social insurance and social welfare.« (Hirst 1994, 4) Hirsts Konzept der Associative Democracy will den gerissenen Faden der antietatistischen Tradition innerhalb der Linken wieder aufnehmen. Associationalism erlangt nach Hirst durch die Globalisierung neue Aktualität: »Many of the most pressing problems in economic management turn on the relative decline of the nation state as an effective agency of regulation on the one hand, and the problematicity of the relation of state and civil society in the main doctrines of economic governance on the other.« (loc cit, 74) 4 Habermas 1996, 283 3

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verfehlt. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bedingen einander – dies ist Habermas’ These von der Gleichursprünglichkeit. 5 Dass die Ausübung von Volkssouveränität die Gewähr von liberalen Grundrechten voraussetzt, leuchtet unmittelbar ein. Von öffentlicher Autonomie kann nicht die Rede sein, wenn keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit besteht, wenn die Wohnung nicht unverletzlich ist, wenn Verwaltungsentscheidungen nicht gerichtlich kontrolliert werden können. Doch gilt das Bedingungsverhältnis auch in umgekehrte Richtung? Sind liberale Grundrechte an Volkssouveränität gebunden? Habermas sagt, dass die Staatsbürger »nur dann zu einer konsensfähigen Regelung ihrer privaten Autonomie gelangen können, wenn sie als Staatsbürger von ihrer politischen Autonomie einen angemessenen Gebrauch machen.« 6

Aus liberaler Perspektive hat diese Begründung einen etwas bedrohlichen Klang. Was meint Habermas mit der ›konsensfähigen Regelung der privaten Autonomie‹ ? Besteht diese nicht darin, das Individuum von der Forderung zu entlasten, dass andere seinen privaten Lebensentscheidungen zustimmen können? Die Formulierung verliert ihre Bedrohlichkeit, wenn ›Regelung privater Autonomie‹ im Sinne von ›Bestimmung der Grenzen privater Autonomie‹ verstanden wird. Auch Libertäre gestehen zu, dass Grenzen und Charakter liberaler Rechte nicht natürlich gegeben sind. Zum Beispiel Eigentum: Wie wird es rechtlich erworben? Was gilt als eine unrechtmäßige Beeinträchtigung seiner? Nach welchen Gesichtspunkten soll geistiges Eigentum definiert werden? An was kann Eigentum erworben werden? Fragen wie diese sind durch die gesetzgebende Körperschaft zu entscheiden. Und diese Entscheidung – so möchte ich Habermas auslegen – kann angemessen nur im Rahmen volkssouveräner Verfahren geschehen. Denn sie setzt idealiter voraus, dass alle Betroffenen als Freie und Gleiche ihre normativen und präskriptiven Einschätzungen zur Geltung bringen konnten und in dem Entschluss berücksichtigt finden. Hier spiegelt sich die kantianisch-geltungstheoretische Auffassung, dass nur diejenigen Regeln für eine Person verbindlich seien, denen sie selbst vernünftigerweise 5 6

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zustimmen könne. Vernünftigerweise zustimmen heißt hier: dass sie eine Angelegenheit von einem moralischen Standpunkt aus bewertet, wie er beispielsweise von der Diskurstheorie spezifiziert wird. Legt man Habermas’ These von der Gleichursprünglichkeit in dieser Weise aus, so scheint sie überzeugend. Der Gehalt liberaler Rechte muss in volkssouveränen Verfahren bestimmt werden und kann nicht Gerichten oder Expertengremien überlassen werden. Die These verdeutlicht, dass es einen substantiellen und nicht nur instrumentellen Zusammenhang zwischen Demokratie und liberaler Rechtsstaatlichkeit gibt. Habermas bringt aber weitere Motive ins Spiel, die weniger überzeugen. So meint er, dass selbst die Geltung von Menschenrechten von volkssouveränen Entscheidungen abhänge. »Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können; sie dürfen aber einem Souverän nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie der Bürger verlangt ja, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können.« 7

Habermas scheint hier zu sagen, dass Menschenrechte durch den Volkssouverän selbst anerkannt werden müssten, um Geltung zu erlangen. Denn warum sonst sollte er es paternalistisch nennen, wenn sie ihm übergestülpt würden? Sie hätten ihm zufolge erst dann Verbindlichkeit für ein Kollektiv, wenn dieses die Verbindlichkeit anerkennte. Demokratie ist gegenüber den Menschenrechten vorrangig. 8 Plausibler scheint jedoch, dass die Geltung der Menschenrechte unabhängig ist von den Entscheidungen des Volkssouveräns. Dass jemandem ein Unrecht geschieht, wenn er gegen seinen Willen verheiratet, wenn er gefoltert, willkürlich enteignet oder ohne Rechtsgrund verhaftet wird, dürfte kaum von kollektiven Entscheidungen abhängen. Aussagen wie diese scheinen eher moralische Tatsachen zum Ausdruck zu bringen und nicht von jemandes Idealen, Wünschen oder Meinungen abzuhängen. Dass Habermas sogar die Geltung der Menschenrechte von volkssouveränen Verfahren abhängig macht, ist extreme Ausprägung seines Vorbehalts gegenüber einer Steuerung Habermas 1996a, 301 Ich halte es mit Charles Larmores Auslegung: »At one level this co-originality is for Habermas a relation of mutual presupposition. Just as self-government can serve to protect individual rights, so rights are best understood as providing the necessary conditions for the exercise of popular sovereignty. But at bottom Habermas unmistakably privileges the second of these values. Individual rights, in his view, draw their rationale from their supposed ability to make democratic self-rule possible.« (Larmore 1996, 217)

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der Gesellschaft durch Experten, und seien es solche normativer Theorie. Dahinter steht jedoch eine keineswegs zwingende Vorstellung über das hierarchische Verhältnis von Theorieproduktion und kollektiver Willensbildung. Als Alternative bietet sich eine an Rawls orientierte Konzeption an. 4. Beginnen möchte ich mit der Zurückweisung einer Fehldeutung: Richard Rorty hat Rawls zu einem Kronzeugen seiner These vom Vorrang der Demokratie vor der Philosophie gemacht. Ihm zufolge kann normative Theorie die politischen Institutionen und Werthaltungen einer liberalen Demokratie nicht mit Verweis auf natürliche Rechte oder moralische Tatsachen fundieren. Es sei gar nicht so, dass der Philosoph Institutionen rechtfertige, »indem er auf fundamentalere Prämissen Bezug nimmt, sondern er verfährt umgekehrt: Er stellt die Politik an den Anfang und stutzt die Philosophie dementsprechend zurecht.« 9

Rorty schlägt vor, die Rolle der politischen Philosophie nicht nach dem cartesianischen Modell der Architektur, sondern nach dem deweyschen der Hermeneutik zu deuten. Philosophische Texte können sich bemühen, die gelebten normativen Grundhaltungen einer politischen Kultur zum Ausdruck zu bringen; aber sie können diese Grundhaltungen nicht theoretisch rechtfertigen. Jeder Versuch, die politischen Institutionen einer demokratischen Gesellschaft philosophisch zu begründen, bräuchte einen externen Bezugspunkt, eine unabhängige metaphysische und sittliche Ordnung. Rorty hält den Gedanken einer solchen Ordnung wenn nicht sogar für unzugänglich, so zumindest für ungeeignet, um als Grundlage einer politischen Kultur zu dienen. Denn metaphysische Überzeugungen sind auf eine ähnliche Weise strittig wie religiöse. Was Philosophie daher wirklich tun solle, ist, gänzlich auf den Begriff normativer Fundierung zu verzichten. 10 Rorty 1988, 87 »Es ist nicht so, als wüssten wir aufgrund vorgegebener philosophischer Ideen, dass es zum Wesen des Menschen gehört, Rechte zu haben, und stellten sodann die Frage, wie eine Gesellschaft imstande sei, diese Rechte zu bewahren und zu schützen. […] Als Bürger wie als Gesellschaftstheoretiker können wir gegenüber philosophischen Auseinandersetzungen über das Wesen des Ich ebenso gleichgültig bleiben wie Jefferson gegenüber theologischen Meinungsverschiedenheiten über das Wesen Gottes.« (Rorty 1988, 91, 92)

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Während A Theory of Justice noch einer realistischen Position zuzuneigen schien, hat sich Rawls später ausdrücklich im rortyschen Sinne geäußert. »Was eine Gerechtigkeitskonzeption rechtfertigt, ist nicht ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer Bestrebungen, sowie unsere Einsicht, dass diese Lehre in Anbetracht unserer Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Traditionen die vernünftigste für uns ist.« 11

Rawls distanziert sich hier von den Passagen in der Theory, die auf eine Verknüpfung von kohärentistischer Begründungstheorie und moralischem Realismus hindeuteten. Diese Verschiebungen im metaethischen Selbstverständnis sind wichtig, bringen aber in relevanten Hinsichten keine Änderung des Status der Gerechtigkeitstheorie bei Rawls – zumindest für die Gemeinschaft, für die seine politische Hermeneutik Geltung reklamiert. Der Anspruch lautet nun nicht mehr, dass eine vorgängige Ordnung entdeckt, sondern dass eine Konzeption von Gerechtigkeit vorgelegt wird, der zu folgen angesichts gegebener Traditionen das Vernünftigste ist. Man könnte meinen, dies sei ein bescheideneres Ziel und leichter zu erfüllen. Angestrebt wird keine universal gültige, von kulturellen Kontexten unabhängige Theorie, sondern das vertiefte Verständnis einer bestehenden politischen Kultur. Doch dieses scheinbar bescheidenere Ziel kann Rawls nicht erreichen. Empirische Untersuchungen konnten nicht bestätigen, dass die beiden rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien so etwas wie die Tiefengrammatik der politischen Kultur der Vereinigten Staaten darstellen. 12 Doch was bedeutet dies für den Status normativer Theorie? Wenn es starke empirische Evidenzen dafür gibt, dass er in seinem Auslegungsunternehmen scheitert – wie hat man dann den Anspruch der Gerechtigkeitstheorie zu verstehen? Rorty schlägt vor, ihn weiter abzuschwächen und die Gerechtigkeitstheorie als Ausdruck »der für amerikanische Liberale typischen Grundsätze« 13 anzusehen. Doch Rawls 1980/1994, 85 »Etwas schematisch gesagt: Zahllose sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse verweisen auf einen Konflikt zwischen Rawls’ Wunsch, Prinzipien kantischen Inhalts beizubehalten, und seinem Wunsch, dass die Mitglieder verschiedener liberaler Gesellschaften diesen Prinzipien zustimmen können.« (Klosko 1998, 68) 13 Rorty 1988, 101 11 12

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auch hier sind – angesichts der Heterogenität des amerikanischen Liberalismus – Zweifel angebracht. Die Vorstellung, Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit artikuliere, was die Leute (alle Amerikaner oder die amerikanischen Liberalen) in ihrem Herzen dächten, erweist sich als zu einseitig; damit aber auch Rortys Empfehlung, die Politik an den Anfang zu stellen und die Philosophie entsprechend zurechtzustutzen. Das Problem ist, dass es einfach zu viele Politiken, Werte und Kulturen und folglich zu viele Möglichkeiten des Zurechtstutzens gibt. So könnte ein vorerst letzter – ebenfalls an Rorty anschließender – Deutungsversuch des Verhältnisses von normativer Theorie und Demokratie darin bestehen, dass die Gerechtigkeitstheorie im Besonderen und normative Theorie im Allgemeinen ein Beitrag im demokratischen Diskurs sei – und dass dieses Verständnis keineswegs die ursprüngliche rawlssche Konstellation von kohärentistischer Begründungstheorie und moralischem Realismus ausschließt. Philosophen können durchaus behaupten, etwas zu erkennen, was nicht alle ebenso gut hätten erkennen können. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht auch anderes zu erkennen gäbe und ihre Stimme die einzig ausschlaggebende wäre. 14 Dies ist die Deutung, für die ich werben möchte; und sie entspricht im Kern der Vorstellung in A Theory of Justice. 5. John Rawls hat in A Theory of Justice eine kohärentistische Konzeption der Begründung normativer Theorie entwickelt. Das Ausgangsproblem ist folgendes: Bei dem Entwurf von Theorien über Vorgänge in der Gesellschaft ist es grundsätzlich möglich, Hypothesen zu formulieren, die sich bestätigen oder nicht. So fiel Ronald Coase in den Dreißigerjahren auf, dass die neoklassische Theorie Schwierigkeiten hat, die Funktion der Firma zu erklären: Denn wenn alle Handlungen in der Wirtschaft durch Preise koordiniert werden können; und wenn die Ergebnisse dieser Koordination effizient sind; und wenn effiziente Zustände mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten werden: Warum gibt es dann Firmen? Coase hatte bemerkt, dass die neoklassische Theorie eine Hypothese impliziert, die an den PhäSiehe Rorty 1979/1985, 421–427; »Geben wir den Gedanken auf, dass der Philosoph etwas über das Erkennen erkennen kann, was kein anderer ebenso gut zu erkennen vermag, so bedeutet dies, dass wir nicht mehr davon ausgehen, dass seine Stimme beanspruchen kann, von den anderen Teilnehmern des Gesprächs als die zunächst und zuletzt anzuhörende vernommen zu werden.« (loc cit 424–25)

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nomenen scheitert. Dieses Scheitern bot die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Theorie. Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Theorien brauchen etwas, woran sie scheitern können. Von der Möglichkeit des Scheiterns hängt ihre Wissenschaftlichkeit und die Chance der Verbesserung ab. Rawls’ These ist nun, dass es auch für die Theorie der Verteilungsgerechtigkeit eine Instanz des Gelingens und Scheitern gibt. Diese Instanz besteht in den so genannten »wohl erwogenen Überzeugungen«. 15 »I wish to stress that a theory of justice is precisely that, namely, a theory. It is a theory of the moral sentiments (to recall an eighteenth century title) setting out the principles governing our moral powers, or, more specifically, our sense of justice. There is a definite if limited class of facts against which conjectured principles can be checked, namely, our considered judgements in reflective equilibrium.« 16

Die Theorie der Gerechtigkeit – so sagt Rawls – ist eine Theorie wie andere auch: Sie sucht die Prinzipien, die das Verhalten unseres moralischen Vermögens beschreiben, auf ähnliche Weise wie die Astronomie die Prinzipien sucht, die das Verhalten von Himmelskörpern beschreiben. Wohl erwogene Überzeugungen sind Gerechtigkeitsurteile, die Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund reiflicher und ruhiger Überlegung abgeben. 17 Diese Urteile sind aber weder vor Irrtum noch vor Revision sicher. Selbst unter günstigen Umständen beeinflussen Interessen das eigene Urteil. Möglicherweise wird man in bestimmten Situationen darauf aufmerksam, dass verschiedene Meinungen, die man hegt, zu unstimmigen Einschätzungen führen. Dworkin gibt das Beispiel von jemandem, dem zufolge der moralische Wert einer Handlung von der Intention abhänge, nicht von ihrem Erfolg. Zugleich findet er aber, ein versuchter Mord solle anders bestraft werden, als ein erfolgreicher. Wie passt beides zusammen? 18 Die Frage, ob Rawls in A Theorie of Justice moralischer Realist sei, diskutiert (mit positivem Ergebnis) Brink 1989, 133–143. Hare 1973/1989, 81–107 hält Rawls für einen moralischen Realisten – und lehnt sein Konzept darum ab. Dworkin 1973/1989, 16–53 bezweifelt hingegen, dass Rawls’ begründungstheoretischer Kohärentismus mit dem moralischen Realismus kompatibel ist. 16 Rawls 1971, 50–51 17 Rawls 1971, 47–48: »Considered judgments are simply those rendered under conditions favorable to the exercise of the sense of justice, and therefore in circumstances where the more common excuses and explanations for making a mistake do not obtain.« 18 Dworkin 1973/1989 15

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Die Möglichkeit von Irrtümern und Revisionen wohl erwogener Überzeugungen weist darauf hin, dass eine Theorie der Gerechtigkeit nicht einfach unseren Gerechtigkeitssinn abbildet. Durch die theoretische Systematisierung werden Unstimmigkeiten und Unzulänglichkeiten jener Überzeugungen offen gelegt. Umgekehrt erfährt aber auch die normative Theorie Revisionen, um sie den considered judgements gemäß zu machen. Nur in dem Austausch mit unseren Gerechtigkeitsüberzeugungen kann überhaupt sichergestellt werden, dass die rawlsschen Prinzipien solche der Gerechtigkeit sind. Das Endergebnis dieses Reflexionsprozesses nennt Rawls ÜberlegungsGleichgewicht. Und es sind die wohl erwogenen Überzeugungen in diesem Gleichgewicht, denen Rawls in dem oben angeführten Zitat den Status moralischer Tatsachen zuschreibt. 6. Bei Rorty ist mit dem Vorrang der Demokratie vor der Philosophie ein Supremat der politischen Kultur vor der normativen Theorie bezeichnet. Demokratie brauche keine philosophische Untermauerung, wenn auch möglicherweise philosophische Artikulation. Rorty entwickelt diese These vor dem Hintergrund einer intellektuellen Biografie, die ihn gegenüber jeglichem philosophischen Grundlegungsanspruch skeptisch werden ließ. Die Lehre vom Vorrang der Demokratie ist bei ihm vor allem Resultat einer Skepsis gegenüber der Philosophie. Er redet als ein ernüchterter Epistemologe und Wissenschaftstheoretiker, der sich mit Problemen politikphilosophischer Begründung und politischer Gestaltung nicht eingehend beschäftigt hat. Für den Vorrang (oder besser: die Wichtigkeit) der Demokratie lässt sich jedoch auch noch auf eine Weise argumentieren, die über Rortys allgemeine Kritik am foundationalism hinausgeht. Wesentlich für dieses Argument ist der Umstand, dass normative Theorien zugleich komplexer und weniger komplex sind als die Argumente, die im Rahmen politischer Auseinandersetzungen vorgetragen werden, um Institutionen zu legitimieren oder zu delegitimieren. Komplexer, insofern sie normative Gedanken zum Ausgangspunkt systematischer Vereinheitlichungen machen, die den Entwurf von Konstruktionsprinzipien für Modellgesellschaften erlauben. Ausgereifte normative Theorien zeigen also, welche Eigenschaften eine Gesellschaft haben müsste, die einem spezifischen Rechtfertigungskonzept, wie Gerechtigkeit, vollständig genügen sollte: Sie legen die Implikationen von Konstruktionsregeln, damit aber ihre Bedeutung, frei, und diese Freilegung steigert die Komple204

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xität des normativen Diskurses. Das rawlssche Differenzprinzip und die daran anschließende Diskussion bietet hierfür ein gutes Beispiel, ein anderes Gauthiers Prinzip einer minimax relative concession. Die Entfaltung und Konkretisierung eines Rechtfertigungskonzepts durch normative Theorie in Gestalt von modellgesellschaftlichen Konstruktionsprinzipien ist aber zugleich weniger komplex als der normativ-politische Diskurs, weil Institutionen politisch auf heterogene Weise begründet werden. Das politische Kräfteparallelogramm reflektiert nicht allein Interessenpositionen, sondern die Pluralität und Heterogenität normativer Ansprüche. Wenn die wirtschaftspolitische Praxis nicht allein als Ort der Interessenvermittlung und -durchsetzung, sondern immer auch als Prozess der Reflexion von Erfahrungen, Einsichten und Wertungen zu verstehen ist, dann sollte normative Theorie diese Prozesse systematisch berücksichtigen. 19 Entscheidend für die Kritik normativer Theorien ist nicht, dass sie ›autoritäres Expertenwissen‹ darstellten, sondern dass sie auf epistemischen Prätentionen und Reduktionen beruhen: Sie reflektieren nicht die Begrenztheit ihrer Problemdefinitionen und Wirkungsanalysen, ihrer Konsequenzenbewertungen und Lösungsstrategien. Damit unterbieten sie die Komplexität ihres theoretischen Gegenstands. Annahme: In Institutionen, die aus dem demokratischen Prozess hervorgegangen sind, ist präskriptives und deskriptives Wissen verkörpert. 20 Vgl. Claus Offe: »Die Fähigkeit, ein ideologisch hybrides institutionelles Konstrukt laufend zu schaffen, zu korrigieren und auszuhalten, ist ein Merkmal von bürgerlicher Kompetenz, das heißt ein Zeichen für die Bereitschaft und den Willen der Bürger, die institutionellen Methoden flexibel zu nutzen, mit denen soziale und politische Konflikte geregelt werden können. […] Wenn aber die Errichtung von Institutionen nicht mehr von Philosophen oder Ideologen wahrgenommen werden kann, dann folgt ex contrario, dass die Gestaltung und Bewahrung sozialer Ordnung den Bürgern und ihren Assoziationen zukommen. Hierfür ist ein informiertes öffentliches Urteil und deliberatives, bürgerschaftliches Engagement statt autoritären Expertenwissens erforderlich. […] Die einzig richtige Antwort auf die Frage nach dem optimalen Ausmaß der Staatstätigkeit ist: Wir wissen es nicht. Genauer gesagt: Wir können die Antwort nicht in Form eines zwingenden ökonomischen oder philosophischen Argumentes geben. Wir können diese nur durch einen Prozess und als Ergebnis eines gut informierten öffentlichen Diskurses innerhalb der Zivilgesellschaft finden.« (Offe 1998/2000, 116) 20 »The relevant point here is that certain precepts tend to be associated with specific institutions. It is left to the background system as a whole to determine how these precepts are balanced. Since the principles of justice regulate the whole structure, they also regulate the balance of precepts.« (Rawls 1971, 276–277) 19

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These: Demokratische Rechtsstaaten, in denen der politische Prozess für heterogene (normative) Geltungsansprüche zugänglich ist, werden Ordnungselemente kombinieren, die vom Standpunkt normativer Theorie aus beurteilt inkompatibel sind.

Dispersion von Wissen ist nicht auf Märkte beschränkt, und die Frage, wie »knowledge not given to anyone in its totality« 21 zu verknüpfen ist, bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Institutionen. Externe Beobachter können nicht beurteilen, um welches Wissen es sich dabei handelt. 22 Es empfiehlt sich daher, die Organisation »als eine Institution zur Wissensgenerierung und -verteilung zu betrachten, die deshalb weniger durch ihre Zielorientierung charakterisiert ist als durch eine relativ dauerhafte Institutionalisierung kollektiver Lernfähigkeit unter Ungewissheitsbedingungen.« 23

Die Heterogenität und Komplexität des in Institutionen verkörperten deskriptiven und präskriptiven Wissens hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass relevantes Wissen nicht in einen Leit-Code übersetzt zu werden vermag. Differenzen der administrativen, politischen, akademischen oder zivilgesellschaftlichen Wissensproduktion lassen sich nicht in einem geteilten Bezugsrahmen austragen. 7. Aus Sicht normativer Theorie erscheint die Heterogenität und Komplexität politischer Institutionen als Ergebnis von historischen Zufällen und Pfadabhängigkeiten, von Interessenpolitik und strategischen Kompromissen: »The institutions of welfare states, and of the larger socio-economic orders in which they are set, emerged over many years, the product of many hands and of much political horse-trading.« 24

Eine solche Deutung suggeriert, dass die realen institutionellen Strukturen besser wären, wenn man sie entsprechend den Vorgaben einer normativen Theorie installiert hätte. Der politische Prozess wird dann als bloßer Ort des Konfliktes zwischen partikularen InteHayek 1945, 520 Baecker 1994, 144: »Wenn Schulen von Unternehmen und Unternehmen von Fußballvereinen lernen können, dann liegt das nicht daran, dass der gemeinsame Nenner aller Organisationen Managementfragen sind, sondern daran, dass die wichtigste Antwort auf jede Managementfrage in der Organisation liegt.« 23 Ladeur 2000, 188 24 Goodin et al. 1999, 37 21 22

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ressen gesehen, und gegebenenfalls werden diese Interessen in die Handlungsempfehlungen der normativen Theorie eingerechnet, so dass sich zweitbeste Lösungen erreichen lassen. Avinash Dixit empfiehlt ökonomischen Beratern, sich auf die Regeln des politischen Spiels, also auf die Interessenmechanik Einfluss nehmender Gruppen, einzustellen. Beschränke sich die ökonomische Beratungsleistung darauf, Maßnahmen zur Maximierung einer sozialen Präferenzfunktion zu benennen, ohne dabei die Natur des politischen Prozesses zu berücksichtigen, so bleibe sie notgedrungen wirkungslos. Sobald aber ökonomische Beratung beginne, mit der politischen Realität zu rechnen, und sich auf die Interessenlage der politischen Akteure einstelle, verändere sich der Inhalt der Handlungsempfehlungen. Es kann unter diesen Umständen geboten sein, Maßnahmen zu empfehlen, die aus der Sicht reiner normativer Theorie unzureichend sind, aber doch besser als die Resultate, die bei einem Festhalten an puristischen Standpunkten erreicht worden wären. Die Ergebnisse der unreinen, den politischen Prozess einkalkulierenden Beratung sind besser als die der reinen – und zwar gemessen an den Maßstäben der reinen Theorie selbst. 25 Was Dixit jedoch unterstellt, ist, dass der Berater aufgrund einer Theorie wissen kann und weiß, was gut für die Gesellschaft ist. 8. Doch woher weiß er das? Könnte es nicht sein, dass sich bei genauerer Betrachtung erweist, dass die vermeintlichen Ineffizienzen der bestehenden politischen Ordnung gar keine Ineffizienzen sind? Diese These hat Williamson in The Politics and Economics of Redistribution and Inefficiency aufgestellt. Ähnlich wie Dixit fordert er, dass die Funktionsweise des politischen Prozesses berücksichtigt werde. Allerdings vermerkt er (anders als Dixit), dass sich dadurch der Status des Effizienzkonzeptes ändere. Denn was vom Standpunkt neoklassischer Theorie als Ineffizienz erscheine, zeige sich nun unter Umständen als institutionelles Dispositiv, auf das politische Akteure hingewirkt haben »in order to protect weak political property rights.« 26 Mit anderen Worten, berücksichtigt man die Kosten der »This role is not the ideal from the point of view of promoting aggregate economic welfare. It internalizes some political bias, and is therefore tainted if you like, but it is capable of doing some good.« (Dixit 1997, 227) Eine ähnliche Position vertritt der Autor in Dixit 1996, 143–156 26 Williamson 1996, 199 25

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Produktion politischer Entscheidung und die Rechts- und Interessenpositionen der relevanten Akteure im Ausgangszustand, so offenbaren sich die institutionellen Arrangements als effizient. Die entscheidende politisch-normative Frage lautet aber natürlich, ob dieser Schutz legitimerweise beansprucht werden kann und ob die gewählten institutionellen Mittel angemessen sind. Williamsons Analyse führt also zum einen zu einer Zurückweisung der simplifizierenden Anwendung normativer Konzepte, wie ›Effizienz‹, auf ein gegebenes normatives Gefüge; zum anderen öffnet sie das Problemfeld, wie die im politischen Prozess reklamierten Ansprüche (Williamsons ›weak political property rights‹) durch normative Theorie berücksichtigt werden können. Williamson selbst umgeht dieses Feld, wenn er an der Konzentration normativer Beurteilung auf den Effizienzbegriff festhält und reine Theorie durch komparative Institutionenanalyse ersetzen möchte. Ein gegebenes Gefüge soll als effizient gelten, »if no feasible superior alternative can be described and implemented with net gains.« 27 Die Umstellung der normativen Theorie auf vergleichende Institutionenforschung stellt einen wichtigen Fortschritt dar, umgeht aber die genuin normative Schwierigkeit der Legitimation von ›weak political property rights‹. 9. Unter adäquaten Kommunikationsbedingungen hat der politische Prozess die Vermutung für sich, »vernünftige Resultate zu erzeugen, weil er sich dann auf ganzer Breite in einem deliberativen Modus vollzieht.« 28

Diese Vernünftigkeitsvermutung zu Gunsten des politischen Prozesses möchte ich die habermasianische Präsumtion oder einfach Präsumtion nennen. Anders als Habermas selbst verteidige ich die Präsumtion als eine heuristische Regel und nicht als ein normatives Demokratie-Modell. Mit anderen Worten: Die Präsumtion fordert, die politische Realität so zu betrachten, als sei sie dem von Habermas vorgestellten Verfahrensbegriff deliberativer Demokratie entsprechend zustande gekommen. Sie verlangt anzunehmen, die politische Öffentlichkeit sei »eine Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme«, »Macht

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Williamson 1996, 195 Habermas 1996, 285

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[sei] kommunikativ erzeugt« und diese kommunikative Erzeugung geschehe unter idealen Bedingungen. 29 Präsumtion: Politische Prozesse und institutionelle Arrangements in demokratischen Rechtsstaaten sind so zu betrachten, als stellten sie vernünftige Lösungen angemessen formulierter Probleme dar. Ein Problem ist angemessen formuliert, wenn es auf der Grundlage legitimer Ziele, richtiger Lagebeschreibungen und funktionsfähiger Modelle gestellt wird. Eine Lösung ist vernünftig, wenn sie Zielen, Lagebeschreibungen und Modellen gerecht wird.

Gary S. Becker hat die Analysestrategie des ökonomischen Ansatzes einmal folgendermaßen erläutert: »When an apparently profitable opportunity to a firm, worker or household is not exploited, the economic approach does not take refuge in assertions about irrationality, contentment with wealth already acquired, or convenient ad hoc shifts in values (i. e. preferences). Rather it postulates the existence of costs, monetary or psychic, of taking advantage of these opportunities that eliminate their profitability – costs that may not be easily ›seen‹ from outside.« 30

Mein Vorschlag lautet, eine analoge Strategie für die normative Analyse politischer Institutionen zu benutzen. Wenn einem externen Beobachter eine Institution (aufgrund einer normativen Theorie) illegitim erscheint, so wird dies nicht auf Irrationalität, böse Absichten, die Logik des politischen Prozesses oder historische Kontingenzen bezogen. Vielmehr wird die Existenz von Gründen, normativ oder positiv, angenommen, welche die bestehenden Institutionen gut begründet erscheinen lassen – Gründe, die möglicherweise von Externen schwer zu beobachten sind. Die Präsumtion ist als eine Suchregel zu verstehen, nicht als eine quasihegelianische Annahme über die Vernünftigkeit der Wirklichkeit. Der normative Absolutismus, der den Vorrang der liberalen Demokratie zur Bedingung macht, ist nicht weniger defizitär als der komplementäre, der in der Politik nichts weiter sehen kann als horse-trading. Angemessener ist es, von der Inkongruenz zweier Prozeduren der Etablierung von normativen Geltungsansprüchen auszugehen: der demokratischen Deliberation und Abstimmung auf der einen, der Vereinheitlichung durch normative Theorie auf der anderen Seite. Beide Prozeduren sind mit spezifischen Defekten verbunden. Demokratische Deliberation ist strategieanfällig, we29 30

Habermas 1996, 291 Becker 1978, 7 A

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niger kohärent und gemessen an Modelllösungen oftmals irrational; theoretische Vereinheitlichung ist utopiegefährdet und gemessen an demokratischer Deliberation einseitig und tendenziell autoritär. ›Politik‹ selbst als einen Ort der Formulierung von normativen Geltungsansprüchen zu betrachten, darf somit nicht gleichbedeutend mit der Behauptung ›ihres Vorrangs‹ sein. Normative Theorie wird in ihrer kritischen Funktion keineswegs erübrigt, wenn auch in ihrem Anspruch neu justiert. Um es nochmals zugespitzt zu formulieren: Demokratischer Prozess und normative Theorie befinden sich virtuell in einer Situation wechselseitiger Kritik, in der ›die Politik‹ sich dem Vorwurf mangelnder Kohärenz ausgesetzt sieht und ›die Theorie‹ dem der Einseitigkeit. Diese Schwierigkeit liegt in der Natur der Sache und ist nicht durch neue bessere Theorie und neue bessere Politik gänzlich auszuräumen. Allerdings können konstitutionelle Probleme mehr oder weniger gut verarbeitet werden. 10. Es gilt also nach den normativen Prima-facie-Gründen für das Bestehen politischer Institutionen zu suchen. Denn normative Theorien können an einem analogen Defekt leiden wie die blackboard economics – so wie diese in explanatorischer Hinsicht an Anomalien scheitern, scheitern jene in legitimatorischer. Prima-facie-Gründe für Institutionen haben – so das hier verfolgte Verfahren – eine Funktion, die analog ist zu Rawls’ wohl erwogenen Urteilen. Während Rawls einen Ausgleich zwischen normativer Theorie und moralischen Intuitionen anstrebt, geht es hier um den zwischen normativer Theorie und institutionell verkörperten normativen Gründen. Anders als bei Rawls wäre die Vermutung, dass sich in bestehenden institutionellen Arrangements normatives Wissen verkörpert, zum Ausgangspunkt zu nehmen für die Suche nach einem reflexiven Gleichgewicht zwischen den Vereinheitlichungen normativer Theorie und den prima facie legitimen institutionellen Arrangements. Wenn man so möchte, liegt hier das hegelianische Motiv, dass die institutionelle Wirklichkeit Vernunftgehalt hat und dass dem ›Standpunkt des abstrakten Sollens‹ in politisch-normativer Absicht zu misstrauen sei. Hegels Credo, die Staatswissenschaft solle »nichts anderes sein, als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen«, und die Philosophie müsse »am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll«, 31 zu konstruie31

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ren, wird dabei von einem metaphysischen in ein heuristisches überführt. Die Annahme institutionalisierter Vernunft ist nicht geschichtsphilosophisch garantiert und hat insofern auch keine ›quietistische‹ Aufgabe zu erfüllen. Sie arbeitet vielmehr als eine Suchregel für Begründungen, die in institutionelle Gestaltung eingegangen sind, und soll so die Komplexität und Konkretisierung normativer Theorie fördern. Die Plausibilität der habermasianischen Präsumtion als eines heuristischen Prinzips wird womöglich durch folgenden Hinweis verstärkt: Demokratischer Liberalismus lässt sich durch die Idee umschreiben, staatliche Macht müsse an Regeln gebunden werden, die sich vernünftig rechtfertigen lassen. 32 Im Gegensatz zum Minimalstaat des individualrechtlichen Liberalismus kann der Staat des demokratischen Liberalismus politische Zwecke formulieren, die über die Schaffung einer rechtlichen Infrastruktur für private Interaktionen hinausgehen. Zwar müssen diese Zwecke in vernünftige Normen übersetzt werden, an denen das Verhalten von ausführender und Recht sprechender Gewalt auszurichten ist. Aber diese Programme sind der Definition gemäß nicht allein rechtsbezogen wie in einem idealtypischen Staat des klassischen Liberalismus. Demokratischer Liberalismus und klassischer Liberalismus geraten daher – trotz einer weitgehenden Übereinstimmung bezüglich der politischen Werte – in Konflikt über den legitimen Umfang hoheitlicher Kompetenz und unterscheiden sich markant hinsichtlich ihres Wissensbedarfs. Für beide zentral ist aber der Gedanke einer Verrechtlichung der Herrschaft, wobei Rechtlichkeit nicht allein als verfahrensförmig korrekte Setzung von Regeln, sondern als Vernünftigkeit von Recht verstanden wird. Im individualrechtlichen Liberalismus wird vernünftiges Recht von primordialem Recht abgeleitet, im demokratischen Liberalismus sind hingegen kollektive Ziele in die Form vernünftigen Rechts zu übersetzen. Der Erwerb der Herrschaftsbefugnis ist daher in einer Weise zu regeln, die eine Ausübung der Macht auf der Grundlage vernünftiger Begründungen wahrscheinlich werden lässt. Dies meint, dass im Ideal demokratischWas ich hier demokratischen Liberalismus nenne, hat einige Verwandtschaft mit Gerald Gaus’ Justificatory Liberalism: »Liberal politics has both a moral and an epistemological basis. Liberal politics requires, first, that citizens recognize their moral commitment to justify their demands on each other, and second, that citizens understand what is involved in such justification.« (Gaus 1996, 292) 32

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liberale Herrschaft auf einem politischen Wettbewerb um wohl begründete Zustimmung beruht; dass also das temporäre Regierungsmonopol auf die Festlegung von politisch relevanten Sachverhalten und staatlichen Maßnahmen durch die Wettbewerber herausgefordert werden kann; und dass eben dieser Wettbewerbsprozess auf längere Sicht die höchste Wahrscheinlichkeit birgt, dass staatliche Macht vernünftig ausgeübt wird. Daher setzt der demokratische Liberalismus die politische Öffentlichkeit als einen Ort des politischen Wettbewerbs um Zustimmung zu Begründungen voraus. 33 These: Sind die durch den demokratischen Liberalismus geforderten Bedingungen legitimer Herrschaft hinreichend approximiert, so ist die habermasianische Präsumtion ein sinnvolles heuristisches Prinzip.

Für eine ausführlicher Darstellung der Bedingungen deliberativer Demokratie: Habermas 1992, Rehg & Bohman 1996.

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3. Induktives und deduktives Verfahren

1. Die für den Problemkomplex Wohlfahrtsstaatlichkeit relevante politikphilosophische Literatur beschränkt ihre Arbeit in den allermeisten Fällen auf die Aufsuchung, Festsetzung und Begründung normativer Ziele und verzichtet auf die Beschreibung und Bewertung institutioneller Strukturen und historischer Umstände. Eine konkrete politökonomische Grundstruktur kann aber nur unter Berücksichtigung der »Traditionen, Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte jedes Landes und seine[r] besonderen geschichtlichen Umstände« angegeben werden. Nach der Auffassung von A Theory of Justice gehören diese Fragen nicht zur Gerechtigkeitstheorie, 1 in der lediglich fundamentale Organisationsprinzipien auf der Grundlage abstrakter Modelle abgehandelt werden sollen. Während er dort sogar neutral in der Frage sein wollte, ob der Großteil der Produktionsmittel durch private oder politische Körperschaften gehalten werden sollte, hat er in Justice as Fairness – wie gesehen – die EigentümerDemokratie als gesellschaftliches Ideal seiner Gerechtigkeitstheorie ausgewiesen. Spekulationen darüber, ob er den wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus oder den Marktsozialismus habe verteidigen wollen, sind damit hinfällig geworden. 2 Der von Rawls vollzogene Schritt scheint nur konsequent. Die weit reichende Neutralisierung der Gerechtigkeitstheorie gegenüber institutionellen Fragen hat bei Rawls weniger tiefe theoretische Gründe gehabt – so möchte ich vermuten – als vielmehr empirische: Das Ergebnis der Systemkonkurrenz zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten wurde zum Zeitpunkt des Erscheinens von A Theory of Justice noch weithin als offen Rawls 1971/1979, 307 Für die Marktsozialismus-Interpretation plädieren Richard Krouse und Michael McPherson 1988. Für die Gegenposition Robert Wolff: »One could characterize it [A Theory of Justice] briefly, even brusquely, as a philosophical apologia for an egalitarian brand of liberal welfare-state capitalism.« (Wolff 1977, 195)

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eingeschätzt, so dass eine klare Favorisierung von Privateigentumsordnungen Rawls möglicherweise verfrüht schien. Begünstigt wurde die gerechtigkeitstheoretische Auszeichnung der Eigentümer-Demokratie sicherlich durch die Entwicklung des politischen Liberalismus und der damit einhergehenden stärkeren Anbindung der Gerechtigkeitstheorie an Gegebenheiten moderner westlicher Gesellschaften. Die Neutralisierungsstrategie – also der Versuch, Gerechtigkeitstheorie so weit wie möglich von allen empirisch strittigen Behauptungen zu isolieren – hat dadurch viel von ihrer Attraktivität eingebüßt. Verglichen mit vielen modernen Konzepten der Politikphilosophie ist bereits A Theory of Justice überaus reich an gesellschaftstheoretischen Modellbildungen, so dass der Übergang zu Justice as Fairness und zu der Auszeichnung der property-owning democracy sich gleichsam harmonisch ergab. Insbesondere die egalitaristisch ausgerichtete Politikphilosophie hat sich jedoch an der Neutralisierungsstrategie des frühen Rawls orientiert und diese sogar noch verschärft. Während Rawls mit einem komplexen, wenn auch abstrakten Entwurf von Gesellschaft und ihren Institutionen operierte, haben Egalitaristen wie Richard Arneson oder G. A. Cohen ihre Untersuchungen auf den ›normwissenschaftlichen‹ Aspekt begrenzt und auf gesellschaftstheoretische Erwägungen fast gänzlich verzichtet. 3 Sie konzentrieren sich auf die Verteidigung hochabstrakter normativer Aussagen und verteidigen diese mit philosophiespezifischen Techniken, wie logischer Analyse oder Überprüfung von Thesen in Gedankenexperimenten. So erhellend und hilfreich diese Analysetechniken auch sind: Ihr Ertrag ist in der Politischen Philosophie sicherlich weit weniger beeindruckend als in der Moralphilosophie. Dies hat vor allem damit zu tun, dass normative Grundaussagen über die gesellschaftliche Grundstruktur oder institutionelle Regelungen in (noch) geringerem Maße unmittelbar evident sind als Intuitionen über moralische Fragen. Moralphilosophie kann in der Regel auf einen Kernbereich indisponibler Überzeugungen zurückgreifen, um durch mehr oder weniger komplexe gedankliche Operationen auch uneindeutigere Fragen zu klären. Sie kann auf Intuitionen bauen, wie die, dass man Tiere nicht zum Spaß misshandeln darf. Niemand braucht Moralphilosophie, um dies zu wissen. Im Gegenteil: Eine Moralphilosophie, die zum Ergebnis hätte, dass es völlig in Ordnung ist, Tiere aus Spaß zu misshandeln, wür3

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Induktives und deduktives Verfahren

de von keinem normalen Menschen akzeptiert werden. In Bezug auf die Frage der richtigen Art, Erträge zu verteilen, gibt es keine ähnlich zuverlässigen Intuitionen. Wenn eine Gruppe von Pfadfindern im Wald einen eigentümerlosen Schatz findet – wie soll er aufgeteilt werden? Gehört er – gemäß Kirzners finder-keeper-rule – demjenigen allein, der ihn entdeckte? Allen Gruppenmitgliedern zu gleichen Teilen? Sollen die Kinder aus kleinen Verhältnissen mehr bekommen? Oder diejenigen, die am meisten damit anzufangen wissen? Oder diejenigen, die sich um die Gruppe besonders verdient gemacht haben? Oder diejenigen, die sonst immer zu kurz kommen? Oder die Angehörigen diskriminierter Gruppen? Oder die Bedürftigen? Ist gemäß einem gewichteten Benachteiligungs-Index zu verteilen? Oder soll ein Wettspiel veranstaltet werden, das über die Aufteilung entscheidet? Oder doch lieber eine Lotterie? Keine dieser Positionen ist völlig abwegig – und genau dies ist natürlich das Problem. Bei solchen Ex-post-Verteilungsproblemen konkurrieren verschiedene plausible Prinzipien miteinander, über die nicht mit externen Begründungen, sondern nur durch Einigung der Beteiligten entschieden werden kann. Gerecht wäre diejenige Verteilung, auf die sich alle als eine gerechte einigen könnten (wenn sie sich einigen könnten). Denn dass sie sich auf eine Verteilung als eine gerechte einigen werden, ist keineswegs gesagt. Selbst wenn alle dazu bewegt werden könnten, den Schleier des Nichtwissens als Argumentationsregel zu respektieren, wäre nicht klar, welches entscheidungstheoretische Prinzip benutzt werden sollte und gemäß welchen Kriterien die Wohlfahrtspositionen zu beurteilen wären. All dies unterscheidet den normativen Status einer Ex-post-Verteilungsregel entschieden von dem Status einer moralischen Intuition. Denn meine Überzeugung, dass es falsch ist, fühlende Wesen aus Spaß zu quälen, ist in einer Weise unbedingt, in der meine Überzeugung über die richtige Ex-post-Verteilungsregel nicht unbedingt ist. Aus Gründen wie diesen ist der Versuch, Fragen institutioneller Gestaltung durch den Verweis auf moralische Intuitionen zu klären, häufig nicht hilfreich, in manchen Fällen führt er sogar zu irreführenden Ergebnissen. Damit ist nicht gesagt, dass moralische Intuitionen im Rahmen der Politikphilosophie keine Rolle spielten. Ihr Status ist aber vergleichsweise schwach. 2. Es ist typischer Ausdruck eines ›normwissenschaftlichen‹ Egalitarismus, wenn Richard Arneson über das von ihm favorisierte Konzept normativer Politikphilosophie sagt: A

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»The egalitarian welfarist principle is agnostic as to what institutional means would be best suited to attain egalitarian distributive goals. Perhaps the best feasible public ownership economy performs worse than the best feasible private ownership economy. (Notice that capitalist Sweden could turn out to be a better approximation to the egalitarian ideal than socialist Hungary.)« 4

Typisch normwissenschaftlich, insofern die Frage einer gerechten Grundstruktur hier völlig als Problem der Anwendung behandelt wird, und zwar der Anwendung eines einzigen Prinzips. Selbst wenn es eine externe Verteilungsregel gäbe, die für sich eine ähnliche intuitive Gewissheit beanspruchen könnte wie gewisse moralische Überzeugungen, so enthielte sie sicherlich nicht alles, was es zur Bewertung eines politökonomischen Systems zu sagen gäbe. Was für und was gegen das kapitalistische Schweden oder das sozialistische Ungarn spricht, ist mit der Formulierung egalitaristischer Verteilungsziele nur höchst unvollständig beschrieben. 5 Der für die Reflexion von Wohlfahrtsstaatlichkeit relevante Egalitarismus ist vornehmlich damit befasst, Präzisierungen an Gerechtigkeitsprinzipien, wie beispielsweise dem egalitaristischen Welfarismus, vorzunehmen und diese gegen alternative Konzepte zu verteidigen. 6 Diese Präzisierungsversuche entwickeln eine eigene Dynamik, und die egalitaristische Literatur beschäftigt sich zu einem guten Teil damit, die unerwünschten Implikationen vormaliger Systematisierungsversuche zu bewältigen. Ich möchte an dem Beispiel der Equality of What?-Debatte veranschaulichen, dass die dabei erzielten Ergebnisse – welche Vorzüge sie immer haben mögen – wenig intuitive Plausibilität für sich beanspruchen können. Die Debatte handelt von der Frage, in Bezug auf was Egalitaristen eigentlich Ausgleich fordern. Rawls schlug vor, die Primärgüterausstattung als Index zu benutzen, um die Gruppe der am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft zu bestimmen. Deren Aussichten sollen gemäß dem ersten Teil des Differenzprinzips maximiert werden. Seit der Rezension Kenneth Arrows zu A Theory of Arneson 1992, 207 Dan Usher 1996, 112–114 hat einen analogen Punkt gegenüber der Theory of Justice geäußert. 6 Pars pro toto: Arnsperger 1997. Robert Nozick 1974/1999, 204 ff. hat diese Entwicklung mit dem Vorwurf forciert, dass Rawls seine Theorie so konstruiert habe, dass sie keine Überprüfung an einfachen Beispielsituationen erlaube, für die unsere Intuition ausreichend eindeutig sei. Das Problem ist nur, dass etwas, was für einfache Beispielsituationen gilt, keineswegs für ganze Gesellschaften gelten muss. 4 5

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Induktives und deduktives Verfahren

Justice meinen jedoch viele, dass Primärgüter (in der ursprünglichen rawlsschen Definition) ein unzureichendes Maß für jemandes Wohlergehen darstellen und dass dies zu missliebigen Schlussfolgerungen führt. 7 Nach Rawls hätte nämlich eine reiche, aber schwer kranke Person, die äußerst kostspielige Behandlungen bräuchte, Ressourcen an gesunde Arme zu transferieren, auch wenn dies dazu führte, dass sie ohne Behandlung bleiben müsste. 8 Denn die Umverteilungsentscheidung wird bei Rawls allein von Primärgütern dominiert – und Gesundheit gilt ihm nicht als solches Gut. Nun könnte man versucht sein, die Verlegenheit zu beheben, indem man die körperliche Ausstattung in den Primärgüterindex aufnähme. Behinderung und schwere Krankheiten würden dann berücksichtigt und es wäre ausgeschlossen, dass eine reiche, aber kranke Person als ebenso gut gestellt betrachtet wird wie eine reiche gesunde. Doch – so wurde von Arneson gefragt – warum soll ein besonderer Bedarf aufgrund einer Krankheit zu einem höheren Anteil an Gütern berechtigen, ein exklusiver Geschmack jedoch nicht? Denn wenn die Primärgüterausstattung deshalb als wichtig erachtet wird, weil sie Menschen in die Lage versetzt, ihre eigene Konzeption des Guten zu verfolgen: Warum soll dies nur für Kranke und nicht für Anspruchsvolle gelten? Haben Menschen mit verfeinerten Bedürfnissen weniger Recht, ihren Vorstellungen des Guten nachzugehen, als Kranke und Behinderte? Ist dies nicht ein klarer Verstoß gegen das liberale Prinzip, dass der Staat gegenüber den Konzeptionen des Guten neutral sein müsse, welche die Bürger verfolgen? Richard Arneson bejaht die voranstehende Frage, und aus diesem Grund stellt er sich auf den Standpunkt, dass, wenn Müller und Meier die gleichen Mittel haben, aber Meier nichts mehr liebt als »Die Tatsache, dass der eine mit Wasser und Sojamehl zufrieden ist, während der andere ohne französischen Rotwein und Kiebitzeier verzweifelt, hätte demnach keinen Einfluss auf den interpersonellen Vergleich; bei gleichem Einkommen wären sie gleich gut gestellt. Wenn dieser Vergleich spaßhaft zu sein scheint, stelle man sich den Bluter vor, der für eine Therapie jährlich ungefähr 4000 Dollar benötigt, um einen vor Blutungen sicheren Zustand zu erreichen, der sich mit dem Befinden einer normalen Person überhaupt nicht vergleichen lässt. Bedeutet gleiches Einkommen Gleichheit? Falls nicht, müsste Rawls, um der Konsistenz willen, seiner Liste von Grundgütern Gesundheit hinzufügen; dann aber fände eine Abwägung zwischen Gesundheit und Wohlstand statt, der alle die begrifflichen Probleme unterschiedlicher Nutzenfunktionen einschlösse.« (Arrow 1973/1977, 211) 8 Siehe: Copp 1992, 246. Rawls 1982 stellt klar, dass bei ihm Fälle, wie Arrow und Copp sie beschreiben, durch Normalisierungsannahmen ausgeschlossen sind. 7

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Bier und Würstchen, während es für Meier doch Champagner und Kaviar sein muss – dass dann Meier ein Anrecht auf Transfereinkommen hat, bis er das Wohlergehensniveau von Müller erreicht, sofern er für diese Vorlieben nicht verantwortlich gemacht werden kann. 9 Das egalitaristische Prinzip, nach dem jeder Person grundsätzlich ein Anspruch auf gleiches Wohlergehen zusteht, wird kombiniert mit dem liberalen Prinzip staatlicher Neutralität: Wenn jemand für seinen exklusiven Geschmack nicht verantwortlich ist und daher mehr Ressourcen benötigt, um auf ein gleiches Wohlergehensniveau zu gelangen, so darf sein Umverteilungsanspruch nicht zurückgewiesen werden. Gegen Arnesons Anschauung lässt sich möglicherweise auch auf rein normwissenschaftlicher Ebene einiges einwenden. An ihr wird jedoch auch das systematische Problem einer Analyse deutlich, die zu Aussagen über gesellschaftliche Institutionen gelangen will, ohne gesellschaftstheoretische Modelle zu verwenden. Die Forderungen stehen gleichsam anschluss- und adressatenlos im normativen Raum. In A Theory of Justice hat Rawls selbst – wie angesprochen – viel stärker als in seinen späteren Arbeiten auf ein deduktives Verfahren gesetzt. Zunächst legt die Gerechtigkeitstheorie die allgemeinen Prinzipien fest, anhand derer Grundstrukturen beurteilt werden können. Sie macht idealisierende Annahmen, wie die, dass im Urzustand keine Meinungsverschiedenheiten über die Funktionsweise der Gesellschaft bestehen oder dass alle bereit sind, sich an die Gerechtigkeitsgrundsätze zu halten. Nachdem man sich der Richtigkeit der allgemeinsten Grundsätze versichert hat, werden sie auf konkrete Fälle angewendet. Die ideale Theorie gibt ein normatives Ziel vor, und die nicht-ideale Theorie gibt an, welche Hindernisse sich der Erreichung dieses Ziels in den Weg stellen und wie sie überwunden werden können. Rawls geht davon aus, dass die Umsetzung einer gerechten Gesellschaft – so wie sie in der Theory umschrieben wird – eine natürliche Pflicht jedes Politikers und Bürgers ist. »Sieht man die Gerechtigkeitstheorie als Ganzes, so bringt der ideale Teil eine Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft, die man, soweit es möglich ist, verwirklichen sollte. Die vorhandenen Institutionen sind im Lichte dieser Vorstellungen zu beurteilen und in dem Maße als ungerecht zu beurteilen, wie sie von ihr ohne zureichenden Grund abweichen. […] Man hat also, so9

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Induktives und deduktives Verfahren

weit es die Umstände gestatten, eine natürliche Pflicht, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und bei den schlimmsten anzufangen, die am weitesten von der vollkommenen Gerechtigkeit abweichen. Das ist natürlich nur ein sehr ungenauer Gedanke. Die wichtige Bestimmung des Ausmaßes der Abweichung vom Ideal bleibt der Intuition überlassen.« 10

Spätestens in Justice as Fairness findet sich jedoch insofern eine modifizierte Vorstellung über das angemessene Verfahren der Gerechtigkeitstheorie, als Rawls nun die Schilderung eines Gesellschaftsideals in die Theorie integriert. Die Beschreibung einer gerechten institutionellen Struktur ergibt sich nicht mehr einfach aus der Anwendung abstrakter Prinzipien, deren Richtigkeit unabhängig dargelegt werden kann. Vielmehr wird eine solche Beschreibung selbst zu einem Bestandteil der Rechtfertigungsprozedur – eben deshalb delegiert sie Rawls nicht mehr an die angewandte Politikphilosophie. In Analogie zu der Rede von Partial- und Totalmodellen ließe sich von einem totalen induktiven Verfahren bei Rawls sprechen, insofern er Legitimationsfragen nicht fallweise und kontextlos stellt, sondern in den Zusammenhang einer gesellschaftlichen Grundstruktur einordnet. 11 Für das totale induktive Verfahren – wie es dem reifen Rawls zugeschrieben werden kann – spricht, dass es die Vorteile systematischer Reflexion nutzt, ohne sich von den gesellschaftlichen Problemstellungen abzukoppeln. Es hat somit erstens einen Relevanzvorteil. Zweitens hat es einen offensichtlichen empirischen Bezug, der bei formalen Modellen der Politikphilosophie und der Ökonomie oft ungeklärt bleibt. Man könnte von einem Referenzvorteil sprechen. Drittens wird klarer, was eigentlich gefordert wird – der Operationalisierungsvorteil. Selbst der in dieser Beziehung wesentlich besser anschlussfähigen A Theory of Justice ist vorgeworfen worden, das Differenzprinzip sei faktisch nicht anzuwenden. Denn die erforderlichen kontrafaktischen Szenarien von Einkommen und Vermögen der Rawls 1971/1979, 278 Der politische Reformdiskurs verfährt dagegen nach einem partiellen induktiven Verfahren, bei dem typischerweise ein normativer Anfangsverdacht gegenüber einer bestimmten Institution die Untersuchung auslöst: Führt das Umlageverfahren in seiner gegebenen Form nicht zu der massiven Bevorzugung von kinderlosen Paaren? Ist das Bündnis für Arbeit nicht der Versuch, Anpassungslasten auf Dritte abzuwälzen? Sind äquivalente Renten fair? Bedeutet die Aufgabe der vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht eine ungerechte Benachteiligung der Kranken? Sollten Staaten ein Recht auf Arbeit gewähren?

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am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft (im gesamten Lebenszyklus) in verschiedenen Grundstrukturen scheinen über das hinauszugehen, was Sozialwissenschaft an Komplexität bewältigen kann. »[I]t would take the talents of a Dickens or a Tolstoy to conjure an entire society as an example, and the learning of a Weber to judge how such a society would work itself out.« 12

Obwohl dieser Vorwurf überzogen ist und sich der Forderungsgehalt der rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien – wie gesehen – durchaus bestimmen lässt, verweist Wolff hier auf ein wichtiges Problem. Die Informationsanforderungen eines gerechtigkeitstheoretischen Modells müssen erfüllbar sein. Viertens vermag das totale induktive Verfahren der Heterogenität normativer Begründungen von Sozialstaatlichkeit eher Rechnung zu tragen. Ich schlage hierfür die Bezeichnung eines Pluralitätstoleranz-Vorteils vor. 3. Das induktive Verfahren harmoniert mit dem Gedanken, dass die Institutionen demokratischer Staaten prima facie gerechtfertigt sind. Denn sie sind das Ergebnis einer Erörterung von Gründen innerhalb demokratischer Verfahren, an deren Ende ein Mehrheitsurteil über normative und deskriptive Geltungsansprüche festgestellt wird. Demokratische Verfahren geben Entscheidungen normatives Gewicht, insofern sie den erwogenen Präferenzen der Majorität Ausdruck verleihen. Dies reicht aus, um eine Würdigung durch politikphilosophische Reflexion zu fordern. Normative Theorie darf die demokratische Legitimität sozialstaatlicher Arrangements nicht ignorieren. Doch das bedeutet nicht, dass normative Theorie durch den Legitimationsmodus ›demokratisches Verfahren‹ schlicht überflüssig wird. Sie hat vielmehr die Aufgabe, Defekte dieser Verfahren zu kompensieren. Denn erstens ist die Informationsverarbeitung in kollektiven Entscheidungsprozessen zuweilen unzureichend und führt zu beanstandungswürdigen Ergebnissen. Zweitens wird der demokratische Abstimmungsprozess durch die Interessen der Mehrheit dominiert, so dass es zu der systematischen Missachtung von legitimen Minderheitenanliegen kommen kann. Drittens ist das Abstimmungsverfahren selbst nicht vor Versuchen der strategischen Mani12

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pulation sicher. Viertens verfährt die demokratische Gesetzgebung stückweise, so dass sich im Zeitverlauf ein dysfunktionales Gesamtgeflecht von Institutionen herauszubilden vermag. Demokratische Verfahren generieren somit zwar prima facie legitime Ansprüche; doch diese unterliegen einer theoretisch-systematischen Kritik. Es reicht daher zur vollen Rechtfertigung sozialstaatlichen Zwangs nicht aus, wie Goodin zu sagen, er genieße die Zustimmung der Wählerschaft. 13 Richtig ist jedoch, dass die Politikphilosophie immer schon ein durch Geltungsansprüche besetztes Gebiet vorfindet und dass sie diese Geltungsansprüche erörtern sollte, um der Gefahr modelltheoretischer Simplifikation zu entgehen. Ignoriert sie diese Tatsache, so entscheidet sie sich von Beginn an für ihre politische Irrelevanz und – aller Wahrscheinlichkeit nach – für ihre normative Unangemessenheit. Eines der wichtigsten Defizite der Theorie Robert Nozicks in Anarchy, State, and Utopia besteht in der unerhörten Verkürzung der Legitimationsproblematik – so als reiche die Kenntnis elementarer individueller Rechte im Prinzip aus, um die Triftigkeit jeglichen politischen Geltungsanspruches in einer kapitalistischdemokratischen Ordnung zu entscheiden. Noch gravierender wird dieser Defekt durch die Tatsache, dass Nozick zum einen keinen Versuch unternimmt, jene Rechte zu legitimieren, zum anderen noch nicht einmal eine klare Formulierung der Bedingungen gerechten Eigentumserwerbs vorlegt – mithin das Bestehen von Rechten postuliert, deren Legitimität letztlich völlig unbestimmt bleibt. »The beginning of wisdom, then, is to recognize that there is no reason for expecting the welfare state to have a simple structure or a single rationale.« 14

4. Worin besteht ein modelltheoretisches Verfahren und wie unterscheiden sich die in ihm verwendeten Modelle von denen des induktiven Vorgehens? In der Ökonomie oder der Politikphilosophie ist ›Modell‹ grundsätzlich die Bezeichnung für (a) eine formale Struktur (bestehend aus logischen Sätzen, Funktionen, Koordinatensystemen, Ablaufdia»Thus, it may well be inefficient, in some narrowly economic sense, for the welfare state to pursue goals of equity, equality, fairness, or social justice. But if people happen to harbor those goals, then they have every bit as much claim upon want-regarding policymakers’ concerns as those goals that promote economic efficiency.« (Goodin 1988a, 248) 14 Barry 1990, 100 13

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grammen, Matrizen), die mit (b) Aussagen darüber verbunden wird, was diese Struktur darstellen soll. Die vielleicht wichtigste formale Struktur der Ökonomie zeigt eine steigende und eine fallende Gerade, die sich an einem Punkt schneiden. Aus dieser formalen Struktur wird ein Modell, indem ihr repräsentationaler Gehalt zugesprochen wird, wenn also von den Geraden gesagt wird, sie stellten die Angebots- und Nachfragemenge für gegebene Preise dar. Der Schnittpunkt soll den Preis bezeichnen, für den Angebot und Nachfrage sich ausgleichen, den Markträumungspreis. Die formale Struktur ›Preis-Mengen-Kombinationen‹ lässt sich für zahllose Märkte verwenden. Es reicht beispielsweise aus, um in erster Annäherung die These darzustellen, dass Mietpreisbindungen in kurzer Frist zu einem Nachfrageüberhang auf dem Wohnungsmarkt führen, und Ähnliches mehr. 15 Eine andere – in der Politikphilosophie, den Sozialwissenschaften, der Biologie – äußerst gebräuchliche formale Struktur ist das Gefangenendilemma. Die Struktur wird festgelegt durch die Menge der Spieler, die Menge an Optionen und die Menge bewerteter Konsequenzen, die sich aus der Kombination dieser Optionen ergeben. Es hat sich in der Forschungspraxis gezeigt, dass diese formale Struktur zahllose Modelle tragen kann, sich also mit unterschiedlichen Interpretationen verknüpfen lässt. Wichtig ist nun, dass ein Modell (im Sinne einer interpretierten formalen Struktur) von der wissenschaftstheoretischen Literatur vorwiegend als ideales Objekt ohne empirischen Bezug ausgelegt wird. 16 Eine Kritik, die der allgemeinen Gleichgewichtstheorie vorhält, sie beruhe auf unrealistischen Annahmen, ist insofern verfehlt, als jene von nichts Realem handelt. Das theoretische Modell liefert nach dieser Deutung die Definition des Prädikats ›ein wirtschaftliches Gleichgewichtssystem‹ – und Definitionen können weder etwas erklären noch etwas prognostizieren. 17 Es ist noch nicht einmal gesagt, dass es ein System in der empirischen Welt gäbe, für welches die Barr 1987/1998, 362 ff. »Insofar as one is only working with a model, one can dismiss any questions about the realism of the assumptions one makes. But remember that the reason is that one is saying nothing about the world.« (Hausman 1992, 79) Ich möchte mich hier nicht mit der intrikaten Frage befassen, ob die Interpretation einer formalen Struktur nicht notwendigerweise eine Referenz mit sich bringt (eine Auffassung, der ich zuneige). 17 »On this view of scientific theories, there is no point in asking whether the claims of a theory are true or whether a theory provides reliable predictions. Predicates cannot be true or false or provide any predictions.« (Hausman 1992, 74) 15 16

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interpretierte formale Struktur ein anwendbares Modell wäre. Ökonomen wie Frank Hahn verstehen die Ökonomie daher weniger als empirische Wissenschaft denn als formale Disziplin, in der es um das Verstehen der strukturellen Eigenschaften idealer Objekte geht. Der Nutzen der Ökonomie besteht ihm zufolge in der Bereitstellung einer Grammatik und Semantik, die in gewissen Fällen erlaubt, die Konsistenz wirtschaftspolitischer Zielsetzungen zu prüfen, während sie als empirische Theorie denkbar unbedeutend ist; Meinungsverschiedenheiten werden kaum je auf der Grundlage empirischer Ergebnisse ausgetragen. 18 Die Auslegung von Modellen als Definitionen von Prädikaten ist auch auf die philosophische Gerechtigkeitstheorie anwendbar. So wie sich anhand einer Edgeworth-Box das Prädikat ›Menge der effizienten und nicht effizienten Güterallokationen‹ umschreiben lässt, so können die beiden Rawls-Prinzipien als Definition dessen, was der Begriff ›eine gerechte Grundstruktur der Gesellschaft‹ bedeutet, angesehen werden. Dabei besteht die Möglichkeit, dass die Menge der möglichen Anwendungen dieses Modells leer ist. Natürlich ist hier Vorsicht geboten: Aus der Tatsache, dass die Menge der möglichen Anwendungen der Theorie leer ist, folgt nicht unmittelbar, dass es keine gerechte Grundstruktur gibt. Es folgt lediglich, dass es keine Rawls-gerechte Grundstruktur gibt. Die Auslegung dieses Befundes ist nun aber grundsätzlich nach zwei Seiten hin offen. Es kann zum einen heißen, dass es in der Welt keine Gerechtigkeit gibt, zum anderen, dass die Welt auf andere Weise gerecht ist, als die Theorie dies rekonstruiert. Dieser Punkt ist simpel, aber nicht trivial, und ich möchte das angesprochene Problem des Gehalts von Modellen am Beispiel eines Beitrag aus der Ökonomie näher illustrieren, nämlich an Hans-Werner Sinns in apologetischer Absicht verfasster Theory of the Welfare State (ein Beitrag, der sich – nebenbei gesagt – als Replik auf Turning Sweden Around annonciert). 5. Sinn gesteht zu, dass am Wohlfahrtsstaat viel berechtigte Kritik geübt worden sei, warnt jedoch davor, ihn gänzlich zu verwerfen. »But the one thing economists can only very rarely do is to settle a disagreement on empirical evidence. I cannot think of a single instance where this has occurred. I do not see why prediction should not be attempted but in most cases reasonable success will elude us. There are many reasons for this, but complexity is one of them.« (Hahn 1996, 193) Die Schwäche der Ökonomie als einer empirischen Theorie ist Grundlage ihrer Kritik bei Rosenberg 1992.

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Denn, so das im Anschluss an Hal Varian entwickelte Argument, 19 ein redistributives Steuersystem wirke wie eine Versicherung gegen Einkommensrisiken aus produktiven Tätigkeiten. Es steigere damit die Bereitschaft, Risiken zu übernehmen, und dies sei in allokativer Hinsicht der entscheidende Vorteil. Geschützt durch den Wohlfahrtsstaat lassen sich die privaten Akteure auf Unternehmen mit unsicherem Ausgang ein, auf die sie sich andernfalls nicht eingelassen hätten – und Sinn zeigt, dass die Menge übernommener Einkommensrisiken aus produktiver Tätigkeit im Wohlfahrtsstaat optimal sei. Umverteilung wirke ähnlich wie eine Haftpflichtversicherung als Institution, durch die wirtschaftliche Risiken in wohlfahrtssteigernder Weise realloziert würden. Ich möchte die Erörterung der Frage, wie plausibel diese These von der gesteigerten Risikoproduktivität des Wohlfahrtsstaates in empirischer Hinsicht ist, ausklammern. Hier wäre zu fragen, inwiefern soziale Sicherung Risikobereitschaft und die Fähigkeit, Risiken abzuschätzen und im Verhalten abzusichern, auch vermindert und wie der Gesamteffekt aussehen könnte; ferner hätte man zu untersuchen, ob das Ziel der Steigerung der Risikoproduktivität nicht durch andere Institutionen wirksamer zu erreichen wäre. Hier geht es mir nicht um diese inhaltlichen Fragen, sondern um solche des Verfahrens. Und dies ist dem sinnschen Beitrag angemessen, der zwar beansprucht, etwas darüber zu sagen, »why the welfare state emerged« 20 , aber tatsächlich einen extrem engen Fokus wählt. Sinn interpretiert eine formale Struktur als ›Wohlfahrtsstaat‹, die mit dem Gebrauch des Begriffs ›Wohlfahrtsstaat‹ in anderen semantischen Kontexten wenig gemein hat. Sie hat zum Beispiel wenig gemein mit dem Wortgebrauch in der Studie Turning Sweden Around, auf die er erklärtermaßen repliziert. Dort meint ›Wohlfahrtsstaat‹ ein in Gesetzen niedergelegtes und wirklich bestehendes Netz von Institutionen. Sinn redet hingegen von einer Modellpopulation identischer Individuen, die vor demselben Entscheidungsproblem unter Unsicherheit stehen und deren Einkommensrisiken stochastisch unabhängig voneinander seien sollen. Eine solche Unabhängigkeitsannahme ist erforderlich, um ein versicherungstheoretisches ArguVarian 1980 Sinn 1994, 30. Erstaunlich an diesem Anspruch ist, dass Sinn einen Erklärungsanspruch erhebt, ohne etwas über kausale Mechanismen zu sagen – etwas, was man von einer Erklärung gewöhnlich erwartet. Siehe: Iorio 1998.

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ment zu konstruieren, weil nur statistisch unabhängige Risiken versichert werden können. Sinns Modell nimmt an, dass Einkommensrisiken von zufälligen Zuständen der Natur W und von den Selbstversicherungsanstrengungen e (persönlichen Investitionen in physisches und Humankapital etc.) abhingen. Nach dem Gesetz der großen Zahl entsprechen individuelles Einkommensrisiko und individuell erwartetes Einkommen ex ante der Einkommensungleichheit und dem Durchschnittseinkommen in der Gesellschaft ex post. Wenn ein Individuum – so Sinns Beispiel – mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 % ein Lebenseinkommen zwischen 1 Mio. und 1,1 Mio. 0 erzielen wird, so entspricht dieser Exante-Wahrscheinlichkeit die Ex-post-Verteilung der Einkommen: 1 % der Bevölkerung werden ein Einkommen verdient haben, das in der angegebenen Marge liegt. Das persönliche Einkommen einer Person bestimmt Sinn als die Differenz zwischen (a) dem maximalen hypothetischen Einkommen (m und n stehen für Markt- beziehungsweise Nichtmarkteinkommen), das bei e = 0 erreichbar wäre, und (b) dem Wert von e sowie dem von e und W abhängigen Zufallsverlust von Einkommen L. Das persönliche Einkommen vor Steuern und Transfers beträgt somit Y = m + n – L (e, W) – e

(1)

Die persönliche Steuerschuld T soll ebenfalls von e und W abhängen. Berücksichtigt man nun noch die staatlichen Leistungen p (Transfers, öffentliche Leistungen), so ergibt sich das Einkommen nach Steuern und Transfers als: Y = m + n – L (e, W) – e – T (e, W) + p

(2)

Es ist nun nahe liegend, anzunehmen, dass eine Erhöhung von e (Selbstversicherungsanstrengungen) Einkommensverluste für alle Zustände der Welt W reduziert. L (e, W) = l (e) W, W  0, l > 0 l’ < 0, l’’  0, l’ (0) = 1

(3)

Der Einfachheit halber geht Sinn ferner von einer linearen Steuer auf Markteinkommen aus. Die Steuerschuld ergibt sich aus dem maximalen hypothetischen Markteinkommen m reduziert um die Einkommensverluste L (e, W) sowie um die Opportunitätskosten a von A

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REALISMUS UND NORMATIVE GELTUNGSANSPRÜCHE

e (durch Selbstversicherungsanstrengungen entgangene Marktgewinne). Es ergibt sich somit: T (e, W) = t [m – L (e, W) – ae]

(4)

P = E[T(e, W)]

(5)

Für ist der Staatshaushalt ausgeglichen. Für diese Modellwirtschaft lässt sich zeigen, dass redistributive Besteuerung das Durchschnittseinkommen m nicht beeinflusst, aber die Standardabweichung s von diesem Einkommen – und genau hierin besteht der Versicherungseffekt der Umverteilung. Denn das Durchschnittseinkommen ergibt sich aus dem maximalen Einkommen bei e = 0, also aus m + n. Dieser Wert wird vermindert um Verluste, die von den Selbstversicherungsanstrengungen und den Weltzuständen abhängen (l (e) E (W)) sowie von den Kosten von e. Es ergibt sich dann: m = m + n – l (e) E (W) – e

(6)

und entsprechend (wobei R für den Standardabweichungsoperator steht): s = (1 – t) l (e) R (W)

(7)

Die Frage ist nun, wie sich die Selbstversicherungsanstrengungen e und zwei unterschiedliche Steuersätze t auf das Durchschnittseinkommen m und die Standardabweichung s in der Modellwirtschaft auswirken. Hier ist nochmals daran zu erinnern, dass das individuelle Ex-ante-Einkommensrisiko der Ex-post-Verteilung von Einkommen in der Population entspricht. Da das Modell von identischen Individuen ausgeht, haben alle dieselbe Risikopräferenz, und da diese Präferenz die Häufigkeitsverteilung der Einkommen festlegt, kann eine soziale Wohlfahrtsfunktion konstruiert werden. 21 Über das, was soziale Präferenzfunktionen (SPF) repräsentieren, gibt es konkurrierende Auffassungen. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist, ob die Ordnung sozialer Zustände aus einer Aggregation der individuellen Ordnungen hervorgehen soll (»ordering by society«) oder nicht. Im letzteren Fall wäre »the so-called ›social welfare function‹, postulated by welfare economists, […] a social ordering only in the sense that it orders states of society.« (Little 1952, 424) Soziale Präferenzfunktionen repräsentierten dann die Meinungen einer beliebigen Person oder Gruppe über den gewichteten Nutzen aller Individuen einer Gesellschaft. Die Arrow-Problematik ist unter diesen

21

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Induktives und deduktives Verfahren

Damit lässt sich nun das modellgesellschaftlich optimale Maß riskanter Tätigkeiten bestimmen. Sinn kann zeigen, dass im Modell der optimale Grad an Ungleichheit vor Steuern in Abhängigkeit vom Steuersatz steigt. Wenn aber die optimale Ungleichheit vor Steuern mit dem Steuersatz zunimmt, so heißt dies, dass das individuelle Exante-Einkommensrisiko vor Steuern optimalerweise mit höherem Steuersatz steigt. Daher hat im Modell Umverteilung den doppelten Effekt, die Ungleichheit nach Steuern zu reduzieren, aber auch die Vorsteuer-Risikobereitschaft zu steigern. Der unter Laissez-faireBedingungen bestehende Zielkonflikt zwischen Risikoaversion (oder Ungleichheitsaversion) und Erwartungsnutzen-Maximierung kann durch die Modellregierung gemindert werden. »Given that the government offers public insurance, the need for self-insurance is reduced. Redistributive taxation increases the marginal post-tax return to risk taking (the slope of the redistribution line as compared to that of the self-insurance line) and lowers the marginal compensation for risk taking that the agent requires (the indifference curve slope). This makes it socially optimal to tolerate more risk and inequality in exchange for a higher level of average income. Under the protection of the welfare state more can be dared.« 22

Ich möchte das Referat des sinnschen Beitrags hier abbrechen, weil das Ausgeführte ausreichen sollte, um Stärke und Schwäche des modelltheoretischen Verfahrens zu verdeutlichen. Die Stärke besteht zweifellos darin, formale Relationen zu verdeutlichen, deren Kenntnis für die Gestaltung von Institutionen wertvoll sein könnte. Die Schwäche dürfte weniger in dem Verfahren selbst als in überbordenden Ansprüchen hinsichtlich dessen liegen, was gezeigt worden ist. Sinn beansprucht »to contribute to the understanding of why the welfare state emerged and which laws and regularities govern its performance. The model developed for that purpose is admittedly abstract, leaving out many aspects that econoUmständen irrelevant (in diesem Sinne äußert sich – neben Little – auch Bergson 1954). Ein littlesches Verständnis der SPF vertritt das moderne Lehrbuch von Johansson 1991, 29 ff. Rothenberg hingegen deutet die SPF als Repräsentation des zentralen politischen Entscheidungsmechanismus einer Gesellschaft; dieser Mechanismus werde durch die Gesellschaft als Wert angesehen (z. B. als Wert der demokratischen Mehrheitsentscheidung). Der dem Mechanismus beigemessene Wert überträgt sich auf die Entscheidungen, die er generiert. Sie können daher als Ausdruck für die Bestimmung sozialer Wohlfahrt gelten. Siehe: Rothenberg 1961, 309 ff. 22 Sinn 1994, 11 A

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mic models of distribution normally contain. However, it concentrates on the uncertainty created for the individual by the inequality of market incomes. Arguably, insuring against this uncertainty, and thus stimulating private risk taking, constitutes the main functions of the welfare state.« 23

Hierzu ist Folgendes zu bemerken. Der Beitrag hat eine formale Struktur notiert und interpretiert, jedoch nichts über Daten und Mechanismen ausgesagt. Er macht keinerlei Aussage darüber, welche Institutionen Sozialstaaten auszeichnen, welche Akteure bei ihrer Entstehung involviert waren, welche Probleme diese Akteure lösen und welche Ziele sie verfolgen wollten; er sagt auch nichts darüber, welche Funktionen diese Institutionen erfüllen sollen oder ob sie dabei erfolgreich sind; auch schweigt der Beitrag letztlich in der Frage, welche nicht-intendierten Effekte von sozialstaatlichen Institutionen ausgehen und welche Bedeutung dies für ihre Persistenz hat. Was er tatsächlich sagt, ist, dass eine Modellpopulation identischer rationaler Individuen höhere Einkommensrisiken eingehen würde, wenn bestimmte Einkommensumverteilungen stattfänden – unter der Voraussetzung der stochastischen Unabhängigkeit von Einkommensrisiken innerhalb der Modellwirtschaft. Das Problem der mutmaßlichen Anreizeffekte dieser Umverteilungen für komplexer modellierte Akteure wird nicht aufgebracht. Das ist im modelltheoretischen Kontext Sinns auch nicht nötig, da ja das Akteursverhalten ausschließlich mit Blick auf m-s-Kombinationen im modellspezifischen Sinne beschrieben wird. Sollte der Beitrag tatsächlich etwas erklären, so müsste er zeigen, dass sich empirische Akteure tatsächlich wie beschrieben verhalten – was nicht geschieht. Möglicherweise denkt Sinn jedoch an eine funktionale Erklärung des Wohlfahrtsstaates, die nicht Bezug nimmt auf die wirklich wirksamen Absichten von empirischen Akteuren, sondern die Eigenschaften eines zeitlich späteren Zustandes zur Erklärung zeitlich früherer Ereignisse anführt. Also: Eigenschaften von Wohlfahrtsstaaten, die durch das sinnsche Modell dargestellt werden können, erklärten, warum es diese Staaten gäbe, ohne dass auf kausale Zusammenhänge verwiesen werden müsste. Dieser Typus von Erklärung ist in der wissenschaftstheoretischen Literatur aus nachvollziehbaren Gründen hochumstritten. 24 Doch selbst wenn Sinn sein Modell so erweiterte, dass er den 23 24

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Sinn 1994, 30 Pars pro toto: Elster 1985/1994

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kausalen Mechanismus der Entstehung von Institutionen aufführte, die durch sein Modell beschrieben werden könnten; und wenn er empirisch plausibel machte, dass diese Mechanismen und Institutionen so zusammenhingen, wie das Modell es darstellte: Selbst dann zielte er (mit der formalen Charakterisierung der Versicherungsfunktion redistributiver Besteuerung) auf einen spezifischen Aspekt, der einen begrenzten Bezug zu Zielsetzungen, Mechanismen und Problemen tatsächlicher Wohlfahrtsstaaten aufweist. Entsprechend bleibt unklar, ob Sinn den Wohlfahrtsstaat ausschließlich auf der Grundlage eines Versicherungsarguments rechtfertigen möchte oder ob er auch andere legitimatorische Erwägungen zulässt; wenn Letzteres, dann würde man von einer Theorie des Wohlfahrtsstaats sicherlich fordern, verschiedene Typen von Argumenten gegeneinander abzuwägen – also mehr, als Sinns Beitrag leisten möchte; wenn Ersteres, dann ist das, was Sinn tatsächlich rechtfertigt, etwas anderes als das, was üblicherweise als ›Wohlfahrtsstaat‹ bezeichnet wird. Sinns Überlegungen beanspruchen somit zwar Erheblichkeit für die Frage nach möglichen Funktionen redistributionsstaatlicher Intervention – aber sie vermögen selbst nicht deutlich zu machen, wie sie in eine umfassende positive und normative Theorie einzufügen wären. 6. Sinns Grundthese, dass Einkommensumverteilung Versicherungscharakter habe, ist zu unterscheiden von einem verbreiteten ›versicherungstheoretischen Argument‹ für den Wohlfahrtsstaat. Der Reiz dieses Arguments besteht darin, die Sozialversicherungswerke dadurch zu rechtfertigen, dass man ihnen die Lösung eines Versagens des Versicherungsmarktes zuschreibt. Die Argumentation verläuft in der Regel folgendermaßen: Fast alle Personen sind bereit, einen Preis dafür zu bezahlen, dass ihr Einkommen nicht zufälligen Schwankungen unterworfen ist. 25 Dieser Preis wird Risikoprämie RP genannt. Personen, die zwischen einem sicheren Einkommen E = x und einem schwankenden Einkommen E¯ mit dem Mittelwert m = x indifferent sind, heißen risikoneutral. Das Sicherheitsäquivalent SÄ errechnet sich als die Differenz von E¯ und RP: SÄ = E¯ – RP

25

Zum Folgenden: Milgrom & Roberts 1992, 210 ff. A

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Die Risikoprämie, die eine Person zu zahlen bereit ist, hängt von der Varianz des Einkommens Var (E¯) und einer persönlichen Risikoneigung r (E¯) (Koeffizient der absoluten Risikoaversion) ab. RP = 0,5 r (E¯) Var (E¯) Das Grundprinzip einer Versicherung besteht darin, dass die Risikoprämien reduziert werden können, indem man statistisch unabhängige Risiken zusammenfasst. Eine Gruppe von n Personen mit identischem, aber unabhängigem Einkommensrisiko und gleichem mittleren Einkommen vermag ihre Risikoprämie zu reduzieren, indem sie alle Einkommen in einen gemeinsamen Fonds einzahlt und allen Mitgliedern den n-ten Anteil auszahlt. Während ohne den gemeinsamen Fonds die für jeden zu tragende Risikoprämie RP beträgt, reduziert sie sich nach Einrichtung des Fonds auf: RP/n Wenn die Gruppe sehr groß ist, können daher substantielle Risiken wirtschaftlich handhabbar gemacht werden. 26 Die auf jeden Einzelnen entfallenden Risikoprämien betragen nur den n-ten Teil des unversicherten Zustandes. Darin besteht die effizienzsteigernde Wirkung von Versicherungen. In einer sophistischen Version besagt das versicherungstheoretische Argument, dass der Staat die Aufgabe habe, ein Versagen von Versicherungsmärkten zu kompensieren. 27 Bestimmte Risiken – wie Arbeitslosigkeit – seien privat nicht zu versichern, weil sie nicht statistisch unabhängig seien. Daher habe der Staat das Risiko in Gestalt einer Sozialversicherung zu kompensieren. Das Argument ist sophistisch, weil es insinuiert, der Staat übernehme die Aufgabe, bei welcher der Markt versagt habe. Tatsächlich gilt aber, dass nur unabhängige Risiken versichert werden können. Wenn also der Markt für eine Versicherung nicht zustande kommt, weil das Risiko nicht unabhängig ist, dann kann logischerweise auch der Staat keine Versicherung anbieten, weil keine effiziente Risikoteilung möglich ist. Es muss daher entweder eine andere Rechtfertigung für das staatliche Angebot der Versicherung gefunden werden, falls es sich um ein versicherbares Risiko handelt; oder es muss benannt werden, um was für eine Form von Institution es sich han-

26 27

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Barr 1987/1998, 111–112 So bei Goodin 1988, 1988a

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delt und worin ihr Effizienz-Gewinn besteht, falls es sich um ein unversicherbares Risiko handelt. 28 Der Begriff ›Sozialversicherung‹, hatte von Hayek gemeint, sei eine Fehlbezeichnung, weil sich die betreffenden Institutionen im Laufe der Zeit zu Umverteilungsinstrumenten gewandelt hätten. Dass Umverteilung stattfindet, ist natürlich grundsätzlich nichts Ungewöhnliches bei Versicherungen: sie verteilen von den Nichtgeschädigten zu den Geschädigten um. Die Arbeitslosenversicherung war jedoch – wegen der statistischen Abhängigkeit der Risiken – niemals eine Versicherung, sondern eine zweckbezogene Abgabe. Ähnliches gilt für die Rentenversicherung. Um echte Versicherungen handelt es sich dagegen bei Kranken- und Unfallversicherungen; das einschlägige Argument für staatliche Intervention ist hier informationsökonomischer Natur. Angenommen, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Risikogruppe wäre private Information, das heißt, eine Versicherungsgesellschaft wäre nicht in der Lage, unterschiedliche Risikogruppen zu unterscheiden, und müsste daher eine Prämie verlangen, die auf den aggregierten Schadenswahrscheinlichkeiten der beiden Gruppen beruht. Ferner sei angenommen, dass die Angehörigen der Risikogruppen über ihr individuelles Risiko informiert wären. Unter diesen Umständen würden die Prämien, die für die aggregierten Schadenswahrscheinlichkeiten angeboten werden könnten, zu einer Abwanderung der Angehörigen der Niedrig-Risikogruppe führen. Die Versicherung würde dann nur von den Angehörigen der Hoch-Risikogruppe nachgefragt; daher wird keine Prämie auf der Grundlage aggregierter Wahrscheinlichkeit verfügbar gemacht. Die Folge wäre, dass Angehörige der Niedrig-Risikogruppe mithin keinen Versicherungsschutz kaufen könnten. Adverse Selektion führt somit zu Ineffizienzen auf dem Versicherungsmarkt. Die Einführung einer Versicherungspflicht stellte eine Verbesserung der Situation für beide Gruppen dar, insofern sie den Angehörigen beider Risikogruppen Prämien für aggregierte Wahrscheinlichkeiten bieten kann. 29 Für die Hoch-Risikogruppe ist dies vorteilhaft, weil sie daDie folgende Argumentation von Hübner 1997, 101 bleibt daher erläuterungsbedürftig: »Grundsätzlich können adverse Selektionsprozesse mit anreizkompatiblen Vertragsarrangements aufgehalten werden. Sie bewältigen jedoch keine partiell korrelierten Risiken. Der Markt versagt. Dadurch entsteht ein Spielraum für paretosuperiore staatliche Regelungen wie die (para-)staatliche Sozialversicherung und die Solvenzregulierung von Finanz- und Versicherungsintermediären.« 29 Barr 1992, 752; Barr 1987/1998, 115–117 28

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durch günstigere Prämien erhält, für die Niedrig-Risikogruppe, weil sie Versicherungsschutz zu erlangen vermag. Marktineffizienzen, die durch private Information und adverse Selektion entstehen, können durch staatliche Zwangsversicherung kompensiert werden. Doch warum besteht überhaupt ein gesellschaftliches Interesse an der Entstehung dieser Märkte? Ein Argument für die Zwangs-Versicherung von Risiken, die mit Armut korreliert sind, hat – wie gesehen – von Hayek vorgelegt: Wenn sich die Gesellschaft entscheidet, Sozialhilfe zu gewähren, dann tut sie gut daran, die Individuen zu verpflichten, sich für Krankheit, Alter und Unfall abzusichern, um dem Missbrauch des residualen Sicherungssystems vorzubeugen. 30 Informationsasymmetrien können also zu adversen Selektionsprozessen führen und damit zum Verlust von Wohlfahrtspotenzialen. Für die Krankenversicherung stellt sich allerdings die Frage, ob und inwiefern die individuellen Gesundheitsrisiken tatsächlich private Information darstellen. Die Existenz von Versicherungsmärkten für gute Risiken spricht gegen die Marktversagenslegitimation, so dass die gesetzliche Krankenversicherung zwar eine echte Versicherung ist, insofern sie sich auf ein versicherbares Risiko bezieht – aber eben auch privat angeboten werden kann, weil sich bezweifeln lässt, ob die Gesundheitsrisiken wirklich private Information darstellen. Diese Überlegungen sprechen dafür, dass für die Legitimation der Sozialversicherungswerke ›versicherungstheoretische‹ und ›informationsökonomische‹ Argumente nicht ausreichend sind.

Diesem Argument schließt sich auch Barr 1992, 754 an: »Inadequate provision against income loss due to unemployment, sickness or old age generally imposes costs on others: the cost of cash assistance falls upon taxpayers generally; alternatively, if people with inadequate cover were allowed to starve there would be other costs (public health hazards, burial costs, increased crime). Noninsurance thus creates external costs.«

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III. UMVERTEILUNG – EIN LEGITIMATIONSMODELL

»The economist who confines himself to the mere enunciation of general principles, or abstract truths, may as well address himself to the pump in Aldgate as to the British public.« (McCulloch) »Beveridge tells how to BANISH WANT. Cradle to grave plan. All pay – all benefit« (Daily Mirror, Aufmacher, 2. 12. 1942) »We do not dance even yet to a new tune. But a change is in the air. We hear but indistinctly what were once the clearest and most distinguishable voices which have ever instructed political mankind. The orchestra of diverse instruments, the chorus of articulate sound, is receding at last into the distance.« (Keynes)

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UMVERTEILUNG – EIN LEGITIMATIONSMODELL

Die Legitimation von tatsächlich bestehenden institutionellen Strukturen und politischen Maßnahmen ruht in aller Regel nicht auf elementaren Prinzipien und Intuitionen, aus denen alles Weitere abgeleitet würde. Mit Recht weisen daher Richard Rorty und andere darauf hin, dass Politik kein (in diesem Sinne zu verstehendes) philosophisches Fundament habe. Politische Legitimationen laufen vielmehr über (mehr oder weniger) komplexe und kohärente Überzeugungsmuster. In den Abschnitten ›Normative Theorie und demokratische Willensbildung› und ›Induktives und deduktives Verfahren› habe ich für die Idee geworben, das Legitimationsproblem wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung im Rahmen eines totalen induktiven Modells zu bearbeiten. Bislang ist aber noch wenig deutlich, wie ein solches Modell aussehen soll. In dem abschließenden Teil ›Umverteilung – ein Legitimationsmodell› möchte ich klären, wie seine Grundstruktur angelegt sein könnte. Mein Vorschlag lautet, die Rechtfertigung von Umverteilung bei sozialwissenschaftlichen Typenbildungen anzusetzen, die Paradigmen der Sozialpolitik oder welfare philosophies beschreiben. Die Krise des Wohlfahrtsstaates analysiere ich entsprechend als eine Krise der etablierten welfare philosophies. ›Normative Theorie und demokratische Willensbildung› hat argumentiert, dass Hayeks Idee von der Dispersion des Wissens auch auf den Prozess politischer Gestaltung auszudehnen ist. Für demokratische Gesellschaften ist die habermasianische Präsumtion aus diesem Grund eine adäquate heuristische Regel. Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates wird unter der systematischen Annahme analysiert, dass die etablierten Institutionen vernünftige Problemlösungen darstellen. Die Präsumtion ist – wie gesagt – als Suchregel und nicht als weltanschauliches Prinzip zu verstehen. Im zunächst folgenden Abschnitt ›Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordnete Wohlfahrtsstaat› möchte ich entsprechend kurz darlegen, (i) worin sich wohlfahrtsstaatliche von armenrechtlichen Formen sozialer Sicherung unterscheiden, (ii) warum der Sozialstaat sich gegen armenrechtliche Sozialpolitik universell durchgesetzt hat und (iii) welche seiner grundlegenden Gestaltungsmerkmale aus Sicht armenrechtlicher (und klassisch liberaler) Denkweisen als ungerecht erscheinen. Nach dieser groben Orientierung über die grundlegenden Strukturprinzipien von Wohlfahrtsstaatlichkeit gibt ›Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma› eine kurze Übersicht über die sozialwissenschaftliche Lehre von den unterschiedlichen Typen der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Anschließend werde ich die Idee 234

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UMVERTEILUNG – EIN LEGITIMATIONSMODELL

eines ›Autonomie-Paradigmas der Sozialpolitik‹ vorstellen. Es stellt den Versuch dar, das Problem der Legitimation von Umverteilung im Rahmen eines totalen induktiven Verfahrens anzugehen. Da ich das Autonomie-Paradigma als liberale Sozialphilosophie betrachte, werde ich besonderes Augenmerk auf die Frage legen, wie es sich zu konventionellen liberalen Positionen verhält. Eine weitere Abgrenzung betrifft den wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus keynesianischer Prägung. Er ist auf eine Stabilisierung und Humanisierung des Status abhängiger Arbeit hin ausgelegt. Habermas hat mit der Rede von einem sozialstaatlichen Paternalismus auf die Verwandlung der Bürger in Konsumenten einerseits und Klienten der Leistungsverwaltung andererseits hingewiesen. Das emanzipatorische Paradigma der Sozialpolitik droht gleichsam umzuschlagen in die doppelte Entmündigung durch einen sorgenden und planenden Staat sowie durch eine auf Massenproduktion und abhängige Industriearbeit aufbauende Wirtschaft. Das Autonomie-Paradigma der Sozialpolitik wendet sich entsprechend gegen das etatistische Missverständnis emanzipatorischer Ideale. Für diesen Impuls muss es jedoch Entsprechungen in der ökonomischen Theorie geben, wenn er nicht kraftlos bleiben soll. Es ist wohl eine deduktivistische Illusion, zu glauben, dass sich die Legitimität oder Illegitimität sozialstaatlicher Institutionen auf der Grundlage eines einzigen normativen Konzeptes bestimmen ließe. Das induktive Verfahren stützt sich zwar nicht auf eine einzige Begründungsidee wie ›Effizienz‹ oder ›Gerechtigkeit‹, doch strebt es eine gewisse Vereinheitlichung in Idealtypen an. Vereinheitlichung heißt aber eben, dass angenommen wird, es gebe gewisse strukturelle Kernkonzepte und normative Leitideen. Ziel dieses letzten Abschnitts ist es – neben der normativen Leitidee –, in groben Pinselstrichen ökonomische und steuerungstheoretische Postulate, Auffassungen über die Ursache des sozialpolitischen Problems und die bevorzugte sozialpolitische Strategie zu umreißen, die in einem stimmigen Verhältnis zu dem Begründungsgedanken eines Anrechts auf Autonomie stehen könnten. Diese Arbeit steht noch ganz am Anfang. Dennoch – so scheint mir – werden Suchrichtungen recht klar erkennbar. Ich werde im Folgenden Teilaspekte ansprechen, die mir wichtig erscheinen und an denen – so ist zu hoffen – ein größerer Zusammenhang erkennbar wird.

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1. Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordnete Wohlfahrtsstaat

1. Der Begriff der Wohlfahrtsstaatlichkeit wird in vielen sozialwissenschaftlichen und politikphilosophischen Beiträgen gegen ›armenrechtliche Denkweisen‹ abgegrenzt, eine Neigung, die Brian Barry besonders pointiert in seinem Aufsatz The Welfare State versus the Relief of Poverty zum Ausdruck bringt. Barry will damit nicht sagen, dass die Bekämpfung von Armut kein vorrangiges Ziel von Wohlfahrtsstaaten sei. Ihm liegt vielmehr an dem Hinweis, dass Sozialhilfe (als Überbleibsel aus dem Armenrecht) in einem wohl geordneten Wohlfahrtsstaat überflüssig sein würde. Armut – so die Idee – wird durch ein Geflecht von Institutionen verhindert, das die Verhinderung von Armut nicht zum Gegenstand hat – nicht direkte Transfers an die Bedürftigen, sondern Vorkehrungen, durch die das Eintreten des Armutsfalles äußerst unwahrscheinlich wird, zeichnen den wohl geordneten Wohlfahrtsstaat aus. 1 Im Folgenden werde ich einen kurzen Blick auf das deutsche Sozialrecht werfen, der Barrys Einschätzung grundsätzlich bestätigt: Orientierungspunkt für das deutsche (und das schweizerische) System ist das Ideal eines ›wohl geordneten Wohlfahrtsstaates‹, der die Gesellschaft so organisiert, dass ein Armenrecht gegenstandslos wird. Abgesehen von den öffentlichen Schulen betrafen in Deutschland und der Schweiz die ersten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen die Ordnung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse des Proletariats. 2 Die Sozialhilfe hat »die Bewältigung von Notfällen zur Aufgabe, für deren Behebung sonstige Sozialleistungen nicht oder nur unzureichend zur Verfügung stehen. Ihr kommt folglich eine Ergänzungsfunktion als letztes Auffangnetz zu, das um so mehr an sozialer Sicherung übernehmen muss, je lückenhafter die übrigen Sozialleistungssysteme sind.« (Ost/Mohr/Estelmann 1998, 358) 2 »Im Unterschied zum skandinavischen und insbesondere zum angelsächsischen Raum wird die Bildungspolitik [in Deutschland] nicht zur Sozialpolitik gerechnet, wohl eine Folge ihrer Verankerung auf der Ebene der Länder, während Sozialpolitik vornehmlich 1

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Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordnete Wohlfahrtsstaat

Der Artikel 34 der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 spricht dem Bund das Recht (nicht die Pflicht) zu, »einheitliche Bestimmungen über die Verwendung von Kindern in den Fabriken und über die Dauer der Arbeit erwachsener Personen in denselben aufzustellen. Ebenso ist er berechtigt, Vorschriften zum Schutze der Arbeiter gegen einen die Gesundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb zu erlassen.« Auffällig ist, dass die Bundesverfassung zunächst nur ein hoheitliches Recht vorbehält, ordnende Maßnahmen zu ergreifen, wenn dies zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger notwendig ist. 1890 erweiterte das Schweizervolk den Artikel 34 und beauftragte den Bund mit der Einrichtung einer Kranken- und Unfallversicherung. »Er kann den Beitritt allgemein oder für einzelne Bevölkerungsklassen obligatorisch erklären.« Die deutsche Sozialgesetzgebung setzte 1871 mit dem Haftpflichtgesetz ein, das verunglückten Arbeitern erlaubte, von den Unternehmern die Erstattung von Heilkosten und Lohnverlust zu verlangen, wenn ihnen eine Vernachlässigung ihrer Schutzpflichten nachzuweisen war. Dies führte in der Praxis zu zahllosen Rechtsstreitigkeiten und vertiefte die sozialen Spannungen zwischen den Produktionsmittelbesitzern und den abhängig Beschäftigten. Das Krankenversicherungsgesetz von 1883 und das Unfallversicherungsgesetz von 1884 ließen daher die haftungsrechtliche Verschuldensfrage außer Acht und gewährten beitragsfinanzierte Leistungen in Abhängigkeit von der Schwere des Schadens. Ganz im Sinne des Diktums, dass Verfassungsrecht vergehe, Verwaltungsrecht bestehe, hat »das deutsche Sozialversicherungssystem [in seinen institutionellen Grundzügen] ein ganzes Jahrhundert und nicht weniger als vier grundverschiedene staatliche Verfassungsordnungen überstanden und sich in ungebrochener Kontinuität auf der Grundlage [folgender Merkmale] fortentwickelt« 3 :

(1) Pflichtversicherung, das heißt die zwangsweise Eingliederung der Lohnabhängigen in ein Beitrags-Leistungs-System, das die Funktion hat, die Verarmung bei Eintreten von (konjunkturbedingter) Arbeitslosigkeit oder von Arbeitsunfähigkeit (Krankheit, Unfall, Alter) zu vermeiden. (2) Die staatliche Aufsicht über die und Zuschussals Bundesangelegenheit gilt. Der Sache nach gehört Bildungspolitik in den sozialstaatlichen Zusammenhang.« (Kaufmann 1997, 23) 3 Offe 1990, 185. Die folgenden Punkte ebendort. A

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pflicht zu den Sozialwerken, durch welche die Zahlungsfähigkeit garantiert und das notwendige Vertrauen in das Sicherungssystem gestiftet wird. (3) Das Äquivalenzprinzip, das die Höhe der geleisteten und der zu empfangenden Beiträge in ein angemessenes (wenn auch nicht wirklich äquivalentes) Verhältnis setzt. Die Umverteilung innerhalb des Sozialversicherungssystems findet also zugunsten derjenigen statt, bei denen ein versicherter Schadensfall tatsächlich eingetreten ist. (4) Finanzierung durch die Beitragsleistungen abhängiger Erwerbsarbeit, durch die – im Gegensatz zur Steuerfinanzierung – die Zweckgebundenheit und Unverfügbarkeit der betreffenden Mittel gewährleistet werden soll. (5) Die Unverfügbarkeit wird durch die para-staatliche Selbstverwaltung der Sozialwerke weiter unterstrichen. Die Genese des deutschen und des schweizerischen Systems ist unter anderem deshalb interessant, weil sie durch den Übergang von einer haftungsrechtlichen zu einer sozialversicherungsrechtlichen Lösung gekennzeichnet ist. Das Haftpflichtgesetz von 1871, aber auch der Artikel 34 der Schweizerischen Bundesverfassung bewegen sich noch ganz im Rahmen klassisch-liberaler Denkweisen. Der Staat hat die Pflicht, Bürger vor Schaden durch Dritte zu schützen, und er darf zu diesem Zweck Sicherheitsbestimmungen sowie Sorgfaltspflichten festschreiben und – gegebenenfalls – Kompensation erzwingen. Die Zwangsmitgliedschaft in Sozialversicherungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen betrachtet dagegen Krankheit und Unfall als zufallsverteilte Größen, die in einer Solidargemeinschaft abgesichert werden können und müssen. Grundgedanke ist also die Unzurechenbarkeit von Schäden auf die Schuld von Personen. Das System der Sozialversicherung unterstellt ein allgemeines, durch die industrielle Produktion gesetztes Lebensrisiko, und soziale Leistungen werden als Generalkompensation kapitalismusspezifischer Schäden auslegbar. In den Worten von Richard Titmuss: »The emphasis today on ›welfare‹ and the ›benefits of welfare‹ often tends to obscure the fundamental fact that for many consumers the services used are not essentially benefits or increments to welfare at all; they represent partial compensations for disservices, for social costs and social securities which are the product of a rapidly changing industrial-urban society. They are part of the price we pay to some people for bearing part of the costs of other people’s progress; the obsolence of skills, redundancies, premature retirement, accidents, many categories of disease and handicap, urban blight and slum clearance, smoke pollution and a hundred-and-one other socially generated disservices. They are the socially caused diswelfares; the losses involved in

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Abkehr vom Armenrecht: Der wohl geordnete Wohlfahrtsstaat

aggregate welfare gains. […] If identification of the agents of diswelfare were possible – if we could legally name or blame the culprits – then, in theory at least, redress could be obtained through the courts by the method of monetary compensation for damages. But multiple causality and the diffusion of disservices – the modern choleras of change – make this solution impossible. We have, therefore, as societies to make other choices; either to provide social services, or to allow the social costs of the system to lie where they fall.« 4

Durch die Verschiebung der Aufmerksamkeit von einer Abwehr individueller Rechtsverletzungen auf eine Konsolidierung kollektiver Risiken hat die staatliche Sicherungsaufgabe eine neue Qualität angenommen. Kapitalistische Produktion und wohlfahrtsstaatliche Reproduktion des Humankapitals schienen nun ein integrales Institutionensystem zu bilden, das sowohl funktional als auch moralisch einleuchtete. Die durch die Sozialversicherungen bewirkten interpersonellen Verteilungskorrekturen beanspruchen allokative Begründbarkeit und moralische Richtigkeit gleichermaßen. Umverteilung gilt nicht mehr als humanitäres Einstehen der Gemeinschaft für die Gescheiterten, sondern einerseits als »ökonomisch effizientes Risikomanagement« 5 , anderseits als gerechter Ausgleich für diejenigen, die zufallsbedingt eine Sonderlast des allgemeinen kapitalistischen Lebensrisikos tragen. 2. Was waren dagegen leitende Prinzipien und Denkweisen des Armenrechts? Da ist erstens (fast möchte man sagen: natürlich) der Grundsatz der Bedürftigkeit zu nennen. Bedürftige und nur Bedürftige haben Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinschaft. Das Armenrecht kümmert sich um Arme, während sich moderne Wohlfahrtsstaaten um Verunfallte, Opfer von Verbrechen, Kranke, Alte, Witwen, Arbeitslose, Behinderte, Insassen von Gefängnissen, Jugendliche, Ausgebombte kümmern, um nur eine Reihe wichtiger Personengruppen zu nennen. Eines der zentralen Gestaltungsprobleme des Armenrechts besteht in der Unterscheidung zwischen den deserving und den undeserving poor. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert war die rechtliche Fiktion, dass physisch arbeitsunfähige Pauperes deserving sind, able-bodied hingegen nicht. Entsprechend galt die Armut eines Arbeitsfähigen als Ergebnis eines moralischen Defekts, namentlich der Faulheit. Während ein Recht der unverdient Elenden 4 5

Titmuss 1968, 133 Rolf et al. 1988, 25 A

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auf Beistand anerkannt wurde, lehnte man ein Recht auf Faulheit ab. Aus heutiger Sicht erscheint die frühe, armenrechtliche Sozialpolitik als schockierend repressiv, so dass es schwer fallen mag, sie als Ausdruck eines politisch verfassten Altruismus anzuerkennen. Der Komplex der Sozialgesetzgebung – also das Poor Law selbst, aber auch das Settlement Act und weitere Regelungen – verband Leistungsansprüche mit scharfen Einschränkungen der Freiheitsrechte und mit barbarischen Strafandrohungen für Arbeitsfähige, die Arbeit verweigerten. Im Poor Law von 1601 hieß es: »That all persons thereafter set forth to be rogues and vagabonds, or sturdy beggars, shall for the first offence be grievously whipped, and burnt through the gristle of the right ear with a hot iron of the compass of an inch about; for the second, be deemed felons; and for the third, suffer death as felons without benefit of clergy. […] Among rogues, vagabonds, and sturdy beggars, are included all persons whole and mighty in body, able to labour, not having land or master, nor using any lawful merchandise, craft or mystery; and all common labourers, able in body, loitering and refusing to work for such reasonable wages as is commonly given.« 6

Moderne Wohlfahrtsstaaten verzichten weitgehend auf eine Unterscheidung zwischen verschuldeter und unverschuldeter sozialer Not. 7 Dahinter stehen teils pragmatische Erwägungen (die Klärung von Verschuldensfragen ist kostspielig), teils Auffassungen über die sozio-strukturelle, auf Individuen nicht zurechenbare Verursachung von sozialer Not. Die Erfahrung mit sozialpolitischen Debatten – vor allem in den Vereinigten Staaten – zeigt allerdings, dass hier ein zentrales Legitimationsproblem sozialer Transfers zu liegen scheint. Die Bereitschaft zur Finanzierung von Transfers nimmt ab, wenn die Not als Ergebnis antisozialer Haltungen konstruiert wird, und eines der strukturellen Probleme der Reform des AFDC (Aid to Families with Dependent Children) unter Clinton bestand darin, den Unschuldigen zu helfen (Kindern), aber nicht ›den Verantwortungslosen‹ (deren Eltern). 8 Mit anderen Worten: Die Empirie sozialpolitischer Diskurse spricht dafür, dass staatlicher Zwang im Fall der Sozialhilfe als moraBowen 1837, 31 »The most crucial step away from a Poor Law approach to the relief of poverty and social distress came with the abandonment, for all practical purposes, of fault-based distinctions between the deserving and the undeserving.« (Goodin in Schmidtz & Goodin 1998, 156) 8 Pierson 1994, 100–128; Weaver 2000, 169–195 6 7

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lisch legitim angesehen wird; dass aber eben diese moralische Legitimation auch die Perpetuierung der Unterscheidung ›würdig/unwürdig‹ mit sich bringt. Die These lautet hier: Die empirische Zustimmung zur Sozialhilfe ist unmittelbar moralisch und nicht kontraktualistisch, gerechtigkeitstheoretisch, utilitaristisch oder paretianisch. Und genau hierin besteht ein konstitutionelles Problem der Legitimation sozialstaatlichen Zwangs: Sozialstaaten streben die Entmoralisierung von Leistungen an, deren Legitimation empirisch gesehen auf moralische Intuitionen abhebt. Es ist kein Zufall, dass dieser Konflikt immer wieder aufbricht. Wohlfahrtsstaatliches Sozialrecht ist universell, auf eine Integration der Gesamtbevölkerung in den Umverteilungsmechanismus hin angelegt, während das armenrechtliche Sozialrecht selektiv, auf die Bedürftigen hin ausgerichtet ist. Die Alternative Universalität versus Selektivität bildet das erste Konfliktfeld in dem Streit Welfare State versus Relief of Poverty. Aus diesen beiden Grundprinzipien ergeben sich unmittelbar weitere Unterschiede. Da im Armenrecht nur Bedürftige Ansprüche haben, muss diese Bedürftigkeit in geeigneten Verfahren festgestellt werden – im Englischen spricht man vom means-testing. Viele Autoren, unter ihnen Barry, sind der Meinung, dass die Preisgabe von Bedürftigkeitsprüfungen ein Charakteristikum des wohlfahrtsstaatlichen Sozialrechts sei. Wohlfahrtsstaatlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Absicherung von statistischen Armutsrisiken in den Bereich hoheitlicher Verantwortung überführt. Modernes Sozialrecht gewährt viele Transfers als Rechtsfolge des Eintretens solcher statistischer Armutsrisiken – und zwar unter Verzicht auf eine individuelle Bedürftigkeitsprüfung oder eine Klärung der Frage, ob es durch geeignetes individuelles Verhalten gemindert oder abgesichert werden könnte. Für Kinder zu sorgen, korreliert stark mit Armut und ist insofern ein brauchbarer Indikator für das Bestehen eines Armutsrisikos. »Parents are typically in the younger segments of the population, and thus at a relatively low part of their lifetime earnings trajectory; and the arrival of children frequently reduces second-earner income. For both reasons, family income tends to be low precisely at the time when the demands on that income are high.« 9

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Barr 1987/1998, 247 A

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Kindergeldzahlungen sind Beispiele für so genanntes indicator targeting, also für eine Aktivierung von sozialen Anrechten durch das Auftreten bestimmter Indikatoren. Auch wohlhabende Paare haben Anspruch auf eine Leistung, deren Begründung in erster Linie auf sozialen Ausgleich und Armutsvermeidung abzielt. Barry hält es daher für einen unangemessenen Einwand, wenn in Großbritannien das Kindergeld in die Kritik gerät, weil es keinen Unterschied zwischen Bedürftigen und Nichtbedürftigen mache: »The grip exerted by poor law thinking could hardly be better illustrated.« 10

Aber was ist damit in der Sache gesagt? Barry will darauf hinaus, dass die Befürworter von Bedürftigkeitsprüfungen die Prinzipien des modernen Sozialrechts nicht verstünden – aber die Frage ist ja, wie diese Prinzipien begründet werden können. Anders gewendet: Worin besteht die Rechtfertigung einer Leistung von Transfers an Personen, die gar nicht bedürftig sind? Grundsätzlich kritisieren Marktliberale, dass Universalität auf eine klandestine Verstaatlichung der Gesellschaft hinauslaufe. Doch zwei Überlegungen zugunsten der Universalität ergeben grundsätzlich auch innerhalb eines marktliberalen Bezugsrahmens Sinn: Die eine liegt einem Teil des sozialen Entschädigungsrechts zugrunde und betrifft die Wiedergutmachung von Schäden, die Personen im Rahmen von Zwangsverpflichtungen durch den Staat erlitten haben. Hierhin gehören, neben der Versorgung von Kriegsopfern und ihren Angehörigen, die Entschädigung der Opfer von Impfschäden und die Versorgung von Männern, die im Rahmen von Wehr- oder Zivildienst verunglückt sind. 11 Diese Entschädigungsansprüche setzen nicht voraus, dass die staatlichen Organe sich rechtswidrig oder schuldhaft verhalten haben. Sie ergeben sich vielmehr aus dem Umstand, dass die betreffenden Schäden durch ›staatlich erzwungenen Einsatz der Person‹ entstanden sind und in den Verantwortungsbereich des Staates fallen. Besonders deutlich ist dies im Falle des Krieges: Gleichgültig, ob der Staat den Krieg verschuldet hat oder nicht, es gehört zu seinen genuinen Aufgaben, für die Verteilung und Umverteilung seiner Lasten zu sorgen. 12 Der Punkt ist hier, dass der sozialrechtliche Transfer zugunsten Barry 1990, 100 Ost/Mohr/Estelmann 1998, 443 ff. 12 Die Verteilung findet zum Beispiel über die Einziehung zum Aktivdienst statt. Holmes & Sunstein 1999, 229 deuten ihn als eine stark degressive Form von Besteuerung: »The most dramatic example of such regressive taxation occurs when the poor are 10 11

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der Versehrten oder Ausgebombten den Charakter einer Entschädigung hat und dass der Entschädigungsanspruch offensichtlich als stärker angesehen wird als der Umverteilungsanspruch. (Schließlich könnte man sich auf den Standpunkt stellen, die Hilfe sollte sich auf die mittellosen Versehrten beschränken.) Eine solche Begründung von Umverteilung wäre wohl auch mit einem engen individualrechtlichen Libertarismus wie dem Nozicks annehmbar. Zum einen kann also das Prinzip der Kompensation die Leistung von Transfers unangesehen der Mittel des Empfängers rechtfertigen. Zum anderen ist das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit in Betracht zu ziehen. Haushalte mit denselben Mitteln haben unterschiedliche Lasten zu tragen: Einige ziehen Kinder auf, tätigen Aufwendungen für Krankheiten oder Behinderungen, kümmern sich um Alte. Es wäre ungerecht, so das Prinzip, diese Haushalte in derselben Weise zu besteuern wie solche, die keine derartigen Lasten tragen. Ein gerechtes Steuer-Transfer-System rechnet mit relevanten Unterschieden zwischen den Haushalten und versucht sie angemessen auszugleichen. Nun ergeben sich besondere Belastungen auch durch kostspielige Vorlieben. Warum geben diese keinen Anspruch auf Ausgleich? Hier wird das zusätzliche Argument der gesellschaftlichen Wichtigkeit oder Erwünschtheit angeführt. Paradebeispiel sind abermals Haushalte mit Kindern, die – so die Annahme – ›etwas für die Gesellschaft tun‹. Zuweilen wird das Kindergeld als eine Gegenleistung der Gesellschaft für eine Leistung des Haushalts dargestellt. Die Frage nach dem Verhältnis von horizontaler und vertikaler Gerechtigkeit steht aber weiterhin im Raum: Denn wenn die Ausgaben zum Ausgleich besonderer Belastungen oder die zur sozialen Entschädigung auf die Mittellosen beschränkt würden, so wären pro Einheit höhere Beträge zahlbar. Überwiegt dies nicht die genannten Prinzipien? Es ist insofern ein wenig irreführend, wenn Barry betont, »[t]he case for or against compressing the distribution of income between strata defined by lifetime market-derived incomes is entirely independent of the case for a welfare state.« 13

drafted into military service in wartime to defend, among other things, the property of the rich from foreign predators.« 13 Barry 1990, 75 A

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Denn einige Gestaltungsprinzipien von Wohlfahrtsstaatlichkeit, wie der Verzicht auf Bedürftigkeitsprüfungen, enthalten gerade einen Verstoß gegen das Ziel vertikaler Umverteilung. Zu sagen, die Argumente für den Wohlfahrtsstaat seien ganz unabhängig von der Frage, ob die Einkommensverteilung gestaucht werden sollte oder nicht, ist somit etwas schief. Zuweilen werden zur Begründung administrative und politische Überlegungen vorgetragen: Eine individuelle Bedürftigkeitsprüfung sei zu aufwändig, außerdem erhöhe der universelle Charakter von Ansprüchen, wie des Kindergeldes, die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bei den Mittel- und Oberklassewählern. Bedürftigkeitsunabhängigkeit und Universalität vermitteln ihnen den Eindruck, in das System nicht nur einzuzahlen, sondern auch Leistungen zu empfangen. Im Sinne der auf Gary Becker zurückgehenden efficient redistribution hypothesis ließe sich behaupten, »that no available government politics is superior to observed government politics«. 14 Eine solche Argumentation führt zu der Vermutung, die Universalität sei notwendig, um die Interessen der Bedürftigen zu schützen, auch wenn in einer idealen Welt stärker vertikal umverteilt werden müsste. Angebliche Ineffizienzen des Sozialstaats, wie der Matthäus-Effekt, beruhten auf einer Missachtung der Restriktionen des politischen Prozesses. 15 Universalität folgt insofern nicht aus genuin normativen Erwägungen, sondern aus der Berücksichtigung der Logik einer politischen Mehrheitsbildung, welche andernfalls die Interessen der Verwundbaren nicht (in ausreichendem Maße) in Rechnung stellte. Natürlich sind neben solchen Überlegungen auch normative Argumente für Universalität zu hören, die auf Vorstellungen wie bürgerschaftliche Solidarität abheben. Universelle soziale Leistungen übergreifen die soziale Schichtung und bringen damit die nationalstaatliche Zu- und Zusammengehörigkeit zum Ausdruck. 16 Bullock 1995 Gouyette & Pestieau 1999, 539, 540: »[The] phenomenon of unequal and inappropriate distribution of the state’s social expenditure has been studied under the name of the ›Matthew effect‹. For cultural and institutional reasons, well-off social groups often benefit from social provisions intended for households belonging to disadvantaged groups. […] Today very few people believe that expenditure in social services benefits primarily the less well off. […] Legrand shows that the top socio-economic group receives 40 per cent more national health service expenditure per sick person than the bottom group, accounting for differences in age and sex.« 16 Miller 1988 14 15

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Die meisten Liberalen erkennen die politisch-pragmatische Rechtfertigung des Prinzips der Universalität an, die normative hingegen nicht. Das Nationalgefühl wird nicht als ein intrinsisch wertvolles Gut angesehen, das durch wohlfahrtsstaatliche Instrumente gefördert und zum Ausdruck gebracht werden sollte. 3. Eine für klassische Liberale ebenfalls grundsätzlich akzeptable Argumentation rechtfertigt wohlfahrtsstaatliche Institutionen mit einer Informationskostenüberlegung. Die liberale Präferenz für freiwillige Lösungen und die Ablehnung hoheitlichen Eingreifens beruht mitunter auf unrealistischen Annahmen über den Informationsstand der Marktakteure. Märkte führen nur zu effizienten Ergebnissen, wenn die Wählenden über die Natur der zu wählenden Option zureichend Bescheid wissen: wenn ihnen die Alternativen bekannt sind, wenn sie die relevanten Attribute einer Option kennen und über Konsequenzen und Wechselwirkungen angemessen informiert sind. Dies wiederum hängt von den Kosten der Informationsbeschaffung ab. Unter hinreichend ungünstigen Informationsbedingungen werden Akteure auf Märkten ineffiziente Entscheidungen treffen, also Entscheidungen, die sie bei genauerer Kenntnis der Sachlage nicht getroffen haben würden. In einigen Bereichen ist die Erwartung gerechtfertigt, dass administrative und gesetzgeberische Eingriffe zur Vermeidung von Ineffizienzen in Bereichen führen, in denen die Informationskosten hoch sind. Daher hat insbesondere Nicholas Barr die These vertreten, dass informationsökonomische Argumente Schlüsselargumente für die Theorie des Wohlfahrtsstaates seien. 17

»Information failures provide both a theoretical justification of and an explanation for a welfare state which is much more than a safety net. Such a welfare state is justified not simply by redistributive aims one may (or may not) have, but because it does things which private markets for technical reasons would either do inefficiently, or would not do at all.« (Barr 1992, 754)

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2. Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma

1. Seit Gøsta Esping-Andersens The Three Worlds of Welfare Capitalism hat es sich eingebürgert, zwischen drei Typen von Wohlfahrtsstaaten oder -regimen zu unterscheiden. 1 Deutschland, Frankreich und Österreich vertreten bei Esping-Andersen das corporatist ~, die skandinavischen Länder das social democratic ~, die Vereinigten Staaten das liberal welfare regime. Die Typologien Esping-Andersens und anderer sind gleichsam Versuche, die Verwandtschaftsrelationen innerhalb der Formenfamilie ›Wohlfahrtsstaat‹ genauer zu bestimmen. Den Typen von Wohlfahrtsstaaten können wiederum welfare philosophies zugeordnet werden. Diesen Begriff hat Alan Peacock geprägt, um Paradigmen der Sozialpolitik zu klassifizieren. Während sich Esping-Andersen auf die typologische Einordnung von institutionellen Arrangements bezieht, beschäftigt sich Peacock mit Arten ihrer Rechtfertigung. Wiederum bietet es sich an, drei Typen zu unterscheiden. (1) Eine konservativ-kommunitaristische welfare philosophy zeichnet sich durch die Vorstellung eines sozial stabilen Kapitalismus aus. Wohlfahrtsstaatlichkeit dient der Konservierung von Lebensformen, die durch den (gegenüber gewachsenen Traditionen und Lebensordnungen indifferenten) Markt bedroht sind. Ein konservativ-kommunitaristischer Wohlfahrtsstaat sorgt sich um Esping-Andersens Typologie ist nicht die erste dieser Art und möglicherweise auch nicht die beste. Siehe auch: Titmuss 1958, Furniss & Tilton 1977. »Beim Versuch, die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung international vergleichend zu begreifen, scheint sich allmählich die Auffassung durchzusetzen, dass ähnliche Herausforderungen (Industrialisierung, Verstädterung, Arbeiterbewegung, Zweiter Weltkrieg) auf der Basis unterschiedlicher (weltanschaulicher, politischer und pragmatischer) Deutungen und unter den Bedingungen unterschiedlicher politischer Regime und Machtverhältnisse bearbeitet wurden, woraus verschiedene institutionelle Lösungen resultieren.« (Kaufmann 1997, 26)

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die Erhaltung tradierter sozialer Muster, betreffe dies nun Familie, Sprache oder Nationalgefühl, unter den Bedingungen einer modernen kapitalistischen Gesellschaft. (2) Die emanzipatorische Wohlfahrtsphilosophie strebt einen (durch emanzipatorische Ideale) politisch gesteuerten Kapitalismus an. Wohlfahrtsstaatlichkeit sieht sie als Möglichkeit, die Produktivitätspotentiale des Kapitalismus zu nutzen, um die Ziele von Freiheit und Gleichheit zu erfüllen. Ein klassischer Text der emanzipatorischen Wohlfahrtsphilosophie ist der Beveridge Report. (3) Die liberale Wohlfahrtsphilosophie empfiehlt dagegen einen selbstorganisierten Kapitalismus als zentrales Ziel. Hoheitlich betriebene Sozialpolitik hat lediglich residuale Aufgaben und dient der Vermeidung moralisch inakzeptabler sozialer Not. Ein Klassiker der liberalen Wohlfahrtsphilosophie ist der von Nassau Senior und Bruce Chadwick verfasste Poor Law Report. Diese welfare philosophies oder sozialpolitischen Paradigmen unterscheiden sich von normativen Theorien wie der Wohlfahrtsökonomie oder der philosophischen Gerechtigkeitstheorie in mehrerlei Weise. • Erstens handelt es sich um direkte Rechtfertigungsversuche für institutionelle Strukturen. Ein sozialpolitisches Paradigma enthält Gründe, die für oder gegen spezifische Institutionengefüge sprechen, während politikphilosophische und wohlfahrtsökonomische Arbeiten in der Regel der Neutralisierungsstrategie folgen oder auf Partialprobleme bezogen sind. Paradigmen der Sozialpolitik versuchen so etwas wie die Systemlogik einer idealtypischen politökonomischen Struktur zu notieren. • Zweitens halten sich die sozialpolitischen Paradigmen nicht an die Abgrenzung zwischen positiver und normativer Theorie. Sie charakterisieren mehr oder weniger kohärente Überzeugungsmuster, in die sowohl präskriptive als auch empirische Geltungsansprüche eingehen. 2 • Drittens beanspruchen sie, die wirksamen Überzeugungen politischer Akteure zu beschreiben. Sie stehen somit genau zwischen normativer Theorie und sozialwissenschaftlicher Deskription. 3 Dies ist eine andere Form des entanglement von Fakten und Werten, als sie in der Sprachphilosophie diskutiert wird, beispielsweise bei Putnam 1993. 3 »[…] there is, to some extent, an internal ›regime logic‹ that dictates what institutional options can fit together coherently and work together well« (Goodin et al. 1999, 37) 2

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Paradigmen der Sozialpolitik, hieß es oben, rechtfertigen die Systemlogik einer idealtypischen politökonomischen Struktur. Eine solche Rechtfertigung enthält Aussagen über die Funktionsweise des Produktionsprozesses – in unserem Fall Modelle, die das Operieren von kapitalistischen Märkten beschreiben (1). Tendieren diese Märkte zum Gleichgewicht oder nicht? Was erklärt auftretende Ungleichgewichte? Wie kommt es zu Innovationen? Gibt es Möglichkeiten, das innovatorische Potential einer Volkswirtschaft politisch zu fördern? Was determiniert wirtschaftliches Wachstum? Von welchen Größen hängen Investitionsentscheidungen ab? Wie wirkt sich die Marktstruktur auf das Verhalten der Wirtschaftsakteure aus? Auf der Grundlage der ökonomischen Hintergrundannahmen werden wirtschaftspolitische Ziele und Strategien formuliert (2). Die keynesianische Wirtschaftspolitik ruhte beispielsweise auf dem Gedanken, dass die wachstumsinduzierende aggregierte Nachfrage mit steigendem Lohnniveau zunimmt. Auf diesem Sockel konnte von der Harmonie der Politikziele ›Wirtschaftswachstum‹ und ›Kompression der Einkommensverteilung‹ gesprochen werden. Die Institutionen der sozialen Sicherung taugten – neben ihren primären Zielsetzungen – als Instrumente dieser Wirtschaftspolitik. Eine großzügig bemessene Sozialhilfe konnte genutzt werden, um einen Mindestlohn festzusetzen, der das Lohngefüge nach oben schob und annahmegemäß Wachstum förderte. Die Sozialversicherungen wirkten als eingebaute Stabilisatoren bei konjunkturellen Schwankungen, während sich öffentlicher Wohnungsbau eignete, um in Zeiten schwacher Konjunktur die Nachfrage zu beleben. Sozialpolitische Paradigmen umfassen neben ökonomischen Hintergrundannahmen und wirtschaftspolitischen Strategien Auffassungen über Art und Ursache des sozialpolitischen Problems (3), mit denen wiederum die sozialpolitischen Ziele und Strategien (4) zusammenhängen. Dies setzt – last but not least – eine normative Grundorientierung (5) voraus. Eine simple Konstruktion des sozialpolitischen Problems geht beispielsweise davon aus, dass effiziente Märkte die Teilnehmer gemäß ihrer Grenzproduktivität entlohnten, die aber bei manchen Personen so gering ausfalle, dass sie nicht imstande seien, ein Subsistenzeinkommen zu verdienen. Diese Aussagen wären im Wesentlichen den ökonomischen Hintergrundannahmen zuzurechnen; allerdings ist zu beachten, dass in den Begriff ›Subsistenzeinkommen‹ 248

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normative und positive Theorien eingehen, die nicht zur Ökonomie im engeren Sinne zu rechnen sind. Die Grenzproduktivitätstheorie tritt häufig im Verbund mit einer Gerechtigkeitsvorstellung auf, der zufolge es gerecht sei, wenn gemäß der Produktionsleistung entlohnt werde – wenn sich also in der Entlohnung keine bloßen Standesunterschiede niederschlügen. 4 Das sozialpolitische Problem wird folglich in dem zu geringen Lebensstandard gesehen, den eine gerechte Verteilung von Einkommen nach sich zieht; Gerechtigkeit konfligiert hier mit humanitären Zielen. Die normative Grundorientierung stellt die Erreichung der Subsistenz über die der Gerechtigkeit und führt so zu der Formulierung des sozialpolitischen Ziels. So weit die Erläuterung am Beispiel, wie in welfare philosophies Überzeugungen präskriptiver und deskriptiver Art ineinander greifen. Sie betreffen: • die Funktionsweise von Märkten (ökonomische Postulate) • die Funktionsweise von politischen Prozessen (politiktheoretische Postulate) • die Möglichkeiten, Marktprozesse zu steuern (steuerungstheoretische Postulate) • die normative Grundorientierung • die Formulierung wirtschaftspolitischer Ziele und Strategien • die Konstruktion der Ursache des sozialpolitischen Problems • die Formulierung sozialpolitischer Ziele und Strategien. 5 Der Zusammenhang dieser Dimensionen lässt sich schematisch durch die folgende Abbildung darstellen:

Siehe beispielsweise Gauthier 1974/1990, 166–167: »[The] competitive market is the mechanism by which an optimal social surplus is produced and distributed in accordance with the contribution which each person makes. The one restriction which the proportionate difference principle imposes is that each person’s initial position in the market must reflect only her natural endowment, and not such factors as inherited wealth.« 5 Zum Vergleich: Goodin et al. (1999, 37–38, 40): »Each model to be discussed will be characterized by: a distinctive set of fundamental values; a distinctive analysis of what produces social welfare and, connected to that, a distinctive analysis of why some people fail to benefit from that process; and deriving from that analysis, a distinctive policy response to such people’s failures to benefit from the productive process, together with a distinctive way of construing the social goal which that response is aimed at achieving and a distinctive set of threats to be avoided in the process.« 4

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Abbildung 3: Faktoren sozialpolitischer Überzeugungsmuster

2. Wohlfahrtsstaaten, schreibt Ulrich Preuss, korrigieren die marktbedingte Verteilung von Gütern und transferieren auf der Grundlage rechtlicher Verpflichtung Sach-, Dienst- und Geldleistungen. 6 Diese Definition deckt zweifellos Kernbereiche von Wohlfahrtsstaatlichkeit ab, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als zu eng. Die in den sozialpolitischen Paradigmen enthaltenen normativen Orientierungen gehen über die bloße Korrektur marktbedingter Verteilungen sozialer Chancen hinaus und streben auch die Beeinflussung nichtmarktlicher Entscheidungen an. Ein offensichtlicher Fall ist die mit sozialen Leistungen verbundene Institutsgarantie für die Familie. Entscheidungen wie Familiengründung, Beteiligung an der Erwerbsarbeit, familiäre Arbeitsteilung werden – pace Gary Becker – nicht oder nicht allein durch Angebot und Nachfrage beeinflusst. In sie gehen soziale Rollenerwartungen ein, und Sozialstaaten 6

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Preuss 1990, 109

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versuchen unter anderem, solche Normierungen der Lebensführung zu verstärken oder zu modifizieren. In beiden Fällen lässt sich fragen, mit welchem Recht sie dies tun. Sozialpolitische Paradigmen bieten entsprechende Rechtfertigungen an. Ich möchte dies an dem Beispiel der Geschlechter- und der Umverteilungspolitik im schwedischen Wohlfahrtsstaat veranschaulichen, der in vielem den Vorstellungen des emanzipatorischen Paradigmas der Sozialpolitik entspricht. In Schweden ermöglicht ein ungewöhnlich entwickeltes System sozialer Dienstleistungen eine zugleich hohe Partizipations- und Fertilitätsrate. 7 Der Staat, der die Partizipation durch soziale Dienste fördert, ist zugleich auch der dominierende Arbeitgeber. 8 Ganz überwiegend arbeiten die schwedischen Frauen für die öffentliche Hand und nicht in der Privatwirtschaft. Von Vertretern des liberalen Paradigmas der Sozialpolitik wird dies unter zwei Gesichtspunkten kritisiert: Zum einen finden sie die ungewöhnlich hohe Staatsquote beunruhigend und verweisen auf die vielfältigen Effizienzverluste, die mit dieser Politik ihrer Meinung nach einhergehen. 9 Des Weiteren tragen sie Bedenken gegenüber der Verstaatlichung der Gesellschaft und gegen die Verletzung der ›liberalen Neutralität‹. Der Staat durchdringt in Schweden stärker als in anderen Ländern die Erziehung, die Altenpflege (Assar Lindbeck sprach von der Nationalisierung der Familie in Schweden), aber auch das Arbeitsleben – er fördert bestimmte Lebensformen und vernachlässigt andere, verhält sich insofern nicht neutral gegenüber den ›Konzeptionen des Guten‹ innerhalb der Gesellschaft. Er strebt eine Neudefinition von Rollenerwartungen und Mustern gesellschaftlicher Arbeitsteilung an und übt zu diesem Zweck hoheitliche Macht Es stimmt also nicht für Wohlfahrtsstaatlichkeit insgesamt, wenn Koslowski 1990, 48 sagt: »Das Sozialversicherungssystem führt zu abnehmenden Zukunftsinvestitionen in Form von Kindern. Es verstärkt die Tendenz zu kinderlosen Ehen oder zu Familien mit weniger Kindern.« 8 »Employment in all sectors increased by about 725000 workers [between 1963–93]: the number of females working in local government increased by the same amount and total and sectoral composition of male employment remained constant.« (Rosen 1996, 729) 9 Rosen 1996, 740: »The monetization of household services provided through the subsidized state bureaucracy increases the demand for publicly provided services and the size of the public sector, but reduces the value of social output and living standards in the economy. Total output is smaller than it would have been if household services had been paid privately and transacted through the market.« 7

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Neoklassisch: Public Choice – politische Akteure maximieren nicht das »Gemeinwohl«; österreichisch: steuerungsskeptische Heuristik – staatliche Eingriffe in Marktprozesse wirken gar nicht, suboptimal oder kontraintentional

Neoklassisch oder österreichisch Orientierung an langfristigen und allgemeinen Regeln; Schutz von Eigentumsrechten; berechenbare Geldpolitik; geringe Staatsquote und Regulationsdichte; Wettbewerbspolitik

Wirtschaftspolitische Strategie

Abbildung 4: Liberales Paradigma der Sozialpolitik

Zum Vergleich: Goodin et al. 1999, 40: »The liberal welfare regime is characterized by (1) liberal politics, (2) capitalist economics and (3) residualist social policies.«

Wirtschaftspolitik: Neoklassisch: Pareto-Effizienz; österreichisch: Kirzner-Koordination; Sozialpolitik: Subsistenz, Ablehnung des starken Egalitarismus, individualistische Ethik

Politik- und steuerungs- Normative theoretische Postulate Orientierung

Ökonomische Postulate

Liberales Paradigma der Sozialpolitik

Marktmacht; dysfunktionale politische Interventionen; Attribute von Individuen: Unfähigkeit oder Unwillen, produktive Leistungen beizusteuern

Residuale Sozialpolitik; Selektivität, Bedürftigkeits-Prüfungen; Subjekt- statt Objektförderung; Bevorzugung von Geld- gegenüber Sachleistungen

Ursachen des sozialpoli- Sozialpolitische tischen Problems Strategie

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Deliberative Demokratie: Gesellschaft programmiert den Staat gemäß normativen Zielen; steuerungsoptimistische Präsumtion

Keynesianisch

Wirtschaftspolitische Strategie

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Abbildung 6: Konservatives Paradigma der Sozialpolitik

Zum Vergleich: Goodin et al. 1999, 51: »The corporatist welfare regime is characterized by (1) group politics, (2) communitarian economics and (3) mutualist social policies.«

Wert- und regel-orien- Sozialer Ausgleich; Korporatismus; »soziale Marktmacht; dysfunktierte Politik; moderater überindividuelle Kultur- Marktwirtschaft«; stabi- tionale Märkte; AttribuSteuerungsoptimismus werte litätsorientierte Politik- te von Individuen instrumente

Eklektisch

Ursachen des sozialpolitischen Problems

Politik- und steuerungs- Normative theoretische Postulate Orientierung

Wirtschaftspolitische Strategie

Marktmacht; dysfunktionale Märkte; Attribute gesellschaftlicher Strukturen: Verdinglichung, Diskriminierung, Ausbeutung

Förderung traditioneller Sozialmilieus und subsidiärer Infrastrukturen sozialer Hilfe; geringe Bedeutung vertikaler Umverteilung; Umlageverfahren

Sozialpolitische Strategie

Umfassende Sozialpolitik; soziale Rechte; Verzicht auf Bedürftigkeitsprüfungen; Integration der Gesamtbevölkerung in die Umverteilung

Ursachen des sozialpoli- Sozialpolitische tischen Problems Strategie

Ökonomische Postulate

Konservatives Paradigma der Sozialpolitik

Abbildung 5: Emanzipatorisches Paradigma der Sozialpolitik

Zum Vergleich: Goodin et al. 1999, 45: »The social democratic welfare regime is characterized by (1) class politics, (2) socialist economics and (3) redistributive social policies.«

Starker Egalitarismus; antizyklische Geld- und emanzipatorische Ideale Fiskalpolitik; strategi– liberalism (im amesche Industriepolitik rikanischen Sinne); Menschenrechte

Politik- und steuerungs- Normative theoretische Postulate Orientierung

Ökonomische Postulate

Emanzipatorisches Paradigma der Sozialpolitik

Welfare Philosophies und das Autonomie-Paradigma

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aus. 10 Dieses Konfliktfeld zwischen den Paradigmen der Sozialpolitik möchte ich die Frage der normativen Steuerung von Gesellschaft nennen. Das liberale Paradigma lehnt sie ab, das konservative und das emanzipatorische befürworten sie (auf ganz unterschiedliche Weise). Ein weiteres Konfliktfeld zwischen liberalem und emanzipatorischem Paradigma betrifft die Beeinflussung der Einkommensverteilung. 11 Für das liberale Paradigma ist jede Verteilung von Vermögen und Einkommen in der Gesellschaft legitim, die nicht das Funktionieren des Marktmechanismus und der politischen Ordnung in Frage stellt. Das emanzipatorische Paradigma geht darüber hinaus und strebt eine Verminderung gesellschaftlicher Ungleichheit und die decommodification der Arbeit an. Während das Gemeinte beim ersten Punkt klar sein dürfte, fordert der zweite eine kurze Erläuterung: Jürgen Habermas rechnet den Wohlfahrtsstaat in die Tradition der arbeitsgesellschaftlichen Utopie. 12 In einer forcierten Form spricht die arbeitsgesellschaftliche Utopie von einer Aufhebung der Warenform der Arbeitskraft, einer Überführung von Arbeit in Selbsttätigkeit. Die Wohlfahrtsstaaten der westlichen Welt hätten diese Utopie in einer abgeschwächten Weise verfolgt, indem sie angetreten seien, die Arbeitsmärkte durch politisch-rechtliche Interventionen zu humanisieren: zum einen durch Kompensationen für Risiken, die mit abhängiger Arbeit verbunden sind (Erwerbslosigkeit, Unfälle, Krankheit, Altersarmut), zum anderen durch wirtschaftspolitische Interventionen, durch die Konjunkturschwankungen moderiert werden sollten. Das Konzept der de-commodification bezeichnet insofern die Aufhebung der bloßen Warenform des Proletarier-Lebens.

Darüber zeigen sich auch Vertreter einer konservativen Sozialpolitik besorgt; abermals Koslowski 1990, 52: »Das Sozialversicherungssystem schwächt das sinnvermittelnde und soziale Gemeinschaft schaffende Moment der Daseinsvorsorge, die ›Kulturfunktion der Unterhaltssorge‹.« 11 Abermals das Beispiel Schwedens: »In the 1960s, solidarity wage policy was largely designed to reduce wage differences between workers with similar training and skills in different production sectors. The explicit slogan was ›equal pay for equal work‹. Subsequently, and particularly during the 1970s, the ambition was changed to reducing wage differentials in all dimensions; the implicit slogan, slightly caricatured, then became ›equal pay for all work‹. In other words, ambitions switched from ›equity‹ to ›equality‹.« (Lindbeck 1997, 1282) 12 Habermas 1985 10

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»In pre-capitalist societies, few workers were properly commodities in the sense that their survival was contingent upon the scale of their labour power. It is as markets become universal and hegemonic that the welfare of individuals comes to depend entirely on the cash nexus. Stripping society of the institutional layers that guaranteed social reproduction outside the labour contract meant that people were commodified. In turn, the introduction of modern social rights implies a loosening of the pure commodity status.« 13

Diese kurzen Ausführungen mögen ausreichen, um die voranstehende schematische Darstellung dreier wichtiger Paradigmen der Sozialpolitik (Abbildung 4–6) verständlich werden zu lassen. 3. Der auf den europäischen Sozialstaaten gegenwärtig lastende Reformdruck bezieht sich vor allem auf Gestaltungsmerkmale des emanzipatorischen Paradigmas. Ich möchte hier nur sehr kurz einige Problemdimensionen benennen, um dann überzugehen zur Skizzierung des Autonomie-Paradigmas. Hinsichtlich der ökonomischen Hintergrundannahmen ist das emanzipatorische Paradigma der Sozialpolitik ins Hintertreffen geraten, weil das keynesianische Argument für eine egalitaristische Einkommenspolitik im Besonderen und die keynesianische Wirtschaftspolitik im Allgemeinen an Überzeugungskraft eingebüßt hat. Im Laufe der Siebzigerjahre hat sich zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass Arbeitslosigkeit kein ausschließlich konjunkturelles, sondern auch ein strukturelles Problem darstellt und sich daher nur bedingt mit geld- und fiskalpolitischen Instrumenten bekämpfen lässt. Zudem ließ sich nicht ignorieren, dass makroökonomische Steuerungsversuche Gefahr laufen, prozyklische Effekte zu produzieren, und als Krisenverstärker wirken können. Neben diesen ökonomischen und steuerungstheoretischen Neueinschätzungen fiel jedoch auch eine skeptischere Bewertung der Erfolge der de-commodification ins Gewicht. (a) Zum einen zeigte sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem sozialstaatlichen Versorgungsanspruch und den Bedingungen, unter denen dieser Anspruch dauerhaft einlösbar sein kann. Ein generelles Problem von sozialen Sicherungsversprechen besteht darin, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadens durch sie nicht steigen darf. Steigt die Schadenswahrscheinlichkeit durch die Sicherung, dann ist auf lange Sicht die Einlösbarkeit des Sicherungsverspre13

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chens riskiert. Interessanter- (fast möchte man sagen: paradoxer-) weise ist dieses Strukturproblem sozialer Sicherung in der Ausgestaltung des Armenrechts besonders ernst genommen worden. Man vergleiche hingegen Barrys Ausführungen zum Ideal eines wohl geordneten Wohlfahrtsstaates: Das Zusammenspiel einer Reihe von prima facie gerechtfertigten Institutionen sozialer Sicherung erübrigt die Versorgung der Armen. Es fällt auf, dass nach Barry sozialstaatliche Institutionen Transfers normalisieren und an Statusindikatoren festmachen, aber nicht direkt zur Vermeidung von Armutsursachen beitragen. Armutsursachen können jedoch in gewissem Umfang durch das Verhalten von Individuen gesteuert werden – und ein wichtiges strukturelles Problem von Wohlfahrtsstaaten besteht darin, entsprechende Verhaltensanreize zu vermeiden. Im Rahmen des emanzipatorischen Paradigmas ist aber eben dies unter Vorbehalt gesetzt worden, weil man die Ursache des sozialpolitischen Problems nicht in persönlichen Unzulänglichkeiten oder natürlichen Wechselfällen des Lebens verortet, sondern in ökonomischen und sozio-strukturellen Bedingungen; eben deshalb gilt die Verhaltenssteuerung als moralisierender und sachlich ungeeigneter Versuch, die sozialen Fragen zu lösen. Beveridge konzipierte den Wohlfahrtsstaat als ein Geflecht von Institutionen, das berechenund einklagbare soziale Rechte gewährt. Diese Rechte beziehen sich auf statistische Armutsindikatoren, wie Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Alter, Unfall und Krankheit. Die Erfüllung solcher positiven Rechte ist für die Empfänger viel weniger mit Scham und Stigmatisierung verbunden als die Erfüllung eines moralischen Anspruchs auf Hilfe, wie er im Armenrecht besteht. Wird ihnen ihr Recht vorenthalten, so müssen sie dies nicht einfach erdulden, sondern können Rechtsmittel einlegen. Damit wächst das Bewusstsein, dass einem etwas zustehe und nicht gnädigerweise gewährt werde. Berechenbarkeit und Tilgung des Stigmas sind in der Argumentation für die Verstaatlichung sozialer Sorge mit gutem Grund zur Geltung gebracht und als Errungenschaft hervorgehoben worden. Doch die Vorzüge haben eine Kehrseite. Berechenbarkeit und Tilgung des Stigmas zusammengenommen begünstigen die Illusion, Ressourcen seien einfach da und müssten nicht erwirtschaftet werden. Wären arbeitslose Personen gesetzlich befugt, angebotene Stellen abzulehnen, ohne die Ansprüche auf Unterstützung zu verlieren, so übten sie einfach ein Recht aus. Niemand wird direkt dazu angehalten, über die sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen 256

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dieses Rechts nachzudenken. Berechenbarkeit und Tilgung des Stigmas zielen genau auf diesen Effekt. Aus dem Versicherungswesen wissen wir aber, dass – statistisch gesehen – Menschen zu hohe Risiken eingehen, wenn sie an den Kosten ihrer Entscheidungen nicht angemessen beteiligt werden. Hinter dem Slogan von der Stärkung der Eigenverantwortung steht also noch etwas anderes als ein neoviktorianischer Moralismus: die Einsicht, dass die Möglichkeit der Externalisierung der Kosten von Lebensführungsentscheidungen zu einem Überangebot an diesen Entscheidungen führt. (b) Zum anderen ist zunehmend wahrgenommen worden, dass die sozialstaatliche Strategie der de-commodification nicht überzeugt, insofern der Egalitarismus des emanzipatorischen Paradigmas keine Neuverteilung von Verfügungsrechten über Produktionsmittel anstrebt. Gesichert wird der ökonomische Status abhängiger Arbeit. Eine Transformation abhängiger Arbeit in unternehmerische Tätigkeit oder die Förderung einer ›Kultur der Selbständigkeit‹ war kein vorrangiges Ziel. Die Idee einer Integration in staatliche Vorsorge- und Versorge-Systeme von der Krippe bis zum Grab ergänzte die Abhängigkeit im Arbeitsverhältnis durch die Abhängigkeit vom staatlichen Leistungssystem. Von sozialistischer Seite ist dem wohlfahrtsstaatlichen System vorgehalten worden, die kapitalistische Produktionsordnung (im Vergleich zu Laissez-faire-Verhältnissen) zwar zu humanisieren, aber damit zugleich ihrer emanzipatorischen Weiterentwicklung im Wege zu stehen. 14 Die Fokussierung des keynesianischen Wohlfahrtsstaates auf passiven Leistungsempfang perpetuiert die Unfreiheit einer Angestellten- und Klientengesellschaft, und es wirkt aus sozialistischer Sicht zynisch, wenn dieses System durch ›positive Freiheit‹ und damit einhergehende ›soziale Rechte‹ legitimiert wird. Die Freiheit des keynesianischen Wohlfahrtsstaates ist die Konsumfreiheit, das soziale Grundrecht die Kaufkraft: Beides dient der aggregierten Nachfrage, der Schlüsselgröße keynesianischer Wirtschaftspolitik. Jürgen Habermas hat die eigentümliche Mischung aus Freiheitschancen und Fremdbestimmung als ›sozialstaatlichen Paternalismus‹ apostrophiert. 15 Da er jedoch zu der Bowles & Gintis 1998 Ganz ähnlich Hirst 1994, 166: »In fact, however good or bad the service delivery personnel are, citizens have little access to these institutions other than in the capacity of clients, as objects of administration. They have no control over the content or the deli-

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Überzeugung gelangt ist, das sozialistische Produktionsparadigma sei durch das Kommunikationsparadigma zu überwinden, hat er die Frage der Verfügung über die Produktionsmittel aus den Augen verloren. 16 Defizitär am wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus scheint ihm der Verlust eines Konzeptes öffentlicher Autonomie, von der er meint, dass sie sich in den Kommunikationen der Zivilgesellschaft gleichsam subjektlos konstituieren könne. 17 Die Betonung der Unerlässlichkeit öffentlicher Autonomie für eine freie Gesellschaft beantwortet aber nicht die Frage nach dem Zusammenhang von Produktionsordnung und politischer Selbstbestimmung. Diesem Problem gilt es nun nachzugehen.

2.1. Das Autonomie-Paradigma: Eine Skizze 1. Beginnen möchte ich die Charakterisierung des Autonomie-Paradigmas der Sozialpolitik mit der Darstellung seiner normativen Orientierung: des liberalen Anrechts auf Autonomie oder einfach des Anrechts. Die Grundidee lautet, dass der liberale Freiheitsgedanke selbst einen Anspruch auf Transfers impliziert, und zwar in einem anderen Sinne, als dies bei den Vertretern eines positiven Freiheitsbegriffs, wie van Parijs, konzipiert ist. Wenn von der natürlichen Freiheit des Menschen gesprochen wird, so darf dies nicht vergessen machen, dass individuelle Freiheit ein gesellschaftlich hergestelltes Vermögen darstellt. Individuen, so möchte ich annehmen, haben ein moralisches Recht auf Bedingungen, unter denen sich dieses Vermögen zu entwickeln vermag. Da Handlungsund Urteilsfähigkeit erlernt werden muss und da diese Lernprozesse very of welfare services. The result is that they relate to them as passive consumers […] Bureaucracy takes away citizens’ responsibility and numbs their response to the need of others.« 16 Habermas 1985; Habermas 1986, 344–379 17 Habermas 1996a, 303 meint, der Sozialstaat sei gefangen im »produktivistischen Bild einer industriekapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft […], die so funktionieren soll, dass die Erwartung sozialer Gerechtigkeit über eine gesicherte privatautonome Verfolgung je eigener Konzeptionen des guten Lebens erfüllt werden kann. Beide Seiten streiten sich nur über die Frage, ob die private Autonomie unmittelbar über Freiheitsrechte gewährleistet werden kann oder ob die Entstehung privater Autonomie über die Gewährung von sozialen Leistungsansprüchen gesichert werden muss. In beiden Fällen gerät aber der interne Zusammenhang zwischen privater und öffentlicher Autonomie aus dem Blick.«

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Ressourcentransfers darstellen, sind liberale Rechte keine reinen Abwehr- und Verfügungsbefugnisse, sondern auch Anrechte auf Transfers, und zwar auf diejenigen Transfers, die der Herstellung von Autonomie gelten. Ohne den Begriff der Autonomie im Sinne der Fähigkeit, eigene Urteile zu bilden und Vorhaben zu verfolgen, verliert auch der negative Begriff der Freiheit seinen Gehalt. Es ist daher irreführend, wenn im Anschluss an Isaiah Berlins Unterscheidung die negative zur liberalen und die positive zur paternalistischen oder totalitären Freiheitskonzeption erklärt wird. Negative setzt positive Freiheit voraus. 18 Normativer Grundsatz: Jedes Mitglied der Bevölkerung hat ein Anrecht auf Transfers, die unter den (a) gegebenen Umständen (b) normalerweise ausreichen, um Bedingungen autonomer Lebensführung herzustellen.

Unter Autonomie verstehe ich in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, ein normales Leben zu führen. 19 ›Normales Leben‹ ist implizit oder explizit ein gebräuchlicher Bezugspunkt für sozialpolitische Argumente. Wenn von einem Recht auf einen minimalen Lebensstandard gesprochen wird, so lässt sich das Gemeinte gar nicht formulieren ohne Bezugnahme auf das in einer Gesellschaft Normale. Die Normalität wirkt hier normierend. Der für das Sozialhilferecht so wichtige Begriff der Menschenwürde ist je und je mit Blick auf das als normal Erachtete zu bestimmen. Die Überlegungen in dieser Arbeit beziehen sich auf die politökonomische Ordnung von Rechtsstaaten, die individuelle Freiheitssphären schützen, politische Rechte gewähren, allgemeine Handlungserlaubnisse aussprechen, die gerichtliche Anfechtbarkeit hoheitlicher Entscheidungen garantieren etc. Dadurch ist ein Fokus für den Begriff des ›normalen Lebens‹ vorgegeben: Er bezieht sich auf Vermögen, die Voraussetzungen für Verständnis und Gebrauch individueller Freiheit in einem liberalen Rechtsstaat sind.

Berlin 1958/1979 Barry 1996, 269: »What people have a reasonable claim on their fellow citizens for is the means to live a normal life, to the extent that that is achievable. […] Thus, in any society there are certain key activities that should be open to physically disabled people, and it is the responsibility of public authorities to ensure, by regulation and where appropriate by financing the required works, that buildings are suitable to provide disabled with access.«

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Noch einige Bemerkungen zu (a) und (b). Mit ›unter gegebenen Umständen‹ (a) beziehe ich mich auf die Tatsache, dass ein normales Leben für unterschiedliche Gruppen von Menschen unterschiedliche Voraussetzungen erfordert. Die Umstände für normales Leben variieren. Auf ein Amt gehen oder die Straßenbahn benutzen zu können, sind Fähigkeiten, die zu einem normalen Leben gehören. Für Hinfällige, körperlich oder geistig Behinderte sind andere Voraussetzungen nötig, um diese Fähigkeiten zu erlangen. Zu diesen Voraussetzungen können Rampen gehören oder spezielles Hilfspersonal oder spezielle Ausfertigungen von Formularen (beispielsweise in Blindenschrift). In dieser Hinsicht greift das Autonomie-Paradigma eine Einsicht von Amartya Sens capability approach auf. Gegenüber dem Grundgüter-Konzept wendet er ein, dass es nicht beachte »the relevant personal characteristics that govern the conversion of primary goods into the person’s ability to promote her ends. For example, a person who is disabled may have a larger basket of primary goods and yet have less chance to lead a normal life (or to pursue her objectives) than an able-bodied person with a smaller basket of primary goods. Similarly, an older person or a person more prone to illness can be more disadvantaged in a generally accepted sense even with a larger bundle of primary goods.« 20

Sen versteht capabilities als substantielle Freiheiten, weil sie das Führen verschiedener Lebensformen ermöglichen. Auch dies scheint mir sinnvoll. Die Fähigkeit, ein normales Leben zu führen, impliziert die Möglichkeit, sich für ein nichtnormales Leben zu entscheiden. Dagegen impliziert die Unfähigkeit, ein normales Leben zu führen, die Unmöglichkeit, sich für ein nichtnormales Leben zu entscheiden. ›Normalerweise ausreichen‹ (b) verweist auf eine weitere unvermeidliche Normierung: Zuweilen können Bedingungen normalen Lebens nur approximativ erreicht werden. Es gibt Regeln für die Terminierung von Transfers, die sich an dem orientieren, was unter gegebenen Umständen normalerweise zu der Fähigkeit autonomen Handelns führt. Die Terminierung ergibt sich nicht allein aus der Notwendigkeit, ›exzessive Transfers‹ zu vermeiden. Dieses Problem war von Arrow im Rahmen einer Erörterung der Implikationen des Differenzprinzips aufgebracht worden: Wie kann ein nichtutilitaristisches, egalitaristisches Konzept vermeiden, dass ein Großteil der 20

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gesellschaftlichen Ressourcen an die unabänderlich Kranken transferiert wird? Der Egalitarismus benötigt, was David Copp eine stoploss provision nennt. Die Beendigung von Transfers zur Schaffung von Bedingungen der Autonomie folgt jedoch – wie angedeutet – nicht allein aus diesem externen Grund, sondern auch aus einem internen. Denn wenn Transfers auf Autonomie gerichtet sind, so heißt dies notwendigerweise, dass sie an einem bestimmten Punkt enden werden, um die ermöglichte Autonomie zu aktualisieren. Der Endpunkt wird hier durch eine Normalitätserwartung gesetzt, nicht durch eine stop-loss provision. 2. Eine erste Abgrenzung des Anrechts gegenüber anderen politikphilosophischen Grundkonzepten mag hilfreich sein: (1) Der Egalitarismus im Sinne Arnesons und Cohens sieht die moralische Legitimation von Transfers darin, dass unverdientermaßen schlechte Lebensaussichten durch die Gemeinschaft nicht einfach hingenommen werden dürfen; die besser Gestellten müssen den schlechter Gestellten beistehen, auch wenn sie für deren Lage nicht verantwortlich sind. 21 Unverdient sind für diese Form des Egalitarismus auch bestimmte Charakteristika der Person. Wenn eine Person aufgrund dieser Charakteristika hohe Einkommen erzielt, so hat sie dies (laut Arneson) moralisch ebenso wenig verdient, wie wenn Leute unzufrieden sind, weil sie nicht über die Mittel verfügen, um ihren teuren Geschmack zu befriedigen. Wenn sich egalitaristische Konzepte am Wohlergehen orientieren, so haben Personen einen Anspruch auf Transfers zur Kompensation aller Nachteile, für die sie selbst nicht verantwortlich sind. Doch ein solcher Anspruch auf (gleiches) Wohlergehen scheint willkürlich. 22 Die Tatsache, dass jemand unverdientermaßen von einem Umstand betroffen ist, den er So Arneson 1992, 209: »I am appealing to the intuition that when people’s lives go badly through no fault or voluntary choice of their own, it is morally incumbent on others to offer aid to the disadvantaged so long as the cost of providing aid is not excessive.« 22 Ein Beispiel für Forderungen dieser Position: Angenommen, die Regierung unterstützt zwei Gemeinschaften, die Drogen für kultische Zwecke konsumieren: »Wenn der Marktpreis für das [eine] Rauschmittel plötzlich dramatisch steigt, während der Marktpreis für das Kaktus-Getränk niedrig bleibt, können die Mitglieder des ersten Stammes mit gutem Grund fordern, dass die Gleichheit eine Erhöhung ihrer Zuschüsse verlangt, damit sie den stark gestiegenen Preis für einen Bestandteil ihrer Zeremonien ausgleichen können.« (Arneson 1983/1994, 335) 21

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– aufgrund seiner gegebenen Vorlieben – als Nachteil empfindet, gibt ihm oder ihr keinen moralischen Anspruch auf die rechtmäßigen Vorteile anderer. 23 Rawls hat die Expensive-taste-Problematik entsprechend mit dem Hinweis kommentiert, dass alle ihre Vorlieben innerhalb der berechtigten Erwartungen auf Primärgüter zu formen hätten. Wie erfolgreich sie dabei seien, sei kein soziales, sondern ein persönliches Problem. 24 Das Anrecht verneint einen Anspruch auf Ausgleich unverdienter Nachteile, der über den im Differenzprinzip fixierten Reziprozitätsgedanken hinausginge. Ich hatte ausgeführt, dass Rawls mit seiner Bemerkung, niemand habe seine natürlichen Gaben verdient, nicht auf die Anschauung hinaus wollte, ein gerechtes Transfersystem zeichne sich dadurch aus, die Effekte angeborener Fähigkeiten oder sozialer Vorteile zu neutralisieren. Vielmehr ging es ihm darum, einen Effekt des Unterschiedsprinzips zu illustrieren. Diese Differenzierung ist wichtig, um Rawls’ Begründungsstrategie angemessen zu würdigen, die auf die epistemische Unsicherheit in der Urzustandssituation abhebt. In Bezug auf das Lebenseinkommen ist diese Unsicherheit keine bloße moralische Fiktion, sondern besteht – folgt man Varian und anderen – tatsächlich. Insofern lässt sich sagen, der Urzustand sei in dieser Hinsicht nicht durch moralische Intuitionen strukturiert. Es kann entsprechend auch nicht darum gehen, die Erträge aus den angeborenen Talenten umzuverteilen, weil deren Inhaber von moralisch kontingenten Vorteilen profitierten. Denn Talente korrelieren gar nicht statistisch signifikant mit hohem Einkommen. Gegen den Egalitarismus hält das Autonomie-Paradigma insofern fest, dass redistributive Institutionen durch ihre Versicherungswirkung und die damit verbundene Reziprozität legitimiert sind. Darüber hinaus erkennt es an, dass bestimmte Klassen von Nachteilen, wie Behinderungen, Transfergründe darstellen – doch diese Gründe beruhen nicht auf der Rechtfertigungsbedürftigkeit jeglicher Ungleichheit, sondern auf den besonderen Umständen der Autonomie. Dass Behinderungen und ein exklusiver Geschmack moralisch und rechtlich unterschiedlich zu behandelnde Sachverhalte darstellen, steht für den common sense außer Frage, nicht hingegen für spitzfindige Theorie. In diesem Sinne der Einwand von Kavka 1992, 272. 24 Rawls 1982, 167–170 23

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(2) Libertäre, wie Nozick, lehnen die egalitaristische Vorstellung einer Verantwortung ohne Verschulden ab. Wenn deine Handlungen nicht die Ursache für die schlechten Aussichten eines anderen sind, so ist es ungerecht, dich dazu zu zwingen, dessen Aussichten zu verbessern. Für überdurchschnittlich Begabte oder Verdienende würde egalitaristische Umverteilung – unter der Annahme einer entsprechenden Korrelation – das Ende ihrer Autonomie bedeuten. Sie werden dazu verpflichtet, ihr Leben in den Dienst der Unterdurchschnittlichen zu stellen. So die libertäre Argumentation. Selbst wenn diese Haltung akzeptiert würde, folgte keineswegs, dass die einzige Aufgabe des Staates darin bestünde, die Bürger vor Betrug und Gewalt zu schützen. Auch der radikalste Libertäre wird nicht behaupten wollen, dass die einzigen rechtlich durchzusetzenden Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern darin lägen, ihnen keine Gewalt anzutun und sie nicht zu täuschen. Sie werden zugestehen, dass Eltern ihren Kindern gegenüber zu umfangreichen Humankapitalinvestitionen verpflichtet sind. Grundlage dieser Verpflichtung ist aber das Recht des Kindes auf Herstellung der Bedingungen von Autonomie. 25 Transferverpflichtungen gegenüber Kindern stellen die paradigmatischen Fälle einer Anwendung des Autonomie-Prinzips dar. Dem entspricht auch in den Grundzügen die historische Entwicklung. Ein Gutteil des frühen Sozialrechts betrifft die Gewährung des Anrechts für Heranwachsende, beginnend mit Bestimmungen für Kinderarbeit über die Schulpflicht und Subventionen (wie Schulmilch) bis hin zum Verbot der Ausübung physischer Gewalt zu erzieherischen Zwecken. (3) In The Constitution of Liberty hat Hayek die moralische Legitimation der Institutionen sozialer Sicherung ausgehend von einer Dass Beistandspflichten in sozialen Rechten gründen, hat eine wichtige Konsequenz für ihren Durchsetzungsmodus. Beistandspflichten sind moralischer Art, soziale Rechte sind dagegen einklagbare Ansprüche. Einige Liberale bevorzugen Ersteres, also eine voluntaristische Position, weil sie allgemein die Verringerung oder Vermeidung hoheitlichen Zwangs gutheißen. Doch bietet der Voluntarismus einigen Raum für Auslegung: Eine moralistische Variante drängt auf die Durchsetzung von Beistandspflichten durch sozialen Druck, nicht durch rechtlichen Zwang. Man kann darüber streiten, welcher Durchsetzungsmodus (sozialer Druck oder rechtlicher Zwang) mit dem Ideal einer liberalen Gesellschaft besser vereinbar ist. Persönlich scheint mir, die Anonymität wohlfahrtsstaatlicher Transfers entlaste die individuelle Lebensführung von der Kontrolle durch die Gemeinschaft und komme dem liberalen Ideal der Freiheit von Fremdbestimmung näher.

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Beistandspflicht gegenüber Menschen in wirtschaftlicher Not konstruiert. Er geht also mit gutem Grund über die rein voluntaristische Position Nozicks hinaus. Aus Sicht des Anrechts ist an Hayeks Konzeption einer Beistandspflicht auszusetzen, dass er das Verhältnis von Freiheitsrechten und Beistandspflichten ausschließlich als konflikthaftes konstruiert. Beide verweisen jedoch aufeinander: Beistandspflichten sind auf Freiheitsrechte bezogen. Freiheitsrechte setzen die Erfüllung von Beistandspflichten voraus. Der Egalitarismus geht davon aus, dass die am schlechtesten Gestellten einen Anspruch auf Transfers haben, einfach weil sie die am schlechtesten Gestellten sind. In schwächerer Form gilt dies auch für Hayeks Beistandspflicht. Die wirtschaftliches Elend Leidenden haben Ansprüche, einfach weil sie wirtschaftliches Elend leiden. 26 Beide Begründungsgedanken weisen in Richtung eines passiven Empfangs von Ressourcen. Dadurch erhalten die Transfers den Charakter von Eigentumsrechten an den Leistungen oder Charakteristika anderer Personen, und diese Eigentumsrechte stehen – wie oftmals bemerkt wurde – in einem spannungsvollen Verhältnis zu dem liberalen Freiheitsgedanken. Nozick sprach von Umverteilung als Zwangsarbeit, Dworkin von der ›Versklavung der Talentierten‹, 27 Arneson – allerdings in affirmativer Weise – von property rights in persons. 28 Die adäquate moralische Begründung sozialer Transfers stützt sich hingegen nicht auf eine egalitaristische Distinktion von Verdientem und Unverdientem oder eine Form von Mitleidsethik, sondern auf die normative Auslegung eines anthropologischen Faktums: dass Menschen sowohl abhängige und verwundbare als auch auf Autonomie hin ausgelegte Wesen sind. Libertäre, wie Nozick, betonen einseitig die Autonomie, während Egalitaristen einseitig die Abhängigkeit betonen. Beide Konzepte verweisen jedoch aufeinander. 3. Eine Konsequenz der Begründung von Transfers durch den Status von Menschen als zugleich abhängigen und autonomen Wesen besteht darin, dass soziale Leistungen nicht als passiver, unbedingter und unbefristeter Leistungsempfang gestaltet werden können. David Nach diesem Muster argumentiert Angelika Krebs: »if a man suffers from hunger or sickness, one must help him, because hunger and illness are terrible situations for any human being, not because others are better off than him.« (zitiert nach van Parijs 2000, 2) 27 Nach Arneson 1983/1994, 332 28 Arneson 1992; Varian 1974 26

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Copp gibt das Beispiel eines Staates, der einen einmaligen sozialen Transfer an die Bürger leistet. Er geht nicht in die Details, aber man könnte an den Vorschlag von Bruce Ackerman und Ann Alstott denken, das Sozialsystem zu ersetzen durch die an alle Bürger bei Erreichen der Volljährigkeit einmalig zu leistende Zahlung von 80.000 Dollar, die durch eine Vermögenssteuer zu finanzieren wäre. 29 Wird ein solches Transfervermögen im vollem Bewusstsein des eingegangenen Risikos verspielt, so besteht nach Copp kein gerechter Anspruch auf Versorgung durch die Gemeinschaft. Die Glücklosen dürfen auf die Nächstenliebe anderer hoffen, möglicherweise auf eine rudimentäre soziale Sicherung. Doch es gibt – unter den genannten Bedingungen – kein moralisches Recht auf Transfers. Hier zeigt sich der bereits angesprochene Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung, der in van Parijs’ real libertarianism verloren ging. Eine Rechtfertigung von Transfers auf der Grundlage des liberalen Freiheitsgedankens enthält notwendigerweise Terminierungsregeln und Ausschlussbestimmungen. Der Gedanke der Autonomie hat aber auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung von Transfers, die nun umgestellt werden müssen von dem Modus der Alimentation in den der Investition. Der Begründungsgedanke des Anrechts trifft sich hier mit Tendenzen innerhalb der sozialpolitischen Diskussion. 30 Die Umstellung von Subvention auf Investition trägt nicht allein der Kritik von Habermas Rechnung, der sozialstaatliche Paternalismus verwandle Bürger in Klienten der Leistungsverwaltung. Er ist auch aus Gründen der dauerhaften Sicherung des Systems unerlässlich. Denn der sozialstaatliche Paternalismus beruht – wie jeglicher – letztlich auf der kindlichen Illusion, der Staat sei in seinen Leistungen nicht abhängig von dem produktiven Potenzial der Gesellschaft. Er übergeht die Tatsache, dass Staaten alles, was sie für die Bürgerschaft leisten wollen, sich zunächst bei der Bürgerschaft besorgen müssen. Es gibt daher keine staatliche Versorgung als Alternative zur Eigenverantwortung. Vielmehr muss sich der Staat Mittel bei denen besorgen, die erfolgreich Verantwortung für sich übernehmen. Eigenverantwortung ist insofern die Grundlage von Versorgung. Sie ist die Bereitschaft, sich selbst in die Lage zu versetzen und in der Lage zu erhalten, seinen Pflichten gegenüber sich und anderen nachzukommen. Daraus folgt natürlich nicht der radikale Schluss, dass die 29 30

Ackerman & Alstott 1999, 4 ff. Giddens 1998/1999; Esping-Andersen 1996 A

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Politik gut beraten wäre, auf Wohlfahrtsstaatlichkeit schlechterdings zu verzichten. 31 Was aus individueller Perspektive das Anrecht auf Autonomie ist, stellt sich aus Sicht der Gesellschaft als die Pflicht dar, die Produktivitätsbedingungen anderer zu sichern. Gibt es starke empirische Indizien für dysfunktionale Wirkungen von Transfer, so ist deren Reform aus Effizienz- und Viabilitätsgründen, aber auch moralisch geboten. Die Verantwortung trifft hier die Rechtsgemeinschaft, und die denunziatorische Rhetorik mancher Politiker ist völlig fehl am Platz. Wenn die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung Anreize setzt, die zu einer Entwertung von Humankapital führen 32 und wenn die Ausgestaltung des Unterstützungssystems für Familien die Entstehung von sozialen Milieus fördert, die dauerhaft von gesellschaftlicher Alimentierung abhängen, 33 so trifft der Vorwurf nicht diejenigen, die den wirkenden Mechanismen unterworfen sind, sondern diejenigen, die für ihre Gestaltung Verantwortung tragen. Wichtig ist mir, klarzustellen, dass die Produktivität nicht dasjenige ist, was das Anrecht begründet. Produktivität ist vielmehr die gesellschaftlich erwünschte Konsequenz der Gewährung des Anrechts. Dieser Hinweis soll daran erinnern, dass Behinderte und Hinfällige das Anrecht genießen, auch wenn unter den gegebenen Bedingungen keine gesellschaftlich wichtigen produktiven Leistungen zu erwarten sind. Für Behinderte scheint mir aus dem Anrecht eine Forderung zu folgen, die für Nicht-Behinderte nicht folgt: ein Recht auf Arbeit. 34 Um die Fähigkeit, ein normales Leben zu führen, zu sichern, sind für Behinderte klarerweise stärkere staatliche Interventionen und Regulierungen nötig als für Nicht-Behinderte. Die moralische Grundlage ist aber dieselbe wie für andere soziale Leistungen:

Eine völlige Auflösung des Wohlfahrtsstaates in jeglicher Form fordert Murray 1996. Er tut dies auf Grundlage einer individualistischen politischen Ethik und einer Vielzahl statistischer Daten über langfristige Entwicklungstrends, die seiner Auskunft nach zeigen, dass die verstärkte wohlfahrtsstaatliche Intervention in den USA im Dienste politischer Ziele (Armut, Lebenserwartung etc.) keine erkennbare Wirkung gezeigt hat; wo sie Wirkung zeigte, sei sie unerwünscht gewesen. 32 Sinn 2000; Snower 2000; Phelps 1997, 87–89; zu den Anreizwirkungen des US–Sozialhilfesystems allgemein: Mofitt 1992. 33 Mead 1997; Murray 1984/1994, 129–133 34 Siehe zu dessen Begründung: Kavka 1992. 31

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der Status von Menschen als zugleich abhängigen und auf Autonomie hin angelegten Wesen. 4. Eine Gesellschaft, in der wichtige Güter äußerst ungleich verteilt wären, aber alle genug zum Leben hätten, würde von vielen als moralisch akzeptabel angesehen. Denn während allgemein anerkannt ist, dass Personen in Notlagen ein Recht auf Hilfe haben, 35 besteht kein ebenso evidentes Recht auf jemandes Mittel, einfach weil diese Person mehr davon hat. Wenn Margaret Thatcher darauf bestand, »poverty no longer exists in Britain, only inequality« 36 , so tat sie dies, weil Armut die Legitimität eines politökonomischen Systems in einer Weise aushöhlt, in der Ungleichheit dies nicht tut. 37 Eine politökonomische Ordnung, die wirtschaftliches Elend systematisch hervorbringt, verliert ihre Legitimität – wie reich sie auch sonst sein mag. Dasselbe gilt nicht von Ungleichheit. Doch was bedeutet die Abwesenheit von Armut? Und wie verhält sich der moralische Minimalkonsens, dass Armut in einer reichen Gesellschaft nicht geduldet werden kann, zu dem Begründungsgedanken des Anrechts? Meine These lautet, dass der Begriff Armut auf die Vorstellung sozialer Handlungsfähigkeit, also auf eine Dimension von Autonomie, bezogen ist. Armut und wirtschaftliches Elend wird mit Blick auf die in einer Gesellschaft als normal klassifizierten Handlungsmöglichkeiten bestimmt. Es gibt zwar kein Anrecht darauf, nicht arm zu sein – aber es gibt ein Anrecht auf (Wieder-)Herstellung der Autonomie. Der heute allgemein übliche Begriff relativer Armut hat somit sein

»Suppose you own a locked box, and suppose it contains a supply of some drug – a supply more than ample for future purposes. Suppose, further, that a small child desperately needs a dose of the drug, or she will die. Surely […] I may break into the box and take a small dose of the drug for the child. […] Not only is it not wrong to take the drug, it might even be wrong not to take it.« (Nelson 1985, 96) 36 Zitiert nach: Atkinson 1998, 45. 37 Einer der moralisch ergreifendsten Sätze des Kommunistischen Manifestes spricht vom Kapitalismus als einem System, das unfähig sei, seinen Sklaven die Existenz zu sichern. »Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig, zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.« (Marx & Engels 1848/1971, 538) 35

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Fundament in der Autonomievorstellung, die dem Anrecht zugrunde liegt. Kommen wir zunächst zurück auf Thatcher. An ihrer Aussage ist richtig, dass sich die Ernährungslage in Großbritannien während der letzten 150 Jahre dramatisch verbessert hat. Hunger und wirtschaftliches Elend zählen nicht mehr zu den landläufigen Erfahrungen großer Teile der Bevölkerung. Für Maße, die sich an den Ernährungsbedingungen und anderen elementaren Bedürfnissen orientieren, galt Armut bereits im England der Fünfzigerjahre als beinahe ausgerottet. Obwohl nach dem absoluten Maß Rowntrees 1951 nur noch 3 % der Bevölkerung in Armut lebten (im Gegensatz zu 31 % 1936), waren viele Briten nach wie vor überzeugt, dass Armut ein Faktum ihres Lebens darstellt. »There were lots of people who were in misery and clearly deprived of what they saw (as I shall presently argue, rightly) as necessities of life, and the battle against poverty was far from over. It is in this context that the change of emphasis in the academic literature from absolutist to a relativist notion of poverty took place, and it has the immediate effect of debunking the smug claims based on inadequate absolute standards.« 38

Dem entspricht, dass die UN oder die Europäische Union Armut nicht mit absoluten Kriterien wie ›täglicher Kalorienverbrauch‹ messen, sondern einen relativen Begriff von Armut verwenden. Als arm gilt der EU, wer mit einem Einkommen auskommen muss, das weniger als die Hälfte des Medianeinkommens beträgt. Gemessen an dem (auch durch ihre eigenen Ministerien angewandten) Begriff relativer Armut war Margaret Thatchers Aussage, es gebe heute in Großbritannien keine Armut mehr, nur noch Ungleichheit, natürlich falsch. Zu dem Zeitpunkt der Behauptung (1989) lag laut Angaben des Department of Health and Social Security (DHSS) der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze bei ungefähr 17 %. Während der Jahre der Thatcher-Regierung (ohne damit die Frage der Kausalität berühren zu wollen) nahm die Armut in Großbritannien von ungefähr 7,5 % auf fast 20 % Anfang der Neunziger zu. 39 Thatcher muss somit absolutes wirtschaftliches Elend bei ihrer Aussage im Auge gehabt haben – doch sie konnte sich dabei keineswegs darauf 38 39

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Sen 1984, 327 Atkinson 1998, 57

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berufen, dass dies die übliche Verwendungsweise des Armutsbegriffs sei. Berufen konnte sie sich höchstens auf die Tatsache, dass Großbritannien im Vergleich zu Bangladesch eine äußerst reiche Gesellschaft ist. 40 Die Wahl eines relativen Armutsmaßes ist nicht der Überzeugung geschuldet, dass die Einkommensverteilung ein genuiner Gegenstand normativer Bewertung sei. 41 Genuiner Gegenstand normativer Bewertung können nur Attribute von Individuen werden: In dieser Hinsicht gibt es zwischen Egalitaristen und Egalitarismuskritikern im Großen und Ganzen keine Meinungsverschiedenheit. Vielmehr hat ein relatives Armutsmaß die Aufgabe einer summarischen Abschätzung von Lebenssituationen. Hinter ihm steht die generalisierende These, dass, wer weniger als die Hälfte des Medianeinkommens zur Verfügung hat, in der Regel kein gutes Leben wird führen können, gemessen an den innerhalb einer Gesellschaft normalen Vorstellungen dessen, was gutes Leben bedeutet; und dass dies auch und insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten gilt, eigene Anliegen und Sichtweisen innerhalb des politischen Systems zu vertreten oder repräsentiert zu finden. Dass Armut ein Übel ist, liegt nicht allein und vielleicht auch nicht vorrangig daran, dass arme Haushalte von glücksträchtigen Konsummöglichkeiten ausgeschlossen sind; sondern dass Armut durch die Unzugänglichkeit von gesellschaftlichen Positionen verursacht wird, die sowohl ein hohes KonsumAuch hier sind jedoch – für viele verblüffend – bei einer höheren Bildauflösung feine Unterschiede erkennbar. So hat Amartya Sen verschiedentlich darauf hingewiesen, dass afroamerikanische Männer in einem wichtigen Indikator für den Wohlstand einer Gesellschaft – der Sterblichkeitsrate – schlechter abschneiden als die »männliche Bevölkerung des [indischen] Bundesstaates Kerala, ja sogar Sri Lankas, Costa Ricas, Jamaikas und vieler anderer wirtschaftlich armer Länder«. (Sen 2000, 121). Ähnliches könnte für Sub-Gruppen der Gesellschaft in Großbritannien gelten. 41 Angelika Krebs hat – im Anschluss an Joseph Raz – den Egalitarismus als die These gedeutet, dass Gleichheit in der Verteilung bestimmter Güter selbst ein vorrangiger moralischer Wert sei. Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass weder Raz noch Krebs Protagonisten eines solchen Egalitarismus angeben. Auch Egalitaristen gehen in aller Regel davon aus, dass Gleichheit ein abgeleiteter Wert ist. Wenn Krebs sagt: »Der erste und wohl entscheidende Einwand gegen den Egalitarismus […] besagt, dass zumindest die besonders wichtigen, elementaren Standards der Gerechtigkeit nicht-relationaler Art sind und Gleichheit nur als Nebenprodukt ihrer Erfüllung mit sich führen. […] Menschenwürde ist ein absoluter Begriff« (Krebs 2000, 17–18, 19), so trifft dies zwar den Streitgegenstand (absolute oder relationale Standards), aber bezieht in eher dogmatischer Weise Position. 40

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niveau ermöglichen als auch die politische und soziale Partizipation. Es sind somit vor allem die Ursachen der Armut, welche die Selbstachtung und die Handlungsfähigkeit der Betroffenen schmälern. Mit anderen Worten: Es ist das Anrecht, das begründet, warum Armutsmaße auf den gesellschaftlichen Kontext Bezug nehmen müssen. 5. Nach Alan Peacock ist es Kennzeichen einer libertären Position, den relativen Armutsbegriff zurückzuweisen und soziale Beistandspflichten auf Fälle einzuschränken, in denen Personen nachweislich unter ein absolut zu bestimmendes Subsistenzniveau fielen, wenn ihnen nicht geholfen würde. 42 Sozialstaatlicher Zwang zur Vermeidung von Armut wäre für Libertäre illegitim, würde ein relativer Armutsbegriff verwendet. Diese Kennzeichnung mag kontingenterweise zutreffen, hat aber keine tieferen Gründe. Denn ein absolutes Maß kann so festgelegt werden, dass die Armut in Großbritannien im Jahre 1989 nahe 0, 10, 17 oder 25 % beträgt. Es muss keineswegs an den Bedingungen des blanken Überlebens orientiert sein, auch wenn es im politischen Kontext typischerweise in dieser Weise ausgelegt wird. Ähnliches gilt von Maßen relativer Armut. Wenn nicht 50 %, sondern 25 oder 10 % des Medianeinkommens die Armutsgrenze markieren, dann hat das selbstverständlich gravierende Konsequenzen für die Beurteilung der sozialen Situation einer Gesellschaft. In Poor, Relatively Speaking hat Amartya Sen auf der einen Seite einen Armutsbegriff verteidigt, der – wie der relative – auf den kulturellen Kontext Bezug nimmt. Doch meint er nichtsdestominder, dass Armut ein absolutes Konzept ist. Wenn jemand aus einer Information Gewinn schlagen kann, weil andere über sie nicht verfügen, so hat er einen absoluten Vorteil aufgrund einer relativen Position. Analoges gilt für den Begriff der Armut. Entscheidend ist nicht jemandes Position innerhalb einer Verteilung, sondern der Lebensstandard, der mit dieser Position verbunden ist. Letzteres sei aber in absoluten Begriffen zu messen, und zwar solchen, die sich auf das Verfügen oder Nichtverfügen über die kulturspezifischen capabilities beziehen. »So there is, as it were, a sequence from a commodity (in this case a bike), to characteristics (in this case, transportation), to capability to function (in this case, the ability to move), to utility (in this case, pleasure from moving). It

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Peacock 1997

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can be argued that it is the third category – that of capability to function – that comes closest to the notion of standard of living.« 43

Armut ist mithin für Sen ein absoluter Begriff bezüglich der capabilities, jedoch ein relativer bezüglich der Güter, die dafür benötigt werden. 44 Ähnliches gilt für das Anrecht auf Autonomie: Es ist ein absoluter Begriff, insofern Handlungs- und Urteilsfähigkeit nichtrelationale Attribute von Individuen sind. Was ein normales Leben innerhalb gegebener Voraussetzungen jedoch bedeutet und welche Ressourcen dafür benötigt werden, kann nur durch Betrachtung des gesellschaftlichen Kontextes beantwortet werden. Und nicht anders als bei dem Begriff der Armut wird eine ›libertäre‹ und eine ›egalitaristische‹ Auslegung des Anrechts zu erwarten sein, je nachdem, wie extensiv die Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie bestimmt werden. Ein solches Potential für Meinungsverschiedenheiten bezüglich eines Begründungsgedankens ist nichts Ungewöhnliches. 6. Ein wichtiger Vorzug des Anrechts besteht meines Erachtens darin, einer echten moralischen Intuition näher zu kommen als der luck egalitarianism 45 . Zu den für ein normales Leben notwendigen Voraussetzungen gehören Transfers während Lebensphasen, in denen Humankapital ohne direkte Reziprozitätserwartung aufgebaut werden muss. Zu diesen Phasen gehört ohne jeden Zweifel das Heranwachsen. 46 Die notwendigen Transfers umfassen eine ausreichende Sen 1984, 334 »Unter lebenswichtigen Gütern verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst aus der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Leben notwendig. […] Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste. Denn eine solche Armut würde als schimpflich gelten, in die ja niemand ohne eigene Schuld geraten kann, wie allgemein angenommen wird.« (Smith, Wohlstand der Nationen, Bd. 2, 5. Buch, Kap. 2, zitiert nach Sen 2000, 94) 45 Die Position, dass unverdiente Nachteile Anrecht auf Ausgleich geben. 46 Loren Lomasky hat die These vertreten, wir würden die Rechte von Kindern anerkennen, weil wir in ihnen die zukünftigen Erwachsenen sähen, denen wir als Projektemachern Rechte zugeständen. »Common morality ascribes rights to the child because it recognizes rights in the adult it will become and to which it is numerically identical. To damage an infant is to damage the project pursuer that it will be.« (Lomasky 1987, 160) Als eine allgemeine Theorie der Rechte von Kindern ist dies sicher pervers und alles 43 44

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Ernährung, medizinische Versorgung, Beherrschung kultureller Techniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen, soziale Kompetenzen, Wissen über die gesellschaftliche Umwelt (wie beschafft man Geld, eine Wohnung etc.), charakterliche Voraussetzungen (wie die Fähigkeit, Verpflichtungen einzuhalten oder Aggression und Leidenschaften zu kontrollieren). Es ist grundsätzlich nicht falsch, dass Eltern unter entsprechenden materiellen Umständen in aller Regel motiviert sind, in das Humankapital ihres Nachwuchses zu investieren. Daher könnte man fragen, ob der libertäre Einwand hier nicht genauso gelte wie in anderen Zusammenhängen: dass staatliche Intervention zu einer Verdrängung privater Sorge führe. Doch erstens sind diese materiellen Bedingungen nicht immer gegeben, zum anderen genießen Heranwachsende ausdrücklichen Schutz gegen Unterinvestitionen in Gestalt von Verwahrlosung oder noch massivere Rechtsverletzungen. Garant des Anrechts ist daher die rechtsstaatliche Gemeinschaft, die Normalitätserwartungen an elterliche Sorge formuliert (Sorgfaltspflichten im Haftungsbereich etc.) und im Versagensfall Schutz und Ersatz bereitstellt. Wenn David Copp sagt, »I assume that […] states have a duty to enable every citizen to meet his basic needs« 47

so impliziert dies die Garantenstellung des Staates, nicht notwendigerweise die hoheitliche Leistung von Transfers. Er statuiert nicht etwa ein Recht eines jeden auf ein bedingungsloses Einkommen. Das Recht ist vielmehr ein individueller Anspruch gegen den Staat, für die Bedingungen der Befriedigung basaler Bedürfnisse zu sorgen – wobei diejenigen Bedürfnisse als basal angesehen werden, die (im Rahmen der gegebenen Umstände normalerweise) Voraussetzungen der Möglichkeit von Autonomie darstellen. 48

andere als eine Beschreibung der common morality. Kinder haben ein Recht, nicht geschädigt zu werden, einfach weil sie fühlende, überdies wehrlose und verletzliche Wesen sind. Das moralisch relevante Attribut für das Haben von Rechten auf Nicht-Schädigung ist die Fähigkeit, zu fühlen (siehe: Krebs 1999; Singer 1979/1984). Doch was die sozialen Rechte von Kindern betrifft, so scheint Lomasky hier das richtige Stichwort zu geben. Diese sind bezogen auf die Fähigkeiten, die zum Führen eines normalen Lebens in dem gegebenen gesellschaftlichen Kontext als notwendig erachtet werden. 47 Copp 1992, 238 48 Copp 1992, 252: »I should perhaps remind the reader that I am proposing a right to be enabled to meet one’s basic needs; I am not proposing a right to be provided with what one needs.«

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7. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Autonomie-Paradigma und Sens capability approach besteht in dem Status, den beide Ansätze individuellen Rechten zusprechen. Ich möchte an die von Sen ausgelöste Debatte um die Frage erinnern, wie das liberale Recht auf eine geschützte Privatsphäre theoretisch rekonstruiert werden soll. Sen setzt sozialwahltheoretisch an. 49 Individuelle Präferenzen über soziale Zustände sollen durch eine Funktion zu einer kollektiven Präferenz zusammengefasst werden, aus der hervorgeht, was eine Menge von Personen als gut betrachtet und wünscht. Innerhalb dieses Theorierahmens ist die Privatsphäre als das Recht jeder einzelnen Person zu verstehen, die soziale Präferenz für alle Angelegenheiten zu bestimmen, die in diese Sphäre fallen. Wenn du am Abend in die Oper möchtest und nicht ins Kino, und wenn dies als reine Privatsache gilt, dann muss auch die kollektive Präferenzfunktion lauten, dass du in die Oper gehen mögest: »[…] if some pair of social states x, y belongs to person i’s sphere, the following condition must hold: if i prefers x to y, then society must prefer x to y also. I shall call this the social choice formulation of rights.« 50

Alan Gibbard hat 1974 als Erster darauf hingewiesen, dass diese Deutung eines Rechts auf Privatsphäre (verstanden als eine persönliche Entscheidungsdomäne) nicht trägt. Angenommen, eine Gesellschaft könnte sich in vier Zuständen befinden, die sich aus der Kombination der Handlungsweisen zweier Individuen ergäben. Jedes Individuum kann eine von zwei Optionen wählen, etwa Kino oder Theater; die Wahl gehört in die persönliche Entscheidungsdomäne. Die jeweiligen Zustände möchte ich als [ko], [ok], [kk], [oo] notieren, wobei [ko] dafür steht, dass Individuum I ins Kino geht, II in die Oper, etc. Entscheidungsdoma¨nen und soziale Zusta¨nde Individuum I /Individuum II

Kino

Oper

Kino

kk

ko

Oper

ok

oo

Abbildung 7: Entscheidungsdomänen und soziale Zustände

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Meine Darstellung folgt Sugden 1993; siehe auch: Pattanaik 1994. Sugden 1992, 128 A

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Alle vier sozialen Zustände gehören in die jeweilige Domäne der beiden Individuen. Gleichgültig, ob Individuum II in die Oper geht oder ins Kino – es ist allein die Sache von Individuum I zu entscheiden, was es vorzieht (und vice versa). Angenommen, I gehe grundsätzlich lieber ins Kino, aber vorrangig sei für es, II zu treffen, während II I meiden möchte und ansonsten eine Schwäche für die Oper hat. Präferenzen von I: kk>oo>ko>ok Präferenzen von II: ko>ok>oo>kk

Wird nun, wie bei Sen, das Recht auf Privatsphäre gedeutet als das Recht, soziale Zustände innerhalb der persönlichen Domäne zu determinieren, so ergibt sich aus den Präferenzen von I und II ein gravierendes Problem: Denn ok>oo>kk, aber kk>ok. Das Problem besteht darin, dass es inkohärent ist, zu fordern, die Gesellschaft möge die persönliche Sphäre von Individuum I und II respektieren, wenn die soziale Präferenz nicht zirkulär sein darf. 51 Dies, freilich, ist ein unerwünschtes Resultat. Eine mögliche Auflösung der Verlegenheit besteht darin, zu bestreiten, dass in dem beschriebenen Fall persönliche Entscheidungsdomänen existierten. In bestimmten Fällen interdependenter Präferenzen gebe es einfach keine Privatsphäre. Aus liberaler Sicht ist diese Ansicht kaum akzeptabel. Warum sollte dein Recht, persönliche Angelegenheiten souverän zu entscheiden, davon abhängen, ob ich zufälligerweise eine Meinung dazu habe oder nicht? Dass ich es besser fände, wenn du etwas machtest oder nicht machtest, soll nach liberaler Auffassung für dein Recht völlig irrelevant sein. (Das bedeutet natürlich nicht, dass Präferenzen nicht kritisiert werden könnten oder dass meine Meinung für deine Überlegungen irrelevant sein sollte.) Ich schließe mich daher der Meinung von Sugden und anderen an, dass individuelle Rechte sozialwahltheoretisch nicht adäquat rekonstruiert werden können. Entsprechend ist die Begründung des Anrechts eine andere als die des capability approach, der sich aus einer Erweiterung der Informationsgrundlage sozialwahltheoretischer Urteile, nicht aus einer Zusprechung unbedingter individueller Rechte ergibt.

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Sugden 1993, 130

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8. Autonomie-Paradigma und Neutralität gegenüber Präferenzen; Eigenverantwortung. Liberale Sozialpolitik baut auf einer individualistischen politischen Ethik auf, die Präferenzsouveränität als zentrales Prinzip betrachtet. Wert hat ein Gut oder ein Zustand nur für Subjekte, die diese Werte selbst anerkennen. Keine externe Instanz kann besser beurteilen, was gut für eine Person ist, als diese selbst; daher muss ihre Entscheidungshoheit für das eigene Leben rechtlich geschützt werden. Aus der Präferenzsouveränität kann ein Prinzip abgeleitet werden, das für viele zeitgenössische Politikphilosophen die Substanz liberaler Politik markiert: das anti-perfektionistische oder Neutralitäts-Prinzip. Eine liberale Regierung unterlässt Versuche, die Präferenzen der Bürger im Namen von Idealen zu formen. 52 Zwei direkte sozialpolitische Konsequenzen dieses Prinzips sind: erstens die Bevorzugung von Geldtransfers gegenüber Sachleistungen; zweitens die Förderung von Personen und nicht von Projekten (Subjekt- versus Objektförderung). Anhänger des liberalen Paradigmas kritisieren den demütigenden und bevormundenden Charakter von Sachleistungen, sofern sie auf der Unterstellung beruhten, die Empfänger seien unfähig, Geldtransfers in verantwortlicher Weise zu nutzen. 53 Im Extrem würde die Bevorzugung monetärer Transfers bedeuten, alle denkbaren Sozialleistungen zu reduzieren auf ein (mindestens) die Subsistenz sicherndes Grundeinkommen. Ein solches Grundeinkommen würde das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber Wertvorstellungen der Bürger am vollkommensten erfüllen, insofern es offen ließe, welcher Gebrauch von dem Transfer gemacht würde. Raz 1986, 110 ff. Siehe auch Gauthier 1986, 341: »In saying that an essentially just society is neutral with respect to the aims of its members, we deny that justice is linked to any substantive conceptions of what is good, either for the individual or for society. A just society has no aim beyond those given in the preferences of its members.« 53 Mit besonderem moralischen Nachdruck hat dies Arthur Seldon vom Institute of Economic Affairs in einem Brief an Lord Balniel zum Ausdruck gebracht: »You have never been poor. I have. The poor do not thank those who bring them gifts in kind which question their capacity and affront their dignity. Cash gives power of choice; care, services in kind, denies choice. But much more than that; the poor who are given care or kind will never learn choice, judgement, discrimination, responsibility. […] Not least, since British upper-class politicians have neglected to develop British working-class independence the Government must radically reverse the intellectual confusion of a century; instead of taxing people for ›free‹ services it must pump money into their pockets so that they can pay with dignity, and learn through choice the knowledge and self-confidence of the middle classes.« (zitiert nach Cockett 1994, 134) 52

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Freilich, so ist argumentiert worden, führte es zu einer anderen Form von Nicht-Neutralität, insofern diejenigen mit einer Präferenz für Freizeit systematisch bevorzugt würden. Denn sie beteiligen sich entweder an der Finanzierung der Transfers nur in unzureichender Weise oder leben gänzlich von den produktiven Leistungen anderer. Richard Musgrave hatte in seiner Rezension der Theory of Justice angemerkt, dass dies auch eine Konsequenz des rawlsschen Primärgüteransatzes sei. Rawls hat Musgraves Kritik akzeptiert und Freizeit in den Primärgüter-Index aufgenommen, um die Bevorzugung der Nicht-Arbeitenden zu vermeiden. Wer mehr als die Standardfreizeit (24 Stunden abzüglich der Standardarbeitszeit) konsumiere, bekommt dies in der Bestimmung seiner Wohlfahrtsposition angerechnet. »Wer nicht bereit ist zu arbeiten, bekäme die Standardarbeitszeit als ExtraFreizeit angerechnet, und diese Extra-Freizeit würde stipulativ als Äquivalent des Indexwertes an Grundgütern der am wenigsten Begünstigten festgesetzt. So müssten diejenigen, die den ganzen Tag vor Malibu surfen, einen Weg finden, sich selbst zu erhalten, und blieben ohne Anspruch auf öffentliche Unterstützung.«54

Rawls ist – mit anderen Worten – bereit, das Prinzip der Neutralität gegenüber der Vorliebe für Freizeit zu relativieren. Philippe van Parijs hat auf diesen Einwand mit dem Argument repliziert, dass Arbeitslöhne Renten beinhalteten; diese Renten entsprächen der Höhe der Transaktionskosten, die in die Vergabe eines Arbeitsplatzes eingingen; die Renten führten dazu, dass die in einer Wirtschaft vorherrschenden Löhne nicht markträumend seien. Folglich realisieren die Inhaber von Arbeitsplätzen die Rente auf Kosten der von den Arbeitsplätzen Ausgeschlossenen. Diese Renten dürften legitimerweise steuerlich abgeschöpft und zur Finanzierung eines unbedingten Grundeinkommens genutzt werden. 55 Angenommen, van Parijs hätte Recht mit der Behauptung, dass der markträumende Lohn gerecht wäre und darüber hinausgehende Renten unverdient (und insofern common asset). Aus Sicht des Autonomie-Paradigmas kann dies keine Grundlage einer Forderung auf unbedingte Transfers darstellen. Van Parijs erwägt den Einwand, dass

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Rawls 1988/1994, 372 van Parijs 1994, 89 ff.

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die Renten auf Arbeitsplatzbesitz auch für Zwecke aktiver Arbeitsmarktpolitik eingesetzt werden könnten. »But my objection against such policies is more fundamental: they all amount to using scarce resources in a discriminatory way, with a bias towards those with a stronger preference for being employed. If you wish to favour one particular conception of the good life, say so. But you cannot do so consistently with the neutrality requirement that is an essential component of real-freedom-for-all.« 56

Insofern das Autonomie-Paradigma – wie Rawls – nicht neutral ist gegenüber der Präferenz für Freizeit, würde van Parijs also von ihm sagen, es verletze das Prinzip liberaler Neutralität. Man kann diese Einordnung hinnehmen, allerdings nicht ohne die Anmerkung, dass liberale Neutralität in einer derartigen Auslegung ihre Plausibilität einbüßt. Ihr Grundgedanke ist die Ablehnung des hoheitlichen Anspruchs auf Bestimmung von Angelegenheiten, die Liberale als Privatsache betrachten. Die Bürger sollen ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten können, insoweit dies verträglich ist mit demselben Recht aller anderen. Van Parijs geht weiter. Er möchte jegliche Diskriminierung von Präferenzen durch den Staat unterbunden sehen. Die verschärfte Form des Neutralitätsprinzips, wie sie van Parijs vertritt, ist von Joseph Raz als anti-perfektionistisch bezeichnet worden. In dieser Version richtet es sich nicht nur darauf, dass Staaten Praktiken der Privatsphäre, die niemand anderem schaden, tolerieren sollen; vielmehr sollen sie überhaupt die Förderung oder Benachteiligung von Idealen unterlassen. Bereits die Unterstützung des Breitensports oder die Subventionierung von öffentlichen Bibliotheken verstieße dann unter Umständen gegen das Postulat liberaler Neutralität. 57 Selbst wenn push-pin nicht so gut sein sollte wie poetry – um auf Benthams Dekret anzuspielen –, wäre es nicht Aufgabe der Regierung, die Bürger von Ersterem abzuhalten und zu Letzterem zu bewegen. Es ist fraglich, ob diese Zuspitzung der Neutralitätsforderung ein attraktives oder auch nur ein anwendbares politisches Ideal darstellt. Doch das ist für das Argument gegen van Parijs nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass van Parijs sich täuscht, van Parijs 1994, 91 Raz 1986, 114–115: »No political action may be undertaken if it makes a difference to the likelihood that a person will endorse one conception of the good or another, or to his chances of realizing his conception of the good, unless other actions are undertaken which cancel out such effects.«

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wenn er glaubt, er könne die bedingungslose Gewährung des Grundeinkommens mit dem Neutralitätsprinzip, ganz gleich in welcher Version, rechtfertigen. Recht besehen, lautet sein Argument, dass es eine unzulässige Diskriminierung meiner Vorliebe für Freizeit darstellte, wenn der Staat diejenigen mit der Vorliebe für ein hohes Einkommen nicht zwänge, mich zu finanzieren. Die Logik dieser Ansicht ist schwer zu enträtseln. Es liefe doch eher auf eine eigentümliche Form von Begünstigung hinaus, wenn andere dazu verpflichtet würden, für meine Vorlieben zu bezahlen. Möglicherweise lässt sich begründen, dass andere die Rechnung meiner Vorlieben begleichen – aber diese Begründung ist sicherlich nicht auf das Neutralitätsprinzip zu stützen. Ein weiterer Einwand gegen van Parijs ergibt sich nicht aus seiner Auslegung der Neutralitäts-, sondern aus der Externalitätenproblematik. Die Frage lautet, ob die durch ein bedingungsloses Grundeinkommen produzierte Externalität durch die Gesellschaft als positiv oder negativ beurteilt würde. Wenn Eigentumsrechte so ausgestaltet sind, dass ein Teil der Kosten nicht durch den Handelnden getragen werden muss, dann prognostiziert die ökonomische Theorie eine zu hohe Nachfrage nach diesen Handlungen. Ein analoger Punkt kann für die sozialrechtlichen Garantien gemacht werden. Wenn der Staat für die Übernahme von möglichen Kosten aus riskanten Handlungen einsteht, dann eröffnet dies Individuen die Chance, ihre Nachfrage nach diesen Handlungen beitragslos zu steigern. Sie wird daher zu hoch sein. Ein System von Handlungsanreizen, das zu einer Internalisierung der Kosten und Nutzen von Lebensführungsentscheidungen führt, wird (a) zu der Mobilisierung von Produktivitätspotentialen und einem Armut aufhebenden wirtschaftlichen Wachstum führen und (b) die Anzahl der Hilfsbedürftigen minimieren. Die simple Logik dieses Arguments rekurriert nicht in moralisierender Weise auf die verletzten Eigentumsrechte derjenigen, die letztlich die Kosten zu tragen haben. Natürlich spielen auch solche Klagen im liberalen Paradigma einen Part. 58 Die dynamische Perspektive weist vielmehr auf eine Effizienzproblematik hin, die strukturelle Ähnlichkeit mit Themen der umweltpolitischen Diskussion hat. An »The most typical libertarian complaint is that the State forces you to do things simply for others, for example, to pay for things to supply others’ needs.« (Narveson 1988, 232)

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dieser Stelle wird das oben angesprochene Ineinandergreifen präskriptiver und deskriptiver Überzeugungen greifbar. Das Konzept der Eigenverantwortung kann einmal als ein ethisches Ideal, ein anderes Mal als eine gesellschaftliche Produktivkraft (von Humboldt), aber auch als Element einer Analyse des Anreizsystems (in dynamischer Perspektive) ins Spiel gebracht werden. Erst in dieser Vieldimensionalität wird sein Status für das liberale Paradigma der Sozialpolitik deutlich. So sagt Robert Goodin: »In recent years, the heady rhetoric of ›personal responsibility‹ has more often associated with the meaner fringes of the political right. But historically, values of personal responsibility, self-reliance, and self-sufficiency have long enjoyed widespread support. […] What is new is the particular ways in which those values have recently been operationalized and mobilized, both in the New Right’s attacks on the welfare state and in New Age Democrats’ responses to it.« 59

Dieser Vorwurf mag für den Populismus von Dan Quayle angemessen sein, 60 aber sie kann keine seriöse Auseinandersetzung mit dem liberalen Paradigma einleiten. Den Advokaten der Eigenverantwortung wird vorgehalten, die strukturellen Ursachen gesellschaftlicher Probleme zu ignorieren; sie machten aus sozialen Schicksalen ein moralisches Versagen, eben das Versäumnis, für das eigene Leben in geeigneter Weise Verantwortung zu übernehmen. Übersehen wird dabei, dass Eigenverantwortung kein erstes, isoliertes Prinzip darstellt, sondern im Kontext struktureller Analysen gesehen werden muss. Eigenverantwortung meint in dieser Perspektive, dass die Externalisierung der Kosten individueller Lebensentscheidungen vermieden und damit eine Nachfragemenge nach solchen Entscheidungen fixiert werden soll, die den Präferenzen aller Betroffenen möglichst genau entspricht. Entscheidend ist hier die Differenz zwischen einer Ex ante- und einer Ex-post-Perspektive. Für das Sozialrecht gilt etwas Ähnliches wie für das Haftungsrecht: Letzteres hat weder die Aufgabe, Schädiger zu bestrafen, noch dient es ausschließlich der wiedergutmachenden Gerechtigkeit. Seine wichtigste Aufgabe liegt darin, potentielle Schädiger zur Sorgfalt zu bewegen und damit die Menge der Schadensfälle zu reduzieren. Goodin 1998, 101–102 »Our inner cities are filled with children having children … with people who are dependent on drugs and the narcotic of welfare« (nach Fraser 1994, 18), so lautete die wahnhafte politische Analyse Quayles nach den Mai-Unruhen in Los Angeles 1992.

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9. Präferenz-Souveränität und Neutralität II. Das Preissystem kapitalistischer Gesellschaften reduziert die Notwendigkeit sozialer Struktur auf ein Minimum. 61 Soziale Interaktionen können im Allgemeinen aufgenommen werden, wenn die Partner über gewünschte Leistungen verfügen beziehungsweise zahlungsfähig sind. Aus liberaler Sicht bringt solche Entdifferenzierung der Interaktionsvoraussetzungen durch den Markt das Ende der Diskriminierung. Hegels Rechtsphilosophie nannte daher die bürgerliche Gesellschaft den Standpunkt der Bedürfnisse, für den es nicht auf Konfession, Hautfarbe oder Geschlecht ankomme, sondern auf den allgemein menschlichen Umstand der Bedürftigkeit und der Angewiesenheit auf Kooperation. 62 Eine sozialpolitische Konsequenz dieser Auffassung von dem System der Bedürfnisse als dem allgemein menschlichen Standpunkt besteht darin, dass der Staat über die Verantwortung für die Befriedigung basaler Bedürfnisse hinaus keine sozialen Steuerungsziele verfolgt. Es wird im liberalen anders als im konservativen Paradigma nicht als Aufgabe des Staates angesehen, bestimmte Lebensformen zu bewahren oder für kulturelle Konstanz zu sorgen. Deren Ausformung und Transformation soll dem freien Spiel gesellschaftlicher Kräfte überlassen bleiben. Institutsgarantien für den Bestand der Familie oder die Subventionierung von kulturellen Einrichtungen sind mit dem – in diesem Sinne verstandenen – liberalen Paradigma inkompatibel. Ausschlaggebend sind nicht angeblich höhere Werte, sondern die Präferenzen realer Personen. Aus Sicht des Autonomie-Paradigmas wird der Ansatz offenbarter Präferenzen häufig vorschnell benutzt, um zu demonstrieren, dass die Subventionierung kultureller Einrichtungen und Ähnliches nicht legitim sei. Schließlich – so das häufige Argument – zeige allein die Subventionsbedürftigkeit, dass die Einrichtung von den KonsumenGauthier 1986, 101, 102: »One of the problems facing most human societies is the absence of any form of effective and mutually beneficial interaction among persons not linked by some particular bond. Thus the fundamental importance of kinship systems; […] The impersonality of market society, which has been the object of wide criticism, and at the root of charges of anomie and alienation in modern life, is instead the basis of the fundamental liberation it affords. Men and women are freed from the need to establish more particular bonds, whether these be affective or coercive, in order to interact beneficially.« Dem Geiste nach verwandt: Baurmann 1996. 62 »[…] hier auf dem Standpunkt der Bedürfnisse ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede.« (Hegel 1820/1972, § 190) 61

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ten nicht gewünscht werde. Mit welchem Recht werden sie dann zu ihrer Finanzierung gezwungen? Doch aus dem Nicht-Konsum folgt nicht zwingend, dass die Einrichtung nicht erwünscht ist. Personen, die keine Opernaufführungen besuchen, können durchaus bereit sein, den Konsum anderer zu bezahlen – und zwar nicht aus altruistischen Motiven, sondern weil sie die Existenz einer Kultur, von der sie selbst keinen Gebrauch machen, unterstützen wollen. Eine Person mag den Wert von Neuer Musik kennen und anerkennen, bereit sein, sie finanziell zu unterstützen, aber nicht, sie sich anzuhören. Eine Erklärung könnte mit Hilfe des Metapräferenz-Konzeptes konstruiert werden. Jemand möchte den Wunsch haben, Neue Musik hören zu wollen, aber er will nicht Neue Musik hören. Solche Metapräferenzen können eine Legitimationsgrundlage für die Subventionierung kultureller Einrichtungen sein. 63 10. Die für kapitalistische Gesellschaften spezifische Ursache sozialer Probleme besteht in der systematischen Produktion von Unsicherheit auf den Humankapitalmärkten. Darin unterscheiden sich kapitalistische Marktwirtschaften auffallend von anderen politökonomischen Formen. Traditionelle soziale Unsicherheit ergibt sich aus alters-, krankheits- oder verletzungsbedingter Unfähigkeit zu arbeiten – und natürlich aus den spezifischen Unwägbarkeiten agrarischer Gesellschaften, wie Ernteausfällen wegen Wetters, Kriegen oder Schädlingen. Moderne (kapitalistische) soziale Unsicherheit resultiert dagegen aus den Rückwirkungen der Güter- auf die Arbeitsmärkte. Sie betrifft nicht Kranke, Alte und Verletzte, sondern Arbeitsfähige, die aus konjunkturellen oder strukturellen Gründen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt mehr erlangen. Der Grundprozess, der für die Produktion von Unsicherheit auf den Arbeitsmärkten verantwortlich ist, zeichnet auch für die eminente Produktivität kapitalistischer Marktwirtschaften verantwortlich: Schumpeters Formulierung von der schöpferischen Zerstörung hat dies bildlich auf den Punkt gebracht. In kapitalistischen Marktwirtschaften werden durch Wirtschaftsaktoren permanent wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten kreiert und damit alte entwertet. Um dies mit einem Beispiel Hans-Werner Sinns zu veranschaulichen: Im Jahre 1986 machte der Siemens-Konzern mehr als die Hälfte seines Um63

Siehe auch: Priddat 2001. A

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satzes mit Produkten, die es erst weniger als fünf Jahre gab. 64 Mit der Eröffnung neuer Optionen auf den Gütermärkten, der Rücknahme von Wettbewerbsbarrieren, organisationalem Wandel etc. geht regelmäßig die Entwertung von Humankapital einher, das auf die Ausnutzung spezifischer wirtschaftlicher Chancen ausgerichtet war. Die ungelernten Arbeiter in den Vereinigten Staaten und andernorts haben dies in den letzten Jahrzehnten erfahren müssen. 65 Es wäre problematisch, den Vorgang der Neubewertung wirtschaftlicher Handlungsmöglichkeiten durch den Marktprozess als solchen der Ungerechtigkeit zu zeihen; problematisch, weil dieser Prozess – wie gesagt – zugleich für das eminente wirtschaftliche Wachstum der letzten zweihundert Jahre verantwortlich ist. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die einzig effiziente Bewältigung strukturellen Wandels darin besteht, dass die Anpassungslasten von denen in vollem Umfang getragen werden, bei denen sie anfallen. So schreiben Norbert Berthold und Rainer Hank: »Die in die internationale Arbeitsteilung eingebundenen Volkswirtschaften werden permanent von exogenen Schocks getroffen. Nur wenn die privaten wirtschaftlichen Akteure bereit sind, diese Anpassungslasten auch zu tragen und nicht versuchen, sie auf Dritte – zumeist den (Sozial-)Staat – abzuwälzen, kann es gelingen, die Arbeitslosigkeit dauerhaft gering zu halten.« 66

Die Autoren scheinen der Meinung zu sein, dass Anpassungslasten von den unmittelbar Betroffenen ohne Abstriche übernommen werden sollten, und beklagen mangelnde regionale, sektorale und berufliche Mobilität. Das Autonomie-Paradigma empfiehlt hier Differenzierungen. Zunächst einmal kann das, was von den Autoren Abwälzung genannt wird, die Form einer Konsolidierung von Einkommensrisiken aus spezifischen Humankapitalinvestitionen darstellen. Spezialisierung bedeutet in einem dynamischen wirtschaftlichen Umfeld einen höheren Mittelwert, aber auch eine höhere Varianz des Einkommens. Eine Poolung des Spezialisierungsrisikos stellt eine Pareto-Verbesserung dar – doch ist eine solche Poolung zu unterscheiden von der Benut-

Sinn 1986, 558 Einige Autoren favorisieren die Deutung, dass diese Entwicklung weniger mit der Konkurrenz aus Niedriglohnländern als mit der technologischen Entwicklung zusammenhänge; siehe hierzu die Diskussion in Burtless 1995. 66 Berthold & Hank 1999, 12 64 65

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zung des Transfer-Systems zur Aufrechterhaltung etablierter Strukturen. Ursachen des sozialpolitischen Problems sind somit neben Charakteristika von Personen, wie deren Arbeitsmentalität oder Produktivität, die permanente Änderung relevanter Daten innerhalb des wirtschaftlichen Systems, die über das Preisgefüge kommuniziert werden und in die Verhaltensfunktion von Aktoren eingehen – oder eben nicht. Rechtssysteme tragen einen Teil zur Bestimmung der Art bei, in der Preissignale von den Aktoren verarbeitet werden. Die Distribution von Anpassungskosten wirtschaftlichen Wandels ist somit auch eine politisch zu gestaltende Größe – dies ist das spezifische Gestaltungsproblem von Sozialpolitik in kapitalistischen Gesellschaften. Neben die traditionelle tritt die moderne soziale Unsicherheit. Die Konflikte um die Funktionalität oder Dysfunktionalität von Wohlfahrtsstaatlichkeit haben ihren kritischen Kern in der Frage, wie eine Gesellschaft das kapitalismusspezifische Risiko verarbeitet, von strukturellem Wandel betroffen zu sein. Problematisch sind Verarbeitungsmodi, durch die unhaltbare soziale und wirtschaftliche Muster konserviert werden sollen; nicht Abwälzung als solche, aber die Abwälzung von Erhaltungskosten ist bedenklich. Während die faire und effiziente Teilung des Risikos strukturellen Wandels einen integralen Bestandteil des kapitalistischen Gesellschaftsvertrages darstellt, gilt dies nicht von Erhaltungskosten. Ein solcher Vertrag bietet keine Anspruchsgrundlage, um von anderen zu verlangen, dass sie die Erhaltung der eigenen Lebensform finanzieren. Denn der kapitalistische Vertrag ist aufgebaut auf dem Gedanken der Mobilisierung produktiver Potenziale zum wechselseitigen Vorteil – und die faire Risikoteilung strukturellen Wandels lässt sich als Bedingung der Möglichkeit eines solchen Vertrages deuten. Es wäre natürlich auch denkbar, dass ein nicht-kapitalistischer Gesellschaftsvertrag angestrebt würde, der soziale und ökologische Stabilität, nicht wirtschaftliches Wachstum befördern wollte. Der kapitalistische Gesellschaftsvertrag ist hingegen durch das Wachstumsprojekt definiert. Die Erhaltung sozialer, rechtlicher und kultureller Strukturen wird innerhalb seiner nur angestrebt, wenn dies für die Erhaltung der Wachstumsbedingungen für notwendig gehalten wird. 67 Reine Erhaltungskosten hingegen sind ausschließlich von den Interessenten zu tragen. Der Kreis der Interessenten wird häufig breiter sein als der der Betroffenen, so dass

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11. Der strukturalistischen Theorie zufolge beruht wirtschaftliches Wachstum auf der Koevolution von technologischen Innovationen und facilitating structures, den Produktionsverhältnissen, zu denen Art und Lokalisierung von Kapitalgütern und Arbeitskräften, finanzielle und institutionelle Organisation der Produktionseinheiten, Marktstrukturen, Finanzinstitutionen, Währungssystem, Infrastruktur, Effizienz des öffentlichen Sektors, Rechtssicherheit, Angebot öffentlicher Güter etc. zu zählen sind. 68 In einigen Punkten dem historischen Materialismus nicht unähnlich, nimmt die strukturalistische Theorie an, dass technologischer Wandel die Produktionsverhältnisse destabilisiert, indem er Handlungsmöglichkeiten und Gewinnchancen freisetzt, die im bisherigen Rechtssystem, Produktionsplan, Güterangebot und in den eingeübten kulturellen Gepflogenheiten nicht vorgesehen waren. Ob und mit welcher Geschwindigkeit wirtschaftliches Wachstum stattfindet, hängt von dem Erfolg ab, mit dem die bestehende facilitating structure die externen Schocks verarbeitet und sich den neuen Akteursoptionen anpasst. Während laut einiger Interpreten die marxschen Schriften davon ausgehen, die technologische Entwicklung determiniere die Anpassungen in den Produktionsverhältnissen, lässt die strukturalistische Theorie offen, zu welchem Ergebnis die Wechselwirkung beider Dynamiken führt. Klar ist jedoch: »[…] when rapid technological developments occur in widely used technologies, the current structure becomes ill adapted to the new technology. The required rapid changes in the structure will then tend to occur in a ›conflictridden process‹ as many of the old industrial locations, institutions, behaviour patterns, and public policies, which worked well under the old technologies, become less effective or even dysfunctional under the new.« 69

Lipsey und Bekar sprechen von deep structural adjustments (DSA), wenn die technisch freigesetzten Operationsmöglichkeiten der Wirtschaft einen erheblichen Restrukturierungsbedarf der Produktionsverhältnisse mit sich bringen. Aus Sicht der Strukturtheorie besteht die Leistung des politischen Systems in der Unterstützung von solchen Anpassungsprozessen. Damit ist aber die Vorstellung hinfällig, dass die (demokratisch legitimierten) Inhaber hoheitlicher Macht die Konservierungslast über die Gesellschaft streuen kann. Im Kontext der Kulturförderung hatte ich darauf bereits hingewiesen. 68 Lipsey 1997, 75; siehe auch: Schefczyk 2000. 69 Lipsey 1997, 75

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einen rechtlichen Rahmen setzen können, innerhalb dessen sich gesellschaftliche Dynamik zu vollziehen hat. Produktionsverhältnisse, die der Produktivkraftentwicklung Fesseln auferlegen, geraten von Seiten politischer und wirtschaftlicher Unternehmer unter Änderungsdruck. Es gibt kein historisches Gesetz, das den Erfolg dieser Bemühungen determinierte oder einen Endzustand definierte. Allerdings ist die Erwartung berechtigt, dass sich auf längere Sicht die Produktionsverhältnisse den von Konsumenten (aus welchen Gründen auch immer) gewünschten Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung anpassen. 12. Die strukturalistische Theorie beschreibt die Zusammengehörigkeit von Wachstum, De- und Restabilisierung von sozialen Strukturen in kapitalistischen Gesellschaften, aber sie macht keine Aussagen über die institutionellen Dispositive, mit denen die strukturelle Unsicherheit systemkonform verarbeitet werden kann. Im vorletzten Abschnitt hatte ich angedeutet, dass moderne soziale Unsicherheit darin besteht, dass struktureller Wandel mit der Entwertung von Humankapital einhergeht und dass dies eine das Anrecht gefährdende Konsequenz darstellt. Institutionen sozialer Sicherung haben die Aufgabe, die kapitalistische Systemunsicherheit fair und effizient zu verteilen. Dies impliziert aber die Anerkenntnis durch alle gesellschaftlichen Gruppen, dass eine solche Unsicherheit besteht und dass sie durch Sicherungsinstitutionen nicht eliminiert, sondern moderiert wird. 70 Entscheidend ist für die Viabilität dieser Institutionen, dass der Moderationsprozess nicht die durch das System kommunizierten Informationen über Anpassungsbedarf verzerrt und dass entsprechende Anpassungsreaktionen tatsächlich vollzogen werden. 71 David Schmidtz hat die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob sozialrechtliche Garantien nicht notwendigerweise den Anpassungsprozess an neue wirtschaftliche Daten hemmen und daher ihre eigene Absicht hintertreiben. Die auf kürzere Sicht erreichbare Absicherung hebt in längerer Frist die Bedingungen ihrer Erfüllbarkeit auf. 72 Diese Ansicht ist sicherlich zu pauschal und beruht auf der vereinfachenden Annahme, die erforderlichen AnpasUnsicherheit anzuerkennen weigerte sich beispielsweise Oskar Lafontaine, als er 1998 die Standortdiskussion als konservative Interessenpolitik und reine Ideologie abtat. 71 Zum institutionentheoretischen Begriff der Viabilität grundlegend: Penz 1999. 72 Schmidtz 1998; Schmidtz in: Schmidtz & Goodin 1998 70

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sungsreaktionen geschähen zuverlässigerweise in einem politisch unmoderierten Marktsystem. Doch das ist zu bezweifeln. Erwerbslose, deren Möglichkeiten der Kreditaufnahme eingeschränkt sind, werden ohne Sicherungssystem nur geringe Suchkosten für eine neue Arbeitsstelle tragen können – die allgemeine Erwartung wird lauten, dass es zu einer Verschwendung von Ressourcen kommt, weil geeignetere Arbeitsverhältnisse unter den gegebenen Restriktionen nicht gefunden werden können. 73 Es ist empirisch gesichert, dass die Erwerbslosenrate positiv mit der Höhe und Dauer der Lohnersatzleistungen korreliert, und die OECD vertritt seit einigen Jahren die Auffassung, dass die Sicherungssysteme ursächlich seien für die Arbeitsmarktprobleme in vielen Mitgliedstaaten. 74 Mit anderen Worten: Wenn die Leistungen des Sicherungssystems entsprechend großzügig ausfallen, wird die Suchaktivität nicht in der gewünschten Weise verstärkt, sondern abgeschwächt und schlimmstenfalls gänzlich eingestellt. Dennis Snower hat daher vorgeschlagen, den Zugang zu Krediten für Erwerbslose zu erleichtern. 75 Dadurch werden die Kosten und Nutzen der Suche nach Arbeitsstellen in vollem Umfang internalisiert. Internalisierung heißt in diesem Fall jedoch auch Privatisierung eines gesellschaftlichen Risikos. Zu bevorzugen sind daher Reformvorschläge, die den Lohnausfall annähernd in vollem Umfang ausgleichen, dies jedoch auf einen angemessenen Suchzeitraum befristen wollen. 76 Damit wird in der institutionellen Ausgestaltung der Autonomie-ermöglichenden Funktion Rechnung getragen, die Transfers dem Anrecht zufolge haben sollen. Ein hoch bemessener Lohnersatz garantiert dem Haushalt ein stabiles Einkommen für die Suchperiode und entlastet von Problemen wie der kurzfristigen Anpassung von Konsummustern. Zugleich wird die soziale Wahrnehmung der Erwerbslosigkeit beeinflusst: Sie wird bei hohem Ausgleich eher als normale Phase innerhalb einer Erwerbsbiografie gelten – und dies scheint einer ›Dissipationsökonomie‹ angemessen. 77 Die Terminierung signalisiert, dass die gesellschaftliche Risikoteilung an Mobilitätserwartungen geknüpft ist. Inakzeptabel ist aus dieser Sicht das irische und australische System, welches das 73 74 75 76 77

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Flemming 1978 OECD 1999, 31 Snower 1993 Layard et al. 1991 Priddat 2000, 113–134

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Arbeitslosigkeitsrisiko flat rate und unbefristet absichert. Eine solche Form der Leistungsgewährung verliert den Bezug zu der Konsolidierung des Mobilitätsrisikos und nimmt virtuell die Gestalt einer Kompensation für den Ausschluss vom Arbeitsmarkt an – eine ominöse ›Duldungsprämie‹. 13. Die Situation in der Bundesrepublik trägt Züge, die sich nach Meinung der meisten wissenschaftlichen Beobachter tatsächlich durch die Formel Kompensation für Exklusion beschreiben lässt. Das Problem ist folgendes: Angenommen, die Löhne werden in allen Sektoren durch Tarifverträge festgesetzt; die Nachfrage nach Arbeitskräften (damit aber auch die Erwerbslosenrate) hängt von den ausgehandelten Löhnen ab. Das Ergebnis der Tarifverhandlungen wird determiniert durch die relative Verhandlungsmacht der Tarifparteien, die Elastizität der Arbeitsnachfrage und den Reservationslohn (der seinerseits durch die Höhe der Sozialleistungen beeinflusst wird). In kurzer Frist lässt sich eine Situation beobachten, in der die Erwerbstätigen hohe Löhne erzielen und die vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen durch hohe Sozialleistungen entschädigt werden. In längerer Frist wird aber eine fatale Dynamik wirksam. Eine wachsende Abgabenlast zur Finanzierung des Sozialsystems und die Stilllegung produktiver Ressourcen schwächt die wirtschaftliche Leistung und unterminiert damit die Bestandbedingungen sozialer Transfers. Die Strategie Kompensation für Exklusion ist nicht nur von einem normativen Standpunkt aus bedenklich, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht viabel. Entsprechend ist auch die Idee mit einem Fragezeichen zu versehen, dass es einen Zielkonflikt zwischen Inklusion in den Arbeitsmarkt und hohen Löhnen gebe, 78 weil sich eine solche Situation auf längere Frist nicht stabilisieren lässt. Daraus ergibt sich nun aber die Frage, ob mit der angelsächsischen Strategie einer politischen Schwächung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht oder einer Minderung des Niveaus sozialer Leistungen alles gesagt ist. Im letzten Abschnitt hatte ich darauf hingewiesen, dass aus dem Anrecht auf Autonomie nicht die einfache Privatisierung von Anpassungskosten folgen kann, wie sie Snower mit seinem Vorschlag eines erleichterten Zugangs zum Kreditmarkt in Phasen der Arbeitslosigkeit anstrebt; andererseits ist das Anrecht mit einer Ter-

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minierung von Leistungen vereinbar, weil diese mit Mobilitätserwartungen verknüpft sind. Das Anrecht verlangt, die Bedingungen der Inklusion in die Gesellschaft zu sichern und scheint insofern mit der angelsächsischen Strategie kompatibel. Andererseits hatte ich als zusätzliche Bedingung die im kapitalistischen Gesellschaftsvertrag vorgesehene faire und effiziente Teilung der Risiken strukturellen Wandels eingeführt. Gegen diese scheint die angelsächsische Strategie zu verstoßen, indem sie die nachteiligen Effekte strukturellen Wandels – sei dieser nun durch Globalisierung, technologische oder organisatorische Entwicklungen bedingt – auf die schlecht ausgebildeten Arbeitskräfte abwälzt. In einem interessanten Beitrag hat Göran Skogh ausgeführt, dass die Schadensteilung für weitgehend unvorhersehbare Ereignisse von der Versicherung statistisch fassbarer Risiken zu unterscheiden sei und für die Entwicklung der frühkapitalistischen Wirtschaft, aber auch den Wohlfahrtsstaat eine eminente Rolle gespielt habe. Exogene Schocks sind Ereignisse, für die keine Versicherung, wohl aber Schadensteilungen mit systemkonsolidierender Wirkung ex post möglich sind. Vorausgesetzt ist lediglich die Fiktion, dass alle Mitglieder der Schadensgemeinschaft eine identische Schadenswahrscheinlichkeit zu gewärtigen haben. 79 Der Gebrauch einer solchen Fiktion entspricht der rawlsschen Idee von Reziprozität. Denkt man die gesamte Bevölkerung eines Rechtsraums als eine Solidargemeinschaft zur Teilung von Systemrisiken, so ist es normativ inakzeptabel, wenn die Lasten exogener Schocks – betreffe dies die Ölpreisentwicklung oder die deutsche Einigung – selektiv über die Gesellschaft verteilt werden. Dieselbe Überlegung betrifft grundsätzlich die Distribution von Flexibilisierungsnutzen auf den Arbeitsmärkten. Die skandinavische Lösung einer Absorption von Arbeitskräften im öffentlichen Sektor, der gute Entlohnung und ein hohes Sicherungsniveau bietet, ist mit dem offensichtlichen Problem einer wachsenden Steuerlast und einer schleichenden Verstaatlichung der Gesellschaft verbunden. Zugleich sind in den skandinavischen Ländern jedoch Reformprozesse in Gang gesetzt worden, die »Mutual sharing may be superior to insurance at uncertainty because insurance premiums are fixed ex ante, while risk-sharing partners share losses ex post. Mutual risk sharing does not require subjective probabilities on the distribution of losses – it is enough that the parties accept that uncertainty prevails, and the presumption that they are faced with the same risk.« (Skogh 1999, 514)

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dem Grundsinn des Autonomie-Paradigmas entsprechen und der Eindimensionalität der angelsächsischen Strategie entgegenwirken. Der Akzent wird hier auf einen frühen Zeitraum im Lebenszyklus gesetzt, auf Phasen der Investition in Humankapital. »Perhaps the most remarkable trend in Scandinavian social policy is the shift in priorities in favour of the young and adults – groups that in the traditional full employment setting were assumed to require only marginal welfare state intervention. […] Scandinavia, indeed, is the only group of European countries in which social expenditure trends favour the young over the old. Here, then, is one manifestation of an emerging ›social investment‹ approach.« 80

Alle Paradigmen der Sozialpolitik stimmen darin überein, dass das Produktivitätswachstum einer Volkswirtschaft durch Humankapitalinvestitionen positiv beeinflusst wird; ferner, dass eine Tendenz zur Unterinvestition in Humankapital besteht, die ihre Gründe im begrenzten Altruismus der Eltern, in myopischen Präferenzen, Risikoaversion, Informationsasymmetrien und Unvollkommenheiten des Kapitalmarktes hat; dass folglich staatliche Interventionen mit dem Ziel verbesserter Humankapitalinvestitionen die ökonomische Effizienz und das Wachstum zu fördern tendieren. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Humankapitalinvestition ist unmittelbar relevant für das Autonomie-Paradigma der Sozialpolitik. Es ergibt sich ein Entsprechungsverhältnis zwischen ›investiven Sozialtransfers‹ und dem Gedanken eines individuellen Rechts auf Herstellung der Bedingungen von Handlungs- und Urteilsfähigkeit. 14. Exkurs: Zu den frühesten Bestandsstücken der Sozialgesetzgebung gehörte neben der Anrechtssicherung von Kindern die Anrechtssicherung von betrieblich Verunfallten. Ob es zu einer Versicherung von Unfallrisiken seitens der Unternehmer oder der Angestellten kommt, hängt wesentlich von der respektiven Verhandlungsmacht ab. Angenommen, in einer Modellwirtschaft seien den Angestellten die Attribute Unfallwahrscheinlichkeit p, Unfallschwere v und Lohnhöhe w wichtig. Der Einfachheit halber sei angenommen, dass sich der Unfallschaden monetär darstellen lässt und die Individuen über identische Fähigkeiten verfügen. Der Nutzen eines Anstellungsverhältnisses A sei u (Ai) = f (pi, vi, wi) = wi – pi, vi 80

Esping-Andersen 1996, 14 A

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Angenommen, die Modellwirtschaft habe drei Sektoren 1, 2, 3. Es gelte: p1, v1> p2, v2> p3, v3 In einer vollbeschäftigten Wirtschaft ohne Sozialsystem wird der Lohn sich pi, vi so anpassen, dass gilt: u (A1) = u (A2) = u (A3), wenn die Angestellten risikoneutral sind – folglich sind die Löhne für A1 höher als für A2 und diese sind höher als für A3. 81 Sind sie nicht risikoneutral, so werden sie zusätzlich eine Risikoprämie verlangen. Über eine Unfallversicherung kann die Risikoprämie jedes Einzelnen reduziert werden – für eine sehr große Anzahl von Angestellten geht sie gegen null. In einer Modellwirtschaft mit unvollkommenem Arbeitsmarkt stellt sich die Situation anders dar. Die Handlungsspielräume der Lohnempfänger werden systematisch vermindert, da sich mit einer ›industriellen Reservearmee‹ die Verhandlungsmacht der privaten Eigentümer von Produktionsmitteln vergrößert. Herrscht ein Überangebot an Arbeitskräften, so kann man sich in der Modellwirtschaft die Vergabe von Stellen als eine Lotterie vorstellen, da die Fähigkeiten der Individuen als identisch angenommen wurden. Die Angestellten im Hochrisikosektor haben dann das volle Risiko der Tätigkeit selbst zu tragen. Entscheidet sich die Regierung der Modellgesellschaft, für die Erwerbslosen eine Form von Sozialhilfe s einzuführen, so hat dies auch Rückwirkungen auf die Erwerbstätigen im Risikosektor. Sie haben nun bessere Chancen, Anforderungen an die Gestaltung von Arbeitsbedingungen durchzusetzen, weil sie über die Option eines Austritts aus dem Arbeitsmarkt verfügen. Mit den Worten Reinhard Zintls: »›Exit‹ als ethisch interessante Kategorie bedeutet hiernach nicht einfach die Wahl zwischen unterschiedlich (in)akzeptablen Kooperationsangeboten, sondern vielmehr, dass der Adressat von Angeboten und Zumutungen eine be-

Sinn 1986, 559: »Schließlich ist zu vermuten, dass selbst im Arbeitslohn eine erhebliche Risikoprämie steckt. Schon von Thünen hat […] dargelegt, dass sich bei Konkurrenz und risikoscheuem Verhalten der Arbeitsanbieter ein Marktgleichgewicht herausbilden muss, bei dem die Entlohnung riskanter Beschäftigungen im Mittel über der Entlohnung ungefährlicher Beschäftigungen liegt, die ansonsten die gleichen Voraussetzungen verlangen.« Ich hoffe plausibel gemacht zu haben, dass auch bei risikoneutralen Akteuren die Löhne im riskanten Sektor höher sein müssen.

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stimmten Standards genügende Option hat, überhaupt zu kooperieren oder dies zu unterlassen.« 82

Das Kooperationsangebot der Modellwirtschaft mit Erwerbslosigkeit ist inakzeptabel, weil es sich recht besehen gar nicht um ein Kooperationsangebot handelt. Das gesellschaftliche Risiko wird schlicht auf die Verlierer der Stellenlotterie abgewälzt, die im Schadensfall ihre Handlungsfähigkeit einbüßen. Die Etablierung eines Sicherungssystems kann nun in Richtung auf eine faire Risikoteilung wirken, indem den Angestellten eine Ausstiegsoption eröffnet wird. Der Lohn im Risikosektor muss jetzt für risikoneutrale Angestellte mindestens w1 = p1 v1 + s betragen. Aus Sicht des Anrechts reicht dies jedoch nicht aus. Die Übernahme von besonderen gesundheitlichen Risiken muss in einer Weise versichert sein, dass auch im Schadensfall das Führen eines normalen Lebens möglich bleibt. Das Anrecht fordert daher die Etablierung einer gesetzlichen Unfallversicherung. 15. So offensichtlich vernünftig die Forderung nach einem Sozialinvestitionsstaats scheint, 83 bleiben Zweifel bestehen, ob damit das Problem des Verteilungstrends zu Lasten ungelernter Arbeitskräfte erledigt ist. In diesem Kontext wäre das van Parijs’sche Konzept eines unbedingten Grundeinkommens nochmals zu durchdenken – nicht als eine Option des Ausstiegs aus dem Leistungszusammenhang, sondern als Aufstockung des erzielbaren Einkommens. »Basic income puts a floor under all earnings, thus making jobs paying less than a living wage viable. As the point is sometimes put, a basic income enables people to price themselves into a job.« 84

Das Grundeinkommen für die volljährigen Mitglieder der Bevölkerung wäre unterhalb dessen anzusetzen, was irgend angemessener Konsumstandard heißen könnte – aber so hoch, dass es eine merkliche Aufstockung des Einkommens insbesondere Ungelernter darstellte. Anders als bei der Rechtfertigungsidee von van Parijs’ steht Zintl 2000, 111 Giddens 1998/1999, 137: »[Das] leitende Prinzip [der Reform des Sozialstaats] sollte lauten: Investitionen in menschliches Kapital statt direkter Zahlungen. An die Stelle des Sozialstaats sollten wir den Sozialinvestitionsstaat setzen, der einen integralen Bestandteil einer Gesellschaft mit positiver Wohlfahrt bildet.« 84 Barry 1996, 243 82 83

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hier kein Konzept von real freedom im Hintergrund, sondern die Idee, dass die Systemrisiken strukturellen Wandels fairerweise nicht am unteren Ende der Einkommensskala akkumuliert werden dürfen. Die Erträge einer in vielen Dimensionen deregulierten Wirtschaft müssen ihren Weg zurück in alle Teile der Gesellschaft finden. Die Prima-facie-Sympathie des Autonomie-Paradigmas gilt indes nicht dem Grundeinkommen, sondern der redistribution of assets, da das Disponieren-Können über Eigentum eine wichtige Dimension persönlicher Selbstbestimmung darstellt. Während – sloganartig geredet – die Freiheit im keynesianischen Wohlfahrtsstaat die Konsumfreiheit der abhängig Arbeitenden ist, ist die Freiheit des Autonomie-Paradigmas die Dispositionsfreiheit wirtschaftlichen Entscheidens. In konsequenter Ausformung ist dieser Gedanke in dem Konzept der stakeholder society aufgenommen, das vorschlägt, jedem erwachsenen Mitglied der US-Bürgerschaft mit Schulabschluss einen Betrag von 80.000 Dollar zu überweisen, der aus einer zweiprozentigen Vermögenssteuer zu bestreiten wäre. 85 Bruce Ackerman und Ann Alstott intendieren eine Umverteilung von Chancen und Anreizen, nicht von Einkommen. Ihr Vorschlag zielt auf die Ermöglichung unternehmerischer Entscheidungen für alle, seien dies Bildungsinvestitionen, Umsetzungen von Geschäftsideen oder Ersparnisse, um erwerbs- oder auftragslose Phasen zu überbrücken. Im Rahmen weiterer Arbeiten wären liberale und sozialistische Konzepte einer property-owning democracy zu erörtern. 86 An Ort und Stelle möchte ich nur auf informationsökonomische Argumente jüngeren Datums hinweisen, die behaupten, dass mit einer weiter gestreuten Verteilung von Rechten auf Residualeinkommen Effizienzgewinne verbunden sein könnten. Ackerman & Alstott 1999, 102. »We estimate that the present value of current social insurance ranges from $ 21.000 to $ 77.000 for a twenty-one-year-old man and from $ 32.000 to $ 112.000 for a twenty-one-year-old woman. These estimates include Social Security, Medicare, and a number of welfare programs. The lower end of the range reflects a discount rate of 6 percent, while the high end reflects a discount rate of 2 percent.« (Ackerman & Alstott 1999, 254) 86 Krouse & McPherson 1988, 83: »Meade describes an economic system with, inter alia, strongly egalitarian inheritance laws limiting the intergenerational transmission of wealth; financial arrangements that would significantly boost the returns and opportunities available to small savers; and a strong governmental commitment to promoting equal opportunity in education. In Meade’s judgement, such institutions would ensure that most people would start life with substantial property income, and that opportunities to invest in physical and human capital would be substantially equalized.« 85

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16. Die neoklassische Theorie konstruiert die Pareto-Front auf der Grundlage der gesamtgesellschaftlichen Ressourcen und der technologischen Möglichkeiten. Andere Restriktionen werden nicht in Betracht gezogen. Ferner wird angenommen, dass es – vom Status quo aus gesehen – Verbesserungspfade zu allen nordwestlich gelegenen Punkten (sowie zum nördlichen und westlichen Punkt) auf der Pareto-Front gibt. 87 Offensichtlich ist die neoklassische eine äußerst großzügige Art, wirtschaftliche und politische Möglichkeiten zu konstruieren. Verfügte die Regierung über vollständige Information, insbesondere bezüglich der Produktivität aller Gesellschaftsmitglieder, so würde sie alle gemäß ihrer Produktivität und ihrem Vermögen besteuern und entsprechend einer sozialen Präferenzfunktion Transfers leisten. In Wirklichkeit sind die Inhaber der Regierungsgewalt jedoch unvollkommen informiert, und die Subjekte verbergen Informationen, die zu ihrer Schlechterstellung führen könnten. Daraus ist gefolgert worden, dass jede Abweichung von der Laisser-faire-Situation zu Effizienzeinbußen führt. Lässt man jedoch den Gedanken von lump sum taxes fallen, so wird die gesamte neoklassische Konstruktion hinfällig – und zwar nicht, weil nicht alle optimalen Punkte erreicht werden können, sondern weil es keine sinnvolle Interpretation der Front mehr gibt. 88 Die für eine Gesellschaft möglichen Zustände hängen von der Handlungsmotivation der Akteure ab, die durch die Regierung nicht direkt gesteuert werden kann; und die Motivation der Akteure ist wiederum eine Funktion der gegebenen Eigentumsstruktur. Von Autoren wie Samuel Bowles, John Roemer und anderen ist daher die These vertreten worden, dass Effizienz und Umverteilung von Vermögen miteinander harmonierende Politikziele sein können. Mit einem Körnchen Salz könnte man von einer Wiederbelebung sozialistischer Motive unter informationsökonomischen Vorzeichen sprechen. Zunächst möchte ich auf Überlegungen von Samuel Bowles und Herbert Gintis eingehen. Sie gelten einem productivity enhancing egalitarianism, der anders als der keynesianische Wohlfahrtsstaat nicht »In particular, it is assumed that any recombination of property rights on any resource or productive unit can be attained at no cost, and that society has the means to elicit costlessly any amount of effort, any quantity of work, from anybody ›according to his capabilities‹.« (Puttermann et al. 1998, 863) 88 Putterman et al 1998. 87

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auf die Verstetigung der aggregierten Nachfrage, mithin auf die Konsumfreiheit, abhebt, sondern auf die Produktivitätseffekte eines höheren Gleichheitsgrads der Eigentumsverteilung. 89 Sie sind für eine Verteidigung des Anrechts auf Autonomie deshalb von besonderem Interesse, weil sie die Ermächtigung von Produzenten und nicht die wohlfahrtsstaatliche Versorgung von Klienten befürworten. Die Grundidee der Autoren bezieht sich auf die Anreize in einer Firma, die einfache Arbeitsverträge mit ihren Mitarbeitern schließt. Die Mitarbeiter bekommen einen festen Lohn und versprechen dafür, bestimmte Leistungen zu liefern. Liefern sie ihre Leistung nicht, so kann der Arbeitsvertrag beendet werden, was – wegen der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle, eines möglichen Umzugs etc. – mit einem Verlust für den Angestellten verbunden ist. Um sicher zu gehen, dass die versprochenen Leistungen in der gewünschten Weise erbracht werden, finden Kontrollen statt, die aus Sicht der Gesellschaft eine Verschwendung von Ressourcen darstellen. Denn die Überwachungsaktivitäten könnten eingespart werden, wenn die Mitarbeiter selbst am Unternehmensgewinn und -wert beteiligt würden. Die Eigentumsverhältnisse in der kapitalistischen Firma sind somit laut Gintis und Bowles mit Effizienzverlusten verbunden. Der nahe liegenden Frage, warum die Angestellten die Firma nicht von den Eigentümern kaufen, entgegnen sie mit dem Hinweis auf die Unvollkommenheiten des Kreditmarktes. Indem kapitalistische Firmen in Kooperativen umgewandelt würden, so Bowles und Gintis, könnten die Mitarbeiter sowohl motiviert als auch Kontrollkosten eingespart werden. Die entscheidende Frage ist nun, wie beträchtlich dieser Einspareffekt ist und ob es in einer Kooperative auch entgegenwirkende Anreizeffekte gibt, so dass die versprochene Effizienz-Steigerung aufgehoben wird. (a) Was die entgegenwirkenden Effekte betrifft, so ist zunächst die aus der jugoslawischen Konzeption bekannte Tendenz zur kapitalintensiven Produktionsweise und zur Monopolisierung von Arbeitsplätzen zu nennen. 90 In einem kapitalistischen Betrieb wird ein neuer Mitarbeiter eingestellt, wenn seine Anstellungskosten (Bruttolohn, Einarbeitung, Suche) niedriger sind als sein Beitrag zum Gesamterlös. In einem vergesellschafteten Unternehmen muss eine

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neue Arbeitskraft darüber hinaus noch ihren Anteil am Betriebsfond erwirtschaften. »In den genannten Interessenlagen dürfte ein wesentlicher Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in Jugoslawien zu suchen sein, die, je nachdem, ob die im Ausland beschäftigten Arbeitskräfte und die in der Landwirtschaft versteckten Arbeitslosen hinzugerechnet werden, zwischen 15 und 22 % geschätzt wird.« 91

Also: Selbst wenn es zuträfe, dass die Effizienz auf der Ebene der Unternehmen durch den Vorschlag von Bowles und Gintis gesteigert würde, wäre damit keineswegs sichergestellt, dass dies die Makroeffizienz verbesserte: Genau das Gegenteil könnte der Fall sein. (b) Doch auch ob es zur Steigerung der Mikro-Effizienz käme, ist zumindest umstritten. Von den vermutlich hohen Kosten der Entscheidungsfindung, hohen Beeinflussungskosten etc. möchte ich absehen und mich auf das Argument der gesunkenen, sozial ineffizienten Überwachungskosten konzentrieren. Für den Kooperativen-Mitarbeiter gelten grundsätzlich dieselben Defektionsanreize wie für den Mitarbeiter in einem kapitalistischen Betrieb. Stehe g für den Defektionsgewinn, r für den Gewinnanteil des Mitarbeiters, ro für den in einer anderen Firma erzielbaren Gewinnanteil, reduziert um den mit dem Unternehmenswechsel verbundenen Aufwand; p bezeichne die Überwachungsintensität, also die Wahrscheinlichkeit, dass die Defektion des Mitarbeiters entdeckt wird. Ist g>p(r – ro), so wird der Angestellte sich nicht an das Vereinbarte halten. 92 Nimmt man mit Gintis und Bowles an, die relativen Einkommen Leipold 1975/1988, 181 Bowles & Gintis 1998, 8. In einem 1985 erschienen Beitrag argumentierte Bowles unter Anwendung der Effizienzlohn-Theorie, dass die Kontrolle durch die Kapitalisten auf sozial ineffiziente Weise dazu dient, die Löhne niedrig zu halten. Ein Effizienzlohn wird erzielt, wenn eine Tätigkeit höher bezahlt wird als mit dem Markträumungs-Lohn, um den Angestellten vom cheating abzuhalten. Die Angestellten erzielen also eine Rente, deren Höhe von drei Faktoren abhängt: (1) dem Nutzen des Arbeitsverhältnisses für den Angestellten w– wo (abhängig von Suchkosten, Wartekosten, Umzugskosten für ein alternatives Arbeitsverhältnis etc); (2) dem Nutzen von Abweichungen vom Vereinbarten g (Minderleistung, Nutzung geschäftlicher Kontakte für private Zwecke etc.); (3) der Wahrscheinlichkeit, bei dieser Abweichung entdeckt zu werden p. Ist g>p(w– wo), so wird der Angestellte sich nicht an das Vereinbarte halten. Will die Firma dies verhindern, so hat sie die Wahl, p groß zu machen oder w, also entweder viel 91 92

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(r – ro) stiegen in der gesamten Wirtschaft, so bleibt das Verhältnis von notwendigem Überwachungsaufwand und Defektionsgewinn unverändert. Folglich fragt sich, wie es zu der versprochenen Einsparung von Überwachungskosten kommen kann. Ein Argument könnte lauten, dass alle Angestellten als Miteigentümer der Firma ein Motiv hätten, ihre Kollegen zu überwachen, dass folglich soziale Kontrolle kostengünstiger zu produzieren wäre. Hier wäre erstens genauer zu untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen es zur Kollusion von Mitarbeitern kommt. Zweitens wäre zu betrachten, ob die Integration von Kontrollaufgaben in die Arbeitstätigkeit nicht mit Effizienzverlusten verbunden sein müsste, weil Spezialisierungsvorteile preisgegeben würden. Die These, dass Überwachung bei Kollektiveigentum überflüssig würde, ist sicherlich falsch, dass sie wohlfeiler würde, zumindest bestreitbar. 93 Zu ihren Gunsten führt Erik Olin Wright an, dass die Motivation der Angestellten von der Eigentumsstruktur in einer Weise beeinflusst wird, die das Verhältnis g>p(r – ro) ungültig mache. Als Miteigentümer verhielten sie sich nicht gemäß den Maßgaben strategischer Rationalität, sondern folgten sozialen Normen der Kooperation. 94 Diese Einschätzung erfährt Stützung durch Forschung der experimentellen Ökonomie, nicht unbedingt durch die Erfahrungen mit den Anreizstrukturen im ehemaligen Jugoslawien. 95 Es ist also eine offene Frage, ob eine breitere in Kontrolle zu investieren oder den Lohn heraufzusetzen. Bowles Argument war nun, dass es effizienter wäre, die Löhne zu erhöhen als p, da p eine sozial unproduktive Tätigkeit sei, während eine Erhöhung von w einfach ein Transfer von den Empfängern der Residualeinkommen zu den Angestellten darstelle. Paul Milgrom & John Roberts haben gemeint, dass dieses Argument auf einem Denkfehler beruhe. Denn der Effizienz-Lohn wird relativ zu wo gezahlt. »A uniform increase in wages for workers in the economy would transfer income from the owners of capital to the workers, but it would also leave relative wages unchanged and so would not reduce the need for monitoring. Indeed, if socialism were to bring with it a greater concern for income equality among workers, levelling the wages across industries, then it would require more monitoring in the old high-wage industries than the capitalist system it replaces.« (Milgrom & Roberts 1992, 256–257) 93 Skeptisch äußert sich Roemer 1998, 227. 94 Wright 1998, 91: »[…] monitoring costs in the workplace – and, more broadly, the conditions for sustaining high productivity – depend in part on the normative structure of work and the material conditions which sustain or undermine a given normative order.« 95 Puttermann et al. 1998, 886 führen dies unter anderem darauf zurück, dass die Firmen im ehemaligen Jugoslawien letztlich staatliches Eigentum waren. »Capital was ›social property‹ from which workers benefited during their employment, but not after-

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Streuung der Verfügungsrechte über Residualeinkommen effizienzsteigernd wirkt. 17. Das emanzipatorisch-sozialdemokratische Paradigma favorisiert die Strategie der Umverteilung von Einkommen, nicht von Eigentumstiteln. 96 Nur eine dauerhafte verteilungspolitische Intervention könne ein bestimmtes Muster der Einkommens- und Vermögensverteilung wahren. Denn die Verfügungsfreiheit der autonomen Wirtschaftsaktoren führt zu einer Störung der politisch gewünschten Verteilungsmuster: Liberty upsets patterns. Neben das Bedenken gegen die moralische Willkürlichkeit der Ungleichheit 97 tritt nun das Argument, dass die positiven Anreizwirkungen eines gesellschaftlich weit gestreuten Eigentums allein durch eine permanente Umverteilung von Vermögen und Einkommen gesichert zu werden vermögen: Patterns preserve growth. Hierbei können sich Egalitaristen auf makroökonomische Untersuchungen berufen, die mit seltener Einmütigkeit eine Positivkorrelation zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Gleichmäßigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung beobachten. Das emanzipatorisch-sozialdemokratische Paradigma hat diese Korrelation auf drei Weisen zu erklären und institutionell zu befördern versucht. Erstens wurde vermutet, dass eine Steigerung der Lohnquote zu einer Steigerung der aggregierten Nachfrage führe – und diese wiederum bestimme die wachstumsrelevante Investitionstätigkeit. Die Richtigkeit dieser Vermutung ist auf empirischer Grundlage bestritten worden. 98 Ich gehe daher davon aus, dass sie keine zuverlässige Grundlage für die Konstruktion des Wirkungszusammenhangs zwischen Gleichheit und Wachstum bietet. wards. Thus, workers’ incentives to invest in their firms were dampened for capital goods providing returns beyond their employment horizon.« 96 Moene & Wallerstein 1998, 229: »The social democratic approach is based primarily on the redistribution of income, leaving the distribution of assets largely untouched. The asset-based approach is to redistribute assets, letting the distribution of income be whatever results.« 97 Varian 1979, 137: »One might well argue that the role of the state is to avoid such distortions. […] If a process can be radically affected by turns of fortune that are arbitrary from a moral point of view, it seems unreasonable to attach great moral significance to the outcome of such a process.« 98 Bowles & Gintis 1998 weisen auf ökonometrische Arbeiten hin, die dieser These widersprechen: »[…] there is some doubt concerning the relevance, even in the heyday of social democracy, of a Keynesian wage-led growth regime.« (14–15) A

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Zweitens, so argumentierten die schwedischen Ökonomen Rudolf Meidner und Gøsta Rehn in den Fünfzigerjahren, werde ein egalitäres, branchenübergreifendes System von Tarifverhandlungen zu Produktivitätssteigerungen führen. Die Idee war, dass die Gewinne in unproduktiven Sektoren durch einen einheitlichen (an der Durchschnittsproduktivität orientierten) Lohn verringert würden. Werde die Vollbeschäftigung durch aktive Arbeitsmarktpolitik und selektive Subventionen aufrechterhalten, so könne eine Restrukturierung der Wirtschaft zugunsten der produktiven Sektoren erreicht werden. Die Entwicklung bis in die Achtziger stand im Einklang mit den Voraussagen des Rehn/Meidner-Modells: Ressourcen wanderten von den Sektoren mit geringer in die Sektoren mit hoher Produktivität. 99 Dies gilt jedoch nur für die Privatwirtschaft. Die bedeutendste Abwanderung fand in den öffentlichen Sektor statt, dessen Produktivitätswachstum in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Schwedens mit null angesetzt wird – folglich war das aggregierte Wachstum der Arbeitsproduktivität in Schweden zwischen 1970 und 1995 deutlich geringer als im OECD-Durchschnitt. 100 Auch das Rehn/Meidner-Modell taugt daher nicht – so möchte ich annehmen – zur Erklärung des beobachteten Zusammenhangs von Wachstum und Gleichheit. Drittens sagt man von Gesellschaften mit gleichmäßigerer Einkommensverteilung, dass die Konfliktkosten generell geringer seien als in Gesellschaften mit großen Einkommens- und Vermögensdisparitäten. Der Arbeitsfrieden, die generelle Bereitschaft, gesetzliche Regelungen zu befolgen und ihnen Vertrauen zu schenken, das Arbeitsengagement, all dies sei ausgeprägter in egalitären Gesellschaften. Hier wäre empirisches Material zu konsultieren – unabhängig von den Daten lässt sich jedoch vermuten, dass Einkommensumverteilung den Bürger- und Arbeitsfrieden steigert, insoweit der Verlust im Konfliktfall höher ausfällt und Formen von VerzweiflungskrimiLindbeck 1997, 1292 Korpi 1996, 1734 meint hier einen methodische Fehler zu finden, weil die Einbeziehung des öffentlichen Sektors in die Bestimmung des Produktivitätswachstums zu systematischen Verzerrungen führe. Warum eine Außerachtlassung des öffentlichen Sektors ein angemesseneres Bild abgebe, bleibt indes unklar. Moene & Wallerstein 1998, 232: »Thus, the empirical evidence suggests that wage compression in Sweden was carried beyond the level that maximized productivity growth in the 1970s. Rising opposition from both employers and skilled workers forced an end to the policy in Sweden in the 1980s.« 99

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nalität unwahrscheinlicher werden. Ferner wird eine gleichmäßige Verteilung Mittelstandswerte fördern, wie Arbeitsethik, stabile Familienverhältnisse etc. Auf der anderen Seite der Bilanz erscheinen sicherlich Effizienzverluste durch sozial unproduktive Rent-SeekingAktivitäten. Die gegenstrebigen Wirkungen der Umverteilung – so lässt sich vermuten – können zu unterschiedlichen Nettoeffekten führen: Unter günstigen Umständen überwiegt die positive pazifizierende Wirkung der Umverteilung die negativen Effekte der Rentensuche und vice versa. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass die Konfliktkostenkurve einen u-förmigen Verlauf in Abhängigkeit von der Umverteilungsintensität nimmt. Der Punkt a der nachfolgenden Darstellung bezeichnet den Konflikt-minimierenden Punkt.

Abbildung 8: Konfliktkosten und Umverteilung

18. Wenn nur die permanente Korrektur durch Lohn- und Transferpolitik egalitäre Verteilungsmuster aufrecht zu erhalten vermag und wenn nur solche Verteilungsmuster sozialen Frieden gewähren, so wäre bei einer redistribution of assets auf lange Frist ein Aufbrechen sozialer Konflikte zu befürchten. Dies spräche gegen die durch das Autonomie-Paradigma favorisierte Strategie einer ›Demokratisierung des Unternehmerstatus‹ – sei es in Form eines Verfügens über Einkommen aus Eigentumstiteln, sei es in Gestalt einer Nutzung des eigenen Humankapitals, die immer weniger Ähnlichkeit mit einem Angestelltenverhältnis und immer mehr mit selbständiger Tätigkeit hat. 101 101 Solche Demokratisierung setzt freilich die Auflösung der ›deutschen Ideologie‹ voraus: »als deutsche Ontologie der Klassendifferenz: hier Arbeiter, dort Unternehmer« (Priddat 2000, 132)

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Allerdings glaube ich, dass die Voraussetzungen dieses Arguments brüchig sind. Zum einen scheint es nicht ausgemacht, dass eine stakeholder society, wie sie Ackerman und Alstott umrissen haben, notwendigerweise mit mehr Ungleichheit verbunden sein wird als ein wohlfahrtsstaatliches Umverteilungssystem. Die Dispositionsfreiheit über Eigentum ist mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Fehleinschätzungen oder Pech können dazu führen, dass das Transfereigentum verspielt wird. Für Personen, deren Fähigkeiten nur einen geringen Marktwert haben, mögen daraus bedrängende Situationen erwachsen. Die Vertreter des Stabilitätsarguments supponieren, dass solche Fälle sozialer Härte mit großer Häufigkeit auftreten und die politische Kultur insgesamt gefährden. Der Punkt wäre demnach, dass die Unfähigkeit, die Konsequenzen des eigenen Handelns angemessen abzuschätzen, ein systematisches und politisch destabilisierendes Problem darstellt. Hier sind mehrere Themen angesprochen. Zum einen fragt sich, ob diejenigen, die sich unzureichend gegen Unwägbarkeiten absichern, eine quantitativ bedeutsame Größe darstellen – und welche Konsequenzen für das politische System die bloße Möglichkeit hat, dass Personen, die keine Vorsorge betrieben haben, bedürftig werden können. Es führte zu einer Aushöhlung des Gedankens von der stakeholder society, wenn in diesem Fall mehr als ein residuales Auffangsystem zur Verfügung stünde. Alles andere brächte das Problem einer Verantwortungsdiffusion zwischen privaten und staatlichen Akteuren mit sich. Zum anderen wäre zu klären, welche Wirkungen versäumte Vorsorge eines quantitativ nennenswerten Teils der Bevölkerung für die Stabilität des politischen Systems hätte. Hier vermute ich, dass soziale Konflikte vor allem durch die Wahrnehmung genährt werden, von wesentlichen Positionen der Gesellschaft grundsätzlich ausgeschlossen zu sein. Selbst wenn der Grad der Ungleichheit in der stakeholder society gegenüber einem wohlfahrtsstaatlichen System höher ausfiele, wäre zu bezweifeln, dass dies notgedrungen zu einem gesteigerten gesellschaftlichen Konfliktpotential führte. Das Konzept strebt ja gerade die Inklusion in die Gesellschaft und eine gleichmäßigere Verteilung von Partizipationschancen an. Wenn im Ergebnis die Verteilung der Einkommen und Vermögen ungleichmäßiger ausfiele, so würde dies als Konsequenz ausgeübter Freiheit wahrgenommen werden können. Dieser Einschätzung entspricht, dass die politische Kultur der Vereinigten Staaten eine im Prinzip hohe Ungleichheitstoleranz mit der Forderung kombiniert, dass hochrangige gesellschaftliche Positionen 300

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grundsätzlich allen offen stehen müssen. Insgesamt vermute ich, dass die Stabilität der politischen Kultur durch eine Demokratisierung des Eigentümer-Status gefördert würde. Die Bürgerschaft gewinnt, was nicht nur von Kant als Voraussetzung eines souveränen politischen Urteils und eines selbstbestimmten Lebens betrachtet wurde: einen Grad an wirtschaftlicher Unabhängigkeit.

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Abbildungen

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8:

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Einkommenskurve Chain Connection und Close-Knittedness Faktoren sozialpolitischer Überzeugungsmuster Liberales Paradigma der Sozialpolitik Emanzipatorisches Paradigma der Sozialpolitik Konservatives Paradigma der Sozialpolitik Entscheidungsdomänen und soziale Zustände Konfliktkosten und Umverteilung

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Literatur gründung des Wohlfahrtsstaates, in: Christoph Sachsse & H. Tristram Engelhardt (eds): Sicherheit und Freiheit, Frankfurt: Suhrkamp, 106–132 Priddat, Birger P. (1995): Sozialpolitik ohne Sozialpolitik? Kommentar zu K. Homann und I. Pies, in: Ingo Pies & Martin Leschke (eds): James Buchanans konstitutionelle Ökonomie, Tübingen: Mohr Siebeck, 240–247 Priddat, Birger P. (2000): Arbeit an der Arbeit: Verschiedene Zukünfte der Arbeit, Marburg: Metropolis Priddat, Birger P. (2000a): Die Wirtschaftstheorie und ihre Schwierigkeiten mit dem Wohlfahrtsstaat: konstitutionenökonomische Alternativen am Beispiel der Sozialpolitik, in: Manfred Prisching (ed): Ethik im Sozialstaat, Wien: Passagen (Reihe Sozialethik der Österreichischen Forschungsgemeinschaft), 195–218 Priddat, Birger P. (2001): Moral: Restriktion, Metapräferenz: Adjustierung einer Ökonomie der Moral, in: Josef Wieland (ed): Die moralische Verantwortung kollektiver Akteure, Heidelberg: Physica, 41–78 Putnam, Hilary (1993): Objectivity and the Science-Ethics Distinction, in: Martha Nussbaum & Amartya Sen (eds): The Quality of Life, Oxford: Clarendon Press, 143–157 Putterman, Louis, John Roemer & Joaquim Silvestre (1998): Does Egalitarianism Have a Future?, JEL, 861–902 Rawls, John (1971): A Theory of Justice, Cambridge/Mass.: Harvard University Press Rawls, John (1971/1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp Rawls, John (1980/1994): Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1979–1989, Frankfurt: Suhrkamp, 80–158 Rawls, John (1982): Social Unity and Primary Goods, in: Amartya Sen & Bernard Williams: Utilitarianism and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press, 159–185 Rawls, John (1988/1994): Der Vorrang des Rechten und die Idee des Guten, in: John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt: Suhrkamp, 364–397 Rawls, John (1999): The Law of Peoples, Cambridge/Mass.: Harvard University Press Rawls, John (2001/2003): Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt: Suhrkamp Raz, Joseph (1986): The Morality of Freedom, Oxford: Clarendon Press Rehg, William & James Bohman (1996): Discourse and Democracy: The Formal and Informal Bases of Legitimacy in Habermas’ Faktizität und Geltung, JPP, 79–99 Rescher, Nicholas (1979): Economics vs. Moral Philosophy, TD, 169–179 Riese, Hajo (1975): Wohlfahrt und Wirtschaftspolitik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Risa, Alf Erling (1995): The Welfare State as Provider of Accident Insurance in the Workplace: Efficiency and Distribution in Equilibrium, EJ, 129–144 Robbins, Lionel (1932/1984): Essay on the Nature and Significance of Economic Science, London: MacMillan Robbins, Lionel (1938): Interpersonal Comparisons of Utility, EJ, 635–641 Roemer, John E. (1998): The Limits of Private-property-based Egalitarianism, in: Erik Olin Wright (ed): Recasting Egalitarianism. New Rules for Communities, States, and Markets, London & New York: Verso (The Real Utopias 3), 221–228 Rolf, Gabriele, P. Bernd Spahn & Gert Wagner (1988): Wirtschaftstheoretische und sozialpolitische Fundierung staatlicher Versicherungs- und Umverteilungspolitik, in: Gabriele Rolf, P. Bernd Spahn & Gert Wagner (eds): Sozialvertrag und Versicherung. Zur ökonomischen Theorie staatlicher Versicherungs- und Umverteilungssysteme, Frankfurt & New York: Campus, 13–42

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Literatur Rorty, Richard (1979/1985): Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt: Suhrkamp Rorty, Richard (1988): Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart: Reclam, 82–125 Rosen, Sherwin (1996): Public Employment and the Welfare State in Sweden, JEL, 729–740 Rosenberg, Alexander (1992): Economics – Mathematical Politics or Science of Diminishing Returns?, Chicago: Cambridge University Press Rothbard, Murray N. (1979): Comment: The Myth of Efficiency, in: Mario Rizzo (ed): Time, Uncertainty, and Disequilibrium. Exploration of Austrian Themes, Lexington/ Mass.: Lexington Books, 90–95 Rothenberg, Jerome (1961): The Measurement of Social Welfare, Westport/CT: Greenwood Press Rowley, Charles (1992): The Right to Justice. The Political Economy of Legal Services in the United States, London: Edward Elgar Rudner, Richard (1953): The Scientist qua Scientist Makes Value Judgements, PS, 1–6 Rutherford, Malcom (1994): Institutions in Economics. The Old and the New Institutionalism, Cambridge: Cambridge University Press Samuelson, Paul A. & William D. Nordhaus (199815 ): Volkswirtschaftslehre, Wien & Frankfurt: Überreuter Sandmo, Agnar (1991): Economists and the welfare state, EER, 213–239 Sandmo, Agnar (1995): Introduction: The Welfare Economics of the Welfare State, SJE, 469–476 Schaber, Peter (1997): Moralischer Realismus, Freiburg & München: Alber Schaber, Peter & Jean-Claude Wolf (1998): Analytische Moralphilosophie, Freiburg & München: Alber Schefczyk, Michael (2000): Soziale Sicherheit im Transformationsstaat, in: Birger Priddat (ed): Der bewegte Staat. Formen seiner ReForm. Notizen zur ›new governance‹, Marburg: Metropolis, 83–118 Schefczyk, Michael & Birger P. Priddat (2000): Effizienz und Gerechtigkeit. Eine Verhältnisbestimmung in sozialpolitischer Absicht, in: Wolfgang Kersting (ed): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist: Velbrück, 428–466 Schmidt, Thomas (2000): Die Idee des Sozialvertrags. Rationale Rechtfertigung in der politischen Philosophie, Paderborn: Mentis Schmidtz, David (1998): Guarantees, SPP, 1–19 Schmidtz, David & Robert Goodin (1998): Social Welfare and Individual Responsibility, Cambridge: Cambridge University Press Schumpeter, Joseph A. (1942/1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen & Basel: Francke (UTB) Schuyt, Kees (1998): The Sharing of Risks and the Risks of Sharing: Solidarity and Social Justice in the Welfare State, ETMP, 297–311 Searle, John (1995/1997): Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Sen, Amartya (1979): Utilitarianism and Welfarism, JP, 463–489 Sen, Amartya (1979a): Personal Utilities and Public Judgements: Or What’s Wrong with Welfare Economics, EJ, 537–558 Sen, Amartya (1984): Poor, Relatively Speaking, in: Amartya Sen: Resources, Values, and Development, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 325–345

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Michael Schefczyk

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Literatur Sen, Amartya (1996): On the Foundations of Welfare Economics: Utility, Capability and Practical Reason, in: Francesco Farina, Frank Hahn & Stefano Vanucci (eds): Ethics, Rationality, and Economic Behaviour, Oxford: Oxford University Press, 50–65 Sen, Amartya (1999): Development as Freedom, New York: Knopf Sen, Amartya (2000): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München & Wien: Hanser Senior, Nassau (1836/1965): Outline of the Science of Political Economy, London: MacMillan Shackle, George L. S. (1986): The Origination of Choice, in: Israel M. Kirzner (ed): Subjectivism, Intelligibility, and Economic Understanding. Essays in Honor of Ludwig M. Lachmann on his Eightieth Birthday, London: MacMillan, 281–287 Shapiro, Daniel (1995): Why Rawlsian Liberals Should Support Free Market Capitalism, JPP, 58–85 Sidgwick, Henry (1901/1969): The Principles of Political Economy, London: Macmillan Singer, Peter (1979/1984): Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam Sinn, Hans-Werner (1986): Risiko als Produktionsfaktor, JNS, 557–571 Sinn, Hans-Werner (1988): Die Grenzen des Versicherungsstaates – Theoretische Bemerkungen zum Thema Einkommensumverteilung, Versicherung und Wohlfahrt, in: Gabriele Rolf, P. Bernd Spahn & Gert Wagner (eds): Sozialvertrag und Sicherung. Zur ökonomischen Theorie staatlicher Versicherungs- und Umverteilungssysteme, Frankfurt & New York: Campus, 65–84 Sinn, Hans-Werner (1994): A Theory of the Welfare State, NBER Working Paper #4856 Sinn, Hans-Werner (2000): Sozialstaat im Wandel, in: Richard Hauser (ed): Die Zukunft des Sozialstaats, Berlin: Duncker & Humblot, 15–34 Skogh, Göran (1999): Risk-Sharing Institutions for Unpredictable Losses, JITE, 505– 515 Skyrms, Brian (1996): Evolution of the Social Contract, Cambridge: Cambridge University Press Snower, Dennis (1993): The Future of the Welfare State, EJ, 700–717 Snower, Dennis (2000): Evolution of the Welfare State, in: Richard Hauser (ed): Die Zukunft des Sozialstaats, Berlin: Duncker & Humblot, 35–52 Spaemann, Robert (1989): Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart: Klett-Cotta Steinvorth, Ulrich (1999): Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin: Akademie Verlag Stevenson, C. L. (1944): Ethics and Language, Yale: Yale University Press Stiglitz, Joseph E. & Bruno Schönfelder (1986/1989): Finanzwissenschaft, München & Wien: Oldenbourg Sugden, Robert (1989): Maximizing Social Welfare: Is it the Government’s Business?, in: Alan Hamlin & Philip Pettit (eds): The Good Polity. Normative Analysis of the State, Oxford: Basil Blackwell, 69–86 Sugden, Robert (1992): Austrian Prescriptive Economics, in: Bruce Caldwell & Stephan Boehm (eds): Austrian Economics: Tensions and New Directions, Boston et al., 207– 214 Sugden, Robert (1993): Rights. Why Do They Matter, and To Whom?, CPE, 127–152 Taylor, Charles (1995): Political Arguments, Cambridge/Mass.: Harvard University Press Titmuss, Richard (1958): Essays on ›The Welfare State‹, London: George Allen & Unwin

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Literatur Titmuss, Richard M. (1968): Commitment to Welfare, London: George Allen & Unwin Tugendhat, Ernst (1981/1984): Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik, in: Ernst Tugendhat: Probleme der Ethik, Stuttgart: Reclam, 57–131 Tugendhat, Ernst (1993): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt: Suhrkamp Tullock, Gordon (1983): The Economics of Income Redistribution, Boston: Kluwer Tullock, Gordon (1987): Autocracy, Dordrecht: Kluwer Tullock, Gordon (1994): On the Trail of Homo Economicus. ed. by Gordon L. Brady and Robert D. Tollison, Fairfax/VA: George Mason University Press Ulrich, Peter (1997): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern: Haupt Ulrich, Peter & Thomas Maak (2000): Lebensdienliches Wirtschaften in einer Gesellschaft freier Bürger – Eine Perspektive für das 21. Jahrhundert, in: Peter Ulrich & Thomas Maak (eds): Die Wirtschaft in der Gesellschaft. Perspektiven an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, Bern et al.: Haupt (St. Galler Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft), 11–34 Usher, Dan (1996): Rawls, Rules and Objectives: A Critique of the Two Principles of Justice, CPE, 103–126 Vanberg, Viktor (1986): Individual Choice and Institutional Constraints. The Normative Element in Classical and Contractarian Liberalism, AK, 113–149 Vanberg, Viktor (1999): Markets and Regulation: On the Contrast Between Free-Market Liberalism and Constitutional Liberalism, CPE, 219–243 van Parijs, Philippe (1995): Real Freedom for All. What (If Anything) Can Justify Capitalism?, Oxford: Clarendon Press van Parijs, Philippe (1996): Free-Riding Versus Rent-Sharing: Should Even David Gauthier Support an Unconditional Basic Income, in: Francesco Farina/Frank Hahn/Stefano Vanucci (eds): Ethics, Rationality, and Economic Behaviour, Oxford: Oxford University Press, 159–181 van Parijs, Philippe (2000): Real Freedom, the Market and the Family. A Reply, http:// www.analysekritik.uni-duesseldorf.de, 27. 8. 2001 Varian, Hal (1974): Equity, Envy, and Efficiency, JET, 63–91 Varian, Hal (1979): Distributive Justice, Welfare Economics, And the Theory of Fairness, in: Frank Hahn & Martin Hollis (eds): Philosophy and Economic Theory, Oxford: Oxford University Press, 134–153 Varian, Hal (1980): Redistributive Taxation as Social Insurance, JPUE, 49–68 Volkert, Jürgen (2000): Der Sozialstaat aus vertragstheoretischer Perspektive, in: Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski (eds): Internationaler Wettbewerb – nationale Sozialpolitik?, Berlin: Duncker & Humblot, 11–41 von Hayek, Friedrich (1937): Economics and Knowledge, ECO, 33–54 von Hayek, Friedrich (1945): The Use of Knowledge in Society, AER, 519–530 von Hayek, Friedrich (1960): The Constitution of Liberty, Chicago: Chicago University Press von Hayek, Friedrich (1980/1981): Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung des liberalen Prinzips der Gerechtigkeit und der politische Ökonomie, Landsberg/Lech: Verlag Moderne Industrie von Weizsa¨cker, Carl C. (2000): Logik der Globalisierung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Wagner, Richard E. (1996): Economic Policy in a Liberal Democracy, Hants: Edward Elgar

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Literatur Waldron, Jeremy (1986/1993): Welfare and the Images of Charity, in: Jeremy Waldron: Liberal Rights. Collected Papers 1981–1991, Cambridge: Cambridge University Press, 225–249 Waldron, Jeremy (1987/1993): Theoretical Foundations of Liberalism, in: Jeremy Waldron: Liberal Rights. Collected Papers 1981–1991, Cambridge: Cambridge University Press, 35–62 Waldron, Jeremy (1988/1993): Social Citizenship and the Defense of Welfare Provision, in: Jeremy Waldron: Liberal Rights. Collected Papers 1981–1991, Cambridge: Cambridge University Press, 271–308 Walsh, Vivian (1996): Rationality, Allocation, and Reproduction, Oxford: Clarendon Press Weaver, R. Kent (2000): Ending Welfare as We Know It, Washington: Brookings Institutions Press Weber, Max (1922/1985): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck Wegner, Gerhard (1996): Zur Pathologie wirtschaftspolitischer Lenkung, in: Birger Priddat & Gerhard Wegner (eds): Zwischen Evolution und Institution. Neue Ansätze in der ökonomischen Theorie, Marburg: Metropolis 367–401 Williams, Bernard (1985): Ethics and the Limits of Philosophy, London: Fontana Press Williamson, Oliver (1996): The Politics and Economics of Redistribution and Inefficiency, in: Oliver Williamson: The Mechanism of Governance, Oxford: Oxford University Press, 195–213 Wolff, Robert Paul (1977): Understanding Rawls. A Reconstruction and Critique of A Theory of Justice, Princeton: Princeton University Press Wood, Allen W. (1981): Karl Marx, London et al.: Routledge Wright, Erik Olin (ed) (1998): Recasting Egalitarianism. New Rules for Communities, States, and Markets, London & New York: Verso (The Real Utopias Project) Young, Iris Marion (1995): Mothers, Citizenship, and Independence: A Critique of Pure Family Values, ETH, 535–556 Zintl, Reinhard (2000): Die libertäre Sozialstaatskritik bei von Hayek, Buchanan und Nozick, in: Wolfgang Kersting (ed): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist: Velbrück, 95–119

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Personenregister

Ackerman, Bruce 265, 292, 300 Agell, Jonas 21 (FN) Aghion, Philippe 153 (FN) Alber, Jens 100 (FN) Albert, Hans 53 (FN), 61 (FN) Alstott, Ann 265, 292, 300 Anderson, Elizabeth 116 (FN) Arneson, Richard 194 (FN), 214, 215, 218, 261, 264 Arnsperger, Christian 216 (FN) Arrow, Kenneth 144, 216–217, 226 (FN), 260 Atkinson, Anthony B. 152 (FN), 153, 267 (FN), 268 (FN), 287 (FN) Austin, John L. 186 (FN) Baecker, Dirk 206 (FN) Bardhan, Pranab 154 (FN) Barr, Nicholas 222 (FN), 230 (FN), 231 (FN), 232 (FN), 241 (FN), 245 Barro, Robert 47 (FN), 157, 189 (FN), 193, 194 (FN) Barry, Brian 130 (FN), 158, 159 (FN), 160, 221 (FN), 236–245, 256, 259 (FN), 291 (FN) Baurmann, Michael 280 (FN) Becker, Gary 185, 209, 244, 250 Benhabib, Seyla 28 (FN) Bergson, Abram 75 (FN), 227 (FN) Berlin, Isaiah 259 Bernholz, Peter 178 (FN) Berthold, Norbert 13 (FN), 282 Birnbacher, Dieter 147 (FN) Blankart, Charles 179 (FN) Blaug, Mark 78 (FN) Bohman, James 212 (FN) Bowen, John 240 (FN) Bowles, Samuel 257 (FN), 293–296, 297 (FN) Brennan, Geoffrey 32, 124 (FN), 125 (FN), 135 (FN), 176 (FN)

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Breyer, Friedrich 178 (FN) Brink, David 203 (FN) Brown, Gordon 189 (FN) Buchanan, James 27, 36, 80 (FN), 87, 99, 105, 124–136, 137, 138–141, 171, 176, 179 (FN), 182, 183 (FN) Bullock, David 244 (FN) Burtless, Gary 153 (FN), 282 (FN) Cairnes, J. E. 53, 57, 59 (FN) Callaghan, James 12 Chamberlain, E. S. 18 Chiu, W. Henry 154 (FN) Clarke, Peter 13 (FN) Cockett, Richard 12 (FN), 60 (FN), 63, 64 (FN), 275 (FN) Cohen, Gerald 162, 214, 261 Copp, David 144 (FN), 217 (FN), 261, 265, 272 Cowell, Frank 142 (FN) Davies, Stephen 102 (FN) Deane, Phyllis 61 (FN) Diwald, Hellmut 177 (FN) Dixit, Avinash 207 Do¨ring, Diether 13 (FN) Dworkin, Ronald 28 (FN), 45, 46 (FN), 64, 169, 203, 264 Eisen, Roland 142 (FN) Elster, Jon 49 (FN), 228 (FN) Engels, Friedrich 267 (FN) Esping-Andersen, Gøsta 25 (FN), 33, 246, 255 (FN), 265 (FN), 289 (FN) Estelmann, Martin 236 (FN), 242 (FN) Felderer, Bernhard 13 (FN) Fershtman, Chaim 154 (FN) Finer, S. E. 57 (FN) Flemming, J. S. 286 (FN) Fraser, Nancy 28 (FN), 279 (FN)

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Michael Schefczyk

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Personenregister Freeman, Richard 154 (FN) Friedman, Milton 46 (FN), 47, 53, 76, 102, 184 (FN), 196 Fuest, Clemens 86 (FN) Furniss, Norman 246 (FN) Galor, Oded 154 (FN) Gaus, Gerald 211 (FN) Gauthier, David 79 (FN), 129, 131, 134 (FN), 161 (FN), 205, 249 (FN), 275 (FN), 280 (FN) Gehlen, Arnold 101 (FN) Gewirth, Alan 103 (FN) Gibbard, Allan 184 (FN), 273 Giddens, Anthony 265 (FN), 291 (FN) Gintis, Herbert 257 (FN), 293–297 Goodin, Robert 33, 182 (FN), 206 (FN), 221, 230 (FN), 240 (FN), 247 (FN), 249 (FN), 252, 253, 279, 285 (FN) Gosepath, Stefan 78 (FN), 170 Gouyette, Claudine 181 (FN) Gruber, Jonathan 14 (FN) Habermas, Jürgen 15 (FN), 16 (FN), 17, 40, 174–176, 195–200, 208, 209 (FN), 235, 254, 257, 258 (FN), 265 Hackmann, Johannes 31 (FN), 77 (FN) Hahn, Frank 66 (FN), 223 Hank, Rainer 22 (FN), 282 Hare, Richard 50 (FN), 69 (FN), 186 (FN), 203 (FN) Harrod, Roy 59, 68, 70, 72–73 Hausman, Daniel 152 (FN), 222 (FN) Hegel, Georg 29, 33, 78 (FN), 210, 280 Hicks, John 31, 55 (FN), 58 (FN), 73–76, 77, 90 Hirst, Paul 20 (FN), 40 (FN), 197, 257 (FN) Hobbes, Thomas 27, 105, 124, 125, 129, 130, 139 Hochman, Harold 102 (FN), 182 (FN) Hoff, Karla 155 Holmes, Stephen 242 (FN) Homann, Karl 125 (FN), 191 Homburg, Stefan 13 (FN) Hu¨bner, Bernhard 86 (FN), 231 (FN) Hutchison, Terence 61 (FN)

Jenkins, Stephen 142 (FN) Jessop, Bob 13 (FN), 23, 24, 26 Johansson, Per-Olov 54 (FN), 227 (FN) Johansson-Stenman, Olof 54 (FN), Kaldor, Nicholas 70–72, 73, 75 Kaufmann, Franz-Xaver 23, 237 (FN), 246 (FN) Kavka, Gregory 262 (FN), 266 (FN) Kersting, Wolfgang 26 (FN), 62 (FN), 165 (FN), 166 (FN), 167 (FN), 168 Keynes, John Maynard 13, 60 (FN), 63– 64, 233 Kirchga¨ssner, Gebhard 185 Kirzner, Israel 185–186, 215 Klappholz, Kurt 61 (FN) Klein, Daniel 74 (FN) Kliemt, Hartmut 30 (FN), 125 (FN) Klosko, George 201 (FN) Kohler, Georg 10, 184 (FN) Konrad, Kai 191 (FN) Korpi, Walter 21 (FN), 298 (FN) Koslowski, Peter 251 (FN), 254 (FN) Krebs, Angelika 103 (FN), 264 (FN), 269 (FN), 272 (FN) Krouse, Richard 213 (FN), 292 (FN) Krugman, Paul 15 (FN) Kymlicka, Will 196 (FN) Ladeur, Karl-Heinz 206 (FN) Larmore, Charles 199 (FN) Layard, Richard 286 (FN) Leipold, Helmut 294 (FN), 295 (FN) Lindbeck, Assar 21, 22 (FN), 254 (FN), 298 (FN) Lipsey, Richard 284 Little, Ian 67 (FN), 226 (FN), 227 (FN) Lomasky, Loren 271 (FN), 272 (FN) Machlup, Fritz 50 (FN) Marshall, Alfred 29, 49 (FN), 58, 60, 68, 72 Marx, Karl 11, 16 (FN), 29, 43, 49, 136, 267 (FN) McCloskey, Donald 51 (FN) McGuire, Martin 191 (FN) McKenzie, Richard 48 (FN) McPherson, Michael 213 (FN), 292 (FN)

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Personenregister Mead, Lawrence 266 (FN) Meade, James 26 (FN), 36, 163, 292 (FN) Menzel, Ulrich 152 (FN), 153 (FN) Milgrom, Paul 229 (FN), 296 (FN) Mill, John Stuart 49, 50, 52, 55, 57 (FN) Miller, David 244 (FN) Miller, Richard 46 (FN) Mirrlees, J. A. 67 (FN), 142 (FN) Mo¨ller, Rudolf 67 (FN) Moene, Karl Ove 152 (FN), 297 (FN), 298 (FN) Mofitt, Robert 266 (FN) Mohr, Gerhard 236 (FN), 242 (FN) Mueller, Dennis 181 (FN), 185 (FN) Murray, Charles 46 (FN), 266 (FN) Nagel, Thomas 45, 48 (FN) Nelson, William 267 (FN) Niggle, Christopher 154 (FN) Nordhaus, William 152 (FN) North, Douglass 46 (FN), 189–190 Nozick, Robert 27–28, 35, 36, 37, 87, 88– 109, 110, 114, 115, 118, 123, 125, 136, 139, 165, 166 (FN), 171, 176, 180, 216 (FN), 221, 243, 263, 264 Offe, Claus 15 (FN), 16 (FN), 17 (FN), 24, 25, 205 (FN), 237 (FN) Olson, Mancur 178 (FN), 191 (FN) Ost, Wolfgang 236 (FN), 242 (FN) Pattanaik, Prasanta 273 (FN) Peacock, Alan 33, 39, 76 (FN), 78 (FN), 246, 270 Persson, Torsten 154 (FN) Pestieau, Pierre 181 (FN), 244 (FN) Phelps, Edmund 266 (FN) Pierson, Paul 25 (FN), 175 (FN), 240 (FN) Pies, Ingo 79 (FN), 125 (FN) Pigou, Arthur 58, 60, 67, 68, 73 Posner, Richard 45, 181, 192 (FN) Preuss, Ulrich 250 Priddat, Birger 9, 85 (FN), 281 (FN), 286 (FN), 299 (FN) Putnam, Hilary 187 (FN), 247 (FN) Putterman, Louis 293 (FN), 296 (FN)

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Rawls, John 12, 26–28, 35, 36, 38, 90, 96 (FN), 99, 105 (FN), 128, 129, 136–171, 190 (FN), 200–204, 205 (FN), 210, 213– 214, 216–220, 223, 262, 276–277, 288 Raz, Joseph 269 (FN), 275 (FN), 277 Rehg, William 212 (FN) Rescher, Nicholas 81, 82 (FN) Riese, Hajo 57 (FN), 62 (FN) Risa, Alf Erling 14 (FN) Robinson, Joan 18 Robbins, Lionel 53–56, 59, 63, 65–68, 69, 73, 76, 77, 88, 89 Roberts, John 229 (FN), 296 (FN) Rodgers, James 102 (FN) Roemer, John 293, 296 (FN) Rolf, Gabriele 239 (FN) Rorty, Richard 200–202, 204–205, 234 Rosen, Sherwin 253 (FN) Rosenberg, Alexander 51 (FN), 184 (FN), 223 (FN) Rothbard, Murray 69, 185–186 Rothenberg, Jerome 76 (FN), 227 (FN) Rowley, Charles 46 (FN), 76 (FN), 192 (FN) Rudner, Richard 61 (FN) Rutherford, Malcom 75 (FN) Samuelson, Paul 31, 152 (FN) Sandmo, Agnar 18 (FN), 62 (FN) Schaber, Peter 10, 94 (FN) Schefczyk, Michael 85 (FN), 284 (FN) Schelsky, Helmut 17 Schmidt, Thomas 9, 10, 129 (FN) Schmidtz, David 240 (FN), 285 (FN), Schumpeter, Joseph 18–20, 40, 189, 281 Schuyt, Kees 99 (FN) Searle, John 187 (FN), 188 (FN) Sen, Amartya 77 (FN), 79 (FN), 260 (FN), 268 (FN), 269 (FN), 271 (FN) Senior, Nassau 49–52, 53, 57, 59 (FN), 247 Shackle, George 188 Shapiro, Daniel 150 (FN) Sidgwick, Henry 56–57, 59 (FN) Singer, Peter 272 (FN) Sinn, Hans-Werner 141 (FN), 223–229, 266 (FN), 281 (FN), 290 (FN) Skogh, Göran 288 Skyrms, Brian 29 (FN), 32

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Personenregister Snower, Dennis 14 (FN), 23, 266 (FN), 286, 287 Steinvorth, Ulrich 35 (FN), 98 (FN), 105 (FN), 107–109, 123, 165 (FN), 166 Stevenson, C. L. 186 (FN) Stiglitz, Joseph 80 (FN) Sugden, Robert 273 (FN), 274 Sunstein, Cass 242 (FN) Tabellini, Guido 154 (FN) Thatcher, Margaret 25, 28, 175, 267–268 Tilton, Timothy 246 (FN) Titmuss, Richard 12 (FN), 238, 239 (FN), 246 (FN) Tugendhat, Ernst 78, 82, Tullock, Gordon 32, 177, 178 (FN), 179 (FN), 181, 185 Ulrich, Peter 18 (FN), 51–53 Usher, Dan 216 (FN) van Parijs, Philippe 109–122, 258, 264 (FN), 265, 276–278, 291 Varian, Hal 264 (FN), 297 (FN)

Volkert, Jürgen 128 (FN) von Hayek, Friedrich 35, 39, 47, 63, 99– 102, 110–115, 122, 124, 186–187, 194 (FN), 206 (FN), 231, 232, 234, 263– 264 Wagner, Richard 187 (FN) Waldron, Jeremy 35, 45, 46 (FN), 47, 64, 169 (FN), 179, 180 Wallerstein, Michael 152 (FN), 297 (FN), 298 (FN) Weaver, R. Kent 249 (FN) Weber, Max 52 (FN) Wegner, Gerhard 10 Williams, Bernard 38 (FN) Williamson, Oliver 207–208 Wolf, Jean-Claude 186 (FN) Wolff, Robert Paul 145, 213 (FN), 220 Wood, Allen 49 (FN) Wright, Erik Olin 296 Zeira, Joseph 154 (FN) Zintl, Reinhard 290, 291 (FN)

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Sachregister

Anrecht auf Autonomie 258–281, Grundidee: liberaler Freiheitsgedanke impliziert einen Anspruch auf Humankapitalinvestitionen 258–259, Formulierung 259, verneint einen Anspruch auf Ausgleich unverdienter Nachteile, der über den im Differenzprinzip fixierten Reziprozitätsgedanken hinausginge 262, besondere Umstände der Autonomie bei Behinderungen 262, und Nozick 263, und Hayek 263–264, Transfers nicht als passiver, unbedingter und unbefristeter Leistungsempfang auszugestalten 264, Umstellung der Transfers vom Modus der Subvention auf den der Investition 265, entspricht den moralischen Intuitionen besser als der luck egalitarianism 271, siehe auch: AutonomieParadigma Arbeitslosigkeit soziales Kernrisiko kapitalistischer Gesellschaften 12, strukturelle Ursachen am Beispiel Schwedens 21–22, und schöpferische Zerstörung 40–41, 281, mit der Produktinnovation gehen Humankapitalentwertungen einher 282 Armenrechtliche Formen sozialer Sicherung 234–235, 239–245 Armut auf die Vorstellung sozialer Handlungsfähigkeit, also auf eine Dimension von Autonomie bezogen 267–271 Autonomie-Paradigma als neuer Idealtyp wohlfahrtsstaatlicher Ordnung 33, 39– 40, erklärt Herstellung der Bedingungen von Autonomie zum Ziel sozialer Transfers, strebt Internalisierung von Arbeitsmarktrisiken ohne deren Privatisierung an 41, wendet sich gegen das etatistische Missverständnis emanzipa-

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torischer Ideale 235, sieht die spezifische Ursache sozialer Probleme in kapitalistischen Gesellschaften in der systematischen Produktion von Unsicherheit auf den Humankapitalmärkten 281, fordert eine faire Risikoteilung 283, 288 lehnt das Modell ›Kompensation für Exklusion‹ ab 287, mit der Terminierung von Leistungen vereinbar 287, verlangt, die Inklusionsbedingungen in die Gesellschaft zu sichern 288, favorisiert eine redistribution of assets 292, und soziale Konflikte 299– 301, siehe auch: Anrecht auf Autonomie, Schumpeterian workfare state Capability approach 144, 260, 273, 274, bestimmt den Status individueller Rechte anders als das AutonomieParadigma 273–274 Common-asset-Gedanke (Rawls) Kritik bei Nozick und Kersting, deren Zurückweisung 165–169, Unterscheidung zwischen ›verdienten‹ und ›unverdienten‹ Vorteilen für das Differenzprinzip unbedeutend 169 Constitutional Political Economy 31, 124, heterodoxe Strömung in der Ökonomie, die sich als Synthese von klassischer politischer Ökonomie und kontraktualistischer Philosophie versteht 124–125 De-commodification (Esping-Andersen) 254, 255, 257, bezeichnet die Aufhebung der bloßen Warenform des Proletarierlebens 254, Strategie des emanzipatorischen Paradigmas überzeugt nicht 257 Deduktives Verfahren 33, 38–39, 215– 218, Kritik des deduktiven Verfahrens

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Sachregister am Beispiel Arnesons 215–218, von Rawls in der Theory benutzt, später zugunsten eines totalen induktiven Verfahrens ersetzt 218–219, in der Ökonomie am Beispiel Sinns 223–229, deduktivistische Illusion, sozialstaatliche Institutionen seien mit einem einzigen normativen Konzept, wie Effizienz oder Gerechtigkeit, zu rechtfertigen 235, siehe auch: Induktives Verfahren Deep structural adjustments 284, siehe auch: Facilitating structure, strukturalistische Theorie Differenzprinzip 36, 140, 143, 144, 145, 146–171, 205, 216, 219, 260, 262, Forderungsgehalt läuft auf propertyowning democracy hinaus 36, 146–165 Einwände des libertären Realismus gegen normative Theorie – motivationaler E.: normative Theorie ignoriert, zu was Menschen in der wirklichen Welt motiviert werden können 182–183 – politontologischer E.: normative Ideen, wie die Maximierung des Gesamtnutzens, sind sinnlos (und nicht nur falsch) 185–187 – epistemischer E.: normative Ideen sind nicht sinnlos, aber politisch nicht operationalisierbar 187–188 End of Laissez-Faire (Keynes) 35, als Schrittmacher der Transformation des Liberalismus 64, gewahrt die Unhaltbarkeit der überkommenen Synthese von liberaler Politik und liberaler Ökonomie 64–65, siehe auch: Obsoletheit des klassischen Liberalismus Ende der Laissez-faire-Wirtschaftspolitik 34, beginnt Ende des neunzehnten Jahrhunderts 62, Cockett datiert den Beginn des Endes auf das Gründungsjahr der Fabian Society 63, siehe auch: Obsoletheit des klassischen Liberalismus Etatismus 63, Gründe für seine An-

ziehungskraft 63–64, Antietatismus des klassischen Liberalismus 180 Expensive-taste-Problematik 217–218 Externalitätenproblematik in der Sozialpolitik 255–257, 278–279, steigt die Schadenswahrscheinlichkeit durch ein Sicherungsversprechen, so ist auf lange Sicht die Einlösbarkeit des Sicherungsversprechens riskiert 256, Nachfrage nach riskanten Handlungen ist zu groß, wenn Kosten nicht internalisiert werden 278–279 Facilitating structure 284, siehe auch: Deep structural adjustments, strukturalistische Theorie Faktoren sozialpolitischer Überzeugungsmuster 250 (Abbildung 3) Fetischismus der Rechte 35, 98, 113, bei Hayek (nach van Parijs) 113–115 Freiheit als Wahlmöglichkeit 109, 112, Kritik 115–122 Freiheit von Zwang 109, Hayeks Auslegung 110–113, van Parijs Kritik 113– 115, 122 Freiheit und Verantwortung Zusammenhang bei van Parijs verkannt 115–119, naturrechtlicher Ansatz fordert kausalen Zusammenhang für die Rechtfertigung von Umverteilung 161–162 Gerechtigkeit, horizontale/vertikale 243– 244 Gerechtigkeitstheorie 26–29, makro-, mikroanalytische Ausrichtung 27, als Normwissenschaft 27, als desirability approach 32, kann auf Fragen institutioneller Gestaltung nicht unmittelbar angewendet werden 34, aus Sicht des libertären Realismus naiv 37, Mangel mancher Gerechtigkeitstheorien: fragen nicht, wie ihr Konzept soziale und wirtschaftliche Interaktionen determiniert 104, Nozicks Spott 139, Rawls hält auch in der letzten Fassung seiner Theorie am Differenzprinzip fest 143, nach Barry ein Reziprozitäts- und ein Unparteilichkeitskonzept von Gerech-

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Sachregister tigkeit bei Rawls 158, Rawls distanziert sich von Passagen, die auf einen moralischen Realismus der Theory hindeuten 201, starke Abschwächung ihres Anspruchs bei Rorty 201, als Beitrag im demokratischen Diskurs 202, nach Rawls ist die Theory neutral zwischen Privateigentumsordnung und Marktsozialismus 213, Auszeichnung der Eigentümer-Demokratie 214, legt allgemeine Prinzipien fest 218, gerechtigkeitstheoretische Modelle als Definitionen von Prädikaten 223, Abgrenzung von welfare philosophies 247 Gestaltungsmerkmale von Wohlfahrtsstaatlichkeit 236–239, 250–255 Heterogenitätsthese das Umverteilungssystem demokratischer Rechtsstaaten kombiniert Ordnungselemente, die vom Standpunkt normativer Theorie aus beurteilt inkompatibel sind 206, siehe auch: Habermasianische Präsumtion, Verkörperungsannahme Hilfspflichten 35, 98, 99 Begründung sozialstaatlicher Institutionen durch Hilfspflichten bei Hayek 99–102 Idealtypen wohlfahrtsstaatlicher Ordnung liberales, emanzipatorisch-sozialdemokratisches, konservativ-kommunitaristisches Modell 33, nach Esping-Andersen und Peacock 246– 247, rechtfertigen die Systemlogik einer idealtypischen politökonomischen Struktur 248–250, schematische Darstellung 252–253, siehe auch: Autonomie-Paradigma Induktives Verfahren der Politikphilosophie 33, 39, 213–232, knüpft an Idealtypenbildungen institutioneller Strukturen an 33, hat einen Relevanz-, Referenz-, Operationalisierungs- und einen Pluralitätstoleranz-Vorteil 39, 219–220, harmoniert mit dem Gedanken, dass die Institutionen demokratischer Staaten prima facie gerechtfertigt

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sind 220, strebt Vereinheitlichung in Idealtypen an 235, siehe auch: Deduktives Verfahren Informationsökonomische Rechtfertigung Kreditmarkt-bedingte Unterinvestition in Humankapital 154, sozialstaatlicher Institutionen 231– 232, nach Barr zentral 245, mit einer weiter gestreuten Verteilung von Rechten auf Residualeinkommen könnten Effizienzgewinne verbunden sein 292 Intergenerationelle Gerechtigkeit 156– 161, Vorstellung bei Rawls von zwei unterschiedlichen Gerechtigkeitskonzeptionen beeinflusst 158 Interpersonelle Nutzenvergleiche 66, 69, 73, 88 durch Robbins als unwissenschaftlich, weil unverifizierbar, bezeichnet 66, andere halten sie für sinnlos 69, 73 Intuitionen in der Politikphilosophie von begrenzter Bedeutung 214–215 Jugoslawisches Modell 294–295 Kaldorsches Kompensationskriterium (Kaldor-Hicks-Kriterium) 70–73, 90 Keynesianischer Wohlfahrtsstaat (Keynesian welfare state) will Vollbeschäftigung über die Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage sichern 13–14, auf die Gegebenheiten einer industriellen Wirtschaft in einem stark regulierten weltwirtschaftlichen Umfeld abgestimmt 14, entwickelt unter günstigen Bedingungen eine Verstetigungswirkung für die wirtschaftliche Entwicklung 15, seine Verwundbarkeit durch makroökonomische Schocks 20, als Krisenverstärker 22–23, durch Eintritt in die post-fordistische Phase überholt 23, sozialdemokratische Reaktion auf seine Krise 24, vorrangig um die Stabilisierung des Status’ abhängiger Arbeit bemührt 40, 235, ruhte auf dem Gedanken, dass die wachstumsinduzierte aggregierte Nachfrage mit

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Sachregister steigendem Lohnniveau zunimmt 248, keynesianisches Argument für egalitaristische Einkommenspolitik verlor an Überzeugungskraft 255, Spannungsverhältnis zwischen dem sozialstaatlichen Versorgungsanspruch und den Bedingungen, unter denen dieser Anspruch dauerhaft einlösbar sein kann 255, Fokussierung auf passiven Leistungsempfang perpetuiert die Unfreiheit einer Angestellten- und Klientengesellschaft 257, Freiheit des keynesianischen Wohlfahrtsstaates ist die Konsumfreiheit 257, 292, Abgrenzung vom producitvity enhancing egalitarianism 293 Konsumfreiheit als Ideal der wirklichen Freiheit (van Parijs) 122, als Ideal des keynesianischen Wohlfahrtsstaates 257, 292, siehe auch: Wirkliche Freiheit, Keynesianischer Wohlfahrtsstaat Labour party 12, 197 Laissez-faire-Ideologie durch das Neutralitätspostulat zunächst nicht tangiert 57, erste bedeutende Experten-Konfrontation während der Tariff Reform Campaign 60–61, siehe auch: Methodologisches Neutralitätspostulat, Ende der Laissez-faire-Wirtschaftspolitik, Tariff Reform Campaign Lebenseinkommen 142, 170, 225, 262, wesentlich von Zufällen bestimmt 142, 170, 262 Legitimationsproblem (der Umverteilung) 32, 36, 65–83, 84–171, 183, 234, 240 lässt sich nur sinnvoll im Ausgang von realistischen Beschreibungen stellen 32, Reaktion in der Ökonomie 65–83, philosophische Antworten 84– 171, durch die Zurückweisung des ›utilitaristischen Arguments des gesunden Menschenverstands‹ komplexer geworden 85, dass die Maximierung von Handlungsmöglichkeiten für eine Gruppe mit der Beschneidung der Möglichkeiten anderer Gruppen ein-

hergeht, wird bei van Parijs nicht als Legitimationsproblem gesehen 121, wird im kontraktualistischen Ansatz in eine Frage rationaler Regelwahl übersetzt 127, Status quo als Legitimationsproblem 137–143, ist im Rahmen eines totalen induktiven Modells zu bearbeiten 234 Liberale Neutralität in Nozicks Parteilichkeitsargument 97–98, und Autonomie-Paradigma 275–277, AutonomieParadigma nicht neutral gegenüber der Präferenz für Freizeit 277, verschärfte Fassung liberaler Neutralität bei van Parijs unplausibel 276–278 Libertärer Realismus 37, 176–194, ein in der Ökonomie verbreitetes Überzeugungsmuster, das gegenüber den Geltungsansprüchen der normativen Theorie und des demokratischen Prozesses skeptisch eingestellt ist 37, bildet die politisch wichtigste Herausforderung für die Legitimation der Umverteilung 37, kann nicht ohne die Berücksichtigung der universalhistorischen Perspektive verstanden werden 176, sieht Ausbeutung durch die Inhaber hoheitlicher Macht als den gewöhnlichen Funktionsmodus des Politischen an 177, in Demokratien versuchen die Machthabenden, nicht mehrheitsfähige Ziele zu fördern oder die Lasten von mehrheitsfähigen Zielen auf andere Gruppen abzuwälzen 178, Ausbeutung soll durch eine konsequente Hegung staatlicher Eingriffskompetenz abgewehrt werden 179, strikt von dem naturrechtlichen Libertarismus Nozicks zu unterscheiden 180, wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur als eine zeitgemäße Formulierung des klassischen Liberalismus angesehen 180–181, ist skeptisch gegenüber den Ansprüchen normativer Theorie 181, erklärt den Schutz von Eigentum und allgemeiner Handlungsfreiheit zur zentralen Aufgabe des Staates 188–192, Ambivalenz

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Sachregister gegenüber der Demokratie 192–194, Ineinandergreifen eines instrumentellen Verständnisses von Demokratie und Skepsis gegenüber normativer Theorie 195, siehe auch: Einwände des libertären Realismus gegen normative Theorie Liberty upsets patterns (Nozick) 96, 297, siehe auch: Wilt-Chamberlain-Argument Lockescher Vorbehalt 35, 98, 105, 106, 107, 108, als Grundlage von Kompensationspflichten, die über sozialstaatliche Institutionen erfüllt werden 105– 109 Methodologisches Neutralitätspostulat (Ökonomie) 34, 48–56, motiviert durch den Wunsch, Ökonomie als eine positive Wissenschaft zu etablieren und von der Philosophie zu lösen 49, fordert die Neutralität der Ökonomie gegenüber jeglichem ethischen System, besonders forciert von Cairnes (1888) vertreten, von Robbins (1932) und Friedman (1953) aufgegriffen 53, fördert ein rein instrumentell-dezionistisches Verständnis normativer Ökonomie 54, Zweifel bei Harrod 59, im Zuge der Expansion der Staatstätigkeit zunehmend unhaltbar siehe auch: Laissez-faire-Ideologie Naturzustand 105, 106, 129,138, 143, bei Buchanan 130–136 Neutralisierungsstrategie (Philosophie) verwandelt die Gerechtigkeitstheorie in eine normativ und deskriptiv unterbestimmte Normwissenschaft 38, bei Rawls als Indifferenz zwischen Privateigentumsordnung und Marktsozialismus 213, stilbildend für die nachfolgende egalitaristische Politikphilosophie 214 Normative Ökonomie wurde durch die Methodologie der klassischen Periode abgelehnt 49, bei Robbins und Friedman im Sinne einer Implikationsana-

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lyse und Konsequenzenabschätzung politisch-normativer Gestaltungsvorschläge zu verstehen 53–54, Pigou verstand sein Werk {The Economics of Welfare} nicht als Beitrag zur normativen Ökonomie 58 Normativismus der Philosophie 28–29, Problem der Anschlussfähigkeit der Gerechtigkeitstheorie an die Gesellschaftswissenschaften und die Problemwahrnehmungen politischer Akteure 32–33, am Beispiel Arnesons 215–218, siehe auch: Normativitätsproblem der Ökonomie Normativitätsproblem der Ökonomie 30, die ungelöste Spannung zwischen wissenschaftlichem Neutralitäts- und ordnungspolitischem Gestaltungsanspruch 44–68, siehe auch: Normativismus der Philosophie (These von der) Obsoletheit des klassischen Liberalismus 20, als Charakteristikum der Lagebeurteilung Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre 20, durch Nozick und Buchanan im Laufe der Siebzigerjahre in Frage gestellt 27, siehe auch: Ende der Laissezfaire-Wirtschaftspolitik, End of Laissez-Faire (Keynes) Pareto-Effizienz 77, 84, 85, 252 Pareto-Prinzip 72, 76, Hicks’ Herleitung aus dem Begriff der Ökonomie 73–75, These, dass die enthaltenen Werturteile ›schwach‹ seien 77–78, sagt selbst nichts darüber aus, ob staatlichen Eingriffen auch andere normative Erwägungen zugrunde gelegt werden können 79, zur Klärung 79, Auslegungsvarianten 80–83, 85, 87, 90, 93, 107, 128 Paretianismus 31, 34, 35, 36, 76, 79, 90, 99, 122, 128, 129, 171, Position, der zufolge das Pareto-Prinzip die alleinige Grundlage zur Rechtfertigung staatlichen Handelns bildet 79, der Ökonomie 31, 90, 128, 129, kontraktualisti-

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Sachregister scher (Buchanan) 122, naturrechtlicher (Nozick) 171 Parteilichkeits-Argument (Nozick) kulminiert in der Behauptung, die redistributive Besteuerung von Erwerbseinkommen stehe auf einer Stufe mit Zwangsarbeit 93, 96–98 Präferentialismus 72 (FN), 73, 79, 125, identifiziert das ökonomisch Gute mit dem Präferierten (Harrod) 72, Präferentialismus der Ökonomie will die gesamte normative Sphäre auf das von Individuen Präferierte zurückführen 125 (Habermasianische) Präsumtion Annahme, die sicherstellen soll, dass die Gründe für das Bestehen von Regeln angemessen analysiert werden und die Defekte von Blackboard-Ansätzen vermieden werden 209–212, siehe auch: Heterogenitätsthese, Verkörperungsannahme Prinzip des Durchschnittsnutzens mit sozialem Minimum hat als Gesellschaftsideal den kapitalistischen Wohlfahrtsstaat 163, Zurückweisung durch Rawls 163–165 Productivity enhancing egalitarianism 293 Property-owning democracy 36, 163, 214, 292, durch das rawlssche Differenzprinzip favorisiert 163, 292 Public-Choice-Ökonomie 176, 182 Real cases (Rawls) bezeichnet Fälle, die unter den für eine wohlgeordnete Gesellschaft gemachten Annahmen auftreten können 144–145 Repeal of the Corn Laws 59, 71, 87 Schismen Abspaltung der Ökonomie von der Philosophie (erstes Schisma) und Spaltung des Liberalismus in Libertarismus und Linksliberalismus (zweites Schisma) 35, machen sich im Feld ›Legitimation des Sozialstaats‹ besonders scharf bemerkbar 44, institutionelle Trennung der Ökonomie von der

Philosophie trug der Differenz zwischen explanatorischer und normativer Theorie Rechnung 47–48 Schlechterstellungsverbot 36, 85, 87, 89, 90, 91, 106, 107, 136, Status muss im Rahmen der Legitimation von Umverteilung geklärt werden 87, naturrechtliche (Nozick) und kontraktualistische (Buchanan) Auslegung 87, 88, zu klärende Fragen: worin besteht eine Schlechterstellung, in Bezug auf welchen Referenzpunkt wird sie bestimmt 87–88 Schöpferische Zerstörung 18, Grundprozess, der für die Produktion von Unsicherheit auf den Arbeitsmärkten, aber auch für die eminente Produktivität kapitalistischer Marktwirtschaften verantwortlich ist 40, 281 Schumpeterian workfare state benutzt institutionelle Instrumente, die auf eine Ermöglichung autonomer Lebensführung in einem von permanentem strukturellem Wandel geprägten gesellschaftlichen Umfeld ausgelegt sind 24 Selbstadaption des Kapitalismus 16, siehe auch: Verschränkung von Staat und Gesellschaft Sozialdemokratisches Zeitalter (socialdemocratic age) endete zuerst in Großbritannien 12, siehe auch: Keynesianischer Wohlfahrtsstaat, Welfare state consensus Soziale Rechte 102–105, 257, 263, als normative Grundlage für Umverteilungsinstitutionen 103–105 Sozialinvestitionsstaat (Giddens) 291, siehe auch: AutonomieParadigma Sozialstaatlicher Paternalismus (Habermas) eigentümliche Mischung aus Freiheitschancen und Fremdbestimmung 40, 257, Verwandlung der Bürger in Konsumenten und in Klienten der Leistungsverwaltung 235, beruht auf der kindlichen Illusion, der Staat sei in

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Sachregister seinen Leistungen nicht abhängig von dem produktiven Potential der Gesellschaft 265 Sozialvertragsverhandlung (bei Buchanan) 130–136, führt zu keinem eindeutigen Ergebnis 135–136 Strukturalistische Theorie 284, 285, beschreibt die Zusammengehörigkeit von Wachstum, De- und Restabilisierung in kapitalistischen Gesellschaften 285, siehe auch: Facilitating structure, Deep structural adjustments Tariff Reform Debate 60, 61, siehe auch: Laissez-faire-Ideologie These von der Gleichursprünglichkeit (Habermas) besagt, dass Rechtsstaatlichkeit nicht ohne Volkssouveränität denkbar ist und umgekehrt 197–200 Umverteilung als Versicherung 140–141, 223–229 realistisch oder normativ 141, redistributives Steuersystem wirkt wie Versicherung gegen Einkommensrisiken 224 Ungleichheit hinsichtlich der Frage, ob Ungleichheit ein intrinsisches Übel sei, äußert sich Rawls eher tentativ 147, sie führe zu Hierarchie und ungleicher Achtung 147, ihre Produktivität führt dazu, sie in Kauf zu nehmen 147, Ungleichheit der Vermögensverteilung sollte in der Ausgangsperiode vermindert werden 156, und Wachstum 297– 299 Urzustand 128, 129, 138, 143, 158, 159, 160, 167, 218, 262 Utilitaristisches Umverteilungsargument des gesunden Menschenverstandes 65, 66–68, 69, 94, 122–123, 127, durch Lionel Robbins in Frage gestellt 66–68, seine Entwertung bereitet die Heraufkunft der paretianischen Ökonomie vor 69, hat nichts Anstößiges darin erkannt, dass Umverteilung im ersten Schritt die Lage der Geber verschlechtert 122–123

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Veil of ignorance (Rawls) 128, 142 Veil of uncertainty (Buchanan) 128, 138, 141, 142 Verkörperungsannahme in demokratischen Institutionen ist präskriptives und deskriptives Wissen verkörpert 205 Verschränkung von Staat und Gesellschaft 15–20, erschien in den Sechziger- und Siebzigerjahren als Folge der strukturellen Eigenarten des Kapitalismus 15–20 Versicherungsargument 141, 229–232, in seiner sophistischen Version besagt es, der Staat habe die Aufgabe, mit der Sozialversicherung das Versagen der privaten Versicherungsmärkte zu kompensieren 230 Vorrang der Demokratie vor der Philosophie (Rorty) Rolle der Philosophie ist nicht nach dem cartesianischen Modell der Architektur, sondern dem deweyschen der Hermeneutik zu deuten 200, Kritik 200–202, lässt sich unabhängig von Rorty vertreten 204–205 Wachstum-vor-Umverteilung beruht auf zwei Teilthesen 152–154 Welfare philosophies 39, 40, 246–301, unterscheiden sich in drei Hinsichten von normativen Theorien, wie der Wohlfahrtsökonomie oder der Gerechtigkeitstheorie 247, verknüpfen Überzeugungen normativer und deskriptiver Art 249 (Keynesian) Welfare state consensus Inhalt 12–15, sein Ende bedeutet nicht das Ende des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus 25, siehe auch: Keynesianischer Wohlfahrtsstaat, sozialdemokratisches Zeitalter Wilt-Chamberlain-Argument (Nozick) 93, 94, 96 Erörterung 93–96, trägt für die Zurückweisung von Umverteilungsinstitutionen wenig aus, siehe auch: Parteilichkeits-Argument Wirkliche Freiheit (van Parijs) 35, 109, 120, Konzept, mit dem van Parijs die

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Michael Schefczyk

https://doi.org/10.5771/9783495997598 .

Sachregister Forderung eines allgemeinen Grundeinkommens rechtfertigt 109–122 Wohlfahrtsstaatlicher Krisendiskurs 13, 20–26, begann nicht als Legitimationsdiskurs 13, zielt nicht auf die Abschaffung des Wohlfahrtsstaates 25, durch die Politikphilosophie bis in die Neunzigerjahre als rein ideologisches Phänomen verkannt 28, Krise des Wohlfahrtsstaats nach Habermas Folge der Verausgabung der arbeitsgesellschaftlichen Utopie 174–176, als Krise der etablierten welfare philosophies 39, 234, Wohlfahrtsstaat als Krisenverstärker 255

Zielkonflikt – zwischen Effizienz und Gerechtigkeit in der Ökonomie 80, 85, bei Rawls hinsichtlich Einkommensumverteilung 156–157 – zwischen Vermögensumverteilung und den Aussichten der nachfolgenden Generation 161 – zwischen Risikoaversion und Erwartungsnutzenmaximierung 227 – zwischen Inklusion in den Arbeitsmarkt und hohen Löhnen 287 Zweck-Mittel-Schema 30, 56, 68, 71

A

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