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German Pages [144] Year 2017
Psychotherapeutische
Typisch Frau, typisch Mann? Die Bedeutung von Genderfragen für die Psychotherapie Rosemarie Piontek und Björn Süfke im Gespräch mit Uwe Britten
V
Herausgegeben von Uwe Britten
Rosemarie Piontek/Björn Süfke
Typisch Frau, typisch Mann? Die Bedeutung von Genderfragen für die Psychotherapie
Rosemarie Piontek und Björn Süfke im Gespräch mit Uwe Britten
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 2 Abbildungen und 2 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-45191-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.com Texterfassung: Regina Fischer, Dönges Korrektorat: Edda Hattebier, Münster; Peter Manstein, Bonn © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Die beiden Geschlechter und ihre Wirklichkeit . . . . . . . . . . . Veränderung als Bedrohung – Veränderung als Lösung . . . . . Welche Wirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überforderungsgefühle durch Flexibilisierungserwartungen Aufbruch in einen offenen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschlechterblinde Therapieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männer und Frauen verstehen – qualitative Forschung . . . . . Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die individuelle Konstruierung des Geschlechts . . . . . . . . . . Biografische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Androgyn oder ganzheitlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 70 83 93 102
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie . . . . . . . 109 Der Zugang zu den Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Der Mut zur Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Vom »Quatschen« zum Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Gleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Verstrickungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Das therapeutische Setting – zu sehr »typisch weiblich«? . . . . 135 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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ebruar 2016. In dem kleinen fränkischen Ort Geisfeld, nahe Bamberg, treffen sich Rosemarie Piontek und Björn Süfke zu einem Gespräch über die veränderten Geschlechterverhältnisse, die Macht von Stereotypen sowie die Notwendigkeit, das Geschlecht im konkreten therapeutischen Geschehen stärker zu berücksichtigen. Diese Themen werden heute überaus kontrovers diskutiert: Von manchen werden die Geschlechterdifferenzen als unerheblich oder jedenfalls marginal für die Psychotherapie erachtet, andere reduzieren die Unterschiede auf physiobiologische und damit eher unveränderbare Prozesse, die es zu akzeptieren gelte, wieder andere insistieren, es gebe im Therapiegeschehen überhaupt keine »neutrale Person«, denn alle Beteiligten hätten immer ein Geschlecht, das hochgradig kulturell bedingt und geformt sei und sich auf den therapeutischen Prozess auswirke. Fehlt also sowohl in der Therapieforschung und -lehre als auch in der psychotherapeutischen Praxis eine dringend notwendige Differenzierung? Müssen Therapeutinnen und Therapeuten nicht viel genauer auf die kultur- und sozialisationsbedingten Geschlechterunterschiede blicken? Rosemarie Piontek, geboren 1955 in der Oberpfalz, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Erzieherin, um anschließend zehn Jahre lang in diesem Berufsfeld zu arbeiten, bis sie das Abitur machte und Psychologie und Erwachsenenbildung studierte. Anschließend war sie drei Jahre lang in der Forschungs- und Bera7
tungsstelle am Lehrstuhl für Klinische Psychologie der Universität Bamberg tätig. Sie machte eine Ausbildung als Verhaltenstherapeutin, approbierte und ist seither in einer Praxengemeinschaft tätig. Der Traumatherapie und der Arbeit mit Menschen mit der Diagnose »Borderline« gilt ihr besonderes Interesse. Seit dem Jahr 2000 ist sie für verschiedene Ausbildungsinstitute als Lehrtherapeutin (VT) und Supervisorin tätig. Im Jahr 2005 war sie zudem Initiatorin und Mitbegründerin des Bamberger Instituts für Gender und Gesundheit (BIGG e. V.). Auf kommunaler Ebene engagiert sie sich in verschiedenen Gremien auch gesundheitspolitisch. Qualität und Transparenz psychotherapeutischer Praxis waren Rosemarie Piontek schon immer wichtig, weshalb sie 2002 das Buch »Wegbegleiter Psychotherapie« veröffentlichte. Ein Ziel des Buches ist es, Klientinnen und Klienten zu vermitteln, welchen Qualitätskriterien eine Psychotherapie zu genügen hat. Ihr leidenschaftlich vertretenes Thema gilt allerdings den Geschlechterstereotypen im therapeutischen Prozess. In Vorbereitung ist ihr Buch »Doing Gender – Umgang mit Rollenstereotypen in der therapeutischen Praxis«.
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Björn Süfke wurde 1972 in Lübeck geboren und studierte in Bielefeld Psychologie. Anschließend absolvierte er die Ausbildung zum Gesprächspsychotherapeuten und arbeitete zunächst in der Jugendhilfe, bis er im Jahr 2000 in die Bielefelder Männerberatungsstelle man-o-mann wechselte. Von Anfang an war es sein großes Anliegen, Therapeutinnen und Therapeuten zu vermitteln, warum und wie bei der Psychotherapie mit Männern besondere psychologische, gesellschaftliche und sozialisatorische Bedingungen berücksichtigt werden müssen. So schrieb er gemeinsam mit Wolfgang Neumann 2004 das Buch »Den Mann zur Sprache bringen. Psychotherapie mit Männern«, in dem es darum geht, wie Männern therapeutisch der Weg zu den unerwünschten Gefühlen gebahnt werden kann. Im Jahr 2008 folgte »Männerseelen. Ein psychologischer Reiseführer«, worin er versucht, Männern wie Frauen die Psyche des Mannes näherzubringen. In jüngster Zeit interessiert sich Süfke verstärkt für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heutigen Mannseins, woraus 2016 das Buch »Männer. Erfindet. Euch. Neu. Was es heute heißt, ein Mann zu sein« resultierte. Außerdem schreibt er Geschichten über das Vatersein, zuletzt »Papa, du hast ja Haare auf der Glatze! Aus dem Alltag eines Vaters«.
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DIE BEIDEN GESCHLECHTER UND IHRE WIRKLICHKEIT
»Die Auflösung der traditionellen Geschlechterverteilung bedeutet, dass nun beide möglichst alles oder jedenfalls vieles können sollen.« Björn Süfke
Veränderung als Bedrohung – Veränderung als Lösung
Frau Piontek, früher konnten junge Frauen kochen wie ihre Mütter, heute können sie saufen wie ihre Väter – ist an dem Spruch etwas dran? Piontek Das Geschlechtsrollenverständnis, also die Zuordnung zu dem, was eine Frau soll und darf, hat sich offensichtlich auf eine anstrengende Weise weiterentwickelt. Es ist nicht so, dass Frauen weniger fürs Waschen, Putzen und Kochen in den Familien zuständig wären. Familien-, Erziehungs- und Beziehungsarbeit sowie das Rückenfreihalten für die Männer, diese Arbeiten sind sehr oft noch wie vor hundert Jahren verteilt, das wird von Frauen weiterhin erwartet. Gleichzeitig ist die Erwartung aber auch, dass sie sich an ursprünglich männliche Erwerbsbiografien, also daran, was die am Männerrollenstereotyp entwickelte Erwerbsbiografie vorgibt, orientieren müssen. Nun sollen sie also offenbar auch Saufkumpaninnen sein. Insofern können sie inzwischen beides. Süfke Oder müssen. Piontek Sie müssen beides können: kochen wie ihre Mütter und saufen wie ihre Väter. Das heißt, die Erwartungshaltung meint: Sei weiterhin eine attraktive Frau, wie man es traditionell von dir erwartet, aber integriere dich gleichzeitig nach den männlichen Regeln in die Erwerbstätigkeit und ins Geldverdienen und in die damit verbundene Konkurrenzsituation des Arbeitslebens. Ich kann mich erinnern, dass es in den Siebziger- und Achtzigerjahren diese Aussage gab: Frauen sollen Mutter, Heilige und Hure sein. Sie sollen alle Bereiche abdecken, die dem männlichen Bedürfnis entsprechen, und ich erweitere das und sage, sie sollen alle Bereiche abdecken, die der modernen Leistungs 12
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gesellschaft entsprechen, und dadurch kommen wir in die heutige Mehrfachbelastung. Ich möchte aber hinzufügen, dass sich eine entsprechende Entwicklung natürlich längst auch bei den Männern vollzieht. Bei Frauen haben wir die ganze Zeit schon diese Mehrfachbelastung und auch die Klage darüber, die ich von den Klientinnen immer und immer wieder höre: Sei eine kochende Mami und sei die beste Freundin deines Mannes, sauf auch mal mit ihm, sei dabei aber möglichst immer sexy und unbeschwert, wenn er abends geschafft von der Arbeit nach Hause kommt. So ein ähnlicher Prozess mit anderen Vorzeichen, glaube ich, wird sich in den Biografien und Lebensgefühlen der Männer vollziehen, und zwar zukünftig immer stärker. Süfke Genau, das sehe ich auch so. Da kommen also auf beide Geschlechter historisch neue Rollenerwartungen und Belastungen zu. Süfke Ja, ich kann das mit der Doppelanforderung nur unterstreichen, und ich sage das nicht in erster Linie, um zu jammern, dass wir Männer es immer schwerer hätten, denn die gleiche Situation kennen Frauen eben seit fünfzig Jahren: Es muss zusätzlich zum klassischen Rollenbild jetzt das andere Anforderungsprofil auch noch erfüllt werden. Und Männer müssen nun eben zunehmend die Beziehungs- und Familienarbeit neu integrieren. Ich habe therapeutisch zwar nicht so viel mit Frauen zu tun, aber ich beobachte an Frauen bei Fortbildungen und bei der Ausbildung etwas ganz Interessantes: Da mache ich häufig eine Übung, um ihnen die männlichen Abwehrmechanismen, wie ich sie nenne, also Rationalisierung und so weiter, nahezubringen, und fordere die Teilnehmenden auf, nicht darüber zu sprechen, sondern sich im Raum aufzustellen. Also, wer hält sich selbst für einen Rationalisierer, für einen Macher, einen SachorienVeränderung als Bedrohung – Veränderung als Lösung
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tierten und Ähnliches. Beim klassischen Abwehrmechanismus des Schweigens und Sich-Zurückziehens stehen dann auf der einen Seite, also beim Pol starker Ausprägung, wirklich immer noch die Männer für sich allein und auf der anderen Raumseite die Frauen. Oder bei der Körperferne, das ist auch so etwas, bei dem wir Männer uns allein auf der einen Seite versammeln und die Frauen, ich nenne sie dann die »Wellness-Fraktion«, auf der anderen Seite. Beim Thema »Leistungsdruck« wird es dann aber spannend, weil sich die Männer dabei zwar auch noch sehr stark auf der einen Seite finden, aber sich dort zunehmend auch viele
Tabelle 1: Männertypische Bewältigungsstrategien (Süfke)
Männer Externalisie- Orientierung am Außen, am Objektiven, am rung: Faktischen Leistungsdruck:
Orientierung an dem, was getan werden muss
Schweigen/ Rückzug und Gesprächsvermeidung Alleinsein: Rationalität: Versuch, »vernünftige« Lösungen zu finden Kontrolle:
Versuch, die Situation unter die eigene Kontrolle zu bringen
Körperferne: Nachlässigkeit im Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Signalen Gewalt:
Abwehr von Hilflosigkeit durch Aggression und Gewalthandlungen
Die Stichworte sind angelehnt an die »Grundprinzipien des Mannseins« von Lothar Böhnisch und Reinhard Winter (1997)
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Frauen einfinden. Frauen haben in dieser Dimension – und ich sage das jetzt mal ohne Bewertung – »aufgeholt«. Für uns Männer beginnt das in der Tat seit fünf, zehn Jahren auch so richtig, dass eben diese Doppelanforderung entsteht: Sei weiterhin erfolgreich im Beruf, sei eine starke Schulter zum Anlehnen und wisse immer weiter, aber sei gleichzeitig emotional, zugewandt, liebevoll. Die Auflösung der traditionellen Geschlechterverteilung bedeutet, dass nun beide möglichst alles oder jedenfalls vieles können sollen. Daraus entstehen Anforderungen, die gleichzeitig gar nicht zu erfüllen sind.
Tabelle 2: Frauentypische Bewältigungsstrategien (Piontek)
Frauen Anpassung:
Unterwerfung, um Frustration aufgrund von Diskrimi nierung und Machtlosigkeit nicht wahrzunehmen
Externalisie- Außenorientierung, Selbstwert wird über andere defi rung: niert, im Sinne von Gemochtwerden, Liebsein und es allen recht zu machen Attributions- Strategie, sich »klein« machen, Erfolge werden stil: anderen zugeschrieben, Misserfolge sich selbst (Konkurrenzvermeidung) »Opferrolle«: Rückzug ins Leid, »gelernte Hilflosigkeit«, Selbst beschuldigung, Vermeidung von Verantwortung Isolation:
Bei Gewalterleben Schamgefühle, sich nicht mitteilen können, allein bleiben
Kontrolle durch Leid:
Rücksicht und Mitgefühl »erzwingen«, Macht durch Aufopferung und moralischen Druck (passiv-aggressiv)
Abhängigkeit:
Wenn es anderen gut geht, dann geht es auch der Frau selbst gut, Selbstwert über die Befindlichkeit andere beziehen
Körperkult:
Körper als »Austragungsort« von selbstwertrelevanten Themen im Zusammenhang mit Weiblichkeit
Veränderung als Bedrohung – Veränderung als Lösung
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Ich zitiere immer gerne die Umfrageergebnisse von Allensbach, in denen Frauen anonym danach befragt wurden, wie sie sich ihren Mann wünschen. Da gibt es dann eben einen Großteil an Frauen, die weiterhin die traditionellen Attribute durchaus offensiv einfordern – allerdings natürlich nur die für sie positiven, denn im Stehen pinkeln soll der Mann von heute in vielen Haushalten nicht mehr – und sich aber gleichzeitig auch wünschen, er solle sich mehr um die Kinder kümmern und emotional zugänglich sein. Wobei das natürlich völlig nachvollziehbar ist, dass man sich beides wünscht, klar, das wäre ja auch eine schöne Sache. Aber wer soll das leisten? Piontek Ja, gleichzeitig alles können zu müssen ist kaum leistbar, aber nicht gänzlich unmöglich, denn es käme ja auf die Gesamtbelastung an. Es gibt eine Gruppe von Frauen – und die werden immer mehr, glaube ich –, die wünschen sich den Marlboro-Mann mit Kochschürze. Wir haben gelernt, ihn sexy und männlich zu finden, den »Cowboymacho«, den starken Mann als Beschützer. Und uns auf der anderen Seite den liebevollen, einfühlsamen Vater unserer Kinder und den Partner als die »beste Freundin« gleich noch mit zu wünschen. Alles in einem, und zwar jederzeit. Ob und wie Männer und Frauen solche Mischungen aber hinbekommen, hängt von der Gesamtbelastung ab. Auf der einen Seite haben wir schon sehr aufgeweichte Geschlechtsrollen, wie sie die Menschheit, zumindest in Mitteleuropa, wahrscheinlich so noch nie gehabt hat. Auf der anderen Seite werden die verengten Rollen nach wie vor kritisiert. Ich sehe da eine Gegenläufigkeit: Wir haben schon erfreulich viel Offenheit, aber die Stereotype werden immer noch massiver kritisiert. Woher kommt das? Süfke Tja, hatten wir das noch nie in der Historie? Wir hatten im 17. und 18. Jahrhundert, also interessanterweise genau zu jener Zeit, als sich mit der aufkommenden Moderne die heute tradi16
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tionellen Geschlechtsrollen herauszubilden begannen, eigentlich schon ein Männlichkeitsideal, das gar nicht so unemotional und »hart« war. Vielleicht waren wir, was die Aufweichung betrifft, eigentlich vor 250 Jahren schon mal weiter, ich meine damit: weiter als beispielsweise vor sechzig und vor allem vor achtzig Jahren. Trotzdem gebe ich Ihnen recht, dass es natürlich in den letzten fünfzig Jahren aufgrund der Veränderungen, die die Frauen initiiert haben, eine Aufweichung der Geschlechterverhältnisse gegeben hat, aber die Aufweichungen sind eben sehr stark zu einer zusätzlichen Dimension geworden, die jetzt auch noch integriert werden muss. Es gibt aus meiner Sicht noch keine Aufweichung in dem Sinn einer »Befreiung« von den Einschränkungen, von diesen belastenden Mehrfachanforderungen, eine Befreiung, so wie ich es mir wünschen würde als Vision, damit Männer und Frauen dann Zugang zu 100 Prozent des Verhaltens- und Erlebensspektrums haben »dürfen«. Aber vielleicht ist das jetzt auch zu negativ dargestellt. Aus meiner Sicht ist es allerdings, zumindest auf Männerseite, wo das ja auch noch ein relativ neues Phänomen ist, sehr stark so, dass eine zweite Dimension dazukommt. Das birgt meiner Ansicht nach – das will ich nicht verschweigen – gesellschaftlich für uns Männer allerdings auch eine riesige Chance, nämlich dass wir uns endlich emanzipieren, wie es die Frauen ansatzweise schon vorgemacht haben, und sagen – darf ich das hier so sagen? –: Jetzt scheiß ich mal drauf auf diese ganzen Anforderungen, sowohl auf die alten als auch auf die neuen, und gucke einfach mal, was eigentlich meine »Männlichkeit« ist – wie geht es denn mir ganz persönlich? Ich glaube, diese Chance haben wir als Gesellschaft noch gar nicht erkannt, da sind wir noch ganz am Anfang. Piontek Das sind ja zwei Punkte. Der erste betrifft die Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung von Geschlechtsrollen, die ist – von der kognitiven Einsicht her – relativ weit verbreitet. Veränderung als Bedrohung – Veränderung als Lösung
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Die Frauen tragen die entsprechenden Wünsche an die Männer heran, also: Sei empathisch, sei sensibel, sei emotional, rede mit mir, frag’ mal bei mir nach, hab’ Mitgefühl, hilf mir bei der Familienarbeit – und die Männer wollen diesen Wünschen durchaus auch entsprechen. Aber im nächsten Punkt geht es um die Umsetzung auf der Handlungsebene! Aus dem »Männerbericht« vom Bundesministerium geht deutlich hervor, dass ganz viele Männer sagen: »Ja, ich möchte gern diese Erwartungen erfüllen.« Sie haben den Wunsch nach der Rolle »des neuen Mannes« in der Beziehung. Wenn aber das erste Kind auf der Welt ist, verändert sich das schlagartig wieder, und zwar nicht, weil sie ihre Einstellung ändern, sondern weil sie feststellen, dass sie das unter den augenblicklichen Lebens- und Erwerbsbedingungen nicht aufrechterhalten können. Sie geraten in eine Überforderung, genauso wie Frauen schon seit Jahrzehnten. Deshalb ist das Thema für mich mittlerweile ein genuin politisches Problem und ein genuin marktwirtschaftliches und ein genuin industriepolitisches Problem. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Erwerbsbiografien verändern können, denn beide Geschlechter stoßen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf an ihre individuellen Grenzen. Der marktwirtschaftliche Druck ist für beide Seiten nicht mehr auszuhalten. Emanzipation bedeutet ja, sich von etwas zu verabschieden, von den Vorgaben der traditionellen Geschlechtsrolle und den mit ihr verbundenen Zwängen. Die Frage, die sich damit aber verbindet, lautet: Wohin soll die Entwicklung stattdessen gehen? Und um diese persönliche Neukonstruktion der Geschlechtsrolle geht es letztlich in der therapeutischen Arbeit, also nicht darum, wie eine Frau die traditionellen männlichen Muster adaptiert oder ein Mann die weiblichen, sondern ich erarbeite in der Therapie die Frage: Wie soll es denn jeweils persönlich weitergehen? Und das im Rahmen der beschriebenen Strukturen! 18
Die beiden Geschlechter und ihre Wirklichkeit
Süfke Ja, da bin ich ganz d’accord und plädiere auch in meinem Buch »Männer. Erfindet. Euch. Neu« dafür. Wenn es darum geht, meine eigene Männlichkeit, meine eigene Geschlechtsrolle zu entwickeln, dann ist das ein individueller Vorgang. Insofern finde ich auch dieses ganze Gerede von »moderner Männlichkeit« … ja, das ärgert mich richtig, denn schon entstehen wieder neue Vorgaben, die mir andere Menschen oder auch die Gesellschaft machen. Für mich ist das alter Wein in neuen Männern! Emanzipation heißt doch gerade, ganz persönlich zu gucken: Was ist meins und was nicht? Zum ersten Punkt möchte ich aber etwas ergänzen. Ihre Aussage, dass das in erster Linie ein strukturelles Problem ist, ist für mich unglaublich schwer zu entscheiden. Klar, es ist ein strukturelles Problem, also dieses Phänomen, das Sie mit dem Rollback ab der Familiengründung beschreiben, diese »Retraditionalisierung bei Elternschaft«, wie die Soziologen es so schön nennen. Da existieren auch Statistiken, die völlig eindeutig und allein in der grafischen Darstellung unglaublich beeindruckend sind. Unglaublich, wie das dann auseinanderdriftet. Klar, es sind die Strukturen, wenn Männer 10 oder vielleicht auch 25 Prozent mehr verdienen als Frauen, gerade Deutschland ist da ein rückständiges Land. Aber auch die Strukturen werden ja gemacht von Menschen mit Vorstellungen in den Köpfen, und eben diese Vorstellungen in den Köpfen bilden die Strukturen. Da sagen viele, sie seien für egalitäre Strukturen, aber im Verhalten? Gerade auch die besser Gebildeten und Akademiker wissen das alles und drücken bei Befragungen eine entsprechende Haltung aus, aber wenn es darauf ankommt, dann … Ich finde das auch in meinem Bekanntenkreis wieder: Das sind alles schon gebildete Leute, relative Gutverdiener, die es sich leisten können, zugunsten der Familienarbeit auf Geld zu verzichten. Aber sobald Kinder ins Spiel kommen, wird – ich sage es jetzt mal flapsig – im Bereich Kindererziehung die MutVeränderung als Bedrohung – Veränderung als Lösung
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ter innerhalb von neun Monaten zur Expertin und der Mann ist bestenfalls noch der Assistent der Geschäftsführung. Ich will keinem den Schwarzen Peter zuschieben, denn der Mann lässt das auch mit sich machen und ist in diesem Sinne mit »schuld« daran, aber die Frauen stecken einfach in ihren alten Rollenvorstellungen, dass das alles nun eben der Mutter zusteht, nur sie diese Aufgaben auch hinreichend gut erfüllen kann. Die Männer haben da oft wenige Chancen. Ich fordere dann immer zwei Sachen: Es müssen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, aber wir brauchen vor allem auch mehr Bildung, mehr Aufklärungsarbeit, damit die Leute wirklich diese Dinge reflektieren. Aber klar, es reicht auch nicht, zu reflektieren, wenn dann die gesellschaftlichen Strukturen es nicht hergeben. Eigentlich war ich etwas optimistischer in meiner Einstiegseinschätzung und habe gedacht, die Geschlechtsrollen seien einigermaßen aufgeweicht und böten ganz viele Möglichkeiten. Sie als Therapeutin und Therapeut sehen aber doch oft, dass ihren Klientinnen und Klienten die praktische Umsetzung schwerfällt. Süfke Das Glas ist sicher halb voll und halb leer. Ich persönlich sehe aber, zugegeben, oft eher das halb leere Glas. Piontek Ich glaube, dass die Betonung des Individuellen nicht ausreicht. Die feministische Bewegung war eine gesellschaftspolitische Bewegung. Deshalb bewirkte sie eine Veränderung der Strukturen. Wir brauchen eine zusätzliche Kraft, um Strukturen zu verändern, damit wir mit dem, was wir an individuellen Bedürfnissen haben, eine Resonanz finden.
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Die beiden Geschlechter und ihre Wirklichkeit
Welche Wirklichkeit?
Autorinnen und Autoren, die die Geschlechtsrollenstereotype kritisieren, müssen immer irgendwo bei der Realitätsbeschreibung anfangen. Wenn ich diese Darstellungen der Realität beider Geschlechter lese – übrigens auch die von Ihnen beiden –, dann habe ich immer den Eindruck, dass diese Beschreibungen nicht stimmen. Woran liegt das? Süfke Was soll da nicht stimmen? Da müssen Sie jetzt schon ein bisschen mehr rausrücken von Ihrer Kritik. Vielleicht wünschen Sie sich auch nur, dass es nicht stimmen möge. Ich habe den Eindruck, dass diese Beschreibungen immer zu polarisiert sind und den wirklichen Aufweichungen der strikten Geschlechtsrollenstereotype in den heutigen Gesellschaften nicht mehr gerecht werden. Piontek Ja, das ist schon so: Ich beschreibe polarisierend, um etwas sichtbar zu machen. So wird es klarer. Aber wir bewegen uns natürlich auf einem Kontinuum, auf dem es auch sehr viele Freiheiten gibt. Bei der Ablehnung solcher polarisierenden Darstellungen spielt aber auch eine Art Verleugnung der Realität eine Rolle. Es ist eine Bewältigungsstrategie insbesondere, aber nicht nur von Frauen, um sich die Anpassung leichter zu machen. Ich sehe den Widerspruch dann nicht, da tut es nicht so weh, sich die Beschränkungen und die Mehrfachbelastungen einzugestehen. Ich werde duldsamer, weil ich dann diesen Widerspruch, in dem ich dauernd stecke, nicht als permanenten Konflikt erleben muss und will und auch psychisch nicht kann. Das ist ein Anpassungsschritt und ein Harmonisierungsschritt. Viele Frauen versuchen damit, wieder kongruent zu werden, damit ihr Fühlen, Denken und HanWelche Wirklichkeit?
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deln irgendwie wieder übereinstimmt. Wenn ich die belastenden Strukturen für unveränderbar halte, kann ich zumindest meine Bewertung der Situation verändern. Ich drehe meine Bewertung so hin, dass ich wieder kongruent bin, und dann ist mein Konflikt kleiner. Also, das wäre eine psychologische Erklärung. Es geht mir eher darum, zunächst polarisierend zu beschreiben, um etwas klarer zu machen, um dann aber selbstverständlich zu betonen, dass es sich um ein Kontinuum handelt. Auf noch etwas aber beziehe ich mich immer stärker, nämlich dass ich die Geschlechtsrollenstereotype unabhängig vom biologischen Geschlecht beschreibe. Besonders bei gut ausgebildeten, berufstätigen Frauen beobachte ich öfter mal, wie sehr sie sich den geschlechtstypischen männlichen Habitus der Geschäftswelt oder in der Wissenschaft zulegen. Was dann auch prompt zu den »passenden« Störungen führt wie Suchterkrankungen oder Burn-out. In der Therapie finden sich Männer, die ganz in der eher weiblichen »Opferrolle« versinken und extrem klagen. Also, die Geschlechtsrollenstereotype lassen sich quasi auch »cross over« finden. Süfke Ja, wie oft habe ich das mit dem Kontinuum schon sagen müssen! Ich rede immer über »durchschnittliche« Beobachtungen und ich rede zum Beispiel nie über geschlechtsspezifisches Verhalten, weil es das nicht gibt, es gibt kaum etwas, was geschlechtsspezifisch ist, außer etwa das Stillen für Frauen. »Geschlechtsspezifisch« hieße doch, dass es grundsätzlich nur eins der Geschlechter macht und machen kann, ich spreche lieber von geschlechtstypischen Verhaltensweisen, beispielsweise bei Gefühlsabwehrmechanismen. Wir reden immer über zwei sich überlappende Kurven in diesem Koordinatensystem. Das ist das eine. Das Zweite betrifft die Tatsache, dass es in bestimmten sozialen Milieus tatsächlich schon viel offener zugeht. Dadurch kommen Sie zu dem Eindruck, dass das alles längst nicht mehr so eng sei. Aber das ist natürlich ganz stark ein selektiver Blick, 22
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der in der therapeutischen Arbeit viel breiter wird. Wer sich in einem hochgebildeten, wahrscheinlich sogar geisteswissenschaftlich hochgebildeten Kreis bewegt, der erlebt natürlich, was die Geschlechtsrollenstereotype betrifft, den progressivsten Teil der Bevölkerung. Unter- und Oberschicht sind da immer etwas weniger progressiv, scheint mir. Aber am wichtigsten ist mir ein anderer Punkt: Ich habe ja in der Männerberatung und -therapie immer die geschlechtstypischen männlichen Abwehrmechanismen im Blick und sage es mal ganz pointiert: Die Männer, von denen ich sagen würde, dass sie letztlich am wenigsten von diesen Abwehrmechanismen geprägt sind, das sind diejenigen, die auch sonst eine eher progressive Lebenshaltung haben. Wenn die meine Bücher lesen, dann reagieren die am ehesten mit einer Bejahung: »Ja, in den Beschreibungen finde ich mich wieder.« Jene Männer allerdings, bei denen ich – ich will das respektvoll formulieren – sagen würde, dass deren Gefühlsabwehr sehr, sehr stark und sehr, sehr rigide ausgeprägt ist, die antworten mir am häufigsten: »Na ja, das betrifft mich ja jetzt nicht so sehr, was Sie da beschreiben.« Sprich: Diejenigen, die solche Darstellungen ihrer Lebenssituation am stärksten abwehren, sind natürlich die, die eigentlich am stärksten davon betroffen sind – und das geht dann in die Richtung, es nicht wahrhaben zu wollen. Oft klingen die Rückmeldungen auf meine Veröffentlichungen dann auch so: ›Na ja, das betrifft ja eher so Kranke, die Sie in Ihrer Praxis haben.‹ Dabei habe ich ein Buch über Männer geschrieben, mit »Kranksein« hatte das gar nichts zu tun. Ich habe vielmehr versucht, über das Männertypische zu schreiben. Und was das betrifft, würde ich schon sagen, dass ich mit einem missionarischen Eifer unterwegs bin. Ich habe eine Utopie, nämlich dass uns diese Geschlechtsrollenstereotype irgendwann nicht mehr so stark einschränken. Aber es bringt nichts, wenn man von dieser Utopie ausgeht und so tut, als wäre sie schon Realität – nur weil einzelne Milieus vielleicht schon etwas weiter sind. Welche Wirklichkeit?
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Piontek Ich glaube sogar, dass man das zuspitzen muss: Es gibt natürlich auch Männer, die sagen: »Ja, klar, bin ich so, das ist doch auch in Ordnung.« Und natürlich gibt es Frauen, die sagen: »Natürlich bin ich die Mama und trage mein Kind im ersten Lebensjahr im Tuch an meinem Bauch und an meiner Brust und es passiert nichts anderes in der Zeit. Ich werde doch mein Kind nicht in die Krippe geben, was wäre ich für eine Mutter?« Wir haben da meiner Meinung nach sogar eine Art Rollback hin zu den traditionellen Polen. Und ich bin nicht so sicher, ob das eine Bildungsfrage ist. Das lässt sich durchaus auch nachvollziehen, denn die Diffusion und die Mehrbelastungen bewirken bei manchen Menschen eine Tendenz zu den eindeutigen Polen. Das bietet Sicherheit. Ich verstehe das. Rückzug in die alten Klischees, das gibt mehr Sicherheit. Ich habe den Eindruck, dass das bei Männern noch ein bisschen stärker so ist als bei Frauen, dass die wieder zurückgreifen auf ihre alten Rollenklischees, um diese Unsicherheit zu bewältigen. Süfke Ich glaube auch, dass das ein genderunspezifisches Phänomen ist. Wo große Verunsicherung herrscht, da stellen sich Tendenzen zu eindeutigen und klaren Polen ein. In Zeiten von Verunsicherung, die wir Therapeuten – ich hoffe, ich darf das so sagen – ja lieben, weil eine Verunsicherung immer die Entwicklungschance enthält, dass sich etwas bessert für eine Person, wird aber eben häufig der Rückgriff auf Altes und vermeintlich Bewährtes gesucht. Das halte ich auch für ein ganz spannendes Phänomen, diese Typologisierung, die in der heutigen Zeit um sich greift. Das gab es zu meiner Jugend so nicht, dass Männer typologisiert wurden, denn da gab es nur ein Männlichkeitsmodell. Jetzt wird in Zeitschriften geschrieben, welche Art von Mann jemand ist. Bei der Aufweichung der männlichen Stereotype werden nun verschiedene Typen kreiert, was in der Brüchigkeit wieder Sicherheit geben soll: »Ich bin eher der und der Typ.« 24
Die beiden Geschlechter und ihre Wirklichkeit
Überforderungsgefühle durch Flexibilisierungserwartungen
Gleich am Anfang des Gesprächs haben Sie beide in Aussicht gestellt, dass Sie eine Emanzipation ohne Mehrfachbelastung wollen – wie soll das gehen? Süfke Nein, ich will eine Emanzipation, die sich befreit von Einfach- wie auch von Mehrfachzwängen. Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen Belastungen. Ich bin Therapeut, deshalb sage ich: Belastungen müssen dem einzelnen Menschen schon zuzumuten sein. Das Belastende, das es auf der Welt nun mal gibt, muss mit der eigenen Persönlichkeit bewältigt werden. Es ist auch gar kein Wunder, dass es am Ende der Therapiesitzungen immer so einen Schweißgeruch im Raum gibt, und zwar sowohl den von mir als auch den von dem Klienten, denn es wurde hart gearbeitet in der Stunde, und zwar an belastenden Inhalten. Nein, gegen die Mehrfachbelastungen würde ich nicht vorgehen wollen. Eine Emanzipation von traditionellen und von neuen mehrfachen Einschränkungen, die hingegen wünsche ich mir durchaus. Auf männlicher Seite hieße das, die traditionellen Vorgaben aufzubrechen und die emanzipatorischen Anteile jeweils individuell für sich zu nutzen, um herauszufinden, wie ich selbst leben will, und zwar völlig egal, ob das traditionell männlich oder nicht traditionell männlich ist. Für mich ist das unabhängig davon, wie belastend das ausfällt, denn auch das, was jemand aushält, ist ja sehr individuell. Mein eigener Emanzipationsprozess beispielsweise hat auch in keiner Weise meine Belastungen reduziert, denn ich habe meine Arbeit, die ich liebe und engagiert betreibe, und zusätzlich kümmere ich mich auch gleichberechtigt mit meiner Frau um die Kinder. Das ist eine hohe Belastung, würde ich sagen, aber es ist meine eigene, die Überforderungsgefühle durch Flexibilisierungserwartungen
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ich mir ausgesucht habe. Das Problem ist nicht die Belastung, das Problem ist die Einzwängung. Piontek Für mich heißt das Stichwort »Geschlechtergerechtigkeit jenseits der traditionellen Geschlechtsrollenstereotype«. Ob diese Geschlechtergerechtigkeit mit mehr oder weniger Belastung verbunden ist, wird individuell sehr unterschiedlich sein. Es wäre für mich, genauso wie für Sie auch, nicht das Hauptkriterium. Aber im Moment ist es faktisch einfach so, dass vielleicht gerade wenig privilegierte Männer und Frauen unter der Mehrfachbelastung ächzen. Sie können oft wenig selbstbestimmt arbeiten, haben schlechte Wohnverhältnisse, sind alleinerziehend oder, oder, oder. Für mich ist wichtig: geschlechtergerechte Aufteilung der Erwerbstätigkeit, der Familienarbeit, von Macht, von Besitz, Kindererziehung und so weiter. Das wäre für mich in Ordnung, dahin müssen wir. Wie jemand das als Lebensrolle ausfüllt, das ist dann wieder im Rahmen seiner ökonomischen und sozialen Bedingungen ein individueller Prozess. Aber ich glaube eben, dass das – da bin ich Feministin: »Das Persönliche ist politisch« – immer mehr ineinandergreifen muss mit Veränderungen der strukturellen Bedingungen. Deshalb ist für mich »Gerechtigkeit« ein ganz wichtiges Wort. Das andere betrifft die individuelle Kongruenz, ob also jemand sein Denken, Handeln und Fühlen als deckungsgleich empfindet. Und das beinhaltet natürlich auch, dass ich unter Lebensbedingungen lebe, die mir diese Kongruenz ermöglichen. Das heißt: Gerechtigkeit und individuelle Konstruktion meiner jeweiligen Lebensrolle. Ich insistiere: Dahinter steckt einmal mehr das Konzept der Flexibilisierung, diese Flexibilisierung also, von der sich ohnehin schon die meisten permanent überfordert fühlen. Sie wollen diesem Prozess das Emanzipatorische abgewinnen, aber viele Menschen reagieren auf die Überforderung eben »bewahrend«. Gut ablesbar scheint das an unsicher gebundenen Personen im Sinne der Bindungstheorie zu beobachten zu sein. 26
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Piontek Bindungstheorie – ein weites Feld! Je stabiler früh gebunden, umso mehr Selbstständigkeit, Risikobereitschaft, Flexibilität und vieles mehr. An wen gebunden? Hauptsächlich an die gebärende Mutter, aber besonders an sie als sozial definierte primäre Bezugsperson? Welche Rolle spielt dabei der oft »abwesende, weniger gebundene« Vater für den Sohn oder die Tochter? Könnte es nicht sein, dass sich die Präsenz beider Elternteile schon ab der ganz frühen Entwicklung des Kindes stabilisierend auswirkt auf die Bindungssicherheit und somit gerade der Grundstein gelegt wird für die Flexibilisierung und vielleicht sogar für die Dekonstruktion der bisherigen Geschlechterrollenstereotype und damit auch für die Flexibilisierung in der Arbeitswelt oder sonst wo? Wenn wir das mal ganz grundsätzlich bedenken, dann lohnt sich diese Phase der Überforderung gerade in der Familienarbeit und der Druck zur Flexibilisierung langfristig. Klar, wir stecken in einem Prozess, der unglaublich viel Verunsicherung mit sich bringt und den Einzelnen viel abverlangt. Süfke Es ist völlig richtig, was Sie sagen: Die Verunsicherung birgt Problematiken. Ich will das auch gar nicht intellektuell-arrogant wegschieben. Gerade jene Menschen, die nicht so gut ausgebildete Möglichkeiten haben, sich reflektorisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, für die sind diese Verunsicherungen sehr schwierig. Übrigens betrifft das auch Kinder, insbesondere Jungen, meistens noch mal mehr als erwachsene Männer. Ich will das nicht kleinreden. Auch an diesem Gerede von der »Tyrannei der Freiheit« ist etwas dran. Wenn ich am Bahnhof in den Café-Shops zwischen einem Dutzend Möglichkeiten für einen Kaffee wählen muss, dann nervt mich persönlich das schon wieder, denn ich habe nicht viel Zeit und ich will einfach nur einen Kaffee trinken. Jetzt aber muss ich erst darüber nachdenken, was genau ich möchte. Wahlmöglichkeiten tyrannisieren also manchmal. Aber ich sage es mal so plakativ: Ich glaube, dass diese Verunsicherung der Gesellschaft und den Menschen zugemutet Überforderungsgefühle durch Flexibilisierungserwartungen
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werden muss, weil die Nichtverunsicherung, die wir jetzt jahrhundertelang hatten, extrem viel Leid hervorgebracht hat, auf weiblicher Seite und auf männlicher Seite. Deswegen ist für mich diese Verunsicherung, so schwer sie zu bewältigen sein wird, alternativlos. Ich möchte dabei aber noch mal auf meinen Punkt zurückkommen, dass es nicht nur die strukturellen Bedingungen sind. Wir müssen jeden Einzelnen darin bilden, mit diesen Unsicherheiten umgehen zu lernen. Für mich muss es vor allem in den Köpfen sehr viel Veränderung geben. Wir reden also über zwei Seiten derselben Medaille. Eine Veränderung von Strukturen allein führt noch nicht zu einer Veränderung in den Köpfen. Eine solche Veränderung in den Strukturen ist beispielsweise das Elterngeld. Es ist explizit gewollt, eine Struktur zu schaffen, die es den Vätern leichter machen soll, in die Erziehungs- und Familienarbeit einzusteigen. Aber was sehen wir inzwischen? Das Elterngeld wird eher als verlängerter Urlaub, als Sommerurlaub, genommen, und danach macht man einfach weiter wie bisher. Damit ist eben nichts gewonnen, dann hat es keine Veränderung in den Köpfen der Eltern gegeben. Deswegen … Piontek Da möchte ich direkt einhaken. Wenn Frauen und Männer gleich viel verdienen würden, wenn Frauen und Männer dieselben Rückkehrchancen in das Erwerbsleben hätten, wenn Männer stärker die Erlaubnis hätten, aus dem Job zu gehen, um ihre Kinder zu betreuen, dann wäre das anders. Wir finden da das Phänomen, dass alte, beruflich hoch etablierte Männer noch viel zu sehr die Macht haben, um die Erwartungen an Erwerbsbiografien zu bestimmen. Diese Männer bestimmen immer noch die Strukturen. Und daran scheitern die jungen Männer genauso wie die Frauen. Das, denke ich, ist nach wie vor etwas, bei dem wir aufhören sollten, immer nur nach den individuellen Lösungen zu suchen. Wir müssen da ein ganzes Stück weitergehen, denn wir lösen individuell diese strukturellen Probleme nicht. Ich bleibe bei 28
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dem alten Motto: Das Persönliche ist politisch. Wieder ein Beispiel aus der Psychotherapie: Eine 45-jährige Frau kommt zu mir in die Therapie und erzählt mir von ihrer Biografie: Bürokauffrau gelernt, zwei Kinder bekommen, Haus gebaut; dann Scheidung, Hilfsjobs im Büro nach dem Wiedereinstieg, Armut, Krankheit. Die Selbstanklage lautet: »Ich habe es so gewollt, schön dumm von mir, selbst schuld.« Dann kann ich ihr sagen: »Wissen Sie, das betrifft nicht nur Sie allein. Da gibt es enorm viele Frauen, gerade in Ihrer Generation, die genau dieses Problem haben. Es ist nicht Ihr individuelles Versagen, sondern es sind strukturelle Merkmale in dieser Gesellschaft, die Sie immer wieder an diesen Punkt bringen.« Wenn wir Therapeutinnen und Therapeuten das aussprechen, dann ist das eine enorme Entlastung. Deshalb ist es mir so wichtig, diesen strukturellen Aspekt zu betonen. Süfke Das finde ich auch, ja. Aber allein mit dem Strukturellen ist es auch nicht getan. Und ich breche mal eine Lanze für diese »alten Männer«: Sie mögen ja irgendwann an die Macht gekommen sein und die Macht haben, aber sie sind in dieser ganzen Problematik nicht nur die »Täter«, sie sind für mich auch Opfer, denn um das alles zu erreichen, haben sie oft auf sehr vieles in ihrem Leben verzichtet, auch auf Dinge, die das Leben sehr viel reicher gemacht hätten. Die jungen Männer und die jungen Frauen heute sind entsprechend auch nicht nur die Opfer der gesellschaftlichen Zustände, sondern sie sind in ihrer täglichen Reproduktion dessen, was in ihren Köpfen ist, eben auch aktive Gestalter dieser Zustände und erhalten sie aufrecht – ohne dass ich ihnen eine »Schuld« zuschreiben will, darum geht es nicht, aber sie tragen auch Verantwortung, wenn sich Dinge nicht ändern. Meine Prognose wäre: Wenn der Gendergraben in der beruflichen Entlohnung in zehn oder zwanzig Jahren bei null läge, dann wären wir immer noch meilenweit entfernt von einer Fifty-fifty-Lösung bei der Kinderbetreuung, und zwar ganz Überforderungsgefühle durch Flexibilisierungserwartungen
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einfach deswegen, weil sich in zwanzig Jahren in den Köpfen von Müttern genauso wie von Vätern nicht so sehr viel verändert haben wird. Schauen wir uns um und sehen uns die gebildeten, aufgeklärten Paare an, bei denen beide etwa gleich viel verdienen und die die Gleichstellung von der Haltung her auch wirklich wollen: Wie sieht da oft die Alltagspraxis aus? Der Veränderungsprozess in den Köpfen ist viel langsamer als bei einer politischen Strukturveränderung, die mal eben beschlossen werden kann. Die Geschlechtergerechtigkeit auf der strukturellen Ebene würde in zwanzig, dreißig Jahren noch nicht automatisch einen Veränderungsprozess in den Köpfen mitbewirken. Piontek Ich glaube nicht »automatisch«, da sind wir uns einig. Ich glaube, dass die Bildung und Aufklärung darüber sehr wichtig sind. Das eine geht allerdings nicht ohne das andere. Die Bedingungen müssen sich wechselseitig entwickeln. Süfke Das ist ja klar. Wir dürfen das aber auch nicht formalistisch betrachten. Politiker reden gerne davon, dass Männer und Frauen beruflich ja nicht dasselbe machen müssten, sondern dass es lediglich darum gehe, dass es Geschlechtergerechtigkeit in dem Sinne geben soll, dass sie grundsätzlich dasselbe machen können. Das ist meines Erachtens viel zu kurz gegriffen. Natürlich, Frauen und Männer können heute beide Kfz-Mechatronikerinnen und -mechatroniker oder Erzieherinnen und Erzieher werden. Insofern gibt es ja Geschlechtergerechtigkeit, ja. Aber es ist doch völlig klar: Solange wir nicht annähernd eine Parität in diesen Bereichen haben, gibt es doch nicht wirklich Gleichheit für Mädchen und Jungen in den Chancen, diese Berufe zu ergreifen. Ein Mädchen hat doch heutzutage nicht die gleichen Chancen wie ein Junge, den Beruf Kfz-Mechatronikerin anzustreben. Das ist weltfremd, so etwas zu behaupten, weil es die ganze psychologische Dimension nicht einbezieht. Wenn eine junge Frau überhaupt keine weiblichen Vorbilder hat in einem Beruf, wenn es offene oder latente Frauendiskriminierungen 30
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gibt, dann hat ein Mädchen nicht die gleichen Chancen, diesen Beruf zu ergreifen. Das Gleiche gilt für Jungen im Beruf des Erziehers. Ein Junge hat heute nicht annähernd die gleichen Möglichkeiten, einen solch frauentypischen Beruf zu ergreifen, weil es an Vorbildern mangelt und so weiter. Insofern glaube ich schon, dass wir weit mehr brauchen als Geschlechtergerechtigkeit. Wir brauchen tatsächlich eine zumindest annähernde Parität.
Überforderungsgefühle durch Flexibilisierungserwartungen
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Aufbruch in einen offenen Prozess
Ich möchte auf den Punkt zurückkommen, dass der Hinweis auf strukturelle Bedingungen einen Klienten sehr entlasten kann: Nicht ich persönlich habe versagt, sondern die kulturellen Strukturen haben es mir auch sehr schwer gemacht. Herr Süfke, setzen Sie diese Strategie auch ein, um Ihren Klienten bewusst zu machen, wie sehr sie kulturell und sozial eingeschränkt werden? Süfke Ja, natürlich! Aber ich sage das nicht in erster Linie als »Strategie«, wie Sie es nennen, um den Klienten zu entlasten – das ist auch nicht meine Aufgabe! –, sondern weil es ja nun einmal die Wahrheit ist: Es gibt diese gesellschaftlichen Prägungen, also müssen wir diese auch erkennen und benennen, um dann gut mit ihnen umgehen und uns vielleicht auch von ihnen emanzipieren zu können. So wenig es Sinn macht, Politiker für die Dinge zu schelten, die ich auf der persönlichen Ebene nicht geregelt bekomme, so unproduktiv ist es, sich selbst beständig für ein Denkmuster oder eine Bedürfnisstruktur zu kasteien, die mir nun einmal gesellschaftlich sehr stark eingeimpft wurde. Dennoch bleibt ja genug zu tun: Wir dürfen die strukturellen Defizite und deren Korrektur nicht ins Private delegieren, klar, aber die Notwendigkeit, dass auch die persönliche, reflektorische Ebene verändert werden muss, bleibt ja stets bestehen. Ich kann die besten strukturellen Bedingungen haben, aber wenn ich persönlich nicht meine individuellen Muster reflektiere, zum Beispiel mit der Partnerin, wenn es um die Kindererziehung geht, dann werden wir all das Traditionelle reproduzieren. Lassen Sie uns noch mal auf den Vorwurf der Gleichmacherei zurückkommen: Beruflich sollen Frauen jetzt »echte Kerle« werden und Jungen im Kindergarten die besseren Mädchen. 32
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Süfke Mir geht es darum, dass Frauen wie Männer, Jungen wie Mädchen prinzipiell alle Möglichkeiten haben. Und solange wir nicht stärker eine zahlenmäßige Parität erreicht haben – also wenn Sie so wollen: Gleichmacherei –, dann gibt es diese Möglichkeiten de facto nicht. Insofern sage ich zu dem Vorwurf der Gleichmacherei, egal, wie provokativ-ablehnend er formuliert ist: Ja, eine zahlenmäßige Angleichung brauchen wir zuerst einmal. Also meinetwegen auch Quote. Aber nicht nur für Frauen, sondern für beide Geschlechter. Wir brauchen an dieser Stelle »Gleichmacherei«. Als Nächstes kommt dann übrigens immer die Frage, ob damit nicht die gegenseitige Anziehung zwischen den Geschlechtern verloren ginge. Als wären wir plötzlich alle exakt gleich, weil wir dieselben Berufe ausüben oder uns gemeinsam um die Kinder kümmern! Das Schreckgespenst »Androgynität« wird dann als grauenvollstes Bild an die Wand geworfen. Wenn Sie mich fragen, müssen wir uns darum gar keine Sorgen machen, denn die individuelle Attraktivität einer Person wird durch eine wahre Emanzipation sicher nicht verlustig gehen. Vielleicht sogar ganz im Gegenteil, wenn wir die engen Muster des Geschlechtstypischen endlich stärker aufweichen und uns nicht mehr so einengen lassen in all diese Schablonen. Piontek Ich bin da immer sprachlos, wenn ich den Vorwurf der Gleichmacherei höre. Die Beseitigung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit hat doch nicht zur Folge, dass dann alle gleich sein müssen. Ich weiß nicht, was dabei herauskommen wird, wenn die Ungerechtigkeiten weniger werden, aber ich hoffe, es kommt etwas Neues dabei heraus. Ich möchte nicht männlicher werden als ein Mann. Und ich möchte auch nicht, dass ein Mann weiblich wird. Es geht erst mal nur um ein Neukonstruieren. Und das, bitte, so kreativ und so offen und so gelassen und so freudvoll und so lustvoll wie nur irgendwie möglich. Das könnte sehr spannend sein. Ungerechtigkeit und Ungleichheit beseitigen bedeutet doch nicht »gleichmachen«. Also, der Vorwurf ist absurd. Aufbruch in einen offenen Prozess
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Die einen haben geradezu Lust dazu, die Geschlechtsrollenstereotype aufzuweichen, zu dekonstruieren, dagegen gibt es andere, die sie eher zementieren möchten, um an ihnen festhalten zu können, um in ihnen Halt zu finden. Medial erleben wir parallel in den letzten Jahren einen großen Hype um all das, was heute »Transgender« heißt. Das ist ein Hingucker und lässt sich gut vermarkten. Süfke Ich finde es schwer zu analysieren, was hier die Beweggründe sind. Beide Reaktionen sehe ich nicht grundsätzlich als falsch oder schlecht an, wenn es dem entspricht, wie man sich selbst tatsächlich fühlt. Das heißt aber eben auch: Wer sich mit dem traditionellen Männer- oder Frauenbild identifizieren möchte und es für sich als stimmig empfindet, der darf auch das für sich wählen. Therapeutisch muss ich das akzeptieren, auch wenn sich bei den betreffenden Menschen vermutlich Ängste finden ließen oder zumindest eine Scheu, sich mit solchen Themen näher auseinanderzusetzen. Letztlich ist das also völlig in Ordnung, wobei diese Personen das einschränkende Potenzial von Stereotypen zumindest in der Kindererziehung berücksichtigen, also prinzipiell selbstkritisch bleiben sollten. Genauso ist Conchita Wurst ein Beispiel dafür, dass jemand die Rollenmuster eben auch stark verändern darf. Natürlich habe ich die Hypothese, dass dieses Auftreten ein rebellisches politisches Statement sein soll. Den Radikalkonstruktivisten und -konstruktivistinnen würde ich schon unterstellen, dass es nicht zuletzt um eine Rebellion geht. Aber auch das möchte ich nicht pauschal beurteilen. Es kann auch einfach sein, dass Conchita Wurst für sich herausgefunden hat, dass er/sie eben Abendkleider schön findet und Bärte ebenso. Und wenn das so ist, bitte … Piontek Ich habe gerade in meinem Kopf nach Klienten und Klientinnen gesucht, bei denen sich dieses Zementieren sehr stark ausdrückt. Mir sind Klientinnen eingefallen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie dreißig, vierzig Jahre lang diese traditionelle Frauenrolle sogar mit Perfektionismus ausgeführt 34
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haben, aber kein Mensch hat auch nur ein einziges Mal anerkannt, was sie wirklich geleistet haben im Rahmen dieser Rolle. Dasselbe gilt auch für Männer, wenn ich zum Beispiel einen Mann in der Therapie habe, der in einer großen Fabrik gearbeitet hat, Schichtbetrieb, dreißig Jahre lang, der Magengeschwüre, Depressionen, Schlafstörungen hat. Beide haben ihre traditionelle Rolle bis zum Umfallen ausgeführt, aber das wurde alles für selbstverständlich gehalten und unbemerkt auch erwartet! Diese Anerkennung muss dann erst mal ich als Therapeutin aussprechen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir erst einmal Komplementarität herstellen sollten: Ich hole dich da ab, wo du stehst. Endlich sagt mal jemand: »Dein Schweinebraten am Sonntag, der ist super, gib mir das Rezept, Klientin.« Oder: »Was du so gemacht hast, mit wie wenig Geld du die Kinder durchgebracht hast in schwierigen Jahren und dass du immer deinem Mann das größte Stück Fleisch überlassen hast, weil der so schwer arbeiten musste, das alles ist eine große Leistung.« Diese Klientinnen – das ist zumindest oft mein Gefühl – müssen an dem strikten Rollenverständnis festhalten, weil sie keine Anerkennung, keinen Respekt, keine Belohnung, kein »Als Person hast du das super gemacht« bekommen haben. Das ist das, was mich dann auch erschüttert. Und dann komme ich da mit meinen Gendergedanken? Wir müssen in der Geschlechtsrollenanalyse gleichzeitig auch mit unserem »Gendergedöns« aufpassen. Das war am Anfang ein Generalfehler, den ich gemacht habe in der therapeutischen Arbeit, dass ich nicht lange genug sowohl das, was Männer, als auch das, was Frauen geleistet haben, anerkannt und positiv bewertet habe. Das ist aber ganz wichtig, nämlich zu sagen:» Das definiert deinen Wert bis jetzt, und deshalb ist das wichtig, auch wenn es dich in die Überforderung und in den Zusammenbruch getrieben hat. Gleichzeitig, schau mal, wie deine Hände aussehen, und schau mal, wie es deinem Rücken geht und wie schlecht du nur noch schläfst.« Empathisch zu sein, Aufbruch in einen offenen Prozess
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zu validieren, was das Leid ist, das daraus erwächst, um dann zu der Überlegung zu kommen, ob es jenseits dieser traditionellen Definition irgendetwas gibt, was persönlich freudvoller und auch lebbar ist. Solange die Anerkennung für das Bisherige nicht ausgesprochen ist, so lange muss am traditionellen Rollenverständnis festgehalten werden, wie krank machend es auch immer sein mag. Süfke Ja, das erst mal auch nebeneinanderstehen zu lassen. Sie haben das so schön gesagt mit dem Anfängerfehler. Ich habe es wahrscheinlich auch am Anfang so gemacht. Heute würde ich sagen, dass das ja eigentlich auch gar keine therapeutische Intervention im eigentlichen Sinn ist. Wenn ich einen Mann vor mir sitzen sehe – bei mir ist es eher ein Managertyp, kein Fließbandarbeiter –, dann sehe ich beides: Ich sehe die Opfer, die er gebracht hat, und kann das als Lebensleistung auch zurückmelden. Er hat etwas erreicht. Ich muss mir auch gar nicht irgendetwas Wertschätzendes aus den Fingern saugen. Es gibt kaum Männer, die ich nach zwei, drei Sitzungen nicht irgendwie auch lieb gewonnen habe, an denen ich nicht etwas Positives entdeckt habe, und dies auch zulassen kann. Ein narzisstischer Manager hat eben auch ganz viele Entscheidungen getroffen, hat Verantwortung übernommen, und zwar auch Verantwortung für andere Beschäftigte. Und was mich am meisten berührt: Der ist bei all seinen Entscheidungen allein und macht Fehler und muss anschließend – ebenfalls allein – für diese Fehler einstehen. Er muss die Entscheidung treffen, und zwar ganz allein, keiner hilft ihm. Und er tut das auch, weil er weiß, dass es einer entscheiden muss. Davor habe ich viel Respekt. So jemand muss anschließend die Prügel einstecken, weil alle anderen es natürlich besser wissen und die Entscheidung ablehnen. Das müssen wir erst mal auch verstehen. Danach kann man das vielleicht immer noch als übertriebenes Pflichtbewusstsein erkennen und in der Überforderung vieler Berufsrollen auch die Chancen zur Veränderung erkennen. 36
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Mein Lieblingsbeispiel ist immer dieses ganze Rationalisieren, das die Männer so betreiben und das sie privat oft in die Beziehungslosigkeit treibt, in die Scheidung und in den fehlenden emotionalen Kontakt zu den Kindern. Aber dass das Rationalisieren sie für die berufliche Laufbahn natürlich extrem weitergebracht hat und dort gut war – das müssen wir eben auch sehen. Piontek Und ich glaube, dass mir da dieser Genderblick in meinen Entwicklungen als Therapeutin enorm weitergeholfen hat, denn in dem Augenblick, in dem ich wirklich dieses Fixiertsein in den Geschlechtsrollen klar hatte, dass sich die Klientinnen und Klienten das nicht ausgesucht haben, ab da konnte ich viel »großzügiger« sein: Ich sehe bei einem narzisstischen Mann in einer Managerposition nun auch, dass für ihn das Rationalisieren eben auch eine Ressource ist. Diese Genderperspektive, dieses Reflektieren darüber, was die Rolle beinhaltet, hat mir für die Arbeit sehr geholfen. Und gerade Ihr Buch »Den Mann zur Sprache bringen« war für mich im Umgang mit Männern total wichtig. Analog zu Ihrem »Bewältigung des Mann-Seins« habe ich dann mal systematisiert, was eigentlich die »Bewältigung des Frau-Seins« beinhaltet. Anpassung und »Sich-klein-Machen« stellen Überlebensstrategien dar! Das heißt, es anderen immer recht machen wollen, »lieb« zu sein, um Gefahren abzuwenden, Verbot offener Aggressionen, in der »Opferrolle« verharren oder dann eben andere durch Leiden zu kontrollieren versuchen, sich unbedingt gemocht fühlen zu müssen, um daraus Selbstwert zu gewinnen, und dann natürlich bloß nicht außerhalb der »Körperkultbühne« aufzufallen – das ist Abhängigkeit. Also, diese Strategien finden sich sehr häufig bei Frauen, und es hilft mir bei der Arbeit, wenn ich das dann auch erkenne und benennen kann. Süfke Das ist ja das klassisch Therapeutische: Je mehr wir verstehen, desto schwerer fällt es uns, einen Klienten abzulehnen. Aufbruch in einen offenen Prozess
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Wenn man therapeutisch auf den Genderaspekt verzichtet, braucht man bei manchen Klienten schon eine große Menge Verstehens, um noch empathisch bleiben zu können. Ich empfand am Anfang meiner Therapeutenlaufbahn so manchen Mann spontan schon echt als »Kotzbrocken«. Unterschwellig machte sich eine Haltung breit, die in etwa so klang: »Den muss ich jetzt therapieren, damit seine Frau und die Kinder nicht zu sehr unter ihm leiden.« Aber das gibt es heute nur noch sehr selten. Manchmal denke ich noch: »Wie der jetzt mit mir spricht, das ist irgendwie echt zum Kotzen.« Manchmal drücke ich das auch aus und sage dem Mann: »Ganz ehrlich, Herr XY, wie Sie so mit mir sprechen, mit dieser Strenge, da ergreife ich innerlich schon etwas die Flucht, damit ich von Ihnen keinen verpasst bekomme! Aber das möchte ich ja eigentlich nicht, ich möchte ja lieber mit Ihnen im Gespräch bleiben. Doch diese Härte bei Ihnen, gegen sich selbst und gegen andere, meine Herren, hammerhart! Ich frage mich, wer wohl so mit Ihnen gesprochen hat?« Wenn man also diesen Genderhintergrund sieht, dann versteht man einfach mehr. Es ist dann schwer, jemanden »doof« zu finden. Lassen Sie uns noch mal auf dieses »Typische« zurückkommen. Ich beobachte oft einen bestimmten Effekt: Wenn uns jemand sagt, wir hätten uns in einer Situation typisch als Mann oder typisch als Frau verhalten, dann können wir das ganz schlecht stehen lassen. Obwohl wir gleichzeitig doch eine hochgradige Identifikation gerade mit unserer Geschlechtsrolle haben. Woran liegt das? Süfke Weil eine Bewertungsdimension mitschwingt. Genau darum geht es. Das ist diese vermaledeite Krux, die hinter allem steht, worüber wir hier reden. Es gibt eine eklatante Frauenabwertung und eine eklatante Männerabwertung. Beides. Und beides bereits seit Jahrhunderten. Es ist ja Quatsch, zu denken, die Männerabwertung sei ein sehr modernes Phänomen, nein, 38
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die gibt es seit mindestens zweihundert Jahren, dass wir Männer als böse, sexbesessen, triebgesteuert oder aggressiv deklariert werden und die Frauen eben als passiv, ein bisschen dümmlich (oder »dämlich«) und zu höheren Kulturleistungen nicht fähig. Diese beiderseitige Abwertung von Geschlecht, die schwingt da eben mit – und schon sind wir persönlich gekränkt. Ich erlebe das häufig, weil ich zum Beispiel bei Veranstaltungen genau dieses Wort benutze: geschlechtstypisch. Ich meine von mir sagen zu können, dass in meinem Gebrauch des Wortes kein Hauch von Abwertung steckt, weil ich keinen empfinde, aber er wird natürlich sofort hineininterpretiert und dann erlebe ich sofort diesen Effekt. Es müsste gelingen, diese Abwertungen zu vermeiden, aber immer und immer wieder werten Männer Frauen ab, was diese alles vermeintlich nicht können, und Frauen machen das mit Männern ebenso. Wir werten das andere Geschlecht unentwegt ab. Piontek Das sehe ich genauso, dass diesen Etiketten »typisch männlich« und »typisch weiblich« einer Bewertungsfolie unterliegt. Ich glaube aber, dass die Abwertung nur eine Dimension ist, dass es aber auch andere zusätzliche Dimensionen gibt. Diese Abwertungen sind für beide Geschlechter unterschiedlich, haben unterschiedliche Muster. Für Frauen bedeutet ihre Abwertung tendenziell eher Machtlosigkeit und Gefahr. Für Frauen ist im Schlepptau von Abwertungen oft eine viel existenziellere Bedrohung vorhanden, denken wir nur an Vergewaltigungen. Obwohl ich weiß, dass Männer untereinander gewalttätiger sind als Männer Frauen gegenüber, ist dieses Bedrohungspotenzial im Schlepptau der Abwertung ein anderes. Außerdem müssen wir auch wieder Abwertung und Macht in Zusammenhang bringen. Die Folge von Abwertung bei Frauen zeigt auch eine große Entmachtung. Das ist bei Männern nicht zwangsläufig so. Ja, wir reagieren auf Stereotype mit Abwehr, weil wir all dieses, was es im Gefolge mit sich bringt, für uns nicht als zutrefAufbruch in einen offenen Prozess
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fend spüren wollen, insofern »Abwehr«. Die Unterschiede zwischen der Abwertung von Männern und der von Frauen müssen wir allerdings im Blick behalten. Frauen werden durch Männer von der Teilhabe an gesellschaftlicher Macht und an Besitz ferngehalten. Süfke Bei Ihnen ist jetzt eine Bewertungsdimension drin, die ich teile, aber auch wieder nicht. Natürlich sind es erst einmal zwei Dimensionen, die nicht völlig unabhängig voneinander existieren: Das eine ist die Machtdimension, darüber brauchen wir nicht zu reden, die ist klar. Das andere ist die Dimension der Abwertung, und die, finde ich, ist erst mal immer gleich schlimm. Sie sagen ja auch ganz richtig, dass Männer grundsätzlich noch häufiger Opfer von Gewalt sind als Frauen, aber sie sind eben Opfer männlicher Gewalt. Es werden viel mehr Männer als Frauen ermordet. Ich spreche mal von »Diskriminierung« statt von »Abwertung« an dieser Stelle. Die Diskriminierung, die mit den Abwertungen zusammenhängt, die Diskriminierung, die Frauen erlebt haben und weiterhin erleben, im Bereich Gewalt beispielsweise, aber vor allem auch im Bereich fehlender Teilhabe an Machtstrukturen, ist eine nicht zu negierende und nicht zu unterschätzende Tatsache. Gleichzeitig führen aber Diskriminierungen, vermittelt über die männliche Geschlechtsrolle, beispielsweise dazu, dass Männer früher sterben, also weniger Lebenszeit haben, oder im Bereich der Vaterschaft sehr viele Verluste erleiden, menschlich-emotionale Verluste. Diese Diskriminierungen und das Leiden, das damit einhergeht, sind für mich auch harte Fakten. Das wollte ich mit der Betonung sagen, dass es sich um Bewertungen handelt, die ich teile, aber gleichzeitig die Einseitigkeit nicht stehen lassen möchte. Und ich will um Gottes willen das nicht gegeneinander aufwiegen. Damit, dass ich die männliche Diskriminierung, also die, die Männer erleiden, betone, will ich in keiner Weise Diskriminierungen, die Frauen 40
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erleiden, abschwächen – das ist etwas, was mir gerne unterstellt wird, wenn ich über männliche Diskriminierungserfahrungen spreche, wo ich mich ständig rechtfertigen muss. Es geht nicht um einen Leidenswettbewerb … Piontek Nein. Mir geht es lediglich darum, zu sagen, dass es unterschiedliche Abwertungen mit unterschiedlichen Effekten in ganz unterschiedlichen Kontexten gibt. Das heißt eben auch, dass wir für beide Geschlechter sensibel hinschauen müssen, was die Diskriminierungen, was die Abwertungen und was der Ausschluss von Macht bedeuten.
Aufbruch in einen offenen Prozess
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GESCHLECHTERBLINDE THERAPIEFORSCHUNG
»Der Genderaspekt wäre eigentlich als Querschnittsaufgabe in allen Bereichen notwendig, egal, ob in der Epidemiologie, Diagnostik, in störungsspezifischen Workshops.« Rosemarie Piontek
Empirie
Es lässt sich bis heute beobachten, dass in Forschung und Wissenschaft das Geschlecht oft gar nicht wahrgenommen wird, das geht hinein bis in die statistischen Auswertungen. Wenn aber statistisch das Geschlecht nicht berücksichtigt wird, dann beschreibt man ein Wesen, das es gar nicht gibt. Hier existiert also eine gewisse Blindheit für Geschlechterunterschiede. Süfke Ja. Ich erinnere mich an eine Situation im Studium, da wurden wir mit für mich recht überraschenden Befragungsergebnissen konfrontiert. Es ging um eine Stichprobe zu Persönlichkeitsfaktoren. Damals hatte ich noch gar nicht damit begonnen, mich mit Genderfragen eingehender auseinanderzusetzen. Es war die Rede von 1.300 »Menschen«. Ich habe den Dozenten damals gefragt, was das denn für Menschen gewesen seien. Woraufhin er erst mal blättern musste und antwortete: ›Ja, ja, Moment, ich muss mal nachgucken, hier: An Soldaten wurde das erfasst.‹ Mal abgesehen davon, dass da also ausschließlich Soldaten untersucht wurden, waren es zudem also ausschließlich Männer. Das wurde uns in den Neunzigerjahren als »empirische Forschung« verkauft. Wir müssen aber auch gar nicht so weit zurückgehen, die Psychotherapie ist für mich weitgehend immer noch geschlechterblind. Die meisten Ausbildungsinstitute haben so etwas wie Genderthemen ja noch gar nicht im Programm. Ich persönlich würde sogar noch viel weiter gehen. Die ganze Psychotherapie, das ganze Setting als solches, ist schon frauenzentriert, ist ja auch von Männern an Frauen und vorrangig für Frauen entwickelt worden. Ich bin manchmal an Ausbildungsinstituten unterwegs, da bestreite ich einen Seminartag, also sechs Stunden, mit dem Thema »Männer als Klienten«. Wenn die Aus44
Geschlechterblinde Therapieforschung
zubildenden Glück haben, werden ihnen noch zwei Seminare angeboten, in denen frauenspezifische oder -typische Inhalte angeboten werden. Das war es dann aber auch. Meistens wird immer noch ausgebildet für eine Psychotherapie mit »Menschen«. Piontek Ich sehe das auch so. Der Genderaspekt wäre eigentlich als Querschnittsaufgabe in allen Bereichen notwendig, egal, ob in der Epidemiologie, Diagnostik, in störungsspezifischen Workshops oder was auch immer. Eigentlich müsste ich diese Folie überall drüberlegen. Ebenso wenn es um Zielklärung, um Werteklärung, um Interventionen oder im Selbstmanagementmodell der Verhaltenstherapie am Sieben-Phasen-Modell entlang oder um die Beziehungsgestaltung geht, überall ist der Genderaspekt einfach nicht wegzudenken. Süfke Ja, das Bild mit der Folie ist gut. Man kann die ja später auch wieder wegnehmen, wenn man bei etwas sieht, dass es keine nennenswerte Geschlechterdifferenz gibt, aber erst einmal müsste man auf alles durch eine solche Folie blicken. Piontek Ich persönlich habe sogar die Erfahrung gemacht, dass »Gender« in einem Ausbildungsinstitut mal explizit im Programm war, als das wohl mal »in« und notwendig erschien, aber plötzlich flog ich mit dem Thema wieder raus und sollte andere Themen übernehmen. Es schien also mal wichtiger gewesen zu sein, jetzt ist es auf einmal nicht mehr wichtig. Stattdessen geht es viel um Diagnosen, Physiologie, Medikation und störungsspezifische Themen. Da findet eine Einengung auf Diagnostik und Störungswissen statt. Was auch auffällt, das ist so eine Art Eklektizismus: mal hier EMDR und da ein Häppchen Hypnose und dann wieder Schematherapie, ja, und Akzeptanz- und Commitmenttherapie und DBT nicht zu vergessen. Das sind alles interessante, hilfreiche und wichtige Methoden, aber diese Schmalspurfortbildung mit einem einzigen Workshop für eine Methode, die viel mehr Wissen und praktische Übungen bräuchte, finde ich eher unproEmpirie
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fessionell. Falls das aber nur mal zum Reinschnuppern gedacht ist, um Interesse zu erwecken, dann wiederum bedeutet es eine Mehrbelastung für die Teilnehmenden, und die laufen ohnehin alle schon am Anschlag! Was mir eben oft auffällt, ist, dass die Teilnehmenden oft alles über Depression wissen, aber kaum mal darüber, wie sie einen Sitzungsablauf gestalten sollen. Es ist unklar, wie aus der Klage über die Symptome und die Leidgeschichten einer ununterbrochen redenden Klientin sinnvolle Ziele für die Therapie entwickelt werden. Wie wird ein Therapieverlauf von fünfundzwanzig Sitzungen aufgebaut? Es wird anscheinend gehofft, dass diese Basics »nebenbei« vermittelt werden. Das Gleiche scheint auch für das sehr wichtige Genderthema zuzutreffen. Süfke Weil wir es ja vermeintlich überwunden haben … Piontek Ich habe jahrelang einen Workshop »Gender in der Psychotherapie« angeboten, der abgeschafft wurde. Mir wurde stattdessen angeboten, einen zu »Gesprächsführung unter dem Gender- und dem interkulturellen Aspekt« zu übernehmen. Da bin ich vom Glauben abgefallen. Alles drei sind sehr wichtige Themen, sie sind aber viel zu viel für einen einzigen Workshop und werden dadurch marginalisiert – und das in einer Zeit, in der immer mehr Menschen therapeutische Hilfe brauchen, die aus einem anderen Kulturkreis kommen. Da packen wir alles zusammen und reden hierüber ein bisschen und darüber ein bisschen. Ich hatte den Workshop zehn Jahre lang durchgeführt. Die Teilnehmenden fanden ihn sehr erhellend und hatten wichtige Erkenntnisse. Es kam immer wieder als Rückmeldung, dass sie viele Aspekte noch nie unter diesem Blickwinkel gesehen hätten, aber … Nachdem der Workshop abgeschafft war, kamen Einzel supervisandinnen, die anfragten, ob sie bei mir Einzelselbst erfahrung unter dem Genderaspekt machen könnten. Es ist doch nicht so, dass die Auszubildenden das nicht wollen. Auch in die 46
Geschlechterblinde Therapieforschung
Gruppensupervision kommen bei mir viele, weil sie sagen, dass sie die Genderperspektive stärker berücksichtigt haben möchten. Süfke Es wäre mal eine interessante Untersuchung, die Sie bei Ihren Supervisandinnen durchführen könnten, nämlich mit welchen Fällen sie Probleme haben. Meine Prognose wäre nämlich, dass es zum überwiegenden Teil gegengeschlechtliche Klienten, also Männer, sind, die von Frauen als Problemfälle wahrgenommen werden. Piontek Jedenfalls geht es immer um die Beziehungsebene. Süfke Ja, das ist ganz offensichtlich. Ich erlebe bei Fortbildungen, die häufig auch von Frauen besucht werden, deren eklatante Probleme beim Verstehen von Männern – und ich kann das auch völlig nachvollziehen, denn auch ich wäre wahrscheinlich ein grauenhafter, zumindest ein völlig überforderter Frauentherapeut. Männertypische Kommunikationsformen oder Abwehrmechanismen sind für Frauen oft schwer nachzuvollziehen, können aber auch nicht einfach ignoriert werden, denn sie sind nun mal Realität. Piontek Mir ist dabei auch noch die Epidemiologie ganz wichtig, wenn wir uns also ansehen, wie die Erkrankungen diagnostiziert werden – und ich sage bewusst diagnostiziert werden, denn Diagnosen sind Konstrukte, die unsere subjektive »Wirklichkeit« noch mal reduzieren und verengen. Es sind deutliche Geschlechtsunterschiede im Hinblick auf die Diagnosenverteilung zu beobachten. Ich bin immer noch überrascht darüber, dass die Epidemiologie mit ihrer zugrunde liegenden Diagnostik so wenig Folgen hat für die konkrete Psychotherapie. Warum ist das so? Es wird mittlerweile bei den Fachleuten registriert, dass bei Frauen fast alle psychischen Diagnosen häufiger vorkommen als bei Männern, bis auf Alkohol- und Drogensucht, Suizidalität und bestimmte Persönlichkeitsstörungen. Der Frage, woher das kommt, wird aber wenig qualifiziert oder gar nicht nachgegangen – Anne Maria Möller-Leimkühler von der Ludwig Maximilian Universität in München hat zum Beispiel dazu veröffentlicht. Empirie
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Es könnte sein, dass die Diagnosekriterien zu ungenau sind und nicht beide Geschlechter gleichermaßen abbilden. Daraus erwachsen dann nicht gegenderte Fragebogen. Die Störungsmodelle sind zu ungenau. Mittlerweile gibt es die Bezeichnung »Male Depression«, weil sich die Symptome von Depressionen bei Frauen und Männern unterscheiden. Auch das Diagnoseverhalten von uns Fachleuten scheint nach geschlechterstereotypen Mustern abzulaufen, mal ganz davon abgesehen, dass Männer zögerlicher sind, was das Hilfesuchen angeht. Auch das Klageverhalten der Klientel ist unterschiedlich, Frauen beziehen zum Beispiel beim Arzt ihre psychische Befindlichkeit in die Klage mit ein, Männer eher nicht. Sie müssen spezifisch gefragt werden, und mal ehrlich, welcher Arzt oder welche Ärztin tut das wirklich? Männer bekommen erst mal körperliche Erkrankungen diagnostiziert und bei Frauen wird schneller eine »Psycho-Diagnose« gegeben. Wenn wir das jetzt weiterführen, dann kommen wir bei den therapeutischen Veränderungsmodellen an, bei den Interventionen, der Art der Gesprächsführung, der therapeutischen Beziehung! Zum Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit hat Monika Sieverding schon vor Jahren ein gutes Modell entwickelt, das aber einfach nicht flächendeckend gelehrt wird. Bei den Zwangsstörungen gibt es das Phänomen, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen nicht ganz so groß ist wie zum Beispiel bei Depressionen, Ängsten und so weiter. Da wäre es doch mal spannend, zu fragen, warum ausgerechnet bei Zwangsstörungen der Unterschied zwischen den Geschlechtern geringer ist. In einem Grundlagenwerk über die »Klinische Psychologie der Frauen« von Alexa Franke und Annette Kämmerer sollte so etwas formuliert werden. Festgehalten wird einzig, dass Frauen eher Waschzwänge haben und Männer eher Kontrollzwänge. All diese Fragen, die sich aus einer kritischen Sicht auf die Epidemiologie, also auf die Wahrnehmung von Symptomen und die Zuweisung von Diagnosen, sichtbar 48
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machen lassen, werden zum Thema »Zwangserkrankungen« gar nicht erst formuliert. Das geht doch gar nicht! Wir sind also auch, was die empirische Forschung betrifft, völlig unterbelichtet, ist das so? Piontek Ja, absolut. Es gibt Daten, die noch nicht einmal nach Geschlechtern ausgewertet werden, auch heute noch. Gerade im Mainstream-Forschungsbereich finde ich diese Blindheit skandalös. Stattdessen werden Womenstudies, Genderstudies oder Männerforschung als Inseln betrieben, die im Mainstream gar nicht aufgenommen werden. Aber es handelt sich um eine Querschnittsaufgabe, nicht um eine Nische. Und die Frauen und Männer, die sich damit beschäftigen, die machen das meistens richtig gut. Gelungene Beispiele sind für mich »Psychotherapie und Gender« von Brigitte Schigl sowie »Irrsinnig weiblich – psychische Krisen im Frauenleben« von Beate Wimmer-Puchinger und Kolleginnen. Damit kann man etwas anfangen. Und sie leitet richtig gute Ideen aus ihren Beobachtungen ab. Da lässt sich aus der Empirie auch qualitativ einiges ableiten. Süfke Ich habe zwar keinen breiten Forschungsüberblick, aber ich stimme auf jeden Fall zu, dass sich da in den letzten zwanzig Jahren nicht so wahnsinnig viel getan hat, manches ist vielleicht sogar rückläufig. Wir haben bei ganz vielen Daten zudem eine männliche Unterstellung, die Daten, die präsentiert werden, entsprechen eher einer männlichen Norm, einem männlichen Durchschnitt. Die Wissenschaft war lange Zeit völlig von einem männlichen Blick auf die Welt geprägt, auch das gesamte zwanzigste Jahrhundert über. Süfke Das weiß ich gar nicht, ob es wirklich dieses Phänomen heute noch gibt, dass sozusagen Menschsein gleich Mannsein impliziert. Aber es ist genau, wie Rosemarie Piontek sagt: Wenn Empirie
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diese Folie nicht drübergelegt wird, fehlt definitiv etwas, sodass unsere Wahrnehmung eingeengt und auch verfälscht wird. Das ist auch gar keine revolutionäre Bemerkung, wenn wir feststellen, dass das Geschlecht in vielen Situationen des Lebens eine große Rolle spielt. Wir wissen alle, dass es die erste Wahrnehmungskategorie ist, wenn uns auf der Straße jemand entgegenkommt. Das Erste, was wir feststellen, wenn wir jemandem begegnen, ist sein beziehungsweise ihr Geschlecht, und zwar noch vor der Hautfarbe. Sich damit nicht eingehend zu beschäftigen oder, um konkreter zu werden, bei unseren vielen Bemühungen, Psychotherapie wirkungsvoller zu machen, diese Kategorie weiterhin noch so stark auszublenden, das ist schon erstaunlich. Auch in Anbetracht heutiger Effizienzerwartungen. Ich persönlich habe ja nur mit Männern zu tun, insofern fehlt mir persönlich der konkrete Vergleich, aber es ist für mich völlig offensichtlich, das sehe ich ja an den Supervisionen in Fortbildungen, dass die erfolgreichen Beratungsgespräche mit Männern und die mit Frauen sehr unterschiedlich verlaufen von der ganzen Ansprache her, von der Settinggestaltung und so weiter. Da müsste es doch unter Effizienzgesichtspunkten ein Interesse geben. Es ist schon aufschlussreich, warum das nicht passiert. Das ist auch deshalb verblüffend, weil viele Daten nach Geschlechtern ausgewertet sehr spannende Einsichten zutage fördern, plötzlich tun sich völlig neue Bezüge auf. Die Wissenschaft lebt ja von ihrer Differenzierungsfähigkeit, da könnte man also mit einer konsequenten Auswertung nach Geschlecht richtig punkten … Süfke Sehr interessant ist, dass sich mit dem Bereich Männerberatung und -therapie auf Forschungsseite wiederum stärker Frauen befassen. Das findet sich auch auf Tagungen wieder, zumal uns ja klar sein muss, dass es beispielsweise auch auf Tagungen zur Täterarbeit vorrangig um männliche Täter geht. 50
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Auch hier also ist das Soziale eine Frauendomäne. In meinen Fortbildungen frage ich immer, wie hoch der Männeranteil am jeweiligen Ausbildungsinstitut insgesamt ist, und mache meistens die Erfahrung, dass der Männeranteil in meinen Seminaren noch geringer ist als ohnehin schon. Männer interessieren sich für Männer weniger als Frauen. Es gibt also ein höheres Interesse von Frauen auf wissenschaftlicher und auf therapeutischer Ebene auch für die Männerthemen. Mein Eindruck ist, dass vielleicht dieser Geschlechtseffekt häufig ausgeblendet wird, weil es für die Männer unbequem werden könnte. Ich sage es jetzt erst mal ganz mitfühlend: Ein Mann, der zu mir in ein Seminar kommt zu »Psychotherapie mit Männern«, weiß ja, dass es darin auch um ihn selbst als Mann und nicht nur als Therapeut geht. Die Frauen, die kommen, haben es viel leichter, denn sie können es sich in ihrer Professionalität bequem machen. Das sage ich auch immer zu den Männern, um ihnen ein bisschen die Angst zu nehmen, denn für den Mann wird es im Fortbildungsseminar auch persönlich, er selbst wird zum »Objekt« der Betrachtung. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass die Männer spüren, dass sie häufig auch »schlecht wegkommen« dabei. Es ist schon meistens so, dass viele Ergebnisse bezüglich des Sozialverhaltens und des Umgangs mit Emotionen – oberflächlich betrachtet – wenig charmant sind für uns Männer. Vielleicht gibt es da also eine ganz verständliche Abwehr.
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Männer und Frauen verstehen – qualitative Forschung
Bei vielen vermeintlich männlichen Verhaltensweisen herrscht schnell ein negativer, abwertender Blick vor. Wir könnten Männern gegenüber durchaus etwas mehr Empathie entgegenbringen und erst mal im verstehenden Modus bleiben. Einige dieser Fähigkeiten sind nämlich auch sehr konstitutiv für eine Gesellschaft. Süfke Da sind wir auf einer Mission. Ich vermute, dass Frauen bei ausgewiesenen »Frauenseminaren« nicht wegblieben. Sie setzen eher voraus, dass sie darin erst einmal verstanden werden. Süfke Ja, da rennt man offene Türen ein. Männer weichen da eher aus, befürchten nichts als Vorwürfe. Piontek Ich finde, das ist alles gar nicht so verblüffend. Sehr viele der männlichen Bewältigungsstrategien sind einfach nicht kompatibel mit emotionaler Selbstreflexion und mit Psychotherapie, das ist einfach so. Männer können da oft etwas nicht. Aber ich will das noch mal von einer anderen Seite aus betrachten: Ich selbst habe mich aus der feministischen Psychotherapie entwickelt. Darin spielten Begriffe wie Androzentrismus und Doppelstandard der psychischen Gesundheit eine Rolle – »Doppelstandard« meint, dass für Männer und Frauen unterschiedliche Merkmale und Maßstäbe für Krankheit und Gesundheit angelegt werden. Das »Männliche« galt lange Zeit als das eigentlich Gesündere. Es beinhaltete Durchsetzungsfähigkeit, Stärke, Rationalität, Strukturiertheit – all diese Eigen52
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schaften galten als gesund, sie waren das Ziel, wohin es bei einem Menschen gehen sollte. Frauen hatten nun das Problem, dass sie, wenn sie diese Eigenschaften auch entwickelten, als unweiblich diffamiert wurden. Dann plötzlich waren die Merkmale doch falsch – das ist eben dieser Doppelstandard. Aber da hat sich nach meiner Beobachtung etwas massiv verändert in den letzten zehn, zwanzig Jahren. Das könnte mit ein Grund dafür sein, warum Männer gerade in unserer Profession und gerade diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, so stark verunsichert sind. Zum einen stoßen sie auf sehr selbstbewusste Frauen, zum anderen sind die vermeintlich männlichen Eigenschaften im sozialen Miteinander und in sozialen Berufen stark in Misskredit geraten. Süfke Ich würde sogar sagen, dass sich das ins Gegenteil verkehrt hat. Da merken wir plötzlich das Wesen von Definitionsmacht. Wo eben früher die Männer die Definitionsmacht hatten, da haben sie natürlich sich selbst als gesund und die Abweichungen davon als krank definiert. Heute ist das weitgehend umgekehrt. Das sieht man sehr schön bei den Beurteilungen von Jungen: Ein Junge zu sein beinhaltete vor fünfzig Jahren Aspekte wie Wildheit, Indianer und Cowboy sein, Sportlichkeit und Ähnliches. Stellen wir dem die heutigen Bewertungen gegenüber: Wildheit steht heute für ADHS, Cowboy und Indianer ist militaristische Unterdrückung … Ich will damit überhaupt keine Nostalgiewelle heraufbeschwören, aber es ist schon spannend, wie das in einer tatsächlich historisch relativ kurzen Zeit umkippen konnte. Wenn man heute mal sieht, wie mit ADHS-Diagnosen um sich geschmissen wird für Kinder – vor vierzig Jahren hätte man bei so manchem davon gesagt: »Das Idealbild von einem Jungen.« Wir müssen das gar nicht bewerten, wir sollten es aber feststellen. Piontek Ich finde, dass diese Entwicklung auch ökonomisch bedingt ist. Ein Beispiel: Die Krankenkassen stellen plötzlich fest, dass immer mehr Männer aufgrund von Depressionen über einen Männer und Frauen verstehen – qualitative Forschung
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langen Zeitraum krankgeschrieben werden. Das hat auch etwas mit dem veränderten Diagnoseverhalten zu tun, denn durch die Etikettierung der Depression als »Burn-out« erkranken plötzlich auch die karriereorientierten Männer mit ihrem Workaholic-Verhalten. Dass sie sich völlig überarbeitet haben, das zeugt nämlich von männlicher Härte, das ist für sie annehmbarer, als eine »Depression« zu haben, was eher als weiblich und schwach gilt. Auch die Kassen stellen also fest: Aha, psychische Erkrankungen können auch Männer haben, und das kostet das Gesundheitssystem einen Haufen Geld. Dann wird das Phänomen differenzierter untersucht, Forschung gestartet, Fragebogen werden erstellt und verschickt und plötzlich gibt es eine »Male-Depression«. Ähnlich verlief das beim Herzinfarkt, allerdings in Bezug auf die Diagnosekriterien bei Frauen! Der Präventionsaspekt gewinnt bei Männern sowohl therapeutisch als auch für das Gesundheitswesen an Bedeutsamkeit. Die Zielgruppe der Männer als Präventionsneulinge – Männer als Präventionskunden – wird plötzlich wichtig. Nun stellt sich endlich die Erkenntnis ein, dass die Bewältigungsstrategien von Männern im Hinblick auf ihre Gesunderhaltung dysfunktional sind. Das wiederum schlägt sich nieder in den Krankschreibungen und in den Statistiken der Krankenkassen. Es heißt also auf einmal: Aha, wir müssen einen Topf aufmachen für die Prävention bei jenen Krankheiten, die vor allem bei Männern auftreten. Schon wieder reden wir über Strukturen … Süfke Ja, ja, stimmt, ich sehe das ähnlich, auch hier müssen wir wieder die strukturelle Komponente ergänzen. Auch die Frauenbewegung hätte nicht so schnell so viel schaffen können, wenn es nicht eine wirtschaftliche Notwendigkeit gegeben hätte, die Frauen an die Arbeitsplätze zu bringen. Ich habe viel Respekt vor der Frauenbewegung, was die in fünfzig Jahren geschafft hat, aber sie hatte, was das betrifft, auch günstige Startbedingungen. Mein Lieblingsbeispiel für den Veränderungsprozess ist immer, wenn mir Journalistinnen von Frauenzeitschriften als 54
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»Experte« für Männerthemen mit wirklich ernsthaftem Interesse in den Augen die Frage stellen: »Warum fällt es Männern so schwer, abends auf dem Sofa auf Kuscheln umzuschalten?« Das möchte ich jetzt auch wissen. Süfke Nein, ernsthaft, diese Frage zu hinterfragen, finde ich sehr spannend. Stellen Sie sich so eine Frage mal vor vierzig Jahren vor. Da hätte man als Mann vielleicht zurückgefragt: »Was soll denn das für ein Wert sein, den Abend mit Kuscheln zu verbringen? Der Mann hat wahrscheinlich noch etwas zu tun abends oder hat eben zu arbeiten, der kümmert sich um das Einkommen seiner Familie.« Aber heute gibt es diesen definitorischen Standard von Frauen: Es soll gekuschelt werden. Ich sage es mal ganz plakativ: Frauen haben heute die Definitionsmacht darüber, was anerkanntes, positives Sozialverhalten ist und was nicht, und das spiegelt sich dann in solchen Fragen wider. In meinen ganz lichten Momenten gebe ich dann so Antworten wie: »Frau Soundso, bevor ich darauf antworte, stelle ich mal eine Gegenfrage: Warum haben Frauen so große Schwierigkeiten, abends auf dem Sofa auf Champions-League-Gucken umzuschalten?« Denn da drücken sich ja wieder Bewertungsaspekte aus. Was ist wann ein adäquates Verhalten? Da hat sich etwas gewandelt. Vor sechzig Jahren war es vielleicht so, dass die Männer definieren konnten, was eine adäquate Sexualität war. Heute hat sich so manches in vielen sozialen Belangen ins Gegenteil verkehrt. Daran lassen sich Strukturveränderungen ablesen. Aber natürlich: Die ökonomischen Bedingungen spielen auch immer eine große Rolle. Ich will auf den Punkt der Forschung noch mal zurückkommen. Haben Sie den Eindruck, dass bei den »neueren« Themen wie Bindung oder Mentalisierung die Geschlechterdifferenzen hinreichend berücksichtigt werden? Männer und Frauen verstehen – qualitative Forschung
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Piontek Also, ich als praktizierende Therapeutin beschäftige mich zum Beispiel stark mit der Schematherapie und mit EMDR. Schematherapie ist ja im Moment ein bisschen gehypt. Da habe ich mich kundig gemacht und dachte mir, dass sich die Schematherapie mit ihrer Teilearbeit gut dafür eignet, gendersensitiv auf die Themen zu sehen. Ich habe aber so manches Buch dazu gelesen, in denen das Wort »Gender« nicht einmal vorkam. In den Workshops wird dann von den Dozierenden der Eindruck erweckt, als wäre es doch eine ganz klare
»Mentalisierung« bedeutet in der Psychologie und Psychoanalyse die »Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Men schen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren«. Hierbei wird nicht nur auf das Verhalten des Gegenübers eingegan gen, sondern auf die eigenen Vorstellungen von dessen Überzeugun gen, Gefühlen, Einstellungen, Wünschen, die dem Verhalten zugrunde liegen. Mentalisierung bedeutet somit, am Verhalten ablesen zu können, was in den Köpfen anderer vorgeht. So ist es auch möglich, das eigene Erleben und Handeln reflexiv zu erfassen. Das Mentali sierungskonzept ist an die Theory-of-Mind-Forschung angelehnt, es wurde von Peter Fonagy und Mary Target geprägt. Mentalisierung setzt ein Verständnis der Natur des Mentalen vo raus. Dies umfasst das Wissen, dass die Realität im Geist lediglich repräsentiert (abgebildet) wird – die Gedanken der realen Welt im All gemeinen aber nicht exakt entsprechen. Die Fähigkeit zur Mentalisierung wird ab den ersten Lebensmona ten entwickelt: In einer sicheren Bindungsbeziehung mit den Haupt bezugspersonen geschieht sozialer Austausch. Dieser ermöglicht dem Kind, zunehmend Affekte zu unterscheiden, zu verstehen und zu kontrollieren sowie die eigene Aufmerksamkeit zu steuern. Die grundlegende Fähigkeit zum Mentalisieren ist häufig ab dem vierten Lebensjahr ausgeprägt.
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Angelegenheit, dass Frauen im Rollenstereotyp wohl eher zur Unterwerfung neigen und Männer eher überkompensieren in einem männlichen Stil. Als wäre das doch implizit alles ganz klar! Aber welche konkreten Auswirkungen das zum Beispiel für die Stühlearbeit oder für die imaginativen Überschreibungen hat, das ist nicht im Blick. Wenn ich mir eine Therapiebewegung wie die »AcceptanceTherapie« ansehe, dann ist das genuin ein individualistischer Ansatz, der über Ressourcenarbeit und Akzeptanz geht. Es wäre doch naheliegend, dabei über Gender zu reden. Ich habe es nicht entdeckt. Oder ich habe es jedenfalls nicht entdeckt. Ich glaube, dass auch bei den neuen Themen der Genderaspekt wenig bis gar keine Rolle spielt. Und genau da fängt das Problem an: Es gibt wieder diese Vorstellung, dass wir, wenn wir uns mit Gender beschäftigen, alle Geschlechtsrollenstereotype zementieren. Das bekomme ich von Leuten gesagt, die wirklich aktuell in der Forschungsarbeit stehen. Die haben gar nicht begriffen, dass eine Beschreibung der Unterschiede überhaupt nichts mit einer Zementierung, sondern mit einer Ausdifferenzierung zu tun hat. Süfke Das wäre ja ungefähr so, als würde man den Mitgliedern von Attac vorwerfen, dass sie den Kapitalismus stützen, weil sie sich damit beschäftigen. Sie kennen das also auch? Süfke Ja, klar. Es gibt zum einen das Gegenargument, man zementiere ja nur seinerseits, wenn man Geschlechtstypisches beschreibt. Manchmal habe ich aber auch schon das Argument gehört: »Ach, das ist doch so ein Siebzigerjahre-Thema, darüber sind wir doch langsam hinweg, ich bin es leid.« Das hört man von den etwas älteren Semestern. Das würden Sie als Abwehrverhalten bezeichnen? Männer und Frauen verstehen – qualitative Forschung
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Süfke Abwehr – ja, man könnte es so bezeichnen. Wie schon mal gesagt: Das Glas ist halb voll und es ist halb leer. Es gibt natürlich schon all das in der Entwicklung, über das wir gesprochen haben. In Amerika beispielsweise gibt es mittlerweile mehrere Fachzeitschriften zu Genderfragen. Es wird dort natürlich auch viel mehr genderspezifische Forschung betrieben als hier. Natürlich entwickelt sich da etwas, das ist gar keine Frage, aber ich würde auch sagen, dass viel zu wenig in der Psychotherapie ankommt. Manchmal kann man auf ältere Veröffentlichungen zurückgreifen, da gibt es ein paar Schätze. Die klingen zwar oft ein bisschen sehr amerikanisch im Titel, nach dem Motto »Yes, we can!«, sind aber wunderbare Darstellungen: Alon Gratchs Buch »Wenn Männer reden könnten …« beispielsweise oder Terrence Reals »Mir geht’s doch gut!« über das Phänomen »männliche Depression«, ein wunderbares Buch von einem echten Praktiker. Gleichzeitig werden ja auch Sie beide angefragt, Veranstaltungen durchzuführen, und gebeten, Ihre Expertise zur Verfügung zu stellen. Süfke Ja, viele Anfragen bei mir kommen aus dem stationären Bereich. Das sind meistens Anfragen aus Kliniken, und zwar in den Bereichen Sucht und Psychosomatik. Wo sonst? Bei denen wird natürlich eklatant deutlich, dass die überwiegend mit Männern zu tun haben. Die dort Tätigen und auch die Leitungs ebenen erkennen mittlerweile, dass man hier geschlechtsspezifische Angebote braucht. Die meisten Männergruppen jedenfalls, die ich kenne, finden in Suchtberatungsstellen, Suchtkliniken und so weiter statt, weil da einfach die Notwendigkeit gesehen wird, dass sie ein Gruppenangebot machen und sich dort zehn Männer, aber keine Frau finden. Das ist ja eigentlich gar keine Männergruppe in dem Sinne, aber es sind einfach zehn Männer gekommen. Dann fangen die Mitarbeitenden an, sich zu überlegen, dass es vielleicht sinnvoll wäre, dass diese Gruppe 58
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von einem Mann geleitet wird, aber es gibt dafür ausschließlich Therapeutinnen … Piontek Man kann an den epidemiologischen Daten sehen, in welchem Bereich Genderforschung im Hinblick auf Männer betrieben wird: im Knast, bei den dissozialen Persönlichkeitsstörungen, im Suchtbereich, also überall da, wo ein Männerschwerpunkt im Hinblick auf die Diagnose nachweisbar ist. Ebenso im ganzen Spektrum von Gewaltfragen: Gewaltprävention zum Beispiel, denn dort geht es etwa um die Auflagen, dass ein Verurteilter in eine Männergruppe oder sonst in eine Gruppe gehen muss, um sein Aggressionspotenzial »behandeln« zu lassen. Süfke Auch hier wieder spielen übrigens Strukturfragen eine Rolle. Wir als Männerberatungsstelle erhalten nur Geld für die Arbeit mit Gewalttätern: für die Arbeit mit Sexualstraftätern, für die Arbeit mit häuslichen Gewalttätern und Ähnliches. Wir bekommen hingegen kein Geld für die Arbeit mit männlichen Opfern von Gewalt. Wir kriegen auch keine Förderung für die Arbeit mit denen, die wir intern »Normalmänner« nennen – doofes Wort, zugegeben –, also Männer, die einfach an Depressionen oder Ängsten leiden, die Vaterschaftsprobleme oder generell Schwierigkeiten mit ihrer männlichen Identität haben – dafür erhalten wir kein Geld. So weit sind wir noch lange nicht. Wahrscheinlich werden diese Themen heute an amerikanischen Forschungsuniversitäten differenzierter betrachtet als im deutschsprachigen Raum. Aber wir sehen davon wenig, und zwar sowohl in der gesellschaftlichen Debatte als auch in der Psychotherapie. Das ist schon erschreckend. Piontek Ich würde gerne noch mal auf das Stichwort »Bindungsverhalten« zurückkommen. Auch hier wäre eine Ausdifferenzierung nach Geschlechtern dringend nötig, um brauchbare Hypothesen zu entwickeln. Dann könnte man beispielsweise fragen, was es für das Bindungsverhalten von Jungen und Mädchen bedeutet, wenn in den Familien entweder ein abwesender Männer und Frauen verstehen – qualitative Forschung
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oder eben ein anwesender Vater existiert. Was bedeutet das für die Konstruktion zukünftiger Bindungen, Partnerschaftsbeziehungen und so weiter? Der räumlich oder mental abwesende Vater wird vom Sohn sicherlich als geschlechtsgleiches, direktes Modell vermisst. Er muss mit der geschlechtsunterschiedlichen Mutter zurechtkommen und sich auf Umwegen männliche Modelle suchen. Die Mädchen erleben oft die unzufriedene, klagende Mutter, die sich vom Mann als Vater und in der Familienarbeit alleingelassen fühlt. Gleichzeitig wird dem Mann allerdings »der rote Teppich« ausgerollt, sobald er auftaucht. Alle müssen Rücksicht nehmen und er wird hofiert. Der, der sich rarmacht, scheint irgendwie sehr attraktiv. Das legt den Grundstein für abhängige Beziehungsmuster von Frauen und die ambivalente Haltung Männern gegenüber: »Ich muss mich anpassen und ihm alles recht machen, dann bin ich wertvoll und wichtig und fühle mich geliebt.« Gleichzeitig klagen Frauen ohne Ende darüber, wie wenig sie sich von Männern verstanden fühlen. Wenn man sich damit beschäftigt und das auch in die Therapieausbildung brächte, dann hätte das sicher gute Wirkungseffekte für beide Geschlechter. Das müsste schon viel stärker in den Ausbildungsinstituten verankert werden. Es existieren gut herausgearbeitete Bindungstheorien, die den Genderaspekt mit einbeziehen, und die sagen, wie wichtig und bedeutsam das ist für spätere Paarbeziehungen und für die Familienarbeit und beispielsweise auch für das persönliche Hilfesuchverhalten. Das kann man alles nachlesen mittlerweile und müssen wir uns nicht mehr aus den Fingern saugen. Wir müssten es aber auch endlich mal tun! Süfke Ich bin immer wieder schockiert, wenn ich beispielsweise einen Vortrag halte an einer Volkshochschule, wo vielleicht hundert Leute sitzen und die meisten davon deutlich gebildeter, als ich es bin, wenn ich da erlebe, mit wie wenig – aus meiner Sicht – Wissen über Männlichkeit und über die Auswirkungen fehlen60
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der männlicher Identifikationsfiguren für die psychologische Entwicklung von Jungen ich da schon große Augen bewirke. Das ist eigentlich erschreckend.
»Bindungsverhalten« umfasst alles, was ein Mensch unternimmt, um mit anderen in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Entsprechend entsteht Bindung nach der Geburt. Die Grundlage dafür sind die Fähigkeiten des Säuglings, seine Bedürfnisse über Verhaltenswei sen wie Lautgebung (Schreien) oder Bewegungen wie Strampeln und Armrecken zu signalisieren. Dies kann als eine grundlegende soziale Kompetenz verstanden werden. Das Bindungskonzept ist ursprünglich von John Bowlby und Mary Ainsworth entwickelt worden. Heute werden meist vier Typen unterschieden: • sicheres Bindungsverhalten, • unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten, • unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten, • unsicher-desorganisiertes Bindungsverhalten. Einen guten Überblick bietet Bernhard Strauß in seinem Buch »Bindung« (2014).
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Welche Unterstützung bietet Ihnen denn die Hirnforschung? Es gibt eine ganze Reihe von Beobachtungen zu den Besonderheiten des Gehirns beider Geschlechter. Süfke Tja, ist das für mich als Psychotherapeut brauchbar, ist das für mich interessant? Ich fand zum Beispiel Gerald Hüthers »Männer. Das schwache Geschlecht und sein Gehirn« interessant, denn der Mann kann ja auch gut schreiben und das Wesentliche vermitteln. Biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind offensichtlich, auch wenn es nur ein Chromosom ist, das uns unterscheidet. Deshalb meine ich, dass wir uns eher ansehen sollten, wie sehr diese biologischen Unterschiede soziokulturell überformt sind. Das alles interagiert ja sehr stark. Eher absurd finde ich daher die Beschäftigung mit der Frage nach der Varianz, wenn festgestellt werden soll, in welchem prozentualen Verhältnis Genetisches und Gelerntes stehen. Auch ich werde bei Veranstaltungen unentwegt gefragt, wie viel von all dem genetisch festgelegt sei. Das ist bei einem solch komplexen Phänomen wie »Geschlechterrollen« natürlich nicht feststellbar – und wird es vermutlich auch nie sein. Für mich ist das aber auch nicht ausschlaggebend, das zu quantifizieren. Mich als Therapeut interessieren Veränderungsmöglichkeiten, und die sind unfassbar groß, das ist sicher. Der Anteil sozial konstruierter Phänomene und Verhaltensweisen ist gravierend – wer das nicht sieht, der hat die letzten fünfzig Jahre Psychotherapieforschung verschlafen. Piontek Ja, auch in den Ausbildungsseminaren kommt die Frage danach, wie viel vom geschlechtstypischen Verhalten angeboren ist, in großer Regelmäßigkeit. Warum wollen wir das wissen? Welche Funktion hat diese Frage? Natürlich gibt es die angebo62
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renen Unterschiede, aber die gibt es ja auch zwischen einzelnen Männern und einzelnen Frauen. Es kann natürlich Situationen geben, in denen das eine Rolle spielt. Eine Rolle spielt es vorrangig dann, wenn es um das Health-Belief-Modell meiner Klienten und Klientinnen geht. Eine riesengroße Bedeutung bekommt diese Frage, nachdem die Hirnforschung zunehmend popularisiert und überall verbreitet wird, dass die größeren Aggressionen den Männern angeboren seien, denn das liegt ja alles nur am Testosteron. Plötzlich muss man nicht mehr über kulturelle und gelernte Verhaltensweisen reden, denn das ist ja genetisch bedingt. Dann kann man so etwas zu hören bekommen wie: ›Ja, ich hab’ in der Nacht Alkohol getrunken und bei uns Männern führt das wegen des Testosterons zu verstärkten Aggressionen.‹ Tja, dann müsste man wohl über den Alkoholkonsum bei Männern reden. Ich würde also immer antworten: Welche Funktion hat die Frage nach der Genetik? Süfke Solche Erklärungen sind deshalb so beliebt, weil sie jemandem die vermeintliche Schuld beziehungsweise die Verantwortung zu nehmen scheinen. Deswegen sind sie so attraktiv bei den Menschen. Die Menschen möchten zuweilen ganz gerne hören, dass etwas angeboren ist, denn dann müssen sie auch nichts verändern, können es ja nicht einmal und müssen sich gar nicht erst damit auseinandersetzen. Piontek Das ist auch deshalb so, weil das aus dem medizinischen System heraus oft unterstützt wird. Für mich als Therapeutin ist das aber auch wieder nur ein Thema, über das wir eben in den Sitzungen reden müssen. »Was bedeutet das denn für Sie, wenn es angeboren wäre?« Süfke Ganz spannend finde ich diese Untersuchungen, die auch häufiger schon repliziert wurden, zum Zusammenhang von Frauen und Mathematikleistungen: Wenn man Studentinnen vor einem Test sagt, die Mathematikleistungen von Frauen seien im Durchschnitt geringer als die von Männern, dann scoren sie Hirnforschung
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unterdurchschnittlich, sind also in ihren Leistungen schlechter als die Männer. Wenn man ihnen vor dem Test sagt, es gebe keinen Unterschied in der Mathematikleistung zwischen Frauen und Männern, dann tritt in den Ergebnissen auch kein Unterschied auf. Für mich spielt es letztlich überhaupt keine Rolle, ob es einen genetisch bedingten oder einen sozialen konstruierten Einfluss gibt. Häufig schwingt da nämlich die Unterstellung mit, dass es, wenn es sozial konstruiert ist, auf die Psyche und auf das eigene Erleben nicht so einen großen Einfluss haben kann. Dann gibt es so etwas wie diese Befreiung von Verantwortung: Ja, ich bin auch Opfer der Verhältnisse. Wenn etwas biologisch bedingt ist, kann man sich entspannt zurücklehnen und beispielsweise auch aufhören mit der ganzen Selbstabwertung, denn man kann sich ja sagen: »Ach, ich hab’ das als Chromosom mitgekriegt, so ist das halt.« Es ist sehr viel schwerer, leider, sich einzugestehen: »Ja, meine ganzen vermeintlich männlichen Verhaltensweisen wurden mir sozial und kulturell eingeimpft und jetzt sitze ich hier und verstehe das alles zwar im Kopf irgendwie, aber ich will trotzdem überall noch der Beste und der Größte und der Schönste sein.« Es ist sehr viel schwerer, Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln, wenn wir uns sagen müssen, dass das alles sozialisiert ist und wir eine aktive Rolle bei der Annahme dieser Werte und Verhaltensweisen spielen. Ich sage zu meinen Klienten dann oft: »Es ist doch eigentlich völlig egal, ob es das Testosteron ist oder weil Ihr Vater Sie immer so verprügelt hat oder weil dort, von wo Sie kommen, die Gewalttätigkeit völlig legitim war. Eigentlich spielt das alles keine Rolle, denn Sie müssen damit aufhören, Ihren Sohn zu schlagen, weil es ein Gesetz gibt, dass man das nicht darf. Selbst wenn es auf dem Y-Chromosom läge, dürften Sie es trotzdem nicht.« Generell hilft die Ursachenforschung in der Psychotherapie ja lediglich beim Aspekt des Selbstverständnisses, der Selbstakzeptanz – sie befreit einen ja nie von der Verantwortung und der Verhaltensänderung. 64
Geschlechterblinde Therapieforschung
Piontek Genau das ist das Wichtige an der Auseinandersetzung. Wofür sind die neurologischen und physiobiologischen Erklärungsmodelle nützlich? Für mich in der Psychotherapie sind sie dann nützlich, wenn sie die Patienten und Patientinnen ihren Zielen näherbringen. Wo uns die Hirnforschung zeigt, dass wir durch die Plastizität des Gehirns besseren Einfluss auf die individuell unerwünschten Verhaltensweisen haben, da sollten wir das auch berücksichtigen. Selbst wenn wir neurobiologisch Einschränkungen nachweisen könnten, wäre doch weiterhin die Frage: Wie geht jeder Mensch damit um? Da bin ich sehr pragmatisch. An Stellen aber, an denen diese biologischen Geschichten die potenzielle Ressourcenentwicklung, die Weiterentwicklung und die Neukonstruktion verhindern, da frage ich: Wofür soll das gut sein? Aber da, wo ich auf Ergebnisse der Hirnforschung stoße, die im Sinne der aktiven Bewältigung der Lebenssituation helfen, da nutze ich sie auch. Ohnehin sind ja auch die Untersuchungen der Hirnforschung ganz selten mal eindeutig, überwiegend lassen sie ganz verschiedene Folgerungen zu. Süfke Auf der anderen Seite darf man natürlich auch Unterschiede nicht »wegmachen«. Nehmen wir ein Beispiel: Ein junger Vater fühlt sich letztlich minderwertig, sein kleines Kind, seinen Säugling beruhigen zu können. Das darf man ja nicht wegdiskutieren, wenn man ihn erst mal verstehen will. Natürlich ist er von der Biologie benachteiligt, weil er zum Beispiel nicht mal eben stillen kann. Manche Väter hätten diese Fähigkeit gerne. Das dann als nicht so wichtig zu erklären wäre falsch, der Mann würde sich unverstanden fühlen. Die Gefühle von Trauer oder Frustration müssen wir sogar sehr ernst nehmen. Und anschließend können wir hinsehen, welche anderen Beruhigungsmöglichkeiten jenseits des Stillens es noch gibt. Es ist interessant, wie Sie auf meine Frage reagiert haben, denn Sie haben sie als eine Frage nach der Vererbung verstanden. Ich hatte Hirnforschung
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eher auf die Ergebnisse der Neurowissenschaften abgezielt, die zum Beispiel von der Plastizität des Gehirns und seiner Abläufe sprechen, die von »Bahnungen« reden, die zwar auch über das frühe Lernen sehr festgelegt seien, die aber trotzdem umstrukturiert werden können durch Training und Verhaltensänderungen und sich ohnehin lebensgeschichtlich entwickeln. Längst hat sich das Verständnis des Gehirns als »Beziehungsorgan« oder eben als soziales Organ etabliert. Süfke Da wir in der Psychotherapie ja immer noch schulenspezifisch denken, also extrem konservativ im wahrsten Sinne des Wortes, vollziehen sich manche Neuerungen nur sehr langsam. Einen wichtigen Ansatz zu dem, was Sie jetzt ansprechen, hat ja Klaus Grawe unternommen. Wäre er nicht so früh gestorben, wäre davon vielleicht noch mehr ausgegangen. Obwohl ich seinen Titel »Neuropsychotherapie« als völlig unpassend empfand, ist das trotzdem das beste Buch, das ich je zur Psychotherapie gelesen habe, und zwar auch deshalb, weil er und seine Mitarbeiter sehr viele Ansätze und Hypothesen sehr gründlich geprüft haben. Grawe wollte in Richtung einer »allgemeinen« Psychotherapie gehen, also einen Best-of-all-Ansatz entwickeln. Das fand ich eine wunderbare Idee. Mir ist es doch völlig egal, wo etwas herkommt, ich bin doch an therapeutischer Wirksamkeit und Effizienz interessiert. Hauptsache, etwas funktioniert. Psychotherapie ist ja nicht Religion. Aber wie wenig das Einzug gehalten hat in die Psychotherapie, das ist schon schade. Ganz simple Erkenntnisse finden sich da, die mit Neuroforschungen auch empirisch belegt wurden, zum Beispiel die Tatsache, dass, wenn in der Therapiestunde gelacht wird, die Therapien wirksamer sind und dass die Problemorientierung und Problembearbeitung deswegen trotzdem nicht geringer sind. Solche Erkenntnisse sind noch nicht einmal eine Bedrohung für uns, für uns alle, egal, aus welcher Richtung wir kommen. Selbst die Psychoanalytiker, die damals schwer in die Kritik gerieten, müssten sich davon eigentlich überhaupt 66
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nicht bedroht fühlen, denn man darf weiterhin genauso viel über Probleme reden, man muss es nur schaffen, gleichzeitig eine ressourcenorientierte Perspektive einzunehmen. Piontek Auch durch die bildgebenden Verfahren können wir sehen, durch welche Kommunikation und Interaktion beispielsweise welcher Hirnteil aktiviert wird und was worauf Einfluss nimmt. Wunderbar! Süfke Trotzdem, wie wenig hat das doch Einzug gehalten! Aber in puncto Ressourcenorientierung hat das schon ein bisschen was bewirkt. Dazu hat dieser Ansatz viel beigetragen. Piontek Ja, in der Verhaltenstherapie spielen die Wirkfaktoren eine große Rolle mittlerweile. Also, auch bei der Genetik und Hirnforschung ist entscheidend, wie wir sie nutzen. Wir können sie festschreibend deuten oder sie eben für erfolgreiche Veränderungen nutzen. Und auf unsere Verhaltenspotenziale können wir Einfluss nehmen, und zwar gut Einfluss nehmen. Da verfügen wir über so viele Möglichkeiten, dass wir über das bisschen, was festgelegt sein könnte, nicht zu viel nachdenken und uns schon gar nicht davon blockieren lassen sollten.
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DIE INDIVIDUELLE KONSTRUIERUNG DES GESCHLECHTS
»›Ganzheitlich‹ heißt: Das ganze Spektrum ist erlaubt, das hat mit ›männlich‹ und ›weiblich‹ gar nichts zu tun!« Björn Süfke
Biografische Muster
Worauf achten Sie in den ersten Sitzungen während der Anamnese, wenn Sie vor einem neuen Klienten beziehungsweise einer neuen Klientin sitzen? Süfke Hm, ich frage mich vermutlich immer, auf welche Art und Weise er uns davon abhält, an seine Gefühle heranzukommen. Piontek Wie er auch sich selbst davon abhält? Süfke Ja, sich und damit auch mich, also uns. Es ist aber nicht so, dass ich darauf fokussiert achte, sondern das ist einfach das, was mir oft als Erstes auffällt, nämlich wie es jemand schafft, zu verhindern, dass wir an die Gefühle herankommen, und zwar direkt und von Anfang an. Manchmal habe ich natürlich auch schon gleich Hypothesen, was das Grundthema sein könnte, insbesondere wenn ich es selbst gut kenne, dann geht das ein bisschen schneller. Piontek Bei den meisten Klientinnen geht es sofort ziemlich emotional zu. Sie können gut klagen und breiten ihr Leid recht offen aus, und zwar geht es dann um die für Frauen »erlaubten« Emotionen wie Verzweiflung, Angst, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Enttäuschung – sie berichten von schlimmen Situationen und Zuständen und Überforderung und welchen Menschen sie sich ausgeliefert fühlen. Es gibt also ganz viel Klagen und unterschwellige Anklagen, weil die aggressiven Gefühle für Frauen eher »verboten« sind. Wichtig ist es, in diesen unüberschaubaren, bedrohlichen Wust zunächst mehr Struktur reinzubringen. Bei der klassischen Anamnese sammle ich erst einmal die Probleme, sodass wir miteinander zu jenem Problempaket kommen, das aus der Sicht der Klientinnen zentral ist. Diese VT-Methode ist sozusagen geschlechtsneutral, aber die Inhalte und Problemfelder, die da auftauchen, sind oft geschlechts 70
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typisch – und, klar, auch die Gestaltung der therapeutischen Beziehung. Nach diesen ersten Stunden gehe ich weiter mit der Frage vor, wo in der persönlichen Entwicklungsgeschichte im Leben als Mann oder Frau die Suchfelder für Probleme liegen könnten. »Suchfelder« bedeutet zum Beispiel: Hat der Klient als Junge vielleicht schon früh eine ADHS-Diagnose bekommen, ohne dass er das im Zusammenhang sieht? Oder ich schaue, ob es in irgendeiner Weise frühe Gewalterfahrungen in der Kindheit gegeben hat oder einen sexuellen Missbrauch. Hat es Gewalterfahrungen in der Peergruppe gegeben, denn das ist bei den Jungen etwas, was die kaum mal erzählen. Oder auch, ob es schwere Unfälle gegeben hat. Gibt es Drogengeschichten? Bei den Frauen frage ich etwa: Gab es eine Phase mit einer nicht diagnostizierten Essstörung? Wie war ihr Bezug zum weiblichen Körper, welche Rolle hatte sie als Mädchen in der Familie? Gab es ein Problem rund ums Gebären, wie war der Wiedereinstieg in den Beruf – all solche Fragen, von denen ich weiß, dass sie eine Rolle spielen könnten. Meine Anamnese orientiert sich an einer männlichen oder weiblichen Lebenslinie, zu der ich gezielt nachfrage. Oft erzählen die Klientinnen und Klienten das natürlich von sich aus. Jedenfalls habe ich festgestellt, dass diese biografischen Faktoren bei Jungen und bei Mädchen, im Kontext der sozialen und persönlichen Entwicklung ihres jeweiligen Problems, verschieden sind. Das brauche ich für die Erstellung des individuellen ätiologischen Modells, also der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Störung. Anfangs kümmere ich mich um die aktuellen Risikofaktoren. Ein Mann, der mit vierzig Jahren eine mittlere Depression hat, den frage ich, welche Belastungen in den letzten Jahren stattgefunden haben. Als das zweite Kind auf die Welt kam, haben er und seine Frau vielleicht gleichzeitig ein Haus gebaut. Dann kam noch eine Beförderung mit einer zusätzlichen Verantwortung. Und dann hat er die alleinige Ernährerrolle, weil das Gehalt seiner Frau wegfällt, und so weiter! Biografische Muster
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Und ich muss natürlich danach fragen, wie sich jemand seine eigene Krankheit vorstellt. Das unterscheidet sich bei Frauen und Männern. Ich mache die ganze Anamnese in diesem Bewusstsein und suche dabei, was das Besondere in der männlichen Entwicklung ist und was in der weiblichen, denn die Kumulierung der Probleme trägt immer typische Elemente weiblicher und männlicher Biografien. Und so lassen sich dann auch »Muster« finden. Süfke Ich nehme mal an, Ihre Fragen beruhen auf Ihren Erfahrungen, wo es eben häufig hakt bei Menschen. Piontek Natürlich. In vielen Jahren Therapieerfahrung haben wir doch Cluster gebildet. Bei Männern über vierzig kommen Geschichten aus der Bundeswehrzeit, dass es einem manchmal die Schuhe auszieht. Dann frage ich vielleicht weiter: »Erzählen Sie mal, wie war denn die Situation, was ging Ihnen denn dabei durch den Kopf, was war Ihr Gefühl?« Wenn ich das nicht abfrage, bleibt es oft ein blinder Fleck. Süfke Ja, das ist ganz spannend. Wir haben nicht den gleichen Blickwinkel, es gibt eben doch gewisse Unterschiede zwischen einer Verhaltenstherapeutin und einem Gesprächspsychotherapeuten, aber wahrscheinlich kommen wir zu den gleichen Punkten, nur eben auf einem anderen Weg. Ich frage deutlich weniger Informationen ab, ich versuche mehr über das grundlegende Thema zu kommen und mir ein Bild zu machen. Natürlich erkenne ich nicht in jedem Erstgespräch schon das Lebensthema, denn das ist natürlich ein Prozess, das Bild verfeinert sich nach und nach, aber ich bin gleich auf die Gefühle aus, die abgewehrt sind, und darauf, wie jemand sie abwehrt. Ich bin davon überzeugt, dass ich nicht mit jemandem erfolgreich eine Therapie machen kann, ohne mit den Abwehrmechanismen umzugehen. Der Klient selbst muss sich der Abwehrmechanismen bewusst werden, sonst hat die Psychotherapie keinen Transfereffekt. Wenn er immer rationalisiert, dann muss er wissen, dass er rationalisiert. Es reicht nicht aus, wenn ich ihn 72
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45 oder 50 Minuten durch gezieltes Nachfragen und ohne Angst vor Rückschlägen davon abhalte, zu rationalisieren, sondern er muss es wissen, dass er das so macht. Er muss sich im besten Falle irgendwann selbst in flagranti dabei ertappen. Also, ich fokussiere vielleicht von Anfang an stärker auf übergreifende Themen, insofern finde ich das ganz spannend, zu hören, wie Sie als Verhaltenstherapeutin das machen. Piontek In der Anamnese und in den probatorischen Sitzungen, die ich immer sehr ernst nehme, sage ich: »Wir beide überlegen uns, ob wir zusammenarbeiten wollen oder nicht.« Ich arbeite in einem Kassensystem, das ist auch noch mal etwas anderes als bei Ihnen in der Beratung. Ich finde es zum Beispiel sehr interessant, wie unterschiedlich Männer und Frauen schon allein »klagen« und wie sie dabei auf der Couch sitzen. Da findet sich ein ganz klarer Unterschied zwischen Männern und Frauen, das bestätigen mir auch meine Supervisandinnen oft. In Workshops kann man das übrigens ganz leicht sichtbar machen. Also, auch für die Verhaltenstherapie gilt, dass sie nicht geschlechtsneutral ist und auch gar nicht sein kann. Ich habe eine Übung, in der die Teilnehmenden vormachen sollen, wie ein Mann ins Therapiezimmer kommt und sich setzt und zu klagen beginnt und wie das bei einer Frau aussieht. Das wird völlig unterschiedlich dargestellt. Man könnte das in einer Matrix abbilden. So kommen die meisten Klientinnen rein, setzen sich und beginnen auch schon zu klagen. Sie legen uns ihr gesamtes Leiden und ihre Opfergefühle sofort zu Füßen. Ein Mann sitzt da, breitbeinig, und beginnt von der Arbeit zu erzählen, wo er sonst so aktiv ist, und dann auch, wer ihm gerade warum unrecht tut. Süfke Schuld sind die anderen. Piontek Jedenfalls nimmt er ein anderes Klagevokabular in den Mund, ein Mann geht mit mir anders in Kontakt, er will mich überzeugen, dass etwas so und so ist. Biografische Muster
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Süfke Damit kann man dann sofort schon arbeiten. Ich konfrontiere manchmal bereits in einer so frühen Phase, dass der Klient noch gar nicht erzählt hat, warum er gekommen ist. Zugegeben, das ist natürlich auch mein Problem: Ich bin leider sehr, sehr ungeduldig. Ein Beispiel, das mir gerade einfällt, sind diese Männer, die mit Unterlagen in die Therapiesitzung kommen, Unterlagen wie Weisungen vom Gericht, ärztliche Atteste, manchmal sind es auch nur die Notizen darüber, was die Frau zu Hause ihnen aufgegeben hat zu thematisieren in der Therapie, oft sind es aber auch Diagnosen oder vierzigseitige Krankengeschichten. Die sitzen dann da und verbarrikadieren sich geradezu mit diesen Unterlagen. Ich komme also rein und mich befällt gleich ein Gefühl, als ginge ich selbst zu einem Versicherungskaufmann. Die Botschaft dieser Klienten ist: »Ich habe hier die ganzen Informationen, die Sie wissen müssen. Nun sind Sie dran!« Wenn ich sie lassen würde, dann würden mir diese Klienten all diese Informationen vollumfänglich präsentieren. So habe ich das nämlich tatsächlich am Anfang gemacht: Ich habe sie die Informationen erzählen lassen und am Ende der Stunde wollten die von mir dann die »Lösung« wissen, so als könnte ich einfach nach hinten in mein Schränkchen greifen, um eine Pille rauszuholen, oder als hätte ich ein Programm, mit dem sich die ganze therapeutische Arbeit abkürzen ließe. Inzwischen mache ich das fast standardmäßig so, wenn jemand mit Unterlagen hereinkommt, dass ich sofort frage: »Oh, ich sehe, Sie haben ganz viel Papier mitgebracht. Wäre es Ihnen lieber, ich würde mir das alles erst mal durchlesen, bevor wir beginnen? Dann wüsste ich schon alles über Sie und Sie bräuchten gar nichts mehr zu erzählen hier. Wie wäre das?« Und dann lächele ich ihn ein wenig an. So kommen wir, statt Unterlagen zu studieren, meist schon ins Gespräch. Manchmal lässt sich das Unterlagenstudium sogar komplett übergehen. Und manchmal sagen die Männer dann: »Ja, es wäre eigentlich ganz 74
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schön, wenn ich das nicht alles erzählen müsste, dieses schmerzliche Zeugs …«, und lächeln ebenfalls dabei – ein bisschen wie ertappt. Denn eigentlich ist es ja auch ganz schön, wenn man so dabei ertappt wird, sich zu verbarrikadieren – sofern man dafür nicht abgewertet wird. »Ja«, sage ich dann vielleicht, »es wäre irgendwie schön, wir müssten gar nicht erst in Ihrem Innersten wühlen, bei all den schmerzlichen Sachen, die das beinhaltet, sondern Sie legen mir das Papier auf den Tisch, und ich sage Ihnen, was die Lösung ist, und dann gehen Sie hier raus und machen das so, wie ich es gesagt habe, denn im Machen sind Sie vermutlich ziemlich gut.« Die Antwort lautet dann oft: »Ja, das stimmt. Wenn Sie eine gute Lösung hätten, dann würde ich damit gerne nach Hause gehen.« Das machen wir oft tatsächlich auch, das ist ja das Großartige an uns Männern: Wenn einer eine Lösung hat und uns sagt, wir sollten es so und so machen, dann gehen wir nach Hause und machen das so. Nehmen wir einen Mann, der in zwanzig Ehejahren noch nie wirklich mit seiner Frau über Gefühle geredet hat, weil er beispielsweise Angst hat, dass ihm die Frau intellektuell in diesen Fragen überlegen ist. Nun sind wir im Therapiegespräch zu der Erkenntnis gekommen, dass der Ehefrau da womöglich zu Recht etwas fehlt. Und dem Mann eigentlich, im Grunde seines Herzens, auch. »Tja, was kann man da tun?«, frage ich dann. »Ja, muss man vielleicht mal ansprechen.« Und ich: »Ja, muss man vielleicht mal tun. Vielleicht nicht nur man, sondern Sie konkret.« Wenn dieser Mann dann wirklich eingesehen hat, dass das zu tun ist, dann tut er das auch. An dieser Stelle ist sie doch wunderbar, diese männliche Handlungsorientierung. Frau Piontek, Sie werden ganz unruhig. Piontek Ja, weil das eine schöne Vorlage ist. Stellen wir uns vor, ich sei die Therapeutin mit einem so strukturierten Klienten. Biografische Muster
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Ich kann da nicht mit Schmunzeln und Lächeln kommen. Das würde eine riesige Menge an Missverständnissen hervorrufen, vielleicht würde er sich von mir »angebaggert« oder veralbert fühlen oder sonst was. Was bei Ihnen als wohlwollende Spiegelung funktioniert und als humorvolle Konfrontation rüberkommt, was die Mentalisierungsfähigkeit des Mannes fördert, dafür brauche ich viel Zeit mit dem Klienten. Das »Kumpel-Wir« steht mir nicht zur Verfügung. Mein Beziehungsaufbau mit diesem Mann dauert länger und wir müssen die »Unterschiedlichkeitshürden« der Genderrollen überwinden. Und dann das mit den klaren Handlungsvorschlägen. Wenn ich das therapeutisch tun wollte, dann bräuchte ich viele Sitzungen, bis ich von ihm so ernst genommen würde, dass ich ihm sagen darf: »Mach das doch mal so.« Für diesen Bonus, den Sie als männlicher Experte haben, der so etwas sagen darf, dafür muss ich als Frau erst mal eine ganze Menge tun. Sagen kann ich ja viel, aber ob er es wenigstens ausprobieren würde – ich weiß es nicht. Da werde ich vorher so manchem Kompetenztest unterzogen. Bei mir schaut das so aus: Der Patient mit einer Zwangsstörung kommt mit einer Liste, auf der sämtliche Veröffentlichungen über Zwangserkrankungen stehen, die er im Internet gefunden hat, und fragt mich, ob ich das alles schon gelesen habe. Süfke Passiert mir aber auch. Piontek Das passiert Ihnen auch? Süfke Ja und nein – vielleicht darf ich das eben einfügen: Natürlich, würde ich sagen, habe ich es als männlicher Therapeut an der Stelle ein Stück leichter, weil ich zu bestimmten Punkten authentisch etwas sagen kann. Denn: Ja, wenn ich zu einem Helfer ginge, würde ich mir auch wünschen, dass der sich gut fortgebildet hat und viel weiß. Ja, bei bestimmten Problemen wäre es wirklich so viel einfacher, wenn mir jemand sagen könnte, wie ich es besser machen kann. Ich kann das also nachvollziehen, wäre da nicht anders als meine Klienten. Aber es gibt auch 76
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ein Nein, denn das offene Ansprechen braucht viel mehr Mut. Man geht da ein bisschen aus der Solidarität mit dem Mann heraus und muss viel stärker konfrontativ werden. Ich glaube, man muss sich dann sehr viel mehr trauen, als wir Psychotherapeuten und -therapeutinnen, Männer wie Frauen, in der Ausbildung lernen. Piontek Da stimme ich sofort zu. Es ist, um zu konfrontieren, vorher eine gute Beziehungssicherheit erforderlich. Und der Aufbau dieser komplementären Haltung, dieser Beziehungssicherheit, ist, glaube ich, als Therapeutin einem Mann gegenüber anders. Da muss ich andere Dinge berücksichtigen. Also, ich bin inzwischen eine Frau jenseits der sechzig und habe vielleicht einen vierzigjährigen Mann gegenübersitzen. Dann muss ich sehr aufpassen, dass ich nicht in die Mutterschublade gestopft werde oder irgendwelche entsprechenden Übertragungen ablaufen und, und, und. Ich muss achtsam sein und sehr auf sein Bedürfnis eingehen, muss mich also »testen« lassen und muss meine fachliche Qualifikation »nachweisen«. Ich muss ihm gleichzeitig Raum geben, die Situation zu kontrollieren, weil er Angst davor hat, auf diese emotionale Ebene zu gehen. Zudem geht es bei Ihnen als Mann in der Therapie eher um Konkurrenz, bei mir geht es um Kompetenz. Süfke Ja, Sie haben natürlich völlig recht. Da findet sich die Bindung zur Mutter. Aber auch ich als Mann stoße auf Fallen, auf Fallstricke, die da lauern. Gerade deshalb plädiere ich dafür, dass wir mit Männern in unserem Setting mehr Mut haben müssen, auch mal stärker zu konfrontieren, auch auf die Gefahr hin, in die Fallen zu tappen. Wenn wir mal etwas sagen und anschließend bemerken, dass das etwas »Falsches« war, dann ist das doch therapeutisch gesehen das Beste, was uns passieren kann, denn dann können wir sagen: »Oh, jetzt bin ich Ihnen irgendwie so gekommen wie Ihre Mutter immer, wenn die Ihnen sagt, wie es eigentlich richtig geht. Das konnte man irgendwie an Ihrem Biografische Muster
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Gesichtsausdruck ablesen, solche Aussagen gehen Ihnen so richtig auf den Sack. Wenn wir jetzt am Schluss der Sitzung wären, dann würden Sie nicht wiederkommen, stimmt’s?« Ich glaube eben, dass wir bei Männern viel mehr Mut brauchen – ich kann das ja später noch mal ein bisschen ausführen. Piontek Ich sehe das auch so. Es gibt nur eben einen deutlichen Genderunterschied darin, wie wir das tun bei einer Frau oder bei einem Mann. Da sind wir wieder bei Klaus Grawe: Der Wirkfaktor Problemaktualisierung ist in unserem Setting eine sehr wichtige Ebene. Ich glaube allerdings, dass es einen deutlichen Geschlechterunterschied gibt in dem Punkt, wie wir ein Problem, zum Beispiel den Umgang mit Emotionen, mit einer Klientin oder einem Klienten in der therapeutischen Beziehungssituation aktualisieren. Ich gehe die Therapie mittlerweile ganz bewusst mit einem Blick darauf an, was genau diese Frau, was dieser Mann als Struktur mitbringt. Ist es einer, der rationalisiert, dann ist es sein gutes Recht, erst mal zu rationalisieren. Und Frauen dürfen erst mal klagen, weil sie sich vermutlich ungehört, abgewertet, verachtet fühlen in ihrem Leben und mit ihrem Problem. Es ist dann ihre Grundannahme, das auch in der therapeutischen Situation tun zu dürfen. Möglicherweise werten sie mich als weibliche Therapeutin gleich noch mit ab, wie sie sich als Frau abgewertet fühlen. Und vielleicht würden sie einen männlichen Kollegen erst mal auf den Sockel setzen, sich kleinmachen, weil sie erfahren haben, dass Männer darauf abfahren. Gerade bezüglich meiner männlichen Kollegen, die ja mit weit mehr Frauen als Männern Therapie machen, würde ich fragen, wie bewusst denen wohl diese geschlechtsstereotype Zuweisung ist. Wie können sie das gendersensitiv mentalisieren, konstruktiv wenden und einer Frau Verständnis entgegenbringen, und zwar um »auf Augenhöhe« zu empowern? Frauen haben oft ein Bedürfnis danach, dass wir therapeutisch Struktur reinbringen in diesen Klagewust, weil sie sich 78
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dann ernst genommen und nicht mehr so ausgeliefert fühlen. Das ist bei Männern oft nicht so. Die haben kein Bedürfnis danach, dass ihnen jemand Strukturen vermittelt. Nein, die sagen uns, was Struktur ist. Männer in der Therapie sind für mich immer noch eine gewisse Herausforderung. Ich glaube schon, dass ich Geschlechtsrollensteretoype zur Genüge reflektiert habe, und trotzdem reproduziere ich sie noch. Allein die Tatsache, dass ich Männer oft mit Samthandschuhen anfasse und den »roten Teppich« ausrolle, voller Ehrfurcht, dass sie nun tatsächlich auf der Therapiecouch gelandet sind. Dabei beobachte ich mich immer wieder, aber wohlwollend! Süfke Trotzdem will ich noch mal betonen, dass es meines Erachtens bei Männern eines größeren Mutes bedarf, um relativ schnell ans Problem heranzugehen, und zwar ganz einfach deswegen, weil Frauen diesem therapeutischen Setting als solchem grundsätzlich offener gegenüberstehen. Das heißt, die Chance, wenn eine Frau kommt und sie im Erstgespräch einfach mal ganz viel erzählen kann und selbst wenn therapeutisch noch gar nicht so wahnsinnig viel passiert, dass dann die Chance, dass sie wiederkommt, relativ hoch ist. Piontek Sehr wahrscheinlich jedenfalls, und zwar weil sie sich erst mal verstanden fühlt. Süfke Für Männer jedoch ist dieses ganze therapeutische Setting nicht nur ungewohnt, sondern oft sogar bedrohlich, weil die Gefühle von Trauer, Angst, Hilflosigkeit und all das, was da noch aufkommen könnte, ihre gesamte Geschlechtsidentität unterhöhlen. Für viele Männer ist das psychotherapeutische Setting das erste Mal in ihrem Leben, dass sie zu zweit in einem Raum sitzen und über persönliche Probleme sprechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann, wenn ich ihn nicht schon im Erstgespräch emotional wirklich berühre, zur nächsten Sitzung nicht mehr wiederkommt, ist leider viel, viel höher als bei Frauen. Insofern ist mein Mut auch ein bisschen der Mut der Verzweiflung oder ein aus der Not geborener Mut, Biografische Muster
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ein durch die Erfahrung gewonnener Mut. Ich jedenfalls habe die Erfahrung gemacht, wenn ich einen Mann nicht im Erstgespräch schon an einem neuralgischen Punkt berühre, dass er also wirklich einen Verwirrungsmoment erlebt und eine eigene Motivation dafür entwickeln kann, warum er zu mir, zu mir persönlich wiederkommen soll, dann ist die Gefahr groß, dass er eben nicht wiederkommt, selbst wenn er am Ende der Stunde das Gegenteil behauptet. Ein Männerbüro hat mal Zahlen veröffentlicht, die ich sehr ehrlich fand, und die besagten, dass 90 Prozent der Männer nach dem Erstgespräch (nach dem Erstgespräch, nicht nach der Anmeldung!) nicht wiedergekommen sind. Unsere Abbrecherquote ist ein bisschen niedriger zum Glück, aber sie ist auch nicht gerade so, dass bei uns 90 Prozent wiederkämen. Ich sage es mal so: Wenn ich zu sehr »rangehe« und einen Mann zu stark konfrontiere im Erstgespräch, dann ist die Chance, dass ich ihn damit vergraule, sehr hoch. Aber wenn ich ihn emotional nicht berühre, ist meines Erachtens die Chance, dass er nicht wiederkommt, noch höher. Und wie »berühren« Sie Ihre Klienten und Klientinnen? Süfke Na, zu der Frage allein könnten wir ja jetzt ein dreitägiges Seminar machen. Ich versuche es mal allgemein zu sagen: Ich muss irgendein wirkliches eigenes Leiden, ein eigenes Bedürfnis, eine Sehnsucht des Mannes schon im Erstgespräch erkennen und dann auf eine liebevolle, aber durchaus konfrontative Art auch an ihn direkt herantragen, es also ganz explizit aussprechen. Gleichzeitig muss ich dem Mann ein konkretes Angebot machen können, wie und warum wir hier – im therapeutischen Setting – das Ganze zum Besseren werden wenden können. Wichtig ist, dass einer dieser beiden Aspekte allein oft nicht ausreicht, um den Mann zur therapeutischen Arbeit zu motivieren. Wenn ich den Klienten zwar emotional berühre, 80
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ihm aber keine »Vision« vermittle, keine Überzeugung, dass wir zwei das traurige, wütende oder hilflose Kind schon schaukeln werden, dann wird die Berührung vermutlich schnell wieder abgewehrt und der therapeutische Kontakt gemieden. Anders herum reicht es auch nicht aus, grundsätzliche Kompetenz und Erfolgserwartung auszustrahlen, wenn die konkrete Sehnsucht des Mannes, eine tiefe Verletzung oder eine dauerhafte Ängstlichkeit nicht wirklich spürbar auf den Tisch kommt. Warum sollte der Mann wiederkommen, selbst zu einem guten Therapeuten, wenn ja eigentlich »nichts Gravierendes« ist, wenn ein echter persönlicher Gewinn, den die Therapie bringen könnte, innerlich nicht klar aufscheint? Piontek Ich habe seit ein paar Jahren immer wieder Klientinnen, die gerade jenes Klischee, das wir bei Männern beschrieben haben, voll erfüllen. Das sind Frauen, die sich emotional stark verbunkern und in der Verbunkerung bleiben. Habe ich eine Frau mit einer Traumatisierung durch einen sexuellen Missbrauch, dann verbunkert sie sich auch, aber sie verbunkert sich auf eine andere Art und Weise, eher als Opfer, eher somatisierend. Diese Frauen zeigen dabei ein hoch problematisches Beziehungsverhalten. Aber ich habe inzwischen mit Klientinnen zu tun, die auf diese typisch männliche Art und Weise rationalisieren, die ohne Ende sprechen und sich dabei gleichzeitig unheimlich schwertun, an Emotionen heranzukommen und diese zu benennen. Sie zeigen so eine Art Dominanzverhalten in der therapeutischen Beziehung und kommen eigentlich nicht in einen hilfesuchenden, -annehmenden Kontakt. Diese Frauen gelangen eigentlich in einer Patientinnenrolle gar nicht erst an. Davon habe ich zunehmend mehr. Dann habe ich jene Klienten, die sehr schwere Krankheiten haben, zum Beispiel sehr, sehr depressiv sind, die erfüllen dann bis auf die Abwehrstrategien völlig das Klischee der Patientinnen. Die verhalten sich wie Frauen in der Therapie. Das gibt es sehr wohl. Biografische Muster
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Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir die Rollenstereotype mittlerweile nicht mehr nur geknüpft an das biologische Geschlecht finden, sondern die Rollenstereotype werden unabhängig vom biologischen Geschlecht übernommen, nach meiner Beobachtung besonders bei den Frauen. Einzelne Segmente dieses männlichen Verhaltens der Abwehr von Emotionen findet man nun auch verstärkt bei Frauen, dennoch erfüllen sie die Rollenklischees. Es ist wie draufkopiert. Süfke Das finde ich auch ganz logisch, denn das ist, zynisch gesprochen, die logische Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der wir nicht die Geschlechterstereotype als solche infrage gestellt haben, sondern in der wir den Frauen ermöglicht haben beziehungsweise die Frauen es sich erkämpft haben, dass sie auch das männliche Geschlechtsrollenstereotyp zusätzlich erfüllen »dürfen«. Das passt ja zu der Beobachtung, die ich eingangs unseres Gesprächs äußerte, zu dem Leistungsdruck thema. Es ist eine traurige, aber völlig logische Konsequenz. Man könnte sagen, dass wir als Gesellschaft es nicht geschafft haben, die Rollenkäfige zu öffnen, sondern lediglich jedem Geschlecht einen zweiten dazugestellt haben.
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Androgyn oder ganzheitlich?
Die Aufweichung der Stereotype wollen Sie beide, um die sogenannten weiblichen und männlichen Attribute neu zu kombinieren und in Richtung Androgynität aufzubrechen. Das ist ja für die Psychotherapie eigentlich gar kein neues Streben. Schon bei Sigmund Freud gab es das, da hieß es »Bisexualität«. Freud hatte die verschiedenen Anteile aus der Psyche herausgelesen und hat sie auch grundsätzlich erst mal akzeptiert. Süfke Nein. Wir müssen dabei heute vorsichtig sein. Wo von »männlichen« Anteilen gesprochen wird, da meint man häufig Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit, unter »weiblichen« Anteilen wird Fürsorgefähigkeit und Empathie verstanden. Wer das heute noch so benutzt, hat sich kein Stück von den Geschlechterstereotypen wegbewegt, selbst wenn man fordert, dass die Frauen doch mehr »männliche« Anteile haben sollten, und die Männer auffordert, doch mehr »weibliche« Anteile auszubilden. Es gibt keine »weiblichen« und keine »männlichen« Anteile. Wir müssen also über Sprache reden. Süfke Ja. Empathiefähigkeit und Fürsorgefähigkeit sind keine »weiblichen« Anteile. Das sind menschliche Fähigkeiten und Eigenheiten. Und Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit sind keine »männlichen« Fähigkeiten. Es geht hier nicht um Anima und Animus im Jung’schen Sinn. Insofern kann ich auch mit dem Konzept von Androgynität im Grunde gar nichts anfangen, denn da finde ich nichts, wo wir hinmüssten. Ich brauche keinen Namen für so ein Konzept. Es gibt nur etwas, was wegmuss, nämlich dass wir manche Sachen als »weiblich« Androgyn oder ganzheitlich?
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betrachten, die nicht weiblich sind, sondern menschlich, und dass wir manche Sachen als »männlich« betrachten, die nicht männlich sind, sondern menschlich. Das ist keine rein sprachliche Angelegenheit, wenn wir einen einfühlsamen und zurückhaltenden Mann als »weiblich« bezeichnen. Wenn wir das wirklich mal aufgebrochen haben, brauchen wir auch keinen Begriff wie Androgynität mehr, denn der löst sich dann in Luft auf. Deswegen habe ich so entschieden auf Ihre Frage mit Nein reagiert, denn Freud hat eben von »weiblichen« und »männlichen« Anteilen gesprochen, und das wird meistens bis heute auch so gehandhabt. Überall in der Psychologie und überall in der Psychotherapie, auch in der Männerbewegung, gibt es ganze Seminare, in denen die femininen Anteile von Männern wiederentdeckt werden sollen. Nein, wir wollen nicht die femininen Anteile in uns entdecken, wir wollen die menschlichen Anteile, die wir bisher nicht entdecken durften, entdecken. Die sind nicht »feminin«. Solange wir in der Psychologie und Psychotherapie von männlichen und weiblichen Anteilen sprechen, sind wir noch ganz weit davon weg, uns wirklich davon zu lösen. Da gehen wir dann immer noch mehr in so eine Richtung, die Frau Piontek eben beschrieben hat, nämlich das eine durch das andere Stereotyp zu ersetzen. Dabei müssen wir aber berücksichtigen, dass man vor hundert Jahren anders gesprochen hat als heute. Wir können das natürlich historisch herleiten und neu reformulieren … Süfke Ja, es geht mir auch nicht um einen überheblichen Blick zurück. Auch die Bestimmung, was »menschlich« ist, und besonders, was nicht menschlich sein soll, ist ein heikles Unterfangen.
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Süfke Ich versuche ja gerade zu sagen, dass das alles menschlich ist, es gibt nichts, was nur einem Geschlecht gehört und beim anderen nicht sein darf. Alles, was wir empfinden und wie wir handeln, ist grundsätzlich menschlich. Natürlich hat Freud vor hundert Jahren anders gesprochen als wir, aber von bestimmten Begriffen müssen wir uns schon sehr deutlich lösen, meine ich. Piontek Ich verstehe sehr genau, was Sie meinen. Aber bleiben wir doch erst mal auf der Beschreibungsebene: Da kann ich weibliches Verhalten und Erleben als das »von Frauen« beschreiben und männliches Verhalten und Erleben als das »von Männern«. Ich beschreibe das, was ich sehe. Ich sehe einen Mann, der verhält sich so und so, das beschreibe ich als »männliches« Verhalten. Ich sehe eine Frau, die dieses und jenes tut, und das beschreibe ich als »weibliches« Verhalten. Diese Beschreibungsebene ist mir wichtig, weil wir damit eine Schärfung des Blicks auf tatsächliches Verhalten erreichen. Das soll erst mal nur phänomenologisch sein. Süfke Ich verstehe das, aber ich beschreibe das grundsätzlich als »männertypisch« oder »frauentypisch«. Es geht um Sprache, d’accord, aber ich finde eben, dass wir uns mit dem Animus-Anima-Konzept etwas aufhalsen, was wir kritisieren sollten. Diese Versprachlichung von etwas als weiblichem Verhalten oder auch nur als weiblichen »Anteil« finde ich heikel. Wenn das weibliche Anteile sind, Herr Britten, dann können wir beide die nicht haben, dann können wir uns das nur sekundär aneignen irgendwie, wie Menschen zweiter Klasse, wie minderbemittelte Anfänger – und bei anderen Verhaltensweisen wäre es dann andersherum. Piontek Das mit der Androgynität wurde von Dorothee Bierhoff-Alfermann in »Möglichkeiten und Grenzen der Geschlech terrolle« im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und weiterentwickelt und ist jetzt auch knapp dreißig Jahre alt. Dieses Konzept der Androgynität ist dort aus feministischer Perspektive neu formuliert worden. Bis dahin wurde es so gesehen, dass Maskulinität und Femininität als zwei Pole auf einem Kontinuum liegen. Eine »gesunde« Geschlechtsrollenentwicklung bedeutete deshalb Androgyn oder ganzheitlich?
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eine »erfolgreiche« Anpassung von Jungen und Mädchen an das jeweilige Stereotyp. Mädchen übernehmen sozusagen in einem automatischen Prozess die jeweiligen Rollenmodelle der »Femininität«, weil sie sich dann sicherer, konsistenter, stimmig fühlen. Abweichungen wurden entsprechend pathologisiert. Was natürlich im Zuge der Frauenbewegung hinterfragt und heftig kritisiert wurde. Die Entwicklung ging dann dahin, nicht mehr nur eine Dimension anzunehmen, sondern von zwei voneinander unabhängigen Dimensionen von Maskulinität und Femininität auszugehen. Also, ein Mensch kann zum Beispiel hohe Werte sowohl in der einen als auch in der anderen Dimension haben. Die dahinterstehende Überlegung ist – und die finde ich interessant und spannend –, dass es nicht nur »männlich« und »weiblich« gibt, sondern noch viele Varianten mehr, je nachdem, wie ich mich selbst einordne in den beiden Dimensionen. Und Androgynität heißt nun, hohe Werte in beiden Dimensionen zu haben. Natürlich gibt es noch unzählige andere Varianten, und das hat damals ein Umdenken im wissenschaftlichen Diskurs bedeutet. Es war auf jeden Fall ein Fortschritt. Aber da ging es immer um Selbstbeschreibung und um das eigene Geschlechtsrollenselbstbild, aber nicht um das konkrete Rollenverhalten, denn bis das den veränderten Einstellungen folgt, dauert es bekanntlich immer eine Weile. Süfke Vielleicht haben wir nur einen rein sprachlichen Dissens. Ich stimme inhaltlich völlig zu, aber mit der Sprache schreiben wir immer auch etwas fest. »Maskulin« und »feminin« ist auf ewig verbunden mit Mann und Frau. Das kriegen wir nicht gelöst. Wenn wir das aufrechterhalten, dann wird es automatisch so sein, dass immer die Suggestion mitschwingt, welches Geschlecht zur Maskulinität und welches zur Feminität gehört. Deshalb würde ich schlicht dafür plädieren, dass wir diese Versprachlichung vermeiden, weil sie uns vom Ziel sogar wegführt. Der Feminismus hat ja die Auflösung auch für Männer im Blick gehabt. Diese Versprachlichung dient deshalb dem Ziel nicht. 86
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Piontek Die Dekonstruktion des Männlichen und Weiblichen ist wichtig und das geht zunächst mal nur sprachlich. Was aber nach einer solchen Auflösung käme, wissen wir nicht. Sprache fixiert diese engen Verhaltensmuster und grenzt unsere Lösungswege ein. »Gewalt durch Sprache« hieß mal ein Buch von Senta Trömel-Plötz. Sprache fixiert etwas, drückt implizit unsere Bewertungen aus, sorgt für unsere kognitiven Bahnungen in uns. Aber welches Adjektiv wollen wir denn bilden? Einfach »menschlich« reicht ja für bestimmte Differenzierungen nicht. Süfke Wir können das mit anderen Begriffen beschreiben. Ich verwende deshalb eben die Worte »Männertypisches« und »Frauentypisches« oder »traditionell männlich« und »traditionell weiblich«. Piontek Ändern diese Begriffe denn so viel? Süfke Ich versuche so zumindest, das sprachlich etwas zu präzisieren, denn ich muss dieses Problem ja lösen: Wie beschreiben wir, ohne Althergebrachtes festzuschreiben? Ich gebe noch ein kleines Beispiel aus meinem eigenen Alltag: Ich kümmere mich gleichberechtigt mit meiner Frau um unsere Kinder. Wenn ich nun also relativ häufig die Kinder aus der Kindertagesstätte abhole, dann wird das von den Müttern, die ihre Kinder abholen, sofort kommentiert: »Ach, mein Mann hat in all den Jahren noch nicht ein einziges Mal die Kinder abgeholt.« Und gelegentlich kommen dann auch so Sprüche wie: »Ja, bei euch zu Hause bist du die bessere Mutter!« Natürlich soll das ein Kompliment sein und natürlich ist das erst mal humorvoll gemeint, aber für mich ist das Diskriminierung, übrigens diskriminierend für beide Geschlechter, also in diesem Fall auch für meine Frau. Wenn man nämlich einen Vater, der aus Sicht der Sprecherin die Erziehungsarbeit gut macht, als »Mutter« bezeichnet, impliziert man damit, dass das Fürsorgliche von Eltern »mütterlich« sei, dass Väter so etwas eigentlich ja nicht können. Und genau das finde ich männerdiskriminierend oder in dem Fall väterdiskriminierend. Deshalb kann ich Androgyn oder ganzheitlich?
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mit Androgynitätskonzepten nichts anfangen. Beide Geschlechter sind Eltern, fertig. Piontek Ja, das als Ziel – da stimme ich sofort zu! Die Notwendigkeit von Beschreibungen können wir trotzdem nicht hintergehen. Das erzeugt eben das Problem. Der Vorwurf, den die Feministinnen über Jahrzehnte geerntet haben, lautete ja auch: »Ihr beschreibt etwas und zementiert damit den Unterschied. Ihr schreibt fest, wer was ist.« Wir müssen aber irgendwie beschreiben. Wir können nur versuchen, so offene, zutreffende und nachvollziehbare Wörter wie irgend möglich zu finden. Süfke Keine Frage. Ich bin ja auch von den Standardwerken des Feminismus geprägt und habe die Bücher beispielsweise von Luise Pusch gelesen. Die hat ja beschrieben, was die sprach lichen Festlegungen im Kopf bewirken. Das hat mir sofort eingeleuchtet. Bei jedem neuen Buch von mir war das ein quälender Prozess, denn man will ein Buch schreiben für die Allgemeinheit, aber es soll auch gut klingen und nicht etwa sperrig oder vom ständigen Geschlechterkampf durchdrungen. Aber auch diese lapidare und unbeholfene Fußnote, dass sich Frauen bitte schön mitgemeint fühlen sollen, ist ja eigentlich keine Lösung … Ich fühle mich auch nicht »mitgemeint«, wenn beim Elternabend nur die Mütter angesprochen werden. Das Entscheidende ist ja das Ringen um diese Begrifflichkeit. Darum muss es gehen, weil wir uns daraus nicht lösen können. Süfke Ich will einfach sagen, dass ich mit dem Androgynitätskonzept meine Schwierigkeiten habe, es ging mir nicht so sehr um eine Freud-Kritik. Piontek Nein, ich finde die Freud-Kritik sehr zutreffend, das ist eine wichtige Abgrenzung. Süfke Richtig, ja. Aber es ist trotzdem … … der Spätergeborene hat immer recht. 88
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Süfke Ja, genau. Da hat jemand etwas gut gemeint und war in seiner Zeit revolutionär, aber es ist eben nicht so gemacht, wie ich das hundert Jahre später für richtig halte. Und dann kommt ein einfacher Süfke daher und sagt: »So kann man das nicht machen.« Dennoch: Wenn ich für Seminare angefragt werde und die Veranstalter mir einen Ausschreibungstext mit ihren Vorstellungen vorlegen, dann möchte ich nicht haben, dass wir »Kontakt mit unseren femininen Gefühlen« aufnehmen. Ich möchte, dass da steht, dass es darum geht, Kontakt mit unseren Gefühlen aufzunehmen, unseren Sehnsüchten, unseren Bedürfnissen. Piontek Ganzheitlich erleben lernen. Süfke »Ganzheitlichkeit« ist eigentlich das bessere Wort für »Androgynität«. Darum geht es, dass für alle alles erlaubt ist. Androgynität hat eben leicht so einen Beigeschmack davon, dass es um das Mischen von – wiederum – vermeintlich männlichen und weiblichen Anteilen ginge. Nein. »Ganzheitlich« heißt: Das ganze Spektrum ist erlaubt, das hat mit »männlich« und »weiblich« gar nichts zu tun. Piontek Ich entwickle persönlich etwas ganz Neues. Und da haben wir dann quasi die »Fortsetzung« von Androgynie. Ich denke an die Transgenderbewegung. Sich im »unpassenden Körper« zu befinden als Persönlichkeit stellt einen massiven Konflikt dar. Mit diesem Gefühl vielleicht ein Leben lang rumlaufen zu müssen bedeutet großes Leid und ist schwer zu bewältigen. Ich hatte kürzlich eine Beratung mit der Mutter eines Mädchens von knapp 17 Jahren. Die Tochter konnte klar benennen, wie sie nicht sein wollte: eine Frau mit allem Drum und Dran wie Menstruation, Brüste, hohe Stimme, »Weibergetue«. Aber irgendwie wusste sie auch nicht, was anstelle dessen. Sie fühlte sich sexuell zudem zu Frauen hingezogen. Die Mutter hatte beobachtet, wie das Mädchen anfing, männliche Verhaltensmuster, Gesten, Habitus geradezu einzuüben und mit tiefer Stimme zu sprechen. Sie »kopierte« alles, was sie so an »Männlichkeit« um sich herum erlebte. Klar war nun für sie, dass sie Androgyn oder ganzheitlich?
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ganz früh mit einer Hormontherapie beginnen und dann eine »geschlechtskorrigierende« Operation machen lassen wollte und was da noch alles so dranhängt ein Leben lang. Kürzlich habe ich einen Artikel gelesen über eine Persönlichkeit, die den »dritten Weg« gehen möchte, und zwar ganz unabhängig von ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Diese Person gab nicht ihrem Körper die »Schuld« an ihrem Unglücklichsein mit dem Frausein, aber sie sah nicht die Anpassung des Körpers an ein anderes Geschlecht als Lösung. Sie suchte ihr »seelisches Sein«, egal, in welchem Körper. Sie behielt ihre Vagina und verabschiedete sich gleichzeitig von den Unstimmigkeiten und den Rollenstereotypen, die daran gebunden sind. Sie entwickelte etwas ganz Neues, Anderes, darüber Hinausgehendes, auch körperlich war diese Entwicklung sichtbar. Diesen Weg halte ich eigentlich für die radikalste Form von Dekonstruktion! Mir hat das sehr imponiert und ich habe dem »unfreiwilligen« Mädchen, also der Tochter meiner Klientin, gewünscht, dass sie auch diese Möglichkeit mal in Betracht ziehen könne! So etwas lässt sich doch tun, ohne den ganzen Körper umoperieren lassen zu müssen. Aber so eng sind unsere Vorstellungen von den Geschlechtern. Süfke Etwas Neues im Sinne einer eigenen Konstruktion. Piontek Wenn zwei Dinge, die vorher noch nichts miteinander zu tun hatten, weil sie nichts miteinander zu tun haben durften, zusammenkommen, dann ergibt sich etwas Drittes, eben etwas Neues. Oder auch die Möglichkeit der Überwindung der körperlichen Zwänge. Was das Dritte ist, weiß ich nicht, und ich lege es auch nicht fest, das bleibt erst mal völlig offen. Das ist wirklich eine Neukonstruktion. Süfke Ja, das finde ich beim Thema »Männlichkeit« einen ganz wichtigen Faktor, denn das kommt beim Männerthema stärker raus als beim Frauenthema. Bei dem Frauenthema kam ja so etwas wie die »moderne Weiblichkeit« heraus – das ist auch wieder nicht mein Begriff, aber ich lasse ihn jetzt mal unkom90
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mentiert. Beim »modernen« Mann und bei der »neuen Männlichkeit« kommt aber schon wieder eine Festschreibung heraus. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass das männliche Geschlechtsrollenstereotyp immer noch ein Stück rigider ist, ein Stück einengender als das bei Frauen. Das sieht man deutlich bei Eltern: Geschlechtsrollenüberschreitungen von Mädchen sind tendenziell legitimer als Geschlechtsrollenüberschreitungen bei Jungen. Ein Mädchen, das Fußball spielt, ist deutlich weniger problematisch als ein Junge, der zum Ballett geht. Piontek Mädchen dürfen mehr aus der Rolle fallen als Jungen. Süfke Bei Männern werden solche Überschreitungen als unerträglich und unausstehlich erlebt, es entstehen sofort große Verunsicherungen. Piontek Für mich ist therapeutisch und bezogen auf die Ganzheitlichkeit »Empowerment« ein ganz wichtiger Begriff, also die Selbstermächtigung: Männer und Frauen ermächtigen sich selbst, um ihre Ziele im Sinne eigener Ganzheitlichkeit zu verfolgen. Für mich als Frau ist es allerdings leichter, mit den Frauen ein Empowerment in der Therapie zu entwickeln, also inklusive der Nutzung traditionell männlicher Geschlechtsrollenanteile: Nutze deine »aggressiven« Impulse, um Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, Wünsche zu äußern, Forderungen zu stellen! Süfke Sie benutzen das Männliche als Metapher, sozusagen, denn man könnte ja auch sagen, dass Ärgerausdruck, Grenzsetzungen und Ähnliches gesunde »menschliche« Anteile sind. Das muss jeder Mensch können, das hat mit dem biologischen Geschlecht gar nichts zu tun. Piontek Ja, ich frage sie: »Wo haben Sie denn gelernt, dass Sie keinen Ärger zeigen dürfen?« Und dann bekomme ich vielleicht zur Antwort: »Ich habe gelernt, dass kleine Mädels das nicht machen sollten. Sei immer brav!« Vielleicht frage ich dann weiter: »Ihr Bruder, was hat der denn gelernt?« Und sie: »Der hat es auf jeden Fall anders gemacht.« Androgyn oder ganzheitlich?
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»Was hat er denn anders gemacht? Wo hat er das gelernt? Was haben Sie gelernt? Was anstelle dessen wäre denn gut für Sie?« Ich nutze dieses traditionelle männliche Muster aufseiten des Bruders, um überhaupt erst einmal eine Möglichkeit zu geben, festzustellen, was sie sich nicht erlaubt, um dann denkbar zu machen, auch Männern zugeschriebenes Erleben und Handeln in ihr Verhalten einzubauen und damit zu experimentieren. Eine Frau muss erst einmal eine Idee, eine Vorstellung davon entwickeln. Süfke In meinen therapeutischen Zusammenhängen wäre vielleicht eher die Trauer das »verbotene« Gefühl. Ich würde auf etwas anderem Wege als Sie, Frau Piontek, das Gleiche machen, um dahin zu kommen, dass die Trauer eben menschlich ist und zum menschlichen Leben dazugehört. Bei Männern funktioniert das mit der weiblichen Beispielgebung nicht so gut: Guck mal, andere Menschen, nur weil sie Frauen sind, dürfen das, und du, nur weil du ein Mann bist, darfst das nicht. So mache ich das nicht, aber ich finde das ganz spannend. Ich müsste dann noch sehr explizit hinzufügen, dass das eben nichts mit »weiblich« sein zu tun hat. Piontek In der Verhaltenstherapie heißt das ja »geleitetes Entdecken«. Ich versuche, den Klienten und Klientinnen eine Möglichkeit zu geben, anhand eigener Beobachtungen dieses Konstrukt, das sie in Bezug auf ihre Einengung durch das Rollenklischee haben, selbst infrage zu stellen. Und dann kommen sie irgendwann und sagen: »Das stimmt, eigentlich ist es doch ungerecht.« »Ungerecht« ist oft das Wort, das in diesem Kontext fällt. Dann sage ich vielleicht: »Na ja, jetzt lassen Sie uns mal überlegen, wie es denn für Sie ganz persönlich passen würde.« Es geht um diesen individuellen Weg, und dabei ist mir dann egal, ob das männlich oder weiblich heißt. Damit sind wir wieder bei der Dekonstruktion einer vorherigen Beschreibung, um schließlich das Ziel der Ganzheitlichkeit für sich ganz individuell zu erreichen. Insofern ist für mich das Konzept der Androgynität ein Hilfsmittel auf dem Weg zur Beschreibung. 92
Die individuelle Konstruierung des Geschlechts
Sexualität
Es geht relativ oft in Psychotherapien auch um Sexualität. Wie lösen Sie beide das im therapeutischen Prozess auf, wenn Sie bei Ihren Klienten und Klientinnen feststellen, dass sie sehr stereotype Konstrukte abspulen, die einfach entwicklungshemmend sind, nicht das verwirklichend, was eine zufriedene Sexualität angeht. Wie gehen Sie damit um? Süfke Drei Punkte, die mir einfallen: Der erste ist natürlich, dass Sexualität ein starker Aspekt der Geschlechtsidentität ist, also bei jeglicher Abweichung von der Norm entsteht nicht nur Leid, weil das Bedürfnis vielleicht irgendwie schwierig zu befriedigen ist, sondern es gibt massive Verwundungen der Geschlechts identität: Bin ich denn so noch ein richtiger Mann? Der zweite Punkt bei Männern betrifft die Scham. Männer empfinden oft eine hohe Scham wegen ihrer sexuellen Vorlieben, sexuellen Präferenzen, sei es für irgendetwas, was auch in der ICD oder im DSM steht oder viel harmloser ist, zum Beispiel einfach deshalb, weil sie öfter Sex wollen als ihre Frau. Die Frage, die sie sich stellen, lautet: Bin ich moralisch noch ein anständiger Mann? Oder weil sie einmal, als sie onaniert haben und allein zu Hause waren mit dem Baby und das Baby im Nebenzimmer aufwachte, erst noch weiter onaniert haben, bevor sie hingegangen sind, also vielleicht sechzig Sekunden später als sonst. Selbst wenn solche Situationen Jahre her sind, kann das eine nicht zu löschende Scham beinhalten. Bin ich jemand, dem seine Lust wichtiger ist als sein eigenes Kind – für manche ist das Aussprechen des Wortes »Lust« schon an sich schrecklich schwer. Gehöre ich etwa auch zu diesen Monstren, die immer und überall »wollen«? Am stärksten, drittens, erlebe ich beim Thema »Sexualität« aber den männlichen Leistungsdruck: Man könnte etwas zugeSexualität
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spitzt formulieren, dass männliche Sexualität eine ständige Leistungsfähigkeit impliziert und im Grunde einen permanenten Kampf gegen das Versagen beinhaltet. Einen Kampf, den irgendwann fast jeder Mann verliert – zumindest punktuell, was aber ausreicht, der Geschlechtsidentität einen heftigen Knacks zu versetzen. Denken Sie, dass Männer die Schamfrage mit Ihnen als Mann leichter besprechen können als mit einer Frau? Süfke Unbedingt. Ja, unbedingt. Das berührt ja die Frage danach, ob Männer als psychotherapeutische Klienten lieber zu einem Therapeuten gehen oder zu einer Therapeutin. Es findet sich grundsätzlich beides. Aber auf jeden Fall gibt es Themen, die Männer eher zu Therapeuten führen, und das Thema »Sexualität« gehört unbedingt dazu – ich würde schätzen, bei 99 Prozent der Männer. Auch ich persönlich kann mir noch vorstellen, mit manchen Themen zu einer Therapeutin zu gehen, obwohl ich Männertherapeut bin, aber beim Thema »Sex«, um Gottes willen, nein. In den meisten Therapien ist die Sexualität gar nicht das vorherrschende Thema und Anliegen, aber es taucht eben doch oft aus der Versenkung auf. Ist es also beim gleichgeschlechtlichen Therapeuten leichter auszudrücken? Süfke Ich glaube, dass es leichter zu formulieren ist, wenn ein Mann bei einem Therapeuten sitzt. Leicht tun sich die Männer aber auch dann nicht. Ich habe zum Beispiel eine Steifftier-Sau unter meinem Therapietisch, die ich gelegentlich hervorziehe. Manchmal nämlich, wenn ein Mann ursprünglich wegen Partnerschaftsproblemen gekommen ist, wir aber schon einige Stunden zusammengesessen haben, ohne die entscheidenden Themen anzusprechen, 94
Die individuelle Konstruierung des Geschlechts
dann hole ich an einer passenden Stelle die Sau raus und sage: »So, Herr Meier, jetzt sitzen wir schon zehn Stunden zusammen und Sex ist noch überhaupt kein Thema gewesen. Ich glaube, heute müssen wir mal die Sau rauslassen.« Ich versuche dann, gleich schon die Einladung auszusprechen, dass wir jetzt auch über Säuisches, also etwas, wofür er sich möglicherweise schämt, sprechen dürfen. Selbst dann ist das oft noch sehr schwer. Manchmal musste ich sogar schon anbieten, selbst anzufangen. »Damit Sie nicht die einzige Sau hier sind!«, sage ich dann. Das bricht das Eis etwas auf und das Gespräch wird entspannter. Piontek Diese entspannten Gespräche über Sexualität entstehen auch mit Klientinnen. Es wird dann irgendwie »rumgealbert« geradezu. Frauen sind viel »sexfreundlicher« als ihr Ruf! Manche Klientinnen brauchen oft einfach nur die Bestärkung dafür, ihre sexuellen Wünsche und Praktiken zu leben oder auch ihre Grenzen zu setzen. Sie sind gar nicht so treu, wie ein Mann vielleicht denkt, und sie lieben es auch, zu »spielen«. Also, es erwarten immer mehr Frauen ganz selbstverständlich, in ihrer Beziehung ihren ganz persönlichen Sex leben zu können. Aber wenn es nicht klappt, dann ist das umso frustrierender. Bisher hatte ich nur einmal eine Klientin, die von Anfang an mit einem sexuellen Problem als klar definiertes Anliegen in die Therapie kam, aber es ist oft so, dass sexuelle Probleme im Therapieprozess sichtbar werden, meist im Zusammenhang mit sexueller Gewalt und »Feindschaft« mit dem eigenen Körper oder es sind Orgasmusprobleme und der »Lustunterschied« zwischen dem Mann und der Frau. Der führt dann zum Streit und zu einer sekundären Störung der Sexualität. Auch bei Frauen spielt manchmal eine Art Leistungsdruck eine Rolle. Sie wollen »funktionieren« und orientieren sich dann eher an dem, was ihr Mann gerade möchte. Oft ist das immer noch sehr auf den Koitus ausgerichtet und weniger auf Freude an all dem, was der Körper sexuell so ermöglicht. Der Zwang zum vaginalen Orgasmus und die Vorstellung, beide müssten Sexualität
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gleichzeitig »kommen«, und all diese idealisierten Vorstellungen setzen beide unter Druck. Gerade Frauen im mittleren Alter haben oft zu wenig ihre ganz persönliche, eigene Sexualität entwickelt. Sie sind auch im Bett »die braven Mädchen« und orientieren sich an den Erwartungen ihres Mannes. Und der spult womöglich sein Programm ab und hat im Grunde auch nicht gerade viel Spaß dabei! Herr Süfke, Sie haben den Leistungsdruck für Männer beim Sex angesprochen. Auch ein riesiges Thema. Süfke Ich finde es ganz spannend, dass männliche Sexualität gesellschaftlich im Wesentlichen in drei Kontexten diskutiert und problematisiert wird: sexuelle Übergriffe, übermäßiger Pornografiekonsum und Impotenz. Der immense Leistungsdruck aber, unter den sich Männer gesetzt fühlen, wird nur ganz selten thematisiert. Stattdessen wird zu Viagra gegriffen. Piontek Dafür ist aber manchmal Leistungsdruck der Auslöser. Süfke Ja, natürlich. Frau Piontek, wie gehen Sie mit diesem Thema um, wenn Sie Männer in der Therapie haben? Piontek Bis das Thema angesprochen wird, dauert es sehr lange. Bei der Anamnese frage ich, ob irgendetwas im Zusammenhang mit Sexualität »ein Thema« sein könnte – so sage ich das, ich spreche nicht von »Problemen«. Dann antworten 90 Prozent mit Ja, aber das war es dann auch schon. Irgendwann stellen wir gemeinsam eine Hierarchie auf, nach der wir die Probleme angehen. Wir packen sozusagen thematische »Pakete«. Wenn ich also frage, in welches Paket die Sexualität gehört, dann landen wir fast immer bei diesem Leistungsthema. Ich erlebe das als zwei Themen: Einerseits die Unzufriedenheit damit, nicht zu genügen, andererseits steckt aber auch darin, als Mann von der Frau nicht 96
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das zu bekommen, was ihm doch »von Natur aus« zusteht, und dies wiederum als Zurückweisung zu erleben. Wenn die Frau nur einmal im Monat Lust hat, dann wird das als Zurückweisung und Abwertung erlebt. Kommen dann in der Beziehung noch Onanier- und Pornoverbote dazu, dann wird es eng. Das Thematisieren von Sexualität wird aber auch vom Alter der Therapeutin abhängen. Ich bin inzwischen alt genug, um nicht mehr ins »Beuteschema« zu gehören – das scheint eine Variable zu sein. Bei jüngeren Therapeutinnen würden Männer vermutlich manches nicht ansprechen. Ich habe längst den Vorteil, meistens zwanzig, dreißig Jahre älter zu sein als die Klienten, und da geht’s einfach anders zu. Manches ist eine Frage des Entrees – wieder geht es um Worte: Wie spreche ich, wie spricht er über seine Sexualität, ist das anschlussfähig, was ich sage und wie ich etwas ausdrücke? Wenn ich da sensibel genug bin, kann es klappen. Aber ich bin davon überzeugt, dass ganz viele Männer es vermeiden, mit mir darüber zu reden. Können Sie das nachvollziehen? Süfke Ja, absolut. Ich will aber noch etwas einwerfen zu dem Sich-zurückgewiesen-Fühlen: Das ist ja nachvollziehbar. Ich habe therapeutisch öfter mit männlicher Unlust zu tun, und dann fühlen sich auch die Frauen extrem zurückgewiesen in ihrer geschlechtlichen Identität. Das Gefühl, durch sexuelle Unlust des anderen zurückgewiesen zu sein, hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Piontek Ja, aber ich denke, dass Männer sich mehr über Sexualität definieren und dass es deshalb für sie noch mal bedeutsamer ist. Frauen definieren sich stärker über sexuelle Attraktivität. Süfke Aber es ist genauso bedeutsam. Piontek Trotzdem ist das ein großer Unterschied. Süfke Klar, Frauen wollen dann, dass der andere will, aber sie selbst wollen gar nicht. Piontek Frauen definieren oft ihre Sexualität nicht so sehr über sexuelles Handeln, sondern über Attraktivität, erotische WirSexualität
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kung, sexuelle Anziehungskraft und so etwas. Eine Frau beschäftigt die Frage, was von einem Mann »zurückkommt«. Wirkt ihre Ausstrahlung auf einen Mann, dann fühlt sie sich sexuell attraktiv und »wertvoll«. Das hat mit sexuellen Handlungen noch nichts zu tun. Wenn jemand wirklich scharf ist auf Sex, dann ist das etwas ganz anderes. Wie fühle ich mich bei der sexuellen Handlung selbst, das ist eine andere, eine zweite Frage. Man muss das gerade bei Frauen differenzieren, weil sie sexuelle Handlungen an sich, eine befriedigende Sexualität oder bestimmte Handlungen beim Geschlechtsakt eher selten mit so etwas wie »Erfolg« verbinden. Sie fragen sich sogar oft: Was mache ich da eigentlich? Süfke Die sexuelle Handlung gibt im Vergleich zum erotischen Sein gar nicht so viel her. Piontek Nein. »Ich mache es halt mit«, sagen viele Frauen, »aber das, was vorher ist, das ist viel spannender.« Ein erheblicher Anteil meiner Klientinnen hat eine sexuelle Missbrauchs- und Gewaltgeschichte hinter sich. Vor diesem Hintergrund thematisiert sich Sexualität völlig anders. Das muss man einfach sehen. Ich glaube aber, dass es bei Männern auch so ist. Auch bei Männern sind Traumatisierungen viel häufiger, als wir denken, die Dunkelziffer ist wahrscheinlich gewaltig, und diese Männer tun sich noch viel schwerer, darüber zu reden, weil die Schamschwelle viel höher ist. Ich entscheide mich bei manchen Männern mit bestimmten Problemen, am Anfang gar nicht über Sexualität zu reden. Ich spüre etwas, aber ich sage nichts, sondern denke: Na, warten wir mal ab, ob sich im Laufe der Therapie sexuelle Gewalterfahrungen und Übergriffe zeigen, also sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Wir schauen bei Männern oft nicht gut genug auf dieses Thema, auf diesen Erfahrungshintergrund. Wie oft sprechen wir in Psychotherapien über irgendwelche anderen Probleme, und auf einmal macht es »Buff!« – plötzlich steht da ein sexueller Missbrauch oder eine Vergewaltigung im 98
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Raum. Von da ab reden wir völlig anders, plötzlich ist man bei tiefen Beziehungsstörungen. In meinem Erfahrungsschatz als Therapeutin jedenfalls ist bei unserer Klientel die unbeschwerte Sexualität eher die Ausnahme – was ich zutiefst erschreckend finde. Süfke Das zeigt eben, wie wenig Sexualität mit sexuellen Handlungen zu tun hat oder was für einen verhältnismäßig kleinen Teil der Sexualität die sexuellen Handlungen ausmachen. Piontek Genauso ist das. Süfke Ich möchte zu einem früheren Punkt noch kurz etwas ergänzen: Ich finde es aufschlussreich, dass sich Frauen stärker über die sexuelle Attraktivität definieren, Männer hingegen über die sexuellen Handlungen, denn das ist ja sinnbildlich für männliche und weibliche Geschlechtsidentitäten. Weibliche Geschlechtsidentität definiert sich häufig über ein Sein und männliche Geschlechtsidentität definiert sich häufig über ein Tun, über ein Handeln. Das ist auch der Grund dafür, warum die männliche Geschlechtsidentität schneller wieder abhandenkommt, weil Sein längerfristiger angelegt ist, Handeln aber muss man immer wieder beweisen. Es bringt dann nichts, wenn man in der Jugend viel Sex hatte. Hat man ihn jetzt nicht mehr, dann ist man kein richtiger Mann. Piontek Genau an dieser Stelle müssen wir uns dann oft mit biologistischen Erklärungsmodellen herumschlagen. In der Paar therapie sagt der Mann: »Ja, das ist nun mal so. Ich bin eben ein Mann, und das mit dem Testosteron, das ist eben so, das wissen doch alle. Männer, die wollen erobern und die wollen tun. Und die Frauen wollen locken und schön sein, damit die Männer endlich tun dürfen.« Süfke Geht es vielleicht darum, dass man sich dann nicht schämen muss dafür, dass man ständig geil ist, dass man öfter will als sie? Wenn das vom Testosteron kommt, dann muss man sich dafür nicht schämen. Das ist das Schöne an der Erklärung. Egal, ob sie wahr ist oder nicht oder wie stark das Testosteron Sexualität
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reinspielt. Ich sage den Männern: »Es ist mir völlig egal, Herr Meier, ob Sie fünfmal in der Woche mit Ihrer Frau schlafen wollen, weil Sie ein Mann sind oder weil Sie Herr Meier sind, mir ist das völlig egal, für mich zählt nur, dass Sie das gerne möchten. Wenn Sie das gerne möchten, dann ist das so. Das ist weder gut noch schlecht.« Piontek Aber wenn der Herr Meier fünfmal in der Woche wollen darf, dann darf die Frau Meier genauso fünfmal in der Woche nicht wollen. Was machen wir denn jetzt? Süfke Genau, das ist die Frage! Wie gehen wir damit um jetzt? Und das geht erst mal nur übers Reden. Ich habe schon Männer in der Therapie gehabt, die wirklich zwanzig Jahre lang nicht ein einziges Mal über eine spezielle sexuelle Vorliebe wie einen Fetisch oder eine bestimmte Sexualpraktik mit ihrer Frau gesprochen haben. Da steht die erste Hürde, mit ihr darüber zu sprechen und das einzugestehen: »Ja, ich bin ein Mann, der eigentlich nur so richtig Lust empfinden kann, wenn irgendwelche Bilder rumhängen!« Oder Schuhe mit im Spiel sind oder was auch immer, ganz egal. Das ist oft die größere Hürde. Der Umgang damit ist dann häufig gar nicht mehr das riesige Problem. Manchmal haben auch beide verschiedene Vorlieben. Wenn man darüber redet, kann man oft beides einbeziehen. Auch Frauen müssen sich zu so etwas bekennen können. Da gibt es doch so viele Möglichkeiten. Das finde ich therapeutisch gar nicht so schwer. Piontek Ich erlebe das mit den Frauen aber wirklich als ein großes Problem. Wenn Frauen sogenannte sexuelle Luststörungen haben, basieren die häufig auf irgendeiner traumatischen Gewalterfahrung. Wenn eine Frau Koitus über sich ergehen lässt, nur damit er seine Lust befriedigt, dann haben wir eine sich wiederholende sexuelle Gewalt. Und wir haben es mit »Eheprostitution« zu tun, so nenne ich das. Ich hatte mal eine Klientin, die mir erzählte: »Wenn ich will, dass mein Mann am Wochenende gut drauf ist, muss ich mit 100
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ihm am Samstag nach der Sportschau Sex haben. Wenn ich will, dass meine Kinder neue Schuhe bekommen und er uns das Geld dafür gibt, muss ich mit ihm Sex haben.« Diese Machtverhältnisse, dieser Machtmissbrauch zugunsten einer männlichen sexuellen Befriedigung sind nicht etwas nur aus alten Zeiten, das taucht in Psychotherapien mit Frauen immer wieder auf. Süfke Die Machtverhältnisse sind das eine. Das andere ist, dass beide auf tradierte Muster zurückgreifen, weil es so in ihren Köpfen drin ist. Piontek Für Frauen hat das mit ihrer eigenen Sexualität ganz wenig zu tun. Süfke Die Frage wäre, ob nicht auch die Männer etwas mitmachen, was mit ihrer eigenen Sexualität ebenfalls nicht viel zu tun hat, sondern mit etwas, was sie darstellen wollen. Es hat dann mit ihrer Geschlechtsidentität zu tun: Ich bin ein toller Mann, wenn ich fünfmal in der Woche mit meiner Frau Sex habe. Ob ich eigentlich wirklich fünfmal Sex haben will oder diesen Sex oder fünfmal Sex mit jemandem, der selbst gar nicht will, ich das aber nicht mal bemerke oder aber es mir egal ist – ob diese Sexualität wirklich befriedigend ist für den Mann? Wir können nicht den Umkehrschluss begehen, dass, wenn die Sexualität jahrhundertelang für das eine Geschlecht unbefriedigend war und immer noch ist, dass sie dann für das andere Geschlecht automatisch befriedigend war und ist. Das funktioniert nicht. Ich als »Männertherapeut« kann nur sagen: Es gibt oft genug Unglück auf beiden Seiten.
Sexualität
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Körperlichkeit
Wir haben jetzt viel über das Entwicklungshemmende gesprochen. Offenbar erleben wir die Geschlechterschablonen eher als blockierend. Wann wird das positiv aufgebrochen? Piontek Wenn es um eine andere Art der Körperlichkeit und der Körpernähe geht. Die Frauen, bei denen das gelingt, finde ich ganz spannend. Frauen, die eine gelingende Sexualität haben, beschreiben ihre Partner als körpernah. Das sind Partner, die gekrault werden wollen und die mit der Körpernähe auch noch etwas anderes verbinden als nur Sex. Oder die mit ihrem Körper spielerischer umgehen. Diese Frauen wollen Sex und freuen sich darauf, wollen diese Sexualität aber auch aktiv mitentwickeln. Eine gelingende Sexualität haben Frauen, die sagen, was ihnen Spaß macht und was sie sich wünschen. Es muss ein gemeinsames, neues Konstrukt werden. Das ist auch meine therapeutische Frage: Wie entwickelt ein Paar gelingende Sexualität inklusive aller Bedürfnisse, die beide haben und die auch klar ausgedrückt werden dürfen? Und dabei sollten Frauen nicht passiv sein. Eine gelingende Sexualität hat immer etwas mit dem Aufbrechen traditioneller Vorstellungen zu tun. Süfke Sexualität ist ja ein schönes Feld, auf dem man auch mal etwas anders machen kann, auf dem man spielerisch sein kann. Piontek Eine Klientin sagte vor ein paar Jahren mal, es mache ihr viel Spaß, »nuttig« zu sein beim Sex. Das dürfte sie gar nicht laut irgendwo sagen. Ihr Mann hatte auch Spaß daran. Die haben das ein bisschen inszeniert. Süfke Es gelingt ihnen, weil sie sich nicht mehr dafür schämen. Es ist eben ein Bedürfnis. Scheiß drauf, ob es traditionell weiblich ist oder nicht. 102
Die individuelle Konstruierung des Geschlechts
Dass Männern das Nuttige gefällt, überrascht mich jetzt nicht. Aber was ist nun mit dem Kuscheln? Wo liegt da eigentlich das Problem für Männer, Herr Süfke? Süfke Ich darf ja jetzt eigentlich gar nicht mehr antworten, weil ich mich vorhin schon der Frage als zu normativ widersetzt hatte. Aber gut: Erst einmal ist es für mich völlig legitim, wenn ein Mann – warum auch immer – nicht das Bedürfnis nach Kuscheln hat, sondern nur nach kuschellosem Sex oder nach gar keinem Sex. Insofern würde ich das Kuscheln nicht zur Norm erheben. Nichtsdestotrotz ist es sicherlich so, dass wir Männer aufgrund dieser Definition über sexuelle Leistungsfähigkeit häufig Körperlichkeit sexualisieren, einfach deshalb, weil sie dann als ein Gewinn im Bereich der männlichen Geschlechts identität erlebt wird. Zu »kuscheln« bringt für die männliche Geschlechtsidentität etwa eines Sechzehnjährigen, der eine Freundin hat, nicht so viel. Piontek Nach außen! Süfke Auch nach innen, für die eigene Psyche. Sonst hieße es ja, die Männlichkeitsanforderungen sind nur etwas, was außen wirksam wird, als hätten wir sie eigentlich gar nicht nach innen übernommen. Häufig ist es durchaus so, dass ein richtiger Gewinn für die Geschlechtsidentität, dafür, sich als wirklicher Mann zu fühlen, nicht darin besteht, gekuschelt zu haben, sondern ich muss schon Sex mit Koitus oder Orgasmus haben, und zwar auch unabhängig davon, ob das für mich, für die Frau, für uns beide befriedigend war. Das fängt ja schon in der Jugend an. Auch für mich selbst war das erste Mal Geschlechtsverkehr sehr wichtig, um mich als Mann zu empfinden. An das erste Kuscheln davor kann ich mich gar nicht erinnern. Der Geschlechtsverkehr war bedeutsam für meine Geschlechtsidentität als Mann. Er war natürlich nicht besonders gelungen, aber das war – identitätstechnisch – egal. Ich war jetzt ein Mann. Körperlichkeit
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Diese Vorstellung führt sicher dazu, dass Körperlichkeit oft zu stark sexualisiert wird. Für das Körpergefühl kann das sogar weniger befriedigend sein oder für meine Psyche, weil viel Stress im Spiel sein kann. Trotzdem ist es sehr befriedigend für die Aufrechterhaltung der Geschlechtsidentität, die, wie gesagt, ständig neu bewiesen werden muss. Und wenn ich nun in Ihrer Sprache sagen würde, dass das Kuscheln doch ein »menschliches« Bedürfnis ist? Süfke Ja, es ist ein menschliches Bedürfnis, aber wahrscheinlich haben das nicht alle Menschen gleich stark ausgeprägt. Wahrscheinlich haben es alle Menschen ein bisschen, aber eben sehr unterschiedlich ausgeprägt. Können Sie das den Männern denn vermitteln? Frauen haben nun mal die große Frage, warum ihr Mann abends nicht ins Kuscheln findet. Süfke Ich sträube mich hier deshalb so, weil die Fragen der Journalistinnen von Frauenzeitschriften das als etwas Normatives hinstellen. Dem möchte ich mich widersetzen. Für mich ist die interessante Frage nicht, warum Männer Schwierigkeiten haben, aufs Kuscheln umzustellen, sondern für mich ist die interessante Frage, ob ein ganz konkreter Mann kuscheln will. Die Frage, warum sie es nicht tun, übergeht die Frage, ob sie es denn überhaupt wollen. Piontek Ja, aber wir können therapeutisch auch fragen, was sie hindert, denn wahrscheinlich hat das etwas mit irgendeinem traditionellen Geschlechtsrollenstereotyp zu tun. Süfke Vielleicht entlarvt sich an so einer Stelle auch einfach ein ganz anderer Paarkonflikt. Warum soll ich denn unbedingt etwas tun, nur weil meine Frau es von mir will? Sie gibt mir ja auch nicht das, was ich will. Man muss das mit jedem Einzelnen 104
Die individuelle Konstruierung des Geschlechts
klären. Vielleicht existiert irgendwo eine Inkongruenz. Und die ist ja, therapeutisch betrachtet, immer ein Problem. Piontek Es könnte aber sein, dass eine Bewertung in seinem kognitiven System sagt, Kuscheln wäre unmännlich. Süfke Das ist eine Variante. Piontek Der traut sich nicht. Obwohl er das Bedürfnis hat, mit seiner Freundin zu kuscheln, traut er sich nicht, sich mit diesem Bedürfnis nach außen darzustellen, weil er gelernt hat, dass das nicht rollenkonform ist. Das ist ja ein Problem, das wir bei Männern dauernd haben, dass Bedürfnisse und die Handlungen oft nicht zusammenpassen. Süfke Sie passen nicht zusammen, weil das Bedürfnis nicht klar ist. Weil der Zugang zu den anderen, nicht sexuellen Gefühlen nicht da ist. Süfke Nein, ich bleibe dabei, dass es zuerst darum gehen muss, dass sich jeder Mann seiner Bedürfnisse bewusst werden muss. Es ist noch nicht ausgemacht, welche Bedürfnisse das sind. Und bei dieser Suche müssen sich Männer sowohl von den tradierten Mustern befreien als auch von den Erwartungen ihrer Frauen. Piontek Stellen wir die Frage doch mal anders herum: Warum wollen Frauen eigentlich immer, dass »gekuschelt« wird? Süfke Sehr gut! Piontek Ich versuche mal eine Antwort: Ich glaube, dass der Frauenkörper tendenziell über diese körperliche Zuwendung und über diese dadurch empfundene körperliche Attraktivität zum »Austragungsort« vieler Dinge wird. Dieses Wahrgenommenwerden über den körperlichen Kontakt ist für sie wichtig. Der Körperkontakt als eine ganz wichtige Kommunikationsebene. Das ist das eine. Das Zweite ist: Sie haben das Glück, dass zu ihrem Rollenstereotyp die »Erlaubnis« gehört, schmusen und kuscheln zu dürfen. Dann wären sie ja dumm, wenn sie das nicht einfordern würden. Wobei ja auch noch zu klären wäre im Einzelfall, was »Kuscheln« eigentlich meint. Zeit für Kuscheln Körperlichkeit
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bedeutet auch Ruhe, aufeinander bezogen zu sein, und da kommen viele Frauen »in Stimmung«. Das ist dann auch ein Ausdruck von Harmonie und Intimität und Liebe und dafür sind sie im Rollenstereotyp ja auch zuständig! Süfke Das Schöne am Kuscheln ist sicherlich, dass es noch in beide Richtungen gehen kann: Kuscheln kann man gleichzeitig zum Fernsehen, es könnte aber auch Sex daraus werden. Sind die tatsächlichen sexuellen Handlungen nicht so wahnsinnig befriedigend und besteht ihnen gegenüber eine Ambivalenz, dann erscheint das Kuscheln als neutrales Terrain, auf dem sich die Frau noch nicht festlegt. Mal gucken, was wird, ob es mich anmacht, ansonsten bleibt auch noch der Rückzug. Piontek Sozusagen ein Test. Süfke Ein Testlauf. Ich meine das aber gar nicht abwertend. Es bietet sich so Zeit, um herauszufinden, ob Lust überhaupt aufkommt. Vielleicht will man auch viel lieber in einer angenehmen Atmosphäre über den abgelaufenen Tag sprechen und dabei nur körperlich spüren, dass man geliebt wird. Piontek Für mich bleibt der Hautpunkt, ob die innere Erlaubnis vorliegt oder ob Männer das als »weibisch« wahrnehmen, denn dann machen sie die Tür gar nicht erst auf. Süfke Ja, wir brauchen diese Türen. Und diese Türen sind so unglaublich geschlechtstypisch. Als würden wir beiden Geschlechtern unterschiedliche Räume anbieten. Piontek Wenn sich Männer die innere Erlaubnis geben, in der intimen Vertrauenssituation einer Zweierbeziehung auch einfach nur mal kuscheln zu dürfen, dann fällt auch der mit dem möglichen Sex verbundene Leistungsdruck ab. Frauen sagen dann oft, sie wollten abwarten, »wie halt die Stimmung ist«. Ich glaube, eine gelungene Zweiersituation besteht darin, dass beide ihre Bedürfnisse in dem Augenblick umsetzen dürfen, zum Beispiel in Kuscheln. Da für Männer der Zugang zu diesem Gefühlsspektrum nicht so erlaubt ist, brauchen sie ein besonderes Setting, um sich diese innere Erlaubnis zu geben. Wenn 106
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es eine gelungene Beziehung ist, dann können sie sich leichter die Erlaubnis geben, weil sie nicht die Angst haben müssen, über irgendwelche Rollenstereotype bewertet zu werden, also im Kopf ihrer Frau, meine ich. Es entsteht eine Art geschlechtsneutraler Raum. Na ja, das ist vielleicht zu hoch gegriffen, aber es besteht ein rollenneutraler Raum, ein bewertungsfreierer Raum. Mit den Sexspielen inklusive besonderer Vorlieben ist es dann ebenso. Frauen stehen nicht nur auf »Blümchensex«! Überhaupt nicht! Wenn sie sich »trauen dürfen«, dann kann es auch mal heftig werden! Süfke Genau. Und zwar wenn der Sex ein bisschen getrennt ist von der sonstigen Alltagswelt und er eine Spielwiese wird, auf der ein anderes Verhalten ausprobiert werden kann und darf.
Körperlichkeit
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GESCHLECHTERKONSTELLATIONEN IN DER PSYCHOTHERAPIE
»Ich glaube, dass eine gleichgeschlechtliche Konfrontation anders funktioniert als eine gegengeschlechtliche.« Rosemarie Piontek
Der Zugang zu den Gefühlen
Es heißt sehr oft, Frauen hätten die höhere Empathie und einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen – stimmt das eigentlich so pauschal? Wer bei jeder Kontroverse anfängt zu weinen, hat deshalb noch keinen intensiven Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen, denn das bleibt womöglich völlig im Rollenstereotyp und kann zudem hoch instrumentalisiert sein. Süfke Das widerspricht allerdings noch nicht der These, dass Frauen einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen haben. Aber wird nicht doch der weibliche Umgang mit Gefühlen grundsätzlich als »besser« und »richtiger« bewertet? Noch mal zurück zur Champions League: Wenn ein Fußballspieler nach einer Endspielniederlage im Stadion vor einer Kurve steht und bitterlich weint, weil zehntausend Menschen singen »You will never walk alone«, dann wird das eher beschmunzelt. Süfke Ich würde sagen, im Durchschnitt ist es so – ich bleibe bei der These –, dass Männer sozialisationsbedingt einen erschwerten Zugang zu den meisten eigenen Gefühlen haben. Nur, es gibt natürlich Ausnahmen. Eine Ausnahme sind der Ärger und der Ärgerausdruck. Frauen haben einen schwierigeren Zugang zu dem Ärger, weil das ein Gefühl ist, das ihnen sozialisationsbedingt weniger zugestanden wird. Männer haben allerdings tatsächlich einen erschwerteren Zugang zu den ganzen sogenannten schwachen Gefühlen, also Trauer, Angst, Hilflosigkeit, Scham – da würde ich schon bei der These bleiben. Piontek Ich erzähle mal ein Fallbeispiel: Eine Klientin, fünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Diese Klientin hat einen 110
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
Kreislaufzusammenbruch, eine Herzattacke, also ein somatisches Problem, ist lange krank und kommt nun in die Therapie. Sie hat ganz viel Zugang zu ihrem Gefühl von Frustration. Sie ist frustriert, sie ist traurig, sie ist hoffnungslos, sie fühlt sich alleingelassen. Dazu hat sie einen Zugang, sie spürt es. Das Interessante ist nun, dass sie in Nebensätzen »unterm Tisch gegen Schienbeine« tritt, um es mal so metaphorisch auszudrücken. Ich spüre da etwas, ohne das anfangs schon benennen zu können. Aber ich merke, dass es da eine aggressive Komponente gibt. Sie selbst kann überhaupt nicht benennen, dass sie ziemlich sauer auf ihre Familie ist. Aber sie kann es geradezu atemberaubend so schildern, dass ich selbst in der Gegenübertragung Aggressionen spüre. Das ist das Erste, was mir auffällt. Das Zweite ist, dass die Krankheit zu einem funktionalen Machtinstrument wird. Ausformuliert in etwa so: »Wenn ich meine Aggression nicht ausdrücken kann, dann werde ich schon mal wenigstens krank. Dann werdet ihr mal sehen, was ihr davon habt.« Sie schädigt sich also selbst in hohem Maße, weil sie nicht in der Lage ist, ihre Grenzen zu setzen, ihre Wünsche zu äußern, ihre Wut auszudrücken, die Ausbeutung zum Thema zu machen und so weiter. Das heißt, ich als Therapeutin bekomme all das, also die Trauer, Hoffnungslosigkeit, das Verlassensein, die Frustration und den Ärger ausführlich »serviert«, aber sie selbst ist nicht in der Lage, das in ihrem Umfeld auszudrücken. Solchen Menschen, natürlich auch und besonders den Männern, drücke ich Emotionskarten in die Hand und sage: »Jetzt nehmen Sie mal raus, welche Gefühle da bei Ihnen eine Rolle spielen.« Und plötzlich liegt Maxi auf dem Tisch. Wer oder was ist jetzt »Maxi«? Piontek Maxi ist die Karte mit dem Kind, das auf dem Boden liegt und weinend mit beiden Fäusten trommelt. Ich sage dann: »Was sehen Sie denn auf der Karte?« Der Zugang zu den Gefühlen
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»Ja, das ist ein Kind, das haut auf den Boden und schreit.« Ich frage: »Was für ein Gefühl gehört denn dazu?« Nichts. Diese Menschen sitzen da und können das nicht benennen. Ich werde etwas Zeit brauchen in der Sitzung, bis die Frau endlich sagt: »Ärgerlich und sauer ist das Kind, so wie ich.« Und bei den Männern brauchen wir lange, bis die mal Wörter aussprechen können wie »Scham«, »traurig«, »weinen«, »Angst«, »frustriert«, »Einsamkeit«. Mit den Emotionskarten lässt sich da oft gut arbeiten. Es gibt einfach bestimmte ausgeblendete Gefühle, weil sie unter ein Emotionsverbot fallen. Das ist bei Männern genau dasselbe wie bei Frauen, ja, aber es ist eben »emotionsselektiv«. Und dann kommt die jeweilige Funktionalität im sozialen Kontext noch hinzu. Geschlechterstereotype blockieren unsere Gefühlszugänge, das ist einfach so. Süfke Ich arbeite nicht mit diesen Karten, aber ich hätte natürlich auch den Ärger thematisiert. Ich hätte eine passende Stelle im Gespräch abgewartet und aufgegriffen. Sie hätten auch mit der Gegenübertragung arbeiten können, zu sagen, ich spüre, dass … Süfke Ja, ich nutze das manchmal in der Tat, wenn ich sehe, dass die Therapiezeit langsam zu Ende geht, und wenn ich das Gefühl habe, dass der Klient nicht darauf kommt, wenn das Gefühl aber wirklich schon im Raum steht, eine Trauer zum Beispiel. Wenn ich dann selbst langsam Mühe habe, die Tränen zurückzuhalten, weil ich an meine Großmutter und deren Tod denken muss, dann sage ich vielleicht: »Darf ich Ihnen mal eine Rückmeldung geben? Sie haben mir auf meine Frage noch keine Antwort geben können oder mögen, wie es Ihnen damit geht. Darf ich Ihnen mal sagen, was mein Eindruck ist, welches Gefühl ich hier ganz stark spüre?« Ich scheue mich nicht so davor, obwohl ich von der Ausbildung her stärker nondirektiv sein soll, aber 112
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
da würde ich eben wieder sagen, dass wir in der Männertherapie direktiver sein müssen. Manchmal zumindest. Ich scheue mich jedenfalls nicht davor, auch mal Gefühle anzubieten, um zu sehen, was passiert. Oft mache ich das bei Angstgefühlen. Die Reaktion ist dann vielleicht, dass die Arme verschränkt werden und gesagt wird: »Na ja, Angst würde ich es jetzt nicht nennen.« »Ja, wie würden Sie es denn nennen, vielleicht Muffe oder Respekt?« »Vielleicht so, ja, da hab ich so ’n bisschen Respekt vor meiner Frau.« »Machen wir es doch so: Sie nennen das ›Respekt‹ – und ich bleibe bei ›Angst‹, in Ordnung?« Können Sie das mal ausführlicher darstellen? Süfke In unserer ambulanten Beratungsstelle, in der viele Männer selbst zahlen, da ist es eben so, dass wir Mittelschichtsmänner haben, Akademiker, die vom Gefühlsabwehrmechanismus, wie ich das nenne, klassische Rationalisierer sind. Ich darf das so sagen, denn ich bin selbst ja auch so einer, wie die meisten Studierten eben. Dann ist es oft eine mühsame, schweißtreibende Arbeit, immer wieder mit dieser Frage nach den Gefühlen zu konfrontieren. Das fängt schon damit an, dass der Klient, wenn er von sich erzählt, ständig »man« sagt: »Ja, das wissen Sie ja auch, dass man da auch ärgerlich wird in solchen Situationen oder dass man das dann auch irgendwie nicht mehr haben kann.« Dann weise ich schon mal darauf hin, wer dieses »man« ist, nämlich er selbst. Ich frage aber ganz oft erst mal um die Erlaubnis, ob ich so eine persönliche Rückmeldung auch konfrontativer geben darf. Dann sage ich vielleicht: »Ganz ehrlich, das klang jetzt sehr, sehr intelligent, und das meine ich ganz ernst, aber ich fühle irgendwie nichts bei Ihrer Erklärung. Ich kriege nicht mit, wie es Ihnen Der Zugang zu den Gefühlen
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damit geht. Wenn Sie mir so ein Erklärungsmodell liefern für Ihre Partnerschaft, dann weiß ich eigentlich immer noch nicht, wie es Ihnen geht mit Ihrer Frau.« Ich versuche also immer wieder zu konfrontieren, um klarzumachen, dass er rationalisiert. Das mache ich auch bei dem häufigen Abwehrmechanismus »Schuld sind die anderen«. Ich hatte mal einen Mann, der wirklich ohne jede Pause in so einem fast brutalen Tonfall über die anderen Menschen in seinem Leben herfiel, über den Arzt, der ihm nicht helfen konnte mit seinen Problemen, über seine Frau, die ihn verlassen wollte, über seine Kinder, die nichts mit ihm zu tun haben wollten, und so weiter. Und das immer in diesem Ton, dass die anderen die Schuld tragen. Da habe ich tatsächlich mal meinen Stuhl genommen und hab den so ein, zwei Meter mit einem Ruck nach hinten gerückt. Ich musste einfach ein Stück weg von dem. Er war natürlich völlig aus dem Konzept. Dann habe ich gefragt: »Ja, Herr Müller, Sie wundern sich wahrscheinlich, warum ich hier einfach meinen Stuhl so nach hinten schiebe, darf ich Ihnen kurz mal sagen, warum ich das tue, wie es mir gerade geht mit Ihnen?« Er war ganz verdutzt: »Ja, sicher, in Ordnung.« »Ganz ehrlich, die Art und Weise, wie Sie mit mir sprechen hier, die macht mir Angst. Diese Strenge in Ihren Worten, da merke ich, dass ich mit meinem Stuhl zwei Meter nach hinten möchte, weil ich befürchte, dass Sie auch über mich so urteilen werden: ›Na, der Therapeut, der konnte ja auch nichts …‹ Das möchte ich für mich nun gar nicht. Ich will auch eigentlich nicht zwei Meter weg sitzen von Ihnen, ich möchte mich Ihnen eigentlich lieber ein bisschen nähern.« Er wurde wirklich schlagartig ruhiger und sagte: »Ja, ich mache den Leuten Angst. Das stimmt, ich mache den Leuten Angst.« »Wissen Sie, warum Sie das tun?« Er wusste das natürlich nicht sofort. Ich habe ihm also das Angebot gemacht, dass wir das zusammen rausfinden könnten. Und es dauerte bei ihm nicht einmal sehr lange, bis er los 114
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
erzählte: Er hatte eine ganz grauenvolle Scheidung seiner ersten Ehe hinter sich, und er stellte einfach mit seinem Verhalten sicher, dass ihm keiner jemals wieder zu nahe käme. Darin war er sehr erfolgreich. So kamen wir heran an das Gefühl von Angst. Wann stoßen Sie denn an Ihre eigenen Grenzen? Frau Piontek, ich stelle mir vor – und ich muss jetzt etwas plakativ werden –, bei Ihnen erscheint eine dieser Frauen, die wir umgangssprachlich mit »Barbie« bezeichnen. Sie bedient so alles an Stereotypen, was Sie für hinderlich für ein zufriedenes Leben halten. Piontek Das stimmt nicht, das tue ich gar nicht automatisch. Da genau hilft mir mein Wissen über Geschlechtsrollenstereotype! Ich habe auch dafür ein gutes Fallbeispiel: Eine Klientin entspricht voll diesem Weiblichkeitsklischee. Sie sieht super aus, hat eine tolle Figur, ist richtig gestylt, eben »schön« im heutigen Sinn. Man schaut solche Menschen ja gerne an, besonders noch, wenn sie Geschmack haben und nicht übertreiben. Die hätte jedenfalls irgendeiner Modezeitschrift entsprungen sein können. Da gibt es einen Teil in mir, der sagt: »Boah, sieht die toll aus!« Ich kann sie bewundern und auch wertschätzen. Wenn ich jetzt dreißig wäre, also in dem Alter der Klientin, würde ich nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich das so großzügig sagen könnte, sondern eher innerlich konkurrieren würde. Aber ich bin mir über die erlaubten Konkurrenzbereiche im weiblichen Stereotyp sehr bewusst. Wir Frauen konkurrieren weniger um gesellschaftliche Macht, Besitz oder Status. Wir »dürfen« darum kämpfen, wer die schlankste, hübscheste und begehrteste Frau ist, wir konkurrieren um den »Mutterpokal« und oft auch noch darum, wer die beste Hausfrau, die altruistischste Nachbarin oder so was ist. Beruflich konkurrieren wir eher »unprofessionell«. Und nicht zu vergessen, wir konkurrieren darum, wer den mächtigsten, reichsten und statushöchsten Mann hat. Der Zugang zu den Gefühlen
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Also, wenn jetzt diese physisch attraktive Frau da sitzt, dann bin ich mir meines gelernten »Konkurrenzmusters« ziemlich bewusst. Ich werde mich also bemühen, sie innerlich nicht abzuwerten und kleinzumachen, nur damit ich gut dastehe. Ich werde auch nicht in das übliche Frauenabwertungsmuster »hübsch, blond, doof« einsteigen! Frauen werden gesellschaftlich abgewertet – das zu tun, habe auch ich gelernt. Umso wichtiger ist es, dass ich genau das nicht fortsetze. Diese Klientin hat ihr bestechendes Äußeres ziemlich einsam gemacht. Frauen meiden sie, weil sie die Konkurrenz der physischen Attraktivität fürchten, Männer trauen sich nicht an sie heran, weil sie sich unterlegen fühlen, andere halten sie für hohl und trauen ihr nichts zu. Sie klagt, dass nur smarte, oberflächliche Typen auf sie abfahren, dabei sehnt sie sich nach einer monogamen, festen Beziehung im traditionellen Rollenmuster und würde gerne viele Kinder haben! Falls sich herausstellen sollte, dass ihr das Barbieimage hinderlich sein sollte bei der Lösung der Probleme, wegen derer sie in Therapie gekommen ist, dann werden wir daran arbeiten. Herr Süfke, wie ist es nun für Sie, wenn Sie den Eindruck haben, Sie haben einen Rambo vor sich sitzen. Wie bringen Sie den näher an seine Gefühle? Süfke Och, Herr Britten, so Typen wie Sie und ich, also akademische Rationalisierer, sind viel schwieriger. Insbesondere wenn sie noch etwas Geisteswissenschaftliches studiert haben: Theologen, Soziologen, Sozialarbeiter, Psychologen, vor allem aber Psychotherapeuten, die sind natürlich am allerschlimmsten, denn wir »Psychos« sind unheimlich gut darin, über Gefühle zu sprechen, über Angst, Trauer und Scham, aber nicht unbedingt ganz konkret von unseren eigenen inneren Impulsen. Oft fallen da auch so Begrifflichkeiten wie »Unsicherheit« oder »Angst vor Nähe«, die im Grunde genommen überhaupt nichts aussagen, 116
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
aber den Anschein erwecken, dass hier ja therapeutisch wertvoll gearbeitet wird. Da darf ich mich dann eben nicht zu einem intellektuell interessanten, aber therapeutisch wirkungslosen Gespräch verleiten lassen, sondern muss sehr pointiert nachfragen: »Was heißt denn ›Angst vor Nähe‹ ganz genau, Herr Schmidt, wollen Sie nicht heiraten oder aber keine Kinder kriegen oder haben Sie Angst vor sexuellen Berührungen oder fühlen Sie sich Ihrer Partnerin im Gespräch unterlegen oder gibt es Erektionsprobleme?« Kurz gesagt, muss ich dem Rationalisierer schon direkt sagen, dass er ein Rationalisierer ist und dass genau das ein Teil des Problems ist und eben seine Art, die Gefühle abzuwehren. Ich bin daher mittlerweile bei solchen Klienten schon dazu übergegangen, dass ich sie häufig, noch bevor sie überhaupt einen einzigen Satz gesagt haben, schon mit den Worten begrüße: »Oh, Herr Sommer, ich sehe, Sie sind ein psychotherapeutischer Kollege; das kann ja heiter werden mit uns beiden hier, zwei Schlaumeier auf dem Gebiet der Gefühle, da habe ich ein bisschen die Befürchtung, dass wir uns unheimlich angeregt und geistreich unterhalten werden, ohne dass irgendetwas dabei herumkommt. Denn, klar, ich selbst bin ja auch so einer, der gerne theoretisch über die Gefühle spricht, da bin ich also verführbar … Aber vielleicht tue ich Ihnen ja auch Unrecht und das ist allein meine Problematik …« Meist grinsen diese Männer dann schon so ein »Ertappt!-Lächeln« und wir haben das Thema sofort auf dem Tisch des Hauses. Herr Süfke, sind Sie ein gutes Modell für Ihre Klienten? Wie, denken Sie, erleben diese Männer Sie? Süfke Na, das ist wirklich eine gute Frage. Die Antwort darauf würde mich auch brennend interessieren, ehrlich! Fragen müsste man ja meine Klienten. Der Zugang zu den Gefühlen
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Vielleicht könnte ich damit antworten, wie ich versuche, auf meine Klienten zu wirken. Ich möchte ihnen vor allem vermitteln, dass ich ein ehrliches und bewertungsfreies Interesse an ihrer Innenwelt habe. Denn genau das ist es ja, was ich bei ihnen anstoßen möchte: eine tief greifende Neugierde hinsichtlich der eigenen Person. Und dabei sind mir diese beiden Adjektive »ehrlich« und »bewertungsfrei« eben sehr wichtig. Gut, was die Ehrlichkeit und die Authentizität betrifft, entspringt das weniger theoretischen Überlegungen, sondern wohl meiner Persönlichkeitsstruktur: Ich bin einfach pathologisch – und leider unheilbar – ehrlich, da bin ich gar nicht stolz darauf, ich kann schlicht nicht anders, das hat mir im Privatleben auch schon häufig ziemliche Schwierigkeiten bereitet. Aber ich merke oft, dass dieser Wesenszug bei Männern irgendwie »funktioniert« – vielleicht weil sie sonst sehr häufig in sozialen Kontexten, in Gesprächssituationen und bei emotionalen Fragen das Gefühl haben, manipuliert oder geschont zu werden – oder dass irgendetwas »ist«, aber nicht so recht ausgesprochen wird. Na ja, und was das »Bewertungsfreie« betrifft, da bin ich einfach der Überzeugung, dass Bewertungen grundsätzlich untherapeutisch sind, denn sie verstellen den Blick auf die Wahrheit. Sie geben eine Lösungsrichtung vor an Stellen, an denen die Ausgangssituation noch gar nicht verstanden und akzeptiert ist, das kann ja nicht hinhauen. Piontek Ganz ehrlich, ich würde von mir nicht behaupten, »bewertungsfrei« arbeiten zu können. Vielleicht könnte ich sagen, dass ich mich darum bemühe, meine Abwertungen zu erkennen, zu reflektieren, bewusst damit umzugehen! Und da spielen natürlich meine persönlichen Konstruktionen von Geschlechtsrollenstereotypen eine ganz entscheidende Rolle. Klar, mir sind Frauen näher als Männer, allein wegen der Ähnlichkeit des Geschlechts, das macht die Beziehung und das gegenseitige »Erkennen« leichter. Bei Männern kommt auch immer die Komponente der Gegengeschlechtlichkeit dazu. Und 118
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
dann all die Hürden in der Kommunikation und im Ausdruck von Gefühlen, die genommen werden müssen, und all die Vorurteile und misstrauischen Bewertungen hinsichtlich Psychotherapie, die gerade Männer mitbringen! Sind eigentlich die Männer im psychotherapeutischen Setting die weniger gemochten? Süfke Natürlich sind sie das. Zum einen wegen dem, was wir hier schon mehrfach angesprochen haben, dass Männer nämlich das, was in der Psychotherapie im Allgemeinen erwünscht ist oder auch wirklich gebraucht wird, von Haus aus erst einmal nicht so mitbringen. Davon abgesehen kann ich auch nachvollziehen, wenn viele Therapeuten beiderlei Geschlechts anfänglich große Schwierigkeiten mit so einigen Männerklienten haben, denn sagen wir es mal vorsichtig: So manche der Abwehrmechanismen und Kontaktgestaltungsarten, die Männer an den Tag legen, sind vielleicht auch nicht die charmantesten unter der Sonne: Denken wir mal an das »Dicke Hose«-Getue oder – etwas fachlicher ausgedrückt – die vielfältigen narzisstischen Kompensationen. Aber letztlich steigt der Grad der Sympathie ja meist mit dem Verstehen, sowohl im individuellen Fall als auch im übergreifenden Sinne: Wer die Männer grundsätzlich besser versteht, kann sie einfach nicht mehr so sehr nicht mögen. Das sehe ich ja an meiner eigenen Entwicklung: Ich mochte in meiner Jugend und als junger Erwachsener Frauen definitiv mehr. Das ist heute nicht mehr der Fall – und das hängt nicht damit zusammen, dass ich schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht hätte, im Gegenteil. Nein, ich habe einfach durch meine Fokussierung auf das Männerthema, durch all die Begegnungen, Gespräche und Bücher die Männer besser verstehen gelernt. Und nun mag ich sie einfach genauso wie Frauen. Das war gar keine politische Intention, nicht einmal ein Wunsch von mir, es geschieht automatisch. Der Zugang zu den Gefühlen
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Manchmal nervt mich mittlerweile eine sympathische, intelligente Frau, die mich mit großen Augen schweigend und/oder bestätigend anlächelt, sogar mehr als ein großkotziger Mann, der mir ständig einen reinwürgen will. Die eine nimmt mich nicht ernst, indem sie mich großmacht, der andere nimmt mich nicht ernst, indem er mich kleinmacht. Mit Letzterem kann ich meist besser umgehen. Ich verstehe es einfach besser. Davon abgesehen war meine frühere Überhöhung der Frauen natürlich nicht nur männerabwertend, sondern auch Ausdruck eines nicht wirklichen Ernstnehmens des anderen Geschlechts. Der wunderbare Journalist und Autor Christoph Kucklick hat mal gesagt: »Aber erst wenn wir Frauen genauso – Verzeihung – scheiße finden wie Männer, so unmoralisch, egoistisch, verantwortungslos, kommen wir auf die Idee, keines der Geschlechter mehr mit Etiketten zu versehen. Erst wenn wir Frauen alles zutrauen, auch das Böseste, machen wir sie zu ganzen Menschen. Wenn Humanität, dann auch die dunkle Seite. Erst wenn wir Männern nicht mehr nur das Schlimmste zutrauen, machen wir sie zu ganzen Menschen. Und geben den Blick frei auf Individuen.« Piontek Na ja, ist die Überhöhung nicht auch ein Abwehrmechanismus, um sich nicht schwach zu fühlen, um die dringend benötige Emotionalität des Weiblichen nicht einzubüßen? Sich nicht wirklich auseinanderzusetzen mit der emotional stressigen Seite der Frau ist ja auch eine Selbstschonung. Also eine Art Vermeidung, denn Frauen missbrauchen ihre Macht in den verschiedenen Rollensegmenten auch. Also zum Beispiel die leidende, moralisierende Mutter, die ihre Unzufriedenheit mit ihrem Leben als Dauererpressung ihrer Familie ausagiert. Ich glaube, da geht es um die individuelle Beziehungsmacht, die sich in Kommunikation und Nähe-Distanz-Regulation, in Abwertung und Überhöhung und sofort sichtbar macht. Dieses »Böse« wahrzunehmen, sich damit zu beschäftigen, sich dem zu stellen, bedeutet wirklich, es ernst zu nehmen, und zwar sowohl die 120
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
Frauen als auch sich selbst als Mann. Das ist ja eine Kompetenz, sich diesen Enttäuschungen und Frustrationen über die unbefriedigende Frau oder die böse Welt stellen zu können. Mir fällt immer wieder auf, dass männliche Klienten mit schweren Depressionen, denen es wirklich total schlecht geht, unheimlich hartnäckig, schwer leidend und verbittert klagen. Vor allen Dingen wird alles Unglück, das sie innerlich spüren, external attribuiert. Die Welt und die Ehefrau und die Kinder und der Hausarzt und die Chefin – alle sind böse und schuld, dass es ihnen jetzt so schlecht geht. Dieser Absturz in die Opferrolle ist dann so total, dass es keinen Ausweg mehr zu geben scheint aus der depressiven Spirale. Wenn sie wegen vielfältiger Überforderungen in ihren Rollensegmenten zusammengebrochen sind, dann fühlen sie sich wirklich am Boden und dann gibt es kaum noch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für sich selbst. Wenn schon »versagen«, dann alternativlos! Wenn die alte, perfekte, machtvolle Fassade nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, dann muss es die totale Opferrolle sein. Aber das wird dann in der Therapie schon auch mal »nervig«, denn ich will ja gerade dem männlichen Klienten Raum zum Klagen geben, er soll ja weinen und traurig sein und verzweifelt! Gleichzeitig ist das aber schwierig, weil er darin stecken bleibt und die Schuld für sein Leid bei anderen sucht. Wie konfrontiere ich ihn, ohne dass sein bisheriges Muster »Ich muss ein starker Mann sein« anspringt? Wie validiere ich sein »Opfergefühl«, ohne dass er sich kleingemacht und wie ein »Weichei« fühlt? Wie mache ich ihm klar, dass er für seine Veränderung raus aus der Depression die Verantwortung selbst übernehmen muss? Und dabei soll er auch noch die »kleinen Schritte« der operanten Methode akzeptieren, wo er doch bisher nur in »großen Würfen« gedacht und gehandelt hat! Also, das ist oft Schwerstarbeit für alle Beteiligten.
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Der Mut zur Konfrontation
Kommen wir doch noch mal auf die Konfrontation zurück. Sie haben jetzt beide die Probleme beschrieben. Gleichzeitig ist das Konfrontieren doch eine legitime Intervention. Konfrontiert zu werden ist oft im ersten Moment sehr unangenehm, aber mit etwas Abstand auch sehr augenöffnend. Piontek Ja, das stimmt, wir in der Verhaltenstherapie können durchaus Konfrontation, aber immer nur auf der Basis einer tragfähigen Beziehung! Auch direkte Konfrontation durch eine offene Bewertung, durch meine Sicht als Therapeutin, meine Wahrnehmung oder indem ich meine Gefühle offen und direkt sage, das ist ebenfalls methodisch sinnvoll. Wichtig ist für mich dabei, dass ich das klar kennzeichne: Es sind meine subjektiven Gefühle! Natürlich sollten wir Fachleute keine unbewältigten Emotionen raushauen! Wir haben auch den Begriff »geleitetes Entdecken«, dabei werden von mir hilfreiche Fragen gestellt, um der Klientin zu helfen, sich selbst zu konfrontieren mit dysfunktionalen kognitiven Mustern oder selbstboykottierenden Strategien oder kommunikativen hinderlichen Mustern oder sonst was. Also, Komplementarität verbunden mit anschlussfähiger Konfrontation ist eine Möglichkeit, um Veränderung in Gang zu bringen. Süfke Für Männer stimmt das auf jeden Fall. Mit Männern darf man Tacheles reden. Piontek Aber ist das nicht auch wieder sehr männlich, dieses betont Konfrontative? Damit bleibt man im Muster. Süfke Ja, darum ja. Es geht ja darum, etwas Bestehendes, gut Ausgebildetes zu nutzen, um darüber etwas Neues, Ungewohntes, Bereicherndes reinbringen zu können. Es kann aber gut sein, dass Frauen davon eher abgeschreckt würden. 122
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
Piontek Ja, es bedient das männliche Stereotyp, eben konfrontativer zu sein. Finden Sie denn nicht, dass das wieder ein Bedienen der Erwartungshaltung der Männer in Psychotherapien ist, eben in diesem »männlichen« Stereotyp behandelt zu werden? Süfke Ja, aber Sie als Verhaltenstherapeutin bedienen doch mit Ihren Versuchen, auf das Rationalisierende einzugehen, auch ein Schema, um an Männer heranzukommen, damit die wiederum in den therapeutischen Prozess einsteigen können. Ich habe auch mal gelesen, dass gebildete Männer als Methode die kognitive Verhaltenstherapie am meisten schätzen und auch sehr von ihr profitieren. Also: Ja, ich nutze eine eigene »männertypische« Ressource, weil viele Männer mit so einem konfrontativen Vorgehen durchaus gut klarkommen, während Frauen sich dann vielleicht oft nicht genügend angenommen, nicht wertgeschätzt, sich womöglich sogar attackiert fühlen. Also gut, sagen wir es mal so: Ich als Mann nutze das, was an manchen Stellen eine Behinderung darstellt, als Ressource. Piontek Ich glaube, es ist wie bei der Sexualität: Frauen müssen vermutlich erst mal den sicheren Rahmen spüren. Dieses Bedürfnis ist bei Frauen stark ausgeprägt. Bisher habe ich immer gedacht, dass sei bei Männern auch so. Der sichere Rahmen bei mir als Therapeutin muss da sein. Darauf lege ich sehr viel Wert. Bin ich damit bei Männern auf dem falschen Dampfer? Süfke Nein, das stimmt total! Der sichere Rahmen muss sein, natürlich, das ist gar keine Frage, aber erstens glaube ich, dass wir Männern das Liebevolle und das Konfrontative gleichzeitig vermitteln können. Das scheint mir bei Männern sogar häufig elementar notwendig, beides parallel zu vermitteln: das Klare und Konfrontative sowie das Wohlwollende und Liebevolle. Ich gehe sogar einen Schritt weiter, wie oben schon mal erwähnt: Ich glaube, dass so mancher Mann sonst nicht wiederkommt! Dann aber hätte ich eine Chance ungenutzt gelassen und sitze da und sage zu mir: Ich war bereit, ihm einen sicheren Rahmen zu geben, aber er kommt trotzdem nicht wieder. Der Mut zur Konfrontation
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Zweitens: Was von Frauen, glaube ich, wirklich oft unterschätzt wird, auch von Therapeutinnen, das ist, dass genau dieses Klartext-Sprechen für Männer ein sicherer Rahmen ist. Viele Männer, das habe ich schon häufig als Rückmeldung bekommen, schätzen das, diese Offenheit. Ich stelle am Ende jedes Erstgesprächs, wenn es darum geht, ob wir weitermachen wollen, die Frage: »Wie geht es Ihnen mit mir?« Dann sagen die oft: »Ja, Sie sagen ja frei heraus, was Sie über mich denken und so.« Ich frage zurück: »Ja, das stimmt, und wie ist das für Sie?« »Na ja, das ist schon … also … man muss manchmal schlucken, aber ich muss nicht die Befürchtung haben, dass Sie irgendwas über mich denken und sich irgendeine Notiz machen, die ich nie erfahre.« Das ist die Befürchtung, die viele Männer haben. Die glauben, dass wir uns unseren Teil denken, dass wir zwar vorneherum nett und zugewandt tun, aber in Wirklichkeit meinen, der habe doch einen »an der Klatsche«. Der vor sich hin notierende, schweigende Therapeut kann als unehrlich wahrgenommen werden. Das heißt: Für viele Männer ist genau das der sichere Rahmen, dass ich ihm sofort sage, was ich denke, sodass er weiß: Okay, die Fakten sind auf dem Tisch, der hat keinen Colt mehr in der Unterhose stecken. Das Geschlechtstypische ist eben wieder, dass der sichere Rahmen anders aussieht. Mir fällt das vielleicht auch einfach leichter, weil ich diese Männer ja verstehe. Auch ich würde mir immer einen Therapeuten wünschen, der mir sofort sagt, was er denkt. Falls seine Hypothese voreilig ist, macht mir das nicht so viel aus, als wenn er sehr nett zu mir ist und nicht so viel sagt. Die Befürchtung beim Schweigen ist doch auch, dass der andere klammheimlich auf uns herabschaut. Piontek Es geht um die Anschlussfähigkeit und Sicherheit. Könnte es vielleicht sein, dass Sie und ich – Sie auf Ihre Art 124
Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
und ich auf meine Art – völlig im jeweiligen Rollenklischee als Therapeut und Therapeutin bleiben, weil wir das tatsächlich für die Anschlussfähigkeit halten? Wir erleben uns als anschlussfähig, weil wir das Rollenklischee bedienen. Vielleicht bediene ich ein Rollenklischee, weil ich denke, dass der Klient oder die Klientin das so auch will. Also bin ich bei Frauen nicht konfrontativ, sondern bin eher vorsichtig. Ich tue also das, was wir in der therapeutischen Alltagssprache das »Pampern« nennen. Süfke Nun möchte ich aber der Auffassung widersprechen, dass das Rollenklischee einzig das Konfrontative beinhaltet. Für mich ist entscheidend, dass es immer liebevoll konfrontativ ist, immer! Ich sage auch Ausbildungskandidaten: »Wenn Ihnen schon etwas Konfrontatives einfällt, Sie aber noch nichts Liebevolles in petto haben, dann halten Sie sich zurück. Und wenn Sie nach sieben Stunden immer noch nichts Liebevolles haben, aber schon hundert konfrontative Punkte wüssten, dann formulieren Sie das besser immer noch nicht, denn wenn Sie nur konfrontieren, ist es nicht liebevoll, da gehen sofort die Schotten runter.« Insofern durchstößt es meiner Ansicht nach durchaus das Geschlechtsrollenstereotyp. Aber ich will es mal so formulieren: Sie in der Arbeit mit Frauen und ich mit Männern, wir beide nutzen unsere durchaus geschlechtsrollenstereotypen Stärken, um zu einem Prozess zu kommen, in dem wir Geschlechtsstereotype reflektieren können. Das finde ich legitim. Anders gesagt: Warum sich einer therapeutischen Ressource berauben, nur weil ihr Ursprung aus einer durchaus geschlechtsrollenkonformen Sozialisation resultiert? Ich bin vielleicht so »mutig« im Konfrontativen, weil ich erlebt habe, dass auch mit mir konfrontativ umgegangen wurde, etwa von Freunden, in der Ausbildung oder von der Frau, die ich liebe. Deswegen kann ich das vielleicht ganz gut. Ich habe an mir selbst gemerkt, dass das gar nicht so schlimm ist. Warum das nicht nutzen? Selbst für das Ziel, Geschlechtsrollenbeschränkungen zu reflektieren, kann ich daran nichts Problematisches finden. Der Mut zur Konfrontation
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Piontek Vermutlich besteht der Unterschied darin, dass ich als Frau mit einem männlichen Klienten für die Beziehungsgestaltung erst einmal eine ganze Menge tun muss, um dann in die Konfrontation gehen zu können. Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten zwischen zwei Männern, etwas für die Beziehungsgestaltung zu tun, etwas, zu dem ich als Frau überhaupt keinen Zugang habe. Dabei spielt Beziehungssicherheit ja eine große Rolle! Süfke Genau. Ich glaube, dass dieses Modell, wie Sie es beschreiben, ganz stark auf Frauen ausgerichtet ist. Deswegen ist ja auch das klassische Modell, welches wir als Psychotherapeuten immer lernen, dass zunächst aufs therapeutische Beziehungskonto eingezahlt werden muss, damit man sich dann anschließend – ich sag’s jetzt mal ein bisschen verkürzt – ein etwas forscheres Vorgehen leisten kann. Das ist, glaube ich, ein Modell, das sehr stark auf Frauen als Klientinnen ausgerichtet ist, und für die stimmt das vielleicht auch. Und natürlich stimmt es auch, dass eine zu frühe Konfrontation zum Scheitern führen kann. Dieses Modell muss für Männer ein Stück angepasst werden, aber, noch mal, es muss gleichzeitig passieren, das Konfrontative und das Liebevolle, und zwar nicht nur am Anfang, sondern über den gesamten therapeutischen Prozess hinweg. In der fünfundzwanzigsten Sitzung kann das gemeinsame Beziehungskonto reich gefüllt sein, das ändert trotzdem nichts daran, dass eine Konfrontation liebevoll sein muss. Und es muss eben liebevoll bleiben, sonst drückt jemand irgendwann seine Gefühle nicht mehr aus. Piontek Und ich glaube, dass eine gleichgeschlechtliche Konfrontation anders funktioniert als eine gegengeschlechtliche. Süfke Ja, das glaube ich auch.
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Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie
VOM »QUATSCHEN« ZUM HANDELN
»Ich sage es mal ganz plakativ und zugespitzt: Die Männer brauchen oft vierundzwanzig Sitzungen, um an die Gefühle ranzukommen, aber dann nur noch eine, um die Probleme zu lösen. Frauen brauchen nur eine Sitzung, um an die Gefühle heranzukommen, aber dann noch vierundzwanzig Sitzungen, bis sie das, was in ihrem Kopf eigentlich schon klar ist, umsetzen.« Björn Süfke
Gleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Verstrickungen
Während Sie zuweilen aufpassen müssen, dem gegengeschlechtlichen Charme nicht zu sehr nachzugeben, gibt es auch eine Art Verstrickung aufgrund der sozialisationsbedingten Gleichheit mit dem eigenen Geschlecht. Süfke Aber das Arbeiten mit demselben Geschlecht bringt auch viele Vorteile. Ich in einer Männerberatungsstelle habe es ja etwas leichter, weil ich mich nicht ins gegengeschlechtliche Muster einfühlen muss. Sie als niedergelassene Therapeutin müssen und wollen aber mit beiden Geschlechtern arbeiten, nur, wenn Sie das wollen, dann müssen Sie sich mit dem stärkeren Konfrontieren auch abfinden. Sie müssen das können, auch wenn es für Sie als Frau eventuell etwas schwerer ist, da Sie es nicht so sehr gelernt haben. Piontek Sie haben Männern gegenüber einen Vorteil, das sehe ich auch so. Süfke Ich meinerseits müsste sehr, sehr viel an mir arbeiten und Supervisionen nehmen, um auch mit Frauen erfolgreich Therapie machen zu können. Das weibliche »Modell« ist für mich viel schwerer einfühlbar. Das gilt inzwischen umso mehr, denn nach achtzehn Jahren als Männertherapeut fällt mir diese therapeutische Arbeit ein bisschen leichter – wobei »ein bisschen« stark untertrieben ist. Nein, wirklich, ich selbst bin bei Männern einfach besser aufgehoben. Piontek Es gibt sicher noch den institutionellen Unterschied: Sie beraten mehr, also muss es schneller gehen. Ich habe fünfundzwanzig, fünfundvierzig und manchmal auch achtzig Sitzungen, während Sie ein ganz anderes Tempo vorlegen müssen, weil 130
Vom »Quatschen« zum Handeln
die Klienten das ja zum Teil selbst bezahlen. Der Settingunterschied ist groß. Süfke Da haben Sie recht. Man kann ein bisschen entspannter rangehen, wenn man schon mal fünfundzwanzig Sitzungen bewilligt bekommen hat. Aber Ihnen bringen auch fünfundzwanzig Sitzungen nichts, wenn der Mann nach der dritten nicht wiederkommt. Übrigens habe auch ich oft Männer, die zu fünfundzwanzig Sitzungen kommen und diese auch bezahlen könnten – trotzdem gehe ich so vor. Frau Piontek, haben Sie denn den Eindruck, dass die Therapieabbrüche bei Männern häufiger sind als bei Frauen? Piontek Aus meiner Erfahrung im Praxisalltag kann ich das nicht bestätigen. Therapieplätze sind ein rares Gut und von daher in gewisser Weise »wertvoll«. Wenn ein Mann die oft sehr großen inneren Hürden genommen hat und schon mal da sitzt im Therapiezimmer, dann ist der Leidensdruck meist hoch und die Motivation recht gut. Da muss dann bereits etwas Gravierendes im Erstkontakt nicht stimmen, dass er nicht wiederkommt. Bei uns in der Praxis wird viel Wert gelegt auf einen ausführlichen Einstieg schon in der ersten Sitzung der Probatorik. Wir führen ein Informationsgespräch, sind sehr transparent und erklären die Arbeitsweise und natürlich den ganzen Ablauf. Es gibt ein Informationsblatt und Fragebogen und ein Wartezeitprozedere und solche Dinge. Das gibt Sicherheit und kommt dem Kontrollbedürfnis besonders von männlichen Klienten sehr entgegen. Wir sind da anschlussfähig an ein »männliches Beziehungsmuster«! Das hilft, dass sie dranbleiben. Was ich aber beobachte, ist, dass sich Männer am Ende der Therapie vor einer therapiebezogenen und menschlichen Verabschiedung drücken. Da kann es passieren, dass ich beim »Ausschleichen« der Sitzungen am Ende der Therapie wochenlang nichts mehr höre und demjenigen hinterhertelefonieren muss. Gleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Verstrickungen
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Ich habe auch schon erlebt, dass ein Klient, mit dem die Therapie aus meiner Sicht gut gelaufen ist, in der letzten Sitzung plötzlich einen Konflikt mit mir »angezettelt« hat. Da habe ich nicht schlecht gestaunt! Das habe ich ihm auch unmittelbar gezeigt, und wir sind dann darüber ins Gespräch gekommen. Er wollte einfach nicht spüren, dass er am Ende ein Gefühl von Verlust und Verlassenheit hatte, was ja als Gefühl genau in diese Situation passt! Lieber die Therapeutin schlechtmachen, die Beziehung »vernichten«, als die Abschiedstrauer zu haben! Er hat dann die Trauer gespürt und erlebt, dass er damit umgehen kann und dass wir uns gut trennen können. Ich glaube, das war der wichtigste Schritt für den Klienten in der ganzen Therapie! Gibt es denn bei Ihnen beiden gelegentlich solche Momente, dass Sie den Eindruck haben, sich zu sehr verstrickt zu haben? Süfke Ach, es wäre schön, wenn es nur »Momente« wären! Ich würde von mir sagen, dass ich mich diesbezüglich schon weiterentwickelt habe, aber ich bin und bleibe selbst ein Rationalisierer, da werde ich immer anfällig sein, den ähnlich strukturierten Klienten auf den Leim zu gehen, da mache ich mir gar keine Illusionen. Wahrscheinlich nicht mehr so sehr wie früher in den ersten Sitzungen mit einem neuen Klienten, da mir das Problem ja bewusst ist und ich es – wie beschrieben – sogleich therapeutisch angehe. Aber wenn nach ein paar Sitzungen die Aufmerksamkeit für die eigene Problematik nachlässt – schwupps, sitze ich wieder in der Falle. Vermutlich neige ich aufgrund meiner ständigen Beschäftigung mit Geschlechterfragen und Männlichkeitskonstruktionen auch dazu, den Klienten an manchen Stellen vor einem Männerhintergrund zu sehen, den es in diesem speziellen Falle vielleicht gar nicht gibt. Piontek Ich arbeite viel mit Frauen mit einer Borderline-Diagnose. Da ist die Beziehungsebene eine wichtige »Bühne«, auf 132
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der die Weiterentwicklung für die Klientinnen stattfindet. Aber sich zu verstricken bedeutet ja, dass ich es nicht merke, wenn ich Reaktionen zeige, die eher meiner eigenen Emotionsbewältigung dienen und nicht dem hilfreichen Angebot an die Klientin. Klar, die Aufdeckung von Verstrickungen aller Art ist dabei ein wichtiger Ansatzpunkt. Die gemeinsame Entwirrung läuft gerade darüber, dass ich meine Verwirrung und Ratlosigkeit in der Dyade zur Verfügung stelle. Haben Sie Fallbeispiele dafür, wie Sie sich mal über mehrere Sitzungen hinweg verstricken, ohne es zu bemerken? Und: Wie ging die Lösung? Piontek Was männliche Klienten angeht, so besteht eine »Falle« darin, dass ich besonders in den Anfangsjahren in der Arbeit mit Männern oft zu bemüht war. Ich habe ihnen »den roten Teppich« ausgerollt geradezu mit freudiger Dankbarkeit, dass sie den Weg in so etwas Suspektes wie Psychotherapie geschafft hatten! Ich hatte mal einen Klienten, der mir zu Beginn der Sitzung immer wieder erzählte, wie unzufrieden er nach der letzten Sitzung nach Hause gegangen sei. Jedes Mal hatte ich davon während der Sitzung nichts bemerkt! Was tut die Therapeutin? Sie fragt sich erst mal: »Habe ich etwas übersehen, nicht gemerkt, etwas falsch gemacht?« Eine solche Selbstreflexion ist auch okay, das sollten wir durchaus alle in solchen Situationen tun! Das führte dann dazu, dass ich mir erst mal ganz viel Mühe gab, ihn zufriedenzustellen. Das ist ja mein Job, auch im Verständnis des Geschlechtsrollenstereotyps! Das kenne ich also, habe ich mir so abgeschaut! Wenn ich das dann durchschaue, bin ich echt verwirrt und auch ärgerlich. Aber klar, das merke ich zwar, aber es dauert viel zu lange, bis ich ihn damit konfrontiere. In der Zwischenzeit hält er mich am Laufen, ich ackere und präsentiere mich komGleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Verstrickungen
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petent, engagiert, interessiert und so weiter! Auch da zeige ich ein abhängiges Beziehungsmuster: »Wenn er mit mir zufrieden ist, dann bin ich eine gute Therapeutin.« Also, das könnte jetzt die ganze Therapie so weitergehen und ich würde damit sein Problemmuster sauber aufrechterhalten. Gut, dass ich damals meinen Ärger und meine Frustration schon spüren »durfte«. Damit konnte der Wettbewerb, wer es länger durchhält, beendet werden! Süfke Ich werde mich ewig an einen Klienten erinnern, der wirklich ein »perfekter Rationalisierer« war, der spielte diesbezüglich in einer Liga, die ich nicht einmal erkennen konnte. Wir trafen uns dreißig- oder vierzigmal, mochten uns sehr, führten sehr angeregte Gespräche – an deren Ende ich nie wusste, ob etwas, geschweige denn was in der Sitzung passiert war. Die Lösung? Keine Ahnung, ich habe keine gefunden. Wir gingen irgendwann auseinander, wobei wir uns vermutlich noch eloquent und glaubhaft gegenseitig versichern konnten, wie gewinnbringend diese Therapie gewesen war. Wahrscheinlich bleibt mir der Fall deshalb auch so in Erinnerung, weil ich keinen Schimmer habe, wie die Lösung gewesen wäre. Vielleicht muss man das aber auch sportlich sehen: Manche Männer sind eben schlicht besser im Gefühleabwehren als ich im Gefühleaufdecken, das muss man dann – auch wenn es mir leistungsorientiertem Mann natürlich schwerfällt – einfach mal akzeptieren.
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Das therapeutische Setting – zu sehr »typisch weiblich«?
Süfke Jetzt will aber ich mal etwas fragen, Frau Piontek: Ich habe ja mehrmals betont, dass das psychotherapeutische Setting Männern nicht immer so ganz gerecht wird. Würden Sie auch für die Frauenseite sagen, dass heutzutage das klassische psychotherapeutische Vorgehen an der einen oder anderen Stelle verändert werden müsste? Oder gehen Sie davon aus, dass dieses an Frauen entwickelte Verfahren immer noch ein relativ gut auf Frauen zugeschnittenes ist? Das ist ja nicht unwichtig, wenn man den Genderblick einnimmt. Piontek Es ist so, wie Sie sagen: Das Reden über persönliche Inhalte ist etwas, was dem weiblichen Rollenstereotyp näherkommt und darin »erlaubt« ist und auch psychotherapieimpliziert ist. Wir machen in Psychotherapien genau das, was Frauen erlaubt ist. Das funktioniert so auch. Ich glaube aber, dass da das Empowern von Frauen hinzukommen muss, im Sinne davon, aktiv ihre Rollenstereotype infrage zu stellen und zu verlassen, dass das in dem »weiblichen Muster« von emotionszentrierter Psychotherapie gar nicht in dem Ausmaß vorgesehen ist. Deshalb bin ich so gerne Verhaltenstherapeutin, weil der Rahmen der Verhaltenstherapie mir eine sehr, sehr strukturierte Möglichkeit gibt, psychoedukativ zu arbeiten, Modelle zu vermitteln und auch mal Klartext zu reden, was die Auswirkungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse angeht. Ich glaube, wenn ich eine andere Therapiemethode machen würde, würde ich in großer Gefahr stehen, im Empathischsein und Abwarten zu »versumpfen«. Deshalb ist für mich die Verhaltenstherapie genau das Richtige. Sie ermöglicht mir, die Strategie richtig aufzubauen. Eine solche Struktur ist für mich ganz wichtig. Und das passt für Frauen und Männer! Das therapeutische Setting – zu sehr »typisch weiblich«?
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Süfke Ich verstehe. Wenn das auch ein für Frauen gutes Setting ist, ein für Frauen funktionierendes Vorgehen, so fehlt doch ein Schritt raus aus dem eingeengten Rollenklischee. Es gibt doch wieder oder immer noch eine Beschränkung im psychotherapeutischen Setting, nämlich die klassische Beschränkung auf der Handlungsebene, Grenzen sprengen zu dürfen. Da ist die Psychotherapie zu defensiv. Piontek Ja, das würde ich so sagen. Wäre also die Frage, ob Männer, die diese Verfahren stark an Frauen erprobt haben, das Verlassen der Rollenmuster überhaupt wollten. Süfke Ja, die Frauen sollten nicht empowert werden, sondern »geheilt« – auf dass sie wieder gute Frauen seien. Piontek Genau, das ist der Punkt, an dem ich manchmal denke, Psychotherapie muss da zur Emanzipation viel mehr leisten. Süfke Genau in dieser Hinsicht fehlt für Männer dann wieder nicht viel, denn das, was wir da erarbeitet haben in einer Sitzung, in Handlung umzusetzen, ist meistens kein Problem. Selbst wenn wir am Ende der Sitzung nur noch fünf Minuten Zeit haben, ist ein Brainstorming zu der Frage, wie man mit dem Besprochenen umgehen könnte, meist unproblematisch. An dieser Stelle ist die Psychotherapie mit Männern herrlich. Piontek Ja, und Psychotherapien mit Frauen braucht viel Ermutigung, bis sie diesen Punkt erreichen, ihre Einsichten auch im Alltag umzusetzen: sich stark zu machen, Grenzen zu setzen, Wünsche zu äußern, sich über eigene Bedürfnisse zu definieren und sich das auch im Alltag zu erlauben! Süfke Während die Psychotherapie mit Männern oft ganz lang braucht, um über Gefühle sprechen zu können. Ich sage es mal ganz plakativ und zugespitzt: Die Männer brauchen oft vierundzwanzig Sitzungen, um an die Gefühle ranzukommen, aber dann nur noch eine, um die Probleme zu lösen. Frauen brauchen nur eine Sitzung, um an die Gefühle heranzukommen, 136
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aber dann noch vierundzwanzig Sitzungen, bis sie das, was in ihrem Kopf eigentlich schon klar ist, umsetzen. Insofern passt es, wenn die Krankenkassen Männern wie Frauen gleichermaßen fünfundzwanzig Sitzungen bewilligen. Wir haben eben alle im gleichen Ausmaß solche »Besonderheiten«, nur eben anders. Piontek Weil die Handlungsorientierung im eigenen Interesse und nicht nur zum Nutzen anderer in dem Ausmaß für die weibliche Geschlechtsrolle so nicht vorgesehen ist. Bei Klientinnen erlebe ich immer wieder eine »Egoismusangst«, wenn es darum geht, mal im Alltag sichtbar Zeit nur für sich ganz allein zu nutzen. Wir machen dann eine Art Risikoübung als Neuerfahrung über Handlung. Also, morgens fünfzehn Minuten für sich ganz allein einen Kaffee auf dem Balkon trinken, auch wenn es die Nachbarin sieht und die Betten noch nicht gemacht sind. Darin sehe ich eben auch den Vorteil oder die Chance der Verhaltenstherapie, dass wir schnell über Handlungen reden, weil wir immer in einem Dreieck agieren: Fühlen, Denken, Handeln. Die Frage für mich ist: Wie gendersensitiv ist die Verhaltenstherapie? Sie ist geradezu »feministisch«: auf Augenhöhe mit den Klienten und Klientinnen, maximale Transparenz, Selbstmanagement und Selbstverantwortung, Handlungsorientierung! Wenn man dann diese Folie drauflegt, dann könnte die Verhaltenstherapie sehr, sehr gendersensitiv sein, weil sie nämlich genau diese Versuche unternimmt, so schnell wie möglich auf die Handlungsebene zu kommen und diese Blockade in den Handlungsoptionen von Frauen überwinden zu helfen – ich will mich da also auch als Therapeutin nicht mit der Beschränkung zufriedengeben. Süfke Da möchte ich jetzt einhaken: Genau deshalb müsste an verhaltenstherapeutischen Ausbildungsinstituten ein Seminar wie »Männer in der Psychotherapie« besonders wichtig sein, weil sonst die Verlockung von handlungsorientierten Therapeuten und Therapeutinnen groß ist, der Handlungsorientierung von Männern, die anfangs ja noch oft ein Abwehrmechanismus Das therapeutische Setting – zu sehr »typisch weiblich«?
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ist, auf den Leim zu gehen. Insofern ist es möglicherweise auch kein Zufall, dass Sie Verhaltenstherapeutin geworden sind und sich ganz stark mit Frauen beschäftigen, während ich gerade nicht die Verhaltenstherapie, sondern die Gesprächstherapie gewählt habe. Piontek Ich will anderen Therapierichtungen nicht Unrecht tun, bei denen dieses Hineingehen und Tragen und diese Komplementarität und Compliance wahnsinnig viel Platz einnehmen. Das ist doch gerade etwas typisch Weibliches und eben auch etwas typisch Psychotherapeutisches, und damit setzen wir eine einengende Struktur fort. Das ist ganz spannend. Da ist die Schematherapie ganz anders, die ist handlungs orientiert. Das ist wirklich ein anderer Ansatz. Die sagen: »Jetzt machen wir es sofort, setz dich auf den Stuhl und lass mal den fordernden Elternanteil sprechen und jetzt schauen wir mal, was dein erwachsener Anteil ganz konkret an Grenzsetzung zu bieten hat.« Also, so eine Art Rollenspiel mit meinen inneren Anteilen. Das ist Handlungserprobung und damit Einstellungsveränderung. Probehandlung mit sofortiger Überprüfbarkeit. Das ist etwas, was sich beobachten lässt: Die Psychotherapie wird mit diesem neueren Verfahren handlungsorientierter. Süfke Zu mir kommen ja ganz viele grundsätzlich handlungsorientierte Männer in die Therapie und die sagen dann ganz schnell: »Ich will ja gar nicht so viel quatschen, sondern ich bin eher so der Typ Macher.« Denen muss ich erst mal antworten: »Das verstehe ich gut und ich verspreche Ihnen auch, dass wir zum Machen kommen, auf jeden Fall. Aber vor dem Machen kommt nun einmal erst das Quatschen. Denn bevor wir nicht wissen, was Sie wirklich machen wollen, was Ihre Wünsche, Gefühle, Bedürfnisse, Ängste sind, wäre ja jedes Handeln blinder Aktionismus. Wir müssen also erst ein bisschen quatschen, Sie und ich. Aber wenn wir erst einmal Ihre Innenwelt ein wenig erkundet haben, Herr Meier, dann werden automatisch Handlungsimpulse kommen. Und dann wird uns Ihre Macher138
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mentalität noch sehr weiterhelfen, hundertprozentig. Denn Sie haben ja völlig recht: Es geht ja nicht ums Quatschen als Selbstzweck, dafür könnten Sie ja auch in die Kneipe gehen, das wäre zudem billiger.« Piontek Ich habe aber Patienten, bei denen wäre das ein riesiger Fortschritt, denn die sitzen da und erzählen Geschichte um Geschichte um Geschichte. Und diese Geschichten kreisen in erster Linie um den Arbeitsplatz. Und ich höre mir diese Geschichten erst einmal an, bis ich irgendwann frage: Ja, und was ist das Problem? Weil ich einfach kein inhaltliches Problem sehe. Ich höre nur Geschichten. Es gibt welche, die erzählen nur Geschichten. Genau wie bestimmte Frauen nur jammern und klagen wollen. Ach, wir vergessen jetzt aber viel zu sehr die vielen tollen Klienten und Klientinnen, diejenigen, die die Therapie wirklich nutzen für sich und Veränderungen einleiten, und zwar sehr kreativ und wirklich lösungsorientiert. Vermutlich haben wir jetzt in dem gesamten Gespräch wieder viel zu wenig über diese Beispiele gesprochen. Typisch Therapeutinnen und Therapeuten, die reden immer nur über Probleme. Frau Piontek, das klingt jetzt schon sehr nach Abschluss. Piontek Oh, ich wollte nicht vorgreifen. Nein, ich wollte Ihnen tatsächlich nur noch die Frage stellen, warum und an welchen Stellen das Gespräch anders verlaufen wäre, wenn es von einer Frau moderiert worden wäre. Piontek Tja, was wäre anders gewesen? Mir ist aufgefallen, dass Herr Süfke fast immer als Erster auf die Fragen geantwortet hat, er ist mutig vorgeprescht, während ich abgewartet habe und brav auf ihn eingegangen bin! Na, da haben wir es wieder mal: Wir können alle nicht raus aus unserer Haut! Vielleicht hätte eine Das therapeutische Setting – zu sehr »typisch weiblich«?
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Frau als Moderatorin häufiger mal eine Einladung nach dem Muster »Stellen Sie sich vor, Sie selbst gehen in die Psychotherapie, was …?« ausgesprochen. Ja, vielleicht hätten Rollenspiele einen größeren Raum eingenommen. Aber ich habe eigentlich keine Ahnung, ob es wirklich anders gelaufen wäre. Das kann ich spontan so nicht beantworten. Es hängt ja immer stark von der Persönlichkeit ab. Aber ich denke noch mal darüber nach, vielleicht fällt mir ja noch etwas ein. Das schreibe ich Ihnen dann bei der Bearbeitung rein in den Text. Na ja, langsam, langsam, einfach »reinschreiben« können Sie das nicht, da will ich schon auch ein Wörtchen mitreden. Piontek Aha, dann hätten wir schon mal einen Unterschied, vielleicht hätte eine Frau das jetzt nicht gesagt. Süfke Aber gedacht.
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