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German Pages 679 [680] Year 2011
Matthias Wille Transzendentaler Antirealismus
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 106
De Gruyter
Transzendentaler Antirealismus Grundlagen einer Erkenntnistheorie ohne Wissenstranszendenz
von
Matthias Wille
De Gruyter
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
ISBN 978-3-11-026386-2 e-ISBN 978-3-11-026387-9 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Wille, Matthias, 1976− Transzendentaler Antirealismus : Grundlagen einer Erkenntnistheorie ohne Wissenstranszendenz / Matthias Wille. p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142) Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-026386-2 (hardcover : alk. paper) 1. Knowledge, Theory of. 2. Transcendentalism. 3. Anti-realism. I. Title. BD163.W59 2011 1411.3−dc23 2011035382
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Fr Athena in Liebe
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde whrend meiner Ttigkeit als Mitarbeiter am Institut fr Ethik in den Lebenswissenschaften der Universitt zu Kçln geschrieben und im Juni 2010 am Fachbereich Geschichte/Philosophie der Westflischen Wilhelms-Universitt Mnster als Habilitationsschrift angenommen. Das zugrunde liegende Projekt entstand in seinen programmatischen Zgen bereits whrend meiner Zeit als Assistent am Institut fr Philosophie der Universitt Duisburg-Essen. Zusammen mit Dirk Hartmann wurde seit 2005 intensiv und bei jeder sich bietenden Gelegenheit ber eine sprachkritische Rekonstruktion des transzendentalen Idealismus Immanuel Kants diskutiert – wesentlich inspiriert durch die Arbeiten von Peter F. Strawson. Diese Zeit erlebten wir als eine „intellektuelle Goldgrberstimmung“, weil fast tglich neue Vorschlge diskutiert, przisiert, akzeptiert oder verworfen wurden. Aus der Retrospektive lsst sich nur noch schwerlich beurteilen, wer wann und bei welcher Gelegenheit erstmals einen bedeutsamen heuristischen Hinweis oder die Standardform eines systematisch verwertbaren Arguments geliefert hat. Im Zweifelsfall trete ich Priorittsansprche gerne ab. Die Grundausrichtung des transzendentalen Antirealismus sowie die Eckpfeiler der wegweisenden Gelingensbedingungen fr das vorliegende Programm deklariere ich sehr gerne und mit Stolz als Gemeinschaftsleistung. Die gesamte inhaltliche Umsetzung dieser Programmatik, inklusive der Entwicklung aller hierfr erforderlichen Theoriebausteine und Details entstand erst 2008 nach meinem Wechsel an die Universitt zu Kçln in Eigenregie. Es berrascht nicht, dass bei einem derart umfassenden und langjhrigen Projekt mehrere Personen an entscheidenden Stellen Hilfe gegeben und Untersttzung geleistet haben. Allen voran mçchte ich meinen Gutachtern, den Herrn Professoren Gottfried Gabriel (Konstanz), Dirk Hartmann (Essen), Michael Quante und Oliver Scholz (beide Mnster) danken! Sie alle haben die Arbeit mit großem zeitlichen Aufwand bis zum letzten Jota studiert und in ausfhrlichen Gutachten detaillierte Hinweise fr Verbesserungen formuliert. Ihre Expertisen ermçglichten zweifelsohne eine qualitative Verbesserung des Manuskriptes an der einen oder anderen Stelle. Danken mçchte ich darber hinaus den Reihenherausgebern der
VIII
Vorwort
„Quellen und Studien zur Philosophie“ fr ihre beraus schnelle und positive Begutachtung meines Publikationsanliegens. Besonderer Dank gilt Dirk Hartmann, mit dem ich nicht nur – wie bereits erwhnt – die grundlegenden Zge gemeinsam entworfen habe, sondern durch den ich allererst intellektuell in die Lage versetzt wurde, ein solches Projekt eigenverantwortlich durchzufhren. Vielleicht zeigt sich erst bei einem Habilitationsprojekt, wie gut der Doktorvater einst gewesen ist… Danken mçchte ich zudem Thomas Meyer und Tim Rojek (beide Kçln), die sich eine Korrekturlesung zugemutet haben und das Manuskript damit entscheidend in Richtung der Druckfhigkeitserklrung befçrdert haben. Herzlichst danken mçchte ich Dr. Gertrud Grnkorn und Jens Lindenhain vom de Gruyter Verlag fr ihre phantastische Betreuung whrend der gesamten Phase der Publikationsvorbereitungen bis hin zum Druck. Sie sind ein paradigmatisches Beispiel dafr, dass man auch in einem großen Verlag exzellent umsorgt werden kann. Einen ebenso großen Dank mçchte ich dem Bewilligungsausschuss der VG Wort aussprechen, da die Verwertungsgemeinschaft Wort mit einer großzgigen finanziellen Fçrderung die Drucklegung allererst ermçglich hat. Den mit Abstand grçßten Dank schulde ich aber jenem Philosophen, der mich einzig zu dem Zweck engagierte, das vorliegende Buch zu schreiben, und der mir hierfr mit einem unerschtterlichen Vertrauen alle nur erdenklichen Freiheiten einrumte, die man sich als Wissenschaftler wnschen kann. Die Person, von der ich spreche, ist Michael Quante. Es kommt bestimmt nicht hufig vor, dass man eine neue Stelle antritt und sogleich die Verpflichtung auferlegt bekommt, einzig das zu tun, was man fr das Richtige erachtet. Michael Quante hat mich genau in eine solche Situation versetzt, indem er mir Zeit, sehr viel Zeit geschenkt hat, verbunden mit der Forderung, den transzendentalen Antirealismus in seinen Grundlagen vollstndig zu entwerfen. Eine solche Situation verpflichtet selbstverstndlich und ich kann nur hoffen, dass ich mit dem vorliegenden Resultat dieses immense Vertrauen nicht enttuscht habe. Michael, ich danke Dir von Herzen! Mnster im Mai 2011
Matthias Wille
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vorhaben und sein Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Kernaufgabe des Programms . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 3 11
Teil I: Prsuppositionen und methodologische Grundlagen Kapitel 1: 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.4.1 1.2.4.2
Erste Sinnbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie und allgemeine Menschenvernunft . . . . . . . Geltung und Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur historischen Genese der Geltungsunterscheidung . . Grnde des Wahrseins vs. Ursachen des Frwahrhaltens Geltungsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis . . . Argumentationstheoretische und -redliche Grnde . . . . Das Argument von der Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Argument von der argumentationsstrategischen Asymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 „Voraussetzen“ und „Prsupponieren“ . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1.1 Eine Prsupposition ist keine Prmisse . . . . . . . . . . . . . 1.3.1.2 Die Rede vom Prsupponieren in der Kennzeichnungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1.2.1 Ausdrcke als Namen: Meinong und Russell . . . . . . . . . 1.3.1.2.2 „Referieren ist nicht Behaupten“: Strawsons Ansatz . . . . 1.3.2 Das Prsupponieren von Sinnhaftigkeitsbedingungen . . 1.3.2.1 Zur Logik epistemologischer Prsuppositionen . . . . . . . 1.3.2.2 Sind epistemologische Prsuppositionen negationsfhig? 1.3.2.3 Ist die Begrndung epistemologischer Prsuppositionen zirkulr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.4 Operationalisierung der Definition . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.5 Geltung und Autonomie im Handeln . . . . . . . . . . . . . .
21 21 28 29 40 46 51 54 56 61 61 62 64 65 69 76 77 82 90 96 99
X Kapitel 2: 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.2.1 2.2.2.2.2 2.2.2.2.3 2.2.2.2.4 2.2.2.2.5 2.2.2.3 2.2.2.4 Kapitel 3: 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6
Inhalt
Von der Transzendenz zur Wissbarkeit . . . . . . . . . . . . . . Der Sideways-on-view und seine metaphorische Rolle . . Zur Grammatik der Wendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Prgnanz« als Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der szientifische Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zugang ber eine erkenntnistheoretische Grundeinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die epistemologische Minimalforderung . . . . . . . . . . . . Die bedeutungstheoretischen Grundlagen – negativ bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissbarkeit als Bedingung der Sinnhaftigkeit . . . . . . . . Erkenntnistheorie ohne Bedeutungstheorie? . . . . . . . . . ,Realismus‘ ist nicht gleich ,Realismus‘ . . . . . . . . . . . . . Empirische und ontologische Realismen sind nicht identisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weisen des Gegebenseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuation und Einzeldingtaufe . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Bedingung der Mçglichkeit von Individuationen . Neubestimmung des Unterschieds . . . . . . . . . . . . . . . . . Unentscheidbarkeitsresultate und Aussagen ber die Vergangenheit als Maßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnistheoretische Zulssigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
106 106 108 110 114
Die transzendentale Expressivitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhltnis von Konstitution und Rekonstruktion . Kategorientheorie bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transzendentale Notwendigkeit & allgemeines Begriffssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategorien & Co. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Klassifikationsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur- und Beschreibungsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach der Vollstndigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Irreduzibilitt einer Kategorie – ein Beispiel: der Begriff des epistemischen Handlungssubjekts . . . . . . . . . . . . . . Warum der Begriff des epistemischen Handlungssubjekts als Kategorie nicht ausreicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181 181 182 188
121 123 124 132 137 137 139 140 146 151 163 167 170 175
194 202 202 205 221 222 226 233
XI
Inhalt
3.5.7 3.6 3.6.1 3.6.2
„logisches Individuum eines Erfahrungsurteils sein“ . . . Die Anschauungsformen Raum und Zeit als Reflexionstermini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Raumbegriff als Reflexionsterminus . . . . . . . . . . . . Der Zeitbegriff als Reflexionsterminus . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 4: Eine Theorie des epistemologischen Gedankenexperiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 „Diesseits und jenseits der Grenzen der Vernunft“ . . . . . 4.2 Die Bedingung der Antiwissenstranszendenz . . . . . . . . . 4.3 Die Bedingung der Beschreibungskonsistenz . . . . . . . . . 4.4 Die Bedingung der Beschreibungsimmanenz . . . . . . . . . 4.4.1 Was es bedeutet, ein 3-spezifisches Sprachspiel zu simulieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Beschreibungsdichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Exkurs: Gedankenexperimente fr gettierartige Flle . . . 4.5.1 Ziel und Struktur gettierartiger Flle . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Eine Analyse gettierartiger Flle . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237 250 252 253 257 257 265 276 288 289 299 304 304 309
Teil II: Der transzendentale Antirealismus im Kontext seiner Problemgeschichte Kapitel 5: 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.3
Die Konstitution von Problemgeschichten . . . . . . . . . . . Der Text als Medium des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . Der Text als datum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretative Kohrenz als einziges Kriterium? . . . . . . . Zum Erzhlen einer konstitutionsanalytischen Problemgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants kritische Philosophie als Synthese – eine erste Problemgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein rationalistisches Erbe: angeborene Ideen . . . . . . . . . „they must all be innate, or all adventitious“ . . . . . . . . . „nihil est in intellectu […] excipe: nisi intellectus ipse“ . „What is the foundation of all conclusions from experience?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Und die Moral von der Geschicht’? . . . . . . . . . . . . . . . .
328 328 329 338 341 352 354 357 362 370 374 383
XII
Inhalt
Kapitel 6: Kants transzendentale Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kants Wende als Abkehr von der Wissenstranszendenz – eine zweite Problemgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Kants Sinnprinzip und die Logik des Scheins . . . . . . . . 6.2.1 Kants Sinnkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Transzendente Realismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Die transzendentale Antithetik als Argumentationsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Vom „ego cogito“ zur Außenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Die Rolle Gottes in den Meditationen . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Erste Kritik & Kants Analyse des ontologischen Beweises 6.4 Interaktion durch Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Die Universalharmonie der Monaden . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Kants Analyse kosmologischer Gottesbeweise . . . . . . . . 6.5 „we know not what it is“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 „resembles that ridiculed notion of materia prima“ . . . . 6.6.1 „what is meant by the term exist“? . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Sind Berkeleys Gegenstnde der Erkenntnis „bloße Einbildungen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.3 „in God we live, and move, and have our being“ . . . . . . 6.7 Humes Alternative: Transzendenz oder Skepsis? . . . . . . 6.8 Und die Moral von dieser Geschicht’? . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 7: Rekonstruktion und Konstitution – die Lebenswelt und ihr apriorisches Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Lebenswelt und Epoch: Husserls Kant . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Mit der ersten Epoch zur Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Eine richtige Diagnose: Husserls Kritik an Kant . . . . . . 7.2.3 Eine falsche Folgerung: mit der radikalen Epoch zum transzendentalen Ego . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Falsch verstandene Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Erkenntnistheorie trotz Wissenschaftsphilosophie . . . . . 7.3.1 Methodologische Verkrzungen des Konstruktivismus . 7.3.2 „Handlungstheorie der Lebenswelt“ als Erkenntnistheorie 7.3.3 Apriorisches Wissen durch lebensweltliches Handeln? . .
388 388 390 393 402 408 413 413 418 425 426 430 435 439 440 448 451 456 458 462 462 463 464 470 473 479 482 482 486 497
Inhalt
XIII
Teil III: Auf dem Weg zur transzendentalen Entfaltung Kapitel 8: 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.2.1 8.2.2.2 8.2.2.3 8.3 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.2.1 8.4.2.2 8.4.2.3 8.5 8.5.1 8.5.2 8.5.2.1 8.5.2.2 8.5.2.3 8.6 8.6.1 8.6.2
Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs . . . . . . . „Relativierung des transzendentalen Imperialismus“ . . . Aspekte der Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kant als Vorbereiter der Relativierungstendenzen? . . . . . von Helmholtz: Relativierung der reinen Raumanschauung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Euklidizitt eines jeden mçglichen Erfahrungsraums Die von Helmholtzsche Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Analyse des von Helmholtzschen Arguments . . . . . Relativierungsstrategien fr den Erfahrungsbegriff . . . . . Der Erfahrungsbegriff in Abhngigkeit von der evolutionren Entwicklungsstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lorenz’ stammesgeschichtliche Umdeutung des Kantischen Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Irrelevanz der Stammesgeschichte fr die Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das stammesgeschichtliche Aposteriori als stammesgeschichtliche Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das stammesgeschichtliche Aposteriori als Einsicht zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Geschichten als eine diachrone erzhlt . . . . . Der Erfahrungsbegriff in Abhngigkeit von der kulturellen und historischen Perspektive . . . . . . . . . . . . Der epistemologische Relativismus – allgemein gefasst . Gegenargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Relativierung des Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . Versteckte Prsuppositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die transsubjektive Geltung von Zweck-Mittel-Zusammenhngen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erfahrungsbegriff in Abhngigkeit von der humanen Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das vermeintlich skeptisch Mçgliche . . . . . . . . . . . . . . . Sinnentleerung durch universelle Skepsis . . . . . . . . . . . .
510 510 513 513 516 517 519 525 536 537 538 546 549 552 554 556 556 560 560 562 567 569 571 576
Kapitel 9: „Wir machen Erfahrungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 9.1 Auf dem Weg zur transzendentalen Entfaltung . . . . . . . 584 9.1.1 [vi :r ’max«n Er’fa :ruN«n] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
XIV 9.1.2 9.1.3 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.1.1 9.3.1.2 9.3.2 9.3.2.1 9.3.2.2 9.4 9.4.1 9.4.2 9.5
Inhalt
Die Grundsatzentscheidung: Bloßes Gerusch oder sinnhafte ußerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das synthetische Urteil „wir machen Erfahrungen“ gilt a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Argumentationsschema fr die transzendentale Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die argumentative Standardform fr die transzendentale Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrndungsheuristik: Der Begriff der Entfaltung . . . . Die zwei Seiten der Erfahrungsmedaille . . . . . . . . . . . . . Erfahrungsurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das propositionale Gewand gemachter Erfahrungen . . . Die Subjekt-Prdikat-Struktur ist keine Konvention . . . Erfahrungsurteilende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plural statt Singular: die Macher von Erfahrung . . . . . . Die praktische Vernunft epistemischer Gemeinschaften . Anspruch und Umsetzung: offene Probleme . . . . . . . . . Erste offene Frage: Das Problem mit den Raumdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite offene Frage: Das Problem mit der Euklidizitt . Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
586 587 593 594 598 603 604 604 606 615 615 619 626 627 633 635
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
Einleitung the price philosophers will pay for overly narrow specialization […] is the potential incoherence of their overall position. (Rescher, Metaphilosophical Inquiries, 21 f.)
„Wer vom Nichts redet, weiß nicht, was er tut.“1 Mit diesen Worten begleitet Martin Heidegger seine Geltungsanalyse2 der Leibnizschen Grundfrage der Metaphysik „warum es vielmehr etwas als nichts gibt“3, die in der vorlufigen Diagnose mndet: Das Reden vom Nichts ist unlogisch. Wer unlogisch redet und denkt, ist ein unwissenschaftlicher Mensch. Wer nun gar innerhalb der Philosophie, wo doch die Logik zuhause ist, ber das Nichts redet, den trifft der Vorwurf, gegen die Grundregel alles Denkens zu verstoßen, umso hrter. Ein solches Reden ber das Nichts besteht aus lauter sinnlosen Stzen.4
Wenn man es nicht besser wsste, so kçnnte man annehmen, dass diese 1935 vorgetragenen Gedanken nur von einem Mitglied des Wiener Kreises stammen kçnnen und offensichtlich gegen Heidegger gerichtet sind. Und in der Tat will sich Heidegger auch gar nicht darauf verpflichten lassen, einzig wissenschaftlich zu argumentieren, weil die wissenschaftliche, vor allem auf die Analyse der logischen Syntax gerichteten Strenge nach seinem Dafrhalten nicht den einzigen Maßstab fr gutes philosophisches Argumentieren reprsentiert. Er gedenkt also nicht, die Gehalte des soeben Gesagten umfassend handlungswirksam werden zu lassen, da eine Einschrnkung der Leibniz-Frage auf „warum ist berhaupt Seiendes“ die Weite, Tiefe und Ursprnglichkeit im Fragen der Ausgangsfrage vermissen 1 2
3 4
Heidegger, Einfhrung in die Metaphysik, 18. Der Ausdruck „Geltung“ wird in der vorliegenden Arbeit als bergeordneter Klassifikationsbegriff fr die Termini Begrndung, begrndete Behauptbarkeit, gerechtfertigter Wissensanspruch, Wahrheit, Bewiesenheit, Rechtfertigung (von Normen) usw. verwendet. Entsprechend bezeichnet der Ausdruck „geltungstheoretisch“ jene philosophischen Untersuchungen, die sich mit epistemologischen und semantischen Fragen die genannten Termini betreffend auseinandersetzen. Leibniz, Auf Vernunft gegrndete Prinzipien der Natur und der Gnade, §7. Heidegger, Einfhrung in die Metaphysik, 18.
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Einleitung
lassen wrde, derer wir bedrfen, um angemessen nach dem Grunde des Seienden fragen zu kçnnen. Obgleich Heidegger gerade den logischen Empiristen als Prototyp eines Philosophen diente, der sich der Formulierung metaphysischer Scheinstze hingibt5, so beinhaltet die zitierte Passage – trotz ihres dezidiert ironischen und vor allem gegen Carnap gerichteten Untertons – eine bemerkenswerte, ber die bloße Sprachkritik hinausgehende Sinnbedingung philosophischen Argumentierens: Die Gehalte philosophischer Thesen und Fragen drfen nicht im Widerspruch stehen zu den Bedingungen ihrer Formulierbarkeit. Es bleibt im Besonderen festzustellen, dass die benannte Sinnbedingung auch bei den logischen Empiristen trotz ihrer konsequenten Proklamation des linguistic turn grob fahrlssig bersehen wurde, als man etwa eine Abbildmetaphorik der Wahrheit, einen Methodenmonismus oder die These von der Nichtexistenz philosophischer Probleme bemhte.6 Die Bedingungen fr die logisch-empiristische Begrndungspraxis stehen im Widerspruch zu den Gehalten der logisch-empiristischen Thesen. Damit verbleibt dem Wiener Kreis in der Beantwortung der Geltungsfrage seiner eigenen Programmbeschreibungen nur der Wittgensteinsche Ausweg, die metasprachliche Darstellung der logisch-empiristischen Inhalte fr unsinnig zu erklren.7 Diese Schlussfolgerung wird man bei den logischen Empiristen aber eben so selten antreffen wie die Einsicht, dass sprachkritisches Argumentieren zudem einer Prsuppositionsanalyse seiner selbst bedarf, um wahrlich reflektiert zu sein. Philosophieren ist eine bestimmte Form des Argumentierens und jede Form des Argumentierens ist ein sprachliches Handeln zum Zweck der Rechtfertigung von Wissensansprchen. Wer daher in der Erkenntnistheorie die Mçglichkeit des Erhebens epistemischer Ansprche zum Gegenstand des Philosophierens macht, der sollte sich darber im Klaren sein, dass seine eigenen Argumente im Geltungsbereich der eigenen Resultate liegen, weil auch die vorgetragenen Begrndungen mit einem Erkenntnisanspruch einhergehen. Der Philosoph analysiert das epistemisch Mçgliche nicht von einem jenseitigen Standpunkt aus, sondern sein 5 6 7
Prominent Carnap, „berwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, 159. In Auszgen gehen wir hierauf in 6.2.1 ein. Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 6.54.
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Standpunkt befindet sich inmitten seines eigenen Gegenstandsbereichs, von dem er sich nicht suspendieren kann, wenn er weiterhin zu argumentieren gedenkt. Indem der Philosoph Auskunft ber das epistemisch Mçgliche gibt, erteilt er zugleich Auskunft ber die Qualitt der Rechtfertigung der eigenen Methode. Da diese Pointe gleichermaßen elementar wie in ihren Folgen weitreichend ist, unterlegen wir sie mit einer Maxime der Sinnhaftigkeit von Philosophieren berhaupt: Behaupte nur diejenigen epistemologischen Gehalte, bei denen du auch in der Lage bist, die Prsuppositionen fr die Mçglichkeit des Behauptungsvollzugs als bestehend nachzuweisen. Diese methodologische Forderung als eine notwendige Gelingensbedingung sinnkritischen Philosophierens erkannt zu haben, ist ein Verdienst, welches wir bereits Kant zuschreiben werden.8 Doch in der gegenwrtigen philosophischen Praxis wird dieser Forderung ebenso hufig nicht entsprochen wie sie unerkannt bleibt. So besteht bereits eine grundlegende Diagnose der vorliegenden Arbeit in der Feststellung, dass ungezhlt viele erkenntnistheoretische Programme gegen eben diese grundlegende Sinnbedingung verstoßen. Die Weisen, durch die dies vollzogen wird, sind nicht nur vielfltig, sondern zum Teil auch ußerst feinsinnig und zudem in ihrem Bezugsrahmen hufig dem erfolgreichen Erkenntnismodell des Naturwissenschaftlers nachgebildet, gegen welches der wissenschaftsglubige Mensch bekanntlich nicht rebellieren will.
Das Vorhaben und sein Aufbau In der vorliegenden Arbeit werden die Grundlagen eines erkenntnistheoretischen Programms begrndet, das die Fragen nach den apriorischen Bedingungen der Mçglichkeit und den Grenzen von Erkenntnis unter konsequenter Bercksichtigung der sinnkritischen Bedingungen fr das Philosophieren reformuliert und analysiert. Diese Grundlegung dient dem Zweck der transzendentalen Entfaltung des Erfahrungsbegriffs zum besseren Verstndnis der Legitimationsbedingungen unserer Erkenntnisansprche ber das Erfahrungswirkliche. Da dieses Programm in der Analyse der epistemologischen Fragen »transzendental« und in der Bereitstellung der hierfr erforderlichen Semantik »antirealistisch« verfhrt, bezeichnen 8
Siehe sechstes Kapitel.
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wir es als transzendentalen Antirealismus. Dies gilt es fr den Augenblick kursorisch zu erlutern, womit wir zum Aufbau der Arbeit kommen. Die Aufgabenstellung des Projekts erfordert die Verpflichtung auf einen vollstndigen Verzicht wissenstranszendenter Argumentationsweisen (2.2.1.2). Wir werden ausschließlich mit Mitteln operieren, die sich gemß der grundlegenden Sinnbedingung philosophischen Argumentierens als zulssig erweisen lassen: Epistemologische Zulssigkeit bedeutet epistemische Zugnglichkeit (2.2.2). Diese Zulssigkeitserklrung erkenntnistheoretischer Mittelbestnde erfolgt ber bedeutungstheoretische Forderungen, weil zu klren bleibt, was „epistemische Zugnglichkeit“ bedeuten soll. Hierfr beginnen wir mit der Offenlegung jener Argumentationsgrundlagen, die fr das zu vollziehende Projekt methodologisch unhintergehbar sind, weil sie allererst den Begrndungsrahmen konstituieren. Es handelt sich hierbei um jene Grundsatzentscheidungen, die zu Beginn schlicht getroffen werden mssen, weil durch sie das Begrndungsgeschft erst in Gang gesetzt wird. In unserem Fall betrifft dies die Frage nach dem im Hintergrund befindlichen Philosophieverstndnis (1.1) sowie die Anerkennung der kategorialen Unterscheidung zwischen Geltung und Genese (1.2), denn die Frage nach der Begrndung und Rechtfertigung von Erkenntnissen ist strikt zu trennen von der Frage nach der Entstehung und Entwicklung von Erkenntnissen. Schließlich kçnnen Erklrungen darber, wie Meinungen zustande kommen, nicht begrnden, warum diese Meinungen gegebenenfalls wahr sind. Die Wahrung dieser Unterscheidung bildet fr das vorliegende Programm nicht nur eine unhintergehbare Bedingung fr die Mçglichkeit zulssigen philosophischen Argumentierens, sondern unter Bercksichtigung allgemeiner argumentationstheoretischer Argumente (1.2.4) auch eine universale Sinnbedingung: i) Die Geltung-Genese-Unterscheidung Wessen Resultate implizieren, dass die Ursachen des Frwahrhaltens zugleich die Grnde des Wahrseins sind, der muss nicht nur genuine Geltungsbegriffe bereits in Anspruch nehmen, um korrekte von fehlerhaften Ursachenanalysen unterscheiden zu kçnnen (1.2.3), sondern der kann mittels Kausalanalysen berhaupt nicht zwischen „wahr“ und „falsch“ unterscheiden (1.2.2). Im Anschluss hieran werden wir in 1.3.2 ausfhren, was es bedeutet, dass all unser Handeln die Realisiertheit ganz bestimmter Bedingungen in Anspruch nehmen muss, um berhaupt als Handeln anerkannt zu werden. Die hierdurch bereitgestellte Theorie epistemologischer Prsuppositionen kommt zu dem methodologisch grundlegenden Ergebnis (1.3.2.2 f.), dass
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epistemologische Prsuppositionen universale Sinnbedingungen fr das Machen von Erfahrung sind, die bei Strafe der Sinnentleerung des Gehalts nicht negiert werden kçnnen und die – sofern sie berhaupt begrndbar sind – einer nichtzirkulren Begrndung fhig sind. Diese Definition erhlt eine Operationalisierung (1.3.2.4), damit fr den Vollzug des transzendentalen Begrndungsgeschfts klar normierte Kriterien benannt sind, anhand derer eine Bedingung als epistemologische Prsupposition ausgewiesen werden kann. Die folgenden universalen Sinnbedingungen nehmen hierbei eine zentrale Rolle fr unsere weitere Argumentation ein: ii) Die Unmçglichkeit transzendenter Perspektiven (2.1) Wessen Problemexposition nur von einer Perspektive aus formuliert werden kann, die jenseits von Sprache und Sinnlichkeit liegt und damit fr jeden Wissensanspruch transzendent ist, weil diese Perspektive weder Erkenntnisanspruch noch Geltung kennt, der formuliert ein Scheinproblem, weil Aussagen, die die Verfgbarkeit einer unmçglichen Perspektive implizieren, sinnlos sind. iii) Die Unzulssigkeit universal skeptischer Erwgungen (1.1, 8.6) Wessen Argumentation zu dem Ergebnis fhrt, dass all unsere Wissensansprche in ihrer Gerechtfertigtheit mit einem Fragezeichen versehen werden mssen, der zieht nicht nur sui generis das Sinnesfundament allen Philosophierens in Zweifel, sondern der nimmt bereits eine epistemologische Perspektive fr die Formulierung seines Zweifels in Anspruch, die transzendent ist. iv) Autonomie im epistemischen Handeln (1.3.2.5) Wessen Ergebnisse implizieren, dass die epistemischen Subjekte nicht handlungsautonom sind, der entleert nicht nur den Gehalt seiner eigenen epistemologischen These, sondern der bersieht gnzlich, dass Handlungsautonomie bereits in epistemischen Gemeinschaften eine Bedingung der Mçglichkeit von Sprache und Geltung ist: Ohne Handlungsautonomie ist das Machen von Erfahrung nicht mçglich. Um den zur Untersuchung der universalen Sinnbedingungen erforderlichen transzendentalen Begrndungsmittelbestand einfhren und legitimieren zu kçnnen, bençtigen wir eine Bedeutungstheorie, mittels der allererst die Frage nach der Zulssigkeit sinnvoll gestellt und beantwortet werden kann: Genau diejenigen Argumentationsmittel sind epistemologisch zulssig, denen unter Verwendung der investierten Bedeutungstheorie ein klar bestimmter Sinn und Gehalt zugeschrieben werden kann. Es bedarf also nach der Exposition der prominenten Sinnbedingungen innerhalb des Programms der Offenlegung der verwendeten bedeutungs-
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theoretischen Grundlagen. Die investierte Semantik reprsentiert aber nicht die Folge einer alternativreichen Konvention, die auch htte anders getroffen werden kçnnen. Vielmehr ergibt sich das Erfordernis ganz bestimmter bedeutungstheoretischer Postulate aus dem Gengen der epistemologischen Minimalbedingung, keine Perspektive zur Formulierung der erkenntnistheoretischen Probleme zu erwgen, die bereits aus analytischen Grnden nicht eingenommen werden kann (2.2.1.1). Die Wahl der Forderung „Meide eine Perspektive sideways-on“ als erkenntnistheoretische Minimalbedingung ist deshalb besonders gut geeignet, weil selbst diejenigen, die einen solchen Beschreibungsstandpunkt per Analogiebildung zu fingieren versuchen (2.1.3), nicht bestreiten wrden, dass ein solcher Blickpunkt nicht nur faktisch uneinnehmbar ist, sondern dass bereits aus analytischen Grnden das Praktizieren des „gçttlichen Standpunkts“ durch epistemische Wesen wie uns ausgeschlossen ist (2.1.1 f.). Unter Wahrung dieser Bedingung werden im Besonderen die semantischen Forderungen nach der transzendenten Bivalenz, der Wissenstranszendenz und der ontischen Selbstndigkeit der Referenz (2.2.1.2) verworfen. Unsere auf „Wissbarkeit“ verpflichtete Bedeutungstheorie kommt schließlich zu dem Resultat (2.2.2.4), dass eine Aussage berhaupt nur dann als „erkenntnistheoretisch zulssig“ beurteilt werden kann, wenn sichergestellt ist, dass j) die Einfhrung aller bedeutungskonstitutiven Bestandteile prinzipiell epistemisch zugnglich ist, jj) durch ihre ußerung keine Sinnentleerung des Gehalts vollzogen wird und jjj) sie nicht die Negation der GeltungGenese-Unterscheidung impliziert. Mit diesem bedeutungstheoretischen Instrumentarium wird schließlich im dritten und vierten Kapitel der transzendentale Begrndungsmittelbestand eingefhrt und legitimiert. Namentlich betrifft dies unter anderem die transzendentalphilosophische Terminologie (3.4 ff.), in deren Mittelpunkt der Begriff der Kategorie steht (3.5.2). Um bereits die Bedingung der epistemischen Zugnglichkeit aller bedeutungskonstitutiven Bestandteile umfassend sicherstellen zu kçnnen, erçrtern wir vorgelagert in 3.2 das Begrndungsverhltnis von begrifflicher Rekonstruktion und transzendentaler Konstitution. Dies aus folgendem Grund: Damit berhaupt eine transzendentale Reflexion auf die apriorischen Strukturmerkmale der Lebenswelt einsetzen kann, mssen alle hierfr erforderlichen terminologischen und argumentativen Mittelbestnde bereits ausgehend von der Lebenswelt als dem methodischen Fundament dieses Projektes einfhrbar sein. Gelingt eine methodische Rekonstruktion aller transzendentalen Begrndungsmittel ausgehend vom lebensweltlichen Fundament, dann ist dies der Garant fr eine antiwissenstranszendente Epis-
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temologie, da ausnahmslos alle erkenntnistheoretischen Mittel aufgrund der methodisch vollzogenen Begrndungskette als epistemisch zugnglich erwiesen sind: Methodische Rekonstruierbarkeit ist das Kriterium fr epistemische Zugnglichkeit und damit a fortiori fr epistemologische Zulssigkeit. Diese Begrndungsbedingung einer transzendentalphilosophischen Sprache ist selbstverstndlich unverzichtbar, wenn Ausdrcke wie „erfahrungsermçglichendes Begriffsschema“, „transzendental notwendig“, „Ermçglichungsbedingung“, „Merkmal der reinen Erfahrungsstruktur“ oder „notwendigerweise instanziiert“ eine klar bestimmte Bedeutung besitzen und mit ihnen formulierte epistemologische Aussagen einen klar bestimmten Sachverhalt reprsentieren sollen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei den Kategorien, denn sie reprsentieren genau diejenigen notwendigerweise instanziierten, irreduziblen, sortalen Einzeldingbegriffe, deren empirische Realisate die Trger der reinen Erfahrungsstruktur bestimmen. Zwar besitzen die Kategorien bereits dadurch einen ausgezeichneten epistemologischen Status, weil die durch sie zum Ausdruck gebrachten Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung zugleich Auskunft ber die Bedingungen der Mçglichkeit der Gegenstnde von Erfahrung geben.9 (Es wird sich zeigen, dass diese kantische Wendung nichts Geringeres besagt als die Kernforderung einer antirealistischen Bedeutungstheorie.) Allerdings liefern innerhalb unserer Kategorientheorie vor allem die Analysen zur „Irreduzibilitt“ und zur „Sortalitt“ weiterfhrende erkenntnistheoretische Einsichten. So werden wir – um nur ein Beispiel zu nennen – keine Probleme haben zu begrnden, wie eine Anwendung der Kategorien auf „Erscheinungen“ mçglich ist, wo doch die Begrndung von a priori reinen Begriffen als Kategorien ohne jegliche empirische Anschauung zu erfolgen hat.10 So folgt aus unserem Zugang zur Bereitstellung der transzendentalphilosophischen Sprache ein beraus konzises Argument fr die These, dass sich die Kategorien in unserer
9 Vgl. Kant, KrV, A 111, B 197. (Die Kritik der reinen Vernunft wird den blichkeiten folgend mit der Sigle KrV unter Verwendung einer der beiden Originalpaginierungen zitiert. Den Standard hierfr bildet die zweite Auflage (= B), whrend wir uns auf die erste (= A) im Fall von relevanten Abweichungen beziehen. Andere Schriften Kants werden nach der Paginierung der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (und Nachf.) herausgegebenen Ausgabe zitiert.). 10 Vgl. ebd., B 176.
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Lebenswelt immer schon in einem erfolgreichen empirischen Gebrauch befinden mssen.11 Damit nun aber unter Verwendung der transzendentalphilosophischen Terminologie die epistemologischen Prsuppositionen begrndet aufgewiesen werden kçnnen, bedarf es einer Methode, die das transzendental Notwendige von den empirischen Besonderheiten zu unterscheiden gestattet. Prominent betrifft dies die Frage, wie wir sicherstellen kçnnen, dass kontrafaktische Aussagen ber mçgliche bzw. unmçgliche epistemologische Szenarien eine klar bestimmte Bedeutung besitzen und prinzipiell begrndungsfhig sind. Bezglich dieser Mçglichkeit gibt es ebenso viele Zweifler (4.1) wie die Philosophiegeschichte Beispiele parat hlt, in denen Gedankenexperimente eher zur Verdunklung als zur Klrung der betroffenen Probleme gefhrt haben. Sicherlich fhrt uns das kontrafaktische epistemologische Rsonieren hart an die Grenzen des sinnvoll Denkbaren, weil die Vernunft leicht dazu neigt, umgehend vom Faktum der sprachlichen Artikulation auf die epistemologische Mçglichkeit zu schließen. Doch auch hier lsst sich die Vernunft disziplinieren, wenn sie in jedem Schritt des fiktiven Entwurfs darauf verpflichtet wird, die erwogenen Strukturmerkmale des alternativen Szenarios im Lichte der Bedingungen ihrer Formulierbarkeit zu prfen. Diese Aufgabe bernimmt unsere Theorie des epistemologischen Gedankenexperiments (4.2 ff.), durch die kontrollierbare Gelingensbedingungen expliziert werden, die ein Gedankenexperiment zu erfllen hat, um berhaupt als zulssiges prsuppositionales Argument gelten zu kçnnen. Dies ist eine Form der philosophischen Begrenzung des Undenkbaren und damit Unsinnigen (weil epistemologisch Unmçglichen) von innen durch das Denkbare.12 Ein parasitres, wenngleich erwhnenswertes Resultat besteht in der Einsichtnahme, dass Gedankenexperimente fr gettierartige Flle nicht das zeigen, was sie zu zeigen beanspruchen (4.5). Da jedes philosophische Programm – von einzelnen frhen Naturphilosophien vielleicht einmal abgesehen – ber eine Vorgeschichte verfgt, deren Kenntnisnahme allererst verstndlich werden lsst, warum welche Fragen wie und zu welchem Zweck erçrtert werden, legen wir die problemgeschichtlichen Bezugspunkte des transzendentalen Antirealismus in den Kapiteln sechs und sieben offen. Hierfr beginnen wir im fnften Kapitel mit einer Selbstauskunft darber, was unter der Konstitution philosophischer Problemgeschichten zu verstehen ist, warum am Ende 11 Siehe Abschnitt iii) der sortale Charakter im empirischen Gebrauch aus 3.5.2. 12 Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 4.114.
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einer erfolgreich erzhlten Problemgeschichte jener Sachverhalt verstanden wurde, der den Ausgangspunkt des eigenen philosophischen Ansatzes bildet und warum es keineswegs mysteriçs ist, dass relativ zu verschiedenen Erkenntniszielen verschiedene Problemgeschichten unter Bezugnahme auf dasselbe Datenmaterial konstituiert werden kçnnen (5.1 ff.). Wer daher bereits Verstndnisschwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem hier verfochtenen Philosophieverstndnis hat (1.1), dem sei zuerst die Lektre der Kapitel fnf bis sieben empfohlen. Die Lektre der relevanten philosophischen Geschichten sollte im Gelingensfall den Leser fr das hier zum Ausgang genommene Problemverstndnis sensibilisieren. So bereiten wir im sechsten Kapitel schließlich jene Geschichte auf, die verstehen hilft, warum Kant fr das vorliegende Programm eine entscheidende Bezugsgrçße darstellt. Die dort vorfindliche Rekonstruktion der transzendentalen Wende als einer konsequenten Abkehr von wissenstranszendenten Begrndungsprinzipien beansprucht weder philologische Detailtreue noch maximale exegetische Kohrenz. Aber es ist genau diese Lesart, die fruchtbar auf die systematische Ausgestaltung des vorliegenden Projektes wirkt und dies sollte nach Maßgabe der philosophischen Redlichkeit auch angezeigt werden. Das siebente Kapitel schließt hieran konsequent an, denn unsere epistemologischen Analysen bleiben – im Unterschied zu Kant – eingebettet in eine Philosophie der Lebenswelt (7.2.1), die das methodische Fundament bildet, von dem ausgehend die transzendentale Fragestellung allererst formuliert und verstndlich gemacht werden kann. Doch whrend aus dieser Einsicht, die wir Husserl zu verdanken haben (7.2.2), in der Transzendentalen Phnomenologie die falschen Schlussfolgerungen gezogen wurden (7.2.3 f.), blieb sie in der Erkenntnistheorie des Methodischen Kulturalismus von Peter Janich gnzlich unverstanden (7.3.2 f.). Damit fhrt uns diese Problemgeschichte zur Feststellung eines entscheidenden Defizits jener Epistemologien, die in Bezug auf den Begriff der Lebenswelt fr uns eine systematische Bezugsgrçße darstellen. Das lsst verstndlich werden, weshalb der transzendentale Antirealismus in der Kennzeichnung seines methodischen Fundaments nicht Kant folgen kann und in der Methode der Reflexion auf die apriorische Struktur der Lebenswelt weder Husserl noch Janich. Doch problemgeschichtlich holen wir mit dieser Feststellung vor allem unsere methodologische Forderung ein, dass der epistemologische Mittelbestand in seiner Einfhrung und Legitimation kontrollierbar sein muss. Die beiden verbleibenden Kapitel acht und neun widmen sich schließlich weiteren Vorarbeiten fr die transzendentale Entfaltung des Erfahrungsbegriffs. So ist es Aufgabe des achten Kapitels, fr die strikte
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Universalitt des Erfahrungsbegriffs zu argumentieren. Schließlich kann der Aufweis von Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung nur dann mit dem hier verfochtenen apriorischen Verbindlichkeitsanspruch verbunden werden, wenn der Erfahrungsbegriff, von dem ausgehend die transzendentale Analyse erfolgt, in seinen grundlegenden Begriffsmerkmalen nicht kontingent ist: Die Geltung der transzendentalen Ergebnisse ist weder relativierbar auf eine bestimmte evolutive Entwicklungsstufe (8.4) noch auf eine bestimmte historische Kulturgemeinschaft (8.5) noch auf die humane Lebensform (8.6). Das letzte Kapitel skizziert schließlich unter Bereitstellung der verbliebenen argumentationstheoretischen Voraussetzungen die ersten Schritte, die eine transzendentale Entfaltung zu nehmen hat. Obgleich diese Entfaltung mit der Feststellung der synthetisch-apriorischen Wahrheit „wir machen Erfahrungen“ beginnen sollte (9.1.3), so fordern wir doch vorab zur Wahrung unserer grundlegenden Sinnbedingungen eine Grundsatzentscheidung ein (9.1.2): Wollen wir das durch die Zeichenkette [vi :r ’max«n Er ’fa :ruN«n] vertretene akustische Phnomen als ein natrliches Geschehen oder als ein Sinngebilde verstehen? Die Mçglichkeit der transzendentalen Entfaltung ist nur fr jenen gegeben, der das akustische Phnomen [vi :r ’max«n Er’fa :ruN«n] unter normalen Umstnden als die mit Anspruch auf Geltung vorgetragene Behauptung „wir machen Erfahrungen“ versteht. Und nur an diejenigen, die diese Entscheidung teilen, richten sich – mit allen sich daraus ergebenden Verpflichtungen – die Inhalte der Arbeit. Allerdings kann die transzendentale Entfaltung hier nur angedeutet und nicht umfassend vollzogen werden. Dies ist vor allem darauf zurckzufhren, dass es nach wie vor offene Fragen und Probleme gibt (9.4), deren Klrung einem umfassenden Entfaltungsvollzug voranzugehen haben und fr die die vorliegende Arbeit bestenfalls Vermutungen, aber keine begrndeten Antworten anzubieten weiß. Fr manch einen mag dies unbefriedigend sein, weil explizit formulierte Ziele letztlich unrealisiert bleiben. Letzteres wird nicht bestritten oder bagatellisiert, aber um die Feststellung ergnzt, dass bereits durch die Bereitstellung der Grundlagen des transzendentalen Antirealismus und die dadurch ermçglichten Problemreformulierungen ein partieller Klrungserfolg in der Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Fragen gewhrleistet werden kann. Besonders prominent zeigt sich dies in unserer Analyse des Außenweltproblems, die eine Kernaufgabe der vorliegenden Arbeit darstellt.
Eine Kernaufgabe des Programms
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Eine Kernaufgabe des Programms Philosophen haben Probleme. Manche dieser Probleme benennen klar umrissene Fragestellungen, die eine konsequente Behandlung erforderlich machen, weil sie praxisrelevante Felder betreffen, die ihrerseits genaue Erwartungshaltungen und Gelingensbedingungen mit der Problembewltigung verbinden. Viele andere Probleme, denen sich ein Philosoph zu stellen hat, sind in erster Instanz nicht inhaltlicher, sondern methodologischer Natur. So besteht das Problem oft genug bereits darin, dass unklar ist, worber inhaltlich gestritten wird: „Was ist eigentlich das Problem?“ ist nicht nur eine hufig gestellte Frage in der Philosophie, sondern sie stiftet jene intellektuelle Unruhe, die das Philosophieren befçrdert.13 Eines der Probleme, das dieses Schicksal teilt, ist das Außenweltproblem in der Erkenntnistheorie, das durch die Fragen bestimmt ist, ob es eine vom Erkenntnissubjekt unabhngige Außenwelt gibt, von welcher Beschaffenheit diese gegebenenfalls ist und ob/wie es sein kann, dass ein denkendes Subjekt ein Wissen von dieser denkunabhngigen Außenwelt haben kann. Die Philosophen sind sich darber uneins, ob dieses Problem bereits in der antiken Tradition prsent war14 oder ob das Außenweltproblem eine Errungenschaft der Philosophie der Neuzeit ist15, dessen Formulierung und Diskussion mit dem Anbruch der erkenntnistheoretischen Phase im 17. Jahrhundert aufkommt. Unabhngig von dieser philosophiehistorischen Frage kann aber immerhin festgestellt werden, dass wir dieses Problem sptestens seit Descartes haben, wobei sich sogleich die Frage stellt, was dieses denn nun genau besagt. Schließlich kçnnen wir ein Problem erst dann sinnvoll einer Analyse und Problemklrung zufhren, wenn wir bereits verstanden haben, was durch die Fragestellung genau zum Ausdruck gebracht wird. Die neuzeitliche Diskussion von Descartes bis Kant und darber hinaus darf dementsprechend nicht nur als eine Diskussion verstanden werden, in der sich rivalisierende Lçsungsanstze abwechselnd ins Licht der philosophischen ffentlichkeit gesetzt haben. Diese Diskussion ist auch und vor allem der gemeinsam verfolgten Frage verpflichtet, was wir darunter zu verstehen haben, wenn wir die Existenz von Erkenntnisob13 Prominent: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §123: „Ein philosophisches Problem hat die Form: »Ich kenne mich nicht aus.«“. 14 So etwa Heidemann, Der Begriff des Skeptizismus, 274 ff.; Gabriel: Skeptizismus und Idealismus in der Antike, 29 ff. 15 So etwa Burnyeat, „Idealism and Greek Philosophy“; Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, 91 ff., 112 ff.
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jekten annehmen oder postulieren oder prsupponieren, die vom Erkenntnissubjekt unabhngig sind. Whrend es Kant noch als einen „Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft“16 bezeichnete, dass der Glaube an ein Dasein der Dinge außer uns (im empirischen Sinn) noch durch keinen genugtuenden Beweis abgesichert sei, sah Heidegger diesen Skandal gerade darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden.17 Und wiederum andere, wie etwa die logischen Empiristen, erklrten die klassischen Formulierungen des Außenweltproblems zu Aussagen mit einem metaphysischen Charakter18 und reformulierten dieses Problem schlicht im Modus verifizierbarer lebensweltlicher bzw. fachwissenschaftlicher Existenzaussagen19, womit es berhaupt kein erkenntnistheoretisches Problem mehr gab. Gemeinhin wird mit dem Ausdruck „erkenntnistheoretischer Realismus“ (in Bezug auf die Außenwelt) eine in vielen Facetten vertretene Position verstanden, welche die Existenz einer vom Erkenntnissubjekt unabhngigen Außenwelt anerkennt, d. h. den Einzeldingen (der Erfahrungswirklichkeit) ein Dasein unabhngig vom erkennenden Subjekt einrumt. Da Spielweisen dieser Position Bestandteile von philosophischen Debatten sind, stellt sich jedoch die Frage, welche vernnftige These die in Opposition befindliche Position vertritt. Durchmustert man die Realismus-These, so erçffnen sich im Besonderen zwei Mçglichkeiten der Opposition: Entweder man leugnet durchweg die Existenz einer Außenwelt oder aber man bindet ihre Existenz (in einer zu qualifizierenden Weise) an jene des Erkenntnissubjekts. Im ersten Falle kann man von einem „eliminativen Antirealismus“ sprechen, whrend die zuletzt genannte Option als „idealistischer Antirealismus“ gekennzeichnet werden darf.20 Das Außenweltproblem erschçpft sich jedoch nicht einzig in einer Antwort auf die grundlegende ontologische Frage nach der bloßen Existenz, sondern reicht bis zur Mçglichkeit und Weise der Erkennbarkeit dieser Außenwelt, wobei ein Zwischenschritt zwischen diesen beiden Problemkomplexen in der Frage nach der Beschaffenheit der Außenwelt besteht: Kommt den Gegenstnden der Außenwelt nur ein Teil ihrer Eigenschaften „denkunabhngig“ zu (etwa „primre Qualitten“), whrend ein anderer 16 Kant, KrV, B XXXIX. 17 Heidegger, Sein und Zeit, 205. 18 Etwa Schlick, „Erleben, Erkennen, Metaphysik“, 170 f.; Carnap/Hahn/Neurath: „Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis“, 210. 19 Vgl. Schlick, „Positivismus und Realismus“, 100 ff. 20 Siehe etwa Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, 11 ff.
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Teil nur in Abhngigkeit vom erkennenden Subjekt besteht (etwa „sekundre Qualitten“) oder ist die Außenwelt bereits unabhngig vom Erkenntnissubjekt vollstndig bestimmt? Werden die Antworten auf diese Fragen nun mit solchen bezglich der Mçglichkeit von Wissen und Wahrheit – also mit Aussagen ber die Mçglichkeit und Weise der Erkennbarkeit der Außenwelt – verknpft, so ergibt sich ein ungleich differenzierteres Bild: Wenn wir die selbstndige Existenz der Außenwelt anerkennen, wie ist es dann um die Erkennbarkeit dieser Außenwelt bestellt? Gilt bereits all das als ein Wissen von der Beschaffenheit der Außenwelt, was wir „klar und deutlich“ erkennen kçnnen oder beschrnkt sich unser Wissen ber die Beschaffenheit der Außenwelt einzig auf bestimmte Eigenschaften der Einzeldinge der Erfahrungswirklichkeit? Steht die Beschaffenheit der Außenwelt (zumindest in Teilen) bereits unabhngig vom erkennenden Subjekt fest und – falls „ja“ – verfgt das Erkenntnissubjekt ber einen epistemischen Zugang zu dieser vorgefassten Wirklichkeit? Verfgen wir mçglicherweise nur ber ein bescheidenes Wissen von einer Wirklichkeit zweiter Klasse, whrend die eigentliche Wirklichkeit radikal epistemisch unzugnglich ist und uns fr immer verborgen bleiben wird? Fragen dieser Form werden blicherweise als epistemologische bzw. semantische Fragen gekennzeichnet, die sich nach Auffassung vieler frei kombinieren lassen mit den ontologischen Thesen oder doch zumindest von diesen unabhngig sind.21 Demnach wren erkenntnistheoretische Aussagen ber die Beschaffenheit der Außenwelt geltungstheoretisch unabhngig von erkenntnistheoretischen Aussagen ber unser Wissen von dieser Außenwelt. Eine Kernthese des transzendentalen Antirealismus besteht in der Feststellung, dass die bliche Alternativenbildung in Bezug auf das Außenweltproblem ein Scheinproblem reprsentiert, weil ontologische Fragen nicht unabhngig von semantischen Fragen erçrtert oder gar beantwortet werden kçnnen (und vice versa). Oder um es anders zu formulieren: Der interessante Streitpunkt zwischen Realisten und Antirealisten bezglich der Außenwelt besteht berhaupt nicht in der Frage, ob Einzeldinge der Außenwelt vom Erkenntnissubjekt logisch unabhngig sind, sondern in der Frage, aufgrund welcher Bedingungen wir gerechtfertigt sind, Einzeldingen der Er21 Exemplarisch Devitt, Realism and Truth, Kap. 4 und Kap. 12; Tennant, AntiRealism and Logic, 7 ff. Ders., The Taming of the True, 19 ff.; Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, 47.
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fahrungswirklichkeit eine Existenz – und damit a fortiori eine bestimmte Beschaffenheit – zuzuerkennen. Epistemologische Realisten und Antirealisten streiten also nicht um die Zulssigkeit eines empirischen Realismus (den beide Seiten anerkennen sollten), sondern um die Legitimitt eines semantischen Realismus und damit um die Anerkennung wissenstranszendenter Wahrheiten. Dies sei an dieser Stelle mit einem ersten protreptischen Argument unterlegt: 1. Wenn im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Programms P ontologische Thesen (wie etwa „Es gibt Einzeldinge dieser und jener Beschaffenheit“) formuliert werden, dann gehen damit erkenntnistheoretische Wissensansprche einher. 2. Diese Wissensansprche sind prinzipiell nur dann rechtfertigbar, wenn durch P zugleich epistemologische und semantische Bedingungen fr die Mçglichkeit von Wissen und Wahrheit bereitgestellt werden, deren Geltung die in Frage stehenden Wissensansprche als versteh- und prinzipiell realisierbar ausweisen. 3. P darf bei Strafe des Scheiterns keine epistemologischen und semantischen Bedingungen fr die Mçglichkeit von Wissen und Wahrheit postulieren oder implizit verwenden, aufgrund derer die mit den ontologischen Thesen verbundenen erkenntnistheoretischen Wissensansprche als ungerechtfertigt bzw. unzulssig zu beurteilen sind. 4. Also ist die Wahl einer bestimmten Ontologie auf eine bestimmte Klasse von epistemologischen und semantischen Forderungen festgelegt. Dies ist nur ein erstes und zugestandenermaßen ußerst kurz gehaltenes Argument, das es im Verlaufe der Arbeit zu differenzieren und zu przisieren gilt (vor allem in 2.2.2.2). Aber es zeigt immerhin an, was wir im Vorangegangenen bereits explizit eingefordert haben: Die Aussagen des Erkenntnistheoretikers befinden sich in ihren Geltungsbedingungen nicht jenseits des erkenntnistheoretischen Gegenstandsbereichs, sondern mssen immer schon jenen Erfordernissen gengen, die durch das erkenntnistheoretische Programm zum Ausdruck gebracht werden: Auch epistemologische Thesen bezglich der Existenz und Beschaffenheit der Außenwelt prsupponieren fr ihre Versteh- und Begrndbarkeit eine be-
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stimmte Semantik, unter deren Verwendung das beschriebene erkenntnistheoretische Szenario allererst sinnvoll wird. 22 Wer so zum Beispiel behauptet, dass die Erfahrungswirklichkeit zumindest partiell an sich bestimmt ist und somit immerhin einige Tatsachen unabhngig vom Erkenntnissubjekt auf die Außenwelt „zutreffen“, der muss – damit diese These berhaupt verstanden werden kann – einen semantischen Realismus (wenngleich nicht den anspruchsvollsten) vertreten. Wer darber hinaus etwa behauptet, dass die eigentliche Außenwelt in einer bersinnlichen Wirklichkeit besteht, die epistemisch unzugnglich ist, der muss nicht nur fr die Mçglichkeit eines ansatzweisen Verstehens seiner These einen beraus voraussetzungsreichen semantischen Realismus investieren, sondern der muss sich auch die Frage gefallen lassen, woher man dies denn weiß, wenn eben diese bersinnliche Wirklichkeit epistemisch unzugnglich sein sollte. Wenn dies – gemß der Programmatik der vertretenen Erkenntnistheorie – der Fall sein soll, dann gilt die epistemische Unzugnglichkeit auch und vor allem fr den praktizierenden Erkenntnistheoretiker, d. h. er kann es schlicht und ergreifend nicht wissen und darf a fortiori darber auch berhaupt keine Aussagen machen. Eine These dieser Form verstçßt offensichtlich gegen unsere Maxime sinnhaften Philosophierens. Eine Bemerkung in eigener Sache: die Rolle Strawsons in dieser Arbeit Man muss kein aufmerksamer Leser sein um festzustellen, dass die Inhalte der beiden erkenntnistheoretischen Hauptwerke Peter F. Strawsons – Individuals und The Bounds of Sense – in der vorliegenden Arbeit gnzlich verschieden beurteilt werden. Whrend der Strawson aus Individuals eine Gallionsfigur fr das sprachkritisch reflektierte transzendentalphilosophische Argumentieren darstellt und folglich eine hohe Prsenz in unseren konstruktiven Argumenten genießt, reprsentiert der Strawson aus Bounds den Inbegriff eines wissenstranszendent Argumentierenden und fungiert daher hufig als Exempel jenes epistemologischen Paradigmas, das es zu berwinden gilt. Diese Diskrepanz gilt es an dieser Stelle kurz zu erlutern, um dem Verdacht einer inkonsistenten Philosophie auf Seiten Strawsons 22 Dies ist auch der Grund, weshalb wir in der vorliegenden Arbeit disziplinr nicht zwischen Metaphysik, Ontologie und Erkenntnistheorie unterscheiden werden. Metaphysische und ontologische Fragen/Thesen sind immer auch erkenntnistheoretische Fragen/Thesen.
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Einleitung
oder einer inadquaten Rezeption auf Seiten des Autors der vorliegenden Schrift zuvorzukommen. Beides scheint nicht der Fall zu sein, weil sich Strawson in Individuals schlicht und ergreifend nicht dazu ußert, ob es eine an sich bestimmte Wirklichkeit gibt, die uns partiell oder prinzipiell epistemisch unzugnglich ist. Ob Strawson in Individuals dieselben wissenstranszendenten Thesen vertreten htte wie in Bounds, wenn er sich bereits in seiner 1959er Monographie mit der Rede „Welt der Erscheinungen“ und „Ding an sich“ auseinandergesetzt htte, ist eine mßige Frage. Der Autor der vorliegenden Arbeit ist Strawson jedenfalls dankbar dafr, dass er sich diesbezglich in Individuals zurck- bzw. bedeckt hlt. Dies erçffnet immerhin ohne nennenswerte interpretative Hrden die Mçglichkeit, Strawsons dort entworfene deskriptive Metaphysik, die er selbst als einen „scaled-down Kantianism“23 charakterisiert, umgehend mit den Mitteln unserer antirealistischen Bedeutungstheorie zu reformulieren. Anders sieht dies freilich in der 1966er (beraus originellen, aber fr uns problematischen) KantInterpretation aus, weil Strawson hier offenlegen muss, wie er es mit der Kantischen Rede vom „Ding an sich“ hlt. Nach seiner Rekonstruktion handelt es sich bei der Unterscheidung zwischen Erscheinung und dem, was da erscheint, um eine ontische, die neben einer uns zugnglichen Erfahrungswirklichkeit eine bersinnliche „eigentliche“ Wirklichkeit vorsieht, von der wir allerdings kein Wissen haben kçnnen. Um Aussagen dieser Form berhaupt mit Bedeutung versehen zu kçnnen, muss bereits das ganze Arsenal einer transzendent-realistischen Bedeutungstheorie aufgefahren werden. Bedauerlicherweise kann man sich hier nicht mit dem Hinweis begngen, dass Strawson dieses, fr die analytische Kantrezeption beraus einflussreiche Erkenntnismodell24 Kant und nicht sich selbst zuspricht, weil Strawsons nachfolgende epistemologische Schriften – vor allem seine Klarstellungen im Rahmen der transzendentale-ArgumenteDebatte – deutlich erkennen lassen, dass er selbst einen wissenstranszendenten Realismus vertritt.
23 Strawson, „Philosophy. The Post-Linguistic Thaw“, 173. Siehe auch Passmore, A Hundred Years of Philosophy, 608. 24 Selbst McDowell lsst sich in Mind and World (vor allem 41 ff. und 95 ff.) zu dieser Kantlesart hinreißen, obgleich er ebenda bereits erwgt, dass ein transzendentaler Idealismus ohne diese transzendent-realistische Ontologie den von ihm eingeforderten Balanceakt zwischen einem Kohrentismus und einem Mythos des Gegebenen leisten wrde. Vgl. McDowell, „Having the World in View“, 446.
Teil I: Prsuppositionen und methodologische Grundlagen
Teil I: Prsuppositionen und methodologische Grundlagen
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Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen erkenntnistheoretische Aussagen wie „eine Bedingung der Mçglichkeit fr das Machen von Erfahrung besteht in der Verfgbarkeit der Kategorie des epistemischen Handlungssubjekts, denn wenn dieser apriorische und irreduzible Begriff nicht notwendigerweise instanziiert wre, dann wre Sprache und a fortiori Erfahrung nicht mçglich“. Um philosophische Aussagen dieses Typs verstehen und begrnden zu kçnnen, bedarf es der Offenlegung der grundlegenden philosophischen Prsuppositionen und der Rekonstruktion der auf ihnen aufbauenden methodologischen Grundlagen. Damit Ausdrcke wie „Ermçglichungsbedingung“, „epistemologische Unmçglichkeit“, „Kategorie“, „notwendige Instanziierung“, „Irreduzibilitt“ u. a. in ihrer Bedeutung bestimmt sind und kontrafaktische Konditionalaussagen ber erkenntnistheoretische Szenarien als begrndungsfhig oder aber sinnlos ausgewiesen werden kçnnen, bedarf es der Bereitstellung einer Vielzahl von philosophischen Begrndungsmitteln. Dies ist Aufgabe der ersten vier Kapitel. Im ersten werden unter anderem diejenigen Sinnbedingungen expliziert (1.2 – 1.3), die fr das vorliegende Programm unhintergehbar sind und die zum Teil – nach Maßgabe des hier vertretenen Philosophieverstndnisses (1.1) – prinzipiell unhintergehbar sind. Ausgehend von der Formulierung einer sich daran anschließenden epistemologischen Minimalforderung (2.1) werden schließlich im zweiten Kapitel die bedeutungstheoretischen Grundlagen entfaltet (2.2). Die hierdurch formulierten Zulssigkeitsforderungen und Sinnbedingungen philosophischen Begrndens bilden den Ausgangspunkt fr die Bereitstellung der methodologischen Grundlagen transzendentalen Philosophierens. Diese werden im dritten und vierten Kapitel bereitgestellt und umfassen neben der Klrung des Verhltnisses von begrifflicher Rekonstruktion und transzendentaler Konstitution (3.2) vor allem eine antirealistische Kategorientheorie (3.3 – 3.6, bes. 3.5) sowie eine Theorie des epistemologischen Gedankenexperiments (4.2 – 4.4) zur Begrndungsfhigkeit kontrafaktischer Konditionalaussagen ber erkenntnistheoretische Szenarien. Die Inhalte dieser vier Kapitel sind weder Prliminarien noch propdeutische bungen, deren Funktion in einer Hinfhrung zum „eigentlichen“ erkenntnistheoretischen Programm bestnde. Die Bereitstellung der argumentativen Sinn- und Gelingensbedingungen sowie der methodologischen Grundlagen gehçren bereits zum identittsstiftenden Kern des Projektes und die Entfaltung dieses Projekts beginnt mit
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Teil I: Prsuppositionen und methodologische Grundlagen
der ersten Zeile der folgenden Seite. Wollte man daher die Aufgabe der ersten vier Kapitel in einer kurzen Bemerkung bndeln, so geht es hier um nichts Geringeres als die Klrung der Frage, was transzendentales Argumentieren bedeuten sollte.
Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen I am very willing, then, to hear people condemn the a priori; for I notice that they do so upon a priori grounds. (Royce, Lectures on Modern Idealism, 254)
1.1 Philosophie und allgemeine Menschenvernunft Indem wir feststellen, dass die Erkenntnistheorie die apriorischen Mçglichkeiten, normativen Bedingungen und Sinngrenzen von Erkenntnis berhaupt untersucht, haben wir uns bereits fr ein bestimmtes Verstndnis von „Erkenntnistheorie“ entschieden: Erkenntnistheorie ist keine empirische, sondern eine normative Disziplin, deren Untersuchungsgegenstand das apriorische Fundament aller Erfahrungen in geltungstheoretischer Hinsicht ist. Dieses Verstndnis ist weder im Hinblick auf die Philosophiegeschichte idiosynkratisch noch im Hinblick auf einen anspruchsvollen Begriff von Philosophie unerfllbar. Aber dieses Verstndnis ist auch nicht alternativlos. Gegen die Zulssigkeit der mçglichen oder vermeintlichen Alternativen und fr das geteilte Verstndnis zu argumentieren, lsst sich nur bedingt vollziehen, weil jede Argumentation einen nicht unerheblichen Bestand an Voraussetzungen investieren muss, um berhaupt in Gang gesetzt werden zu kçnnen. Auch die philosophische Begrndungs- und Rechtfertigungspraxis kann nicht voraussetzungsfrei beginnen, denn von Nichts kommt Nichts. Wenn wir uns daher im Folgenden – und d. h. im gesamten vorliegenden Projekt – mit der Frage auseinandersetzen, was die Bedingungen der Mçglichkeit fr das Machen von Erfahrung sind, so setzten wir hierbei bereits voraus, dass … … Philosophie genuin eigene Fragen zu behandeln hat, die durch keine Einzelwissenschaft zulssig bearbeitet werden kçnnen. … die Behandlung dieser Fragen einen genuin philosophischen Mittelbestand erfordert, dessen Bereitstellung und Legitimation einzig durch die betroffenen philosophischen Disziplinen erbracht werden kann
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
(wobei Einsichten der Einzelwissenschaften hier durchaus ihren Beitrag leisten kçnnen). … diese Fragen auch prinzipiell einer Klrung fhig sind, die durch jeden zulssigen philosophischen Reflexionsschritt weiter vorangetrieben werden kann. Dies sind Kernmerkmale des hier vertretenen Philosophieverstndnisses: Unabhngig von allen einzelwissenschaftlichen Entwicklungen gibt es genuin philosophische Fragen, die sinnvoll nur durch die Philosophie bearbeitet – und auch erfolgreich bearbeitet – werden kçnnen. Dieses Verstndnis von Philosophie steht in keinerlei Widerspruch zu den Aufgaben der Einzelwissenschaften, denn genauso wie die genuin philosophischen Fragen in den Zustndigkeitsbereich der Philosophie fallen, gehçren ausnahmslos alle erfahrungswissenschaftlichen Fragen in den Kompetenzbereich der Erfahrungswissenschaften: Philosophie und Einzelwissenschaften reprsentieren keine Konkurrenzunternehmen, sondern arbeiten komplementr, denn es ist die Philosophie, die nach allem zu fragen hat, wonach sich ernsthaft fragen lsst und worauf die Einzelwissenschaften keine zulssigen Antworten geben kçnnen.1 Dieses Philosophieverstndnis wird hier nicht verteidigt, sondern bildet die Grundlage fr die Ausrichtung des vorliegenden erkenntnistheoretischen Projekts sowie fr die Formulierung seiner Gelingensbedingungen: Erkenntnistheorie hat genuin eigene Fragestellungen bezglich der Bedingungen, der Mçglichkeit und der Grenzen von Erkenntnis, die einer erfahrungswissenschaftlichen Analyse nicht zugnglich sind, weil Erfahrungserkenntnisse nicht begrnden kçnnen, warum das Machen von Erfahrung mçglich ist. Der Erkenntnistheorie kommt die Aufgabe zu, diese Fragen mit den philosophisch zulssigen Mitteln zu untersuchen, wobei eine essentielle Gelingensbedingung darin besteht, dass kein epistemologisches Resultat die Unrealisiertheit der Erkenntnisbedingungen oder die Unmçglichkeit von Erfahrungswissen implizieren darf. Mit der zuletzt genannten Gelingensbedingung bringen wir keine dogmatische Haltung zum Ausdruck, sondern zeigen an, dass eine Erkenntnistheorie, deren Resultate durchweg im Widerspruch zu unseren Alltagserfahrungen stehen, keine gute Erkenntnistheorie sein kann und 1
So etwa auch Rickert, „Vom Begriff der Philosophie“, 8.
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mithin zu verwerfen ist. Obgleich dies als normative – und sogleich noch partiell zu motivierende – Grundausrichtung verstanden werden darf, so befinden wir uns mit ihr doch faktisch nicht nur in bereinstimmung mit der antiskeptischen Haltung Kants, sondern auch mit der antimetaphysischen Stimmung der logischen Empiristen. Auch wenn der bei Letzteren negativ besetzte Ausdruck „Metaphysik“ etwas weitlufig verwendet wurde, so bedarf es doch der Zustimmung, dass im Falle einer kategorialen Dissonanz zwischen einem metaphysischen Erkenntnisprojekt und dem Common Sense ersteres zu verwerfen und nicht der Letztgenannte zu korrigieren ist.2 Bedauerlicherweise haben die logischen Empiristen das Kind mit dem Bade ausgeschttet, d. h. im Unterschied zu Kant haben sie nicht zwischen „guter“ und „schlechter“ Metaphysik geschieden, sondern sind davon ausgegangen, dass aus jeder traditionellen Erkenntnistheorie, die gehaltvolle apriorische Aussagen zu begrnden gedenkt, nur Scheinprobleme und Konflikte mit dem Common Sense erwachsen kçnnen. Kontrastierend hierzu merkte aber Ayer an3, dass ein Philosoph, dem die Schrfung unseres Weltverstndnisses gelingt, gar nicht so weit vom Common Sense entfernt sein kann. Es fragt sich nur, ob man nicht beides haben kann: Indem wir gehaltvolle epistemologische Aussagen a priori begrnden, gelingt uns zugleich ein differenzierender, wenngleich beurteilungskonservativer Zugang zu unseren lebensweltlichen Vorverstndnissen. Was dies meint, bedarf nun der Erklrung. Philosophie im Allgemeinen und Erkenntnistheorie im Besonderen darf und soll unsere vorphilosophischen Meinungen reflektieren und auch revidieren4, aber sie drfen gegenber der Lebenswelt nicht revisionr verfahren in dem Sinne, dass alle vorphilosophischen Verstndnisse verworfen werden mssten. Denn nur indem wir bereits vorphilosophisch Erkenntnisfragen haben, die wir nicht ignorieren, sondern klren wollen, stellt sich allererst der Bedarf nach einer wissenschaftlichen Philosophie ein. Diesen Klrungsbedarf als Ausgangspunkt des Philosophierens zu whlen, reprsentiert systematisch wie auch philosophiehistorisch sicher2 3 4
Vgl. etwa Ayer, „Metaphysics and Common Sense“. Ebd., 81. Hier wird die Wendung „Reflexion und Revision“ in der Tradition der Gçttinger Lebensphilosophie gebraucht, wie sie sich auch noch in Lorenzens Philosophieverstndnis zeigt. Etwa „Wie ist Philosophie der Mathematik mçglich“, 155: „Nach dem scheinbaren Ende aller Philosophie kçnnen wir die Aufgabe der Philosophie also neu bestimmen als das Nachdenken ber diese [lebensweltlichen, M.W.] Vormeinungen. Die Philosophie hat keine Vormeinungen zu vertreten, sondern sie hat die Vormeinungen als ihren Gegenstand“.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
lich eine adquate Normierung. Immerhin erklrt bereits Aristoteles das Staunen zum faktischen und methodischen Ursprung der Philosophie: For it is owing to their wonder that men both now begin and at first began to philosophize5.
Philosophische Probleme haben wir berhaupt nur deshalb, weil wir bereits in der Lebenswelt Orientierungsfragen haben und um verschiedene Weisen der Auseinandersetzung wissen. Wird dies durch die Philosophie in Frage gestellt oder gar verworfen, dann wird sui generis das Sinnesfundament der Philosophie geleugnet. Das hier vertretene Verstndnis betrachtet die philosophische Praxis also weder als eine bloß therapeutische Ttigkeit zum Kurieren von philosophischen Irrtmern noch als eine durch und durch revisionre Angelegenheit, die eine skeptische Haltung gegenber den lebensweltlichen Meinungen einnimmt.6 Es sei umgehend zugestanden, dass diese Unterscheidung zwischen einer kritisch revidierenden und einer revisionr verfahrenden Philosophie nicht trennscharf vollzogen werden kann, weil die Fragen nach der Adquatheit der philosophischen Resultate gegenber den vorphilosophischen Alltagsverstndnissen weder kontextnoch normeninvariant beantwortet werden kçnnen. Allerdings – und dies ist von besonderer Bedeutsamkeit – obliegt das Antwortrecht auf diese Fragen wiederum nicht einzig der Philosophie, sondern kommt im gleichen Maße auch der lebensweltlichen Vernunft zu. Wir folgen damit unter anderem der Kantischen Einsicht, dass die philosophische Vernunfterkenntnis als einzige Richterin die allgemeine Menschenvernunft anerkennt, „worin ein jeder seine Stimme hat“7. Dies bedeutet im Besonderen in Anwendung auf die erkenntnistheoretischen Fragen, dass das vorkritische Erkenntnismodell, das wir in der Lebenswelt tradieren und in dem sowohl Wahrheit als auch Irrtum ihren angestammten und erfolgreich bewhrten Platz haben, durch die philosophische Begrndungspraxis nicht vollstndig unterlaufen werden darf. Sofern durch eine Erkenntnistheorie bestritten wird, dass die in der Lebenswelt epistemisch problemlos zugnglichen Gegenstnde des Alltags epistemologisch nicht grundlegend 5 6
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Aristoteles, Metaphysics, Book I 982b12 f. In der Klassifikation der mçglichen Formen therapeutischer und konstruktiver Philosophie (siehe hierzu Quante, „Spekulative Philosophie als Therapie?“, 328 ff.) handelt es sich bei dem hier vertretenen Philosophieverstndnis um eine „konstruktive Philosophie im weiten Sinne“, die (ebd., 333) „den Common Sense zwar noch als Ausgangspunkt und Adquatheitsbedingung ernst [nimmt], sich zugleich aber nicht mehr auf ihn beschrnken lassen [will]“. Kant, KrV, B 780.
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sein kçnnen, weil ihre Konstitution von theoretischen Konstrukten hoch elaborierter physikalischer Theorien abhngt, der braucht sich nicht wundern, wenn die lebensweltliche Vernunft ein zulssiges Veto einlegt. Das hier verfochtene Philosophieverstndnis hegt daher große Bedenken, dass erkenntnistheoretische Aussagen wie etwa The world is a multitude of minute twitches in the void8
in einem gehaltvollen Sinne berhaupt begrndungsfhig sind, weil sie gegenber der lebensweltlichen Vernunft radikal revisionr verfahren. Die philosophische Vernunfterkenntnis muss sicherlich nicht jede Vormeinung einholen. Aber ein philosophisches Erkenntnismodell, das unser lebensweltlich etabliertes Weltbild umstçßt, kann keine sinnvolle Alternative sein. Noch zu Lebzeiten Kants hat Fichte mit aller wnschenswerten Klarheit das Bercksichtigen dieser Gelingensbedingung eingefordert, wenn er feststellt: Stimmen die Resultate einer Philosophie mit der Erfahrung nicht berein, so ist diese Philosophie sicher falsch; denn sie hat ihrem Versprechen, die gesamte Erfahrung abzuleiten, und aus dem notwendigen Handeln der Intelligenz zu erklren, nicht Genge geleistet.9
Dies betrifft auch und vor allem epistemische Skeptizismen, denen gemß wir nur dann zur Formulierung eines Wissensanspruchs gerechtfertigt wren, wenn alle nur denkbaren Irrtumsmçglichkeiten ausgeschlossen werden kçnnen. Da wir aber zur Formulierung von Wissensansprchen sowohl in den Einzelwissenschaften als auch in der Lebenswelt stets nur die fr den Begrndungskontext jeweils relevanten Irrtumsmçglichkeiten auszuschließen haben, wrde folgen, dass wir im Besonderen im Alltag ber kein Wissen verfgen. Wer an dieser Stelle dem Skeptizismus zustimmt und folglich die Mçglichkeit von Wissen im Alltag mit einem großen Fragezeichen versieht, der verfhrt nicht nur revisionr, weil gemß des skeptischen Wissensbegriffs all unsere lebensweltlichen Wissensansprche ausnahmslos nicht gerechtfertigt wren, sondern der bersieht zudem, dass die bereits in der Lebenswelt gebruchlichen Kriterien fr 8 9
Quine, „What I Believe“, 307. Zur Verteidigung Quines sollte angemerkt werden, dass die zitierte Stelle erst einmal nicht mehr als ein Glaubensbekenntnis zum Ausdruck bringen soll. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 30. In der Grundlage des Naturrechts (24) bezieht er dies explizit auf das Verhltnis zwischen dem transzendentalen Philosophen und dem gemeinen Menschenverstand sowie deren Rechtfertigungspflichten. Ebd.: „Die Philosophie muss unsere berzeugung von dem Daseyn einer Welt ausser uns deduciren“.
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Wissen beraus erfolgreich und zuverlssig zur Anwendung gebracht werden kçnnen.10 Dieses Faktum der Lebenswelt reprsentiert unbestritten einen Beurteilungsmaßstab, dem der Erkenntnistheoretiker Rechnung zu tragen hat und der epistemologisch nur hinterfragt, aber nicht in Frage gestellt werden kann. Das lsst verstndlich werden, weshalb gerade Edmund Husserl skeptische Positionen als „Unphilosophien“ bezeichnet hat, „die nur das Wort, aber nicht die Aufgabe behalten haben“11. Ein philosophischer Bedingungskatalog, der in den lebensweltlichen Praxen nicht nur unerfllbar ist, sondern darber hinaus ein etabliertes und hoch erfolgreiches Modell abzulçsen htte, kann durch die allgemeine Menschenvernunft nur zurckgewiesen werden. Dem Phnomen epistemischer Skeptizismen haben wir somit schlicht zu entgegnen: In dem Sinn, in dem wir im Alltag behaupten, etwas zu wissen, wissen wir es auch. In dem Sinn, von dem der Skeptiker zeigen kann, daß wir nichts wissen, beanspruchen wir auch gar nicht, etwas zu wissen.12
Indem wir also Erkenntnistheorie betreiben und die Frage nach den Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung berhaupt untersuchen, erkennen wir bereits an, dass das Machen von Erfahrung mçglich ist, d. h. die Auseinandersetzung mit unseren erkenntnistheoretischen Problemen steht bereits unter dem Vorzeichen einer positiven Lçsung der Probleme und damit a fortiori in bereinstimmung mit unseren lebensweltlichen Verstndnissen. Es kommt nicht von ungefhr, dass Kant die „Einleitung“ der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit den unmissverstndlichen Worten erçffnet „Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel“13. Diese Proposition hat bei Kant diverse Funktionen zu erfllen. Die methodisch erste besteht jedoch in der Feststellung des Faktums14 erfolgreicher Erfahrungsvollzge in der Er-
10 11 12 13 14
Vgl. hierzu vor allem Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, §§36 ff. Husserl, Krisis, 13. Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, 191. Kant, KrV, B 1. Die terminologische Nhe zum einzigen „Factum“ der reinen Vernunft (vgl. KpV, 32) ist hier durchaus gewollt. Dort ist es das unleugbare Faktum des Sittengesetzes, welches nicht mehr weiter hinterfragt werden kann. Das Faktum erfolgreicher Erfahrungsvollzge ist hiervon zwar verschieden, insofern die Gegebenheit von Erfahrungswissen im Unterschied zum Sittengesetz durch Grnde erklrt werden kçnnen muss. Allerdings ist auch die Gegebenheit erfolgreicher Erfahrungsvollzge gleichermaßen als ein Faktum anzuerkennen, weil auch diese Gegebenheit unleugbar ist. Neben dem hier vorgetragenen Argument werden wir in 9.1.3 die
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fahrungswirklichkeit und damit auch außerhalb der Wissenschaften. Diese Einsicht ist durch die Philosophie aus folgendem Grund nicht hintergehbar: Erfahrungswissen ist nicht befhigt zwischen dem Kontingenten und Notwendigen in unserer Erfahrungswirklichkeit zu unterscheiden.15 Dieses Unvermçgen reizt die Vernunft mehr als sie dadurch befriedigt wird.16 Damit stiftet gerade das Faktum von Erfahrungswissen allererst die Hauptfrage der Metaphysik, denn die Vernunft begibt sich in das Reflexionsgeschft zum Ziel der Erklrung dieses Faktums. Wenn es also allererst das Faktum von Erfahrungswissen ist, welches uns zur Frage fhrt, was die Bedingungen der Mçglichkeit und Grenzen von Erfahrung sind, dann besteht eine Bedingung der Sinnhaftigkeit dieser Frage in einem Wissen um die Mçglichkeit ihrer positiven Beantwortung. Wird erkenntnistheoretisch etwas dieser Einsicht Widerstreitendes begrndet, dann weist dies auf einen Defekt der Erkenntnistheorie hin. Kant verfgt damit bereits an dieser frhen Stelle ber ein heuristisch beraus wertvolles Argument: 1. Dass wir Erfahrungen machen, daran ist gar kein Zweifel. 2. Dieses in 1 ausgedrckte Wissen fhrt uns zu der Frage, was die Bedingungen der Mçglichkeit und Grenzen von Erfahrung sind. 3. Da unstrittig ist, dass wir Erfahrungen machen, mssen diese Ermçglichungsbedingungen in unserer Welt auch realisiert sein, d. h. es muss mçglich sein, diese Bedingungen aufzuweisen. 4. Damit wissen wir, dass diese philosophische Frage prinzipiell beantwortbar sein muss. Um dieses Reflexionsgeschft jedoch vollziehen zu kçnnen, sollte in der gebotenen Grndlichkeit der investierte Mittelbestand eingefhrt und gerechtfertigt werden. Auch wenn sich Erkenntnistheorie vor allem mit Fragen der „Wahrheit“ und „Begrndung“ auseinandersetzt, so sind Rechtfertigungsfragen gleichermaßen prsent, denn ohne die Rechtfertigung der erforderlichen epistemologischen Normen und Begrndungsstandards bleibt offen, wie es um den Erklrungserfolg des erkenntnistheoretischen Programms bestellt ist. Daher widmen sich vor allem das semantico-epistemologischen Grnde fr die Unleugbarkeit dieses Faktums ausfhren. 15 Kant, KrV, A 1, B 3. Das ist ein bemerkenswerter methodischer Ausgangspunkt, denn gut 150 Jahre spter ist es genau diese Einsicht, die Husserl – methodisch bereits auf dem Boden der Lebenswelt stehend – zum Vollzug der radikalen Epoch bewegt (Husserl, Krisis, §48). Siehe 7.2.3. 16 Kant, KrV, A 1 f.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
vorliegende sowie das nachfolgende Kapitel der Explikation der – zum Teil investierten, zum Teil schlicht anzuerkennenden – Prsuppositionen, die nicht nur den Begrndungsrahmen, sondern auch die Rechtfertigungsfolie fr die vorliegende Untersuchung bilden. Dabei vollziehen sich unsere Reflexionen auf die Geltung-Genese-Unterscheidung (1.2) und den Begriff der epistemologischen Prsupposition (1.3) sowie die Entfaltung unserer bedeutungstheoretischen Grundlagen (2.2) in einem steten Wechselspiel zwischen Begrndung und Rechtfertigung: Indem wir bestimmte epistemologische Voraussetzungen in ihrem Erfordernis begrnden, rechtfertigen wir zudem ihre zulssige Verwendbarkeit und vice versa. Diese enge Verwobenheit kann nicht zugunsten einer Seite aufgehoben werden. Was folglich durch diese Entfaltung der grundlegenden Sinnbedingungen in diesem und dem folgenden Kapitel geleistet werden soll, ist bestmçgliche Explizitheit in der Darstellung und Gewhrleistung der Kohrenz zwischen den Begrndungs- und Rechtfertigungsansprchen.
1.2 Geltung und Genese Die mit Abstand bedeutsamste, weil fundamentale und fr uns unhintergehbare Voraussetzung fr das vorliegende Projekt besteht in der kategorialen Unterscheidung zwischen Geltung und Genese: (GGU) Die Frage nach der Begrndung und Rechtfertigung von Erkenntnissen ist strikt zu trennen von der Frage nach der Entstehung und Entwicklung von Erkenntnissen, weil Erklrungen darber, wie Meinungen zustande kommen, nicht begrnden kçnnen, warum diese Meinungen gegebenenfalls wahr sind. Aufgrund des grundlegenden Charakters kann an dieser Stelle weder prmissen- noch annahmefrei das Erfordernis der Einhaltung dieser Unterscheidung andemonstriert werden. Doch obgleich diese Voraussetzung vor allem Sinnbedingung und weniger Resultat der hier vollzogenen philosophischen Begrndungspraxis ist, so reicht die Aufgabe des vorliegenden Abschnitts ber das bloße Explizieren dieser Voraussetzung hinaus. Wir werden – nicht trotz, sondern wegen des Wissens um die Geltung dieser Unterscheidung – Grnde vortragen, weshalb Fragen wie „warum ist Erfahrung mçglich“ oder „was unterscheidet Glauben von Wissen“ nur
1.2 Geltung und Genese
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unter Einhaltung der Unterscheidung angemessen analysiert und beantwortet werden kçnnen. Es ist eben eine Besonderheit von argumentativen und epistemologischen Sinnbedingungen wie der Unterscheidung von Geltung und Genese, dass man sie nicht im Sinne einer Epoch vorlufig außer Kraft setzen kann, um sie schließlich wieder in Geltung zu setzen, sondern dass man ihr Erfordernis nur geduldig und immer wieder anzeigen kann. Getreu dem Motto Du willst Wahrheit, besinne dich, du mußt die Geltung dieser Normen anerkennen, wenn dieser Wunsch je erfllt werden soll17
besteht ein Kernanliegen des vorliegenden Abschnitts in der nachdrcklichen Bekrftigung, dass es hier weder um ein Geschmacksurteil noch um eine Entscheidungsfrage geht, sondern dass wir schlicht und ergreifend diese Unterscheidung anzuerkennen und sorgfltig zu bercksichtigen haben, wenn wir berhaupt mit Begrndungsansprchen auftreten wollen. Wer an dieser Stelle und ohne Anhçrung der Grnde den Einwand formuliert, dass dann aber petitiçs argumentiert werden wrde, weil eben die fragliche Unterscheidung schon Eingang in die Begrndungspraxis nimmt, der darf bereits jetzt nicht nur den vorliegenden Abschnitt berspringen, sondern das gesamte Buch aus der Hand legen. 1.2.1 Zur historischen Genese der Geltungsunterscheidung Die Geltung-Genese-Unterscheidung als Resultat eines philosophischen Klrungsanliegens verfgt zwar wie alle philosophischen Problemgeschichten ber eine eigene historische Genese, ist ansonsten aber selbst durch und durch eine Geltungsunterscheidung. Entsprechend gehçrt die historische Werdung der Unterscheidung unter den Aspekt der Genese, whrend die Begrndungsfrage von (GGU) unter den Aspekt der Geltung fllt. Es ist eine große und in ihrer Bedeutsamkeit kaum zu berschtzende Errungenschaft frherer Philosophengenerationen, die Rede von „vor aller Erfahrung“ dem Zeitlichen und Generischen entrissen zu haben, um es mit einer Beweisgrund-Semantik zu versehen. Es war Leibniz, der in Kommentierung und Erwiderung auf Lockes Kritik an den angeborenen Ideen 17 Windelband, „Kritische oder genetische Methode?“, 111. (Windelband bezieht diese Bemerkung zwar erst einmal auf das Beispiel der logischen Gesetze – allerdings vorbereitend, um zur Geltung-Genese-Unterscheidung vorzudringen.).
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
herausstellte18, dass die Unterscheidung zwischen „angeboren“ und „erworben“ nicht im zeitlichen, sondern im methodischen Sinne zu verstehen ist. Die notwendigen – „angeborenen“ – Wahrheiten finden wir weder genetisch geprgt noch dispositional in uns vor, sondern es sind Wahrheiten, „deren Beweis nicht von den Beispielen und folglich auch nicht vom Zeugnis der Sinne abhngt“19. Die damit vollzogene Unterscheidung zwischen dem Geltungsgrund eines Urteils und den empirischen Bedingungen seines Zustandekommens wurde nachfolgend nicht nur in der erkenntnistheoretischen Phase der Philosophie von Hume20 und Kant21 oder den Neukantianern22 konsequent bercksichtigt, sondern fand unmittelbar Eingang in die sprachkritische Phase der Philosophie beginnend mit Freges Grundsatz, dass das Psychologische vom Logischen scharf zu trennen ist.23 Dank Freges frher Intervention24 wurde diese Trennung auch zu einer gesetzten Bedingung in Husserls transzendentaler Phnomenologie und damit zu einem charakteristischen Merkmal des letzten großen Vertreters der erkenntnistheoretischen Phase, der schließlich auch zum „berwinder des Psychologismus“ avancierte. Doch bereits in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts verschwammen die ehemals scharfen 18 Siehe 5.2.2 – 5.2.3 und die dort benutzten Quellen. 19 Leibniz, Neue Abhandlungen, „Vorrede“. 20 Gerne wird Hume eine Naturalisierung der Erkenntnistheorie nachgesagt, womit die Unterscheidung von Geltung und Genese bei ihm hinfllig wre (so etwa bei Hartmann/Lange, „Ist der erkenntnistheoretische Naturalismus gescheitert?“, 146). Doch es ist gerade eine Pointe der Humeschen Analyse, dass die Frage nach der Begrndung des Kausalgesetzes im Kontext der Geltung unlçsbar ist. Die Erklrung ber „Custom or Habit“ verortet Hume explizit in den Kontext der Genese und stellt heraus, dass dies nicht das Begrndungsproblem lçst (siehe hierzu 5.2.4). Mit dieser Anerkennung von (GGU) kann aber nicht zugleich ein Naturalismus vertreten werden. So auch Fogelin, Hume’s Skepticism in the Treatise of Human Nature, 146. 21 Siehe etwa Kant, KrV, B 78: „Als reine Logik hat sie keine empirische Principien, mithin schçpft sie nichts (wie man sich bisweilen berredet hat) aus der Psychologie, die also auf den Kanon des Verstandes gar keinen Einfluß hat“. Ebd., B 116 ff. 22 Etwa: Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, 251. Windelband, „Was ist Philosophie?“, 24. Ders., „Normen und Naturgesetze“. Rickert, „Zwei Wege der Erkenntnistheorie“, 170. Ders., „Urteil und Urteilen“. 23 Etwa Frege, Grundlagen der Arithmetik, X. Siehe ebd., § 3. Gerade in Bezug auf die Verteidigung der Unterscheidung zwischen Geltung und Genese gibt es zwischen Frege und den Neukantianern seiner Zeit beeindruckend viele Gemeinsamkeiten im Großen wie im stilistischen Detail. Siehe hierzu Gabriel, „Frege als Neukantianer“. 24 Siehe Frege, „[Rezension von:] E. G. Husserl“.
1.2 Geltung und Genese
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Konturen der Geltung-Genese-Unterscheidung. Obgleich vor allem die logischen Empiristen klar in der Tradition von Freges antipsychologistischer Grundhaltung standen und am geltungstheoretischen Potential der modernen Logik nicht nur keinen Zweifel hatten, sondern dieses vielleicht sogar ein Stck weit berschtzten, so unterliefen an anderer Stelle proklamierte Selbstverstndnisse die Unterscheidung. Geprgt durch Wittgensteins Tractatus 25 besteht die Aufgabe des Philosophen nach Auskunft der logischen Empiristen einzig in der logischen Analyse und begrifflichen Klrung nichtphilosophischer Gegenstandsbereiche, womit im Besonderen die Philosophie zu einer bloßen Ttigkeit verkommt, die keine eigenen Problemstellungen mehr besitzt, sondern sich einzig in Sprachkritik bt.26 Nach Auffassung des Wiener Kreises verbleibt somit keine einzige philosophische These und a fortiori auch kein einziger Begrndungsdiskurs als genuin philosophischer. Die verbleibenden Fragen nach der Geltung von Erkenntnissen werden im Programm der Einheitswissenschaft nun an die Erfahrungswissenschaften delegiert, die zugleich auch genuin eigene Fragen ber das Zustandekommen von Erkenntnissen untersuchen. Trotz des damit einhergehenden Verschwimmens der Trennlinien verdanken wir der logisch-empiristischen Tradition eine der prgnantesten Formulierungen der Geltung-Genese-Unterscheidung durch Reichenbachs Differenzierung zwischen dem Entstehungs-/Entdeckungszusammenhang auf der einen Seite und dem Begrndungs-/Rechtfertigungszusammenhang auf der anderen: Epistemology does not regard the processes of thinking in their actual occurrence; this task is entirely left to psychology. What epistemology intends is to construct thinking processes in a way in which they ought to occur27. Many false objections and misunderstandings of modern epistemology have their source in not separating these two tasks; it will, therefore, never be a permissible objection to an epistemological construction that actual thinking does not conform to it. […] I shall introduce the terms context of discovery and context of justification to mark this distinction. Then we have to say that epistemology is only occupied in constructing the context of justification.28
25 Im Besonderen im Satz 6.53 stellt Wittgenstein heraus, dass alle sinnvollen Stze den empirischen Naturwissenschaften angehçren, d. h. es gibt neben den empirischen Stzen keine gehaltvollen Aussagen. 26 Wittgenstein, Tractatus, 4.0031: „Alle Philosophie ist »Sprachkritik«“. 27 Reichenbach, Experience and Prediction, 5. 28 Ebd., 6 f.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Dass gegenwrtig diese Unterscheidung in den wissenschaftlichen Zustndigkeiten und Begrndungsansprchen in manchen Regionen der Philosophie in Vergessenheit zu geraten droht oder nicht mehr verstanden wird, ist vor allem eine Folge von Quines Naturalisierungsversuch der Erkenntnistheorie und zeitlich spterer verwandter Programme, gemß denen genuin erkenntnistheoretische Aufgaben der naturwissenschaftlichen – im Besonderen psychologischen, evolutionsbiologischen oder neurophysiologischen – Zustndigkeit berantwortet werden sollten: (TNaturalismus) Jedes Phnomen kann – zumindest prinzipiell – vollstndig mit rein naturwissenschaftlichen Mitteln beschrieben und erklrt werden. Diese These bedarf zum angemessenen Verstndnis ihrer charakterisierenden Funktion zweier Kommentare. Erstens: Damit diese These zur bestimmenden eines „Ismus“ wird, darf selbstverstndlich „Phnomen“ nicht nur als „natrliches Phnomen“ verstanden werden. Wrden wir (TNaturalismus) auf natrliche Phnomene beschrnken, so resultierte vollkommen zu Recht eine angemessene These, weil die wissenschaftliche Untersuchung natrlicher Phnomene nun einmal in den Zustndigkeits- und Erklrungsbereich der Naturwissenschaften fallen sollte.29 Die Rede von „jedem Phnomen“ schließt hier selbstverstndlich alle nicht-natrlichen Phnomene mit ein. (TNaturalismus) erstreckt sich damit auch auf alle kultrlichen Phnomene und damit im Besonderen auf Sprache, Handlung, Moralitt, Intentionalitt, Kunst, Zweckrationalitt und Geltung. Je nachdem, was unter „naturwissenschaftlichen Mitteln“ verstanden wird, resultieren mit (TNaturalismus) unterschiedlich starke Thesen. In ihrer wohl schrfsten Ausprgung – reprsentiert durch den „radikalen Physikalismus“30 – wird nicht nur ein 29 Dies meint selbstverstndlich nicht, dass der Begriff der Natur in den Zustndigkeitsbereich der Naturwissenschaften fallen wrde. Der Naturbegriff gehçrt ebenso wenig in den Zustndigkeitsbereich der Naturwissenschaften wie der Beweisbegriff in den Zustndigkeitsbereich der Mathematik gehçrt, da weder der Begriff der Natur noch der Begriff des Beweises zur objektsprachlichen Terminologie einer Naturwissenschaft/der Mathematik gehçrt. In beiden Fllen handelt es sich um metasprachliche Beschreibungsmittel, deren Analyse und semantische Normierung in den Zustndigkeitsbereich der entsprechenden Wissenschaftstheorie (bzw. der Naturphilosophie und Beweistheorie) fllt oder – im Falle eines empirischen Erkenntnisinteresses – in den Zustndigkeitsbereich einer einschlgigen Kulturwissenschaft. 30 Etwa Neurath, „Soziologie im Physikalismus“; ders., „Protokollstze“.
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Methodenmonismus vertreten, der eine Orientierung aller Erfahrungswissenschaften am Vorbild der Physik einfordert. In dieser Form wird darber hinaus das Postulat formuliert, dass sich alle wissenschaftsfhigen Terminologien in die Sprache der Physik bersetzen lassen mssen31 und eventuell eine Zurckfhrung aller Kausalgesetze auf jene der Physik erforderlich ist. Lsst man indes als „naturwissenschaftliches Mittel“ auch diejenigen Begrndungspraxen zu, deren Verwendung sich grundstzlich nach dem Vorbild des deduktiv-nomologischen Erklrungsmodells32 reformulieren lassen, so weisen zumindest in der empiristischen Tradition auch die historischen Wissenschaften eine methodologische Affinitt zu den Naturwissenschaften auf.33 Mit Liberalisierungen dieser Form („Jedes Phnomen muss einer wissenschaftlichen Erklrung prinzipiell zugnglich sein“) verliert (TNaturalismus) jedoch seinen Aussagengehalt, denn mit jeder weiteren Gruppe von Wissenschaften, die sich ebenfalls der Beschreibung und Erklrung von Phnomenen wie Handlung, Sprache oder Geltung zuwenden darf, wird die These (TNaturalismus) weniger kontrovers und aussagekrftig. Wir beschrnken daher den Gebrauch des Ausdrucks „Naturwissenschaft“ auf genau jene Wissenschaftspraxen, die Phnomene allein ber die Anwendung von experimentell zugnglichen und experimentell bewhrten Verlaufs- und Zustandsgesetzen erklren.34 Zweitens: Es bedarf zudem der Erwhnung, dass die Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen fr ein naturalistisches Programm in der Literatur ungleich differenzierter diskutiert wird.35 Die Unterscheidungen beginnen bereits auf der Ebene, ob man grundstzlich gewillt ist, traditionelle erkenntnistheoretische Fragen anzuerkennen. Diejenigen, die dies tun und in diesem Sinne einen „gemßigten Naturalismus“ vertreten, haben auf der nchsten Ebene darber zu entscheiden, wie diese Fragen verfolgt werden sollen, d. h. im Besonderen in welchem Umfang reine apriorische Begrndungsmuster der traditionellen erkenntnistheoretischen Praxis durch empirische Untersuchungen zu er31 Siehe Carnap, „Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft“. 32 Siehe Hempel, Philosophy of Natural Science, 51. 33 Siehe Hempel, „The Function of General Laws in History“. Wir lassen hierbei offen, ob es sich bei Vorschlgen dieser Form um zulssige und aussagekrftige handelt. 34 Hartmann/Lange („Ist der erkenntnistheoretische Naturalismus gescheitert?“, 149) folgend. 35 Vgl. unter anderem die Klassifikation von Koppelberg, „Was macht eine Erkenntnistheorie naturalistisch?“, 75 ff.; Kornblith, „Introduction: What is Naturalistic Epistemology?“, 3 ff.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
gnzen oder zu ersetzen sind. Und schließlich kann auf einer dritten Ebene nach dem Operationsradius unterschieden werden, der sich dadurch bestimmt, wie viele der traditionellen Fragen unter einer naturalistischen Perspektive „bewahrt“ werden. Die hieraus resultierende Vielfalt mçglicher Naturalismen ist offensichtlich. Wir verbleiben indes aus folgenden Grnden bei unserer durch (TNaturalismus) geleisteten Charakterisierung: Zum einen resultieren die angesprochenen Klassifikationsschemata aus empirischen Betrachtungen der faktischen Literaturlage, d. h. jedes nennenswerte Vorkommnis von „Naturalismus“ soll im Idealfall durch die Klassifikation erfasst werden. Indes leistet unsere Bestimmung eine normative Charakterisierung, die eine Semantik vorgibt und diese nicht aus zum Teil kontingenten Faktoren erschließt. Zudem ist fraglich, ob Unterscheidungen nach dem Grad der involvierten naturwissenschaftlichen Wissensbestnde aussagekrftig sind, denn – um nur ein Beispiel zu nennen – das naturwissenschaftlich informierte Argumentieren in der Erkenntnistheorie (= Ergnzung um empirische Untersuchungen) muss keineswegs naturalistisch sein, wenn es etwa um eine Grenzziehung der Aufgabenbereiche zwischen Erfahrungswissenschaft und Philosophie geht oder Resultate der ersteren benutzt werden, um exemplarisch Argumente der letzteren zu unterstreichen. „Apriorisches Begrnden“ in der Erkenntnistheorie beansprucht entgegen vieler Verlautbarungen keinen Verzicht auf empirische Informationen oder die Ignoranz gegenber naturwissenschaftlichen Einsichten. „Apriorisches Begrnden“ in der Erkenntnistheorie benennt den Anspruch, dass zur Klrung der Geltungsfragen von Erfahrungswissen eben dieses Erfahrungswissen nicht benutzt werden darf, weil dies eine vitiçse Begrndungsstruktur zur Folge htte. Darber hinaus macht es aus antinaturalistischer Perspektive keinen nennenswerten Unterschied, ob man wie Patricia Churchland die erkenntnistheoretischen Fragen fr sinn- bzw. gegenstandslos erklrt36, oder sie aber wie Theodor Lipps als naturwissenschaftliche Fragen anerkennt.37 Ein eliminativer Naturalismus missversteht (GGU) im selben Maße wie ein reduktiver Naturalismus. Da jedoch der eliminative Naturalismus (und dies selbst nach Maßgabe der meisten Naturalisten) eine zu radikale und damit 36 Etwa Churchland, „Epistemology in the Age of Neuroscience“, 545: „Most of the questions […] now look either peripheral or misguided“. 37 Etwa Lipps, „Die Aufgabe der Erkenntnistheorie“, 538: „Ich bezeichne die Untersuchung der Erkenntnisthatsachen als psychologische Analyse. Damit habe ich schon zu erkennen gegeben, dass ich die Logik als eine psychologische Wissenschaft zu bezeichnen kein Bedenken trage“.
1.2 Geltung und Genese
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letztlich unhaltbare Position vertritt, werden wir unsere nachfolgende exemplarische Auseinandersetzung auf reduktive Naturalismen beschrnken. Die Neigung zur Aufhebung von (GGU) besteht nun in der durch (TNaturalismus) kolportierten Suggestion, dass alles natrlich ist, weil ja nichts ohne die Natur auskommt: „Wahrheit wre nicht mçglich, wenn keiner von uns ber einen funktionierenden Organismus verfgen wrde“. Die zuletzt gettigte Aussage ist ebenso wahr38 wie philosophisch nutzlos. Dass wir etwa ohne funktionierenden Stoffwechsel nicht in der Lage wren, Diskurse zu fhren und um die Geltung von Thesen zu streiten, ist vollkommen richtig – betrifft aber eben nur empirische und damit geltungstheoretisch irrelevante Bedingungen fr die Mçglichkeit von Wahrheit.39 Wenn daher – wie etwa im Fall von (TNaturalismus) – die GeltungGenese-Unterscheidung aufgehoben werden soll, dann nur unter der Maßgabe, dass es neben den empirischen Bedingungen fr das Zustandekommen von Wahrheit berhaupt keine weiteren irreduziblen Bedingungen geben kann. Dass wir uns im vorliegenden erkenntnistheoretischen Projekt nicht eingehender mit naturalistischen Erkenntnistheorien auseinandersetzen werden40, erklrt sich einfach ber das Resultat, dass mit der Aufrechterhaltung von (GGU) jede Form naturalistischen Argumentierens ausgeschlossen ist: 1. Wer einen erkenntnistheoretischen Naturalismus vertritt, der nimmt in Anspruch, dass sich jede (bewahrenswerte) erkenntnistheoretische Fragestellung mit rein naturwissenschaftlichen Mitteln angemessen 38 Niemand, der die (GGU) anerkennt, leugnet, dass es zum Machen von Erfahrung der Realisiertheit bestimmter empirischer Bedingungen bedarf. Vgl. etwa Frege, „Der Gedanke“, 360: „Das Haben von Gesichtseindrcken ist zwar nçtig zum Sehen der Dinge, aber nicht hinreichend“. Ders., Die Grundlagen der Arithmetik, §105, Fußnote **): „Ich will hiermit gar nicht leugnen, dass wir ohne sinnliche Eindrcke dumm wie ein Brett wren“. 39 Pointiert Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, 529: „Der Chemiker findet, daß Eiweiß, Kali, Phosphor im Gehirn enthalten sind, daß sich das Hirnfett durch einen erklecklichen Phosphorsuregehalt auszeichnet, weshalb sich dann ein bekannter Heißsporn zu dem nichtssagenden Schluß begeistert gefhlt hat: „Ohne Phosphor keine Gedanken“.“ So auch Frege, „Logik“, 5: „Will man dabei nun unter Denkgesetzen die logischen verstehen, so sieht man leicht das Ungereimte einer Bedingung, die sich etwa auf den Phosphorgehalt unseres Gehirns oder auf sonst etwas Vernderliches am Menschen bezçge“. 40 Die einzige Ausnahme bildet Konrad Lorenz in 8.4. Die Diskussion des stammesgeschichtlichen Aposterioris von Lorenz erfolgt aber im Kontext der facettenreichen Relativierungsbemhungen des Erfahrungsbegriffs und besitzt daher lediglich einen exemplarischen Charakter.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
reformulieren und beantworten lsst. (Diese Aussage wird impliziert durch (TNaturalismus).) 2. Da die Frage nach der (Mçglichkeit von) Begrndung und Rechtfertigung von Erkenntnissen eine erkenntnistheoretische Frage ist, reformuliert ein erkenntnistheoretischer Naturalismus diese Frage in Begriffen der empirischen Bedingungen fr das Zustandekommen von Erkenntnissen. 3. Wenn die Frage nach der Geltung von Erkenntnissen als Frage nach ihrer Genese zu reformulieren ist, dann kann innerhalb eines erkenntnistheoretischen Naturalismus (GGU) nicht vertreten werden. 4. Wer eine Erkenntnistheorie unter Wahrung von (GGU) vertritt, der belsst keinen begrifflichen Raum fr einen erkenntnistheoretischen Naturalismus. 5. Wir vertreten (GGU). 6. Fr erkenntnistheoretische Naturalismen wird im vorliegenden Projekt kein begrifflicher Raum belassen. Der fr unsere Zeit einflussreiche naturalistische Vorstoß Quines operierte bereits zum Zeitpunkt seines Vollzuges nicht nur mit berholten naturwissenschaftlichen Einsichten.41 Zudem war die von ihm benutzte Argumentationsstrategie Epistemology, or something like it, simply falls into place as a chapter of psychology and hence of natural science.42
erst recht nicht neu. Naturalisierungstendenzen in der Philosophie gab es seit jeher und sie kommen – danach kann man fast die Uhr stellen – in der Regel immer dann auf, wenn eine (hufig noch vergleichsweise junge) naturwissenschaftliche Disziplin mit großen Versprechen, aber auch ersten großen Erklrungserfolgen auftritt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war dies etwa eine frhe Form der Entwicklungspsychologie gekoppelt mit einer nativistischen Umdeutung des kantischen Aprioris. Gegen Ende desselben Jahrhunderts bestand die naturalistische Versuchung in der mit Wilhelm Wundt aufkommenden Kognitionspsychologie, deren Resultate und Versprechungen zur Formulierung eines Psychologismus in der Logik benutzt wurden. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts fhrte die philosophische Orientierung am Methodenideal der Physik zu einem radikal 41 Der von Quine benutzte Behaviorismus hatte Ende der 1960er Jahre innerhalb der naturwissenschaftlichen Psychologie seine Vorrangstellung bereits an den Kognitivismus abtreten mssen. 42 Quine, „Epistemology Naturalized“, 82.
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reduktionistischen Physikalismus, womit entsprechend alle wissenschaftsfhigen Fragen nach Wahrheit und Begrndetheit berhaupt nur jenen Einzelwissenschaften berantwortet werden kçnnen, die sich harmonisch der Idee der Einheitswissenschaft fgen. Ab den spten 60er Jahren desselben Jahrhunderts bildete die behavioristische Psychologie die Vorlage fr die einflussreiche Quinesche Theorie der Erkenntnis, whrend in den 40er und 70er Jahren das Anpassungsapriori in der Stammesgeschichte von Konrad Lorenz43 zu einer naturalistischen Umdeutung des Erfahrungsbegriffs fhrte. Diese Tradition wurde vor allem in den 80er Jahren durch die evolutionre Erkenntnistheorie fortgefhrt, die das Programm von Lorenz unter Verwendung der Evolutionstheorie neu auflegte. Der aktuellste Spross besteht in entsprechenden Deutungen neurowissenschaftlicher Resultate.44 Diese Aufzhlung ist ebenso schematisch wie sie unvollstndig und grob lckenhaft ist, aber sie dokumentiert exemplarisch die Parallelitt zwischen naturwissenschaftlichem Fortschritt und philosophischer Affirmation. Man darf hierbei sicherlich von einer „philosophischen Entwicklung“ sprechen, aber nicht von einem „philosophischen Fortschritt“, denn die Naturalisierungsprogramme unterscheiden sich untereinander einzig und allein in den naturwissenschaftlichen Resultaten, die fr eine Deutung herangezogen werden. Die benutzten Argumentationsschemata sind seit jeher dieselben – nur die Beispiele, mit denen die Argumente operieren, wechseln. Sicherlich, moderne Naturalismen beziehen sich auf die sprachkritische Wende, benutzen eine elaborierte Logik und verfgen ber ein immenses Arsenal an bedeutungstheoretischen Mitteln.45 Doch im Kern geht es immer – und das ist gerade das identittsstiftende Merkmal naturalistischer Positionen – um den argumentativen Schritt, dass im Besonderen philosophische Erklrungsansprche den Naturwissenschaften berantwortet werden. Diese stete Wiederkehr des Gleichen ist allerdings mehr als berraschend, denn in der Philosophiegeschichte finden sich diverse Gelegenheiten, zu denen der besagte argumentative Schritt als unzulssig ausgewiesen wurde. Bereits vor 1900 finden sich ausnahmslos alle philosophischen Argumente in nicht zu berbietender Klarheit, deren 43 Siehe 8.4. 44 Zur gegenwrtig aktuellen Naturalismusdebatte in Deutschland – der Hirnforschungsdebatte – siehe vor allem Singer, Ein neues Menschenbild?, und Janich, Kein neues Menschenbild. 45 Es ist jedoch bereits fraglich, ob die Verwendung dieser Mittel gemß den eigenen Thesen berhaupt zulssig ist. Siehe etwa Hartmann/Lange, „Ist der erkenntnistheoretische Naturalismus gescheitert?“, 154 ff.
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Kenntnisnahme jeden weiteren naturalistischen Vorstoß htte erbrigen mssen. Weshalb daher gerade das 20. Jahrhundert der Philosophie (und hier wiederum vor allem die zweite Hlfte) massiv mit naturalistischen Positionen berzogen ist, lsst sich nur dadurch erklren, dass der naturwissenschaftliche Fortschritt sogleich auch als philosophischer Erklrungsfortschritt gedeutet wird. Dieser Deutung liegt jedoch der Fehler zugrunde, die neuen Beispiele – also die neuen naturwissenschaftlichen Methoden und Resultate – als genuin neue Argumente auszugeben. Zwar ist richtig, dass die Verwendung eines neuen Beispiels in einem Argument (anstatt eines alten) zu einer Vernderung des Arguments fhrt. Aber das resultierende Argument ist deshalb noch kein genuin neues, weil ihm immer noch dasselbe Argumentationsschema zugrunde liegt. Sofern ein naturalistischer Fortschritt dokumentiert werden soll, so bedrfte es neuer Argumentationsschemata, die einer zeitlich frheren antinaturalistischen Kritik entzogen sind. Dies ist aufgrund des folgenden Arguments problematisch: 1. Bei allen naturalistischen Neuerungen kann der (TNaturalismus) zugrunde liegende Argumentationsschritt nicht suspendiert werden, da die These (TNaturalismus) gerade kennzeichnend ist fr eine naturalistische Position. („Identittsbedingung“) 2. Wird eine Argumentationsstrategie als unzulssig ausgewiesen, dann reprsentiert keine Aktualisierung des betroffenen Argumentationsschemas eine gute Argumentation. („argumentationstheoretische Grundeinsicht“) 3. Antinaturalistische Kritiken benutzen zwar exemplifizierend die jeweils modernen naturalistischen Spielweisen. Ihre Kritik richtet sich aber nicht primr gegen die Beispiele, sondern gegen die methodologischen Grundlagen. („Kritik der Methode“) 4. Jede naturalistische Spielweise reprsentiert per definitionem eine inhaltliche Ausgestaltung von (TNaturalismus) und bringt mithin die naturalistische Argumentationsstrategie zur Anwendung. 5. Bereits (oder besser: sptestens) im Neukantianismus und in Freges Philosophie finden sich alle erforderlichen Argumente gegen die Zulssigkeit der naturalistischen Argumentationsstrategie. 6. Jede (vergangene, gegenwrtige und knftige) naturalistische Spielweise umfasst eine Aktualisierung der bereits vor mehr als 120 Jahren als unzulssig ausgewiesenen Argumentationsstrategie.46 46 Naturalisten werden bei diesem Argument aller Voraussicht nach vor allem die
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Die neuen Beispiele in Form neuer naturwissenschaftlicher Disziplinen mit ihren – vollkommen zuzugestehenden – Anwendungserfolgen haben also berhaupt keinen Einfluss auf die prospektive Zulssigkeit naturalistischer Argumente. Die philosophische Qualitt der Argumentationsstrategie von Quine oder Singer ist daher dieselbe wie jene von Johannes Mller oder Theodor Lipps. Der einzig nennenswerte Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die Naturalisten des 20. und 21. Jahrhunderts ein altes Projekt wiederholen, fr das bereits vor mehr als 100 Jahren mit schrferen Schwertern und mit mehr Originalitt erfolglos gestritten wurde. Fast ist man geneigt das Urteil zu fllen, dass die gegenwrtigen Naturalisten philosophiehistorisch uninformierte oder philosophiegeschichtlich unbelehrbare Kopisten lngst berholter Thesen sind. Es wundert also nicht, wenn etwa Rickert im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und nach gut fnf Dekaden der antinaturalistischen Argumentation des Neukantianismus fast resignativ feststellt, dass „die naturalistischen Dogmen wieder einmal zur Mode geworden sind“47. Sofern wir uns also im Rahmen der Reflexion auf die Geltung-GeneseUnterscheidung auch mit naturalistischen Thesen auseinandersetzen mssen, so sollte wenigstens eine Spielart diskutiert werden, die im Kontext der Philosophiegeschichte noch das Prdikat „originell“ beanspruchen darf. Wir entscheiden uns daher fr ihre prominenteste Ausprgung, die sie aufgrund des Aufkommens der Psychologie und ihrer nachfolgenden Erfolgsgeschichte zum ausgehenden 19. Jahrhundert in der Form des Psychologismus in der Logik erfuhr.48 Dieser Naturalisierungsversuch unterluft die Geltung-Genese-Unterscheidung mit der These, dass die psychologischen Ursachen des Frwahrhaltens zugleich die Grnde des Wahrseins sind: Dann sind aber die Regeln, nach denen man verfahren muss, um richtig zu denken, nichts anderes als Regeln, nach denen man verfahren muss, um so zu denken, wie es die Eigenart des Denkens, seine besondere Gesetzmssigkeit, verlangt, krzer ausgedrckt, sie sind identisch mit den Naturgesetzen des Denkens selbst. Die Logik ist dann auch nach dieser Auffassung ihrer Aufgabe Physik des Denkens oder sie ist berhaupt nichts.49 fnfte Prmisse in Zweifel ziehen. Wir werden uns der Geltung dieser Aussage auszugsweise in 1.2.2 zuwenden. 47 Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 12. 48 Zu diesem Topos sei auf die umfassende Studie von Rath, Der Psychologismusstreit in der deutschen Philosophie, verwiesen. 49 Lipps, „Die Aufgabe der Erkenntnistheorie und die Wundt’sche Logik“, 530 f.
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In unserer nachfolgenden Analyse der Geltung-Genese-Unterscheidung werden wir uns vor allem mit naturalistischen Thesen auseinandersetzen, weil fr diese im Besonderen gilt, dass die Akzeptanz der Kernaussage (TNaturalismus) einhergeht mit einer Ablehnung von (GGU): (TNaturalismus) V non-(GGU) Es sei aber sogleich erwhnt, dass die Ablehnung von (GGU) keine hinreichende Bedingung fr das Vertreten einer naturalistischen Position ist. Wer die These vertritt, dass die Frage nach der Entstehung und Entwicklung von Erkenntnissen zugleich die Frage nach der Begrndung und Rechtfertigung der Erkenntnisse ist, der kann gleichwohl der Auffassung sein, dass nicht alle Fragen bezglich der Entstehung und Entwicklung von Erkenntnissen in den Zustndigkeitsbereich der Naturwissenschaften fallen. Beispiele hierfr wren etwa wissenschaftssoziologische und wissenschaftshistorische Untersuchungen, die mit dem Anspruch auftreten, erklren zu kçnnen, warum wissenschaftliche Erkenntnis mçglich ist.50 Wir werden in 1.2.3 ein Argument formulieren, das die These sttzt, dass das Erfordernis von (GGU) unabhngig der Frage besteht, ob man bereit ist, einen Naturalismus zu teilen. 1.2.2 Grnde des Wahrseins vs. Ursachen des Frwahrhaltens Die Geschichte der mannigfaltigen Naturalisierungstendenzen und Versuche zur Aufhebung der Geltungsunterscheidung war immer auch zugleich eine Geschichte der Verteidigung der Unterscheidung von Geltung und Genese. Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wurde eine Vielzahl von verschiedenen Argumentationsstrategien und Argumenten mit unterschiedlichen Allgemeinheitsgraden formuliert, um auf die – immer wieder selben – kategorialen Fehler der Naturalismen hinzuweisen. Um hier nun eine exemplarische, aber gleichermaßen reprsentative Kritik an jenen zu ben, die die in Frage stehende Unterscheidung aufzuheben gedenken, bietet sich jede naturalistische Position an. Aus zwei Grnden entscheiden wir uns fr den Psychologismus. Zum einen bringt er 50 Fasst man indes (TNaturalismus) so weit, dass ausnahmslos alle erfahrungswissenschaftlichen Mittel durch die These angesprochen werden, dann fallen nicht nur auch diese Erklrungsbemhungen unter „Naturalismus“, sondern dann liefert die liberale Naturalismus-These auch eine notwendige Bedingung fr die Aufhebung der Unterscheidung.
1.2 Geltung und Genese
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in Reinform das Anliegen zum Ausdruck, die Geltungsbedingungen fr Wissen auf die Genesebedingungen des Glaubens zurckzufhren: (Tpsych) Zu wissen, dass eine Aussage ! wahr ist, bedeutet nichts anderes als ber ein psychologisches Wissen zu verfgen, das erklrt, wie der Glaube an ! zustande kommt. Zum anderen haben wohl nur wenige Philosophen mit so viel Scharfsinn und Witz die Geltung-Genese-Unterscheidung verteidigt wie Gottlob Frege: [Es] kann nicht dringend genug vor einer Verwechslung der Gesichtspunkte und einer Verschiebung der Fragestellung gewarnt werden, eine Gefahr, die umso nher liegt, als wir in irgendeiner Sprache zu denken pflegen, und weil die Grammatik, welche fr das Sprechen eine hnliche Bedeutung hat wie die Logik fr das Denken, Psychologisches und Logisches miteinander vermischt.51
Seine diesbezglichen Argumente stehen im Kontext einer Kritik am Psychologismus52, so dass wir mit Frege gegen die Aufhebung der GeltungGenese-Unterscheidung und damit gegen den Psychologismus argumentieren kçnnen. Frege benutzt hierfr wesentlich die Einsicht, dass der Begrndungsgegenstand der Psychologie die Gesetze des faktischen Denkens sind, whrend die Logik normativ die Gesetze des korrekten Schlussfolgerns untersucht und begrndet. Wie bereits die fr den Psychologismus charakteristische Bemerkung von Lipps aus dem vorangegangenen Abschnitt deutlich gemacht hat, sollen die Gesetze des richtigen Denkens nichts anderes als die Naturgesetze des faktischen Denkens sein. Damit fllt die Untersuchung der Gesetze des richtigen Denkens in den Zustndigkeitsbereich der Psychologie, vor allem der Kognitionspsychologie. Die Kognitionspsychologie untersucht im Besonderen, „wie der Geist organisiert ist, um intelligente Gedanken hervorzubringen“53. Sie untersucht die psychischen Ursachen, unter denen etwa Aberglauben oder gehuft Irrtmer entstehen, wie sie auch Erklrungen dafr anbietet, warum bestimmte Personengruppen unter entsprechenden Bedingungen eher dazu neigen, bestimmte Inhalte fr wahr 51 Frege, „Logik“, 6. 52 In Freges Werk finden sich ungezhlt viele Passagen, in denen sich der Autor kritisch mit der Psychologie in der Logik auseinandersetzt. Neben dem hier im Mittelpunkt stehenden Fragment „Logik“ sei vor allem auf Grundgesetze I (XIVXXVI) verwiesen. 53 Etwa Anderson, Cognitive Psychology, 1.
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zu halten. Sie untersucht Denkvorgnge von Personen in Abhngigkeit von sozialen Parametern, wie etwa Elternhaus und Bildungsstand, wie auch in Abhngigkeit von biotischen Faktoren, wie etwa bermdung oder Entscheidungsfindungen unter Stress. Das Untersuchungsfeld der Kognitionspsychologie erstreckt sich ber alle kausalen Bedingungen, die fr die wissenschaftliche Erklrung kognitiver Phnomene relevant sind. Das Ziel dieser Disziplin besteht im Verstehen, how people acquire knowledge and intellectual skills and how they perform feats of intelligence54.
Ihre Ergebnisse liefern damit wichtige Einsichten fr die klinische Psychologie, die Sozialpsychologie, die politischen Wissenschaften, die konomie wie auch die Linguistik. Im Gelingensfall stehen am Ende einer kognitionspsychologischen Untersuchung allgemein begrndete Einsichten, die Auskunft darber geben, wie kognitive Leistungen wie das Urteilen im Allgemeinen oder das Fllen von Handlungsentscheidungen im Besonderen unter einem bestimmten Bedingungsgeflecht kausal bewirkt werden. Die Erkenntnisziele und Untersuchungsmethoden der Kognitionspsychologie sind auch unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten vollkommen legitim und gerechtfertigt. Die Kognitionspsychologie ist eine inzwischen hoch entwickelte, beraus erfolgreiche und zweifelsohne bedeutsame wissenschaftliche Disziplin. Diese Einschtzung wird hier nicht nur nicht bestritten, sondern explizit untersttzt. Es sei daher gesondert festgehalten, dass eine Verteidigung der Geltung-GeneseUnterscheidung und eine damit einhergehende Ablehnung naturalistischer Positionen keine philosophische Kritik an der Rationalitt fachwissenschaftlicher Begrndungspraxen oder der Geltung ihrer Resultate impliziert.55 Die Legitimitt, Relevanz und der Erfolg dieser Wissenschaft stehen in keinerlei Spannungsverhltnis zur Sinnbedingung (GGU), denn die Kognitionspsychologie untersucht die Ursachen des Frwahrhaltens und nicht die Grnde des Wahrseins: Obwohl jedes unserer Urteile urschlich bedingt ist, so sind doch nicht alle diese Ursachen rechtfertigende Grnde. […] Die zum Urteilen nur veranlassenden Ursachen tun dies nach psychologischen Gesetzen; sie kçnnen ebenso wohl zum Irrtum wie zur Wahrheit fhren; sie haben berhaupt keine 54 Ebd., 4. 55 Es ist daher misslich, wenn man etwa wie Wundt („Psychologismus und Logizismus“, 516) die Gegenposition zum Psychologismus/Naturalismus sogleich in einem reinen Apriorismus verortet, der die genuinen Aufgaben der Psychologie zu Aufgaben der Logik umdefiniert.
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innere Beziehung zur Wahrheit; sie verhalten sich zum Gegensatz von wahr und falsch gleichgltig.56
Unter Bezugnahme auf die Ursachen des Frwahrhaltens einer Aussage ! kann im Idealfall zwar die Frage beantwortet werden, warum wir ! und nicht vielmehr non-! fr wahr halten. Aber dieses Frwahrhalten ist erkenntnistheoretisch erwogen nichts anderes als ein bloßer Glaube, fr dessen Entstehung bestenfalls eine naturwissenschaftliche Kausalerklrung bzw. eine sozio-psychologische Erklrung angeboten wird. Die Frage nach der Wahrheit von ! ist indes die Frage danach, ob dieser Glaube wahr und begrndet ist. Frege weist in der zitierten Passage bereits darauf hin, dass die Fragen nach der Wahrheit von ! und einer gelungenen Begrndung fr ! durch die Angabe einer psychologischen Erklrung fr das Zustandekommen des Glaubens noch gar nicht berhrt werden, weil i) wir gegen keine psychologischen Naturgesetze verstoßen, wenn wir vorstzlich lgen oder uns versehentlich irren und ii) psychologische Gesetze das Zustandekommen wahrer Meinungen genauso erklren kçnnen wie das Zustandekommen falscher.57 Frege weist explizit darauf hin58, dass eine psychologische Kausalerklrung fr das Frwahrhalten neben den erforderlichen allgemeinen Gesetzmßigkeiten stets eine „Erzhlung“ mit einschließt, in der die relevanten Anfangs- und Randbedingungen fr die naturwissenschaftliche Erklrung des in Frage stehenden psychischen Phnomens erfasst werden.59 Indes muss eine rechtfertigende Begrndung fr die Wahrheit des Urteils immer ungeschichtlich sein, d. h. es wird dabei nicht darauf ankommen, wer sie zuerst gegeben hat, wodurch veranlasst er den glcklichen Gedankengang eingeschlagen hat, und wann und wo dies geschehen ist u. dgl.60
56 Frege, „Logik“, 2. 57 Ebd., 3: „Fr die Psychologie ist es gleichgltig, ob die Erzeugnisse seelischer Vorgnge, mit denen sie sich beschftigt, wahr genannt werden kçnnen“. Ders., „Der Gedanke“, 342 f. Bereits vor Frege hat etwa Windelband diese Punkte besonders betont. Exemplarisch Windelband, „Normen und Naturgesetze“, 69: „Mit derselben Naturnotwendigkeit, mit welcher der eine richtig denkt, denkt der andere falsch“. Ebd., 70: „Der Fehlschluß kommt ebenso notwendig zustande wie der richtige Schluß“. Ders., „Kritische oder genetische Methode?“, 115. 58 Vgl. Frege, „Logik“, 3. 59 Dies steht ganz in bereinstimmung mit dem spter bei Hempel explizit begrndeten nomologisch-deduktiven Erklrungsmodell. 60 Frege, „Logik“, 3.
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In dieser Passage prsentiert sich Freges Fassung der Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begrndungszusammenhang und damit die Kernaussage, dass das Wie der Entstehung irrelevant ist fr das Warum der Geltung. Da die Wahrheitsbedingungen einer Aussage intersubjektiv zugnglich sein mssen, darf die Begrndung der Wahrheit einer Aussage nicht kontext- oder personenvariant sein, d. h. ob eine Begrndung gelingt, darf nicht davon abhngen, wer argumentiert oder welche empirischen Faktoren den Begrndungsversuch raumzeitlich begleiten. Genau in demselben Maße, wie Kausalerklrungen auf den raumzeitlichen Kontext des zu erklrenden psychischen Phnomens angewiesen sind, sind Geltungsfragen kontextinvariant zu klren. Besonders einfach lsst sich dies am deduktiv-nomologischen Erklrungsmodell – als dem Paradigma naturwissenschaftlichen Begrndens – veranschaulichen. Um einen singulren – und damit raumzeitlich individuierbaren – Sachverhalt "(c) entweder prognostizieren oder retrodiktiv erklren zu kçnnen, bençtigen wir neben mindestens einem Naturgesetz im Explanans noch eine Anfangs-/ Randbedingung !(c), unter deren Bestehen auf "(c) geschlossen werden kann:61 (D-N) !(c) tx(!(x)x"(x)) "(c) Das Explanandum "(c) wird also voraussagbar bzw. rckwirkend erklrbar unter Verwendung mindestens eines weiteren singulren Sachverhalts. Diese naturwissenschaftliche Erklrung ist „geschichtlich“, insofern sowohl !(c) als auch "(c) Zeit- und Ortsparameter mitzufhren haben. Im Besonderen darf das zeitliche Aufkommen von "(c) nicht frher als das Aufkommen von !(c) sein, weil Naturgesetze entweder Zustandsgesetze (im Falle der Gleichzeitigkeit) oder aber Verlaufsgesetze sein mssen. Darber hinaus drfen die Orte des Auftretens von !(c) und "(c) auch nicht „zu weit“ auseinanderliegen, weil Kausalgesetzen als Nahwirkungsgesetzen der Gedanke einer Limitation der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Vorgngen zugrunde liegt.62 Whrend jedoch die naturwissenschaftlich erklrbare Genese von "(c) wesentlich von weiteren Individuationsbedingungen abhngt, darf die Geltung der Erklrung (D-N) indes von keinem einzigen geschichtlichen Aspekt abhngen. So finden sich im 61 Siehe Hempel, Philosophy of Natural Science, Kap. 5. 62 Siehe etwa Stegmller, „Das Problem der Kausalitt“, 13, 15.
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Besonderen in der Formulierung des deduktiv-nomologischen Erklrungsmodells weder Variablen fr Zeit- noch Variablen fr Ortskoordinaten, weil die Geltung der involvierten Aussagen nicht von diesen abhngen darf. Die Geltung von (D-N) ist ungeschichtlich, weil die Zulssigkeit eines Erklrungsschemas nicht davon abhngen darf, wer, wann, wo und unter welchen Bedingungen begrndet. Doch selbst wenn man die Orts-, Zeit- und Personeninvarianz der Begrndung von wahren Aussagen ignoriert, kann unter Verwendung psychologischer Kausalerklrungen fr psychische Phnomene des Frwahrhaltens nicht begrndet werden, warum der in Frage stehende Glaube wahr ist. Damit ein Meinen als Wissen gerechtfertigt ausgewiesen werden kann, muss dieses Meinen wahr und begrndet sein. Eine gelungene psychologische Kausalerklrung fr das Zustandekommen des Frwahrhaltens einer Aussage ! reprsentiert selbst unter Ausblendung der genannten Invarianzbedingungen keine gelungene Begrndung fr die Wahrheit von !. Ein gelungener Begrndungsversuch unterscheidet sich von einem misslungenen unter anderem dadurch, dass in ersterem die Gesetze des korrekten Schlussfolgerns regelkonform zur Anwendung gebracht wurden, whrend gegen eben dieselben Gesetze im Misslingensfall gegebenenfalls verstoßen wurde.63 Wren jedoch – wie es durch (Tpsych) beansprucht wird – die psychologischen Naturgesetze unseres faktischen Schließens zugleich die Gesetze des korrekten logischen Schlussfolgerns, dann wre die Behauptung falscher Thesen unmçglich, weil wir – gemß i) – gegen kein Naturgesetz verstoßen, wenn wir lgen oder irren: Man wird zu solchen schiefen Auffassungen leicht dadurch verleitet, dass man als Aufgabe der Logik die Erforschung der Denkgesetze angibt, indem man unter diesem Ausdruck etwas den Naturgesetzen Entsprechendes versteht, also Gesetze, nach denen das wirkliche Denken vor sich geht, und durch welche man sich einen einzelnen Denkvorgang in einem bestimmten Menschen ebenso erklren kçnnte, wie man sich etwa die Bewegung eines Planeten durch das Gravitationsgesetz erklrt. Die Gesetze des wirklichen Schliessens sind nicht durchweg Gesetze des richtigen Schliessens; denn dann wren Fehlschlsse unmçglich.64
Halten wir erst einmal den Stand der bisherigen Argumentation fest: 63 Selbstverstndlich ist das Verstoßen gegen logische Gesetze keine notwendige Bedingung fr das Misslingen eines Begrndungsversuchs, weil die meisten der uns vertrauten fehlerhaften Begrndungsversuche aus anderen Grnden scheitern. Aber das Verstoßen gegen ein logisches Gesetz ist hinreichend fr das Scheitern. 64 Frege, „Logik“, 4.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
1. Die These (Tpsych) impliziert die Ablehnung von (GGU), weil die Fragen nach der Genese von Meinungen zugleich die Fragen nach der Geltung der Meinungen sein sollen. 2. Frege hat ausgefhrt, dass im Falle des Zutreffens von (Tpsych) nicht mehr zwischen wahren und falschen Aussagen unterschieden werden kçnnte, weil auch Irrtmer gegen keine psychologischen Gesetze verstoßen. 3. Damit folgt nicht nur eine Widerlegung von (Tpsych), sondern zugleich eine Bekrftigung von (GGU), weil die Mçglichkeit zur gerechtfertigten Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit eine grundlegende Gelingensbedingung fr die Mçglichkeit von Erkenntnis berhaupt ist. Freges Argumente fr die Wahrung der Geltung-Genese-Unterscheidung zehren prima facie von einer Beschrnkung auf den Psychologismus. Doch nicht nur lassen sich ausnahmslos alle bisher vorgetragenen Argumente strukturgleich auf beliebige andere naturalistische Positionen anwenden, sondern aus Freges Einsichten erwchst ein weiteres, (GGU) sttzendes Argument, das unabhngig einer Naturalismuskritik platziert werden kann. Frege selbst hat hierfr den entscheidenden Hinweis bereits gegeben: Die Psychologie hat nur wie jede andere Wissenschaft mit der Wahrheit zu tun, insofern ihr Ziel die Eroberung von Wahrheiten ist; aber sie betrachtet nicht die Eigenschaft „wahr“65.
Diese Feststellung beinhaltet eine Einsicht, die im folgenden Abschnitt und unter Verwendung einer naturwissenschaftlichen Fallstudie entfaltet wird. 1.2.3 Geltungsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis Jede Wissenschaft, die Psychologie eingeschlossen, ist auf die Etablierung wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgerichtet. Wissenschaftliche Erkenntnisse unterscheiden sich von Irrtmern dadurch, dass erstere wahr und letztere falsch sind. Wissenschaftliche Wahrheiten unterscheiden sich indes von lebensweltlichen in zweierlei Hinsicht. Zum einen kommt wissenschaftlichen Wahrheiten im Unterschied zu Wahrheiten des Alltags eine allgemeine Geltung zu (und im Falle naturwissenschaftlicher Stze auch eine universelle Anwendbarkeit). Zum anderen unterscheiden sich wissenschaftliche und lebensweltliche Wahrheiten auch in Bezug auf die 65 Ebd., 3. Siehe hierzu auch die Eingangsbemerkung von Frege zu „Der Gedanke“.
1.2 Geltung und Genese
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geltungsspezifischen Begrndungsverfahren, da in den Wissenschaften im Besonderen keine pragmatischen Bewhrungen ausreichen, sondern je nach Disziplin die Begrndungsmittel transsubjektiv kontrollierbar sein mssen, womit vor allem die orts-, zeit- und personeninvariante Reproduzierbarkeit ihrer Anwendung eingeschlossen ist. Wer die Frage nach der Geltung auf jene nach der Genese zurckfhren will, der muss wahre, begrndete Aussagen ber die Entstehung und Entwicklung von Erkenntnissen in Anspruch nehmen, um erklren zu kçnnen, warum diese Erkenntnisse wahr sind. Die Mçglichkeit von Wahrheit muss damit durch jede Fachwissenschaft und folglich auch durch jede generische Erklrung immer schon prsupponiert werden66, weshalb die allgemeinen Geltungsfragen nicht in den Zustndigkeitsbereich einer oder mehrerer Fachwissenschaften fallen kçnnen. Was „Wahrheit“, „Bewiesenheit“, „Gerechtfertigtheit“, „Begrndetheit“ bedeuten, kann durch deskriptive Untersuchungen ber die Entstehung von Erkenntnissen nicht nur nicht beantwortet werden, sondern Antworten auf diese Fragen mssen bereits (zumeist implizit) in Anspruch genommen werden, damit fachwissenschaftliche Erkenntnis berhaupt mçglich ist: Eine Bedingung der Sinnhaftigkeit der Rede von fachwissenschaftlichen Erkenntnissen besteht bereits in der Mçglichkeit der Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“. Vergegenwrtigen wir uns dies anhand des Gehalts von (Tpsych). Die charakterisierende These des Psychologismus fhrt die Frage nach der Wahrheit einer Aussage ! auf das Zustandekommen des Frwahrhaltens von ! zurck unter Inanspruchnahme eines psychologischen Wissens, das allererst begrndet, wie der Glaube an ! zustande kommt. Die entscheidende Startbedingung fr ein psychologistisches Programm besteht also in der unhinterfragten Prmisse, dass wir ber ein entsprechendes psychologisches Wissen verfgen kçnnen. Wre selbst diese Prmisse fraglich, so kçnnte im Rahmen empirischer Untersuchungen berhaupt nicht zwischen „wahr“ und „falsch“ unterschieden werden. Ist diese Unterscheidungsleistung nicht verfgbar, so kann auch nicht in Anspruch genommen werden, dass die Resultate, die uns Auskunft ber das Zustandekommen des Frwahrhaltens von ! geben, in Geltung gesetzt sind. Schließlich sollen durch empirische Untersuchungen nicht fehlerhafte Begrndungsversuche und falsche Resultate zum Ausweis von naturge66 So schon Windelband, „Kritische oder genetische Methode?“, 112.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
setzlichen Aussagen dienen, sondern nur korrekte Begrndungen und wahre Resultate. Damit prsupponiert die Mçglichkeit von psychologischem Wissen im Besonderen bereits die Mçglichkeit eines logischen Wissens. Dieses prsuppositionale Geltungsgeflecht gilt nicht nur fr die Psychologie, sondern ausnahmslos fr jede Erfahrungswissenschaft. Und im Unterschied zu naturalistischen Positionen wird diese Bedingung fr die Mçglichkeit von Wissenschaft in den empirischen Untersuchungen der Erfahrungswissenschaften zumindest implizit konsequent bercksichtigt. Wir vergegenwrtigen uns dies anhand eines Beispiels aus der Kognitionswissenschaft. Die Wason-Auswahl-Aufgabe 67 Peter Cathcart Wason untersuchte in einer Reihe von Experimenten Mitte der 60er Jahre Fehler in der Anwendung des Modus Tollens.68 Ein typisches Experiment hierfr bestand in folgender Ausgangssituation und Aufgabenstellung: Der Proband findet vor sich auf dem Tisch vier Karten liegen. Auf jeder Karte befindet sich auf einer Seite ein Zahlzeichen und auf der anderen ein Buchstabe. Durch ihre Lage auf dem Tisch sieht der Proband eine der beiden Seiten, whrend die andere verdeckt ist. Whlen wir exemplarisch folgende Ausgangssituation:69
Der Proband erhlt nun die Aufgabe, die Gltigkeit der Regel "
Wenn eine Karte einen Selbstlaut auf der einen Seite zeigt, dann zeigt sie auf der anderen Seite eine gerade Zahl
67 Wir folgen hierbei Anderson, Cognitive Psychology, 316 f. 68 Die kognitionspsychologischen Ergebnisse dieser Zeit zum faktischen logischen Rsonieren finden sich systematisch aufbereitet in Wason/Johnson-Laird, Psychology of Reasoning. Siehe vor allem Kap. 5 f. 69 Quelle der Grafik: http://hubpages.com/hub/Wason-Selection-Task.
1.2 Geltung und Genese
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anhand genau jener Karten festzustellen, die fr die Prfung der Gltigkeit der Regel einschlgig sind. In Anwendung auf die vorliegende Ausgangssituation bedeutet dies, dass einzig die Karten mit ,E‘ und ,7‘ umzudrehen sind, um zu prfen, ob die Regel gltig ist. Wasons Untersuchungen zeigten nun, dass zwar 90 Prozent der Probanden in der Lage waren, die Karte mit ,E‘ auszuwhlen, weil eine ungerade Zahl auf der Rckseite ein Gegenbeispiel fr die Gltigkeit der Regel liefern wrde. Allerdings whlten nur 25 Prozent der Probanden auch die Karte mit der ,7‘ aus, obgleich ein Selbstlaut auf der Rckseite dieser Karte wiederum ein Gegenbeispiel liefern wrde. Indes whlten 60 Prozent der Teilnehmer die Karte mit der ,4‘ aus, obwohl es in diesem Fall egal ist, ob auf der Rckseite ein Vokal oder Konsonant auftaucht. Und immerhin 15 Prozent entschieden sich fr die Karte mit ,K‘, obgleich es auch hier in Bezug auf die Gltigkeitsfrage egal ist, ob die Zahl der Rckseite gerade oder ungerade ist. Im Ganzen waren es nur gut 10 Prozent der Probanden, die genau die Karten mit ,E‘ und ,7‘ auswhlten. Wir haben dieses Beispiel aus zwei Grnden gewhlt. Zum einen fungiert es als Reprsentant kognitionswissenschaftlicher Untersuchungen, an deren Ende empirisch begrndete Aussagen ber Bedingungen fr das Zustandekommen des Frwahrhaltens von Aussagen stehen: When presented with neutral material in the Wason selection task, people have particular difficulty in recognizing the importance of exploring the negation of the consequent.70
Kurzum: Wenn Personen mit eher abstrakten Beschreibungen konfrontiert werden71, dann sind ca. 9 von 10 Personen nicht mehr in der Lage, den Modus Tollens korrekt zu gebrauchen.72 Zum anderen wird durch die Beschreibung der allgemeinen Experimentalbedingungen deutlich, dass im Besonderen der Modus Ponens und der Modus Tollens als gltige logische Regeln bereits investiert werden und investiert werden mssen. Nicht nur wird in Darstellungen dieses klassischen Experiments unter Wahrung der Gltigkeit dieser Schlussregeln 70 Anderson, Cognitive Psychology, 317. 71 Untersuchungen haben gezeigt, dass die Aufgabenstellungen erfolgreicher umgesetzt werden kçnnen, je intuitiver und lebensweltlich relevanter die Konditionalaussagen werden. Siehe Anderson, Cognitive Psychology, 317 ff. 72 Pointiert Frege, Grundgesetze I, XV: „Man kann dann nur sagen: nach diesen Gesetzen richtet sich im Durchschnitt das Frwahrhalten der Menschen, jetzt und soweit die Menschen bekannt sind; wenn man also mit dem Durchschnitte im Einklang bleiben will, richte man sich nach ihnen“.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
argumentiert wie etwa „Wenn jemand die Karte mit ,4‘ umdreht, dann begeht er im Rahmen der Aufgabenstellung einen Fehler; jemand hat die Karte mit ,4‘ umgedreht; also macht diese Personen im Rahmen der Aufgabenstellung einen Fehler“. Zudem wird etwa bei Anderson73 vorab erst einmal erklrt, was unter „Modus Ponens“ und „Modus Tollens“ zu verstehen ist und warum es sich bei diesen Schlussregeln um logisch gltige handelt.74 Eine wissenschaftstheoretische Pointe dieses Beispiels besteht also gerade darin, dass wir ber ein normatives logisches Wissen bereits verfgen mssen, um i) verstehen zu kçnnen, was durch die Wason-Auswahl-Aufgabe in Erfahrung gebracht werden soll, ii) prfen zu kçnnen, ob die experimentalgesttzte Begrndungspraxis selbst diesen argumentationstheoretischen Minimalanforderungen gengt und iii) beurteilen zu kçnnen, welche Probanden Fehler gemacht haben. D.h. selbst in Anwendung auf den Gebrauch logischer Gesetze als Gegenstnden der empirischen Forschung muss die Geltung dieser Gesetze immer schon in Anspruch genommen werden. Als eine grundlegende Geltungsbedingung wissenschaftlicher Erkenntnis lsst sich mithin feststellen, dass empirische Untersuchungen ber das Entstehen und die Entwicklung von Erkenntnissen stets einen Teil dieser Erkenntnisse bereits in Anspruch nehmen mssen, um wissenschaftlich wahre Aussagen ber das Zustandekommen des Frwahrhaltens begrnden zu kçnnen. Zu diesen Erkenntnissen, die fr die Mçglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung stets in Geltung gesetzt sein mssen, gehçren im Besonderen alle Bedingungen, die das apriorische Fundament der Erfahrungswissenschaften bilden. Dieses Fundament umfasst nicht nur ein normatives logisches Wissen, sondern zudem die Sinnbedingung (GGU), d. h. die Geltung-Genese-Unterscheidung ist in ihrer Geltungsfrage einer empirischen Untersuchung unzugnglich. Es sind stets die Grnde des Wahrseins, welche die Ursachen des Frwahrhaltens von irrelevanten Bedingungen zu unterscheiden gestatten. Damit erweist sich die Verfgbarkeit von Grnden des Wahrseins als eine Begrndungsbedingung der Ursachen des Frwahrhaltens. Oder um es auf den Punkt zu bringen: 73 Anderson, Cognitive Psychology, 315 f. 74 Selbstverstndlich finden sich entsprechende Bemerkungen auch in Wason/ Johnson-Laird, Psychology of Reasoning. Vor allem ebd., 42 ff.
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Wer die Eigenstndigkeit der Geltungsfrage aufgibt, der tilgt zugleich die Mçglichkeit einer Antwort auf die Genesefrage. Ende der 1980er Jahre trat ein Programm auf, das dieses Problem zu lçsen gedachte: der normative Naturalismus.75 Vertreter dieser Position erkennen an, dass nicht nur die Erfahrungswissenschaften, sondern auch die Erkenntnistheorie normative Fragen behandeln mssen, deren Antworten in die wissenschaftliche Begrndungspraxis prsuppositional Eingang finden. Die zentrale Erwgung des normativen Naturalismus besteht nun wesentlich darin, dass sich genau diejenigen Normen in Geltung befinden, deren Befolgung sich als geeignete Mittel zur Realisierung wissenschaftlicher Zwecke erweisen. Welche Normen sich schließlich als zielfhrend und fruchtbar erweisen, lsst sich wiederum empirisch prfen, womit im Besonderen soziologisch und psychologisch erklrbar wird, warum diese Normen gemeinhin akzeptiert sind und gegenber jenen prferiert werden, die sich als nicht zielfhrend erwiesen haben. Nach Giere sind die Normen der Erkenntnistheorie keine anderen als jene der Erfahrungswissenschaften und letztere rechtfertigen sich ber die faktisch verfolgten Zwecke des Erfahrungswissenschaftlers.76 Hartmann und Lange77 haben ausgefhrt, dass mit diesem „Dogmatismus der Faktizitt“ im Besonderen nicht gerechtfertigt werden kann, warum die impliziten Ansprche des normativen Naturalismus anerkannt werden sollten. Darber hinaus verbleiben die Rationalitts- und Geltungsstandards im Bereich des Wissenschaftswissenschaftlichen, so dass kein Begrndungspotenzial entfaltet werden kann, das awissenschaftliche, irrationale oder religiçse Praxen begrndet aus der Betrachtung ausschließen wrde. 1.2.4 Argumentationstheoretische und -redliche Grnde Manch einen mag es berraschen, dass hier von „Redlichkeit“ die Rede ist, wo doch gerade die Verteidiger von (GGU) im Verdacht stehen, mit berheblichkeit den Fachwissenschaften – wiederum insbesondere den Naturwissenschaften – die Kompetenz streitig zu machen. Jene, die (GGU) ablehnen, berufen sich indes auf das Ethos der sogenannten „philosophi75 Etwa Giere, Explaining Science. 76 Ebd., 10. 77 „Ist der erkenntnistheoretische Naturalismus gescheitert?“, 152 ff.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
schen Bescheidenheit“78, die – nchtern besehen – gerade darin besteht, sich den eigenen Mund zu verbieten und nach jenem der Fachwissenschaftler zu reden. Zur wiederholten Klarstellung: Kein Vertreter der (GGU) macht den Fachwissenschaften irgendeine fachwissenschaftliche Kompetenz streitig. Was immer auch in den Zustndigkeitsbereich von Einzelwissenschaften fllt, wird von Vertretern der (GGU) weder zurckgefordert noch mit einer rivalisierenden philosophischen Erklrung versehen. Aber bei allen einzelwissenschaftlichen Ausdifferenzierungen und Emanzipationen von der Philosophie, die sich in den vergangenen 2500 Jahren ereignet haben oder die noch stattfinden werden, es verbleiben stets diejenigen Kompetenzen und Zustndigkeiten, die einzig und allein die Philosophie bernehmen kann. Als Sinnbedingung formuliert kçnnte man sagen, dass einzelwissenschaftliche Emanzipationen von der Philosophie berhaupt nur deshalb mçglich sind, weil die identittsstiftenden Bedingungen des persistierenden „Restes“ in den geltungstheoretischen Aufgaben bestehen, deren Bearbeitung nun gerade das charakteristisch Philosophische ist. Zu diesen geltungstheoretischen Aufgaben gehçren im Besonderen die Reflexionen auf die Ermçglichungsbedingungen der Einzelwissenschaften und die Klrung der allgemeinen Geltungsfragen. Wer daher leugnet, dass durch den Ausdifferenzierungsprozess stets „etwas“ brigbleiben wrde, oder wer im vorauseilenden Gehorsam gleich einmal alle philosophischen Zustndigkeiten durch die Ausstellung eines Blankoschecks an die Einzelwissenschaften abtritt, der bt keine philosophische Bescheidenheit, sondern der handelt unverantwortlich. Philosophische Zustndigkeiten wie etwa der logische Raum des Begrndungszusammenhangs an fachwissenschaftliche Disziplinen – sei es nun die Physik, die Psychologie, die Neuroanatomie oder was auch immer – abgeben zu wollen, bedeutet nicht nur, Tatsachenwissenschaften auf Sinnfragen loszulassen, die sie nicht einmal propositional angemessen fassen kçnnen, sondern empirische Wissenschaften empirisch begrnden zu lassen, warum diese empirische Begrndung empirisch mçglich ist. Wrde die Aufhebung der (GGU) ernst gemeint sein und mit Grndlichkeit ihren konsequenten Umsetzungsversuch in der fachwissenschaftlichen Praxis finden, wir wrden zeitnah Resignation und Verzweiflung bei jenen antreffen, die ohne zu Philosophieren Philosophie betreiben mssten. Dieses ernchternde Resultat ist die konsequente Folge der Kerninkohrenz aller Naturalismen: Die Proklamation der Aufhebung philosophischer Thesen ist selbst eine philosophische und keine naturwissenschaftliche These. Wer 78 So etwa Maddy, Naturalism in Mathematics, 161.
1.2 Geltung und Genese
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daher der Philosophie entsagen will, der kann dies nur unter jeglichem Verzicht auf Rechtfertigungsansprche vollziehen. Der Abschied von der Philosophie ist dann aber nicht mehr als eine Lebenseinstellung, fr die man sich jenseits eines rationalen Diskurses entscheidet. One can abandon philosophy, but one cannot advocate its abandonment through rational argumentation without philosophizing.79
Es kann also keine Rede von philosophischer berheblichkeit sein, wenn durch Verteidigung der (GGU) genau jener Zustndigkeitsbereich vom Feld der erfahrungswissenschaftlichen Forschung trennscharf abgegrenzt wird, in dem die Kompetenzen des Philosophen gefragt sind. Und insofern die Unterscheidung zwischen Geltung und Genese ihrerseits – wie im gesamten Abschnitt 1.2 andemonstriert – eine geltungstheoretische Unterscheidung ist, fallen alle sie betreffenden Erluterungen, Legitimationen und Argumente selbstverstndlich in den philosophischen Zustndigkeitsbereich. Dies bedeutet im Umkehrschluss selbstverstndlich nicht, dass der Philosoph auch fr die Fragen nach der Genese zustndig wre: Die Geltung-Genese-Unterscheidung kann nicht zugunsten der Geltungsfrage und damit nicht pro Philosophie aufgehoben werden, weil die Fragen nach der Entstehung und Entwicklung von Erkenntnis keine philosophischen Fragen sind, und sie kann auch nicht zugunsten der Genesefrage und damit nicht pro Erfahrungswissenschaften aufgehoben werden, weil die Unterscheidung selbst keine erfahrungswissenschaftliche ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Geltungsfragen sind keine Genesefragen und Genesefragen sind keine Geltungsfragen. Diese Einsicht ist selbst eine philosophische und sie bleibt es sogar noch dann, auch wenn knftige Philosophengenerationen der Versuchung erliegen sollten, sie aufgrund der Begeisterung fr das Erklrungspotenzial einer Einzelwissenschaft aufheben zu wollen. Man muss also kein Prophet sein, um zu dem Resultat zu gelangen: „Die Fehler wrden dieselben sein“. Darber hinaus wird durch diese Feststellung nicht ausgeschlossen, dass man im Rahmen der philosophischen Begrndungs- und Rechtfertigungspraxis nicht wertvolle Hinweise aus einer rationalen Rekonstruktion des Entstehungszusammenhangs ziehen kçnnte. Aspekte der Genese und der faktischen Praxis bilden selbstverstndlich informelle Adquatheitsbedingungen auch fr das philosophische Begrndungsgeschft, denn ein 79 Rescher, Metaphilosophical Inquiries, 7.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
philosophisches Resultat, dem wir faktisch nicht gengen kçnnen, kann kein gutes Resultat sein.80 Damit zeigen wir an, dass selbst apriorische Begrndungen (wie im Fall der Erkenntnistheorie) nicht im luftleeren Raum und frei von allen empirischen Besonderheiten vollzogen werden kçnnen. Die Geltung der Resultate darf ihre Legitimation nur eben nicht aus dem Faktischen beziehen. Abschließend zum Abschnitt 1.2 wollen wir nun noch zwei argumentationsstrategische Argumente diskutieren, die aus unterschiedlichen Grnden offenlegen, warum es keine Alternative zu (GGU) gibt. Das erste dieser beiden Argumente mag von Gegnern der Geltung-Genese-Unterscheidung vorgetragen werden mit dem Ziel, die Ablehnung von (GGU) als gleichermaßen gut begrndet erscheinen zu lassen. 1.2.4.1 Das Argument von der Genese Im Mittelpunkt des Arguments von der Genese steht die zu sttzende These: (GGU) reprsentiert eine philosophische These, die genau von jenen geteilt wird, die entsprechend zur Akzeptanz der Unterscheidung sozialisiert („konditioniert“) wurden. (GGU) reprsentiert eine philosophische These, die genau von jenen geteilt wird, deren Philosophieverstndnis diese Unterscheidung erforderlich macht. Welches Philosophieverstndnis man indes teilt, hngt nicht unwesentlich von psychischen, sozialen und akademisch-kontingenten Bedingungen ab. Dass ein Teil der Philosophen (GGU) akzeptiert, whrend ein anderer Teil die Unterscheidung fr berholt, falsch oder irrefhrend hlt, hngt vor allem davon ab, wie der einzelne in der Philosophie sozialisiert wurde. Diese Feststellung ist lediglich ein Spezialfall der wesentlich allgemeineren Einsicht, dass in allen Wissenschaften Entscheidungen ber die wissenschaftliche Schwerpunktausrichtung, die Platzierung der strategischen Forschungsfçrderung usw. auch von Faktoren wie dem Hochschulstandort, dem zustndigen Bildungssystem, der gerade praktizierten Bildungspolitik, der akademischen Stellenlage, den gegenwrtigen wissenschaftlichen Modethemen, dem akademischen Umfeld, 80 Es sei bei dieser Gelegenheit an die kursorischen Bemerkungen aus 1.1 zum hier vertretenen Philosophieverstndnis erinnert.
1.2 Geltung und Genese
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der eigenen wissenschaftsbiographischen Situation usw. abhngt.81 Diese allgemeine Einsicht lsst sich wissenschaftssoziologisch82 und wissenschaftspsychologisch ebenso gut erklren wie sie sich wissenschaftshistorisch beeindruckend gut belegen lsst. Wer die Geltung-Genese-Unterscheidung verteidigt, der sollte nicht zuletzt die folgenden beiden Einsichten bercksichtigen. Zum einen argumentiert er fr (GGU), weil er eben so und nicht anders sozialisiert wurde. Des Weiteren sollte er anerkennen, dass es auch Philosophen gibt, die entsprechend anders sozialisiert wurden und mithin ihre guten Grnde – Verzeihung: „Ursachen“ – haben, um (GGU) abzulehnen. Auf den ersten Blick scheint dies ein diplomatisches Metaargument zu sein, das Grnde dafr vortrgt, warum sowohl die Anerkennung als auch die Ablehnung der Geltung-Genese-Unterscheidung zu tolerieren ist. Bei genauerer Betrachtung verfhrt dieses Argument als partielle Kritik an Vertretern der These (GGU) aber petitiçs, weil es bereits unterstellt, dass die – im Besonderen soziologischen – Erklrungen ber das Zustandekommen von Akzeptanz und Ablehnung zugleich die Grnde des Wahrseins sind. Argumentiert ein Verfechter der Unterscheidung unter Inanspruchnahme von (GGU) gegen jene, die diese Unterscheidung ablehnen, so wird zwar mittels des Arguments geltend gemacht, dass man dies nicht drfe, weil man die Bedingungen der eigenen Sozialisation nicht universalisieren darf und mithin auch nicht fr Opponenten der Unterscheidung verbindlich machen kann. Allerdings wird durch diesen argumentativen Schritt gerade die Geltung-Genese-Unterscheidung geleugnet, weil die Fragen nach der Wahrheit und Begrndetheit von (GGU) auf die Fragen nach ihrer sozialen Entstehung zurckgefhrt werden sollen. Das Argument von der Genese argumentiert selbst aus dem Entdeckungszusammenhang heraus und entpuppt sich damit als zirkulr. Es erklrt bestenfalls, warum es de facto Opponenten der Unterscheidung gibt.
81 Eine beeindruckende – und schon deshalb erwhnenswerte – Ausnahme bildet Frege, der unter bescheidenen finanziellen Verhltnissen lebend selbst im Hinblick auf die handfeste Mçglichkeit einer ordentlichen Professur von seinem wissenschaftlichen Profil nicht abrckte wohlwissend, dass dies die Berufung zum Ordinarius in jedem Fall vereiteln wrde. Vgl. Kreiser, Gottlob Frege, 373 f. 82 Siehe etwa Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis; Whitley, The Intellectual and Social Organization of the Sciences.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
1.2.4.2 Das Argument von der argumentationsstrategischen Asymmetrie Unser zweites Argument ist argumentationsstrategischer Natur und damit ein methodologisches Metaargument. Es handelt sich hierbei um ein Argument pro (GGU) und sttzt zentral die These: Leugner von (GGU) mssen die Verfechter der Unterscheidung anerkennen, whrend das Umgekehrte nicht gilt. Entweder die Ursachen des Frwahrhaltens sind zugleich die Grnde des Wahrseins oder es ist strikt zu trennen zwischen den Ursachen des Frwahrhaltens und den Grnden des Wahrseins83 : non-(GGU) { (GGU) Diese Entscheidungsfrage tritt genau dann auf, wenn Kritik an der Geltung der Geltung-Genese-Unterscheidung gebt wird. Und genau dann, wenn nicht beide Teilaussagen sinnlos sind, handelt es sich bei dieser Alternativenbildung um eine gehaltvolle Entscheidungsfrage. Wenn dies eine gehaltvolle Entscheidungsfrage ist, dann kçnnen im Besonderen nicht beide Teilaussagen wahr sein. Wir prsentieren nunmehr das methodologische Metaargument durch zwei Subargumente ((A1) und (A2)), die jeweils einen der beiden Teile der zu sttzenden These begrnden. (A1) Leugner von (GGU) mssen die Verfechter der Unterscheidung anerkennen. Ein Opponent von (GGU) entscheidet sich fr die Anerkennung der ersten Teilaussage der Entscheidungsfrage und muss mithin auch fr die These (GGU) selbst einrumen, dass ihre Geltungsgrnde in den Ursachen ihrer Akzeptanz/Ablehnung bestehen. Im Falle der Akzeptanz/ Ablehnung einer philosophischen These wie (GGU) bestehen diese Ursachen vor allem in wissenschaftssoziologischen Bedingungen. Da nun ein Gegner der (GGU) in Anwendung auf (GGU) selbst im Kontext der Genese zu argumentieren hat84, kommt nun das Argument von der Ge83 Die hier benutzte Reformulierung von (GGU) in der – wesentlich eingngigeren – Terminologie von 1.2.2 ist zulssig, weil unsere Argumentationsstrategie fr jeden Kausalerklrungstyp (mittels dessen im Besonderen die Entstehung und Entwicklung von Erkenntnissen erklrt werden soll) anwendbar bleibt. 84 Wer innerhalb eines Diskurses die Geltung-Genese-Unterscheidung leugnet, der darf aus Grnden der Kohrenz fr seinen argumentationstheoretischen Diskursrahmen nicht die Geltung von (GGU) voraussetzen.
1.2 Geltung und Genese
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nese85 zum Zuge: Sowohl im Falle derer, die (GGU) ablehnen, als auch im Falle jener, die (GGU) akzeptieren, lsst sich – im Idealfall – wissenschaftssoziologisch, -psychologisch und -historisch erklren, wie es zur Anerkennung von (GGU) bzw. non-(GGU) kommt. Da der Opponent der (GGU) die Angabe einer gemeinhin akzeptierten erfahrungswissenschaftlichen Erklrung fr das Zustandekommen von Meinungen als hinreichende Bedingung fr das Bestehen der Geltung dieser Meinungen anerkennt (genau darin besteht ja gerade der Gehalt von non-(GGU)), ist er ebenfalls auf die Anerkennung jener Meinung verpflichtet, die von Verfechtern der (GGU) vorgetragen wird. Zwar sind die „Anfangs- und Randbedingungen“, die zur Akzeptanz von (GGU) fhren, andere als im Falle der Aufhebung der Unterscheidung. Jedoch mssen diese „Anfangsund Randbedingungen“ durch einen Leugner der (GGU) genauso anerkannt und bercksichtigt werden wie seine eigenen. Ein Verteidiger der Geltung-Genese-Unterscheidung hat nach Auffassung seines Kritikers dieselbe Legitimation wie er selbst. Damit mssen Leugner von (GGU) die Verfechter der Unterscheidung im selben Maße anerkennen wie sie ihre eigene These anerkennen. Wer jedoch nicht die argumentative Kraft besitzt, um seinen Opponenten zu widerlegen, der kann selbst auch nicht im Recht sein.86 Dem zugrunde liegt folgende argumentationstheoretische Einsicht: Wer durch die Verteidigung seiner eigenen These ! Grnde vortrgt, die sogleich auch eine Strkung der These ~! zur Folge hat, der kann unter Verwendung dieser Grnde nicht zu einer Widerlegung von ~! und damit auch nicht zu einer Begrndung von ! gelangen. Im Falle eines Opponenten von (GGU) ist genau dies der Fall, denn das Bestehen der Geltung-Genese-Unterscheidung wird geleugnet und muss nachfolgend auch unter Verzicht auf diese Unterscheidung begrndet werden. Andernfalls wrde der Aussagengehalt seiner These in Widerspruch geraten zu den Bedingungen seiner Vollzugspraxis.87 Alle Grnde – meint hier: alle erfahrungswissenschaftlichen Erklrungen –, die die Anerkennung von non-(GGU) motivieren oder verstndlich werden lassen, motivieren zugleich auch die Anerkennung von (GGU): 85 Siehe 1.2.4.1. 86 Sofern sich der Opponent in genau derselben Situation befindet, dann streiten beide offensichtlich um ein Scheinproblem. Das Resultat bliebe aber dasselbe: Der Proponent von non-(GGU) behauptet nichts Wahres, weil er nichts Falsches behaupten kann. 87 Siehe hierzu ausfhrlich 1.3.2.2.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Wer die Geltung-Genese-Unterscheidung leugnet, der erkennt an, dass die Frage nach der Entstehung von Erkenntnissen zugleich die Frage nach ihrer Geltung ist. Die Leugnung des Bestehens der Geltung-Genese-Unterscheidung reprsentiert einen Erkenntnisanspruch. Also ist die Frage nach der Wahrheit von non-(GGU) die Frage nach dem Zustandekommen des Frwahrhaltens von non-(GGU). Ein angemessenes Erklrungsschema zur Beantwortung der Frage nach Zustandekommen des Frwahrhaltens von non-(GGU) besteht in: Befindet sich ein Individuum i in AnfangsRandbedingungen vom Typ B, so vollzieht i Handlung vom Typ H. Das Individuum c befindet sich in AnfangsRandbedingungen vom Typ B. Also vollzieht c eine Handlung vom Typ H.
dem und eine und
Das Vertreten der These non-(GGU) Das Vertreten der These (GGU) durch durch das Individuum c ist das Individuum c’ ist verstndlich, weil: verstndlich, weil: Das Individuum c befindet sich in Anfangs- und Randbedingungen vom Typ B. Befindet sich ein Individuum i in Anfangs- und Randbedingungen vom Typ B, so neigt i zur Leugnung von (GGU). Also – ceteris paribus – neigt c zur Leugnung von (GGU).
Das Individuum c’ befindet sich in Anfangs- und Randbedingungen vom Typ B’. Befindet sich ein Individuum i in Anfangs- und Randbedingungen vom Typ B’, so neigt i zur Anerkennung von (GGU). Also – ceteris paribus – neigt c’ zur Anerkennung von (GGU).
Diese schematische Parallelbetrachtung macht noch einmal explizit, dass jedes Motiv und jedes Argument, das sich aus dem Entdeckungszusammenhang heraus fr den Verteidiger von non-(GGU) formulieren lsst, sogleich einer Adaption fr die Gegenposition zugnglich ist. Damit muss der Leugner der Geltung-Genese-Unterscheidung nicht nur die Anerkennung des Verfechters von (GGU) einrumen, sondern darber hinaus sogar noch zugestehen, dass auch seinem Gegner zuzustimmen ist, sofern man ihm selbst zustimmt. Damit folgt aber sogleich mit der Annahme der Wahrheit von non-(GGU) ihre Falschheit, weil die Grnde zur Akzeptanz von non-(GGU) zugleich Grnde fr die Wahrheit von (GGU) sind. Diese rein immanente und hier nur schematisch vollzogene Argumentation ließe sich selbstverstndlich weiter ausfhren. Das Resultat bleibt aber dasselbe:
1.2 Geltung und Genese
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Die Leugner von (GGU) sind auf die Anerkennung der Verfechter von (GGU) verpflichtet und widerlegen sich damit bereits immanent selbst. Es mag somit fr einen Opponenten der (GGU) einzig die Hoffnung verbleiben, dass es den Verfechtern der Unterscheidung genauso ergeht. Wre dies der Fall, so htten wir ein klares Indiz dafr, dass die Alternativenbildung (~) Entweder sind die Ursachen des Frwahrhaltens zugleich die Grnde des Wahrseins oder es ist strikt zwischen den Ursachen des Frwahrhaltens und den Grnden des Wahrseins zu trennen entweder falsch vollzogen wurde oder aber ein Scheinproblem reprsentiert. Im Augenblick gestaltet sich die Sachlage so, dass wir ausgehend von der Alternativenbildung (~) (= non-(GGU) { (GGU)) die „entweder“Aussage einmal angenommen haben (= non-(GGU)), um dafr zu argumentieren, dass im Falle ihrer generischen Wahrheit zugleich auch die „oder“-Aussage (= (GGU)) mit einer generischen Geltung versehen wre. Folgt nun aus (GGU) wiederum auch die Wahrheit von non-(GGU), dann reprsentiert (GGU) (und mithin auch non-(GGU)) eine metaphysische These im schlechten Sinne. Folgt indes aus der Annahme der Wahrheit von (GGU) das Resultat, dass non-(GGU) nicht wahr sein kann, dann folgt aus der Alternativenbildung (~) einzig die Geltung des „oder“-Satzes. Letzteres ist der Fall und wir argumentieren somit fr den zweiten Teil unserer These durch das Subargument: (A2) Verfechter von (GGU) sind nicht nur nicht auf die Anerkennung der Leugner der Unterscheidung verpflichtet, sondern der Gehalt von (GGU) entlarvt non-(GGU) als sinnlos. Wer die Unterscheidung von Geltung und Genese anerkennt, der vertritt selbstverstndlich auch in Bezug auf die These (GGU) die Auffassung, dass die Frage nach den Ursachen des Frwahrhaltens von (GGU) irrelevant ist fr die Frage nach der Geltung von (GGU). Ausnahmslos alle Grnde, die ein Verfechter von (GGU) fr ihre Wahrheit vortrgt, sind Geltungsgrnde und damit a fortiori keine Einsichten des Entstehungszusammenhangs. Ein besonders zentraler dieser Geltungsgrnde besteht gerade in der Formulierung eines Arguments, durch das andemonstriert wird, dass ein Verfechter von non-(GGU) kein Begrndungspotenzial entfalten kann, um non-(GGU) gegenber (GGU) hervorzuheben. Ein solches Argument hatten wir soeben skizziert: (A1). Es bestand in der Sttzung der These, dass Leugner von (GGU) auf die Anerkennung der Verfechter von (GGU)
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
verpflichtet sind und sich damit bereits selbst immanent widerlegen. Neben diesem argumentationsstrategischen Argument fhrt der Proponent der Geltung-Genese-Unterscheidung weitere Argumente an, wie wir sie etwa in 1.2.2 und 1.2.3 prsentiert haben. Diese Argumente operierten durchweg mit der strikten Trennung von Geltung und Genese, wobei im Besonderen zwei Einsichten etabliert wurden: Wer die Frage nach der Geltung auf jene nach der Genese zurckfhren mçchte, kann schließlich nicht mehr begrndet zwischen wahren und falschen Meinungen unterscheiden. Wer die Frage nach der Geltung ber ein empirisches Wissen aus dem Kontext der Genese beantworten mçchte, muss immer schon die Verfgbarkeit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch voraussetzen, denn die empirischen Thesen bezglich des Zustandekommens des Frwahrhaltens kçnnen berhaupt nur dann etwas (freilich Geltungsirrelevantes) erklren, wenn diese Thesen selbst wahr sind. Mit der Formulierung von Argumenten dieser Form gelingt dem Verfechter von (GGU) nicht nur die Suspendierung des Opponenten, sondern er fhrt zugleich dessen These non-(GGU) als sinnlos vor. Da sowohl der Proponent als auch der Opponent der Geltung-GeneseUnterscheidung ihre jeweilige These begrnden wollen, macht nunmehr der Verteidiger von (GGU) geltend, dass gerade aufgrund von (GGU) die Begrndungsfrage im Kontext der Geltung stattzufinden hat, d. h. alle Grnde, die fr oder gegen die Wahrheit von (GGU) sprechen, drfen keine empirischen Bedingungen fr das Zustandekommen des Frwahrhaltens sein. Doch damit ist dem Opponenten von (GGU) auch schon der argumentative Raum entzogen, weil dieser aus Konsistenz- und Kohrenzgrnden ausschließlich generische Grnde vortragen kçnnte. Die Angabe von Ursachen des Frwahrhaltens werden vom Verfechter von (GGU) aber als unzulssige, weil irrelevante Argumente umgehend zurckgewiesen, da sie – auch im Falle der Geltungsprfung von (GGU) – im Begrndungszusammenhang nichts zu suchen haben. Dies mag als Ausfhrung reichen, um anzuzeigen, dass der Verteidiger der Geltung-GeneseUnterscheidung berhaupt nicht auf die Akzeptanz der These seines Opponenten verpflichtet ist. Darber hinaus erweist sich im Rahmen der Verteidigung von (GGU) die These non-(GGU) sogar als sinnlos, weil die Annahme der Wahrheit von non-(GGU) nicht nur zugleich auch die Wahrheit von (GGU) impliziert, sondern die Geltung der Geltung-Genese-Unterscheidung immer schon prsupponiert werden muss, um *
*
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
61
berhaupt ber die Mçglichkeit begrndeter Aussagen und zulssiger Erklrungen im Kontext der Genese zu verfgen. Damit kommen wir zur abschließenden Formulierung unseres Arguments von der argumentationsstrategischen Asymmetrie, das sich als ein Argument pro (GGU) erwiesen hat: 1. non-(GGU) { (GGU) 2. non-(GGU) : 3. (GGU) 4. (GGU) : 5. non-(GGU) x c88 6. (GGU) 7. (GGU)
| | } | j } | | |
Prmisse (~) Annahme mit A1 hngt von A1 und damit von Zeile 2 ab Annahme mit A2 hngt von A2 und damit von Zeile 4 ab folgt aus Zeile 5 folgt aus Zeile 1 unter Verwendung von 2 – 6
Diese schematische Darstellung legt noch einmal offen, dass die Fallunterscheidung der Entscheidungsfrage stets zu demselben Resultat fhrt: Die Geltung-Genese-Unterscheidung ist anzuerkennen. Eine Besonderheit unserer Untersuchung besteht darin, dass die hier im Mittelpunkt stehende These nicht die epistemologische blichkeit aufweist, dass im Falle ihrer Sinnhaftigkeit auch ihre Negation sinnvoll ist. Vielmehr folgt aus der universalen Sinnhaftigkeit von (GGU) die Sinnlosigkeit von non-(GGU). Wenn wir nunmehr zur Explikation weiterer Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens schreiten, so wird sich schließlich herausstellen, dass es gerade ein Merkmal der epistemologischen Sinnbedingungen ist, dass sie nicht sinnvoll in Frage gestellt oder gar widerlegt werden kçnnen.89
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens 1.3.1 „Voraussetzen“ und „Prsupponieren“ Bevor wir voranschreiten, bedarf es zur Vermeidung von Missverstndnissen einiger weiterer terminologischer Klrungen. Wir beginnen mit der 88 Dass sich non-(GGU) ausgehend von der Geltung von (GGU) als sinnlos erweist, lsst sich mit den verwendeten Mitteln nicht darstellen. Deshalb beschrnken wir uns auf die Darstellung, dass sich non-(GGU) ad absurdum fhrt. 89 Siehe im Besonderen 1.3.2.2.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Rede vom „voraussetzen“, da dieser Ausdruck verschiedene Bedeutungen besitzt. 1.3.1.1 Eine Prsupposition ist keine Prmisse Wenn eine Bedingung „prsupponiert“ wird, so meint dies im gemeinen deutschen Sprachgebrauch erst einmal, dass diese Bedingung „vorab“ bzw. „von vorneherein“ (= „pr“) „unterstellt“, „unterlegt“ oder eben „vorausgesetzt“ (= „supponiert“) wird. „Supponieren“ ist lateinischen Ursprungs und geht auf das Verb „supponere“ (sub = unter, ponere = setzen) zurck. Diese sprachlichen Wurzeln lassen allerdings noch vollkommen offen, wie es um das Begrndungsgeflecht zweier Aussagen bestellt ist, von denen die eine die andere „voraussetzt“. blicherweise gebrauchen wir das Verb „voraussetzen“ als Handlungsprdikat in dem Sinne, dass etwas durch jemanden relativ zu einem bestimmten Zweck vorausgesetzt wird. In 1.3.2 werden wir ausfhren, dass der Ausdruck zudem eine Bedeutung als Widerfahrnisprdikat besitzt. Im Deutschen haben wir im Wesentlichen zwei Verwendungsweisen fr den Ausdruck „voraussetzen“. Entweder beziehen wir uns damit auf eine Prmisse in einem Argument oder aber auf das Implikat, das sich relativ zu einem Bedingungsgeflecht folgern lsst. Wenn so etwa der Mathematiklehrer die Schlussfolgerung des Schlers „aus der Konstruktion meines Dreiecks folgt, dass die Innenwinkelsumme dieser Figur gleich 180 Grad ist“ mit den Worten kommentiert „dann setzt du aber neben Deinen weiteren Begrndungsmitteln die Geltung des Parallelenpostulats voraus“, dann meint „Voraussetzung“ hier „ist eine Prmisse“: Voraussetzen1: " setzt ! voraus1 O ! ist eine Prmisse fr die Begrndung von " (!, S V" und S u")
Zwar folgt die Geltung des Parallelenpostulats (ber dem Bezugssystem der absoluten Geometrie) auch aus dem besagten Innenwinkelsummensatz. Entscheidend ist aber, dass Letzterer nicht begrndet werden kann, wenn das fnfte euklidische Postulat (oder ein quivalenter Satz) nicht als Prmisse gesetzt ist. Dem gegenber verfgen wir in der deutschen Sprache noch ber einen zweiten Begriff, der mit dem Gebrauch des Ausdrucks „voraussetzen“ in Anspruch genommen werden kann: die Prsupposition. Wenn wir so etwa auf die Frage „Wer hat dich verrgert?“ antworten „Es war der Mathematiklehrer, der mich korrigiert hat“, dann setzt der Gebrauch der Kennzeichnung „der Mathematiklehrer, der mich korrigiert hat“ voraus, dass es auch (genau) eine Person gibt, auf die diese Beschreibung zutrifft. In
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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unserem Sprachgebrauch ist die Existenz der besagten Person jedoch keine Begrndungsprmisse fr die gegebene Antwort, sondern mit der Antwort wird die Existenz der Person prsupponiert: Wenn die Antwort sinnvoll und verstndlich sein soll (was wir blicherweise unterstellen), dann muss es (genau) eine Person geben, auf die die Beschreibung zutrifft.90 Die Verwendung eindeutiger Kennzeichnungen impliziert also ihre Erflltheit: Voraussetzen2 :
" setzt ! voraus2 O
! ist eine Prsupposition der Aussage " ("V! (in einer ersten Nherung))
Wenn im Folgenden die Wendung „! setzt " bereits voraus“ verwendet wird, dann meint dies nicht, dass " eine Prmisse wre, von der ausgehend ! begrndet wird. Vielmehr meint „Voraussetzen“ hier, dass das Bestehen von " eine notwendige Bedingung fr das Bestehen von ! ist, d. h. ! impliziert ". So setzt etwa eine messende Physik die Geltung der Euklidischen Geometrie voraus, insofern ein jedes durch experimentelle Praxen gewonnene, physikalische Wissen bereits aufgrund des investierten gertetechnischen Know-hows die Geltung der Euklidischen Geometrie in Anspruch nimmt. Wrden wir – aus welchen Grnden auch immer – die Geltung der Euklidischen Geometrie in Frage stellen, so wrden wir damit umgehend auch die Geltung unserer experimentell gewonnenen Resultate bezweifeln. Sofern nun eine Bedingung " in einem gehaltvollen Sinne eine Ermçglichungsbedingung fr Erfahrung berhaupt sein soll (und nur so sollte „a priori“ in Anwendung auf lebensweltliches und wissenschaftliches Wissen verstanden werden), dann muss " notwendigerweise berall dort realisiert sein, wo Erfahrung mçglich sein soll. Im Besonderen stehen also im Fall unserer Erfahrungswirklichkeit auch alle lebensweltlichen Wissensbestnde unter der Geltung einer solchen apriorischen Bedingung ". Diese terminologischen Vorbemerkungen ergnzen wir sogleich um eine Klrung der Rede von „Notwendigkeit“. Wenn eine Aussage ! notwendig gelten soll, dann meint dies stets, dass ! relativ zu einem Hintergrundwissen S notwendigerweise gilt, genau dann wenn die Aussage ! logisch aus S folgt:91 (Def#) #S ! O SV! Ist S etwa eine physikalische Theorie und ! ein Satz, der aus dieser Theorie logisch folgt, dann ist ! physikalisch notwendig. Ist S indes ein rein logisches System, dann ist ! logisch notwendig, was aber nichts anderes 90 Siehe 1.3.1.2.2. 91 Siehe Lorenzen, Normative Logic and Ethics, 62.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
besagt, als dass ! eine Tautologie ist. Nicht ganz so trivial ist die Rede von „notwendig“, wenn ! eine Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung berhaupt sein soll, denn in diesem Fall kçnnen wir nicht einfach einen lebensweltlichen Wissensbestand als Hintergrundwissen investieren, insofern Ermçglichungsbedingungen auch einen beliebigen lebensweltlichen Wissensbestand allererst – wie es der Name schon sagt – ermçglichen sollen. Doch auf diesen Punkt kommen wir in 1.3.2 ausfhrlicher zurck. Zwei Anmerkungen zu (Def#) sind noch geboten. Zum einen macht die Definition explizit, dass unsere Verwendung der Modaloperatoren stets kontextgebunden ist („relativ zu S“). Dies bergehen wir hufig, weil wir in der Regel schlicht nur von „notwendig“ usw. sprechen und nicht „notwendig relativ zu…“. Unsere abkrzende Rede in Wissenschaft und Alltag ist im Regelfall unproblematisch, da bereits der Redekontext hinreichend festlegt, worauf mit der modalen Rede Bezug genommen wird. Zum anderen versieht (Def#) die Modaloperatoren mit einer metasprachlichen Beweissemantik (unter Verwendung von „V“), womit adquat wiedergegeben wird, dass wir mit dem Gebrauch der Modalausdrcke – obwohl wir sie in der Objektsprache benutzen – etwas ber die Geltungsbedingungen von Aussagen zum Ausdruck bringen. 1.3.1.2 Die Rede vom Prsupponieren in der Kennzeichnungstheorie Bevor wir zum „sinnhaften Prsupponieren von Rede berhaupt“ kommen, bietet es sich an, die Rede vom Prsupponieren in jenem Feld zu analysieren, fr das es eine angestammte Bedeutung besitzt und in dem es zu einer gewissen Prominenz gekommen ist: Strawsons Kennzeichnungstheorie. Diesem Exkurs kommt nicht nur die Funktion zu, auf die Verwendung des Ausdrucks „prsupponieren“ berhaupt einzustimmen, sondern er bernimmt bereits die Aufgabe, deutlich zu machen, dass der Akt des Prsupponierens stets Bezug nimmt auf Gelingensbedingungen von Redehandlungen. Strawsons wohl berhmtester Aufsatz endet mit der kurzen, aber gleichermaßen aussagekrftigen Bemerkung „ordinary language has no exact logic“92 – die normale Sprache kennt keine exakte Logik. Obwohl oder gerade weil Strawson bereits im Alter von 18 Jahren Logik zu einem seiner Studienschwerpunkte in der Philosophie erkor, entwickelte er – geprgt durch das geistige Klima der ordinary language philosophy im Oxford der 1940er Jahre – eine differenzierte Einstellung gegenber den 92 Strawson, „On Referring“, 344.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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Analysemçglichkeiten und der Erklrungsreichweite der modernen formalen Logik. Bedingt durch die nachhaltige Metaphysikkritik der logischen Empiristen und die Erfolge der Philosophie der idealen Sprache begrßt auch Strawson die Leistungsstrke der logischen Analyse, aber er erkennt auch ihre grundstndigen Schwchen.93 So beginnt er 1948 seine Argumente fr und gegen die Logik als Analysemittel fr Kennzeichnungen in seiner Vorlesungsreihe „Names and Descriptions“ zu entfalten, deren Extrakt schließlich 1950 zur Verçffentlichung von „On Referring“ fhrte. Um Strawsons Kennzeichnungstheorie jedoch angemessen wrdigen zu kçnnen, mssen wir die ihr zugrunde liegende Problemgeschichte mehr als einen Schritt zurckverfolgen. 1.3.1.2.1 Ausdrcke als Namen: Meinong und Russell 45 Jahre zuvor verçffentlichte Bertrand Russell einen fr Jahrzehnte und Generationen von Philosophen kanonischen Ansatz zur Behandlung benennender Ausdrcke, von dem nicht wenige sagten, er sei ein Paradigma der Philosophie.94 Auf dem spekulativ-metaphysisch fruchtbaren Boden um die Jahrhundertwende vollzog Russell, obgleich fr kurze Zeit selbst anfllig fr spekulative Exkurse, als einer der ersten nach Gottlob Frege eine Hinwendung zum sprachkritischen Philosophieren, dem gemß philosophische Probleme erst einmal Probleme in ihrer sprachlichen Formulierung sind. Diese Entwicklung erfolgte aus aktuellem Anlass: Der BrentanoSchler und Zeitgenosse Russells Alexius Meinong entwickelte eine Gegenstandstheorie, die von dem – seinerzeit weiter verbreiteten – bedeutungstheoretischen Grundsatz ausging, dass man nicht urteilen kann, ohne ber etwas zu urteilen. Nicht zuletzt geprgt durch Frege vertrat neben Meinong auch Russell die Auffassung, dass die Bedeutung eines Ausdrucks in dem durch ihn benannten Gegenstand besteht: Wenn ein Ausdruck bedeutungsvoll ist, dann muss es irgendetwas geben, das die Bedeutung dieses Ausdrucks ist.95 Da etwa der Satz „Strawson ist Philosoph“ sinnvoll ist, muss jeder der in ihm enthaltenen Ausdrcke eine Bedeutung besitzen. 93 Strawson, „Intellectual Autobiography“, 8 f.: „modern formal logic is not an adequate instrument for revealing clearly all the structural features of language as we use it. Rather, it is an idealized abstraction of great power and beauty, an indispensable tool indeed for clarifying much of our thought, but not, as some are tempted to suppose, the unique and sufficient key to the functioning of language and thought in general“. 94 Etwa Ramsey, „Last Papers“, 263, Fußnote 1. 95 Russell, The Principles of Mathematics, §46.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Die Bedeutung des Namen „Strawson“ besteht mithin in dem durch den Namen benannten Gegenstand: die Person P.F. Strawson. Indes besteht die Bedeutung des Prdikats „ist Philosoph“ in dem durch das Prdikat benannten „allgemeinen Gegenstand“: den Begriff bzw. die Universalie „Philosoph sein“. Nach dieser Bedeutungstheorie sind also letztlich alle Ausdrcke Namen. Selbst wenn man einmal die Frage, welche Gegenstnde durch logische Partikel benannt werden, beiseite legt, so ergeben sich umgehend Probleme fr benennende Ausdrcke der Form „der Mann im Mond“. Man kann dieses Problem zwar elegant dadurch lçsen, indem nicht-referierende Kennzeichnungen die leere Menge bzw. die Zahl Null vertreten96, weil damit auch diese Kennzeichnungen einen Gegenstand benennen und a fortiori eine Bedeutung besitzen wrden. Allerdings ist diese Behandlung relativ zu unseren Sprachblichkeiten nicht zufriedenstellend, da etwa Stze wie „der Mann im Mond ist identisch mit dem kleinen Kobold in meiner Uhr“ als wahr auszuweisen sind, insofern hier schlicht die Identitt der leeren Menge/der Null behauptet wird. Meinong ging die Lçsung des Problems indes gnzlich anders an, indem er den Grundsatz „wenn wir urteilen, dann urteilen wir immer ber etwas“ durch Einfhrung verschiedener Seinsweisen ontologisch unterftterte: Wenn wir sinnvolle Aussagen vortragen, in denen Namen auftreten, die fr etwas stehen, das es nicht gibt, dann muss der so benannte Gegenstand in irgend einem anderen Sinne „bestehen“. Mit diesem Lçsungsansatz sympathisierte auch Russell noch um 1903/04.97 Gegenstand der Erkenntnis sind fr Meinong nicht nur Objekte der Erfahrungswirklichkeit, sondern unter anderem auch abstrakte Gegenstnde wie Zahlen oder geometrische Figuren. Letzteren kommt zwar kein „Sein“ im strengen Sinne zu („sie sind nicht wirklich wie etwa der ThrosGrill in meinem Garten“), wohl aber ihren Eigenschaften ein „Sosein“, denn wir kçnnen sinnvoll ber die Primzahleigenschaft der Zahl Sieben ebenso etwas aussagen, wie ber die Winkelsummeneigenschaft von Dreiecken. Folglich bleibt das „Sosein“ eines Gegenstandes durch dessen „Nichtexistenz“ unberhrt und wir kçnnen die ontische Unabhngigkeit des „Soseins“ vom „Sein“ konstatieren. Dieses fr Meinong grundlegende Prinzip gilt nun nicht nur fr abstrakte Gegenstnde (wie etwa Zahlen oder geometrische Figuren) oder solche, die faktisch nicht existieren (wie etwa ein zehn Meter großer Mann), sondern auch fr jene, die nicht existieren kçnnen, weil sie unmçglich sind wie etwa das runde Viereck. Da wir jedoch 96 So etwa Frege, „ber Sinn und Bedeutung“, 155. 97 Russell, The Principles of Mathematics, §47, §427.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
67
problemlos zu dem Urteil gelangen kçnnen, dass es das runde Viereck nicht gibt, muss es nach dem Meinongschen Grundsatz etwas geben, ber das in diesem Fall geurteilt wird. Mithin gibt es Gegenstnde, von denen gilt, dass es selbige nicht gibt: soll ich in betreff eines Gegenstandes urteilen kçnnen, daß er nicht ist, so scheine ich den Gegenstand gewissermaßen erst einmal ergreifen zu mssen, um das Nichtsein von ihm aussagen, genauer es ihm zuurteilen, oder es ihm aburteilen zu kçnnen.98
Nach Meinongs Ansatz gilt also fr nicht wenige Gegenstnde g: „Um begrndet zu dem Urteil ,Es gibt kein g‘ kommen zu kçnnen, muss vorausgesetzt werden, dass es g in einer bestimmten Seinsweise gibt.“ Entsprechend ist der Satz „Es gibt kein rundes Viereck“ wie folgt grammatisch zu analysieren: „Das runde Viereck“ reprsentiert das Subjekt dieses Satzes und kann durch die Individuenkonstante c vertreten werden. Das Prdikat des Satzes ist „es gibt“ (kurz: E(+)), das dem grammatischen Subjekt c abgesprochen wird. Nach Meinong ist der Beispielsatz also von der grammatischen Form „nicht-E(c)“. Da die Berechtigung zur Urteilsfllung „nicht-E(c)“ eine bestimmte Seinsweise von c voraussetzt („E2(c)“; „E2“ vertritt hier „ist existent als Gegenstand der Erkenntnis“), kommen wir zu dem sonderbaren Resultat: (*) Die „Nichtexistenz“ von c im Sinne von E(+) impliziert die Existenz von c im Sinne E2(+). Dieses Ergebnis ist aus einer sprachkritischen Perspektive die Folge eines Scheinproblems, insofern sich Meinongs Behandlung des Ausdrucks „Existenz“ einer fehlerhaften Behandlung der logischen Struktur von Stzen verdankt. Weder ist „Existenz“ eine Eigenschaft, die als Prdikat Gegenstnden zu- oder abgesprochen werden kann, noch ist „das runde Viereck“ das (logische) Subjekt des Satzes. Russell war trotz seiner anfnglichen Sympathie der erste, der darauf aufmerksam machte, dass man das grammatische Subjekt unseres Beispielsatzes nicht zum logischen Subjekt erklren drfe – es sei denn, man akzeptierte Meinongs fragwrdiges Reich unmçglicher Gegenstnde. Russell pldierte allerdings dafr, dass man im Falle verfgbarer Alternativen jene Theorie bevorzugen sollte, die nicht nur Resultate der Form (*) vermeidet, sondern deren Plausibilitt
98 Meinong, „ber Gegenstandstheorie“, 491.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
nicht der ontologischen Annahme eines Reiches unmçglicher Gegenstnde bedarf.99 Im Mittelpunkt von Russells – wie spter auch Strawsons – Betrachtung steht der Gebrauch von Demonstrativ- und Personalpronomen (wie „dies“, „ich“, „hier“, „jetzt“, „gestern“), Eigennamen (wie „23. November 1919“, „Bertrand Russell“) und vor allem der von Kennzeichnungen (wie „der Mann, der gestern an der Ecke stand“, „der Autor von Individuals“, allgemein: „der/die/das so-und-so“). Betrachten wir exemplarisch den fr Philosophen wohlvertrauten Satz (S) „Der gegenwrtige Kçnig von Frankreich ist kahlkçpfig“, dann beinhaltet dieser Satz die Kennzeichnung „der gegenwrtige Kçnig von Frankreich“. Whrend „ist kahlkçpfig“ problemlos als Prdikat aufgefasst werden kann, darf die Kennzeichnung als benennender Ausdruck nicht durch eine Individuenkonstante vertreten werden, insofern eine Individuenkonstante als Name einen Gegenstand vertritt, den es jedoch im vorliegenden Fall nicht gibt. Russells Analyse setzt bei der Einsicht an, dass Stze, die kennzeichnende Ausdrcke enthalten, von einer grundstzlich anderen logischen Form sind als „P(c)“ („dem durch ,c‘ benannten Gegenstand kommt die Eigenschaft P zu“). Einen Satz logisch zu analysieren, bedeutet nach Russell, ihn in eine Form zu bringen, in dem seine bedeutungsvollen Konstituenten (Satzbestandteile) in einer eineindeutigen Relation zu den Konstituenten des durch ihn bestimmten Sachverhalts stehen. Hier besteht nach Russell ein grundstndiger Unterschied zwischen Eigennamen und Kennzeichnungen. Whrend Eigennamen logisch atomar sind und nicht weiter in bedeutungskonstitutive Bestandteile zerlegt werden kçnnen, ist fr Kennzeichnungen festzustellen, dass sie per definitionem nicht logisch atomar sind und mithin auch in bedeutungskonstitutive Bestandteile zerlegt werden kçnnen.100 Whrend Russell weiterhin an der Auffassung festhlt, dass die Bedeutung eines Namens in dem durch ihn benannten Gegenstand besteht, behauptet er nun fast durchgehend, dass Kennzeichnungen keine Bedeutung in diesem Sinne besitzen. Vielmehr ist die Bedeutung einer Kennzeichnung festgelegt durch die Bedeutung ihrer bedeutungskonstitutiven Bestandteile. Nach Russell verstehen wir die Bedeutung der Kennzeichnung „der Autor der Kritik der reinen Vernunft“, wenn wir um die Bedeutung der Ausdrcke „Autor“, „Kritik der reinen 99 Russell, „On Denoting“, 107 f. 100 Siehe hierzu vor allem Russell, The Philosophy of Logical Atomism, Lecture VI „Descriptions and Incomplete Symbols“.
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Vernunft“ sowie um deren relevante Komposition wissen. Die Bedeutung der Kennzeichnung „der Autor der Kritik der reinen Vernunft“ zu verstehen, bedeutet nun also nicht mehr, dass man weiß, wer durch diese Kennzeichnung benannt wird – mithin besteht die Bedeutung einer Kennzeichnung nicht mehr in dem durch sie benannten Gegenstand. Da die Bedeutung der bedeutungskonstitutiven Satzbestandteile in den ihnen eineindeutig zugeordneten Konstituenten des korrespondierenden Sachverhalts besteht, Kennzeichnungen in diesem Sinne aber keine Bedeutung besitzen, kçnnen Kennzeichnungen ihrerseits keine bedeutungskonstitutiven Satzbestandteile darstellen und mssen mithin im Rahmen einer logischen Analyse von Stzen in ihre bedeutungskonstitutiven Bestandteile aufgelçst – eliminiert – werden. Da eindeutige Kennzeichnungen („definite descriptions“) von der Form „es gibt genau ein so-und-so“ sind, letzteres logisch aber nichts anderes besagt als „es gibt mindestens ein so-und-so und es gibt hçchstens ein so-und-so“, ist nach Russell der Satz (S) als Konjunktion von drei Stzen zu verstehen: (S1) „Es gibt mindestens einen gegenwrtigen Kçnig von Frankreich.“ (S2) „Es gibt hçchstens einen gegenwrtigen Kçnig von Frankreich.“ (S3) „Es gibt nichts, was gegenwrtiger Kçnig von Frankreich und nicht kahlkçpfig ist.“ Da der Satz (S1) falsch ist, und eine Konjunktion bereits dann falsch ist, wenn mindestens einer der Teilstze falsch ist, folgt, dass der Satz (S) schlicht und ergreifend falsch ist. Mithin folgt aus Russells Theorie, dass Stze, die nicht-referierende Kennzeichnungen enthalten, nicht sinnlos, sondern falsch sind. 1.3.1.2.2 „Referieren ist nicht Behaupten“: Strawsons Ansatz Obgleich Strawson Russells Theorie als „elegant und genial“101 beurteilt, so war sie doch fr die von ihm verfolgten Ansprche nicht zufriedenstellend. Bedingt durch seine differenzierte Haltung gegenber den Leistungsmçglichkeiten der modernen formalen Logik kam Strawson zu der Einsicht, dass Russells Form der Behandlung von Kennzeichnungen unangemessen ist, insofern sie die wesentlichen Funktionen, die wir fr die Verwendung von Kennzeichnungen vorsehen, nicht bercksichtigt. Dies betrifft im besonderen Russells Vernachlssigung von pragmatischen, 101 Siehe Strawson, „Intellectual Autobiography“, 7.
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kontextuellen und kommunikativen Aspekten im Gebrauch von Kennzeichnungen. Es berrascht daher wenig, wenn Strawsons Kritik an Russells Theorie auf die Bedarfsforderung nach einer neuen Kennzeichnungstheorie hinausluft – kollidieren an dieser Stelle doch zwei grundlegend verschiedene Verstndnisse von Sprachphilosophie: Die Philosophie der idealen Sprache, nach der die vage und zu Missverstndnissen neigende Umgangssprache durch eine formale Sprache zu ersetzen oder durch eine solche zumindest zu analysieren ist, und die Philosophie der normalen Sprache, nach der Mngel der Umgangssprache durch Begriffsklrung zwar behoben werden sollen, aber ansonsten eine Przisierung der Umgangssprache – unter Beibehaltung selbiger – angestrebt wird. So soll Strawson auf die Bemerkung seines frheren Tutors und spteren Kollegen Paul Grice „If you can’t put it in symbols, it’s not worth saying“ hin geantwortet haben „If you can put it in symbols, it’s not worth saying“.102 Fr Strawson ist der bergang von einem Satz !, in dem eine nicht-referierende Kennzeichnung Verwendung findet, zu dem Urteil, dass ! falsch sei, ein „misslungener Zug“ im Sprachspiel. Strawsons Kritik an Russells Ansatz setzt bei der Diagnose an, dass Russell seine Kennzeichnungstheorie gleichsam durch Analyse isoliert stehender Stze und Ausdrcke aufbaut, die in keinen Gebrauchskontext eingebettet sind. Dadurch bersieht Russell eine Vielzahl von wichtigen Unterscheidungen, die nach Strawson allesamt einschlgig fr eine angemessene Behandlung von Kennzeichnungen sind. Im Besonderen wirft Strawson Russell vor103, i) nicht sorgfltig zwischen Stzen und ihrer Bedeutung zu unterscheiden. ii) die Verwendung eines Satzes mit den Bedingungen seines sinnvollen Gebrauchs zu verwechseln. Damit wird bereits angezeigt, dass Strawson den bedeutungstheoretischen Grundsatz – die Bedeutung eines Ausdrucks besteht in dem durch den Ausdruck benannten Gegenstand – ablehnt. Betrachten wir zuerst die Unterscheidung zwischen einem Satz und seiner Bedeutung. Machen wir etwa Aussagen ber den Satz „Der Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy ist der Autor von Individuals“, die invariant bezglich des ußerungskontextes sind (also im Besonderen invariant bezglich der Frage, wer den Satz wann ußert), dann sprechen 102 Nach The Guardian 15. 02. 2006. 103 Vgl. Strawson, „On Referring“, 327.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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wir ber dasselbe Satzschema bzw. denselben Satztyp. Dies meinen wir, wenn wir sagen, dass derselbe Satz zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Personen verwendet wird. In Bezug auf den Satztyp ist ein Satz also immer derselbe. Fragen wir nun nach der Bedeutung eines so verstandenen Satzes, dann lassen sich problemlos kontextinvariant Bedingungen angeben, die (im Einzelfall und damit kontextsensitiv) erfllt sein mssen, damit der Satz wahr ist: Was oder wer auch immer der Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy sein mag, der Satz ist nur dann wahr, wenn dieser Gegenstand, der da Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy ist, auch der Autor von Individuals ist. Diese Geltungsbedingung nimmt auf keinen individuellen Kontext Bezug, sondern legt fest, was im Einzelfall der Fall zu sein hat, damit der Satz wahr ist. Strawson weist folglich darauf hin, dass die „Bedeutung eines Satzes angeben“ nichts anderes besagt als „die allgemeinen Anweisungen fr seinen Gebrauch angeben, um wahre oder falsche Behauptungen aufstellen zu kçnnen“104. Als solcher ist der Satz weder wahr noch falsch, da mit ihm ohne Bezugnahme auf einen Kontext ja nichts behauptet – kein Sachverhalt dargestellt – wird: Der Satztyp als solcher besitzt keinen Fregeschen Sinn. Dies ndert sich grundlegend, wenn der Satz in einem Kontext von einer Person geußert und damit gebraucht wird. Angenommen, der Satz wird von Russell einmal 1965 und einmal 1970 geußert. Dann hat Russell 1965 etwas Falsches behauptet, whrend er 1970 etwas Wahres behauptet.105 Besonders deutlich wird die Unterscheidung zwischen Satztyp und Gebrauch eines Satzes im Falle der Verwendung des Personalpronomens „ich“, denn in diesem Fall hngt die Wahrheit eines geußerten Satzes nicht nur vom Zeitpunkt der ußerung ab, sondern vor allem davon, von wem er geußert wird. Dieser Unterschied zwischen Satztyp und Satzgebrauch zeigt sich besonders deutlich in Redesituationen, in denen nicht nur Stze gebraucht werden, sondern auch Satztypen als solche Verwendung finden. So kçnnen wir uns – wie wir es soeben getan haben – den Satz „Der Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy ist der Autor von Individuals“ einfach einmal zur exemplarischen Betrachtung vorlegen, um etwa den Unterschied zwischen Satztyp und Gebrauch eines Satzes zu verdeutlichen. Indem wir den Satz aber als Satztyp behandeln, kçnnen wir nicht sinnvoll die Frage stellen, ber 104 Vgl. ebd., 327. 105 1965 war Gilbert Ryle noch Inhaber des Waynflete-Lehrstuhls fr Metaphysik, 1968 bis 1987 hatte ihn dann Strawson inne. Und der Vollstndigkeit halber mssen wir noch ergnzen: Ryle ist nicht der Autor von Individuals, wohl aber Strawson.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
welchen Gegenstand hier eine Aussage gemacht wird. Die Frage „Von welchem Gegenstand handelt der Satz?“ kann nur dann sinnvoll gestellt werden, wenn der in Frage stehende Satz auch gebraucht wurde. In Anwendung auf einen Satztyp wre sie absurd. Bisher haben wir zwischen dem Satz als solchem und seinem Gebrauch unterschieden. Nun htte aber 1970 nicht nur Russell den Satz „Der Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy ist der Autor von Individuals“ behaupten kçnnen, sondern zudem etwa auch Ryle. In dem Fall, dass sowohl Russell als auch Ryle 1970 den Satz behauptet haben, vollzogen sie verschiedene ußerungen des Satzes, whrend sie den Satz in derselben Weise gebrauchten. Dem individuellen Gebrauch eines Satzes liegt also immer eine individuelle und damit – von allen anderen Vorkommnissen verschiedene – ußerung zugrunde. Daher ist es eine banale Einsicht, dass aus der Verschiedenheit des Gebrauchs eines Satzes erst recht die Verschiedenheit der zugrunde liegenden ußerungen folgt. Zwar folgt – wie unser Beispiel bereits gezeigt hat – aus der Verschiedenheit der ußerungen eines Satzes nicht, dass der Satz auch verschieden gebraucht wird, aber hier gibt es eine nennenswerte Besonderheit: Sofern zwei Personen einen Satztyp gebrauchen, in dem das Pronomen „ich“ Verwendung findet, so liegen nicht nur zwei verschiedene ußerungen vor, sondern – aufgrund der Verwendungsbedingungen des Ausdrucks „ich“ – immer auch verschiedene Gebruche des Satzes. So unterscheidet Strawson sowohl fr Stze als auch fr Ausdrcke folgende Aspekte: (A1) (A2) (A3)
Satz(typ) Gebrauch eines Satzes ußerung eines Satzes
(B1) (B2) (B3)
Ausdruck(styp) Gebrauch eines Ausdrucks ußerung eines Ausdrucks
Betrachten wir (A1) bzw. (B1) und vergegenwrtigen wir uns die Unterscheidungsabsichten Strawsons, so kann zusammenfassend festgestellt werden, dass sich weder Stze noch Ausdrcke von selbst auf irgendetwas beziehen. Erst indem sie von einem Sprecher geußert ((A3) bzw. (B3)) und damit in einem bestimmten Sinne gebraucht ((A2) bzw. (B2)) werden, konstituieren sie einen bestimmten Sachverhalt (im Fall von Stzen) oder beziehen sich auf einen bestimmten Gegenstand (im Fall von benennenden Ausdrcken, insbesondere Kennzeichnungen). Whrend also die Wahrheit oder Falschheit von Stzen eine Funktion im Gebrauch von Stzen ist, stellen Nennen und Referieren Funktionen im Gebrauch von Ausdrcken dar. Fr sich genommen (also als Ausdruckstypen) referieren weder „der Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy“ noch „der (gegenwrtige) Kçnig von Frankreich“ auf Gegenstnde, sondern es ist erst deren
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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Gebrauch, mit dem referiert werden kann. „Nennen“ und „Referieren“ sind ein Merkmal des Gebrauchs von Ausdrcken. Strawsons erster Kritikpunkt an Russell luft somit auf die Feststellung hinaus, dass letzterer nicht hinreichend zwischen (A1) und (A2) bzw. zwischen (B1) und (B2) unterscheidet. Wenden wir uns nunmehr dem Kritikpunkt ii) zu, dem gemß Russell die Verwendung eines Satzes mit den Bedingungen seines sinnvollen Gebrauchs verwechselt. Nach Russell sind die beiden Stze „Der gegenwrtige Kçnig von Frankreich ist kahlkçpfig“ und „Es gibt gegenwrtig genau einen Kçnig von Frankreich, und dieser Kçnig ist kahlkçpfig“ gleichbedeutend, insofern der Satz (S) nach der Russellschen Analyse genau als Konjunktion der Teilstze (S1) bis (S3) aufzufassen und als solche zu behandeln ist. Indem wir also behaupten, dass der gegenwrtige Kçnig von Frankreich kahlkçpfig ist, behaupten wir nach Russell zugleich die Existenz eines kahlkçpfigen Kçnigs von Frankreich. Strawson bestreitet nun nicht, dass (S) – sofern er gebraucht wird – ein sinnvoller Satz ist oder dass (S1) bis (S3) notwendige Bedingungen fr die Wahrheit von (S) darstellen, sofern (S) behauptet wird. Selbstverstndlich mssen die durch (S1) bis (S3) beschriebenen Sachverhalte bestehen, damit man mittels der Behauptung von (S) etwas Wahres sagt. Beide stimmen also in folgenden beiden Punkten berein: • Wer (S) behauptend gebraucht, der ußert einen sinnvollen Satz. • Wer (S) zum Zeitpunkt t behauptend gebraucht, der wrde nur dann eine wahre Aussage behaupten, wenn es zum Zeitpunkt t tatschlich genau einen Kçnig von Frankreich gibt, der kahlkçpfig ist. Strawson wendet aber gegen die Auffassung von der Bedeutungsgleichheit beider Aussagen ein, dass die von Russell beanspruchte Parallelitt beider Behauptungen in unserem tatschlichen Gebrauch von Kennzeichnungen berhaupt nicht besteht, insofern der Gebrauch eines Satzes, der eine Kennzeichnung enthlt, bereits die Annahme der Existenz des Gegenstandes, auf den referierend Bezug genommen werden soll, voraussetzt. 106 Wenn wir also mit Anspruch auf Geltung den Satz „Der gegenwrtige Kçnig von Frankreich ist kahlkçpfig“ behaupten, dann prsupponieren wir bereits die Existenz eines (kahlkçpfigen) Kçnigs von Frankreich zum gegenwrtigen Zeitpunkt, aber wir behaupten sie nicht, indem wir (S) behaupten:
106 Strawson verwendet in „On Referring“ noch den Ausdruck „imply“ – ab 1952 (Introduction to Logical Theory, 175) dann aber vorwiegend „presuppose“.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
referring to or mentioning a particular thing cannot be dissolved into any kind of assertion. To refer is not to assert, though you refer in order to go on to assert.107
Strawson verdeutlicht diesen Punkt, indem er eine Redesituation fingiert, in der eine Person den Satz (S) behauptet. Wer an dieser Stelle kein Russellianer ist, sondern den blichkeiten im alltglichen Sprachgebrauch folgt, der – so Strawson108 – wrde auf eine Behauptung, die eine nichtreferierende Kennzeichnung enthlt, nicht antworten, dass diese Behauptung falsch sei. Bestenfalls wrde man sich darber verwundert zeigen, dass hier eine nicht-referierende Kennzeichnung Verwendung findet. Selbst auf die Nachfrage hin, ob wir das, was soeben durch den Gebrauch des Satzes (S) behauptet wurde, fr wahr oder falsch hielten, kçnnte man einfach nur erwidern, dass sich diese Frage schlicht und ergreifend nicht stellt, weil es gegenwrtig eben keinen Kçnig von Frankreich gibt. Whrend fr Russell der letzte Teilsatz dem Satz (S1) widerspricht und mithin (S) als falsch ausgewiesen werden kann, ist fr Strawson dieser Teilsatz der Grund dafr, weshalb sich die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit des verwendeten Satzes (S) berhaupt nicht stellt. Damit sind wir nun an dem Punkt angelangt, an dem Strawsons Redeweise vom „Voraussetzen“/„Prsupponieren“ zu erhellen ist. Immerhin scheint fr den Augenblick dieser Gebrauch von „Voraussetzen“ weniger klar zu sein als bei Russell – und genau dieser vermeintliche Mangel wurde Strawson bereits frh vorgeworfen.109 Da wir hufig (und auch zu Recht) geneigt sind, „7 setzt 8 voraus“ im Sinne von „8 ist eine notwendige Bedingung fr 7“ („7V8“) zu lesen, kçnnen wir mit Russell einfach feststellen, dass (S) falsch ist, weil die Voraussetzung (S1) nicht erfllt ist: (Russell) (S) V (S1), aber (S1) ist falsch: also ist (S) falsch. Es kçnnten nun in der Tat Missverstndnisse bezglich der Bedeutung von „Voraussetzen“ bei Strawson entstehen, denn fr ihn ist die unerfllte Voraussetzung (die Prsupposition) (S1) der Grund dafr, weshalb sich die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit von (S) berhaupt nicht stellt, obgleich wir freilich auch mit Strawson festgestellt hatten, dass der Satz (S1) falsch ist. Hier mssen wir folglich weiter differenzieren, denn offenkundig wird bei Russell und Strawson die Falschheit von (S1) als sttzende These 107 Strawson, „On Referring“, 333. 108 Vgl. ebd., 330. 109 So etwa von Sellars, „Presupposing“, 203.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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fr verschiedene Argumente („die Falschheit von (S1) ist eine These fr…“) gebraucht. Aber halten wir vorerst fest: • Beide stimmen darin berein, dass (S1) falsch ist. • Beide stimmen darin berein, dass die Falschheit von (S1) Einfluss auf die Geltung von (S) nimmt. • Da nach Russell „7 setzt 8 voraus“ so viel bedeutet wie „7V8“, folgt, dass (S) falsch ist, sofern (S1) falsch ist. • Nach Strawson kann „7 setzt 8 voraus“ nicht so viel bedeuten wie „7V8“. • Aus der Falschheit von (S1) folgt nach Strawson nicht, dass (S) falsch ist, sondern, dass sich die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit von (S) gar nicht erst stellt. Im Sinne Strawsons lsst sich nun dafr argumentieren, dass es das Stellen der Frage nach der Geltung von 7/respektive (S) ist (das ist ja ein Sachverhalt(!)), das die Wahrheit von 8/resp. (S1) bereits notwendig voraussetzt (prsupponiert). Wir kommen zwar auch bei Strawson nicht umhin, Implikationsverhltnisse zu untersuchen, aber die Rede von „Prsupposition“ ist sprachlich eine Ebene hçher angesiedelt als bei Russell, insofern in Strawsons Analyse Aussagen ber die Geltungsbedingungen anderer Aussagen getroffen werden. Sofern also Strawson feststellt, dass die Falschheit von (S1) der Grund dafr ist, weshalb sich die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit von (S) berhaupt nicht stellt, dann bedeutet dies: (Strawson) „Es stellt sich die Frage, ob j(S)j=w { j(S)j=f“ V j(S1)j=w „Es stellt sich die Frage, ob j(S)j=w { j(S)j=f“ ist hier als Name fr einen Behauptungssatz zu verstehen und reprsentiert mithin eine Feststellung, die ihrerseits nun wahr oder falsch sein kann. (Man darf stattdessen nicht einfach einen Namen fr die korrespondierende Frage verwenden (etwa: „Ist (S) wahr oder falsch?“), da wir sonst Probleme mit der Bedeutung von „V“ bekommen.) (Strawson) ist folglich so zu verstehen, dass die Geltung der Prsupposition (S1) eine notwendige Bedingung dafr ist, dass sich die Frage nach der Geltung von (S) stellt: „Wenn es wahr ist, dass sich die Frage nach der Geltung von (S) stellt, dann ist bereits die Prsupposition (S1) erfllt.“
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Ist indes die Prsupposition – wie im vorliegenden Fall – nicht erfllt, dann folgt mit (Strawson), j(S1)j=f und Modus Tollens freilich „es ist falsch, dass sich die Frage stellt, ob j(S)j=w { j(S)j=f“. Oder kurz: „Die Frage, ob j(S)j=w { j(S)j=f, stellt sich gar nicht erst.“ Dies ist nun genau Strawsons Intention, wenn er vom „Prsupponieren“ spricht.110 Allgemein: Prsupponieren1: 7 prsupponiert 8 O C7 V8 (mit C7 O „Es stellt sich die Frage, ob 7 wahr oder falsch ist.“) 1.3.2 Das Prsupponieren von Sinnhaftigkeitsbedingungen Obgleich diese ausfhrlicheren Anmerkungen zu Strawsons Kennzeichnungstheorie noch nicht beantworten, was prsuppositionale Ansprche im Rahmen erkenntnistheoretischen Argumentierens bedeuten, so weisen diese berlegungen doch auf einen aussichtsreichen Weg, wie man vom „Behaupten ist nicht Referieren“ zu den Sinn- und Geltungsbedingungen berhaupt gelangen kann. In diesem Verstndnis sind die beiden vorangegangenen Abschnitte fr den nun folgenden zwar systematisch verzichtbar, wohl aber heuristisch geboten. Das Besondere, weil Universelle im Prsupponieren von Sinnhaftigkeitsbedingungen besteht darin, dass die Geltung dieser Bedingungen ausnahmslos pragmatisch impliziert wird, wenn berhaupt mit dem Anspruch auf gehaltvolle ußerungen aufgetreten wird. In einer gewissen Weise handelt es sich um eine Verallgemeinerung des Prsupponierens der Referenz im Fall des Gebrauchs einer Kennzeichnung, denn das Prsupponieren der Referenz reprsentiert ebenfalls eine Gelingensbedingung der Rede – nmlich fr den gehaltvollen Gebrauch einer Kennzeichnung in Behauptungen, Aufforderungen, Fragen usw. Diese Gemeinsamkeit zwischen der „lokalen Gelingensbedingung“ des Prsupponierens(1) der Referenz und dem Prsupponieren(2) universaler Gelingensbedingungen im Fall von epistemologischen Prsuppositionen besteht allerdings auch nur in dieser „gewissen Weise“. Betrachten wir indes die Folgen im Falle eines Verstoßes oder die Mçglichkeit ihrer Analyse, so zeigen sich kategoriale Unterschiede, die es im Folgenden zu explizieren gilt:
110 Vgl. Strawson, Introduction to Logical Theory, 175. Ders., „A Reply to Mr. Sellars“, 216.
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•
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Gegen das Prsupponieren der Referenz kann bei Strafe eines misslungenen Zuges im Sprachspiel verstoßen werden, whrend man gegen universale Sinnbedingungen nur bei Strafe der Sinnlosigkeit verstoßen kann. Das Prsupponieren in der Kennzeichnungstheorie kann von einem Standpunkt aus analysiert werden, der diese Prsuppositionen nicht einschließt, whrend die Analyse epistemologischer Prsuppositionen stets unter der eigenen Geltung steht. 1.3.2.1 Zur Logik epistemologischer Prsuppositionen
Bevor wir beginnen, muss ein in der Analyse von Strawsons Kennzeichnungstheorie noch geduldeter Makel behoben werden: die Ersetzung der logischen Implikation in der Darstellung durch eine pragmatische, denn das inferentielle Geltungsgeflecht zwischen Aussagengehalten und ihren Geltungsfragen sowie den Bedingungen ihres gehaltvollen ußerns ist kein deduktives. Wir erlutern daher vorab, welche Mindestbedingungen unsere Rede vom „pragmatischen Implizieren“ zu erfllen hat. Wendungen wie „Die Vollzugsmçglichkeit einer Handlung C impliziert pragmatisch im Kontext K das Bestehen einer Bedingung B“ (kurz: Vollzugsmçglichkeit-von-CxB)
bringen im Besonderen zum Ausdruck: • C kann nicht vollzogen werden, wenn B in K nicht besteht. (Das Bestehen von B in K ist somit notwendig fr die Vollzugsmçglichkeit von C.)111 • C kann nicht sinnvoll als Handlung beschrieben werden, wenn zugleich das Bestehen von B in K bestritten wird.112 Diese Bedeutungsgebung von „x“ ist ausreichend fr unsere nun anstehende Analyse epistemologischer Prsuppositionen. Wir beginnen hierfr mit der Normierung des Ausdrucks „Sinnbedingung“. Sinnbedingungen drcken genau diejenigen Gehalte aus, die durch den Vollzug von Handlungen – und damit im Besonderen von Redehandlungen – not111 Exemplarisch: Das Handlungsschema des Fenster-Schließens kann nicht vollzogen werden, wenn man sich gerade in einem Raum befindet, in dem es keine offenen Fenster gibt. 112 Exemplarisch: Man kann nicht einem Individuum p den Vollzug einer Handlung zuschreiben, wenn man zugleich bestreitet, dass p ber die Kompetenz der ZweckMittel-Rationalitt verfgt.
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wendigerweise in Anspruch genommen werden mssen, damit dieses Geschehen berhaupt als der Vollzug einer Handlung anerkannt werden kann: (Defsb) ! ist eine Sinnbedingung der Handlung C O Vollzugsmçglichkeitvon-Cx! Damit prsentieren sich Sinnbedingungen vor allem als pragmatische Implikate in der Metasprache, d. h. sie zeigen sich als pragmatische Folgerungen, wenn wir Aussagen ber den Vollzugsgehalt von Handlungen und die Bedingungen fr ihren Vollzug – und damit auch von objektsprachlichen Redehandlungen – ttigen. Wichtig an dem voranstehenden Satz ist nicht zuletzt der Ausdruck „prsentieren sich“ („zeigen sich“). Selbstverstndlich befinden sich diese Bedingungen per definitionem auch dann in Geltung, wenn nichtsprachlich gehandelt wird oder in beliebigen objektsprachlichen Kommunikationssituationen behauptet, aufgefordert, gefragt, kondoliert wird usw.113 Da sie als Sinnbedingungen aber Gegenstand der philosophischen Reflexion sind, treten sie vor allem dort zum Vorschein, wo wir geltungstheoretische Aussagen ber Handlungen, deren Mittel, Resultate und vor allem ber deren Gelingensbedingungen machen. Es liegt auf der Hand, dass es Sinnbedingungen der Rede gibt, deren Geltung auf ganz bestimmte Kommunikationspraxen und Redehandlungstypen beschrnkt bleibt. Die notwendige Geltung einer Sinnbedingung besteht nach dem Definiens von (Defsb) ja erst einmal in #C !, d. h. Notwendigkeit relativ zum Handlungstyp/zur Kommunikationspraxis C. Uns interessieren aber vornehmlich diejenigen Sinnbedingungen, die – erstens – relativ zu jeder Kommunikationspraxis in Geltung sind und die – zweitens – damit auch nur bei Strafe der Sinnlosigkeit in Frage gestellt oder versuchsweise unterlaufen werden kçnnen, weil der Akt des „In-FrageStellens“ oder „Zuwiderhandelns“ selbst einen Handlungsvollzug reprsentiert. Zwar bilden – um ein nicht weiter zu qualifizierendes Beispiel zu nennen – auch Austins Bedingungen gegen die Verletzungen durch Nonplay, Misplay, Flow und Hitch Gelingensbedingungen fr entsprechende Redehandlungen.114 Allerdings handelt es sich bei diesen nicht um universale Sinnbedingungen der Rede, weil es nicht nur mçglich ist, gegen diese zu verstoßen, sondern weil gegen diese Bedingungen auch tatschlich 113 Schließlich impliziert der Vollzug einer Handlung C die Vollzugsmçglichkeit von C. Mit (Defsb) folgt somit auch: Vollzug-von-Cx!. 114 Austin, How to do things with Words, Lecture III.
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verstoßen wird. Man darf sogar behaupten, dass es ein Stck weit Merkmal einer funktionierenden Handlungs- und Kommunikationsgemeinschaft ist, dass sie faktische Verstçße gegen diese Bedingungen nicht nur erkennen, sondern auch sanktionieren und kompensieren kann. Wir bezeichnen indes eine Sinnbedingung als epistemologische Prsupposition („universale Sinnbedingung“, „Ermçglichungsbedingung“, „transzendentale Bedingung“), wenn diese Bedingung fr ausnahmslos alle Handlungszusammenhnge und Kommunikationspraxen eine Sinnbedingung darstellt:115 (Defep) ! ist eine epistemologische Prsupposition O ! ist eine Sinnbedingung fr jede Form des Handelns. („Bedingungen !, die (Defep) erfllen, werden prsupponiert2.“) „Eine Sinnbedingung ! fr jede Form des Handelns sein“ bedeutet gemß (Defsb) nichts anderes als: „Die Mçglichkeit des Vollzuges einer beliebigen Handlung C impliziert pragmatisch die Geltung von !“. Wir verzichten jedoch darauf, das Definiens in der vermeintlich eleganteren Form „tC (Vollzugsmçglichkeit-von-Cx!)“ darzustellen, da man andernfalls nherhin die Konstitution des Gegenstandsbereichs der Handlungen bestimmen msste, weil nur dann die formale Allquantifikation bezglich dieses Bereichs vollstndig bestimmt ist. Da wir im vorliegenden Projekt zentral die Frage „Warum ist das Machen von Erfahrung mçglich“ untersuchen und Erfahrungen stets sprachlich strukturiert sein mssen, fokussieren wir im Folgenden vor allem Redehandlungen und hier wiederum vor allem den Handlungstyp des Behauptens. Schließlich ist Wissen ein begrndetes wahres Meinen und Meinungen mssen nun einmal behauptet werden kçnnen. Fr den Re115 Unsere nachfolgenden berlegungen besitzen zweifelsohne Gemeinsamkeiten mit Apels transzendentalpragmatischem Ansatz. Diese Parallelen erstrecken sich vor allem auf die hier wie da geteilte Diagnose, dass all unserem Reden und Handeln Voraussetzungen zugrunde liegen, die wir immer schon anerkannt haben mssen, damit dieses Handeln auch als solches seinen Sinn behlt (so etwa Apel, „Das Problem der philosophischen Letztbegrndung“, 72 f.). Da es indes in den jeweiligen Analysemethoden epistemologischer Prsuppositionen/transzendentalpragmatischer Voraussetzungen erhebliche Unterschiede festzustellen gilt und in der vorliegenden Untersuchung zudem weder der anspruchsvolle Letztbegrndungsanspruch Apels noch die Begrndbarkeit ethischer Normen ausgehend vom transzendentalen Rahmen epistemischer Gemeinschaften geteilt wird (vgl. Apel, „Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik“, 104 ff.), verzichten wir auf eine Erçrterung der transzendentalen Sprachpragmatik.
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dehandlungstyp des Behauptens benutzen wir folgend zur schematischen Darstellung: (Defbe) D(,"‘) O Der durch den Satz ,"‘ dargestellte Sachverhalt wird als bestehend behauptet. (Oder kurz: „Es wird behauptet, dass "“) Fr Behauptungen gilt also a fortiori, dass sie unter der Geltung einer jeden epistemologischen Prsupposition ! stehen: Vollzugsmçglichkeit-vonD(,"‘)x!. Exemplarisch am Fall dieses Redehandlungstyps lassen sich nun mehrere Charakteristika von epistemologischen Prsuppositionen aufzeigen. Wir beginnen hierbei mit einer handlungstheoretischen Analyse der Rede vom „epistemologischen Prsupponieren“, weil unsere Grammatik die Vermutung nahelegt, dass mit Wendungen wie „ich prsupponiere !“ ein unterlassbarer und nicht alternativloser Akt vollzogen wird. In 1.3.1.1 hatten wir bereits angemerkt, dass der Ausdruck „voraussetzen“ eine angestammte Verwendung als Handlungsprdikat besitzt, weil der Akt des Voraussetzens (im Sinne von Voraussetzen1) alle erforderlichen Merkmale aufweist, um als ein Handlungsschema gekennzeichnet zu werden: Das Voraussetzen von etwas kann unterlassen werden, es kann ge- wie auch misslingen und es kann erfolgreich oder erfolglos sein.116 Wer etwa zur Begrndung einer philosophischen These T eine Prmisse P voraussetzt1, unter deren Geltung T begrndet werden soll, der handelt, weil erstens das Setzen von P unterlassbar ist – etwa in dem Fall, dass sich der Argumentierende letztlich fr einen anderen Begrndungsweg fr T entscheidet. Zweitens kann die Aktualisierung des Handlungsschemas „eine Aussage als Prmisse setzen“ ge- wie auch misslingen. Im Gelingensfall ist eben die Bedingung als Prmisse gesetzt und damit das Handlungsresultat realisiert, whrend ein Misslingensfall etwa darin besteht, dass am Ende des Setzungsvollzuges unklar bleibt, welche Aussage P reprsentieren soll. Ein anderer Misslingensfall wrde vorliegen, wenn der Argumentierende selbst innerhalb der relevanten Argumentation an der Geltung von P zweifelt. Ist Letzteres der Fall, dann kann P nicht den Status einer Prmisse genießen, weil die Geltung von Prmissen innerhalb der relevanten Argumentation per definitionem unantastbar ist. Und schließlich kann drittens diese Handlung erfolgreich oder erfolglos sein. Da der Erfolg einer Handlung in der Realisierung des verfolgten Zwecks besteht, wre die Handlung des „Setzens von P als Prmisse“ erfolgreich, wenn T unter Verwendung von P ordentlich begrndet wird. Erfolglos wre indes diese Handlung, wenn 116 Hierin folgen wir Hartmann, „Kulturalistische Handlungstheorie“, 73, 76, 78.
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etwa die Geltung von P von der Geltung von T notwendigerweise abhngt. In diesem Fall wrde ein Begrndungszirkel vorliegen und mithin keine Begrndung von T, womit der verfolgte Zweck unrealisiert bliebe. Der Ausdruck „Voraussetzen1“ reprsentiert ein Handlungsprdikat. Das Prsupponieren von epistemologischen Sinnbedingungen – als einer in der Metasprache gefassten Adaption von Voraussetzen2 – kann dem gegenber nicht sinnvoll als ein Handlungsprdikat rekonstruiert werden. Zwar kçnnen epistemologische Prsuppositionen genau so wie Prmissen explizit gemacht, untersucht und in ihrer Geltung hinterfragt werden. Diese Form der handelnden Auseinandersetzung mit universalen Sinnbedingungen oder Prmissen vollzieht sich jedoch stets an bereits bestehenden Sachverhalten („! ist eine universale Sinnbedingung“, „! ist eine Prmisse“), whrend die Rede vom Voraussetzen wesentlich darauf abzielt, ob diese Sachverhalte auch handelnd herbeigefhrt werden kçnnen: Kann eine Aussage ! im gleichen Sinne zu einer epistemologischen Prsupposition gemacht werden wie sie handelnd zu einer Prmisse gemacht werden kann? Nein. Epistemologische Prsuppositionen kçnnen im Unterschied zu Prmissen oder lokalen Sinnbedingungen nicht gesetzt werden, weil ihre Realisiertheit jeden Handlungsvollzug transzendental notwendig117 begleitet. „Etwas als Bedingung setzen“ impliziert bereits semantisch, dass i) diese Bedingung innerhalb des Kontextes noch nicht in Geltung ist und ii) es zu dieser Bedingung zumindest prinzipiell eine Alternative gibt. Das semantische Implikat i) speist sich aus der Einsicht, dass wir nur dann sinnvoll von der „handelnden Herbeifhrung eines Sachverhalts (dem Handlungsresultat)“ sprechen sollten, wenn dieser Sachverhalt noch nicht besteht. Die Aktualisierung eines Handlungsschemas in der Gegenwart ist auf ein Resultat in der Zukunft gerichtet. Indes wird durch das semantische Implikat ii) angezeigt, dass es in der Erfahrungswirklichkeit einen Unterschied machen muss, ob die Handlung vollzogen oder unterlassen wurde. Sowohl i) als auch ii) sind im Falle epistemologischer Prsuppositionen schon aufgrund von (Defep) nicht erfllt (und auch nicht erfllbar). Das epistemologische Prsupponieren universaler Sinnbedingungen kann also nicht als ein handelnder Akt des Setzens verstanden werden. Wenn wir gleichwohl Wendungen wie „damit wird aber prsupponiert, dass …“ verwenden, dann bringt dies den reflexionslogischen Akt einer Entfaltung von universalen Sinnbedingungen zum Ausdruck, durch den auf einzelne Sinnbedingungen der Rede aufmerksam gemacht wird. Die 117 Siehe 3.4.
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epistemologischen Prsuppositionen selbst besitzen in unseren Handlungsvollzgen einen reinen Widerfahrnischarakter, der unabnderlich ist. Es steht uns zwar frei, diese Bedingungen zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen (wie in der vorliegenden) oder sie vollends zu ignorieren, aber wir haben keine Mçglichkeit, ihr Bestehen zu unterbinden. Dies lsst verstndlich werden, weshalb etwa Vossenkuhl mit dem transzendentalen Begrndungsanspruch einzig das Problem der Begrndung einer Bedingung als epistemologischer Prsupposition verknpft, nicht aber das aus anderen Argumentationskontexten bekannte Problem der Realisiertheit oder Unrealisiertheit des Begrndungsziels.118 Wenn wir indes epistemologische Prsuppositionen zum Gegenstand einer Untersuchung machen, dann erweist sich das gerechtfertigte Aufweisen universaler Sinnbedingungen auf der Ebene der transzendentalphilosophischen Analyse nicht als Widerfahrnis, sondern als Handlungsresultat der transzendentalen Entfaltung des Erfahrungsbegriffs: Das Bestehen epistemologischer Prsuppositionen kann nicht handelnd herbeigefhrt werden, aber ihre Begrndung als universale Sinnbedingungen ist eine epistemologische Folge der Einsicht, dass wir Erfahrungen machen und Handeln kçnnen. Ausgehend von diesem handlungstheoretischen Aspekt lassen sich zwei weitere Charakteristika aufweisen, die wir in dieser Reihenfolge erçrtern werden: " "
Die Negation einer epistemologischen Prsupposition ist nicht falsch, sondern sinnlos. Die philosophische Analyse einer epistemologischen Prsupposition ! kann immer nur unter der Geltung von ! vollzogen werden. 1.3.2.2 Sind epistemologische Prsuppositionen negationsfhig?
Klassifiziert man die Klasse der Behauptungen hinsichtlich ihres Aussagengehalts, so kann in einem ersten Schritt zwischen „sinnleeren“, „sinnlosen“ und „sinnvollen“ Aussagen unterschieden werden.119 Damit teilt 118 Vossenkuhl, „Transzendentale Argumentation und transzendentale Argumente“, 12 ff. 119 Alternativ kann auch mit der binren Unterscheidung „wahrheitswertfhig“ vs. „nicht wahrheitswertfhig“ begonnen werden. Wahrheitswertfhige Aussagestze
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man die Klasse der Aussagen in die tautologischen („inhaltsleeren“) Aussagen, die unsinnigen Aussagen und die gehaltvollen Aussagen ein. Je nachdem, welche philosophische Position man vertritt, fllt der Umfang dieser Klassen verschieden aus.120 Diese Differenzierung ist fr uns von Belang, weil die logische Operation des Negierens normalerweise dazu fhrt, dass die Negation einer Aussage ! in derselben Aussagenklasse verbleibt: Ist eine Aussage ! vom Gehaltstyp G, dann ist auch ~! vom Typ G. Hierzu ein paar Beispiele sowie die jeweils erforderliche Begrndung. Erwgen wir etwa den Satz „Einige Philosophen sind Deutsche“, so handelt es sich bei dieser Behauptung zweifelsohne um einen empirischen Satz (der zudem wahr ist), womit er zur Klasse der sinnvollen Aussagen gehçrt. Negieren wir nun diesen Satz, so resultiert mit der Behauptung „Kein Philosoph ist Deutscher“ zwar ein empirisch falscher, aber gleichwohl sinnvoller Satz (der wahr sein kçnnte). Allgemein gilt: Die Negation einer empirischen Aussage liefert wiederum eine empirische und damit sinnvolle Aussage, weil durch die Negation das Bestehen eines Sachverhalts in der Erfahrungswirklichkeit bestritten wird. Wenn aber durch eine Aussage ! das Bestehen eines Sachverhalts in der Erfahrungswirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird, dann wird durch ~! behauptet, dass der durch ! reprsentierte Sachverhalt nicht in der Erfahrungswirklichkeit besteht. In beiden Fllen resultieren also Aussagen ber die Erfahrungswirklichkeit. Im Falle von sinnleeren Aussagen sieht die Begrndungsstruktur fr die These „die Negation einer inhaltsleeren Aussage ist wiederum inhaltsleer“ nicht viel anders aus, obgleich es sich hierbei nicht um Aussagen ber die Erfahrungswirklichkeit handelt. Negierte sinnleere Aussagen sind wiederum sinnleer, denn durch die Negation wird eine inhaltsleere Aussage nicht gehaltvoller. Negieren wir so etwa die Aussage „Eine Behauptung kann nicht zugleich wahr und falsch sein“, so resultiert zwar eine Kontradiktion, aber diese Aussage ist bereits falsch aufgrund ihrer logischen Form allein. Allgemein gilt: Die Negation einer sinnleeren Aussage liefert wren demnach die sinnleeren und sinnvollen, whrend die sinnlosen nicht wahrheitswertfhig sind. 120 Im Logischen Empirismus etwa gehçren die Stze der Mathematik in die Klasse der Tautologien, whrend philosophische Stze gemß Wittgenstein (Tractatus, 6.54) sinnlos sind. Indes gehçren bei Kant (wie auch im vorliegenden Projekt) sowohl die mathematischen als auch die philosophischen Urteile in die Klasse der sinnvollen Aussagen. (Zum Geltungsstatus mathematischer Axiome siehe Wille, Die Mathematik und das synthetische Apriori, Kap. 3.) Empirische Aussagen werden aber positionsbergreifend als gehaltvoll beurteilt.
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wiederum eine sinnleere Aussage, weil „Geltung aufgrund der Bedeutung der logischen Partikel allein“ als Prfkriterium bestehen bleibt, wenn eine sinnleere Aussage mit dem Negator als neue Hauptpartikel versehen wird. Im Falle der Klasse der sinnlosen Aussagen wollen wir erst einmal feindifferenzieren, weil wir die Negationen epistemologischer Prsuppositionen klassifikatorisch hier zu verorten haben. Zur Klasse der sinnlosen Aussagen gehçren im Besonderen Aussagen, die… – …einen Kategorienfehler beinhalten wie etwa „Die Primzahl Sieben ist grn“. – …leere Begriffe verwenden wie „Jedes Anej bazet wenigstens zwei Ellah“121. – …syntaxwidrig gebildet sind wie „Es gibt nichts“. In allen genannten Fllen fhrt die Negation eines sinnlosen Satzes wiederum zu einer sinnlosen Aussage. Stze, die einen Kategorienfehler beinhalten, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Prdikat auf ein logisches Subjekt122 beziehen, fr welches das Prdikat berhaupt nicht wohlbestimmt ist. Hier liegt also keine Fehlprdikation vor wie im Fall „Der gegenwrtige Papst der rçmisch-katholischen Kirche ist weiblich“, sondern eine Prdikatverwendung außerhalb des Rahmens, fr den das Prdikat definierte Verwendungsbedingungen besitzt.123 Durch die Negation einer solchen Aussage wird der Kategorienfehler aber nicht aufgehoben, denn genauso wie es unsinnig ist, ein kategorial falsches Prdikat zu prdizieren, ist es unsinnig, dieses Prdikat dem logischen Subjekt abzu121 Frege, „ber die Grundlagen der Geometrie. I–III“, 285. 122 Die Termini „logisches Subjekt“ und „logisches Individuum“ werden wir im Folgenden des fteren benutzen: Unter dem „logischen Subjekt“ einer Aussage verstehen wir denjenigen Gegenstand der Rede, ber den in der Aussage etwas ausgesagt wird. Die Rolle logischer Subjekte kçnnen sowohl singulre Termini bernehmen als auch Begriffe und Eigenschaften. Wir sprechen indes von einem „logischen Individuum“, wenn das logische Subjekt einer Aussage nicht die Rolle eines Prdikatausdrucks bernehmen kann. Bei Frege („Funktion und Begriff“, 134) „ist alles, was nicht Funktion ist“ ein Gegenstand und mithin ein „logisches Subjekt“. Indes charakterisiert er logische Individuen entsprechend („ber Begriff und Gegenstand“, 168): „Ein Gegenstandsname hingegen, ein Eigenname ist durchaus unfhig, als grammatisches Subjekt gebraucht zu werden“. Stephan Kçrners Unterschiedsbestimmung ber die Relation zweiter Stufe „(+) ist eine Instanziierung von (*)“ ist zu unserer Normierung quivalent. Nach Kçrner sind logische Individuen genau diejenigen logischen Subjekte, die in der Relation einzig links, aber niemals rechts auftreten kçnnen. Kçrner, Metaphysics, 8: „an entity is a particular if, and only if, it is instantiating but not instantiated“. 123 Vgl. Ryle, The Concept of Mind, 17.
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sprechen. Aussagen, die indes aufgrund von leeren Begriffen sinnlos sind, bleiben ebenfalls sinnlos, wenn sie negiert werden. Durch die Negation ndert sich nichts daran, dass die Begriffe leer sind. Und schließlich bleiben auch syntaxwidrig gebildete „Aussagen“ sinnlos, wenn sie negiert werden. Da syntaxwidrig gebildete Zeichenketten nicht einmal syntaktisch als Satzgebilde anerkannt werden kçnnen, bleibt eine solche Zeichenkette satzsyntaktisch unvollstndig, wenn ihr ein Negator vorangestellt wird. Da der Negator als logische Partikel berhaupt nur fr die Klasse der Aussagestze induktiv definiert ist, reprsentiert seine Anwendung auf eine unvollstndige Zeichenkette (und damit eine sinnlose Aussage) wiederum nur eine unvollstndige Zeichenkette (und damit wiederum nur eine sinnlose Aussage). Die Ausfhrlichkeit dieser Zwischenbemerkung ber das Negieren sinnleerer, sinnloser und sinnvoller Aussagen ist geboten, denn epistemologische Prsuppositionen besitzen die Besonderheit, dass der Versuch der Negation einer universalen Sinnbedingung zur Formulierung einer sinnlosen Aussage fhrt, obgleich die Ermçglichungsbedingungen selbst sinnvolle Aussagen reprsentieren. Mit Kant und gegen die logischen Empiristen bleibt hier erst einmal festzustellen, dass epistemologische Prsuppositionen als philosophische Aussagen ber unsere Erfahrungswirklichkeit sinnvoll sind, obwohl sie keine empirischen Thesen verkçrpern. Die universalen Sinnbedingungen fr das Machen von Erfahrung reprsentieren als Merkmale der reinen apriorischen Erfahrungsstruktur das transzendentale Fundament unserer Erfahrungswirklichkeit. Diese reine Erfahrungsstruktur ist weder im Ganzen noch in Teilen einer empirischen Prfung zugnglich, weil empirische Untersuchungen allererst unter der Realisiertheit dieser Bedingungen mçglich sind. Sie gelten daher a priori und sagen uns gleichwohl etwas Gehaltvolles ber unsere Erfahrungswirklichkeit aus, weil sie unter anderem Auskunft darber geben, welche Erfahrungsstrukturmerkmale nicht empirisch kontingent, sondern transzendental notwendig sind.124 Wird nun eine epistemologische Prsupposition ! negiert, so besagt dies nichts anderes als dass mit Anspruch auf Geltung behauptet wird, dass ! falsch ist: D(,~!‘). Da das Behaupten von ~! eine Redehandlung ist, deren Vollzugsmçglichkeit die Geltung der universalen Sinnbedingungen in Anspruch nimmt, gilt im Besonderen: 124 Zur Frage nach der Revidierbarkeit von philosophischen Thesen (ber epistemologische Prsuppositionen) sei auf 2.2 und 6.2.1 verwiesen.
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Vollzugsmçglichkeit-von-D(,~!‘)x! D.h. damit berhaupt das Geschehen D(,~!‘) sinnvoll als der Akt des Behauptens der Wahrheit von ~! angesehen werden kann, muss die Wahrheit von ! (= die Realisiertheit des durch ! zum Ausdruck gebrachten Sachverhalts) bereits in Anspruch genommen werden. Folglich steht die Mçglichkeit des Bestehens des durch ~! reprsentierten Sachverhalts unter der Realisiertheit des durch ! zum Ausdruck gebrachten Sachverhalts. Hieraus zu schlussfolgern, dass dann ~! falsch gewesen ist, bersieht den Umstand, dass es zwischen dem Vollzug von D(,~!‘) und dem Gehalt von ~! ein Geflecht von Sinnhaftigkeitsbedingungen gibt, deren Gewhrleistung allererst sicherstellen wrde, dass ~! berhaupt sinnvoll ist und als wahrheitswertfhige Behauptung aufgefasst werden kann: Eine notwendige Gelingensbedingung fr den Vollzug einer Behauptung besteht darin, dass der durch die Behauptung zum Ausdruck gebrachte Aussagengehalt nicht im Widerspruch stehen darf zu einer Vollzugsbedingung der Behauptung. 125 Wird durch den Vollzug einer Behauptung eine Bedingung geleugnet, deren Bestehen eine Ermçglichungsbedingung fr den Handlungsvollzug ist, dann muss durch die Behauptung eine Bedingung in Anspruch genommen werden, die nach ihrer eigenen Auskunft nicht besteht. Wenn aber eine epistemologische Prsupposition ! eine notwendige Bedingung dafr ist, um D(,~!‘) berhaupt sinnvoll als eine Behauptung zu charakterisieren, dann impliziert der Vollzug von D(,~!‘) das Resultat, dass im Besonderen D(,~!‘) nicht sinnvoll als Behauptung oder Handlung berhaupt (gemß (Defep)) anerkannt werden kann. Wenn aber D(,~!‘) gar nicht sinnvoll als Handlung verstanden werden kann, dann kann weder sinnvoll von einem „Vollzug von D(,~!‘)“ gesprochen werden noch davon, dass es sich bei ~! um eine Behauptung handelt. Wenn jedoch ~! nicht als Behauptung verstanden werden darf, dann kann ~! auch prinzipiell nicht falsch sein, weil sich im Falle von ~! gar nicht erst die Frage der 125 Fr Naturalismen, die eine vollstndige kausale Determiniertheit des Menschen vertreten, hat Fichte bereits explizit auf diese prsuppositionale Inkonsistenz hingewiesen. Etwa Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 90 f.: „das, was sie sagen, und das, was sie tun, steht im Widerspruche. Nmlich, indem sie den Mechanismus voraussetzen, erheben sie sich ber ihn; ihr Denken desselben ist etwas außer ihm Liegendes“.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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Wahrheitswertfhigkeit stellt. Kurz: Der Versuch des Vollzuges von D(,~!‘) impliziert pragmatisch die Sinnlosigkeit von ~!, weil jeder Vollzug von D(,~!‘) im Widerspruch mit der universalen Vollzugsbedingung ! steht. Die Aussage ~! wird also sinnlos, sobald sie mit Anspruch auf Geltung vorgetragen wird. Da sich die Negationen epistemologischer Prsuppositionen in keine der bereits binnendifferenzierten Klassen der sinnlosen Aussagen einordnen lassen, bedarf es eines weiteren Typs, der jedoch keineswegs neu ist, sondern bereits in der sprachkritischen Auseinandersetzung mit universalskeptischen Erwgungen formuliert wurde: Aussagen, durch die… – …die Sinnentleerung des eigenen Gehalts ußerungskontextinvariant behauptet wird. Mit der Rede von der „ußerungskontextinvarianz“ wird konzise gebndelt, was durch (Defep) bereits als Bedingung festgehalten wurde: Egal wer, wann, wo und unter welchen Umstnden handelt – dieses Handeln steht unter der Geltung der epistemologischen Prsuppositionen. In diese Klasse sinnloser Aussagen fallen ausnahmslos alle Behauptungen, die mit einer universalen Skepsis bezglich der Erkenntnisansprche und des Wissens operieren126, weil their statement involves the pretended acceptance of a conceptual scheme and at the same time the silent repudiation of one of the conditions of its existence.127
Klarer kann man es eigentlich schon nicht mehr ausdrcken. Zwei abschließende Bemerkungen sind noch geboten. Erstens: In die Klasse der Aussagen, die aufgrund der Sinnentleerung des eigenen Gehalts sinnlos sind, fallen nicht die performativen Widersprche, obgleich auch bei Aussagen wie „c kann nicht sprechen“ der Vollzug der Behauptung durch die mit ,c‘ benannte Person im Widerspruch steht zum Gehalt der Aussage. Im Unterschied zu den Negationen epistemologischer Prsuppositionen kçnnen Aussagen wie „c kann nicht sprechen“ oder „c ist tot“ allerdings durch jeden sinnvoll behauptet werden, der von c verschieden ist, da der zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt derselbe bleibt. Performative Widersprche werden durch Behauptungsvollzge reprsentiert, die nur unter ganz bestimmten ußerungsbedingungen zu einem Widerspruch zwischen Aussagengehalt und Vollzugs126 Siehe hierzu unsere Auseinandersetzung mit der skeptischen Relativierung des Erfahrungsbegriffs in 8.6. 127 Strawson, Individuals, 106.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
bedingungen fhren. Ihr Auftreten ist damit ußerungskontextvariant. Epistemologische Prsuppositionen sind aufgrund von (Defep) aber ußerungskontextinvariant nicht sinnvoll negierbar. Zweitens: Wenn epistemologische Prsuppositionen nicht sinnvoll negierbar sind, wie steht es dann um ihre Wahrheit, denn „wahr“ kann doch nur das genannt werden, was grundstzlich auch falsch sein kann. Letzterem ist uneingeschrnkt zuzustimmen, bedarf aber der Anmerkung, dass das Beurteilungssprachspiel von „wahr“ und „falsch“ seinerseits die Realisiertheit der universalen Sinnbedingungen prsupponieren muss, um sinnvoll zu sein. D.h. die Mçglichkeit zur Unterscheidung von wahren und falschen Behauptungen ist berhaupt nur unter der Bedingung gegeben, dass alle erforderlichen epistemologischen Prsuppositionen in Geltung sind. Welche dies allerdings sind, ist seinerseits einer Beurteilung nach „wahr“ und „falsch“ zugnglich. So kann ein Urteil der Form „! ist eine epistemologische Prsupposition“ selbstverstndlich falsch sein, wenn Grnde dafr angegeben werden, warum ! nicht die erforderlichen Merkmale einer universalen Sinnbedingung aufweist. Was wir damit als „falsch“ beurteilt haben, ist aber keine epistemologische Prsupposition, sondern die Prdikation „! ist eine epistemologische Prsupposition“. Trifft es indes zu, dass ! eine epistemologische Prsupposition ist, dann ist ! transzendental notwendigerweise wahr, weil das Bestehen des durch ! zum Ausdruck gebrachten Sachverhalts eine Ermçglichungsbedingung fr Wahrheit berhaupt ist: „Weil ! besteht, ist die Mçglichkeit gegeben, das Bestehen von ! begrndet einzusehen“. Damit impliziert im Besonderen die Anerkennung der Norm „was wahr ist, muss auch falsch sein kçnnen“ die Wahrheit von !. Wrden wir nunmehr die Mçglichkeit der Falschheit von ! erwgen, so wrde wiederum eine Sinnentleerung des Gehalts der Norm stattfinden. Doch mit der geltungstheoretischen Beurteilung der universalen Sinnbedingungen stoßen wir auf das Problem, ob das transzendentale Begrndungsgeschft zur Auszeichnung der epistemologischen Prsuppositionen nicht zirkulr verfhrt, weil es ja selbst und nach eigener Auskunft ebenfalls unter der Geltung dieser Bedingungen steht.128 Dieses Problem wurde in der Nachfolge Kants wohl durch Fichte 1797/1798
128 Mit eben dieser Feststellung erçffnet auch Heidegger (Sein und Zeit, 152) seine Untersuchungen zum Verhltnis von Prsuppositionsgeltung und Prsuppositionsanalyse.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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erstmals explizit gefasst129 und schließlich in seiner allgemeinen Fassung der Nichtvoraussetzungslosigkeit eines jeden Philosophierens 1801 durch Reinhold benannt, der zur Lçsung den methodologischen Vorschlag formulierte, bis zur Auffindung des „Urwahren“ die benutzten Mittel vorlufig mit einer „problematischen und hypothetischen“ Geltung zu versehen.130 Und es ist schließlich Hegel, der diese Reflexionskonstellation auf den Punkt bringt: Jede Erkenntniskritik ist selbst eine Erkenntnis, so dass das Erkenntnisvermçgen als Instrument der Erkenntniskritik „ehe man die Arbeit unternehme“ selbst erst einmal darauf hin zu prfen wre, ob es die Erkenntniskritik „zu leisten fhig sei“, da andernfalls „alle Mhe vergebens verschwendet“ wre.131 Aber die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeuge heißt dasselbe untersuchen nichts anderes, als es erkennen.132
Wir lassen es hierbei offen, ob Hegel – wie etwa Habermas meint133 – damit die Erkenntnistheorie aufzuheben gedenkt, weil jedes transzendentalphilosophische Programm von Anfang an in einen unaufhebbaren Zirkel verstrickt ist, oder ob er vielmehr auf eine Eigentmlichkeit dieser Form der Erkenntniskritik aufmerksam machen mçchte, die es in der kritischen Reflexion zu bercksichtigen gilt.134 Doch auch unabhngig von dieser philosophiehistorischen Frage treffen wir auf das benannte Problem in der jngeren Vergangenheit – vor allem im Kontext von Apels Begrndung der transzendentalpragmatischen Semantik. Dieser kommt die Aufgabe zu, die nicht hintergehbaren Bedingungen der Mçglichkeit eines jeden Diskurses kritisch zu reflektieren und als transzendentale Bedingungen von Argumentation und Intersubjektivitt zu begrnden.135 Da sich dies alles notwendigerweise im Medium der Sprache vollzieht, ist es nur naheliegend, wenn festgestellt wird: 129 Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 39: „setzt denn nicht eure Philosophie schon voraus, was sie erklren sollte?“. 130 Reinhold, „Was heißt philosophiren?“, 74: „In jenem Suchen also, und, so lange dasselbe bloßes Suchen bleibt, im Philosophiren kann und muß das begreiflich Erste, mit welchem dieses Suchen anhebt, einstweilen nur problematisch und hypothetisch als erstes Begreifliches angenommen werden“. 131 Vgl. Hegel, Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften, §10. 132 Ebd., §10. 133 Habermas, Erkenntnis und Interesse, 14 ff. 134 Vgl. etwa Graeser, Kommentar, 29 ff. 135 So etwa Apel, „Das Problem der philosophischen Letztbegrndung“, 60; Ders., „Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik“, 16.
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Es ist nun philosophisch hçchst bedeutsam, daß die transzendentale Frage zur Sprache zurckfhrt. Wir kçnnen nmlich diese Frage ebensowenig wie irgendeine andere stellen oder beantworten, ohne zu reden, anscheinend also: ohne das, was wir erst klren wollen, beim Klren bereits zu verwenden.136
Wir haben nunmehr zu untersuchen, ob aus unbestreitbaren Wahrheiten dieser Form (denn die von Schnelle vorgetragene Tatsache beschrnkt sich in ihrer Geltung nicht auf Apels Ansatz) schwerwiegende Folgen fr unsere transzendentale Analyse der epistemologischen Prsuppositionen erwachsen. 1.3.2.3 Ist die Begrndung epistemologischer Prsuppositionen zirkulr? Um mit dem Wichtigsten sogleich zu beginnen: Selbstverstndlich gilt fr jede transzendentalphilosophische Begrndung, die eine Bedingung ! als epistemologische Prsupposition aufweist (= K(,E(!)‘); E(!) O ! ist eine epistemologische Prsupposition) das Geltungsgeflecht: (TB) Vollzugsmçglichkeit-von-K(,E(!)‘)x!.137 Um das damit verbundene Problem mçglichst scharf zu stellen, gehen wir davon aus, dass es universale Sinnbedingungen gibt und dass es transzendentalphilosophische Begrndungspraxen gibt, die nach unseren besten Rationalittsstandards (unter vorbehaltlicher Ausblendung dieser Sinnbedingungen) als „gelungen“ beurteilt werden mssen. Muss dann nicht gleichwohl jeder Begrndungsversuch aufgrund von (TB) als gescheitert erklrt werden, weil doch jeder Versuch des Nachweises von „! ist eine epistemologische Prsupposition“ notwendigerweise unter der Geltung von ! steht: (TZirkel) Wenn ! eine epistemologische Prsupposition ist, dann muss die Geltung von ! in Anspruch genommen werden, um begrnden zu kçnnen, dass ! transzendental notwendigerweise in Geltung ist. (TZirkel) ist zweifelsohne wahr – immerhin kommen hier einzig Einsichten zur Anwendung, die wir im bisherigen Verlauf von 1.3.2 zu begrnden 136 Schnelle, Sprachphilosophie und Linguistik, 16. 137 Vossenkuhl („Transzendentale Argumentation und transzendentale Argumente“, 13) erachtet genau dieses Geltungsgeflecht als eine individuierende Besonderheit des transzendentalen Argumentierens, die es ins Positive zu wenden gilt: „Das berraschende an diesem Typ von Begrndung ist, daß die Ttigkeit der Begrndung, d. h. ihr Vollzug und das synthetische Kriterium der Gltigkeit nicht voneinander trennbar sind“.
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versucht haben. Ob mit dieser Feststellung jedoch ein irreparabler Fehler transzendentalphilosophischen Begrndens aufgezeigt wird, hngt wesentlich davon ab, ob durch (TZirkel) ein Begrndungszirkel benannt werden kann. Unter einem „Begrndungszirkel“ oder „circulus vitiosus“ verstehen wir einen Begrndungsfehler, bei dem das zu Zeigende bereits vorausgesetzt wird. Besteht der Begrndungsversuch im Nachweis der Geltung der These T und wird fr die Begrndung eine Prmisse P benutzt, dann liegt ein Begrndungszirkel vor, wenn P seinerseits nur dann in Geltung sein kann, wenn es T bereits ist. Begrndungsversuche, die diesen Fehler begehen, misslingen und reprsentieren damit berhaupt keine Begrndung. Es mag zwar der Fall sein, dass transzendentalphilosophischen Begrndungsversuchen auch Begrndungszirkel unterlaufen kçnnen, weil auch dieses Begrndungsgeschft im selben Maße irrtumsanfllig ist wie jede andere Begrndungspraxis. Allerdings reprsentiert die Begrndung von universalen Sinnbedingungen per se keinen Begrndungszirkel. Um dies zu erhellen, ist es von großem Vorteil, sich unsere zwei Begriffe von „voraussetzen“ in Erinnerung zu rufen. Zur Manifestation eines Begrndungszirkels bedarf es des Voraussetzens1, whrend transzendentalphilosophische Begrndungen (wie jede Form des Handelns) die Geltung von epistemologischen Sinnbedingungen prsupponieren2 : Form eines Begrndungszirkels:
P, P VT und T VP
(„Mit dem Begrndungsmittelbestand P und der Prmisse P kann T begrndet werden, aber die Geltung von P setzt die Geltung von T voraus1.“) transzendentale Begrndungsform: SxE(!) und Vollzugsmçglichkeit-vonK(,E(!)‘)x! (wobei !3S)138 („Mit dem Begrndungsmittelbestand S kann E(!) begrndet werden, obgleich die Mçglichkeit von K(,E(!)‘) die Geltung von ! prsupponiert2.“)
Transzendentalphilosophische Begrndungsversuche beinhalten nicht per se einen Begrndungszirkel, denn dann mssten diese Begrndungsversuche durchweg von der Form S, ! VE(!) und E(!)V! sein. Aber: i) universale Sinnbedingungen sind keine Prmissen und ii) die Geltung von ! setzt nicht die Geltung von E(!) voraus1. (TZirkel) lsst sich also nicht sinnvoll als Begrndungszirkeleinwand rekonstruieren. Doch damit bleibt offen, ob (TZirkel) nicht eventuell zur Formulierung eines anders gearteten 138 Mit der Bedingung !3S wird festgehalten, dass Prsuppositionen per definitionem keine Prmissen sind. Siehe 1.3.1.1.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Zirkeleinwands benutzt werden kann. Nachdem die Rekonstruktion in der Form eines Begrndungszirkels ausgeschlossen wurde, verbleibt schließlich noch die Mçglichkeit, ausgehend von (TB) eine neue Form von Zirkularitt namhaft zu machen. Da ein vermeintlich petitiçses Geltungsgeflecht zwischen E(!) und ! aus der soeben vorgetragenen Analyse ausgeschlossen ist, verbleibt im Besonderen die Mçglichkeit, den Einwand eine Stufe hçher anzusiedeln, indem wir zur Kenntnis nehmen, dass (TB) selbst lediglich eine Instanz des transzendentalphilosophischen Begrndungsgeschfts ist. Wir reformulieren (TZirkel) daher noch einmal allgemeiner: (VZirkel) Die transzendentalphilosophische Begrndungspraxis als solche steht bereits unter der Geltung der epistemologischen Prsuppositionen und verfhrt daher zirkulr, wenn die universalen Sinnbedingungen zum Gegenstand der transzendentalphilosophischen Begrndung gemacht werden. Durch (VZirkel) soll also keine Kritik an einem bestimmten Begrndungsversuch gebt werden, sondern an einer allgemeinen Begrndungspraxis unter Verweis darauf, dass die Begrndungsziele ausnahmslos Sinnbedingungen dieser Begrndungspraxis sind. Wir nennen dies vorlufig den metaphysischen Zirkelverdacht. Bereits Lotze139 und Windelband140 haben sich mit diesem Einwand auseinandergesetzt, um deutlich zu machen, dass es aufgrund der Unvermeidlichkeit des Bestehens der universalen Sinnbedingungen „nutzlos“ und „berflssig“ wre141, irgendwelche Bedenken aus (VZirkel) ableiten zu wollen, denn eine Lehre kann nur dort gezogen werden, wo dieser Erfahrungswert auch die Mçglichkeit zu einer Alternative im Handeln stiftet. Indes sollte man die Einsicht in die Unvermeidlichkeit umgehend ins Konstruktive wenden: die Prfung der Wahrheit unserer Erkenntniß im Ganzen ist unmçglich, ohne die zu prfenden Grundstze als Entscheidungsgrnde aller Zweifel vorauszusetzen. Diesen Cirkel, nach welchem unsere Erkenntniß sich die Grenzen ihrer Competenz selbst zu bestimmen hat, haben wir als unvermeidlich kennen gelernt; […] Darum ist das Vorgehen, man wolle zunchst durch vçllig unbefangene Beobachtung, ohne Einmischung fraglicher Verstandesgrundstze, den Hergang der Erkenntniß kennen lernen, eine haltlose Tuschung; jeder Versuch zur Ausfhrung ist nothwendig voll von metaphysischen Voraussetzungen, aber von unzusammenhngenden und ungeprften, weil man sie nur gelegentlich im Augenblick des Erklrungsbedrfnisses 139 Logik, „Drittes Buch“. 140 „Kritische oder genetische Methode?“, 122 f. 141 So Lotze, Logik, 480.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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macht. Da mithin dieser Cirkel unvermeidlich ist, so muß man ihn reinlich begehen142.
Lotze stellt also heraus, dass aufgrund der Unvermeidlichkeit des Bestehens der epistemologischen Prsuppositionen die Begrndung einer Methode erforderlich ist, um zumindest Aufklrung ber das prsuppositionale Geltungsgeflecht zu erhalten. Diese Aufklrungsarbeit ist geboten, weil es die „Schwierigkeiten vermehren“143 wrde, wenn man in Unkenntnis ber die universalen Sinnbedingungen Philosophieren wollte.144 In diese Argumentationslinie gesellt sich spter auch Heidegger, wenn dieser im Stellen der Sinnfrage des Seins zu der Einsicht gelangt, dass der Zirkel weder als ein vitiçser verstanden werden darf noch berhaupt als „unvermeidliche Unvollkommenheit“145 zu beurteilen ist. Wer Bewertungen dieser Form vornimmt, der hat nach Heidegger von Grund auf das Anliegen eines auslegenden Verstehens des In-der-Welt-seins missverstanden. Denn dass sich Auslegung im je schon Verstandenen bewegen und sich aus ihm nhren muss, ist kein Begrndungsdefekt, sondern der einzigartige „Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst“146. Gerade weil „Verstehen seinem existenzialen Sinn nach das Seinkçnnen des Daseins selbst ist“147, kçnnen Verstehen und Auslegung nicht von einer Perspektive aus vollzogen werden, die dem Beobachtungsstandort des Naturwissenschaftlers nachempfunden ist.148 Man muss sich nach Heidegger von der Vorstellung lçsen, dass wir uns im Stellen der Sinnfrage des Seins vergleichbar der Naturerkenntnis auf einen Gegenstandsbereich beziehen wrden, der vom Standpunkt des Fragenden unabhngig ist. Die ontologischen Voraussetzungen dieser Frage berschreiten – oder besser: berfordern – gerade die aus den Einzelwissenschaften stammenden Begrndungsstandards, so dass die in Erfahrung gebrachte Bedingungskonstellation zwischen der Geltung der Prsuppositionen und ihrer Analyse 142 Ebd., 513. 143 Ebd. 144 Exemplarisch: Wer sich keine Transparenz ber die Sinn- und Geltungsbedingungen seiner philosophischen Rede verschafft, kann nicht erkennen, wenn er etwa durch den Vollzug einer Behauptung eine Sinnentleerung des Gehalts vollzieht. 145 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 153. 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Vgl. ebd. Die hiermit zum Ausdruck gebrachte Warnung kann in ihrer Bedeutsamkeit kaum berschtzt werden. Was es mit dieser auf sich hat und weshalb sie im epistemologischen Reflektieren handlungswirksam sein sollte, werden wir im Detail in 2.1 ausfhren.
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keinen Makel, sondern eine fruchtbare Erkenntnis birgt. Nur indem wir die Frage nach der Mçglichkeit universaler Sinnbedingungen stellen, ergibt sich berhaupt das Problem eines mçglichen Zirkels. Oder um es mit Heidegger positiv zu wenden: Der »Zirkel« im Verstehen gehçrt zur Struktur des Sinnes, welches Phnomen in der existenzialen Verfassung des Daseins, im auslegenden Verstehen verwurzelt ist. Seiendes, dem es als In-der-Welt-sein um sein Sein selbst geht, hat eine ontologische Zirkelstruktur.149
Indem also das auslegende Verstehen in einem reflektierten Wissen um diese Struktur mndet, transformiert auch Heidegger Unkenntnis in Kenntnis der universalen Sinnbedingungen. Mit dieser geleisteten Aufklrungsarbeit durch Verstehen und Auslegung steht Heidegger – wenngleich vollzogen mit einem anderen philosophischen Mittelbestand – klar in der Tradition Lotzes und bildet problemgeschichtlich einen Bezugspunkt fr unsere Auflçsung: (VZirkel) gilt es weder zu ignorieren noch zu leugnen, sondern zu erklren. Und eine Methode, mit der diese Aufklrungsarbeit umgesetzt werden kann, wird durch die Transzendentalphilosophie begrndet. Diese Empfehlung richtet sich zwar primr an jene, die bereits anerkannt haben, dass es universale Sinnbedingungen gibt. Sie richtet sich aber auch an diejenigen, die Zweifel an der Mçglichkeit solcher Bedingungen haben, weil vor allem Lotzes Empfehlung zudem darauf aufmerksam macht, sorgsam zu prfen, worin die Sinnbedingungen der eigenen Rede bestehen. In Bezug auf (VZirkel) ist das Ergebnis aber in beiden Fllen eindeutig: Wer nicht anerkennt, dass es epistemologische Prsuppositionen gibt, der hat auch keine Veranlassung fr die Formulierung eines metaphysischen Zirkelverdachts. In diesem Fall kann die transzendentale Begrndung von lokalen und kontextvarianten Sinnbedingungen stets von einem Standpunkt aus vollzogen werden, der nicht unter der Geltung dieser Bedingungen steht. (Einen solchen Standpunkt muss es geben, wenn keine Sinnbedingung universale Geltung beanspruchen kann.) Wer indes das Bestehen universaler Sinnbedingungen akzeptiert, der rumt mit Lotze, Windelband und Heidegger – als einem Gebot der Klugheit – ein, dass es dann besser ist, deren geltungstheoretische Struktur zu verstehen als diese zu ignorieren: Wenn all unser Handeln unter der Geltung von bestimmten Bedingungen steht, dann empfiehlt es sich, mçglichst viel ber die Beschaffenheit und 149 Ebd.
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das Erfordernis dieser Bedingungen in Erfahrung zu bringen, damit wir zu einem reflektierten Verstndnis unserer Handlungsmçglichkeiten gelangen. Sollte daher das transzendentale Begrndungsgeschft eine vernnftige Weise sein, sich mit dem prsuppositionalen Geflecht auseinanderzusetzen, dann wird durch (VZirkel) kein Bedenken gegenber der Qualitt dieses Begrndungsgeschfts geußert, sondern eine unvermeidliche Folge dieser reflektierten Auseinandersetzung aufgezeigt. Man darf entsprechend feststellen, dass eine erfolgreiche transzendentale Argumentation nicht nur ihr Begrndungsziel erreicht, das im Nachweis von Bedingungen als epistemologischen Prsuppositionen besteht. Eine erfolgreiche transzendentale Argumentation legt zudem offen, warum das vollzogene Begrndungsverfahren einer reflexionslogischen Entfaltung der eigenen Sinnbedingungen berhaupt zulssig ist. Es empfiehlt sich daher, auf den Ausdruck „Zirkel“ in diesem Zusammenhang gnzlich zu verzichten, weil seine Verwendung Negativkonnotationen mitfhrt, die in Bezug auf das transzendentale Begrndungsgeschft unangebracht sind.150 Als Erluterung unserer Definition (Defep) kçnnen wir fr unsere erkenntnistheoretische Begrndungspraxis schließlich festhalten: Epistemologische Prsuppositionen sind universale Sinnbedingungen fr das Machen von Erfahrung, die bei Strafe der Sinnentleerung des Gehalts nicht negationsfhig sind und die – sofern sie berhaupt begrndbar sind – einer nichtzirkulren Begrndung fhig sind. Obgleich Kant in der Kritik der reinen Vernunft methodologische berlegungen dieser Form nicht im selben Umfang angestellt hat und er damit den Boden fr die am Ende von 1.3.2.2 exemplarisch benannten Zirkularittserwgungen geebnet haben mag, so kçnnen wir ihm die Einsichten 150 Auch Vossenkuhl („Transzendentale Argumentation und transzendentale Argumente“, 13) spricht sich gegen den Gebrauch des Ausdrucks „Zirkel“ in diesem Kontext aus, weil gemß seiner argumentationstheoretischen Analyse (und in bereinstimmung mit unseren Untersuchungen) die Mçglichkeit zur Diagnose eines Zirkels die Trennbarkeit des Kriteriums von der Begrndung prsupponiert. In (TB) manifestiert sich indes paradigmatisch die Nichttrennbarkeit des transzendentalen Kriteriums von der transzendentalen Begrndung, weil aufgrund von (Defep) jeder Begrndungsvollzug notwendig unter der Realisiertheit des Kriteriums steht. Folgerichtig erklrt er konstruktiv gewendet (und damit in der LotzeWindelband-Heidegger-Tradition stehend) den „Nachweis der Nicht-Trennbarkeit von Kriterium und Begrndung“ zum eigentlichen Begrndungsziel transzendentalen Argumentierens.
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dieses Abschnitts zuschreiben. Im Besonderen betrifft dies die begrndete Unterscheidung zwischen der Form eines Begrndungszirkels und der transzendentalen Begrndungsform, die Kant exemplarisch am Satz des zureichenden Grundes explizit macht: Er [der Satz des zureichenden Grundes, M.W.] heißt aber G r u n d s a t z und nicht L e h r s a t z , ob er gleich bewiesen werden muß, darum, weil er die besondere Eigenschaft hat, daß er seinen Beweisgrund, nmlich Erfahrung, selbst zuerst mçglich macht und bei dieser immer vorausgesetzt werden muß.151
Nach Auffassung Kants teilen Ermçglichungsbedingungen fr Erfahrung mit Lehrstzen die Gemeinsamkeit, dass sie allererst zu begrnden/zu beweisen sind. Im Unterschied zu Lehrstzen – und dies macht sie zu „Grundstzen“ – weisen Ermçglichungsbedingungen aber die Besonderheit auf, dass jeder Erfahrungsvollzug ihre Geltung bereits prsupponiert. Damit grenzt Kant die transzendentale Begrndungsform klar gegen die Form eines Begrndungszirkels ab, die ihrerseits nur auf Lehrstze angewendet werden kann. In Kenntnis der hier offengelegten Bedingungskonstellation ist es geboten, ihr auch und vor allem im Geltungsgeflecht unserer eigenen Argumentationsvollzge bestmçglich zu entsprechen. Deshalb verpflichten wir uns in Anlehnung an Kants Maxime der Vernunft (Maxime der konsequenten Denkungsart) „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“152 auf die umfassende Einhaltung der Maxime: (jMaxime) Da die Gehalte philosophischer Thesen und Fragen nicht im Widerspruch stehen drfen zu den Bedingungen ihrer Formulierbarkeit, behaupte nur diejenigen epistemologischen Gehalte, bei denen du auch in der Lage bist, die Prsuppositionen fr die Mçglichkeit des Behauptungsvollzugs als bestehend nachzuweisen! 1.3.2.4 Operationalisierung der Definition Die Schlussbemerkung des vorangegangenen Abschnitts macht noch einmal explizit, was wir unter epistemologischen Prsuppositionen im Anschluss an (Defep) verstehen wollen. Jedoch verbleibt diesbezglich die Frage, wie wir im philosophischen Begrndungsgeschft diese universalen Sinnbedingungen als solche erweisen kçnnen, d. h. wir bençtigen noch anwendbare Kriterien, anhand derer entschieden werden kann, wann wir 151 Kant, KrV, B 765. 152 Kant, KU, 294 (= B 158). Vgl. ebd., 295 (= B 160).
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gerechtfertigt von einer „epistemologischen Prsupposition“ sprechen drfen. Die Begrndung einer Bedingung " als einer universalen Sinnbedingung gelingt genau dann, wenn gezeigt werden kann: 1. " ist im Falle unserer Erfahrungswirklichkeit realisiert. (Wrde " in unserer Erfahrungswirklichkeit nicht bestehen, so kçnnte " keine Ermçglichungsbedingung fr Erfahrung sein, weil wir ja immerhin schon wissen, dass zumindest in unserer Erfahrungswirklichkeit das Machen von Erfahrung mçglich ist.) 2. Wre " im Fall unserer Lebenswelt nicht realisiert, dann wre unsere Lebenswelt keine Erfahrungswelt. (Im Falle einer bestehenden Bedingung " bleibt in diesem Schritt zu prfen, ob die Mçglichkeit von Erfahrung entfallen wrde, sobald " unrealisiert bliebe. Da in unserer Erfahrungswirklichkeit indefinit viele realisierte Bedingungen ausgewiesen werden kçnnen, viele von ihnen aber sicherlich in keinem epistemologischen Zusammenhang mit dem Machen von Erfahrung stehen, sind diejenigen zu spezifizieren, die Erfahrung mçglich machen.) 3. berall dort, wo wir sinnvoll von einer mçglichen Erfahrungswelt sprechen kçnnen, muss " realisiert sein, d. h. wir kçnnen exemplarisch Gegenstandsbereiche konstruieren, wo aus dem Nicht-Bestehen von " (unter sonst gleichbleibenden Bedingungen) folgt, dass dort das Machen von Erfahrung nicht mçglich ist. In dieser Charakterisierung kondensieren sich unsere berlegungen zum Begriff der epistemologischen Prsupposition153 gepaart mit unserer Theorie des epistemologischen Gedankenexperiments154. Durch die Explikation dieser Bedingungen erfhrt der Begriff der epistemologischen Prsupposition eine operationale Fundierung, weil offengelegt wird, wie unter Verwendung der (noch zu legitimierenden) Methode des epistemologischen Gedankenexperimentierens nachgewiesen werden kann, dass eine zur Betrachtung vorgelegte Bedingung eine epistemologische Prsupposition ist. Damit erhlt (Defep)155 eine operationalisierte Semantik. Aus dieser Charakterisierung lassen sich sogleich zwei Einsichten ableiten, die im Hinblick auf unsere bedeutungstheoretischen Grundlagen und die Mçglichkeit sinnhaften transzendentalen Argumentierens beraus bedeutsam sind. Erstens muss jede durch philosophisches Rsonieren be153 Siehe 1.3.2. 154 Siehe 4.2 – 4.4. 155 Siehe 1.3.2.1.
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grndete apriorische Erkenntnis – und damit im Besonderen der Aufweis von Bedingungen als epistemologischen Prsuppositionen – epistemisch manifestierbar sein.156 Durch die erste Bedingung wird explizit gemacht, dass ein apriorisches Wissen um universale Sinnbedingungen ausnahmslos eine Manifestation dieses Wissens in unserer Erfahrungswirklichkeit erforderlich macht: Wir mssen in der Lage sein, das Bestehen von " in unserer Erfahrungswirklichkeit zu erweisen. Lsst sich indes der durch " zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt als in unserer Erfahrungswirklichkeit nicht bestehend nachweisen oder aber ist berhaupt nicht klar, welcher Sachverhalt zum Ausdruck gebracht wird, dann kann erkenntnistheoretisch auch kein apriorisches Wissen um " etabliert werden. Oder um es mit einer konzisen Wendung Nicolai Hartmanns auszudrcken: es gibt apriorische Erkenntnis nur so weit, als der aposteriorischen das Dasein der Flle zugnglich ist.157
Zweitens muss der Gefahr des Spekulativen vorgebeugt werden, wenn kontrafaktisch etwas ber das epistemologisch (Un)Mçgliche ausgesagt werden soll. Diese Gefahr besteht zwar vor allem durch die Formulierung der dritten Bedingung, allerdings bedarf es dieser, weil zum einen durch die ersten beiden Forderungen auch empirisch notwendige Bedingungen fr das Machen von Erfahrung positiv geprft werden kçnnen, die jedoch einzig relativ zu den empirischen Besonderheiten unserer Erfahrungswirklichkeit in Geltung sind. Zum anderen gilt es vor allem Wendungen wie „universal“ bzw. „sinnhaft“ operational zu fundieren, die nun einmal mit einer prsuppositionalen Variation im Begriffssystem einhergehen. Das durch diese dritte Bedingung zum Ausdruck gebrachte Testkriterium mag in der Tat zu Scheinproblemen fhren, wenn die investierten Mittel zur Prfung keiner vorgngigen Zulssigkeitserklrung zugefhrt wurden. Wenn man aber die hierfr erforderlichen Mittel bestmçglich explizit macht, rechtfertigt und in ihrer Anwendung streng kontrollieren kann, dann gewinnt man durch solche kontrafaktischen berlegungen keine Scheinprobleme, sondern Klarheit. Das Erfordernis einer Theorie des Gedankenexperiments fr die Erkenntnistheorie ist damit offensichtlich.
156 Zur Rede von der „epistemischen Manifestierbarkeit“ siehe 2.2.1.1 und 2.2.2.4. 157 Hartmann, Grundlegung der Ontologie, 103.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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1.3.2.5 Geltung und Autonomie im Handeln Wir beschließen diesen Abschnitt ber den Begriff der epistemologischen Prsupposition durch die Erçrterung eines Beispiels. Nach all den theoretischen Ausfhrungen empfiehlt sich dies bereits aus Verstndnisgrnden. Als Beispiel whlen wir: Handlungsautonomie ist eine universale Sinnbedingung fr die Mçglichkeit des Machens von Erfahrung. Die Wahl gerade dieser Prsupposition als Beispiel verdankt sich vor allem zwei Grnden. Zum einen werden wir im Vollzug der Bereitstellung unserer Kategorientheorie158 feststellen, dass der transzendentale Begriff des epistemischen Handlungssubjekts ein aussichtsreicher Kandidat fr das Kategoriensein ist. Damit wir aber in der transzendentalen Entfaltung des Erfahrungsbegriffs159 einen geeigneten Begriff des epistemischen Handlungssubjekts als Kategorie begrnden kçnnen, mssen die Merkmale dieses transzendentalen Begriffs bereits hinreichend klar bestimmt sein. Dies bernehmen im Besonderen die Abschnitte 3.5.5 sowie 4.3 und eben der vorliegende.160 Zum anderen werden wir im sechsten Kapitel eine Problemgeschichte konstituieren, nach der Kants Erkenntnistheorie weder auf eine ontische Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich noch auf eine positive Bestimmung des Noumenalen angewiesen ist. Dies scheint aufs Erste ein unbefriedigendes Ergebnis zu sein, wenn man in Erinnerung ruft, dass Kant der praktischen Vernunft gegenber der theoretischen den Primat zuspricht.161 Durch die theoretische Vernunft kann Freiheit zwar als transzendente Idee gedacht, aber nicht als Faktum der reinen Vernunft nachgewiesen werden.162 Dies ist Aufgabe der praktischen Vernunft, was aufgrund ihres Primats sogleich bedeutet, dass bereits die Erkenntnistheorie den logischen Raum bereitzustellen hat, in dem
158 Siehe 3.5. 159 Siehe Kap. 9. 160 Weitere Ausfhrungen darber hinaus erfolgen in 9.3.2.2. Unsere Begrndungsmethoden reichen allerdings nicht hin, um dichtere Personenbegriffe zu bestimmen, wie sie etwa bei Hartmann et al. („Person, Personal Identity, and Personality“) oder Quante (Person) eingefhrt werden. Obwohl die dort verfochtenen Personenbegriffe harmonieren mit unserem minimalen Begriff des epistemischen Handlungssubjekts, so lsst sich transzendental – und damit in unserem Projekt – bei weitem nicht so viel begrnden, um einen Begriff der Person im anspruchsvollen Sinne zu etablieren. 161 Siehe Kant, KpV, 119 ff. 162 Etwa Kant, KrV, B 561, B 586.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
Freiheit nicht nur mçglich, sondern auch wirklich ist.163 Da die Sinnenwelt aber durchweg kausal bestimmt ist (alle Handlungen sind physisch bedingt, sofern sie Erscheinungen sind), bedarf es fr die Mçglichkeit und Wirklichkeit von Freiheit eines anderen Ortes: die bersinnliche Natur und reine Verstandeswelt.164 In dieser intelligiblen und moralischen Welt kann der Mensch aber nur als Noumenon auftreten.165 Folglich hat bereits die theoretische Vernunft dafr Sorge zu tragen, dass es neben der Welt der Erscheinungen noch eine intelligible gibt, in der die praktische Vernunft einem bersinnlichen Gegenstand (Freiheit) zur Wirklichkeit verhelfen kann. Es scheint also einen substantiellen Grund zu geben, warum man die noumenale Welt auch in der Erkenntnistheorie nicht suspendieren sollte. Wir werden jedoch sogleich ausfhren, dass der Primat des Praktischen und die Realisierung von Freiheit gewahrt werden kann, ohne hierfr eine bersinnliche Welt annehmen zu mssen. Zwar gehçrt die Rechtfertigung ethischer Normen und die Bestimmung von Moralitt zu den Aufgaben der praktischen Vernunft und damit nicht mehr in den Zustndigkeitsbereich der Erkenntnistheorie, aber die Mçglichkeit von Handlungs- und Zwecksetzungsautonomie muss bereits aus folgendem Grund epistemologisch gewhrleistet sein: (Tfrei) Damit das Machen von Erfahrung berhaupt mçglich ist, mssen die Macher von Erfahrung bereits als autonom Handelnde anerkannt werden. Fr die Begrndung von (Tfrei) mssen wir zwar – wie des fteren in der vorliegenden Arbeit – ber Kant hinausgehen, jedoch benutzen wir hierfr durchaus kantische Einsichten. Selbstverstndlich kann man geteilter Auffassung darber sein, in welchem Sinne dies dann noch „kantisch“ genannt werden kann oder in welchem Umfang die ideengeschichtlichen Wurzeln noch bei Kant liegen. Das vorliegende Projekt kann sich mit jeder diesbezglichen Antwort arrangieren, denn allein am Worte wollen wir uns nicht messen lassen. Zum anderen werden wir gerade im sechsten Kapitel eine Problemgeschichte aufbereiten, die explizit begrndet, dass das vorliegende Programm zumindest problemgeschichtlich als klar in der Tradition Kants stehend verstanden werden kann. Und schließlich halten wir es im Zweifelsfalle wie schon Wilhelm Windelband, wenn in Frage gestellt 163 Ebd., B 828: „so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das P r a k t i s c h e angehen mssen“. 164 Siehe etwa Kant, KpV, 43. 165 Siehe etwa ebd., 48.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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wird, ob man von Kant berhaupt etwas gelernt hat, wenn man es in Teilen dann doch anders macht, denn „Kant verstehen, heißt ber ihn hinausgehen“166. Doch kommen wir zur Begrndung von (Tfrei) zurck. So stellte schon Kant fest, dass die Vernunft das Vermçgen ist, frei zu urteilen. 167 Dies nennt Kant Autonomie. Bedeutsam an dieser Einsicht ist die Betonung der Autonomie in der Urteilsfllung, d. h. obgleich das Urteilen als ein Handeln physisch bedingt ist (und mithin in der Welt der Erscheinungen unter der Kategorie der Kausalitt steht), so wird es erst dadurch zu einem mit Geltungsansprchen versehenen Urteilsvollzug, wenn vorausgesetzt wird, dass dieses Urteilsgeschehen kein bloßes Naturgeschehen ist. Der Urteilsfllende muss als ein autonomes Wesen anerkannt werden, damit sinnvoll prsupponiert werden kann, dass er im Besonderen die Urteilsfllung auch htte unterlassen kçnnen. Der Urteilsfllende muss ber das Vermçgen verfgen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen168.
Die damit bereits angezeigte normative Dimension im Erkenntnisprozess wurde vor allem im Neukantianismus der sdwestdeutschen Schule weiter ausgebaut. So stellte bereits Windelband heraus, dass Werte und Wertbeziehungen nicht erst in der Ethik und sthetik eine Rolle spielen, weil bereits die Wahrheit im Denken als allgemeiner Wert anzuerkennen ist.169 Unterstrichen wird diese Einsicht durch eine wesentlich zeitgleiche Beurteilung Emil Lasks, der hervorhebt, dass die Wahrheitsfindung nicht angemessen als ein bloßes Verhalten oder normenfreies Geschehen beschrieben werden kann, sondern durchdrungen ist von Rationalittsnormen, die den Urteilsfllenden in die Pflicht nehmen, die Begrndungsstandards einzuhalten: Wenn Wahrheit ein Wert ist, so kann die charakteristische theoretische Subjektbesttigung, das Erkennen, kein teilnahmsloses Verhalten, es muß vielmehr Stellungnehmen zum Wert, praktische Besttigung sein, in der etwas von sittlicher Achtung vor dem Wert niedergelegt ist. Es geht nicht mehr an, eine parteilose Sachlichkeit des rein Theoretischen in Gegensatz zur wertenden Teilnahme zu stellen. Auch der Erkennende, der im Urteil sich Entscheidende, 166 167 168 169
Windelband, „Vorwort“ (zur ersten Auflage der Prludien), IV. Vgl. Kant, Streit der Fakultten, 27. Kant, KrV, B 473. Siehe Windelband, „Kritische oder genetische Methode?“, 122.
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Kapitel 1: Erste Sinnbedingungen
der nach Wahrheit Strebende handelt aus Pflicht, nach seinem Gewissen. Hinter dem Wissen steht das Gewissen.170
In der Analyse von Lask ist bereits alles Erforderliche fr die Begrndung von (Tfrei) angelegt, so dass wir die erforderlichen Begrndungsschritte (in moderner Terminologie) nur noch zu explizieren brauchen. 1. Damit Erfahrung mçglich ist, mssen Erkenntnisse propositional gefasst und kommunizierbar sein. 2. Die Propositionalitt von Erkenntnissen und ihre Kommunizierbarkeit setzt die Mçglichkeit von Sprache voraus und damit im Besonderen die Mçglichkeit des Erhebens und Einlçsens von Geltungsansprchen. 3. Das Erheben und Einlçsen von Geltungsansprchen setzt aber die Manifestierbarkeit von Bedeutungs- und Sinngehalten sprachlicher Ausdrcke voraus, denn Geltungsfragen stellen sich erst dann, wenn wir wissen, was gesagt wurde. 4. Bedeutung und Sinn sprachlicher Ausdrcke sind keine Naturgegenstnde, sondern werden durch Sprach- und Handlungsgemeinschaften allererst konstituiert. 5. Im Besonderen manifestiert sich dies in der Bedingung, dass sich das gegenseitige Verpflichten auf das Einlçsen von Ansprchen und das Sanktionieren im Falle der Verweigerung oder im Falle des Scheiterns als Norm etablieren lsst. 6. Normen kçnnen nur dort sinnvoll etabliert werden, wo man grundstzlich auch in der Lage ist, ihnen zu folgen, denn eine Bedingung der Sinnhaftigkeit des „Sollens“ besteht in der Mçglichkeit des „Kçnnens“.171 7. Um Normen berhaupt befolgen zu kçnnen, muss prsupponiert werden, dass wir im Handeln autonom sind, d. h. dass wir Alternativen erwgen, Entscheidungen fllen, revidieren und umsetzen kçnnen. 8. Damit also Erfahrung mçglich ist, muss im Besonderen die Bedingung der Handlungsautonomie erfllt sein. Damit sind die Hauptlinien fr das Argument zur Sttzung von (Tfrei) benannt. Konkretisieren wir diese epistemologische Prsupposition am Fall des Behauptens. Die Formulierung von Erkenntnisansprchen manifestiert sich paradigmatisch im Behaupten. Wer eine Aussage ! behauptet, der tritt mit 170 Lask, „Gibt es einen „Primat der praktischen Vernunft“ in der Logik?“, 350. 171 Siehe etwa Kant, KpV, 30.
1.3 Weitere Sinnbedingungen philosophischen Argumentierens
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dem Anspruch auf, dass ! wahr ist. Hierin unterscheidet sich der Akt des Behauptens wesentlich von der Zitation einer Aussage, ihrer bloßen Vorlage zur Betrachtung oder dem gleichklingenden Gerusch eines Papageien. Wer eine Aussage ! behauptet, der verpflichtet sich auf Nachfrage hin, das Bestehen der Geltung von ! gemß den gemeinsam geteilten Begrndungsstandards nachzuweisen. Besonders prominent zeigt sich diese normative Ebene in der Analyse von Behauptungssprachspielen im semantischen Inferentialismus: The speech act of asserting arises in a particular, socially instituted, autonomous structure of responsibility and authority. In asserting a sentence one both commits oneself to it and endorses it.172 In asserting a claim one not only authorizes further assertions, but commits oneself to vindicate the original claim, showing that one is entitled to make it.173
Damit Kommunikation im Allgemeinen und das Behauptungssprachspiel im Besonderen berhaupt gelingen kann, bedarf es des Verpflichtungscharakters des Gebens und Nehmens von Grnden. Behauptungen sind keine beliebigen und wahllosen ußerungsakte noch gar bloße geruschhafte Geschehen, weil durch das Behaupten eine bessere Orientierung im Handeln gewhrleistet werden soll. Hierin besteht ein entscheidender sprachpragmatischer Aspekt von Wahrheit, denn wahre Aussagen sollen sich von falschen unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie als potentielles Handlungswissen gerechtfertigt Eingang in Handlungsplanungen, -entscheidungen und -vollzge finden: Wahrheit soll Gewissheit im Handeln stiften und ein Garant fr den Handlungserfolg sein. Letzteres bedeutet nicht, dass Wahrheit stets zum Erfolg fhrt, aber wer seine Entscheidungen im Handeln nicht auf Einsichten grndet, die er begrndet als wahr anerkennt, der muss besonders damit rechnen, dass er scheitert. Wer also im Handlungskontext K zur Realisierung des Zweckes Z eine inhaltlich einschlgige Aussage ! behauptet, der bringt damit auch gegenber Dritten zum Ausdruck, dass er ber ein Wissen verfgt, dessen Bercksichtigung der Realisierung von Z dienlich ist. Durch den Vollzug der Behauptung wird das „Frwahrhalten-von-!“ zwar erst einmal nur angezeigt, aber diese Kenntlichmachung impliziert bereits pragmatisch eine Vielzahl von Verpflichtungsbedingungen gegenber den Kommunikations- und Kooperationspartnern im Kontext K. Damit K als Kommu172 Brandom, „Asserting“, 640. 173 Ebd., 641.
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nikationssituation von allen anerkannt werden kann, mssen grundlegende Rahmenbedingungen als bereits realisiert unterstellt werden – wie etwa Spielweisen des Griceschen Kooperationsprinzips: Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged.174
Wer Prinzipien dieser Form akzeptiert, der verpflichtet sich auf eine Vielzahl weiterer Konversationsmaximen, die nicht einzig nur die Wahrheitsfrage betreffen. Bei Grice stehen daher nicht nur Forderungen im Mittelpunkt wie: Nichts zu sagen, von dem man schon weiß, dass es falsch ist, oder nichts zu behaupten, fr dessen Geltung man keine Anhaltspunkte hat.175 Maximen, die einen zweckdienlichen Informationsgehalt, Relevanz, Klarheit, Eindeutigkeit oder auch Prgnanz einfordern176, gehçren gleichermaßen zu den gemeinsam geteilten Konversationsmaximen. Der Behauptende tritt also nicht nur in die Rolle des Begrndungsfhigen ein (eine Rolle, die ihm aufgrund seines Behauptungsvollzuges zu Recht prdiziert werden kann), sondern er muss im Bedarfsfall auch rechtfertigen kçnnen, warum er diese Handlung vollzogen hat – etwa dann, wenn fr Dritte nicht ersichtlich ist, warum die Wahrheit von ! ein relevantes Handlungswissen zur Realisierung von Z reprsentieren soll.177 Diese Begrndungs- und Rechtfertigungspflichten setzen bereits voraus, dass der Behauptende Nachfragen und Einwnde bezglich der Geltung und Relevanz seiner Aussage anzuerkennen und in einem angemessenen Maße zu bercksichtigen hat. Letzteres bedeutet im Besonderen, dass die herangezogenen Mittel – zumindest im Kontext K – allgemein anerkannt sind, d. h. dass sie den gemeinsam geteilten Rationalittsstandards gengen. Der Behauptende darf zur Umsetzung seiner Begrndungs- und Rechtfertigungspflichten also keine Mittel whlen, deren Zulssigkeit nicht erwiesen werden kann. Darber hinaus geht mit diesen Bedingungen die Verpflichtung einher, jene Sanktionen anzuerkennen, die legitim umgesetzt werden kçnnen, wenn einer der benannten Verpflichtungen 174 175 176 177
Grice, „Logic and Conversation“, 26. „The Category of Quality“. Vgl. ebd., 27. Vgl. ebd., 26 f. Es ist ein abwegiges Bild, dass das Behaupten einzig der Reprsentation oder Abbildung der Erfahrungswirklichkeit dienen soll. Obgleich die sprachphilosophischen Traditionen auch in diesem Punkt geteilter Auffassung sind, so wrde doch gerade im Alltag niemand die These vertreten, dass wir Behauptungen kontextfrei vortragen zur schlichten Feststellung dessen, was alles so der Fall ist.
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nicht nachgekommen wird. Wer Nachfragen nicht zulsst, Einwnde nicht ernst nimmt oder die Begrndung verweigert, muss damit rechnen, dass er von der Handlungsgemeinschaft ausgeschlossen wird oder kein Gehçr mehr findet usw. Dies sind freilich schon besonders drastische Flle. Aber auch weniger dramatische Verstçße wie misslungene Begrndungen, irrelevante Behauptungen oder weitschweifige Erluterungen kçnnen Sanktionen wie „Denke beim nchsten Mal bitte erst einmal nach, bevor Du etwas sagst“, „Ordne bitte erst einmal Deine Gedanken, bevor Du einen Gesprchsbeitrag platzierst“ oder „Fasse Dich kurz“ zur Folge haben. Doch im selben Maße, wie diese Verpflichtungen vom Behauptenden anerkannt und eingelçst werden mssen, gilt dies auch fr alle anderen Teilnehmer im Handlungskontext K. Genau so wie sich der Behauptende auf die argumentative Redlichkeit verpflichtet, darf er diese Forderung auch an alle anderen stellen. All dies und mehr muss grundstzlich gewhrleistet werden kçnnen, wenn Wahrheit nicht nur eine epistemologische Erfindung bleiben, sondern einen Platz im Leben haben soll. Der Zweck von Wahrheit besteht nicht im Resultat wahrer Aussagen, sondern wahre Aussagen sind ebenso ein Mittel zum gelingenden und erfolgreichen Handeln wie das Geben und Nehmen von Grnden innerhalb von Behauptungssprachspielen ein Mittel ist zur Etablierung von Wahrheit. Und damit Behauptungssprachspiele berhaupt mçglich sind, bedarf es eines sie einbettenden normativen Rahmens, dessen Einhaltung die Realisierung der verfolgten epistemischen Zwecke allererst ermçglicht.178 Die Mçglichkeit des Befolgens der konstitutiven Normen fr das Behaupten erweist sich damit als eine Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung: Erkenntnissubjekte – und damit kommen wir zu einem Merkmal des transzendentalen Begriffs des epistemischen Handlungssubjekts – sind Individuen einer Kommunikations- und Kooperationsgemeinschaft und mssen als autonom Handelnde grundstzlich anerkannt werden, damit das Machen von Erfahrung mçglich ist. 178 Es berrascht daher nicht, wenn etwa Habermas („Wahrheitstheorien“, 137 ff.) explizit festhlt, dass ein funktionierendes Sprachspiel durch einen normativ geregelten „Hintergrundkonsens“ begleitet wird, dessen Nichteinhaltung zur Stçrung des Sprachspiels fhrt. Bei Habermas (ebd.) besteht dieser Hintergrundkonsens aus der Anerkennung der folgenden Geltungsansprche: Verstndlichkeit der ußerung, Wahrheit des propositionalen Bestandteils des Sprechakts, Richtigkeit des performativen Bestandteils des Sprechakts sowie Wahrhaftigkeit der geußerten Intention des Sprechers.
Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit Ja, wir halten die Transscendentalphilosophie mit einem richtig verstandenen Positivismus und Empirismus fr durchaus vereinbar. (Rickert, „Zwei Wege der Erkenntnistheorie“, 171)
2.1 Der Sideways-on-view und seine metaphorische Rolle Da die Merkmale des transzendentalen Antirealismus unter anderem ex negativo ber jene Argumentationsmittel bestimmt werden, die es zu vermeiden gilt, bedarf es einer mçglichst guten Explikation des in Opposition befindlichen Metastandpunktes. Da unsere nachfolgende Abgrenzung von wissenstranszendenten Begrndungsprinzipien wesentlich Gebrauch macht von der Unterscheidung zwischen „ontischen“ und „epistemischen“ Deutungen der kategorialen Begriff-Gegenstand-Differenzierung, bedarf es einer prgnanten und nicht suggestiven Charakterisierung dessen, was ontische Deutungen und damit wissenstranszendente Perspektiven auszeichnet. Innerhalb der Erkenntnistheorie gibt es hierfr ein durchaus reichhaltiges Angebot. Es reicht von der Rede eines „theozentrischen Modells der Erkenntnis“1 ber jene eines „archimedischen Standpunktes“ bis hin zu Wendungen wie „kosmisch verbannte Perspektive“2, „Blick von Nirgendwo“3 und „gçttlicher Standpunkt“.4 Gleich welche metaphorische Redeweise wir gebrauchen, sie bedarf der Erluterung, denn im Rahmen philosophischer Argumentationen, die immerhin 1 2 3 4
Etwa Allison, Kant’s Transcendental Idealism, 27 ff. „cosmic exile’s perspective“ (McDowell, „Anti-Realism and the Epistemology of Understanding“, 329, 343). Nagel, The View from Nowhere, 67: „we must get outside of ourselves, and view the world from nowhere within it“. Bei Tennant (The Taming of the True, 35) fallen diese Perspektivenbezeichnungen allesamt unter die Kernthese des „Archimedianismus“ des bedeutungstheoretischen Realismus.
2.1 Der Sideways-on-view und seine metaphorische Rolle
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auf propositionale Erkenntnis, d. h. Aussagenwahrheit, hin ausgerichtet sein sollten, muss gerechtfertigt werden, warum der Gebrauch literarischer Formen im Einzelfall zulssig ist.5 So bedarf es im Besonderen der Erklrung, welche erkenntnisorientierte Funktion die metaphorische Rede zu bernehmen hat, inwiefern diese Funktion nicht bereits durch behauptende Rede sichergestellt ist und warum diese metaphorische Bereicherung gleichwohl angemessen und erforderlich ist. Wir benutzen im Folgenden die von John McDowell stammende Wendung des Sideways-on-view, weil bereits durch diesen Namen der Perspektivenbeschreibung alle wesentlichen Kennzeichen fr die Besonderheiten dieses Blickwinkels angezeigt werden. Der Sideways-on-view benennt eine „um 90 Grad gedrehte“ Perspektive auf die Erfahrungswirklichkeit und beschreibt dabei ein ganz bestimmtes Verhltnis vom Erkenntnissubjekt zu seinem Erkenntnisobjekt: Wir bewegen uns aus der Binnenperspektive des Erkenntnissubjekts heraus und betrachten letzteres nun von außen, wobei das Ganze der Erfahrungswirklichkeit (die Perspektive des Erkenntnissubjekts – der Within-view) instantan zerfllt in die beiden Konstituenten: begrifflich-subjektive Befangenheit des Einzelnen und Welt, so wie sie wirklich und unabhngig unseres subjektiv eingetrbten Blicks ist: We find ourselves always already engaging with the world in conceptual activity within such a dynamic system. Any understanding of this condition that it makes sense to hope for must be from within the system. It cannot be a matter of picturing the system’s adjustments to the world from sideways on: that is, with the system circumscribed within a boundary, and the world outside it. That is exactly the shape our picture must not take.6
Es ist nun Aufgabe dieses Abschnitts, explizit zu machen, welche erkenntnisorientierte Funktion dieser metaphorischen Rede zukommt und warum sie zulssig im Rahmen unserer erkenntnistheoretischen Argumentationen Verwendung finden kann.
5
6
So auch Nagel (The View from Nowhere, 67). Allerdings ist Nagel lediglich kritisch gegenber dem wçrtlichen Gebrauch von „get outside of ourselves“. Der von ihm empfohlene metaphorische Gebrauch erweist sich letztlich als Analogie (vgl. ebd., 69 f., 74) und unterliegt unserer Analyse vom „szientifischen Blick“. Siehe 2.1.3. McDowell, Mind and World, 34.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
2.1.1 Zur Grammatik der Wendung Um erst einmal herauszustellen, warum es sich beim Gebrauch der Wendung Sideways-on-view um eine metaphorische Rede handelt, bedarf es der Feststellung, dass diese Rede offenkundig nicht wçrtlich zu verstehen ist. „Seitlich Schauen“ oder einen „seitlichen Blick einnehmen“ sind adverbiale bzw. adjektivische Redeweisen zur Kennzeichnung einer rumlichen Perspektive auf ein Objekt. Sofern wir bei einem Objekt eine Vorderseite auszeichnen kçnnen oder aber ber ein Bezugssystem verfgen, das uns etwa eine Bewegungsrichtung vorgibt, dann besagt die Rede „x befindet sich seitlich von y“ nichts anderes als „x befindet sich (relativ zum Bezugskriterium K) neben y“. Im relationalen Gebrauch handelt es sich bei „seitlich von“ also um eine zwar symmetrische, aber irreflexive Relation, weil rumlich niemand (bzw. kein Gegenstand) neben sich selbst stehen kann. blicher als die relationale Verwendung „ist seitlich von“, die fr beliebige Gegenstandsklassen verwendet werden kann (sofern auf diese Raumprdikate berhaupt sinnvoll angewendet werden kçnnen), ist der adverbiale bzw. adjektivische Gebrauch in Wendungen wie etwa „ich betrachte seitlich das Kunstwerk“, „der Handwerker hat zur Kontrolle einen seitlichen Blick auf die Mauer eingenommen“, „damit der Knstler das Modell im Profil malen konnte, hat er es immer auch wieder seitlich betrachtet“ oder „aufgrund ihrer seitlichen Perspektive hat sie die Maße nicht gut abschtzen kçnnen“. Es handelt sich dabei also um Aussagen, in denen ein Wahrnehmungs-/Erkenntnissubjekt in einer bestimmten Weise auf einen rumlichen Gegenstand Bezug nimmt. Sofern wir also gegenber einem Objekt unseres Interesses eine Perspektive sideways-on einnehmen, erlaubt dies unter anderem weiterfhrende Informationen ber Form und Grçße des Gegenstands oder seine Lage im Raum. Manchmal fhrt dieser Blickwinkel aber auch zu fehlerhaften Einsichten bezglich bestimmter Proportionen oder Abstnde zwischen Gegenstnden usw. Durch die Einnahme der Perspektive sideways-on kçnnen wir aber in sehr vielen Fllen vor allem unser Wissen ber den in Frage stehenden Untersuchungsgegenstand verbessern, weil wir sie neben anderen Perspektiven auf das Objekt ergnzend hinzuziehen und auch als Prfinstanz nutzen. Wer etwa mittig vor einem Einfamilienhaus steht (also eine frontale Perspektive einnimmt), der befindet sich zwar in einer guten rumlichen Lage, um Auskunft ber die ungefhre Breite und Hçhe des Hauses zu geben. Allerdings kann er aus dieser Perspektive schlecht abschtzen, wie tief (lang) das Haus ist. Dazu eignet sich eine seitliche Perspektive besser. In seinem wçrtlichen Gebrauch ist der Sideways-on-view also ein Blickwinkel neben
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anderen, d. h. die Mçglichkeit eines (rumlich zu vollziehenden) Perspektivenwechsels ist gegeben. Sofern nun innerhalb der Erkenntnistheorie vom Sideways-on-view die Rede ist, so ist dies nicht im rumlichen – also wçrtlichen – Sinne zu verstehen. Wenn etwa McDowell konzise charakterisiert a sideways-on picture–here the conceptual system, there the world7,
dann meint dies nicht, dass wir an dieser-und-jener Stelle im Raum das Erkenntnissubjekt haben und dort-und-dort die Welt vorfinden. Zwar handelt es sich bei der epistemologischen Perspektive um einen Beobachterstandpunkt, aber von diesem aus soll weder eine empirische Untersuchung von (rumlich lokalisierbaren) Erkenntnissubjekten vollzogen werden (das wre etwa eine Aufgabe fr die Psychologie oder Soziologie) noch eine empirische Untersuchung der Welt als Erkenntnisobjekt (das wre etwa eine Aufgabe fr die Physik, die Chemie, die Geographie usw.). „Sich im Hinblick auf erkenntnistheoretische Fragen seitlich zur Erfahrungswirklichkeit zu positionieren“ kann deshalb nicht im wçrtlichen Sinne verstanden werden, weil sonst entsprechende Aussagen falsch wren. Jede rumlich eingenommene oder einnehmbare Perspektive gehçrt per definitionem zu unserer Erfahrungswirklichkeit, so dass eine solche Perspektive unter keinen Umstnden einen seitlichen Blick auf die Erfahrungswelt erlaubt: We cannot, after all, somehow jump outside our own experience to examine the objects of the world in order to see if they match up to our representations of them8.
Sofern wir also einen Standpunkt sideways-on zur Erfahrungswirklichkeit einnehmen, dann ist diese Wendung offenkundig nicht in ihrer angestammten Bedeutung zu verstehen, sondern in einem bertragenen Sinne. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine metaphorische Rede: Wir benutzen ein Prdikat mit einer angestammten Bedeutung (in unserem Fall ein Raumprdikat) und berfhren es in einen Gebrauchskontext, in dem es auf logische Subjekte angewendet wird, die von einer gnzlich anderen kategorialen Beschaffenheit sind (in unserem Fall Argumentationsprsuppositionen):
7 8
Ebd., 35. Kursivsetzungen von mir, M.W. Pinkard, German Philosophy, 28. Ders., Hegel’s Dialectic, 13: „one can no more jump out of one’s system of description than one can jump out of one’s skin“.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
What occurs is a transfer of a schema, a migration of concepts, an alienation of categories. Indeed, a metaphor might be regarded as a calculated categorymistake–or rather as a happy and revitalizing, even if bigamous, second marriage.9
2.1.2 »Prgnanz« als Funktion Sich erkenntnistheoretisch sideways-on zur Erfahrungswirklichkeit zu befinden, bedeutet metaphorisch, sich im Rahmen einer philosophisch distanzierten, rein hypothetisch ausgerichteten Erwgung aus der Binnenperspektive des erkenntnistheoretisch Fragenden heraus zu begeben, um gleichsam „außerhalb von Raum und Zeit“ eine unverflschte Perspektive auf das Erkenntnissubjekt und seine Stellung zu der es umgebenden Erfahrungswelt einzunehmen. Dieser Beobachterstandpunkt soll eine nchterne und – aufgrund der Distanziertheit – vçllig wertneutrale Analyse der Erkenntnismçglichkeiten des Erkenntnissubjekts erlauben, weil durch den jenseitigen Standpunkt zugleich ein nicht eingetrbter Blick auf die Welt, wie sie tatschlich und unabhngig der Limitationen unserer Erkenntnismçglichkeiten ist, mçglich sein soll. Durch die epistemologische (und nicht rumlich zu verstehende) sideways-on-Bewegung erhalten wir also nicht nur einen seitlichen Blick auf das Erkenntnissubjekt, sondern zugleich auch einen erkenntnissubjektbefreiten Blick auf die Welt, wie sie an sich ist. Whrend der Within-view – also die Perspektive des Erkenntnissubjekts – nur einen beschrnkten, weil sinnlich eingetrbten und begrifflich vorstrukturierten Blick auf die Beschaffenheit der Erfahrungswirklichkeit gestattet, befreit sich die sideways-on-Bewegung von den Limitationen und Handicaps des Within-view: Die sideways-on-Bewegung strebt nach einer Perspektive vollkommener epistemischer Dignitt, die durch endliche epistemische Wesen wie uns nicht einnehmbar ist. Diese instantane Bewegung transzendiert jegliche Subjektivitt und mndet in einer Perspektive ohne Beschreibungsmçglichkeit. Da unsere propositionale Prformation der Erfahrungswirklichkeit zumindest die Mçglichkeit einer begrifflichen Verzerrung zulsst und mithin keinen direkten unverflschten Blick auf die Dinge an sich garantieren kann, muss durch die sideways-on-Bewegung die Sprache selbst verlassen werden. Damit der angestrebte Sideways-on-view aber nicht selbst wieder zu 9
Goodman, Languages of Art, 73.
2.1 Der Sideways-on-view und seine metaphorische Rolle
111
einem Within-view auf einer abstrakteren Stufe wird, mssen auch alle weiteren epistemologischen Besonderheiten des Within-view durch die sideways-on-Bewegung zurckgelassen werden – im Besonderen die Ganzheitlichkeit der Erfahrungswirklichkeit, zu der auch das Erkenntnissubjekt mit all seinen Erkenntnismçglichkeiten selbst gehçrt. Aus diesem Grund ist die argumentativ vollzogene sideways-on-Bewegung auch keine stetige Bewegung, bei der sukzessiv Eigenschaften eines sich „argumentativ bewegenden“ Einzeldings zurckgelassen werden. Vielmehr erfolgt abrupt und unstetig die Suspendierung des Einzeldings (des ehemaligen Erkenntnissubjekts) selbst, denn die konstitutiven Merkmale des Sideways-on-view kçnnen nicht mit unseren Kategorien beschrieben werden: Es ist kein Erkenntnissubjekt, das diese Perspektive einnimmt, denn diese Perspektive lsst keine Sprache zu, und es kann auch kein anderes Einzelding sein, weil diese Perspektive kein raumzeitliches Bezugssystem kennt. Die Perspektive des Erkenntnissubjekts soll also von der erkenntnistheoretischen Beschreibungsperspektive kategorial verschieden sein. An die Stelle der Ganzheitlichkeit tritt stattdessen eine ontische Differenz, die das mit Sprache und Verstand ausgestattete Erkenntnissubjekt als erst einmal in Opposition befindlich zur harten Grundlage einer bersinnlichen Wirklichkeit beschreibt. Aus der Perspektive sideways-on werden alle erkenntnistheoretischen Fragen reformuliert als Probleme der mçglichen berbrckung der ontischen Kluft zwischen Sprache und Welt, zwischen Frwahrhalten und Wahrsein, zwischen Begriff und Gegenstand, zwischen Sosein und Dasein10. Das epistemologisch Besondere der Perspektive sideways-on soll gerade darin bestehen, dass sie durch den Verzicht auf den Within-view nicht Gefahr luft, die erkenntnistheoretischen Fragen, deren Gegenstand das Erkenntnissubjekt ja selbst ist, entweder parteiisch zu behandeln oder unwissentlich – aufgrund der Beschrnkungen durch Sprache und Sinnlichkeit – fehlerhaft zu beantworten. Im Unterschied zum Within-view erlaubt die Betrachtung sideways-on zudem die 10 Ersteres reprsentiert in diesen Deutungen lediglich ein „Fr-uns-Sein“, whrend letzteres ein erkenntnissubjektunabhngiges „Ansichsein“ zum Ausdruck bringt. Zur Kritik siehe Hartmann, Grundlegung der Ontologie, 96. Nach Hartmann (Grundlegung der Ontologie, 92 f.) kennzeichnet dieser Unterschied keinen ontischen, sondern benennt zwei Aspekte des Seienden: „An allem Seienden gibt es ein Moment des Daseins. Darunter ist das nackte „daß berhaupt es ist“ zu verstehen. Und an allem Seienden gibt es ein Moment des Soseins. Zu ihm zhlt alles, was seine Bestimmtheit oder Besonderheit ausmacht, alles, was es mit anderem gemeinsam hat, oder wodurch es sich von anderem unterscheidet, kurz alles, ,was es ist‘“.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
Bezugnahme auf die einzig verlssliche und von den Unvollkommenheiten des Erkenntnissubjekts vollstndig unabhngige Beurteilungsinstanz: die Welt, so wie sie wirklich und an sich ist. Damit erscheinen die epistemologischen Mçglichkeiten des Within-view als epistemische Limitationen – als Grenzen des Denkens, in denen wir notwendigerweise gefangen sind. Diese Beschreibung der prinzipiellen Erkenntnisgrenzen und der damit einhergehenden Beurteilung, dass die Unmçglichkeit der Grenzberschreitung ein epistemisches Desiderat des Within-view kennzeichnet, ist ein Problem, das sich berhaupt nur von einer sideways-on-Perspektive aus formulieren ließe. Fr den Within-view ist dieses Problem nicht einmal propositional fassbar und damit auch nicht reformulierbar, weil es aus dieser Perspektive schlicht und ergreifend keine Grenzen gibt und a fortiori auch keine Transzendierungsbegehren.11 Sofern man sich das epistemologische Setting der Perspektive sideways-on einmal ganz ungeschtzt und frei von allen eventuellen philosophischen Bedenken veranschaulichen mçchte, so mag folgendes Bild hilfreich, wenn auch hochgradig suggestiv sein.
11 Pointiert Pinkard, „Innen, Außen und Lebensformen“, 266: „Wir entkommen den Grenzen des Denkens niemals nicht deshalb, weil wir in so etwas wie der Sphre des Denkens gefangen wren und nicht zur anderen Seite durchbrechen kçnnten, sondern weil es gar keine Grenzlinien zu berqueren gibt“.
2.1 Der Sideways-on-view und seine metaphorische Rolle
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Obgleich es den Sideways-on-view als mçgliche erkenntnistheoretische Perspektive auf allen Ebenen zu kritisieren und schließlich zu verwerfen gilt, so besitzt diese metaphorische Rede eine kaum zu berschtzende erkenntnisorientierte Funktion, weil durch diese literarische Form etwas „gezeigt“ werden kann, was andernfalls unaussprechbar wre: eine, jenseits von Sprache und Geltungsansprchen befindliche transzendente Perspektive, von der ausgehend einzig die Rede von einer „ontischen Kluft“ verstndlich werden kçnnte. Diese Funktion explizit zu machen ist wesentlich, denn andernfalls kçnnte man sich dem Verdacht aussetzen, dass durch dieses Stilmittel implizit Inhalte mitgeteilt werden, die nicht explizit behauptet wurden. In unserem Fall besteht die semantische Rolle dieser metaphorischen Rede aber nicht im Mitteilen, sondern im Aufweisen des kategorialen Zusammenhangs zwischen einer Problemexposition und der Bedingung ihrer Artikulation: Die Mçglichkeit der Formulierung einer mçglichen ontischen Kluft zwischen Sprache und Welt prsupponiert die Mçglichkeit der Einnahme der Perspektive sideways-on als eine Bedingung ihrer Artikulation. Unsere metaphorische Rede bereichert also nicht die Darstellung, indem sie etwa wie in der Poesie Konnotationen freisetzen wrde, sondern sie ermçglicht eine Unterscheidung aufgrund von Ausdrucksnot12 : Bildliche Ausdrcke, mit Vorsicht gebraucht, kçnnen immerhin etwas zur Verdeutlichung beitragen.13
Gerade weil wir keine ontische Kluft zwischen Sprache und Welt diagnostizieren oder auch nur mittels unseres philosophischen Vokabulars vernnftig beschreiben kçnnen, bedienen wir uns der sideways-on-Metaphorik, mittels derer sich das erkenntnistheoretische Problem eines wie auch immer beschaffenen Verhltnisses zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt zeigt. Dieser (vermeintliche) Zugang zu den erkenntnistheoretischen Fragen, der hier schließlich bereits durch die als zulssig auszuweisenden Begrndungsmittel vermieden werden soll, kann sich durch die metaphorische Rede nur „zeigen“, weil es aus semantischen und epistemologischen Grnden unmçglich ist, diese Perspektive einzunehmen. Unmçglich ist dies deshalb, weil jede Form der wissenschaftlichen Aus12 Vgl. Gabriel, „Der Logiker als Metaphoriker“. Ders., „Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte“, 156 ff. 13 Frege, „Die Verneinung“, 377.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
einandersetzung mit erkenntnistheoretischen Fragen notwendigerweise im Medium der Sprache erfolgt, whrend die ontische Kluft nur von einem Standpunkt aus erkannt werden kçnnte, der frei von Sprache und Geltungsansprchen wre (die ihrerseits ja zum Within-view gehçren). Wenn auch nicht jede philosophische Erkenntnis in der Aussagenwahrheit aufgehen muss, so muss doch auch jede nicht-propositionale (nicht auf Wahrheit gerichtete) Erkenntnis im Medium der Sprache fassbar sein. Auch das Zeigen ist ein Sprachmodus, fr dessen Beurteilung wir vielleicht nicht die Prdikate „wahr“ und „falsch“ zur Anwendung bringen, wohl aber eine Bewertung nach „Gelingen“ und „Angemessenheit“ durchfhren. Durch die sideways-on-Metaphorik zeigt sich also, dass die Mçglichkeit des Diagnostizierens einer ontischen Kluft zwischen Sprache und Welt nur von einem Standpunkt aus vollzogen werden kçnnte, der fr jeden argumentativen Zugang transzendent ist. Die Mçglichkeit eines Sideways-on-view reprsentiert damit eine Bedingung der Sinnhaftigkeit der ontischen Unterscheidung von Sprache und Welt. Damit impliziert die Behauptung „Sprache und Welt kçnnen ontisch unterschieden werden“ pragmatisch die These „Der Sideways-on-view ist einnehmbar“. Kurzum: Diese metaphorische Rede gebrauchen wir nicht im Sinne einer referierenden Kennzeichnung, sondern einzig im Sinne einer expressiven Krcke, die uns eine bestimmte Form der Kritik und Abgrenzung erlaubt. 2.1.3 Der szientifische Blick Nach dem bereits Gesagten sollte man eigentlich zu der Einsicht gelangen, dass niemand auch nur ernsthaft in Erwgung ziehen kçnnte, erkenntnistheoretische Fragen von einer Perspektive sideways-on aus zu stellen, denn Problemexpositionen, die berhaupt nur von einem unmçglichen Betrachtungsstandpunkt aus artikuliert werden kçnnten, sind selbst sinnlos. Und sinnlose Problemstellungen gilt es einzig und allein als Scheinprobleme zu entlarven und zu verwerfen, aber nicht zu lçsen. Es mag daher berraschen, dass ein Großteil der gegenwrtig vertretenen erkenntnistheoretischen Positionen14 den Sideways-on-view mit einer Selbstverstndlichkeit und in nicht-metaphorischer(!) Absicht gebrauchen. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Positionen die transzendente Per14 Im Falle jener Philosophen, die dies ausgehend von einer Deutung der Kantischen Erkenntnistheorie vollziehen, ist dies sogar die deutliche Mehrheit. Siehe unsere exemplarische Liste in 2.2.1.1.
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spektive wçrtlich nehmen wrden, denn die unter 2.1.1 ausgefhrten Gedanken gelten positioneninvariant. Dass die sideways-on-Redeweise nicht wie hier metaphorisch, aber auch nicht wçrtlich verstanden wird, provoziert die Frage, was sie stattdessen bedeutet. Eine naheliegende Erklrung wird unter Verwendung des Stilmittels der Analogie mçglich. Fast beilufig hatten wir in 2.1.1 bereits erwhnt, dass der Sideways-on-view eine epistemologische Beobachterperspektive zum Ausdruck bringt – vergleichbar jener in den empirischen Einzelwissenschaften. Der epistemologische Beobachterstandpunkt ist dem berwachenden Experimentator nachempfunden. Erfahrungswissenschaften (vom Menschen), in denen in Laborsituationen empirische Erkenntnisfragen einer experimentellen berprfung unterzogen werden, machen es erforderlich, dass der Experimentator die Rolle eines neutralen, außenstehenden Beobachters einnimmt. Dieser zeichnet zwar verantwortlich fr die Funktionstchtigkeit der Experimentierapparate, die Ungestçrtheit der Messinstrumente, die Zulssigkeit der Untersuchungsgegenstnde, die Korrektheit im Aufbau der Versuchsanordnung usw. Doch trotz all dieser Funktionen ist er selbst am Versuchsverlauf unbeteiligt. Ja, es wrde sich sogar um eine Stçrung des Experiments handeln (was zur Entwertung des Versuchsergebnisses fhrt), wenn der Experimentator whrend des Versuchsverlaufs in selbigen eingreifen wrde. Der Experimentator ist die wachende, unbeteiligte und nicht betroffene, im Hintergrund befindliche Instanz, die durch das Experiment in Erfahrung bringt, was der Fall ist. Im Besonderen weiß der Wissenschaftler im Fall von psychologischen Experimenten um Hintergrnde und Bedingungen, die der Proband nicht wissen kann oder nicht wissen darf. Der Proband ist, obgleich er gleichermaßen ber mentale und kognitive Fhigkeiten wie der Experimentator verfgt, der Untersuchungsgegenstand des Wissenschaftlers. Werden etwa emotive oder kognitive Fhigkeiten getestet, dann reprsentiert die Laborsituation einen bereinigten, weil auf kontrollierbare Anfangs- und Randbedingungen spezifizierten Ausschnitt der Erfahrungswirklichkeit, in der der Proband entsprechend handelt oder sich verhlt. Damit nun aussagekrftige empirische Erkenntnisse gewonnen werden kçnnen, muss unter anderem sichergestellt sein, dass der Proband die Experimentalsituation nicht mittels Manipulation unterlaufen kann oder Manipulationsversuche durch den Experimentator nachweisbar sind. Zumindest sollte also gewhrleistet sein, dass durch den beobachtenden Experimentator erkannt werden kann, wenn der Proband in der Versuchsdurchfhrung irrelevante Eigenleistungen einbringt (indem er etwa gezielt gegen die Anweisungen handelt). Stçrungen dieser Form mssen durch den Wis-
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
senschaftler genauso antizipiert und durch den Versuchsaufbau oder die Versuchsanweisungen bestmçglich vermieden werden wie etwa Stçrungen die Messgerte betreffend. Wenn entsprechend durch den Experimentalaufbau und die erfolgten Anweisungen an den Probanden dieser gezielt manipuliert wird, dann einzig zu dem Zweck, dass er unverflscht und gleichsam „natrlich“ zum geeigneten Untersuchungsgegenstand werden kann. Diese Konstellation – bereinigte Laborsituation, in der sich ein Proband „natrlich“ mit einem kontrollierbaren Auszug der Erfahrungswirklichkeit auseinandersetzt, die ihrerseits durch den allgegenwrtigen, aber nicht involvierten Experimentator beobachtet und unsichtbar kontrolliert wird – nimmt in der Philosophie eine Vorbildfunktion ein. So verhlt sich der Philosoph im Falle erkenntnistheoretischer Fragen wie der Fachwissenschaftler als ein Beobachter, dessen „Proband“ das mit Sinnlichkeit und Verstand ausgestattete Erkenntnissubjekt ist und dessen Laborsituation unsere Erfahrungswirklichkeit darstellt. Der „Experimentalaufbau“ umfasst also das fragende, zweifelnde Erkenntnissubjekt in der es umgebenden Erfahrungswirklichkeit. Verfechter dieser Auffassung packen die Rede von Erkenntnistheorie offensichtlich an ihren etymologischen Wurzeln und verstehen ihre eigene epistemologische Analysepraxis als ein theorein im ursprnglichen Sinne: als ein „schauen“ bzw. „betrachten“ durch den theoros – den Zuschauer des Ereignisses, der seinerseits aber nicht Bestandteil des Ereignisses ist. Entsprechend partizipiert der Erkenntnistheoretiker auch nicht an dem, was es durch ihn zu analysieren gilt: das Erfahrungswirkliche. Dieses, den empirischen Wissenschaften nachempfundene Verstndnis gibt die sideways-on-Redeweise nicht als Metapher zu erkennen, sondern als Analogie. Dabei werden strukturelle Elemente und Muster, die etwa fr experimentalpsychologische Studien wesentlich sind, bertragen in das Feld erkenntnistheoretischen Rsonierens. Genauso wie der Psychologe eine umfassende Perspektive auf seinen Untersuchungsgegenstand, das experimentelle Setting und die Mçglichkeit zur transparenten Kontrolle der Anfangs- und Randbedingungen haben sollte, nimmt nun auch der Philosoph eine distanzierte Beobachterperspektive ein. Diese, vom Erkenntnistheoretiker vorgenommene Selbsteinschtzung wollen wir als den szientifischen Blick kennzeichnen, denn der Philosoph bildet den Weg seiner Erkenntnisweisen jenem des Fachwissenschaftlers nach. Der szientifische Blick des Philosophen benutzt also im Besonderen jenes Verstndnis von „Theorie“, welches wir fr die Erfahrungswissenschaften in Anschlag bringen. In seiner radikalsten Ausprgung fhrt diese Selbst-
2.1 Der Sideways-on-view und seine metaphorische Rolle
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einschtzung zu einem erkenntnistheoretischen Naturalismus, dem gemß alle Fragen bezglich der Mçglichkeit und Grenzen der Erkenntnis mit den Mitteln der Naturwissenschaften zu beantworten sind. Dieser Auffassung zufolge besteht zwischen der Perspektive des Erkenntnistheoretikers und jener etwa des experimentierenden Kognitionspsychologen oder Neurophysiologen keine Analogie mehr, weil die Untersuchungspraxen und damit auch die Perspektiven bereits identisch sind. Die erkenntnistheoretische Welt ist die Laborwelt des Psychologen oder Neurowissenschaftlers. Nun hatten wir in 2.1.2 fr die Zulssigkeit der sideways-on-Redeweise als Metapher argumentiert. Der Gebrauch dieser Wendung hat die Funktion, etwas zu zeigen, was sich nicht sinnhaft und damit gar nicht sagen lsst. Durch den szientifischen Blick jener, die den Sideways-on-view weder metaphorisch noch wçrtlich verstanden wissen mçchten, bot sich das Stilmittel der Analogie an. Im Unterschied zum metaphorischen Gebrauch ist der analogische allerdings unzulssig. Analogien werden blicherweise dazu verwendet, um Zusammenhnge aus einem Kontext besser verstndlich zu machen, indem man sich strukturell gleichgelagerter Zusammenhnge aus anderen Kontexten bedient, die besser bekannt oder einfacher zugnglich sind. Entscheidend fr eine zulssige Analogiebildung ist also die strukturelle „hnlichkeit“ zwischen den Zusammenhngen, damit eine Veranschaulichung des in Frage stehenden Sachverhalts gelingt. Nun ist der Ausdruck „strukturelle hnlichkeit“ alles andere als eine wohldefinierte Relation und er kann sicherlich sehr „flexibel“ eingesetzt werden, denn hnlichkeiten kann man berall erkennen, wenn man sich nur hinreichend Mhe gibt. In unserem Fall sind die kategorialen Differenzen zwischen dem philosophischen und dem erfahrungswissenschaftlichen (etwa experimentalpsychologischen) Beobachterstandpunkt allerdings derart frappant, dass es schlicht und ergreifend eine vollstndige Inflation des Ausdrucks „hnlich“ mit sich bringen wrde, hier noch von relevanten Gemeinsamkeiten sprechen zu wollen. Die Grnde hierfr hatten wir bereits genannt: Whrend der Standpunkt des Experimentators relativ zu seinem Versuchsaufbau und Versuchsablauf zu Recht als Beobachtungsperspektive beschrieben werden kann (denn der Experimentator ist selbst nicht Bestandteil des Experiments bzw. Bestandteil der artifiziellen Laborsituation), ist der Philosoph, der in analogischer Weise den Sideways-on-view einnehmen mçchte, immer noch verhaftet in jener Erfahrungswirklichkeit, bezglich derer er seine erkenntnistheoretischen Fragen stellt. Mehr noch: Er ist selbst ein Erkenntnissubjekt und kann sich in seinen philosophischen Untersuchungen
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ber die Erkenntnismçglichkeiten und Erkenntnisgrenzen der Wirklichkeit nicht von jenen Geltungs- und Sinnbedingungen suspendieren, deren Verzicht fr seine transzendente Beobachterperspektive erforderlich wre. Dies unterscheidet den Standpunkt des Erkenntnistheoretikers kategorial von erfahrungswissenschaftlichen Beobachterstandpunkten.15 Der Gegenstandsbereich des Erfahrungswissenschaftlers bildet stets nur einen Ausschnitt aus der Erfahrungswirklichkeit, so dass er selbst von einem anderen Ausschnitt aus die Rolle eines Beobachters einnehmen kann, was im Besonderen bedeutet, dass die von ihm begrndeten empirischen Aussagen nicht die Geltungsansprche seiner eigenen wissenschaftlichen Rede berhren oder gar unterlaufen. Die Resultate des Erfahrungswissenschaftlers sagen nichts ber seine Rolle als mit Geltungsansprchen und Sinnbedingungen auftretendes Erkenntnissubjekt aus. Nicht so im Falle des Erkenntnistheoretikers, denn sein Diskursuniversum ist universal und schließt die Geltungs- und Sinnbedingungen seiner eigenen Rede stets mit ein. Wird durch ein erkenntnistheoretisches Resultat eine Sinnbedingung fr das Begrnden von Erkenntnis ausgewiesen, dann muss die Begrndung fr das Resultat selbst schon dieser Sinnbedingung gengen.16 Der Erkenntnistheoretiker ist in seiner Funktion als Erkenntnissubjekt wie auch als Erkenntnisobjekt der erste und letzte Untersuchungsgegenstand seiner eigenen Analysen, womit er relativ zu seinen Erkenntnisfragen unter keinen Umstnden eine epistemologische Beobachterrolle einnehmen kann. Eine Analogiebildung ausgehend von erfahrungswissenschaftlicher Forschung kann also berhaupt nur in jenen Fllen zulssig sein, in denen der Untersuchungsgegenstand nicht die Gesamtheit der Erfahrungswirklichkeit ausmacht und somit innerhalb der Erfahrungswirklichkeit immer noch ein wenig Raum verbleibt, in dem der Beobachterstandpunkt verortet werden kann. Dies ist zwar fr alle Erfahrungswissenschaften sichergestellt, aber unmçglich im Falle der grundlegenden Fragen der Erkenntnistheorie. Der szientifische Blick vollzieht eine „unzulssige Totalisierung“ und bertrgt in analogischer Weise die Perspektive des Erfahrungswissenschaftlers auf jene des Erkenntnistheoretikers. Doch whrend sich der Erfahrungswissenschaftler selbst außerhalb seiner Experimentalsituation befindet, steht der Erkenntnistheoretiker inmitten seines eigenen Gegenstands- und vor allem Geltungsbereichs. 15 Hierauf hat bereits Heidegger (Sein und Zeit, §32) dezidiert hingewiesen. 16 Gemß unseren Ausfhrungen in 1.3.2.
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Obgleich diese Analogiebildung alles andere als zulssig ist, findet sie sich in der philosophischen Praxis doch vor allem in den erkenntnistheoretischen Analysemustern und Problemperspektiven. Wenn beispielsweise die Frage nach der Mçglichkeit gerechtfertigter Wissensansprche diskutiert wird, so erfolgt dies auffallend hufig in der – fr Kognitionspsychologie und andere Erfahrungswissenschaften vom Menschen typischen – DrittePerson-Perspektive. Der Philosoph macht also einen Vertreter der Spezies homo sapiens zum Erkenntnissubjektprobanden seiner Untersuchungen wie etwa: c ist gerechtfertigt in der Formulierung des Wissensanspruchs, dass !, wenn i) c glaubt, dass !, ii) c autorisierende Grnde hat zur berzeugung, dass !, und iii) es auch tatschlich wahr ist, dass !. Selbstverstndlich ist die Erwgung der Dritte-Person-Perspektive in jedem Fall dort geboten, wo es um die Analyse der Probleme und Bedingungen fr eine gelingende Fremdzuschreibung von Wissen geht. Immerhin mag c gute und d. h. fr andere Personen auch nachvollziehbare Grnde fr das Frwahrhalten von ! haben und sich dennoch irren, weil etwa außergewçhnliche Umstnde das unter normalen Bedingungen verlssliche Wahrheitskriterium aushebeln – ein Wissen, ber das wir gerade aufgrund der Beobachterperspektive verfgen. Und da Flle wie dieser ebenfalls eine epistemologische Reflexion verdienen, ist die Mçglichkeit der Einnahme der Dritte-Person-Perspektive vollkommen legitim. Werden jedoch die Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung berhaupt reflektiert und damit vor allem die Fragen, ob und warum Wissen berhaupt mçglich ist, so fhrt eine strikte Fokussierung auf die Dritte-Person-Perspektive unbemerkt in Probleme, weil das Differenzieren zwischen den Bedingungen ii) und iii) in der Dritte-Person-Perspektive in den Status eines grundstzlichen Unterschieds erhoben wird, der dann a fortiori auch fr die Erste-Person-Perspektive gelten soll.17 Allerdings ist fraglich, ob die Differenzierung dieser beiden Bedingungen in der ErstePerson-Perspektive berhaupt sinnvoll ist, weil wir zumindest im Alltag nach positiver Prfung unserer garantierenden/autorisierenden Wahrheitskriterien fr ! nicht noch einmal die Frage stellen, ob ! nun auch wahr ist: „Wenn ich im Alltag unter Abwgung aller relevanten und ausreichenden Grnde zu der Einsicht komme, dass ! wahr ist, dann bin ich nicht nur gerechtfertigt, ! fr wahr zu halten, sondern dann bin ich gerechtfertigt in dem Wissensanspruch, dass ! der Fall ist“. Selbstverstndlich ist auch in diesem Fall die Mçglichkeit des Irrtums nicht aus17 Wir gehen auf diesen Punkt noch einmal gesondert ein in unserer Analyse gettierartiger Flle (4.5.2).
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
geschlossen, allerdings manifestiert sich im Alltag und ganz in bereinstimmung mit unserem lebensweltlichen Wissensbegriff der operative Gebrauch des Beurteilungsprdikats „ist wahr“ gerade im Nachweis des Bestehens der einschlgigen guten Grnde. D.h. nach dem erfolgreichen Abprfen der Bedingungen fr den gerechtfertigten Wissensanspruch, dass !, stellt sich nicht noch einmal gesondert die Frage, ob ! auch „tatschlich“ der Fall ist und wie dies gegebenenfalls unabhngig der bereits vorgetragenen guten Grnde eingesehen werden kçnnte. Da dies jedoch bei einer strikten Fixierung der Dritte-Person-Perspektive unbemerkt bleibt (weil wir dort eben zwischen ii) und iii) zu unterscheiden haben), stellt sich in der epistemologischen Analyse, die den szientifischen Blick praktiziert, bei ausnahmslos jedem gerechtfertigten Wissensanspruch die Frage, ob dies auch wirklich der Fall ist. Damit markieren wir nicht nur eine epistemische Lcke zwischen unseren besten Wahrmachern und den „tatschlichen“, sondern wir vollziehen einen philosophischen „Wirklichkeits“-Sprechakt, der von der Wissbarkeit zur Transzendenz fhrt.18 Der szientifische Blick als philosophische Religion Nach diesen Ausfhrungen zum szientifischen Blick des Erkenntnistheoretikers kommt man nicht umhin, ihn im Hinblick auf eine aufgeklrte und selbstkritische Wissenschaftspraxis zu hinterfragen. Wir wollen das damit einhergehende Glaubensbekenntnis jedoch nur kurz benennen, um seine philosophische Brisanz anzuzeigen. Das aufgeklrte Wissenschaftsverstndnis, in dem der religiçse Glauben nicht mehr die Erkenntnisfragen vorgibt und die kirchlichen Institutionen (hoffentlich) keinen entscheidenden wissenschaftspolitischen Einfluss mehr haben, schreibt sich zu Recht die Errungenschaft zu, dass man in der wissenschaftlichen Begrndungspraxis keine Rcksicht mehr auf Gott bzw. die theologische Fakultt nehmen muss. Der moderne Wissenschaftler ist einzig der Wahrheit verpflichtet19 und muss durch seine Resultate weder Raum fr die Mçglichkeit Gottes belassen noch sich zu Bemerkungen gençtigt sehen, wie er es denn nun mit dem religiçsen Glauben halten wrde. Entsprechendes manifestiert sich nun auch in der 18 Siehe vor allem 2.2.2.2.2 und 2.2.2.2.3. 19 Modulo jener Bedingungen, die sich wissenschaftssoziologisch (und damit im Kontext der Genese) letztlich als gleichermaßen entscheidungsrelevant erweisen. Siehe etwa Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis; Whitley, The Intellectual and Social Organization of the Sciences.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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Perspektive des Philosophen. Wurden ehemals die großen erkenntnistheoretischen Fragen von einer Perspektive Gottes aus erwogen, so ist es heute der glaubensfreie szientifische Blick auf die Laborsituation. Doch ganz im Unterschied zur Skularisierung der Wissenschaften hat dies im Falle der Philosophen nicht nur keine strengeren Begrndungsmaßstbe zur Folge gehabt, sondern sogar zur Proklamation eines problematischen Selbstverstndnisses gefhrt. De facto bernehmen viele gegenwrtige Erkenntnistheoretiker unter Vorgabe einer als „hçchst rational“ gefhrten Beschreibungsperspektive jene Beobachterrolle, die von den Erkenntnistheoretikern frherer Tage immerhin noch Gott zuerkannt wurde. Bis hierin mag dies zwar Zweifel an der Bescheidenheit jngerer Generationen aufkommen lassen, aber noch keine systematisch tiefergehenden Bedenken. Diese werden aber dann laut, wenn man feststellt, dass die frheren Generationen noch an so etwas wie einer Legitimation fr die Inanspruchnahme der gçttlichen Perspektive gearbeitet haben.20 Aus heutiger Sicht darf zwar keiner der bekannten Beweise als „gelungen“ beurteilt werden, aber die Begrndungsstandards von Anselm ber Descartes bis Leibniz reichten immerhin soweit, dass die Verwendung der gçttlichen Perspektive als „zulssig“ zu erweisen war. Derartige Bemhungen findet man heutzutage vergebens, obgleich die investierten „neutralen Beobachterstandpunkte“ epistemologisch denselben Status besitzen wie das gçttliche Auge. Viele bersehen dies nicht nur großzgig, sondern fangen auch noch an, mitleidig zu lcheln, wenn jemand argumentativ Gott bemht, finden jedoch nichts dabei, wenn ein anderer ontologisch den Begriff der Materie anfhrt. Hier wre nun wirklich Ideologieverdacht anzumelden.21
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen Es ist nun an der Zeit, dass wir uns eingehender mit den bedeutungstheoretischen Grundlagen des vorliegenden Programms auseinandersetzen. Jede Form der Rede und damit jede Form des Argumentierens benutzt bedeutungsvolle Ausdrcke, damit Gerusche berhaupt sinnvoll als Sprechhandlungen charakterisiert werden kçnnen. Nun muss sicherlich nicht fr jeden Argumentationskontext explizit erçrtert und gerechtfertigt 20 Siehe hierzu unsere Ausfhrungen in 6.3 – 6.6. 21 Gabriel, Grundprobleme, 108.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
werden, wie es um die Semantik der verwendeten Ausdrcke steht. In hinreichend vielen Fllen reicht uns etwa das Gelingen der Kommunikation oder jenes der ihr zugrunde liegenden Kooperation vollkommen aus. Fr das philosophische Argumentieren im Allgemeinen und das erkenntnistheoretische Begrndungsgeschft im Besonderen gilt dies jedoch nicht. Der Philosoph hat zur Klrung seiner Erkenntnisfragen offenzulegen, inwiefern es sich bei den verwendeten sprachlichen Mitteln um zulssige Argumentations- und Begrndungsmittel handelt. Er hat auf Nachfrage hin explizit zu klren, wie die von ihm verwendeten Ausdrcke genau zu verstehen sind – welche Begriffe also zur Anwendung kommen –, durch welche zulssigen semantischen Mittel diese Begriffe sinnvoll eingefhrt werden kçnnen und wie man die Geltung der von ihm gebrauchten philosophischen Thesen prfen kann. Die Bedeutsamkeit dieser – keineswegs neuen – Feststellung kann nicht berschtzt werden, denn wer sich als Philosoph von der Verpflichtung entbindet, Auskunft ber die von ihm gebrauchten sprachlichen Mittel zu geben, der praktiziert kein alternatives Philosophieverstndnis, sondern der redet einfach naiv daher und nennt das Ganze nur „Philosophie“. Bevor wir also weiter voranschreiten, sei im Anschluss an (jMaxime)22 eine bedeutungstheoretische Metaforderung formuliert, der gengt werden muss, damit berhaupt sinnvoll von einer Teilnahme an philosophischen Diskursen gesprochen werden kann: (Fmeta) Wer den Anspruch erhebt, philosophisch zu argumentieren, der verpflichtet sich darauf, die gebrauchten sprachlichen Mittel im Bedarfsfall in ihrer Bedeutung explizit zu machen und zu legitimieren.23
22 Siehe 1.3.2.3. 23 Diese Metaforderung ist im Besonderen affin zu den Konversationsmaximen von Grice („Logic and Conversation“, 26 f.), den Rahmenbedingungen der Konsenstheorie der Wahrheit von Habermas („Wahrheitstheorien“, 137 ff.) sowie zu einer Grundeinsicht des semantischen Inferentialismus (etwa Brandom, „Asserting“, 640). In 1.3.2.5 haben wir bereits transzendental dafr argumentiert, dass die Mçglichkeit des Erhebens von Geltungsansprchen die Einlçsbarkeit von Forderungen wie (Fmeta) prsupponiert.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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2.2.1 Der Zugang ber eine erkenntnistheoretische Grundeinsicht Eventuell mag der Leser nun erwarten, dass sich im Rahmen des transzendentalen Antirealismus fr einen bedeutungstheoretischen Zugang entschieden wird, der aus pragmatischen, wissenschaftspolitischen oder Common Sense Grnden probat erscheint. Zwar ist richtig, dass wir im Folgenden in der Tat und selbstverstndlich ganz bestimmte bedeutungstheoretische Einsichten explizit begrßen werden, whrend wir andere dezidiert ablehnen. Allerdings erfolgt dies keineswegs aufgrund einer vorgngigen Wahl, die aus ideologischen oder Geschmacksgrnden auch anders htte ausfallen kçnnen. Im Besonderen bleibt erst einmal festzustellen, dass Bedeutungs- und Erkenntnistheorie keine vollstndig disjunkten Bereiche sind, obgleich sie sich subdisziplinr hinreichend gut abgrenzen lassen. Viele wrden die Ansicht vertreten, dass das Betreiben von Bedeutungstheorie hnlich wie das Betreiben von Logik fr alle weiteren philosophischen Disziplinen grundlegend ist, weil berall in der Philosophie regelgeleitet und mit bedeutungsvollen Ausdrcken argumentiert wird.24 Dem wird nicht widersprochen, aber ergnzend hinzugefgt, dass die Frage nach angemessenen und zulssigen bedeutungstheoretischen Grundstzen nicht isoliert zu beantworten ist, sondern gebunden bleibt an Ansprche, die sich im Besonderen aus der Analyse der philosophisch fundamentalen Begriffe der Erkenntnis und des Wissens ergeben. Und diese Begriffe sind nun einmal die Kernbegriffe der Erkenntnistheorie: A theory of meaning is a theory of understanding. A theory of understanding concerns knowledge. So a great deal rests on our epistemology.25
Es ist keineswegs idiosynkratisch, wenn wir die Frage nach den zulssigen bedeutungstheoretischen Mitteln anbinden an die Frage nach einem zulssigen epistemologischen Standpunkt. Exemplarisch sei an Putnams bedeutungstheoretische Wende ab Mitte der 1970er Jahre erinnert, die ein Musterbeispiel fr die Reformulierung der eigenen semantischen Klrungsanliegen im Lichte der investierten erkenntnistheoretischen Grundausrichtung darstellt.26 24 So etwa Gethmann/Siegwart, „Sprache“, 550. 25 Tennant, Anti-Realism and Logic, 16. 26 Etwa Putnam, „Introduction“, vii: „one cannot come to grips with the real problems in philosophy without being more sensitive to the epistemological position of the philosopher“. Siehe zudem seinen systematico-autobiographischen Bericht in the threefold cord, 12 ff. Vgl. zudem 4.2.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
2.2.1.1 Die epistemologische Minimalforderung Insofern wir im Vorangegangenen deutlich gemacht haben, dass die Einnahme eines gotthnlichen epistemologischen Beobachterstandpunktes unmçglich ist, ist die Antwort auf die Frage nach den zulssigen bedeutungstheoretischen Mitteln vor allem der Forderung verpflichtet, die Perspektive sideways-on zu vermeiden. Unsere erkenntnistheoretischen Investitionen an dieser Stelle bestehen also einzig in der Anerkennung der epistemologischen Minimalforderung: (Fmin) Meide die Perspektive sideways-on. Selbstverstndlich verstçßt niemand de facto gegen den Gehalt dieser Minimalforderung, denn diese Perspektive ist (wie ausgefhrt) nicht nur aus empirischen, sondern aus erkenntnistheoretischen Grnden uneinnehmbar. Die epistemologische Unmçglichkeit eines solchen Standpunktes schtzt uns also bereits vor der gewollten oder fahrlssigen Einnahme einer solchen Perspektive – sofern hier berhaupt sinnvoll von einem „Schtzen“ die Rede sein kann. Doch diese Grenze zwischen dem grundstzlich Sinnhaften und dem Transzendenten schtzt noch nicht vor der Begehrlichkeit27, einen solchen Standpunkt einnehmen zu wollen, denn Wollen kann ich Beliebiges. Somit besteht die Gefahr, die nun tatschlich gegeben ist, in der Verwendung von bedeutungstheoretischen Mitteln, die suggestiv den Eindruck vermitteln, als kçnne man diese Perspektive als Erkenntnistheoretiker simulieren: „Wenn wir die Perspektive schon nicht faktisch einnehmen kçnnen, so doch zumindest in der intelligiblen Welt unserer Gedanken“. Doch anstatt diesen Vorsatz soweit auszufhren, um auf die Misskonstruktion der versuchten Analogiebildung zwischen der erkenntnistheoretischen und der erfahrungswissenschaftlichen Beobachterposition aufmerksam zu werden, wird dem Gedanken sogleich zur Wirklichkeit verholfen, weil der szientifische Blick Kants Warnung d e n k e n kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche 28
ignoriert. Selbstverstndlich kann jedermann ußerungen der Form „Ich argumentiere von einer Perspektive sideways-on aus“ ttigen. Doch indem 27 Nach Kant befçrdert gerade die Vernunft durch ihren Erkenntnistrieb „das Gefhl des Bedrfnisses“ nach diesen Transzendierungen. Siehe etwa Kant, „Was heißt: Sich im Denken orientiren?“, 139. Prominent: ders., KrV, A VIIf., gesamte „transzendentale Dialektik“. 28 Ebd., B XXVI. Kursivsetzung von mir, M.W.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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dies geschieht, wird genauso wenig ein Beweis fr die Mçglichkeit einer solchen Argumentationsgrundlage andemonstriert wie im Falle der Sttzung der These, dass Nichtsprachkompetente sprechen kçnnen, durch die ußerung „Ich kann nicht sprechen“. Was in beiden Fllen, aber aus unterschiedlichen Grnden und mit unterschiedlichen Folgen großzgig bersehen wird, betrifft das Geltungsgeflecht zwischen dem ausgedrckten Sachverhalt und den Bedingungen fr seine ußerung. Whrend im zweiten Fall eine performative Inkonsistenz vorliegt, weil der zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt im Widerspruch zu einer seiner kontextvarianten ußerungsbedingungen steht, liegt im ersten Fall eine Sinnentleerung vor, weil wir kontextinvariant nicht einmal verstehen kçnnten, was gemeint ist, wenn eine Perspektive sideways-on eingenommen wre.29 Damit verliert die ußerung „Ich argumentiere von einer Perspektive sideways-on aus“ jeglichen bedeutungsvollen Gehalt und verkommt zu einem bloßen Gerusch, dem im selben Maße Geltungsansprche zukommen wie dem Donner whrend eines Gewitters. Es sei explizit angemerkt, dass die Behauptung der Sinnentleerung durch die ußerung „Ich argumentiere von einer Perspektive sideways-on aus“ noch keine substantiellen Anleihen bei einer spezifisch antirealistischen Bedeutungstheorie machen muss, sondern die Geltung dieser These speist sich aus elementaren argumentationstheoretischen Einsichten, die einzig mit der epistemologischen Charakterisierung dieser Perspektive operieren. Doch obgleich die Unmçglichkeit der Einnahme dieser Perspektive bei Strafe der Sinnlosigkeit invariant bezglich der prferierten Bedeutungstheorie eingesehen werden kann, so gibt es doch bedeutungstheoretische Mittelbestnde, die in Anwendung auf die Frage „was wre aber, wenn diese Perspektive einnehmbar wre…“ zu vermeintlich intelligiblen Resultaten fhren und damit die Neigung befçrdern, die Perspektive sideways-on fr attraktiv zu erklren (womit freilich das zuvor genannte Unmçglichkeitsresultat wiederum in Vergessenheit gert). Um also bereits a priori keinen Raum fr die Neigung zum sideways-on-Modus zu belassen, drfen im Folgenden keine bedeutungstheoretischen Mittel Verwendung finden, die Aussagen einen vermeintlichen Sinn geben wrden, die ihrerseits nur von einer transzendenten Beobachterperspektive aus „formuliert“ werden kçnnten:
29 Zur Sinnentleerung des Aussagengehalts durch den Redehandlungsvollzug siehe unsere Erluterungen in 1.3.2.2.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
1. Das Argumentieren von einer Perspektive sideways-on aus besitzt prima facie eine gewisse Anfangsplausibilitt, wenn bestimmte bedeutungstheoretische Mittel zur Anwendung kommen drfen. 2. Eine Perspektive sideways-on ist bei Strafe der Sinnlosigkeit weder faktisch noch hypothetisch einnehmbar. 3. Bestimmte bedeutungstheoretische Mittel drfen bei Strafe der Sinnlosigkeit nicht verwendet werden. Wir haben nunmehr offenzulegen, welche Mittelbestnde dies betrifft. Hierzu whlen wir fr die bedeutungstheoretische Analyse einen Beispielsatz, der gleichermaßen einfach wie reprsentativ fr eine Perspektive sideways-on ist: Strawsons erste Doktrin des transzendentalen Idealismus. 30 Wenn dieser etwa knapp feststellt (#) There exists the sphere of supersensible reality31, dann besagt dieser Satz im Kern: Es gibt ein x mit P(x), aber der durch ,x‘ denotierte Gegenstand kann notwendigerweise nicht erkannt werden, denn die Sphre der bersinnlichen Wirklichkeit ist per definitionem fr unsere Erkenntnismçglichkeiten prinzipiell unzugnglich.32 Unsere Erfahrungswirklichkeit ist eine Erscheinung der Dinge an sich selbst33, die zwar in einer quasi-kausalen Relation zueinander stehen.34 Allerdings ist jegliches Wissen von den Dingen an sich selbst unmçglich: Knowledge through perception of things existing independently of perception, as they are in themselves, is impossible.35
Strawsons erste Doktrin ist nur ein Beispiel unter vielen, in denen erkenntnistheoretisch transzendente Thesen mit Anspruch auf Geltung vorgetragen werden. Obgleich wir uns in unserer bedeutungstheoretischen Analyse an dieser beispielhaften Formulierung weiterhin orientieren 30 Strawson, Bounds, 38: „The doctrine is not merely that we can have no knowledge of a supersensible reality. The doctrine is that reality is supersensible and that we can have no knowledge of it.“ Kapitlchen von mir, M.W. 31 Ebd., 236. Gleichermaßen prgnant ist etwa die Inconceivability-These von Nagel, The View from Nowhere, 92: „about some [things] we may be unable to say anything at all, except that there might be such things. The only sense in which we can conceive of them is under that description–that is, as things of which we can form no conception“. Kapitlchen von mir, M.W. 32 Exemplarisch Strawson, „The Problem of Realism and the A Priori“, 244: „a reality which in principle transcends all possible human knowledge or understanding“. 33 Vgl. Strawson, Bounds, 238. 34 Vgl. ebd., 236 ff. 35 Ebd., 250.
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werden, so seien doch zumindest noch ein paar Belegbeispiele aus der jngeren Philosophiegeschichte benannt36, die anzeigen, dass transzendente Thesen in der Philosophie alles andere als Ausnahmeerscheinungen sind. Fndig wird man berall dort, wo durch die folgenden Begriffspaare nicht nur eine begriffliche Differenzierung vollzogen, sondern ein ontischer Unterschied und damit eine epistemische Lcke markiert werden soll: Begriff Sprache Wahrheit Sachverhalt Sosein
– – – – –
Gegenstand Welt Wirklichkeit Tatsache Dasein
Es berrascht nicht, dass unter anderem Wahrheitstheorien anfllig fr transzendente Thesen sind, weil schließlich Wahrheit und Wirklichkeit weder in der Definition noch in den Anwendungskriterien getrennte Wege gehen drfen. Korrespondenztheorien der Wahrheit wie etwa Russells Konstituentenkonzeption 37 oder Wittgensteins Abbildmetaphorik 38 benutzen ebenso eine Perspektive sideways-on wie beispielsweise Poppers Entwurf der Wahrheitsnhe 39. Dieselbe Diagnose lsst sich auch in anderen Teilen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie stellen. So benutzt Strouds Außenweltskeptizismus 40 ebenso eine gçttliche Argumentationsperspektive wie sie auch in der Wissenschaftsphilosophie des Radikalen Konstrukti-
36 Vorkantische Beispiele diskutieren wir indes in 6.3 – 6.6. 37 Etwa Russell, The Problems of Philosophy, 93: „Thus a belief is true when it corresponds to a certain associated complex, and false when it does not. […] Judging or believing is a certain complex unity of which a mind is a constituent; if the remaining constituents, taken in the order which they have in the belief, form a complex unity, then the belief is true; if not, it is false“. 38 Etwa Wittgenstein, Tractatus, 4.014: „Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden Beziehung zueinander, die zwischen Sprache und Welt besteht“. 39 Etwa Popper, Logik der Forschung [Anhang XV, „ber Wahrheitsnhe“, 1981], 433: „eine Theorie ist wahr, wenn sie mit den Tatsachen bereinstimmt; sie hat grçßere Wahrheitsnhe als eine konkurrierende Theorie, wenn sie mit den Tatsachen besser bereinstimmt (oder mit mehr Tatsachen bereinstimmt). […] Da wir aber die Wahrheit nicht kennen, so ist es klar, daß wir bestenfalls immer nur die relative Wahrheitsnhe zweier oder mehrerer Theorien vergleichen kçnnen“. 40 Stroud, „The Problem of the External World“, 32: „There is a gap, then, between the most that we can ever find out on the basis of our sensory experience and the way things really are. In knowing the one we do not thereby know the other“.
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vismus 41 angetroffen wird. Gleichermaßen prsent sind wissenstranszendente Thesen etwa in Peter van Inwagens Gegenstandsbestimmung der analytischen Metaphysik 42, Thomas Nagels Begriff des Realismus 43 oder in Nicholas Reschers ontologischer Unausschçpfbarkeitsthese 44. Aber vor allem in der gegenwrtigen Kantrezeption hat die epistemologische Unterscheidung zwischen Erfahrungswelt und eigentlicher Wirklichkeit eine grçßere Beachtung gefunden. Neben Kenneth Westphals „vernachlssigter Alternative“45 sei Rae Langtons Doktrin von der Kantischen Bescheidenheit 46 erwhnt sowie die prominente empirische „two object“-Deutung47 von Paul Guyer.
41 Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte, 200: „Da wir das Scheitern aber immer nur in eben jenen Begriffen beschreiben und erklren kçnnen, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir fr das Scheitern verantwortlich machen kçnnten“. 42 Van Inwagen, Metaphysics, 3: „Could it be that the reality behind every appearance is itself only a further appearance? If the answer to this question is No, then there is a reality that is not also an appearance. This final or „ultimate“ reality is the subjectmatter of metaphysics“. 43 Nagel, The View from Nowhere, 91 f.: „The realism I am defending says the world may be inconceivable to our minds […] But what there is, or what is the case, does not coincide necessarily with what is a possible object of thought for us“. 44 Rescher, What If ?, 114: „reality outruns the range of language-accessible fact. There unquestionably are more aspects to the world’s reality than there are linguistic means for their formulation“. Ders., Human Knowledge in Idealistic Perspective, 248 ff. Ders., Metaphilosophical Inquiries, 19 f. Siehe hierzu auch 4.4.2. 45 Westphal, Kant’s Transcendental Proof of Realism, 77 f.: „One might hold that we can know a priori certain things about the objects of outer experience because there are certain conditions which outer objects must meet if we are to experience them. Only objects satisfying such conditions would be possible objects of outer experience; any objects not meeting those conditions could not be objects of our outer experience.“ Kapitlchen von mir, M.W. 46 Nach Langton sind die Dinge an sich Substanzen mit intrinsischen Eigenschaften, die nicht erkannt werden kçnnen, weil die Erscheinungen lediglich relationale und irreduzible Eigenschaften der Substanzen sind. Exemplarisch Langton, Kantian Humility, 139: „we can know only the causal powers of substances; and given that causal powers fail to supervene on the intrinsic properties of substances, it follows that we have no knowledge of the intrinsic properties.“ Kapitlchen von mir, M.W. 47 Guyer, Kant, 51: „On Kant’s theory, however, we are supposed to downgrade our experience of objects to mere appearance without knowing anything about the real character of those objects at all. […] why does Kant suppose that we can have synthetic a priori cognition only of the appearance of objects, not of their real nature?“ Kapitlchen von mir, M.W.
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Bevor wir nun die bedeutungstheoretischen Prsuppositionen von Aussagen wie (#) offenlegen, wollen wir zuvor erst einmal klren, inwiefern diese Aussage nur von einer Perspektive sideways-on aus formulierbar wre. Kçnnte diese These auch aus der Perspektive des Erkenntnissubjekts formuliert werden, so mssten wir im Besonderen erklren kçnnen, was es bedeutet, dass es einen ontischen Bereich gibt, der fr die Erkenntnismçglichkeiten prinzipiell unzugnglich ist. Wir reden hier also nicht nur ber die empirischen Limitationen unserer Sinnesorgane oder die materialen Konstruktionsgrenzen unserer theoriegesttzten Experimental- und Beobachtungsgerte, sondern ber eine Trennlinie zwischen dem potentiell Wissbaren und dem absolut Unzugnglichen. Die Annahme eines solchen epistemisch unzugnglichen ontischen Bereichs ist fr den Within-view nicht nur berflssig, sondern nicht einmal intelligibel, weil die Perspektive des Erkenntnissubjekts das Ganze der Erfahrungswirklichkeit ist – oder wie es Kant operationalisiert: Die Welt ist der Inbegriff aller Gegenstnde mçglicher Erfahrung.48 Ausnahmslos alles, worber das Erkenntnissubjekt urteilen kann oder was es hypothetisch als Gegenstand mçglicher Erfahrung in Erwgung ziehen kann, muss prinzipiell Bestandteil der Erfahrungswirklichkeit sein. Die Frage nach einem Dasein „hinter“ oder „jenseits“ der Erfahrungswirklichkeit lsst sich nicht einmal sinnvoll stellen, weil im Within-view „sein“ nichts anderes bedeutet als „erfahrungswirklich sein“. Um also eine Aussage wie (#) mit Anspruch auf Geltung berhaupt vortragen zu kçnnen, bençtigen wir eine Perspektive, die es erlaubt, erst einmal einen ontischen Unterschied zwischen der Erfahrungswirklichkeit des Erkenntnissubjekts und X zu markieren. Eine solche Perspektive setzt jedoch voraus, dass sich der Betrachter der epistemischen Limitationen des Erkenntnissubjekts entledigt, um außerhalb von Raum und Zeit sowohl die Erfahrungswirklichkeit des Erkenntnissubjekts als auch X theoretisch erwgen zu kçnnen. Da X per definitionem nicht zum epistemisch Zugnglichen des Erkenntnissubjekts gehçrt, bedarf es fr das Erkenntnismodell einer Beschreibungsperspektive, von der aus X als Name fr ,…‘ eingefhrt werden kann. Der Beobachterstandpunkt muss also entsprechend selbst außerhalb des erkenntnistheoretischen Diskursuniversums verortet werden. Um Thesen der Form (#) berhaupt mit Anspruch auf Geltung vortragen zu kçnnen, bedarf es einer Perspektive, die – ungesehen der Mçglichkeit ihrer Einnahme – prima facie die Mçglichkeit zur expressiven Unterscheidung von Erfahrungswirklichkeit 48 Kant, etwa in „Was heißt: Sich im Denken orientiren?“, 137.
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und transzendenter Realitt gewhrleistet. Es ist dies die Perspektive sideways-on. Nun kçnnen wir diese Perspektive unmçglich einnehmen und bedrfen mithin eines bedeutungstheoretischen Mittelbestandes, um uns gleichwohl einen verstehenden Zugang zur These und dem durch sie zum Ausdruck gebrachten Sachverhalt zu verschaffen. Damit nmlich der Unterschied zwischen the realm of empirically knowable phenomena and the supersensible realm of humanly unknowable things49
benannt werden kann, bençtigen wir nicht nur ein Verstndnis der Wendung „the realm of empirically knowable phenomena“, sondern zudem ein Wissen um die Bedeutung des Ausdrucks „the supersensible realm of humanly unknowable things“. Zwar kçnnten wir der Wendung „the realm of empirically knowable phenomena“ auch grundstzlich ausgehend vom Within-view eine Bedeutung geben. Da allerdings die bedeutungstheoretischen Investitionen kohrent sein mssen, bemisst sich das bedeutungstheoretisch Erforderliche an der angemessenen Behandlung der Wendung „the supersensible realm of humanly unknowable things“. D.h. die Angemessenheit einer investierten Bedeutungstheorie ist stets daran zu bemessen, ob die bedeutungstheoretischen Mittel die ontologisch voraussetzungsreichsten Thesen der Epistemologie mit Sinn und Gehalt versehen kann. Es stellt sich also die Frage, welche bedeutungstheoretischen Mittel reichhaltig genug sind, um Ausdrcken und Wendungen wie „bersinnliche Wirklichkeit“, „prinzipiell unerkennbar“ oder „ausnahmslos nicht wissbar“ Sinn und Bedeutung zu geben. Der hierdurch angefragte bedeutungstheoretische Zugang kann aber nicht von der Form sein, dass alle hierfr erforderlichen Ausdrcke in ihrer Bedeutung durch Prdikationspraxen im Umgang mit Einzeldingen der Erfahrungswirklichkeit etabliert werden oder die Bestimmung des Wahrheitswerts einer Aussage ber kontextsensitive Verfahren erfolgt, die wir beherrschen und intersubjektiv kontrollieren kçnnen. In letzterem spiegelt sich bereits die Forderung nach der Manifestation der Erkenntnisansprche wider: a grasp of the condition under which the sentence is true may be said to be manifested by a mastery of the decision procedure, for the individual may, by that means, get himself into a position in which he can recognise that the condition for the truth of the sentence obtains or does not obtain, 49 Strawson, „The Problem of Realism and the A Priori“, 248.
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and we may reasonably suppose that, in this position, he plays by his linguistic behavior his recognition that the sentence is, respectively, true or false.50
Ohne damit in eine Diskussion um eine angemessene Fassung antirealistischer Manifestationsargumente abdriften zu wollen51, kçnnen wir unkontrovers feststellen, dass sich die Geltung von Aussagen wie (#) nicht antirealistisch manifestieren lsst. Denn ungesehen der spezifischen Erluterungen fr Wendungen wie „get himself into a position“ oder „explain meanings in terms of actual human capacities for the recognition of truth“52 bleibt festzuhalten, dass die Manifestation des Wahrheitswerts einer These das Resultat einer regelgeleiteten diskursiven Begrndungspraxis ist, in die nur diejenigen (kontextsensitiven) Begrndungsverfahren Eingang finden drfen, die prinzipiell durch jedes epistemische Handlungssubjekt beherrscht werden kçnnen. Wir brauchen an dieser Stelle gar nicht viel darber auszusagen, was modal aufgeladene Wendungen wie „prinzipiell durch jedes epistemische Handlungssubjekt beherrschbar“ nun genau bedeuten sollen53, denn fr unsere Belange reicht eine epistemologische Grenzziehung der Rede vom Manifestierbaren vollkommen aus. Durch welche Forderungen auch immer die „Manifestierbarkeit der Geltung von Thesen“ im Einzelnen unterlegt sein mag – im Besonderen mssen die Begrndungsmittel prinzipiell epistemisch zugnglich sein, d. h. ihre Verwendung darf auf keinen Prsuppositionen ruhen, die bereits aus epistemologischen Grnden nicht gegeben sein kçnnen. Wir halten diese Grundausrichtung der bedeutungstheoretischen Mittel an den epistemologischen Vorgaben durch folgende beiden Definitionen fest: (Defcapacity) Ein Begrndungsmittel B heißt „prinzipiell epistemisch zugnglich“, wenn die Bereitstellung von B weder semantisch noch epistemologisch die Mçglichkeit einer Perspektive sideways-on prsupponiert.
50 Dummett, „The Philosophical Basis of Intuitionistic Logic“, 224 f. In Dummetts Werk gibt es eine Vielzahl gleich- oder hnlich lautender Passagen. Exemplarisch: „What is a Theory of Meaning? (II)“, 46: „whenever the condition for the truth of a sentence is one that we have no way of bringing ourselves to recognize as obtaining whenever it obtains, it seems plain that there is no content to an ascription of an implicit knowledge of what that condition is, since there is no practical ability by means of which such knowledge may be manifested“. 51 Siehe hierzu im Besonderen Tennant, The Taming of the True, Kap. 6 f. 52 Dummett, „What is a Theory of Meaning? (II)“, 92. 53 Siehe hierzu im Besonderen Tennant, The Taming of the True, Kap. 5 ff.
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(Defmanifest) Die Geltung einer These gilt berhaupt nur dann als „manifestiert“, wenn in einem gelungenen Begrndungsversuch einzig Begrndungsmittel zur Anwendung kommen, die prinzipiell epistemisch zugnglich sind. (Defcapacity) und (Defmanifest) werden vor allem in der positiven Bestimmung der bedeutungstheoretischen Grundlagen eine Rolle spielen.54 Ihre explizite Formulierung an dieser Stelle gibt aber bereits zu erkennen, dass unser erkenntnistheoretischer Zugang zu den bedeutungstheoretischen Grundlagen ber die epistemologische Suspendierung der Mçglichkeit einer Argumentation sideways-on umgehend zur Anerkennung der bedeutungstheoretischen Maxime „Meaning cannot transcend use“ fhrt. Wir beginnen also nicht – wie es etwa McDowell55 erwgt – mit einer fr Antirealisten charakteristischen bedeutungstheoretischen Forderung und fragen nachfolgend nach einer angemessenen Erkenntnistheorie. Wir gehen jedoch auch nicht den umgekehrten Weg, weil wir mit keiner voll entwickelten Erkenntnistheorie beginnen und anschließend nach einer probaten Semantik suchen. Wir beginnen einzig mit der epistemologischen Minimalforderung (Fmin) und leiten hieraus erst einmal die bedeutungstheoretischen Mittel ab, mit denen dann nachfolgend das erkenntnistheoretische Programm umgesetzt werden soll. Bevor wir allerdings zur positiven Bestimmung unserer semantischen Mittel schreiten kçnnen, sollte erst einmal die negative Abgrenzung weiter vorangebracht werden. 2.2.1.2 Die bedeutungstheoretischen Grundlagen – negativ bestimmt Da also die These (#) nur von einer Perspektive sideways-on aus erschließbar wre, kann die Mçglichkeit der Wahrheitswertbestimmung dieser Aussage nicht ber Manifestationsforderungen reformuliert werden. Mithin kçnnen wir bedeutungstheoretische Forderungen der Form • „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“56, • „knowledge must at some point be implicit and capable of being manifested by the knower“57 oder • „In order to ascertain the meaning of an intellectual conception one should consider what practical consequences might conceivably result
54 55 56 57
Siehe 2.2.2.4. McDowell, „Anti-Realism and the Epistemology of Understanding“, 314. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §43. Tennant, Anti-Realism and Logic, 15.
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by necessity from the truth of that conception; and the sum of these consequences will constitute the entire meaning of the conception“58 nicht in Anschlag bringen, um uns einen Zugang zur These (#) zu verschaffen, weil diese Mittel ausnahmslos mit semantischen Bedingungen operieren, die einzig innerhalb der Erfahrungswirklichkeit bzw. innerhalb des logischen Raums der Sprache realisierbar sind. Da es sich nun bei (#) um ein Existenzpostulat handelt, bei dem die Korrektheit der Referenz der gebundenen Variablen prinzipiell unprfbar ist und mithin auch die Geltungsfrage eines jeden Satzes, in dem etwas ber unerkennbare Gegenstnde ausgesagt wird, bençtigen wir alternative bedeutungsstiftende Mittel. Damit nmlich fr Stze dieser Form berhaupt der Anspruch auf Sinnhaftigkeit formuliert werden kann, muss bedeutungstheoretisch gefordert werden, dass Namen und Individuenvariablen unabhngig unserer Prfmçglichkeiten referieren und dass die Wahrheit/ Falschheit von Behauptungen unabhngig unserer potentiellen Prfmçglichkeiten feststeht, d. h. jede Behauptung ist entweder wahr oder falsch unabhngig davon, ob dies jemals in Erfahrung gebracht werden kann. Werden diese bedeutungstheoretischen Normen vertreten, so wollen wir von der Anerkennung wissenstranszendenter Wahrheiten sprechen. Wissenstranszendente Wahrheiten prsupponieren also im Besonderen die folgenden bedeutungstheoretischen Forderungen:59 (F1) Bestimmtheit der (bersinnlichen) Wirklichkeit/transzendente Bivalenz Ausnahmslos alles, was wir ber die Beschaffenheit der (bersinnlichen) Wirklichkeit sagen, ist mit Bestimmtheit entweder wahr oder falsch – je nachdem, ob sich die Dinge so verhalten oder nicht – unabhngig von unseren berzeugungen darber, ob wir das, was wir sagen, fr wahr oder falsch halten. (F2) Wissenstranszendenz All das, was wir prinzipiell und berhaupt unter Aufweis unserer besten Wissensbestnde und Methoden jemals in Erfahrung bringen kçnnen, reprsentiert selbst in einer Limesbetrachtung nie die ganze Wahrheit. Eine Vielzahl weiterer bedeutungstheoretischer Forderungen60 wie etwa Externalismus61, Intersubjektivitt62, Kommunizierbarkeit63 oder auch 58 Peirce, „The Architectonic Construction of Pragmatism“, 6. 59 Vgl. Tennant, The Taming of the True, 29 f. 60 Siehe ebd., 27 ff.
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„Wissen um Bedeutung ist Wissen um Wahrheitsbedingungen“64 wird sowohl von bedeutungstheoretischen Realisten wie auch Antirealisten in Anspruch genommen, wenngleich deren operative Detailgestaltung verschieden ausfallen mag. In einem wesentlichen Punkt bedarf es jedoch gegenber den Ausfhrungen von Dummett und Tennant sogleich einer Spezifizierung. Dies betrifft die Key Thesis No. 1*: Referentialism Any adequate semantics for our declarative discourse gives truth-conditions for sentences via appeal to an indispensable notion of reference for some of their constituent terms.65
Zwar ist richtig, dass bedeutungstheoretisch im Besonderen sicherzustellen ist, dass gerade singulre Terme fr Einzeldinge auch referieren, damit hier ein gehaltvoller Gebrauch von Namen vorliegt (denn Namen, die nicht referieren, besitzen auch keine Bedeutung). Jedoch betrifft der weitaus interessantere Punkt die Frage, wie diese Referenz sicherzustellen ist bzw. wie sie zustande kommt. Normalerweise (also im Falle von Gegenstnden mçglicher Erfahrung) steht uns die Mçglichkeit zur Verfgung, den logischen Individuen der Rede ber eine sukzessive Individuation mittels sortaler Begriffe und korrespondierender Reidentifikationsaussagen zur konstruktiven Existenz zu verhelfen – oder wie es Oskar Becker einmal ausgedrckt hat: Der Bezug ist als solcher niemals ontisch selbstndig: Was ihm zur Faktizitt verhilft, ist stets der Vollzug. 66
Die Referenz wird also gestiftet durch die Anwendung von Individuationsschemata der Form mit ,t‘ wird dasjenige unter P fallende Einzelding x benannt, fr das !(x) gilt (P sortales Prdikat; ! beliebig komplex; !(t) manifestierbar), wobei fr die in den Instanzen des Schemas auftretenden Begriffe prfbare Identitts- und Abgrenzungskriterien bençtigt werden, weil nicht nur 61 „In unserer behauptenden Rede treten Namen auf, deren Denotate von uns logisch unabhngig sind“. 62 „Wissen muss in seinen Geltungsbedingungen intersubjektiv beurteilbar sein“. 63 „Wissen muss sprachlich vermittelt werden kçnnen“. 64 „Wir wissen, was gemeint ist, wenn wir wissen, unter welchen Bedingungen der Satz wahr sein wrde“. 65 Tennant, The Taming of the True, 36. 66 Becker, Mathematische Existenz, 195 f.
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entschieden werden kçnnen muss, ob die Prdikate korrekt verwendet wurden, sondern weil zudem entscheidbar sein muss, ob die Individuation gelungen ist.67 Im Falle der Referenz prinzipiell unerkennbarer Gegenstnde (sei es nun die bersinnliche Wirklichkeit als Ganze oder einzelne Noumena) darf dieses Verstndnis von Referieren jedoch nicht benutzt werden, weil eine sukzessive Individuation schon aus semantischen Grnden ausgeschlossen ist. Es sei daran erinnert, dass sich aus der Perspektive sideways-on eine epistemische Lcke zwischen unserer Erfahrungswelt und der transzendenten Wirklichkeit ergibt, die nicht durch bedeutungstheoretische Mittel berbrckt werden kann, die einzig in Anwendung auf unsere Erfahrungswelt zulssig sind. Wollen wir in der Rede auf die transzendente Wirklichkeit Bezug nehmen oder auf einzelne unerkennbare Gegenstnde referieren, so kçnnen wir keine Prfkriterien fr gelingende Referenz in Anschlag bringen, die sich ausnahmslos nur in unserer Erfahrungswelt sinnvoll gebrauchen lassen. Und insofern die epistemische Lcke zwischen den ontischen Bereichen eine kategoriale epistemologische Differenz zwischen dem prinzipiell Wissbaren und dem letztlich Unerkennbaren anzeigt, muss die Sicherstellung der Referenz auf die transzendente Wirklichkeit ber eine Forderung erfolgen, die sich mhelos ber die epistemische Lcke hinwegzusetzen vermag. Betrachten wir hierfr die These (#) in der Form (#f ) sx (bersinnliche-Wirklichkeit(x) | prinzipiell-unerkennbar(x)), so wird offensichtlich, dass die Referenz einer anonymen Konstanten c* gerade aufgrund des Geltungsanspruchs von „c* ist prinzipiell unerkennbar“ nicht ber Aussagen der Form „mit ,c*‘ wird derjenige unter P fallende Gegenstand x benannt, fr den !(x) manifestiert ist“ gestiftet werden kann. Die Referenz dieses logischen Individuums der Rede kann unmçglich ber eine sukzessive Individuation mittels sortaler Begriffe und korrespondierender Reidentifikationsaussagen gestiftet werden, weil ausnahmslos jede Individuations- und Reidentifikationsaussage ber c* mit einem Wissensanspruch einhergehen wrde, den es aufgrund von (#f ) nicht geben darf. Damit jedoch auch c* bzw. die durch den Existenzquantor gebundene Variable x referiert, muss bedeutungstheoretisch die weitaus strkere Forderung formuliert werden, dass im Besonderen alle singulren Terme unabhngig unserer Prfmçglichkeiten referieren: 67 Ausfhrlich hierzu siehe 2.2.2.2.3.
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(F3) ontische Selbstndigkeit der Referenz Ausnahmslos allen singulren Termen kommt ein klar bestimmtes Denotat zu – unabhngig davon, ob wir in der Lage sind, die Referenz der singulren Terme zu prfen, d. h. unabhngig von der Mçglichkeit, ob wir die referierten Gegenstnde prinzipiell erkennen kçnnen. In der Spezifikation von (F3) ist Tennants Key Thesis No. 1* keine bedeutungstheoretische Forderung mehr, die auch von einem transzendentalen Antirealisten akzeptiert werden kçnnte. Die explizite Formulierung von (F3) ist aber unverzichtbar, weil die bedeutungstheoretischen Forderungen (F1) und (F2) ihrerseits berhaupt nur dort sinnvoll zur Anwendung kommen kçnnen, wo das logische Individuum der Rede wissensunabhngig und unerkannt gegeben ist: Jede wissenstranszendente These T prsupponiert, dass die in T auftretenden Namen fr logische Individuen ontisch selbstndig referieren. Dass die Wahrheit von Aussagen wie (#) unabhngig unserer Prfmçglichkeiten feststeht, ist eben das Eine. Dass mit Aussagen wie (#) aber berhaupt etwas (vermeintlich) Sinnvolles und damit Wahrheitswertfhiges zum Ausdruck gebracht werden soll, das ist das Andere. Und um Letzteres – zumindest prima facie – sicherstellen zu kçnnen, bençtigen wir eine Forderung wie (F3). Wrde nmlich auch in diesem Fall gelten, dass die Referenz durch den Individuationsvollzug allererst gestiftet wird, so kçnnten weder die gebundene Variable x aus (#f ) noch c* referieren, womit sich die Geltungsfrage von (#) gar nicht erst stellt und (F1) sowie (F2) berflssig wren. Wenn daher beispielsweise Thomas Nagel freizgig feststellt, was wir sprachlich so alles kçnnen, so ist die nachfolgende Mçglichkeitserwgung berhaupt nur dann in ihrem Gehalt zugnglich, wenn wir keinerlei Rechenschaft ber die Referenzialisierbarkeit der gebundenen Individuenvariablen ablegen mssen: We can speak of ‘all the things we can’t describe’, ‘all the things we can’t imagine’, ‘all the things humans can’t conceive of ’, and finally, ‘all the things humans are constitutionally incapable of ever conceiving’.68
„Transzendente Bivalenz“, „Wissenstranszendenz“ und „ontische Selbstndigkeit der Referenz“ erweisen sich damit als unverzichtbare bedeutungstheoretische Mittel, um der sideways-on-Rede von unserer Erfahrungswelt („der Welt der Erscheinungen“) und ihrer transzendenten 68 Nagel, The View from Nowhere, 98.
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Grundlage sowie der epistemischen Lcke zwischen dem vermeintlichen und dem tatschlichen Sein eine gewisse Anfangsplausibilitt zu geben. 2.2.2 Wissbarkeit als Bedingung der Sinnhaftigkeit Bisher haben wir unsere bedeutungstheoretischen Grundlagen vor allem ber jene Grenzen bestimmt, die bei Strafe der Sinnlosigkeit nicht berschritten werden drfen. Im Folgenden werden wir uns nun schrittweise an weitere Bedingungen fr sinnhaftes philosophisches Argumentieren herantasten, die am Ende von 2.2 gemeinsam mit unseren Einsichten aus 1.2 und 1.3 zu einem notwendigen und hinreichenden Bedingungskatalog zusammengefhrt werden. 2.2.2.1 Erkenntnistheorie ohne Bedeutungstheorie? Manch einer behauptet, dass die Formulierung einer erkenntnistheoretischen Position keinerlei bedeutungstheoretische Prsuppositionen einschließen muss, so dass Aussagen ber das „Dasein der Gegenstnde“ geltungstheoretisch unabhngig sind von Aussagen ber das „Sosein der Gegenstnde“.69 Bereits eingangs zu 2.2.1 hatten wir angezeigt, dass Bedeutungs- und Erkenntnistheorie zwar nicht zusammenfallen, wohl aber die Klrung einzelner ihrer Fragen in einer engen Verbindung zueinander stehen. So hatten wir unter anderem darauf aufmerksam gemacht, dass die Auszeichnung der eigenen bedeutungstheoretischen Grundlagen wesentlich von den investierten Erwartungshaltungen gegenber dem Erkenntnisund dem Wissensbegriff abhngt, was uns ausgehend von (Fmin) bereits zur Formulierung der Definitionen (Defcapacity) und (Defmanifest) gefhrt hat. Und schließlich wurde durch den weiteren Verlauf explizit, dass die Suggestion einer Perspektive sideways-on berhaupt nur unter Inanspruchnahme ganz bestimmter bedeutungstheoretischer Forderungen vorangetrieben werden kann. Diese Einsichten sind keineswegs neu, denn sptestens Putnam hat offengelegt, dass metaphysische Realismen, deren 69 So etwa Devitt, Realism and Truth, 12: „realism is quite distinct from any semantic doctrine“. Auch Tennant, Anti-Realism and Logic, 8: „But the ontological question is logically independent of the question of determinacy of truth-value of statements about objects in the ontology“. Ders., The Taming of the True, 19: „Realism v. nonrealism about entities is orthogonal to realism v. anti-realism about statements concerning them. All four positions are possible, and have adherents“.
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Ziel in der Rehabilitation des gçttlichen Beobachterstandpunkts besteht70, bedeutungstheoretische Forderungen wie (F3) formulieren mssen, die bei genauer Betrachtung sinnlos sind71, weil sie das prinzipiell Nichterklrbare zur erkenntnistheoretischen Wahrheit machen: It seems as if the fact that R is reference must be a metaphysically unexplainable fact, a kind of primitive, surd, metaphysical truth.72 But the notion of a transcendental match between our representation and the world in itself is nonsense.73
Achtet man in seinen eigenen erkenntnistheoretischen Ausfhrungen auf die grundstzlichen und jeweils mitgefhrten Sinnbedingungen, so drfte es nicht sonderlich schwer fallen, Putnam uneingeschrnkt zuzustimmen. Denn Forderungen wie (F3) in Anwendung auf eine transzendente Wirklichkeit prsupponieren die Mçglichkeit des Erwgens des Nichtdenkbaren und des Aussprechens des Unsagbaren. Was immer auch die Referenz zwischen einem Namen n und einem unerkennbaren Gegenstand g sicherstellen mag – das Formulieren einer solchen Relation (naiv: „R(n, g)“ fr „der Name ,n‘ referiert auf den durch ,g‘ benannten Gegenstand“) ist unmçglich, weil uns die zweite Argumentstelle wiederum nur sprachlich zugnglich ist (,g‘ ist wiederum nur ein Name fr den Gegenstand) und wir per definitionem ber keinen sprachfreien Zugang zur „Welt an sich“ verfgen kçnnen74 : Der gçttliche Beobachterstandpunkt ist nicht nur zum Schweigen verdammt, sondern ein Ort, an dem Geltung keine Rolle spielen kann. Wer immer auch das Bestehen einer transzendenten Referenzrelation R behauptet, der muss bereits gegenber jenem kapitulieren, der ihm unter Verwendung einer andersgearteten transzendenten Referenzrelation R’ widerspricht, obgleich dieser ebenfalls etwas Sinnloses vortrgt.75 Wer dem entgegenhlt, dass die von Putnam (und schließlich auch vom vorgelegten Programm) explizierten bedeutungstheoretischen Erfordernisse 70 Etwa Putnam, Reason, Truth and History, 73. Siehe hierzu unsere Ausfhrungen in 4.2. 71 Siehe hierzu unsere Diskussion des Gehirne-im-Tank-Gedankenexperiments in 4.2. 72 Putnam, Reason, Truth and History, 46. 73 Ebd., 134. 74 Bereits Lotze (Logik, 479 f.) hat das Argument ausgefhrt, dass eine transzendente Beschreibungsperspektive genau jenen epistemischen Bedingungen verhaftet bleibt, deren theoretische Einklammerung gerade durch die Transzendierung realisiert werden sollte. 75 Siehe hierzu unsere Ausfhrungen zu Kants Behandlungsmethoden transzendenter Realismen in 6.2.3.
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fr eine Perspektive sideways-on „absurd“ seien, weil der „epistemische und semantische Karren vor das ontologische Pferd gespannt werden“76 wrde, der gibt entweder zu erkennen, dass er sich ber die Sinnbedingungen seiner eigenen erkenntnistheoretischen ußerungen noch berhaupt nicht im Klaren ist, oder investiert ein Verstndnis von „Realismus“, das den hier in Frage stehenden Streitpunkt nicht zu benennen erlaubt. Eventuell treffen wir hier auf eine Person, die dezidiert (Fmeta) ablehnt, oder aber der Opponent vertritt die These, dass ontologische Aussagen keinerlei semantische Verpflichtungen eingehen. Im ersten Fall drfen wir den Einwand getrost ignorieren, weil jemand, der sich von der Pflicht der Explikation der eigenen Sinnbedingungen entbindet, auch nicht mit Anspruch auf Geltung ußerungen vortragen kann. Wer indes die These vertritt, dass Aussagen ber das „Dasein der Dinge“ geltungstheoretisch unabhngig sind von Aussagen ber das „Sosein der Dinge“, der schultert die Beweislast zeigen zu kçnnen, wie es mçglich sein soll, ontologische Aussagen ber Gegenstnde mçglicher Erfahrung zu begrnden ohne auch nur eine einzige Aussage darber zu machen, wie wir zu einem Wissen ber diese Gegenstnde gelangen. So macht etwa Devitt, der sich dezidiert fr die Trennbarkeit von ontologischen und bedeutungstheoretischen Aussagen ausspricht77, geltend, dass ein ontologischer Realismus durchaus vertreten werden kann, der offen ist gegenber einer realistischen oder antirealistischen Semantik. Im Besonderen behauptet er, dass die von Putnam vorgetragene Kritik gegen einen metaphysischen Realismus nur dann zutreffen wrde, wenn man einen ontologischen Realismus mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit verknpft.78 Nach dieser Auffassung kann man also einen ontologischen Realismus vertreten, ohne auf die Anerkennung wissenstranszendenter Wahrheiten verpflichtet zu sein. Doch damit kommen wir zu der erkenntnistheoretischen Gretchenfrage, was die Kampfvokabel „(ontologischer) Realismus“ hier berhaupt bedeuten soll. 2.2.2.2 ,Realismus‘ ist nicht gleich ,Realismus‘ Eine semantische Przisierung dieses Klassifikationsausdrucks ist schon deshalb geboten, damit Autor und Leser im Folgenden nicht aneinander vorbeischreiben bzw. -lesen. Darber hinaus bedarf es dieser Erluterungen, weil durch Aufweis unangebrachter Verwendungsweisen deutlich gemacht 76 So Devitt, Realism and Truth, 194. 77 Siehe ebd., Kap. 4 und Kap. 12. 78 Ebd., 183.
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werden kann, mit welchem Typ von Erkenntnistheorie hier gegen welche Form eines erkenntnistheoretischen Realismus argumentiert wird. 2.2.2.2.1 Empirische und ontologische Realismen sind nicht identisch Wir beginnen hierfr mit der Devittschen Maxime, dass die ontologische Dimension von der bedeutungstheoretischen unabhngig ist: Maxim 2 Distinguish the metaphysical (ontological) issue of realism from any semantic issue.79
Diese Maxime teilt auch der semantische Antirealismus von Neil Tennant, wenn die These erwogen wird, dass sich die ontologische Ebene zur semantischen orthogonal verhlt, d. h. dass sich ein Realismus/Antirealismus bezglich des Daseins der Gegenstnde kombinieren lsst mit einem Antirealismus/Realismus bezglich der Aussagen ber sie:80 a1) Ontologischer
a2) Ontologischer
b1) Semantischer
mçglich
mçglich(?)
b2) Semantischer
mçglich(?)
mçglich
Realismus
Antirealismus
Realismus („Wissenstranszendenz“) Antirealismus („Wissbarkeit“)
Um den transzendentalen Antirealismus, der als eine Spielweise von a2cum-b2 aufzufassen ist, auch aussagekrftig ex negativo zu a1-cum-b1-Positionen bestimmen zu kçnnen, bedarf es im Besonderen der Klrung der Frage, ob die Paarungen a1-cum-b2 und a2-cum-b1 berhaupt mçglich sind. Ob dieses Vierfelderschema also in der beschriebenen Weise bestckt werden kann, hngt offensichtlich von der Unterscheidung zwischen ontologischem Realismus und Antirealismus ab. Tennants Abgrenzung zwischen Realismus und Antirealismus auf der Seite der Bedeutungstheorie81 deckt sich weitgehend mit unseren Ausfhrungen, so dass wir als differenzierendes Merkmal festhalten drfen, dass ein semantischer Realismus vertreten wird, wenn (F1) oder (F2) oder (F3) anerkannt wird (in der Regel alle drei), whrend ein semantischer Antirealismus 79 Ebd., 3. 80 Vgl. Tennant, Anti-Realism and Logic, 7 ff. Ders., The Taming of the True, 19 ff. 81 Siehe Tennant, The Taming of the True, 38.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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berhaupt nur dann vertreten werden kann, wenn weder (F1) noch (F2) noch (F3) akzeptierbar ist. Da sich Tennant in seiner Charakterisierung des ontologischen Realismus zustimmend82 auf Devitts Bestimmung bezieht, sei dessen Definition fr uns die Referenzgrçße: Realism Tokens of most current common-sense, and scientific, physical types objectively exist independently of the mental.83
Zugestanden, dieses Verstndnis von „ontologischem Realismus“ lsst vor allem ein Bekenntnis zu einem wissenschaftlichen Realismus erkennen, weil sogleich auch die Existenz von Gegenstnden wissenschaftlicher Theorien (auch theoretischen Konstrukten wie Elementarteilchen) anerkannt wird, die es offensichtlich im selben Sinne geben soll, wie die lebensweltlichen Gegenstnde mçglicher Erfahrung.84 Dies mag aber gar nicht unser Punkt sein, denn wir halten Ausschau nach einem differenzierenden Merkmal zu einem ontologischen Antirealismus. Gemß der Charakterisierung scheint es die Aufgabe der Wendung „objectively exist independently of the mental“ zu sein, einen hinreichenden Unterschied zu den Anti-Ismen zu stiften. Die „erkenntnissubjektunabhngige objektive Existenz von Erkenntnisobjekten“ besagt nun bei Devitt: If an object exists independently of the mental then it can exist unobserved85,
D.h. „independently of the mental“ umfasst sogleich zwei erkenntnistheoretische Grundthesen: T1 Es gibt voneinander (von uns/von mir) logisch unabhngige Gegenstnde der Erfahrung. und T2 Wenn es voneinander (von uns/von mir) logisch unabhngige Gegenstnde gibt, dann persistieren auch einige, gerade nicht wahrgenommene Gegenstnde. In der Rede von der „logischen Unabhngigkeit“ ist bereits die Bedingung der Mçglichkeit der Persistenz gegenwrtig nicht perzipierter Gegenstnde angelegt, denn „logische Unabhngigkeit zwischen Einzeldingen x und y“ soll im Besonderen zum Ausdruck bringen, dass das Dasein eines Einzeldings x nicht vom Dasein eines Einzeldings y abhngt. Wrde also behauptet werden, dass das Dasein eines Gegenstandes x im Perzipieren 82 83 84 85
Tennant, Anti-Realism and Logic, 11. Devitt, Realism and Truth, 22. Siehe ebd., 22 f. und Kap. 7. Ebd., 14.
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von y besteht, so wrde tatschlich eine logische Abhngigkeit bestehen, weil x berhaupt nur dann ein Dasein erfahren kann, wenn es ein es perzipierendes y gibt. Wir werden jedoch gerade im Verlaufe des sechsten Kapitels ausfhren, dass bereits Kants transzendentaler Idealismus berhaupt nicht in Frage stellt, dass die Gegenstnde mçglicher Erfahrung ein Dasein unabhngig von unserem Geist haben. Kant teilt zugleich und vollkommen zu Recht einen solchen empirischen Realismus, dem gemß die von uns logisch unabhngigen Gegenstnde der Erfahrung „außer uns“ sind im empirischen Sinne, womit sie unterschieden werden von mentalen Entitten, die im empirischen Sinne „in uns“ sind und damit in einer logischen Abhngigkeit zu ihrem Trger stehen: Mentale Entitten sind identifikationsabhngige Einzeldinge, deren Individuation und Reidentifikation ber ihren Trger zu erfolgen hat. Doch nicht nur Kants Erkenntnistheorie erfllt die Devittsche Charakterisierung von „Realismus“, sondern – nach der eigenen Auskunft der Autoren – ausnahmslos alle prominenten neuzeitlichen Erkenntnistheorien von Descartes bis Kant.86 Und auch das vorliegende Programm verpflichtet sich uneingeschrnkt auf die Wahrung der durch die Thesen T1 und T2 zum Ausdruck gebrachten erfahrungsermçglichenden Strukturmerkmale, denn mit ihnen wird eine Ermçglichungsbedingung fr Erfahrung berhaupt zum Ausdruck gebracht. Diese hat vor allem sicherzustellen, dass die Bedingung eines nichtsolipsistischen Bewusstseins erfllt ist. Damit wir nmlich berhaupt ber ein erfahrungsermçglichendes Begriffssystem verfgen kçnnen, durch das zwischen mir selbst und meinen Zustnden auf der einen Seite und den Einzeldingen, die nicht Zustnde meiner selbst sind, unterschieden werden kann, muss bereits prsupponiert werden, dass es relativ permanente Einzeldinge gibt, deren Existenz von der meinen logisch unabhngig ist: Thus it is to have a conceptual scheme in which it is logically possible that such items should exist whether or not they were being observed, and hence should continue to exist through an interval during which they were not being observed.87
Strawson hat in Ergnzung hierzu und im Anschluss an Kants „Analogien der Erfahrung“ ausgefhrt88, dass wir zur Ausbildung eines Erfahrungsbegriffs der Mçglichkeit einer objektiven Zeitbestimmung bedrfen. Um dies aber gewhrleisten zu kçnnen, mssen wir zwischen der subjektiven Zeitfolge unserer 86 Siehe sechstes Kapitel. 87 Strawson, Individuals, 72. 88 Strawson, Bounds, 140 ff. Siehe zudem ders., Individuals, 32 ff., 71 ff.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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Wahrnehmungen und den Zeitrelationen der wahrgenommenen und wahrnehmbaren Gegenstnde unterscheiden kçnnen. Dies gelingt uns nur dann, wenn wir ber den Begriff des gegenwrtig nicht wahrgenommenen Gegenstandes verfgen, unter den Objekte fallen, die zur selben Zeit existieren wie die Gegenstnde augenblicklicher Wahrnehmung. Wenn wir das Zugleichsein von Gegenstnden mçglicher Wahrnehmung und Gegenstnden tatschlicher Wahrnehmung nicht als Voraussetzung akzeptieren wrden, so kçnnten wir nicht zwischen den rein subjektiven Zeitfolgen unserer Wahrnehmung und den objektiven Zeitrelationen der Gegenstnde unterscheiden. Dann wre aber auch Erfahrung im Sinne objektiver Erkenntnis nicht mçglich. „Logische Unabhngigkeit“ und „Objektpermanenz“ von Gegenstnden mçglicher Erfahrung – als bestimmenden Charakteristika eines empirischen Realismus – benennen allerdings nicht den Unterschied zwischen ontologischen Realismen und Antirealismen, sondern einen Unterschied zwischen solchen Erkenntnistheorien, die die Mçglichkeit fr ein nichtsolipsistisches Bewusstseins stiften, und solchen, die diese Mçglichkeit nicht kohrent einrumen kçnnen. Devitts Charakterisierung erlaubt erst einmal nur die Abgrenzung gegenber jenen Positionen, die behaupten, dass die Gegenstnde mçglicher Erfahrung einzig im Geist existieren oder „Kraft des Verstandes“ in die Welt kommen und damit ein reines erkenntnissubjektabhngiges – in die Welt projiziertes – Dasein besitzen: Devitts Kernthese des Realismus: T1 und T2 Akzeptanz
Ablehnung
fhrt zu einem empirischen Realismus
fhrt zu einem empirischen Idealismus
exemplarische Vertreter (lt. eigener Auskunft): Descartes, Locke, Leibniz, Berkeley(!), Hume, Kant, logische Empiristen, Strawson, Putnam, Devitt, Tennant, McDowell
Vertreter: Arthur Collier89
Es ist Devitt und Tennant darin zuzustimmen, dass dieses Verstndnis von Realismus – vorausgesetzt es wre ein angemessenes Verstndnis bezglich der ontologischen Frage – noch offen gegenber den bedeutungstheoretischen Grundstzen ist. Dass es sich hierbei jedoch nicht um ein angemessenes Verstndnis handelt, erkennt man bereits an der Zeile des 89 Clavis Universalis, exemplarisch 5: „I affirm that all matter exists dependantly on mind“.
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Schemas, in der exemplarisch Vertreter genannt wurden. Man muss in der Philosophiegeschichte schon etwas lnger suchen, um erkenntnistheoretische Projekte benennen zu kçnnen, die tatschlich und explizit die logische Abhngigkeit des Erkenntnisobjekts vom Erkenntnissubjekt behauptet haben. Selbst wenn wir fr den Augenblick offenlassen, ob in der linken Spalte nicht (in Folge eines zu przisierenden Verstndnisses) ontologische Realisten wie auch Antirealisten ununterschieden aufgefhrt werden, so wrde sich die Frage stellen, gegen wen bzw. welche Position hier ein ontologischer Realismus im Sinne Devitts berhaupt einen Standpunkt bezieht. Wenn durch T1 und T2 ein logischer Raum positiv bestimmt wird, in den alle nennenswerten und faktisch vertretenen Positionen einer erkenntnistheoretischen Debatte fallen, dann kann durch T1 und T2 selbst noch nicht der Streitpunkt dieser Debatte markiert sein. T1 und T2 sind zwar weit davon entfernt, triviale erkenntnistheoretische Wahrheiten zu sein, aber nach dem Schema sind sie zusammen noch keineswegs hinreichend, um die Besonderheiten einer realistischen Ontologie vollstndig zu bestimmen. Devitts Charakterisierung vollzieht die Unterscheidung an der falschen Stelle, denn die diskussionswrdige ontologische Frage betrifft nicht den Punkt, ob es berhaupt voneinander logisch unabhngige Einzeldinge gibt, sondern sie zielt auf die Klrung des Problems, was es bedeutet, dass Einzeldingen ein von mir logisch unabhngiges Dasein zugeschrieben werden kann: „In welcher Weise gibt es die von uns logisch unabhngigen Einzeldinge?“ bzw. „Aufgrund welcher Bedingungen bin ich gerechtfertigt, Einzeldingen ein von mir logisch unabhngiges Dasein zuzuschreiben?“ Wir kçnnen somit festhalten: Der interessante Streitpunkt zwischen Realisten und Antirealisten bezglich der Außenwelt besteht berhaupt nicht in der Frage, ob Einzeldinge der Außenwelt vom Erkenntnissubjekt logisch unabhngig sind, sondern in der Frage, aufgrund welcher Bedingungen wir gerechtfertigt sind, Einzeldingen der Erfahrungswirklichkeit eine Existenz – und damit a fortiori eine bestimmte Beschaffenheit – zuzuerkennen. 90
90 Alternativ: Der Streitpunkt besteht nicht darin, ob Objektivitt eine Unabhngigkeit vom subjektiven Vorstellen und Empfinden meint, sondern ob Objektivitt zudem eine Unabhngigkeit von der Vernunft zum Ausdruck bringt. So auch Frege, Grundlagen der Arithmetik, §26.
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Damit dies sogleich mit Substanz unterfttert wird, beziehen wir uns auf eine Passage von Fichte, in der die These von der logischen Unabhngigkeit mit einer These von der epistemologischen Abhngigkeit verknpft wird – also genau jene Paarung, die mehrheitlich unverstanden bleibt. Diese besagte Passage ist bemerkenswert, weil durch sie das Erfordernis eines empirischen Realismus transzendental idealistisch prsupponiert wird. D.h. die Frage nach der „Existenz der Außenwelt“ im Sinne des empirischen Realismus wird simultan beantwortet mit jener nach der „Weise ihres Gegebenseins“ im Sinne eines transzendentalen Idealismus. Fr Fichte reprsentiert die epistemologische Existenzaussage „es gibt eine von mir (vom Ich) logisch unabhngige Außenwelt“ weder eine Prmisse noch ein Postulat, sondern eine universale Sinnbedingung, die sich ausgehend von einer apriorischen Reflexion des epistemischen Handlungssubjekts einstellt. Indem das epistemische Handlungssubjekt die Bedingungen der Mçglichkeit seines Selbst entfaltet, stçßt es auf die epistemologische Prsupposition, dass es eine von ihm logisch unabhngige Außenwelt geben muss. Setzt sich das Ich das Vermçgen zur freien Wirksamkeit, so setzt es nach Fichte zugleich eine Sphre außerhalb des beschrnkten Ich. Was dieser Sphre angehçrt ist gesetzt als nicht durch die Thtigkeit des Ich hervorgebracht, noch durch sie hervorzubringen; es wird sonach aus der Sphre des Ich, und dieses aus seiner Sphre ausgeschlossen; es entsteht ein System der Objecte, d.i. eine Welt, die unabhngig vom Ich […] da ist 91.
Die zuletzt formulierte epistemologische Existenzaussage („Welt, die unabhngig vom Ich da ist“), die in Reinform einen empirischen Realismus zum Ausdruck bringt, ist ihrerseits eine Folge der Explikation der transzendentalen Sinnbedingungen fr die Mçglichkeit von Selbstbewusstsein. Wer nunmehr fragt, was es (im Unterschied zu einem transzendenten Realismus) denn bedeutet, dass hier die Existenz einer von mir logisch unabhngigen Außenwelt formuliert wird, dem kann geantwortet werden: Das notwendige Erfordernis einer von mir logisch unabhngigen Außenwelt ergibt sich aus der universalen Sinnbedingung, dass ich mich als epistemisches Handlungssubjekt nicht setzten (verstehen) kçnnte, wenn ich nicht zugleich eine „nicht durch die Thtigkeit des Ich hervorgebrachte“ Sphre setzen wrde. Der transzendentale Vollzug einer Setzung „als nicht durch die Thtigkeit des Ich hervorgebracht“ stiftet die Bedeutung von „Welt, die unabhngig vom Ich da ist“. 91 Fichte, Grundlage des Naturrechts, 24.
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Indem wir nachfolgend die Aufmerksamkeit auf die Bedeutungsexplikation erkenntnistheoretischer Existenzaussagen richten, erhalten wir nicht nur eine aussagekrftige und angemessene Unterscheidungsmçglichkeit zwischen ontologischen Realismen und Antirealismen, sondern stellen zugleich fest: Ontologische Fragen der Erkenntnistheorie sind semantische Fragen bezglich der Bedeutung erkenntnistheoretischer Existenzaussagen, weil der Vollzug ontologischer Behauptungen ganz bestimmte semantische Gehalte prsupponiert. 2.2.2.2.2 Weisen des Gegebenseins Sofern wir beginnen, erkenntnistheoretische Existenzaussagen im Hinblick auf ihre Bedeutung zu analysieren, stellt sich die Frage, welche bedeutungstheoretischen Mittel fr die Analyse zulssig sind. Doch indem diese bedeutungstheoretischen Fragen beantwortet werden, klrt sich zudem, welchen erkenntnistheoretischen Existenzaussagen berhaupt Sinn und Bedeutung zugesprochen werden kann.92 An dieser Stelle trennen sich nicht nur die Wege semantischer Realisten und Antirealisten, sondern zugleich und im Besonderen auch die Wege in Bezug auf die ontologische Fragestellung. Beginnen wir mit Letzterer. Ein ontologischer Realist unterscheidet sich von einem ontologischen Antirealisten, indem durch den ersteren behauptet wird, dass es von uns logische unabhngige Einzeldinge gibt, die wir prinzipiell nie erkennen kçnnen oder von deren „wirklicher Beschaffenheit“ wir kein sicheres Wissen haben kçnnen. Zumindest einige Gegenstnde der Erkenntnis besitzen ein an sich bestimmtes Dasein, das wir nicht oder nur unzureichend erkennen kçnnen. Die Rede von „wirklicher Beschaffenheit“ ist hierbei eine Folge der ontischen Unterscheidung zwischen der uns epistemisch zugnglichen Welt und der ihr zugrunde liegenden eigentlichen Wirklichkeit. Durch die Frage nach der wirklichen Beschaffenheit der Dinge kommt ein „Wirklichkeits“-Sprechakt93 zur Anwendung, der ausgehend von Urteilen ber Einzeldinge, in denen unsere besten Wahrma92 In dieser Weise hat brigens Putnam – beschrnkt auf den Punkt der Referenzialisierbarkeit von Namen – auf Devitts Kritik reagiert. Siehe etwa Putnam, „Is the Causal Structure of the Physical Itself Something Physical?“, 85. Ders., The Many Faces of Realism, 39 f. 93 Siehe Wille, „Was sollte transzendentaler Idealismus heute bedeuten?“, 9 ff.
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cher zu Anwendung kommen, danach fragt, ob es sich auch „tatschlich“ so verhlt: Would not the most that we can see to be necessarily connected with our thinking in a certain way be only our having to think or believe that certain other things are true, and not the actual truth of those other things as well?94
Dem Vollzug dieses Sprechaktes liegt eine erkenntnistheoretische Regel zugrunde, die das empirische Wissen epistemologisch wie folgt hinterfragt: (WS) SV! M Sideways-on-viewV$~! „Wenn ! relativ zu unserem (besten) Wissensbestand S gilt, so darf erkenntnistheoretisch von einer Perspektive sideways-on aus erwogen werden, dass ! mçglicherweise nicht tatschlich der Fall ist.“95 Diese Regel fr den „Wirklichkeits“-Sprechakt (WS) ist in analogischer Weise dem uns vertrauten Hinterfragen von Meinungen nachgebildet: Ebenso wie wir verstndlich nachfragen kçnnen, ob der Glaube von c, dass !, aus einer besser geeigneten Beurteilungsperspektive nicht mçglicherweise falsch ist, fragen wir nunmehr epistemologisch iteriert, ob das, was wir als Wissen gerechtfertigt anerkennen, aus einer epistemischen Superperspektive nicht mçglicherweise falsch ist. In dieser Nachbildung wird also die, innerhalb unserer empirischen Wissensansprche bewhrte und unverzichtbare Unterscheidung zwischen Schein und Sein abgebildet auf eben diesen Wissensbegriff selbst.96 Was ehemals Wissen war, ist nunmehr mçglicherweise bloßer Schein.
94 Stroud, „Kantian Argument, Conceptual Capacities, and Invulnerability“, 162 f. Exemplarisch Rescher, Human Knowledge in Idealistic Perspective, 250: „This cognitive opacity of real things means that we are not–and will never be–in a position to evade or abolish the contrast between “things as we think them to be” and “things as they actually and truly are”“. Oder Grundmann, „Was ist eigentlich ein transzendentales Argument?“, 62: „Fr den Realisten folgt daraus, daß wir ausschließlich Erfahrungen von Objekten bestimmter Art machen kçnnen, nichts darber, daß die Objekte dieser Erfahrung auch tatschlich von dieser Art sein mssen. Es folgt nur, daß diese Objekte dem Subjekt in der Erfahrung so erscheinen.“ Vgl. ebd., 66. 95 Zur Legitimation von (WS) mssen im Besonderen die bedeutungstheoretischen Forderungen (F2) und (F3) herangezogen werden. 96 In Carnaps Terminologie („Empiricism, Semantics, and Ontology“, 206 ff.) entspricht dies der ungerechtfertigten Anwendung einer – innerhalb unseres sprachlichen Bezugssystems – vollstndig legitimen Unterscheidung auf dieses Bezugssystem als Ganzes. Durch den „Wirklichkeits“-Sprechakt werden interne Fragen zu externen transformiert.
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Eine treffliche Analyse des „Wirklichkeits“-Sprechakts und des damit verbundenen bergangs von der Wissbarkeit zur Wissenstranszendenz hat bereits 1785 Moses Mendelssohn vorgenommen. Seine Untersuchung verdient hier eine Erwhnung, weil Mendelssohn im Rahmen einer Dialogsituation das sprachpragmatische Versagen im Vollzug des „Wirklichkeits“-Sprechakts aufzeigt. Mendelssohn fingiert eine Gesprchssituation, in der eine der beiden Parteien (A) von der anderen wissen mçchte, was das Urbild der Gegenstnde ist97 (= Beschaffenheit der Dinge an sich), whrend sich die andere Partei (B) stets nur in der Lage sieht, ber die Beschaffenheit der Gegenstnde (= „was dieses Urbild wirke“) Auskunft zu erteilen. Nachdem bereits B Bedenken angemeldet hat, dass A etwas verlangt „zu wissen, was schlechterdings kein Gegenstand des Wissens ist“98, folgt Bs sinnkritische Mahnung, das Hinterfragen nach der wirklichen Beschaffenheit nicht weiter zu treiben, als es das sinnvolle Fragen zulsst: Wenn ich euch sage, was ein Ding wrket oder leidet; so fraget nicht weiter, was es ist. Wenn ich euch sage, was ihr euch von einem Dinge fr einen Begriff zu machen habet; so hat die fernere Frage, was dieses Ding an und fr sich selbst sey? weiter keinen Verstand.99
Steht die Beschaffenheit eines Gegenstands in Frage, so ist nach Mendelssohn mit der Erteilung der Auskunft „was ihr euch von einem Dinge fr einen Begriff zu machen habet“ alles gesagt. Wer indes von hier aus nach der „an-sich-Beschaffenheit“ fragt, der wechselt unter Verwendung des „Wirklichkeits“-Sprechakts ber zu Fragen, die „aus leeren Worten bestehen, die keinen Sinn mit sich fhren“100. Whrend nun also der ontologische Realist von einer (zumindest partiell) an sich bestimmten Beschaffenheit der Außenwelt ausgeht, vertritt demgegenber ein Antirealist die These, dass ausnahmslos alle Dinge, denen wir ein von uns logisch unabhngiges Dasein zuschreiben, auch prinzipiell Gegenstnde mçglicher Erfahrung sein mssen, d. h. sie mssen die Rolle von logischen Individuen in manifestierbaren Erfahrungsurteilen bernehmen kçnnen. Fr einen ontologischen Antirealisten besitzt die Rede von „objektiven Einzeldingen“, „Wirklichkeit“ oder „tatschlich“ jenseits des Erfahrungswirklichen und damit jenseits des Vernunftzugnglichen nicht nur keinen klar bestimmten, sondern berhaupt keinen Sinn. Zwar rumt ein ontologischer Antirealist ein, dass in hinreichend 97 98 99 100
Mendelssohn, Morgenstunden, 115. Ebd., 116. Ebd. Ebd.
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vielen Fllen unsere Einzeldingerkenntnis defizient ist in dem Sinne, dass wir nur ber ein lckenhaftes und eventuell nicht einmal gut verbrieftes Wissen verfgen, welches uns zu einer entsprechenden Existenzbehauptung berechtigt. Aus diesem Umstand folgt fr ihn aber keineswegs die Unmçglichkeit objektiver Einzeldingerkenntnis, weil gerade die Diagnose „lckenhafter“ oder „eventuell unzulssiger“ Informationen nur sinnvoll ist auf dem Hintergrund dichterer und zuverlssiger Daten: (‡) Die Mçglichkeit unzulnglicher Einzeldingerkenntnis prsupponiert bereits die Mçglichkeit objektiver Einzeldingerkenntnis. Diese Unterscheidung zwischen ontologischen Realismen und Antirealismen geht Hand in Hand mit der Unterscheidung zwischen semantischen Realismen und Antirealismen (in Bezug auf Aussagen der Erkenntnistheorie), denn die Mçglichkeit von Existenzaussagen ber prinzipiell epistemisch unzugngliche Gegenstandsbereiche kann berhaupt nur dort sinnvoll erwogen werden, wo die bedeutungstheoretischen Forderungen (F1), (F2) und (F3)101 Anerkennung finden. Im Unterschied hierzu kann ein ontologischer Antirealismus nur dann sinnvoll vertreten werden, wenn Aussagen ber das Dasein von Einzeldingen zugleich ein manifestierbares Wissen ber diese Einzeldinge impliziert.102 Aus dieser Charakterisierung folgt im Besonderen, dass ein ontologischer Realismus nicht zugleich mit einem Antirealismus bezglich Bedeutung und Wahrheit kombiniert werden kann, denn ontologisch-realistische Aussagen der Form (#f ) sx (bersinnliche-Wirklichkeit(x) | prinzipiell-unerkennbar(x)), sind gemß (Defcapacity) und (Defmanifest)103 in ihrer Geltung nicht manifestierbar und besitzen folglich nicht einmal einen klar bestimmten Sinn. Des Weiteren kann aber auch ein ontologischer Antirealismus nicht mit einer realistischen Semantik versehen werden, weil im Besonderen die Forderungen nach der Bestimmtheit der (bersinnlichen) Wirklichkeit/trans101 Siehe 2.2.1. 102 Es ist also keineswegs so – wie es etwa Willaschek (Der mentale Zugang zur Welt, 47) erwgt –, dass die These von einer partiell an sich bestimmten Beschaffenheit der Gegenstnde der Außenwelt (vgl. Realismusbegriff ebd., 47) von der Frage der epistemischen Zugnglichkeit zu trennen wre. Wer bereits die logische Unabhngigkeit postuliert (und das machen per definitionem alle empirischen Realismen), der muss Auskunft ber eine bestimmte Weise des Gegebenseins der Einzeldinge der Erfahrung geben. Und letzteres impliziert zu legitimierende epistemologische Wissensansprche. 103 Siehe 2.2.1.
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zendenten Bivalenz (F1) und nach Wissenstranszendenz (F2) die ontologisch-antirealistische These unterlaufen, dass ein Wissen um das Dasein von Einzeldingen immer auch zugleich ein Wissen um das Sosein dieser Einzeldinge einschließt.104 Um als ontologischer Antirealist auf eine Aussage der Form sx P(x) schließen zu kçnnen, bedarf es vor allem einer vorgngigen Individuation eines relevanten Einzeldings t ber Instanzen des Individuationsschemas „mit ,t‘ wird dasjenige unter P fallende Einzelding x benannt, fr das !(x) gilt“. Indem aber t sukzessiv ber wahre Aussagen der Form !(t) individuiert wird, geht der Anspruch eines Wissens bezglich t einher, d. h. durch ,t‘ wird die Referenz fr genau jenes unter P fallende Einzelding x konstituiert, fr das sich die Geltung von !(x) manifestieren lsst: P1 Wenn Aussagen der Form sx P(x) wahr sind, dann muss bereits P(x) fr mindestens ein Einzelding t wahr sein und auch gewusst werden. P2 Wenn P(x) fr mindestens ein Einzelding t wahr ist, dann muss die Referenz von t sukzessiv ber wahre Aussagen der Form „mit ,t‘ wird dasjenige unter P fallende Einzelding x benannt, fr das !(x) gilt“ konstituiert sein. P3 Wenn die Referenz von t sukzessiv ber wahre Aussagen der Form „mit ,t‘ wird dasjenige unter P fallende Einzelding x benannt, fr das !(x) gilt“ konstituiert ist, dann wird durch ,t‘ einzig derjenige P-Gegenstand x benannt, fr den begrndet ist, dass !(x) der Fall ist. P4 Wenn durch ,t‘ einzig derjenige P-Gegenstand x benannt wird, fr den begrndet ist, dass !(x) der Fall ist, dann verfgen wir ber ein – ber sx P(x) hinausgehendes – Wissen bezglich des unter P fallenden Gegenstandes x. K Wenn Aussagen der Form sx P(x) wahr sind, dann verfgen wir ber ein – ber sx P(x) hinausgehendes – Wissen bezglich des unter P fallenden Gegenstandes x. Neben dieser fr t konstituierten Referenz gibt es kein weiteres Verstndnis der Rede vom Referieren und damit auch nicht die Mçglichkeit, eventuell 104 Dies ist auch der Tenor Rickerts („Kennen und Erkennen“), der damit einer Anschauungstheorie der Erkenntnis eine Absage erteilt und zugleich dafr pldiert (140 f.), dass ontologische Fragen nicht sinnvoll unabhngig von epistemischen gestellt werden kçnnen. Exemplarisch 150: „Wir bilden vielmehr durch unser Erkennen das uns anschaulich gegebene Erkenntnismaterial notwendig in einer Weise um, fr die es in der Anschauung selbst kein „Vorbild“ gibt. Ein solches Umbilden ist bei allem Erkennen unentbehrlich, das zum allgemeinen „Wesen“ einer Sache vorzudringen sucht“.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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auf einen Gegenstand zu referieren, den wir entweder gar nicht kennen oder zumindest nicht wissen, ob !(x) wahr ist. Sofern also antirealistisch die Referenz des Namens durch ein bereitgestelltes Wissen um das Sosein des Gegenstandes („!(t)“) gestiftet wird, ist es ausgeschlossen, dass das Erfahrungswirkliche jenseits des Manifestierbaren noch eine uns unbekannte Weise des Daseins besitzen kann („die ber !(t) hinausgehende ,an sich Beschaffenheit‘ von t“). Antirealistisch ist es also sinnlos zu erwgen, dass durch ,t‘ ein Einzelding benannt werden kçnnte, dessen „eigentliche Beschaffenheit“ von der uns prinzipiell zugnglichen abweicht, denn das durch ,t‘ benannte Einzelding wird gerade bestimmt durch Aussagen der Form !(t). Selbstverstndlich wird damit nicht die Mçglichkeit ausgeschlossen, dass i) wir uns eventuell irren, wenn wir eine Aussage der Form !(t) als wahr ausweisen und ii) das bereitgestellte Wissen zur Individuation von t letztlich noch kein hinreichendes Individuationswissen sein mag. Um jedoch diese Flle des epistemischen Versagens berhaupt benennen zu kçnnen, mssen wir gemß (‡) grundstzlich ber Kriterien verfgen kçnnen, anhand derer entschieden werden kann, dass eine Begrndung fehlerhaft war bzw. das Individuationswissen noch unterbestimmt ist. Bevor wir in 2.2.2.2.5 eine Neubestimmung des Unterschieds zwischen Realismus und Antirealismus vornehmen, gehen wir zuvor noch auf die Logik der Einzeldingindividuation und ihrer Prsuppositionen genauer ein, denn unsere in diesem Abschnitt formulierten Argumente empfehlen eine przisierte Operationalisierung der Wendung „mit ,t‘ wird dasjenige unter P fallende Einzelding x benannt, fr das !(x) gilt“. 2.2.2.2.3 Individuation und Einzeldingtaufe Es ist unstrittig, dass der erfolgreiche Gebrauch von benennenden Ausdrcken vor allem innerhalb gemeinsam geteilter Kontexte (und damit relativ zu gemeinsam anerkannten Wissensbestnden) sichergestellt werden kann, weil im Besonderen die Bedingung der eindeutigen Referenz um so einfacher gewhrleistet sein mag, je transparenter der Ausschnitt der Erfahrungswirklichkeit ist, auf den wir uns in einer Gesprchssituation gemeinsam beziehen. Dabei ist diese kontextgebundene Praxis der Gewhrleistung der Eindeutigkeit in der Referenzialisierung weder artifiziell noch eine Besonderheit der Einzeldingindividuation. Ganz im Gegenteil darf sogar festgestellt werden, dass die Bercksichtigung einzig derjenigen Individuationsmerkmale, die fr den Kontext einschlgig sind, nicht nur
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
den Standardfall reprsentiert, sondern konform geht mit den Griceschen Konversationsmaximen105 und – was noch weitaus bedeutsamer ist – sich in vollstndiger Harmonie mit unserer allgemeinen Begrndungspraxis befindet. Schließlich erwgen wir im Rahmen der Sicherstellung unserer Wissensansprche auch nicht alle nur denkbaren und epistemologisch mçglichen Fehlerquellen, sondern bercksichtigen in unseren Begrndungs- und Rechtfertigungsbemhungen stets nur diejenigen Erwgungen und Optionen des Scheiterns, die durch den Kontext und seine Umstnde geboten sind. Ein Wissensanspruch gilt als gerechtfertigt, wenn die fr den Kontext relevanten Irrtumsmçglichkeiten als nichtbestehend nachgewiesen wurden: Enough is enough: it doesn’t mean everything106.
Dies gilt nun im Fall der Bedeutungsgebung benennender Ausdrcke nicht nur fr Indikatoren und kontextvariante Kennzeichnungen wie „er“ oder „das Buch links neben mir“, deren Bedeutung sowieso hochgradig von der Gesprchssituation abhngt, sondern auch fr kontextinvariante Kennzeichnungen und Eigennamen wie „der Autor der Kritik der reinen Vernunft“ oder „Immanuel Kant“. Beide Ausdruckstypen beinhalten zwar keine Indikatoren, womit ihnen eine kontextinvariante Bedeutung zukommt. Allerdings meint dies nicht, dass der Gebrauch kontextinvarianter Kennzeichnungen und Eigennamen in beliebigen Gesprchssituationen mit derselben Selbstverstndlichkeit erfolgreich wre. Zweifelsohne gibt es einen Hintergrundkonsens darber, dass wir etwa in philosophischen Diskursen ber die erkenntnistheoretische Epoche mit der Kennzeichnung „der Bischof“ in aller Regel George Berkeley benennen, wenn wir Aussagen wie beispielsweise „Es war der Bischof von Cloyne, der prominent Lockes Substanzontologie kritisiert hat“ formulieren. So ist der Gebrauch dieser Kennzeichnung auch in der vorliegenden Arbeit eindeutig, weil kein anderer der hier erwhnten Philosophen Bischof war. Formulieren wir indes dieselbe Aussage in einer erweiterten Gesprchssituation oder in einem gnzlich anderen Kontext, so muss keineswegs mehr eindeutig sein, auf welche Person wir uns beziehen, wenn wir die Kennzeichnung „der Bischof von Cloyne“ verwenden. Eventuell mag ein Zu105 Grice, „Logic and Conversation“, 26 f. Vor allem (26): „Make your contribution as informative as is required (for the current purpose of exchange). Do not make your contribution more informative than is required.“ Siehe zudem die Passagen zum Ende von 1.3.2.5. 106 Austin, „Other Minds“, 52.
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hçrer, der nicht weiß, dass Berkeley vor allem durch seine Kritik an Locke in die Philosophiegeschichte eingegangen ist, annehmen, dass Edward Jones gemeint ist, der immerhin ein Zeitgenosse Lockes war und zum Zeitpunkt der Erstverçffentlichung des Essay Concerning Human Understanding (1689/90) zudem das Amt des Bischofs von Cloyne inne hatte. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Fllen besteht darin, dass durch den Kontext der ersten Gesprchssituation bereits feststeht (bzw. vorausgesetzt werden darf ), dass der besagte Bischof ebenfalls ein berhmter Philosoph ist, dessen Name in einem Atemzug mit jenen von Descartes, Locke, Leibniz, Hume oder auch Kant gefhrt wird. Beschrnken wir uns somit in der Gesprchssituation auf jene erkenntnistheoretische Geschichte wie wir sie etwa im sechsten Kapitel erzhlen, so ist der Gebrauch der Kennzeichnung „der Bischof (von Cloyne)“ eindeutig, weil alle anderen Protagonisten eben keine waren. Die Eigenschaft „Bischof sein“ erweist sich damit als ein hinreichendes Individuationsmerkmal, um Berkeley eindeutig zu kennzeichnen. Und es ist genau diese Eigenschaft, die im zweiten Fall nicht mehr hinreichend ist, weil der Gesprchskontext die Mçglichkeit eines weitaus grçßeren Personenkreises vorsieht, in dem sich mehr als nur ein Bischof wiederfinden lsst. Um auch in dieser Kommunikationssituation Eindeutigkeit zu gewhrleisten, mssen zur Formulierung der Kennzeichnung weitere Einzeldingeigenschaften explizit gemacht werden, die im ersten Fall nicht erforderlich waren wie etwa „Es war jener Bischof von Cloyne, der zugleich Autor der Three Dialogues between Hylas and Philonous ist, der prominent Lockes Substanzontologie kritisiert hat“. So beschrnken wir uns also in der Formulierung von kontextinvarianten Kennzeichnungen in aller Regel auf die Angabe genau jener Einzeldingeigenschaften, deren Kenntnis innerhalb des Kommunikationskontextes hinreichend fr eine erfolgreiche Individuation ist. Was also als „eindeutig“ zu gelten hat, das wird durch die Erfordernisse der betroffenen Kommunikationsgemeinschaft festgelegt. Dies sollten wir bercksichtigen, wenn wir uns vergegenwrtigen, wie Einzeldinge kennzeichnend individuiert und schließlich durch die Verleihung eines Eigennamens getauft werden. Erster Schritt: das Verdichten von Kennzeichnungen Die Individuation eines Einzeldings erfolgt ber die schrittweise Angabe von Einzeldingeigenschaften, die das in Frage stehende Einzelding sukzessiv von anderen Einzeldingen zu unterscheiden gestattet. Wir gebrauchen symbolisch den Ausdruck i ?xP(x), um anzuzeigen, dass der Jota-
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Operator eine vorbehaltliche Verwendung erfhrt, d. h. wir gebrauchen die Wendung „dasjenige x, welches…“ unter der Bedingung „angenommen unsere Kennzeichnung wrde bereits eindeutig referieren“. Damit dient der Gebrauch von Termen der Form i ?xP(x) dem Zweck, das Bestehen der Bedingung sxty(P’(y)yx=y) nachzuweisen: Unter Verwendung von Termen der Form i ?xP(x) sollen jene Bedingungen allererst sichergestellt werden, die zum Gebrauch von Termen der Form ixP’(x) berechtigen. Hierfr beginnen wir mit der Behauptung, dass dasjenige x, (von welchem wir annehmen, dass es das einzige ist,) das ein P ist, ! erfllt: !(i ?xP(x)). Nun gibt es nur zwei Mçglichkeiten. Entweder der Ausschnitt der Erfahrungswirklichkeit, ber den wir sprechen, enthlt in der Tat nur ein einziges P-Einzelding. Dann sind wir berechtigt !(ixP(x)) zu behaupten und es stellt sich die Frage, ob diese Aussage wahr ist. Oder aber der Ausschnitt der Erfahrungswirklichkeit, ber den wir sprechen, enthlt mehr als nur ein P-Einzelding. Dann ist die Bedingung sxty(P(y)yx=y) nachweislich nicht erfllt, weil es mindestens zwei P-Einzeldinge gibt und wir nicht wissen, bezglich welchen P-Einzeldings das Bestehen von ! behauptet wird. Bedeutsam hieran ist die Rede von „nachweislich“, denn wenn wir zu der Feststellung gelangen, dass es mehr als nur ein P-Einzelding in dem besagten Ausschnitt gibt, so bedeutet dies, dass wir ein weiteres P-Einzelding angeben kçnnen, das von dem in Frage stehenden PEinzelding verschieden ist: sxsy(P(x)|P(y)|x¼ 6 y). Doch das Wissen um das Bestehen der ¼ 6 -Relation impliziert die Angabe einer Eigenschaft P1, die dem einen, aber nicht dem anderen P-Einzelding zukommt.107 Wrden wir indes keine Eigenschaft P1 angeben kçnnen, relativ zu der P1((i ?xP(x))a) und ~P1((i ?xP(x))b) gilt, so wren wir auch nicht berechtigt (i ?xP(x))a¼ 6 (i ?xP(x))b und folglich auch nicht sxsy(P(x)|P(y)|x¼ 6 y) zu behaupten. Indem wir nun also unsere Quasikennzeichnung i ?xP(x) verdichten kçnnen hin zu i ?x(P(x)|P1(x)), wird im Folgenden im Besonderen der zweite P-Gegenstand („(i ?xP(x))b“) ausgeschlossen, wenn wir danach fragen, ob dasjenige x, welches zugleich P und P1 ist, auch ! erfllt. Das sich nun anschließende Verfahren wiederholt in Gnze die bereits benannten Schritte: Entweder die Individuation ist bereits gelungen oder es lsst sich 107 Ohne Beschrnkung der Allgemeinheit komme die neu aufgewiesene Eigenschaft stets unserem in Frage stehenden – zu individuierenden – P-Einzelding zu.
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ein weiteres P-Einzelding angeben, das zugleich P1 ist. Wichtig an dem Verfahren der sukzessiven Individuation ist der Umstand, dass aus der Feststellung der Mehrdeutigkeit der Kennzeichnung sogleich die Angabe einer Eigenschaft Pn folgt, die die jeweils festgestellte Mehrdeutigkeit behebt: Wenn es zwei voneinander verschiedene Einzeldinge gibt, auf die beide die Kennzeichnung i ?x(P(x)|…|Pn-1(x)) zutrifft, dann lsst sich eine (die beiden Einzeldinge unterscheidende) Eigenschaft Pn angeben, so dass die neue – verdichtete – Kennzeichnung i ?x(P(x)|…|Pn(x)) nur noch auf eines der beiden Einzeldinge zutrifft. 108 ber dieses Verfahren kçnnen wir Kennzeichnungen stets soweit verdichten, dass gemessen an den Erfordernissen der Gesprchssituation eine eindeutige Kennzeichnung resultiert und sich schließlich die Geltungsfrage stellt, ob das durch ix(P(x)|…|Pm(x)) eindeutig gekennzeichnete Einzelding ! erfllt. Bevor wir nun zur Namenstaufe schreiten, sollte an dieser Stelle eine skeptische Erwgung erçrtert werden, weil sie die Gelingensbedingungen unserer schrittweisen Individuation hinterfragt: Was schließt aus, dass sich Sprecher und Hçrer mittels der Kennzeichnung ix(P(x)|…|Pm(x)) mçglicherweise auf verschiedene Einzeldinge beziehen und beide nur glauben, der jeweils andere bezieht sich auf dasselbe Einzelding? Immerhin operiert das Verfahren der schrittweisen Individuation mit der Bedingung, dass es gerade antizipierbare oder faktisch vorliegende Kommunikationsstçrungen sind, die den Anlass zur Formulierung weiter verdichteter Kennzeichnungen geben. Missverstndnisse zwischen den Gesprchspartnern wie etwa irrtmliche Bezugnahmen auf ein nicht in Frage stehendes Einzelding kçnnen ber die schrittweise Individuation ausgeschlossen werden, wenn sie denn bemerkt werden. Was schließt aber den Fall aus, dass sich beide auf verschiedene Einzeldinge beziehen, ohne dass sich dies in einer Kommunikationsstçrung zeigt? Dies ist zweifelsfrei ein rein theoretisches Problem, fr das es in unserer faktischen Individuationspraxis keine Entsprechung gibt. Bereits die Erwgung einer mçglichen Bezugnahme auf verschiedene Einzeldinge durch die Gesprchspartner prsupponiert den Verdacht des „aneinander-vorbei-Redens“, der seinerseits nur dann begrndet werden kann, wenn mindestens eine unterscheidende Eigenschaft expliziert wird. Letzteres wrde jedoch gemß 108 Siehe hierzu bereits Ayer, „Individuals“, 21 f.
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unserem Vorschlag auf eine verdichtete Kennzeichnung hinauslaufen, die wiederum nur durch eines der beiden Einzeldinge erfllt wird. Die theoretische Erwgung des Skeptikers muss sich also auf den Fall beschrnken, dass es fr die Gesprchspartner keinen Grund zur Annahme gibt, dass die verwendete Kennzeichnung nicht eindeutig wre. Wenn es jedoch gegenwrtig und knftig in der Verwendung der Kennzeichnung ix(P(x)|…|Pm(x)) keinerlei Kommunikationsstçrungen zwischen den Gesprchspartnern gibt, so dass der Erfolg der Kommunikations- und Kooperationspraxen zumindest nicht durch den Gebrauch der Kennzeichnung vereitelt wird, dann beziehen sich Sprecher und Hçrer auch auf genau dasselbe Einzelding. Dies bedeutet, der erfolgreiche gemeinsame Gebrauch der Kennzeichnung ix(P(x)|…|Pm(x)) ist das Identittskriterium dafr, dass sich Sprecher und Hçrer auf ein und dasselbe Einzelding beziehen. Zweiter Schritt: Namenstaufe Nachdem wir auch dieses theoretische Problem mit einer theoretischen Lçsung versehen haben, kçnnen wir endlich zur Namenstaufe schreiten. Auf der Grundlage einer gelungenen schrittweisen Individuation des in Frage stehenden Einzeldings ist nun die Referenzialisierung eines Eigennamens berhaupt keine mysteriçse Angelegenheit mehr, denn mit ,t‘ benennen wir einfach nur abkrzend dasjenige Einzelding, das eindeutig durch ix(P(x)|…|Pm(x)) gekennzeichnet wird. Die Identittsaussage t = ix(P(x)|…|Pm(x)) ist also keine Behauptung, bei der nunmehr noch in Frage steht, ob die durch ,t‘ und ,ix(P(x)|…|Pm(x))‘ benannten Einzeldinge „tatschlich“ identisch sind, sondern wir normieren, dass die Referenz von t (und damit die Bedeutung des Eigennamens) dieselbe ist wie die durch ix(P(x)|…|Pm(x)) konstituierte: Das mittels ix(P(x)|…|Pm(x)) individuierte Einzelding wird auf den Namen ,t‘ getauft. Es sei erwhnt, dass diese Verfahrensweise der Einzeldingtaufe unter anderem sehr gut harmoniert mit Russells berlegungen zu Namen, mit deren Denotaten wir nicht unmittelbar bekannt sind. Da die Bedeutung eines Namens in dem durch ihn benannten Gegenstand besteht, kçnnen wir die Bedeutung eines Namens nicht kennen, wenn wir mit dem durch den Namen benannten Gegenstand nicht bekannt sind. Doch nicht nur in
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jenen Fllen, in denen die Referenzialisierbarkeit des Namens fraglich ist wie etwa im Fall des Eigennamens „Romulus“109, liegt mit dem Gebrauch eines Namens letztlich eine verkrzte Kennzeichnung vor, sondern auch dann, wenn wir mit dem benannten Gegenstand nicht bekannt sind. Im letzteren Fall ist gemß Russell zum Aussagenverstndnis der Eigenname zugunsten einer anwendbaren Kennzeichnung zu ersetzen.110 Damit erweisen sich Kennzeichnungsvollzge zur Einzeldingindividuation als primr gegenber Namensgebungen, da wir selbst in jenen Fllen, in denen wir in der unmittelbaren Gesprchssituation das in Frage stehende Einzelding prsent haben, mit der Namensgebung bereits die Mçglichkeit ihrer Prf- und Korrigierbarkeit prsupponieren. Letzteres besagt jedoch nichts anderes, als dass wir die eindeutige Zuweisung eines Namens zu einem Einzelding – als einer notwendigen Bedingung fr einen gelingenden Taufakt – kontrollieren kçnnen unter Gebrauch von Wendungen wie „mit ,t‘ meinen wir nicht dasjenige P-Einzelding, auf das Du gerade Deinen Finger richtest, sondern jenes Q-Einzelding, das sich links von mir befindet“ usw. Diese Prioritt von gelingenden Kennzeichnungsvollzgen gegenber Namensgebungen zeigt sich nicht zuletzt auch in den Taufsprechakten selbst, denn wenn etwa die Taufpatin bei einer Schiffstaufe die Worte spricht „hiermit taufe ich Dich auf den Namen ,t‘“, dann bedeutet der Indikator „Dich“ an dieser Stelle die Bezugnahme auf genau jenes (unmittelbar wahrnehmbare) Schiff, dessen Namensschriftzug an der Bordwand eben noch verhllt war und an dessen Bordwand nunmehr eine Champagnerflasche (hoffentlich) zerschellt. Die Vorrangigkeit von Kennzeichnungsvollzgen selbst im Falle bekannter Einzeldinge dient also vor allem der Kontrollierbarkeit des Eigennamengebrauchs und gewhrleistet im Zweifelsfall die Verzichtbarkeit von Eigennamen: A name is worthless without a backing of descriptions which can be produced on demand to explain its application.111
Sofern wir nun danach fragen, wie es um die Geltung von Aussagen der Form !(t) bestellt ist, so kçnnen wir (in Adaption der Identittsbeseitigungsregel) die Erlaubnisregel (=i) !(ix"(x)), ix"(x)=t M !(t)
109 Siehe etwa Russell, „Descriptions and Incomplete Symbols“, 110. 110 So etwa Russell, „Knowlegde by Acquaintance and Knowledge by Description“, 157. 111 Strawson, Individuals, 20.
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formulieren, der gemß wir dann auf !(t) schließen drfen, wenn das durch ix"(x) schrittweise individuierte Einzelding ! erfllt und auf den Namen t getauft wurde. Selbstverstndlich wird damit die interessante Frage nach einem empirischen Wissen um die Geltung von !(t) auf die Frage nach einem empirischen Wissen um die Geltung von !(ix"(x)) zurckgefhrt, bei der im Einzelfall fraglich bleiben mag, ob unsere verwendeten Prfmethoden eine zuverlssige Verifikation sicherstellen. Allerdings kçnnen wir in einem gehaltvollen Sinne nur dann von einer Falsifikation von !(ix"(x)) sprechen, wenn wir ber einen erweiterten epistemischen Hintergrund verfgen, relativ zu dem ~!(ix"(x)) begrndet wurde.112 Weitaus interessanter ist indes der von ontologischen Realisten praktizierte „Wirklichkeits“-Sprechakt, der uns ausgehend von der Feststellung „nach unseren besten Prfverfahren ist es der Fall, dass !(t)“ zu der Frage fhrt „ob !(t) auch ,wirklich/tatschlich/an sich‘ der Fall ist“. Dieser Sprechakt kann mit unserem Vorschlag nun sehr gut analysiert werden. Eine Analyse des „Wirklichkeits“-Sprechakts Mit unserem Verfahren der Referenzialisierung von Namen ber einen vorgngigen Taufakt, dem eine schrittweise Individuation zugrunde liegt, kçnnen wir aufweisen, dass die Problemstellung „ob !(t) ber das uns verfgbare Wissen hinaus auch ,wirklich/tatschlich/an sich‘ der Fall ist“ sinnlos ist. Hierfr whlen wir fr ! nicht irgendeine beliebige empirische Eigenschaftsaussage, sondern benutzen einen Teil unseres empirischen Individuationswissens, welches entscheidend in die Bedeutungsgebung des Eigennamens mit eingeht. Wir beginnen erst einmal mit der Prmisse, dass es uns gelungen ist, unter Verwendung von Individuationseigenschaften P1, …, Pn ein Einzelding hinreichend und d. h. vor allem eindeutig relativ zum Kontext zu individuieren. Es gilt also die empirische Aussage sxty (P1(y)|…|Pn(y)yx=y). Auf den Namen t wird nun genau dasjenige Einzelding getauft, das mittels der schrittweise geprften Individuationseigenschaften P1, …, Pn eindeutig gekennzeichnet wurde: t = ix(P1(x)|…|Pn(x)). Die Referenz von t ist also per definitionem dieselbe wie die durch ix(P1(x)|…|Pn(x)) konstituierte. Wir bilden nunmehr durch die Wahl einer empirischen Individuationseigenschaft Pi (1 i n) die Aussage Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))): „Dem durch die Individuationseigenschaften P1, …, Pn eindeutig gekennzeichneten Einzelding ix(P1(x)|…|Pn(x)) kommt die Eigenschaft zu, Pi (1 i 112 Siehe hierfr bereits unser Resultat (‡) aus 2.2.2.2.2.
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n) zu sein“. Diese Aussage folgt unter Verwendung der Einfhrungsregel fr Kennzeichnungen (Jota-Einfhrungsregel) (iE) sxty("(y)yx=y), tx("(x) x !(x)) M !(ix"(x)) „Wenn es genau ein Einzelding von der Beschaffenheit " gibt und es der Fall ist, dass aus dem Bestehen der Eigenschaft " das Bestehen der Eigenschaft ! folgt, dann darf darauf geschlossen werden, dass dasjenige Einzelding, das von der Beschaffenheit " ist, die Eigenschaft hat, ! zu sein.“ logisch aus den beiden Aussagen i) sxty(P1(y)|…|Pn(y)yx=y) und (Existenz- und Eindeutigkeitsforderung) ii) tx(P1(x)|…|Pn(x) x Pi(1 i n)(x)). (Prdikation) Die Aussage ii) gilt bereits aufgrund ihrer logischen Form allein, d. h. sie ist a priori wahr. Indes reprsentiert i) zweifelsohne eine empirische Aussage, in der zum Ausdruck gebracht wird, dass es genau ein Einzelding der besagten Beschaffenheit gibt. Damit erweist sich die mittels (iE) gefolgerte Aussage Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) als eine zwar nicht sonderlich informative, aber gleichwohl empirische Aussage, die wahr sein muss, wenn die empirische Aussage i) wahr ist. Die Wahrheit von i) wird hier aber nicht in Frage gestellt, da eine unserer Eingangsprmissen in der Feststellung bestand, dass die schrittweise Individuation gelungen ist. (Und eine gelungene schrittweise Individuation manifestiert sich gerade in der Begrndung von Aussagen der Form sxty("(y)yx=y)). Der nunmehr zu vollziehende „Wirklichkeits“-Sprechakt hinterfragt, ob das Einzelding mit dem Namen t auch tatschlich von der Beschaffenheit Pi ist, d. h. es wird erwogen, ob es mçglicherweise sein kçnnte, dass wir die Eigenschaftsaussage Pi(t) lediglich aufgrund unserer besten Kriterien fr wahr halten, whrend es sich in Wirklichkeit ganz anders verhlt: Wir halten die Aussage Pi(t) fr wahr, aber mçglicherweise kommt dem durch t benannten Einzelding an sich gar nicht die Eigenschaft zu, Pi zu sein. Diese epistemische Lcke sowie die damit verbundene Mçglichkeit epistemologischen Unwissens ergeben sich nur fr jenen, der von einer an sich bestimmten Beschaffenheit der Erfahrungswirklichkeit ausgeht und nachtrglich Namen vergibt, die von sich aus referieren. Wer jedoch, wie hier vorgeschlagen, eine Bedeutungsgebung von Namen ber eine epistemisch zugngliche und damit eben auch kontrollierbare Referenzialisierung vorsieht, der wird nicht in Versuchung gefhrt, jenseits des bereits
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ber t Gewussten die Mçglichkeit nichtwissbarer Tatbestnde t betreffend zu erwgen. In unserer Bedeutungstheorie ist die Aussage „Unsere besten Methoden legitimieren uns zur Behauptung, dass Pi(t) der Fall ist, aber wir wissen nicht, ob Pi(t) auch tatschlich der Fall ist“ sinnlos. Selbstverstndlich drfen Nachfragen, Zweifel und Einwnde formuliert werden, wenn Einzeldingen Eigenschaften zugesprochen werden, weil es in der Tat sein kann, dass eine prdizierte Eigenschaft dem Einzelding gar nicht zukommt. Damit Geltungsfragen dieser Form aber berhaupt formuliert werden kçnnen, mssen wir immerhin schon einmal wissen, ber welches Einzelding gesprochen wird. In unserem Fall ist dies das durch ,t‘ benannte. Wir wissen, welches Einzelding den Namen t besitzt, weil wir wissen, dass es genau jenes Einzelding ist, das mittels der Individuationseigenschaften P1, …, Pn hinreichend und damit vor allem eindeutig relativ zum Kontext individuiert wurde: ix(P1(x)|…|Pn(x)). Damit wissen wir aber auch sogleich, dass dem durch ,t‘ benannten Einzelding die Eigenschaft „Pi zu sein“ zukommt, weil Pi(t) aufgrund des Taufaktes nichts anderes besagt als Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))): „Dem mittels der Individuationseigenschaften P1, …, Pn individuierten Einzelding kommt die Eigenschaft zu, Pi zu sein, weil Pi eine dieser notwendigen Individuationseigenschaften ist“. Wrden wir indes in Frage stellen, ob die Eigenschaft Pi dem Einzelding „tatschlich“ zukommt, so wrden wir im selben Augenblick die Geltung einer notwendigen Bedingung der Rede ber dieses Einzelding außer Kraft setzen, weil t berhaupt nicht mehr eindeutig referieren wrde. Da Pi die Bedeutung des Namens t mitkonstituiert, kann nicht sinnvoll in Frage gestellt werden, ob nicht mçglicherweise ~Pi(t) der Fall ist. Besonders offensichtlich zeigt sich die Unmçglichkeit dieser Erwgung (im Rahmen unseres Ansatzes) unter Verwendung der Beseitigungsregel fr Kennzeichnungen: (iB) !(ix"(x)) M sx("(x)|!(x)) „Ausgehend von der Aussage ,dasjenige Einzelding, welches " erfllt, hat die Eigenschaft, ! zu sein‘ darf gefolgert werden, dass es dann ein Einzelding gibt, das sowohl die Eigenschaft besitzt, " zu sein, als auch die Eigenschaft, ! zu sein.“ Nach unserer Darstellung berfhrt der „Wirklichkeits“-Sprechakt Aussagen der Form !(ix"(x)) in Aussagen der Form $~!(ix"(x)). In unserem Beispiel wird ausgehend von der Aussage Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) die These $~Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) behauptet. Doch whrend der transzen-
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dente Realist diese These vertritt, erweist sie sich im Rahmen unseres Ansatzes bereits aus rein formalen Grnden als selbstwiderlegend:113 1. ~Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) j Annahme (1) 2. sxty((P1(y)|…|Pn(y)yx=y)|~Pi(x)) j (Defi) 1 (1) j Annahme (3) 3. ty((P1(y)|…|Pn(y)yc*=y)|~Pi(c*)) j (tB) 3 (3) 4. (P1(c*)|…|Pn(c*)yc*=c*)|~Pi(c*) 5. P1(c*)|…|Pn(c*)yc*=c* j (|B) 4 (3) 6. ~Pi(c*) j (|B) 4 (3) 7. c*=c* j (=E) ( ) j (yB) 5,7 (3) 8. P1(c*)|…|Pn(c*) 9. Pi(c*) j (|B) 8 (3) 10. c j (~B) 6, 9 (3) 11. c j (sB) 2, 3, 10 (1, -3-) 12. ~~Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) j (~E) 1, 11 (-1-) j (~~) 12 ( ) 13. Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) j (K#) 13 ( ) 14. #Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) 15. ~$~Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) j (Def$) 14 ( ) Neben der (monadischen) Prdikatenlogik erster Stufe haben wir fr diesen Beweis lediglich formale Mittel zur Behandlung von Kennzeichnungen sowie Kripkes Modalkalkl K benutzt. Da durch Kripkes Kalkl jedoch nur die semantischen Minimalbedingungen fr die Verwendung von Modaloperatoren festgelegt (und damit a fortiori auch nur benutzt) werden und noch keine problematischen Verwendungsregeln fr die Modaloperatoren Eingang finden, ist unsere Beweisfhrung ußerst voraussetzungsarm. Nun wird sicherlich auch ein transzendenter Realist nicht behaupten wollen, dass es Einzeldinge gibt, denen eine Eigenschaft zugleich zu- als auch abgesprochen werden kann. Allerdings zeigt unser Beweis weitaus mehr, denn wir haben eine Instanz aufgewiesen, anhand derer die Zulssigkeit des „Wirklichkeits“-Sprechakts in Frage gestellt werden kann. Wenn der „Wirklichkeits“-Sprechakt zulssig ist, dann muss die zugrunde liegende Regel gltig sein. Wenn die zugrunde liegende Regel gltig ist, so muss sichergestellt sein, dass es keine (regelkonforme) Regelanwendung gibt, die von wahren zu falschen Aussagen fhrt. Im vorliegenden Fall benutzt nun der „Wirklichkeits“-Sprechakt eine Regel der Form114 :
113 Zum Aufbau des Kalkls siehe Hartmann, On Inferring, 14 ff. 114 Vgl. 2.2.2.2.2.
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(WS’) SV!(t) M Sideways-on-viewV$~!(t) „Ausgehend von der Feststellung, dass !(t) relativ zum Wissensbestand S gilt, wird erwogen, dass dem durch ,t‘ benannten Einzelding mçglicherweise ! nicht an sich zukommt.“ In unserem Beispiel whlten wir fr die Aussageform !(+) die Individuationseigenschaft Pi(+) und ix(P1(x)|…|Pn(x)) wurde auf den Namen t getauft. Damit resultiert erst einmal ausgehend von SVPi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) und unter Verwendung von (WS’) die erkenntnistheoretische Aussage: Sideways-on-view V $~Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))). Unser vorangegangener Beweis zeigt nun aber, dass $~Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) selbstwiderlegend ist, d. h. die Aussage impliziert ihrerseits (in dem besagten voraussetzungsarmen Kalkl) c. Damit liegt dem Vollzug des „Wirklichkeits“-Sprechaktes die (WS’)-Instanz SVPi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) M Sideways-on-viewVc
zugrunde. Da es uns laut unserer Eingangsprmisse gelungen ist, unter Verwendung von Individuationseigenschaften P1, …, Pn ein Einzelding hinreichend und d. h. vor allem eindeutig relativ zum Kontext zu individuieren, reprsentiert S ein hinreichendes empirisches Individuationswissen zur Geltung von Pi(ix(P1(x)|…|Pn(x))). Damit ist die Implikation SVPi(ix(P1(x)|…|Pn(x))) gltig und die korrespondierende Behauptung (bezglich ihrer Gltigkeit) relativ zu unseren besten Wahrmachern auch wahr. Damit stellt sich die Frage nach der Geltung von „Sideways-onviewVc“: l) Die Implikation ist gltig. Diese Implikation ist dann und nur dann gltig, wenn die Perspektive sideways-on ihrerseits bereits selbstwiderlegend ist, weil nur unter dieser Voraussetzung c impliziert wird. Da sich die Frage nach der Zulssigkeit des „Wirklichkeits“-Sprechakts aber berhaupt nur relativ zur Mçglichkeit der Perspektive sideways-on stellt, folgt aus der Unmçglichkeit dieser Perspektive die Gegenstandslosigkeit der Zulssigkeitsfrage. ll) Die Implikation ist ungltig. Wird indes in Anspruch genommen, dass der Sideways-on-view nicht selbstwiderlegend ist, dann folgt aus dieser Prmisse auch kein Widerspruch, womit die Implikation ungltig und die korrespondierende Behauptung (bezglich ihrer Gltigkeit) falsch ist. Damit erweist sich unsere (WS’)-Instanz aber als ein Gegenbeispiel fr die Zulssigkeit der
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Regel fr den „Wirklichkeits“-Sprechakt, weil aus einer wahren eine falsche Aussage folgt: Wre die Perspektive sideways-on prinzipiell epistemologisch mçglich, so wren die hierfr verwendeten „Wirklichkeits“-Sprechakte unzulssig. Fasst man l) und ll) zusammen, so folgt ein bereits aus 2.1 und 2.2.1 bekanntes Resultat: Die Perspektive sideways-on ist epistemologisch unmçglich, weil sie entweder selbstwiderlegend ist oder unzulssige sprachliche Mittel benutzt. Dies berrascht freilich nicht, denn in den besagten Abschnitten hatten wir ausgefhrt, dass die Merkmale der wissenstranszendenten Perspektive im Widerspruch stehen zu den Bedingungen ihrer Artikulation. 2.2.2.2.4 Eine Bedingung der Mçglichkeit von Individuationen Im Rahmen unserer Logik der Einzeldingindividuation haben wir vor allem eine epistemologische Prsupposition in Anspruch genommen, die es nun noch zu explizieren gilt, weil wir im weiteren Verlauf noch des fteren auf sie zugreifen werden: Eine Bedingung der Mçglichkeit gelingender Identifikation besteht in der Mçglichkeit gelingender Reidentifikation. Das Erfordernis dieser Sinnbedingung offenbart sich bereits in einer grndlichen Reformulierung von Individuationsvollzgen, denn die auf Eindeutigkeit hin angelegte schrittweise Individuation soll schließlich sicherstellen, dass sich die Gesprchspartner innerhalb des relevanten Kontextes auf dasselbe Einzelding beziehen kçnnen: „Die Person p1 bezieht sich auf genau dasselbe P-Einzelding wie die Person p2“. Nun soll die Bezugnahme auf ein individuiertes Einzelding nicht einzig auf diejenige Situation beschrnkt bleiben, in der die sukzessive Individuation erfolgte. Zum einen muss es grundstzlich mçglich sein, vormalige Individuationsaussagen der Form !(ix"(x)) bzw. !(t) wiederholt in ihrer Geltung zu hinterfragen bzw. in ihrer Geltung zu erweisen, was bereits eine gewisse Entkontextualisierung von der Individuationssituation erforderlich macht. Darber hinaus muss aber zudem gewhrleistet sein, dass man sich prinzipiell auf ein und dasselbe Einzelding wiederholt und d. h. in verschiedenen Kontexten beziehen kann, um Verschiedenes ber das Einzelding auszusagen. Dies betrifft im Besonderen den Fall, dass wir uns auf ein, zu einem
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frheren Zeitpunkt individuiertes Einzelding beziehen, um nun etwas Neues ber dieses Einzelding auszusagen wie etwa „die Person, die wir beide gestern gesehen haben, habe ich heute zufllig getroffen“. Woher wissen wir aber, dass zumindest einige Einzeldinge, die wir einmal wahrgenommen haben, auch vor wie ebenso nach dem Wahrnehmungsakt existiert haben?115 Immerhin verndern sich unsere Wahrnehmungssituationen, und wir sind auch nicht in der Lage, alle raumzeitlichen Ausschnitte gleichzeitig oder auch nur einen einzigen rumlichen Ausschnitt dauerhaft zu erfassen. Wir kçnnen zudem kein Einzelding ununterbrochen wahrnehmen, und wre dies noch nicht genug, so mssen wir zugestehen, dass sich Einzeldinge nicht nur in ihrer rumlichen Lage ndern kçnnen, sondern auch ber die Zeit hinweg weiteren („substantielleren“) Vernderungen unterworfen sein mçgen. Wir mssen also anerkennen, dass die Vernderungen in unseren Wahrnehmungserlebnissen nicht nur den Vernderungen unserer raumzeitlichen Perspektive geschuldet ist, sondern auch durch Vernderungen in der Welt bedingt sein mçgen. Wir sind Wesen mit beschrnkten Fhigkeiten, und unsere Erkenntnistheorie muss diesem Umstand Rechnung tragen. Sofern wir also anwendbare Kriterien zur Reidentifikation auszeichnen wollen, mssen diese sensitiv gegenber der Diskontinuitt und Begrenztheit unserer Beobachtung sein. Was stellt also sicher, dass wir Stze der Form „der Jngling, der 1938 im Alter von 18 Jahren Kant bereits zu Beginn seines PPE-Studiums in Oxford begeistert entdeckte, ist derselbe, der als weltberhmter Philosoph 1968 zum Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy ernannt wurde“ gebrauchen und verstehen? Immerhin war Strawson weder Zeit seines Lebens ein Jngling noch ein weltberhmter Philosoph. Beides war er – aber nicht 86 Jahre lang. Damit wir ein Einzelding zu verschiedenen Gelegenheiten als dasselbe wieder erkennen kçnnen, mssen wir die Frage „Dasselbe was?“ beantworten kçnnen. Wir bençtigen aus der Klasse der sortalen Begriffe im Besonderen also solche Prdikate P, die – substituiert in folgendes Schema – einen wahren Satz ergeben: „Wenn das Einzelding c ein P ist, dann ist c, solange es existiert, ein P“. Im Falle unseres Beispielsatzes wre dies naheliegend das sortale Prdikat „Mensch sein“: „Der besagte Jngling von 1938 ist derselbe Mensch wie der besagte weltberhmte Philosoph von 1968“. Reidentifizierbare Einzeldinge mssen mithin eine relative Per115 Vgl. hierzu und im Folgenden Strawson, Individuals, 31 ff.; Knne, „Peter F. Strawson: Deskriptive Metaphysik“, 169 ff.; Hartmann et al., „Person, Personal Identity, and Personality“, 205 ff.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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manenz aufweisen, damit sie entsprechend unter Begriffe fr relativ permanente Objekte gebracht werden kçnnen. Es sind dies Begriffe, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die Gegenstnde, die unter sie fallen, bedingt durch vernderte Wahrnehmungssituationen und Vernderungen in der Welt nicht starr und unvernderlich existieren, sondern sich „mehr oder weniger“ ndern kçnnen. Strawson bezeichnet Begriffe dieses Typs als „compendia of causal law or law-likeness“116 – also Begriffe, deren Gebrauch mit ganz bestimmten aus der Erfahrung stammenden Erwartungen einhergeht. Wir wollen Begriffe dieses Typs im Anschluss an Wolfgang Knne als „prognostisch geladene Begriffe“117 bezeichnen: Wenn ein Gegenstand c als P erkannt wurde, dann kann sich c, solange es existiert, nur in dem fr P-Gegenstnde erwartbaren Rahmen verndern. Sofern sich c verndert, so kann sich c nicht ber die Grenzen der P-Wiedererkennbarkeit hinaus verndern. Wrden wir Letzteres beanspruchen, so wrden wir die Identitt zwischen zwei Gegenstnden behaupten, fr die uns die Identittskriterien genommen sind: Wenn sich ein Gegenstand c, den wir als P erkannt haben, verndert derart, dass er nicht mehr als dasselbe P erkannt werden kann, dann kçnnen wir den so vernderten Gegenstand nicht mehr als denselben Gegenstand c wiedererkannt haben. In diesem Falle wrden wir dann zu Recht sagen, dass c aufgehçrt hat zu existieren (und es dafr nun vielleicht einen anderen Gegenstand gibt). Es ist sicherlich der Fall, dass sich in unserer Welt so einiges unvorhergesehen und unerklrlich abspielt. Allerdings kann dies schlechterdings nicht auf alle Gegenstandsnderungen jederzeit zutreffen, denn damit wir berhaupt objektiv zugngliche Vernderungen als zufllig oder chaotisch oder unerklrlich beurteilen kçnnen, so bedarf es doch eines festen und stabilen Rahmens, in dem Permanenz und Vernderung vor allem erklrt, vorhergesagt und erwartet werden kann. Als Bedingung der semantischen Sinnhaftigkeit lsst sich dies wie folgt ausdrcken: Die Rede von „chaotisch“ ist nur dort sinnvoll, wo wir auch ber den Begriff des „geordneten Ablaufs“ (oder eines hnlichen) verfgen, weil ein Zustand stets nur relativ zu einer Ordnung als „chaotisch“ beurteilbar ist, und die Rede von „unerklrlich“ bedarf zudem des Begriffs des „Erklrlichen“, um verstanden zu werden und anwendbar zu sein.
116 Strawson, Bounds, 145. 117 Siehe Knne, „Peter F. Strawson: Deskriptive Metaphysik“, 182.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
Die Begriffe und Kriterien, mit denen wir Einzeldinge erkennen und reidentifizieren kçnnen, mssen zwar deren Vernderung in der Welt Rechnung tragen, aber eben nur genau in dem Maße, in dem die Vernderung der Gegenstnde mit der Verwendung eben jener Begriffe und Kriterien noch konsistent ist. Wenn wir also einen Gegenstand, den wir ehemals als Menschen erkannt haben, nunmehr als einen Stein reidentifiziert haben wollen, dann reden wir nicht ber einen sich vernderten Gegenstand, sondern ber einen gnzlich anderen. Einzeldinge, die wir als Menschen identifiziert haben, kçnnen sich nur in dem fr Menschen blichen Rahmen verndern. Sicherlich, Menschen werden grçßer, ndern ihr Aussehen, altern, sterben usw., aber sie werden nicht zu Steinen (vielleicht im Mrchen, aber nicht im Rahmen unserer Erfahrungserkenntnis). Vernderungen eines Einzeldings hin zum „Stein sein“ erwarten wir nicht, wenn wir dieses Einzelding zu Recht unter den Begriff „Mensch“ bringen. Wrden wir indes empirische Anhaltspunkte haben, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen zu Steinen werden kçnnen, so wrde sich unser prognostisch geladener Begriff des Menschen entsprechend verndern, d. h. wir wrden aufgrund der vernderten empirischen Bedingungen auch diese Vernderungsmçglichkeit unter Verwendung geeigneter Kausalhypothesen einrumen. Sofern wir also im Rahmen der Reidentifikation die Frage „Dasselbe was?“ stellen, dann benutzen wir Begriffe, die mit einer Vielzahl von aus der Erfahrung stammenden Erwartungen verknpft sind („prognostisch geladene Begriffe“), hinsichtlich derer sich die Gegenstnde, die wir als unter sie fallend wahrnehmen, verndern kçnnen. Nun mag an dieser Stelle der Einwand naheliegend sein, dass die aufgezeigte Verbindung zwischen dem apriorischen Erfordernis prognostisch geladener Begriffe und den mit ihnen einhergehenden Erwartungen, wie sich die unter sie fallenden Gegenstnde (nicht) verndern kçnnen, doch ein empirisches Wissen involviert und a fortiori keine Ermçglichungsbedingung von Erfahrung reprsentieren kann. Immerhin ist etwa die Aussage „Menschen kçnnen nicht zu Steinen werden“ zweifelsfrei eine empirische. Wie kçnnen also prognostisch geladene Begriffe erfahrungsermçglichend sein, wenn ihre „Geladenheit“ gerade durch gemachte Erfahrungen erst besorgt werden kann? Hier bedarf es selbstverstndlich der Erluterung, dass fr die Begrndung der These „eine Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung ist die Verfgbarkeit prognostisch geladener Begriffe fr relativ permanente Objekte“ die Bezugnahme auf Beispiele der angefhrten Art („Mensch/Stein“) unwesentlich ist. Unsere Beispiele dienen lediglich der Veranschaulichung, sind aber ausnahmslos verzichtbar
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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im Rahmen der Begrndungsleistung. Dies besagt, dass fr die Begrndung der These nicht die Existenz irgendeiner ganz bestimmten Verknpfung zwischen einem Begriff und einer Erwartung gefordert oder vorausgesetzt werden muss, denn dies wre in der Tat die Investition eines empirischen Wissens. Vielmehr bedarf es einzig der Feststellung, dass es berhaupt irgendwelche solche Verknpfungen zwischen Begriffen und Erwartungen gibt.118 Diese Einsicht reprsentiert nun weder ein empirisches Wissen noch setzt sie ein solches voraus, weil sie schlicht das apriorische Erfordernis empirischer Begriffe zum Ausdruck bringt. Was dies systematisch im Rahmen eines transzendentalphilosophischen Programms genau bedeutet, werden wir in 3.5.1 ausfhren, wenn wir unabhngig von der vorliegenden Argumentation zu dem komplementren Ergebnis gelangen, dass der Begriff des empirischen Begriffs ein transzendental notwendiger und mithin ein apriorischer Begriff ist. Fr den apriorischen Begriff des empirischen Begriffs kann im Rahmen der transzendentalen Entfaltung der Kategorientheorie nur noch gezeigt werden, dass er nicht leer sein kann (es muss also berhaupt Begriffe geben, mit denen wir aus der Erfahrung stammende Erwartungen verknpfen). Indes kann nicht mehr begrndet werden, durch welche empirischen Begriffe der Begriff des empirischen Begriffs instanziiert ist (wir kçnnen also fr keinen Begriff zeigen, dass er zusammen mit einer bestimmten aus der Erfahrung stammenden Erwartung verknpft sein muss). Dieses – hier vorweggenommene – Ergebnis unserer Kategorientheorie findet also im Erfordernis prognostisch geladener Begriffe eine prominente Exemplifizierung. 2.2.2.2.5 Neubestimmung des Unterschieds Nachdem wir nun vorrangig an der Individuationspraxis die grundlegenden Differenzen zwischen den semantischen Großalternativen erçrtert haben, kommen wir nunmehr zur Neubestimmung des Streitpunkts. Doch bevor wir das hierfr einschlgige Tennantsche Vierfelderschema bezglich Ontologie und Semantik im Lichte dieser Przisierung reformulieren und bewerten, differenzieren wir erst einmal weiterfhrend Devitts Unterscheidung zwischen Realismus und Non-Realismus:
118 Vgl. Strawson, Bounds, 145: „it is not the existence of any specific link between concept and conditional expectation that has been declared to be a necessary feature of concepts of objects, but rather the existence, for each such concept, of some such link“.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
Devitts Kernthese des Realismus: T1 und T2 Akzeptanz
Ablehnung
fhrt zu einem empirischen Realismus (bei Tennant ent- fhrt zu einem empirischen spricht dies der Spalte a1 im Vierfelderschema) Idealismus (†) „Es gibt von uns logisch unabhngige Einzeldinge, die prinzipiell unerkennbar sind oder ber deren wirkliche Beschaffenheit wir nichts wissen.“ Akzeptanz
Ablehnung
fhrt zu einem ontologischen fhrt zu einem ontologischen Realismus Antirealismus Die These (†) ist sinnvoll, weil unter Anerkennung von (F1)(F3) Namen auch unabhngig unserer Prfmçglichkeiten referieren und eine jede Aussage unabhngig unserer Begrndungsmçglichkeiten wahr/falsch ist.
Die These (†) ist sinnlos, weil sie die Mçglichkeit einer Perspektive sideways-on unter Verwendung der unzulssigen, weil epistemisch prinzipiell unzugnglichen Mittel (F1)(F3) prsupponiert.
= semantischer Realismus (bei Tennant entspricht dies der Zeile b1 im Vierfelderschema)
= semantischer Antirealismus (bei Tennant entspricht dies der Zeile b2 im Vierfelderschema)
Es ist ein Gebot der philosophiehistorischen Redlichkeit darauf hinzuweisen, dass trotz unserer ausfhrlichen bedeutungstheoretischen Rekonstruktion, die uns auf dieses Schema gefhrt hat, selbiges nicht ganz neu ist. Obwohl nicht dieselben technischen Begriffe gebrauchend, hat Fichte bereits 1797 in aller wnschenswerten Klarheit die hier zum Ausdruck gebrachte „Ismen“-Unterscheidung explizit herausgestellt: Entweder erscheint das Objekt als erst hervorgebracht durch die Vorstellung der Intelligenz, oder, als ohne Zutun derselben vorhanden: und, im letzteren Falle, entweder als bestimmt, auch seiner Beschaffenheit nach; oder als vorhanden lediglich seinem Dasein nach, der Beschaffenheit nach aber bestimmbar durch freie Intelligenz.119
Anhand unserer schematischen Darstellung wird Zweierlei deutlich. Erstens gibt sie der Devittschen Maxime 2 insofern einen Sinn als festgestellt 119 Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 9.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
169
werden kann, dass wir ausgehend von einem empirischen Realismus noch eine Wahl haben, ob wir mit einer realistischen oder einer antirealistischen Semantik weiterarbeiten. Zweitens wird aber offenkundig, dass die (auch von Devitt geteilte) a1-a2-Unterscheidung im Tennantschen Vierfelderschema insuffizient ist, weil sich die intendierte Unterscheidungsabsicht erst dann vollziehen lsst, wenn wir uns bereits fr die Spalte a1 entschieden haben.120 Da wir durch unsere Analyse wesentlich die Semantik der Ausdrcke „ontologischer Realismus“ und „ontologischer Antirealismus“ bei Devitt und Tennant verndert haben, kennzeichnen wir in der Reformulierung des Vierfelderschemas die betroffenen Spalten durch ,a1*‘ bzw. ,a2*‘: a1*) Ontologischer
Realismus („es gibt von uns logisch unabhngige Einzeldinge, die wir prinzipiell nie erkennen kçnnen oder von deren ,wirklicher Beschaffenheit‘ wir kein sicheres Wissen haben“)
a2*) Ontologischer
Antirealismus („erkenntnistheoretische Existenzaussagen mssen manifestierbar sein“ bzw. „ein Wissen um das Dasein von x impliziert ein Wissen um das Sosein von x“)
b1) Semantischer
prima facie kohrenter inkonsistent (und damit Realismus sideways-on-view auch nicht kohrent ver(„Wissenstranszendenz“) tretbar)
b2) Semantischer
Antirealismus („Wissbarkeit“)
inkonsistent (und damit kohrenter within-view auch nicht kohrent vertretbar)
Die Paarung a1*-cum-b2 erweist sich als genauso ausgeschlossen wie die Paarung a2*-cum-b1. Damit verbleiben prima facie als erkenntnistheoretische Zugnge wissenstranszendente ontologische Realismen und auf Wissbarkeit verpflichtete ontologische Antirealismen. Es ist tabellarischen Darstellungen eigen, dass ihre bersichtlichkeit mit einer schematischen 120 Dieses Resultat erlaubt nicht nur eine differenzierte Beurteilung jener Stellungnahmen, die der traditionellen Redeweise von einem „transzendentalen Idealismus“ aufgrund eines verkrzten Zugangs nur Unvorteilhaftes abzugewinnen wissen. Das Resultat macht darber hinaus deutlich, was Verfechter einer antirealistischen Semantik zum Ausdruck bringen wollen, wenn sie – wie etwa Hartmann et al., „Person, Personal Identity, and Personality“, 218, Fußnote 61 – feststellen, dass zur Etablierung des Begriffs der Objektivitt kein Realismus prsupponiert werden muss.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
Vereinfachung einhergeht. Folglich reprsentiert unsere resultierende Zweiteilung der erkenntnistheoretischen Perspektiven in den sideways-onund den within-view nur auf einer sehr allgemeinen Ebene eine vollstndige Topographie der Landkarte. Diese Reprsentationsform ist fr unsere Ziele jedoch genau die richtige, denn sie erlaubt nicht nur die abstrakte Bestimmung dessen, was durch das vorliegende Programm kategorisch abgelehnt wird (a1*-cum-b1), sondern sie ermçglicht zudem die positive Bestimmung der allgemeinen bedeutungstheoretischen Grundlagen, die ausgehend von der epistemologischen Minimalforderung (Fmin)121 fr einen kohrenten transzendentalen Antirealismus gegeben sein sollten. 2.2.2.3 Unentscheidbarkeitsresultate und Aussagen ber die Vergangenheit als Maßstab? Der vorangegangene Abschnitt hat deutlich gemacht, dass wir im Besonderen Tennant nicht in seinem Verstndnis von „ontologischem Realismus“ folgen kçnnen, whrend wir zugleich die in weiten Teilen bestehende Kompatibilitt seiner bedeutungstheoretischen Forderungen zu unseren berlegungen festgestellt haben. Um nunmehr die verbleibenden semantischen Grundlagen des vorliegenden Programms explizit zu machen, scheint es naheliegend zu sein, auf die einschlgigen antirealistischen Argumente von Dummett, Wright, Tennant und anderen zuzugreifen. Aus zwei, miteinander eng verwobenen Grnden verzichten wir jedoch weitgehend darauf. Auf der einen Seite werden Fragen nach den Manifestationsforderungen und der Wissbarkeit vornehmlich an kritischen Aussagenklassen wie unentscheidbaren Aussagen von formalen Systemen oder Aussagen ber die Vergangenheit diskutiert, die fr unsere Klasse der erkenntnistheoretischen – und damit eben philosophischen – Aussagen nur partiell einschlgig sind. Uns interessiert weniger die Frage, wie man bedeutungstheoretisch mit formalunentscheidbaren oder historischen Aussagen zu verfahren hat, sondern die wesentlich grundlegendere Frage, mittels welcher legitimierbarer semantischer Mittel man erkenntnistheoretischen Behauptungen und Forderungen einen wohlbestimmten Sinn und damit einen entscheidungsdefiniten Gehalt geben kann.
121 Siehe 2.2.1.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
171
Zum anderen muss eingerumt werden, dass insbesondere Dummett122 und Tennant123 zur Bereitstellung ihrer antirealistischen Semantiken zuweilen eine ambigue Rede bezglich der ontologischen Fragen praktizieren, die wiederum Interpretations- und Klrungsbedarf bei jenem evoziert, der sich auf die relevanten Texte sttzt. Wir gehen hier ohne weitere Kommentierung einschlgiger Quellen nur kurz auf den ersten Punkt ein, um kursorisch anzuzeigen, wie eine entsprechende Auseinandersetzung mit diesen Aussageklassen innerhalb des transzendentalen Antirealismus beschaffen wre. Unentscheidbarkeitsresultate in der Beweistheorie und damit unentscheidbare Aussagen in formalen Systemen reprsentieren nicht nur einen faszinierenden Gegenstand der Auseinandersetzung in der Mathematikphilosophie, sondern liefern zudem einen interessanten Prfstein fr antirealistische Semantiken. Da in formalen Systemen die Geltungsbedingungen von Aussagen vollstndig erfasst werden durch die Frage nach ihrer Beweisbarkeit, stellt sich die Frage, ob wir unentscheidbare Aussagen berhaupt verstehen kçnnen, wenn wir diese Aussagen in den relevanten formalen Systemen weder beweisen noch widerlegen kçnnen. Hier ist aber zu unterscheiden zwischen einem Wissen in den formalen Systemen und einem Wissen ber formale Systeme. Selbstverstndlich verfgen wir innerhalb eines formalen Systems nur dann ber ein angemessenes Verstndnis eines Satzes, wenn wir im Besitz einer erfolgreichen Beweis- oder Widerlegungsstrategie fr diesen Satz sind. Im Falle unentscheidbarer Aussagen bedeutet dies eben, dass wir mit den Mitteln des relevanten Systems diese Aussagen nicht verstehen kçnnen, weil sich (unter Maßgabe der Konsistenz des Systems) keine Beweis- oder Widerlegungsstrategie etablieren lsst. Aber unser potentielles Wissen erschçpft sich in keinem einzigen Fall in genau der Menge der beweisbaren Aussagen in einem formalen System, da allein schon die Bereitstellung des Systems ein Wissen in Anspruch nimmt, das weit ber die Menge der Theoreme hinausreicht. 122 Siehe McDowell, „Anti-Realism and the Epistemology of Understanding“, vor allem 329 ff. McDowell (ebd., 316, 321) wirft Dummett vor, dass dessen antirealistische Argumentation den semantischen Realismus nicht trifft, weil er wie dieser eine transzendente Beschreibungsperspektive prsupponiert (ebd., 329). Nach McDowell erfordert eine durchschlagende Kritik am semantischen Realismus eine Zurckweisung des transzendenten Realismus: „but the right course is to set our faces against the idea of the cosmic exile“ (ebd., 343). Damit liegt die Argumentationsstrategie McDowells ganz auf der von uns eingeschlagenen Linie. 123 Siehe wiederum 2.2.2.2.
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Kapitel 2: Von der Transzendenz zur Wissbarkeit
Widerfahrnishafte Resultate wie unentscheidbare Aussagen sollten jedoch keine Probleme fr eine antirealistische Semantik liefern, weil durch diese formalen Beispiele nur etwas angezeigt wird, was wir auch außerhalb der Mathematik und Logik antreffen: Relativ zu einem investierten Wissensbestand in der Sprache L und dem Begrndungsmittelbestand B kann die Geltung von einzelnen Aussagen, die sich in L ausdrcken lassen, nicht mit den Mitteln von B geprft werden. Bereits in außerwissenschaftlichen Kontexten lassen sich beliebig viele Beispiele hierfr angeben wie etwa: Wer einzig ber ein regionales geographisches Wissen verfgt, kann Aussagen ber berregionale Sachverhalte weder begrnden noch widerlegen, aber er kann sein Hintergrundwissen erweitern derart, dass die jeweils in Frage stehende Aussage entschieden werden kann. Wir kçnnen problemlos selbst lebensweltlich Thesen formulieren (und tun dies de facto auch), die relativ zu einem investierten lebensweltlichen Wissensbestand weder begrndbar noch widerlegbar sind. Dieses Fehlen einer Entscheidungsmethode weist aber nicht auf ein Defizit antirealistischer Semantiken hin, sondern auf epistemische Defizite einzelner Wissensbestnde, die durch Erweiterungsschritte behoben werden kçnnen. Selbst im Falle von unentscheidbaren Aussagen in formalen Systemen kommen derartige Erweiterungsschritte hoch erfolgreich zur Anwendung.124 Im Kontext der Beweistheorie bleibt darber hinaus festzustellen, dass die bedeutungstheoretische Analyse unentscheidbarer Aussagen selbst ein Wissen um ihre Unentscheidbarkeit impliziert. Das Problem des „Nichtverstehens einer Aussage“ auf der Objektebene der Kalkle kann berhaupt nur sinnvoll diskutiert werden, weil wir auf der beweistheoretischen Ebene bereits ber ein Verstndnis eben dieser Aussage verfgen. Hilberts Losung „Wir mssen wissen, Wir werden wissen“125 schließt neben der Beweis- und Widerlegbarkeit auf der Objektebene noch die Frage nach der Unabhngigkeit auf der Metaebene mit ein.126 Nicht unerwhnt bleiben sollen selbstverstndlich jene Flle unentscheidbarer Aussagen, die sich trotz gezielter axiomatischer Erweiterungsschritte als „hartnckig unbeweisbar“ erwiesen haben. Wenn man so will, darf man hierbei von potentiellen Kandidaten fr „absolute Unbe124 So etwa in der Praxis der reverse mathematics, in der unter anderem Subsysteme der Analysis zur Bestimmung der minimalen Beweisbedingungen fr einen in Frage stehenden Satz adquat erweitert werden. Siehe Simpson, Subsystems of Second Order Arithmetic. Wille, Beweis und Reflexion, Kap. 5. 125 Hilbert, „Naturerkennen und Logik“, 387. 126 Siehe Wille, Beweis und Reflexion, 31.
2.2 Antiwissenstranszendenz: die bedeutungstheoretischen Grundlagen
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weisbarkeit“ sprechen. Immerhin handelt es sich in solchen Fllen offenkundig um Aussagen, die nicht durch eine epistemische Erweiterung des Hintergrundwissens als „gewusst“ ausgewiesen werden konnten. Der paradigmatische Reprsentant dieser Klasse ist die Kontinuumshypothese (CH) – eine Aussage, die nicht nur von den Standardaxiomensystemen der Mengentheorie unabhngig ist, sondern die bisher durch keine (als inkonsistent nachgewiesene) Erweiterung durch beraus voraussetzungsreiche Unendlichkeitsaxiome als beweisbar erwiesen werden konnte. „Es gibt gegenwrtig kein einziges nicht inkonsistentes formales System, das die Kontinuumshypothese als Theorem einschließen wrde.“ In diesen Fllen muss schlicht zugestanden werden, dass wir dann kein angemessenes Verstndnis des durch die Aussage reprsentierten Sachverhalts haben kçnnen. Nicht wenige wrden zwar die Ansicht vertreten, dass die CH (~rx(|L|L (–1)n x 2n/(2n)! zu definieren. Mathematikhistorisch betrachtet, sind dies alles abgeleitete Bestimmungen, d. h. die Zusammenhnge zu p konnten hergestellt werden, weil p als Kreiszahl bereits bekannt war. Allerdings liefert die faktische Entwicklungsgeschichte der Mathematik fr unser alternatives Szenario keine verbindlichen Vorgaben, so dass ungezwungen davon ausgegangen werden darf, dass in unserer zweidimensionalen sphrischen Welt die erforderlichen Einsichten aus der Analysis unabhngig vorangegangener geometrischer Resultate etabliert werden kçnnen. Doch wie zu erwarten, lsst sich unmittelbar eine Anschlussfrage formulieren: Woher wissen wir, dass das Doppelte der kleinsten positiven reellen Zahl c mit Sn>L (–1)n c 2n/(2n)! = 0 genau jene Konstante liefert, die wir zur Berechnung von r und damit schließlich zur Bestimmung des sphrischen Exzesses bençtigen? Im Falle unserer Mathematikgeschichte ist dies aus der Retrospektive einfach zu beantworten, weil die historisch frhe Verfgbarkeit der Euklidischen Geometrie und damit die Verfgbarkeit der Kreiszahl stets vorgegeben hat, auf welche Zusammenhnge und Charakteristika wir zu achten haben, wenn ein Kandidat fr eine alternative Definition am Horizont auftritt. Dieses Referenzwissen fehlt uns in der sphrischen Welt, so dass fraglich wird, ob wir in unserem nicht-euklidischen Raum berhaupt wissen kçnnen, wonach wir suchen und anhand welcher Kriterien wir gegebenenfalls entscheiden, wann wir die fragliche „Konstante“ gefunden haben. Zumindest ist es nicht selbsterklrend, weshalb nicht etwa gleichermaßen der Wert der Reihe Sn>L 1/n! als gesuchte Zahl in Frage kommt? Unsere bisherigen Untersuchungen berechtigen uns immerhin zur Formulierung des folgenden Resultats: Um ein alternatives Erfahrungssprachspiel fr einen nicht-euklidischen Erfahrungsraum in Gang setzen zu kçnnen, muss die Konstante p unter Verzicht auf ein genuin euklidisches Wissen („Beschreibungskonsistenz“) mit rein immanent verfgbaren nicht-euklidischen Mitteln eingefhrt werden kçnnen Mir ist kein Lehrbuch bzw. keine systematische Aufbereitung bekannt, in der dies abweichend vom Gesagten erfolgen wrde. Selbst in jenen Arbeiten, in denen „zu Fuß“, mçglichst transparent und voraussetzungsarm die Theoreme gewonnen werden sollen, leitet man die ersten Bausteine stets unter Verwendung eines euklidischen Wissens ab. Beispielhaft hierfr Hammer, Trigonometrie, §§47 – 64. Auf die Qualitt nicht-euklidischer Modellbildungen hat dies keinen Einfluss. Die Probleme treten erst auf, wenn diese Modellbildungen eine epistemologische Deutung erfahren, d. h. wenn die Mçglichkeit mathematischer Rume mit einer Selbstverstndlichkeit zur Mçglichkeit eines Erfahrungsraums wird.
8.2 Aspekte der Vorgeschichte
535
(„Beschreibungsimmanenz“). Sofern es nicht mçglich sein sollte, p als eine nicht-euklidische „Konstante“ zu etablieren, wre es a fortiori unmçglich, nicht-euklidische Rume als mçgliche Erfahrungsrume zu erwgen. Wir brechen die beschreibungsimmanente Simulation unseres alternativen Szenarios an dieser Stelle ab und fragen uns nicht weiter, auf welchen mçglichen kugelgeometrischen Wegen eine konsistente und immanente Bestimmung von p mçglich wre usw. Bereits unsere Simulation hat gezeigt, dass jeder Schritt in der Binnendifferenzierung unserer sphrischen zweidimensionalen Welt, den wir beschreibungsimmanent gehen konnten, weitere Probleme aufgeworfen hat, deren Klrungsversuch wiederum zu neuen Fragen fhrte. Fr den Augenblick verfgen wir jedenfalls ber keinen gelungenen Vorschlag, wie wir die Rede vom sphrischen Exzess fr unsere nicht-euklidische Geometrie immanent etablieren kçnnen – und der sphrische Exzess ist nur eine von vielen Besonderheiten unserer Raumgeometrie, die wir immanent bereitzustellen haben. Da zudem von den nicht-euklidischen Modellbildungen die Kugeloberflche noch eine besonders einfach zu handhabende ist (etwa im Unterschied zu Sattelflchen oder sphrischen Gebilden mit verschiedenen Krmmungen), lassen sich unsere Bedenken bezglich der Realisierung der Bedingung B3 auch fr alle weiteren nicht-euklidischen Rume formulieren. Es sei an dieser Stelle an die Eingangsbemerkung zu diesem Abschnitt erinnert. Dort wurde festgehalten, dass hier keine Begrndung fr den transzendentalen Charakter der Euklidizitt gegeben wird. Mithin kann unsere Analyse der von Helmholtzschen Gedankenexperimente auch keine definitive Widerlegung der Mçglichkeit nicht-euklidischer Erfahrungswelten erbringen. Von Helmholtz’ nicht-euklidische Modellbildungen kçnnen aufgrund ihrer Bereitstellung in der Tat nicht als zulssige Gegenbeispiele anerkannt werden, weil sie durchweg aus einer euklidischen Perspektive entworfen werden und zumindest der Bedingung B3 nicht gengen.58 Unsere – ber von Helmholtz hinausgehenden – Versuche, die erforderlichen Strukturmerkmale beschreibungsimmanent bereitzustellen, verlagerten stets nur das Problem. Dieses offene Ende ist schließlich auch 58 So stellte bereits Lotze (Metaphysik (System der Philosophie 2), 249 ff.) fest, dass die nicht-euklidischen Modellbildungen stets die gewçhnliche – d. h. euklidische – Anschauung voraussetzen. Die von von Helmholtz und anderen gezogenen epistemologischen Schlussfolgerungen aus der Mçglichkeit solcher Konstruktionen fhrt Lotze (ebd., 265) auf eine „Verwechslung des Raumes mit Gebilden im Raume“ zurck.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
der Grund dafr, warum (ber Plausibilittserwgungen hinausreichend) nicht zugleich fr Kants These argumentiert werden konnte, denn dafr bedrfte man des Resultats, dass nicht-euklidische Rume nicht vollstndig beschreibungsimmanent als mçgliche Erfahrungswelten fingiert werden kçnnen. Allerdings ist uns etwas Bescheideneres gelungen: Von Helmholtz wendet gegen Kant ein, dass die Euklidizitt des Raumes keine transzendental notwendige Bedingung fr das Machen von Erfahrung sein kann, wenn wir uns im Rahmen von gelingenden Gedankenexperimenten nicht-euklidische Erfahrungswelten intelligibel machen kçnnen. Eine notwendige Bedingung fr das Gelingen eines Gedankenexperiments besteht in der Bedingung der Beschreibungsimmanenz, die von Helmholtz aufgrund seiner euklidischen Beschreibungsperspektive mehrfach verletzt. Damit bilden die von ihm erwogenen nicht-euklidischen Rume in ihren vorliegenden Fassungen keine Gegenbeispiele fr Kants These.
8.3 Relativierungsstrategien fr den Erfahrungsbegriff Nun folgend setzen wir uns mit den drei großen Relativierungsstrategien auseinander, um im Einzelnen zu zeigen, dass jede von ihnen – aus unterschiedlichen Grnden – scheitert. Wir verfahren dabei im argumentativen Aufbau so, dass der jeweils zu kritisierende Ansatz im Falle seines Scheiterns die Mçglichkeit des nachfolgenden Ansatzes noch nicht berhrt. Wir beginnen entsprechend mit dem stammesgeschichtlichen Aposteriori von Konrad Lorenz als dem hier paradigmatischen Vertreter einer naturalistischen These, der den Erfahrungsbegriff strikt an die stammesgeschichtliche Entwicklungsstufe anbindet und somit die Geltungsfrage auf die Frage nach der evolutionstheoretischen Genese zurckfhrt. Die Ausprgung eines Erfahrungsbegriffs mit all seinen konstitutiven Merkmalen hngt entsprechend von der Entwicklungsstufe des Erkenntnissubjekts ab und bleibt variabel unter Maßgabe evolutiver Vernderungen. Ihm folgt die Analyse eines allgemein gefassten epistemologischen Kulturrelativismus, der auch dann noch vertreten werden kann, wenn bereits das Scheitern der naturalistischen Relativierung festgestellt bzw. eine antinaturalistische Grundhaltung eingenommen wurde. Selbst wenn wir den uns vertrauten Erfahrungsbegriff nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreiben und erklren kçnnen, so handelt es sich doch um einen Begriff, der in unserer Kultur ausgeprgt wurde und dessen erkenntnis-
8.4 Der Erfahrungsbegriff
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theoretische Reflexion gerade in der Tradition der abendlndischen Philosophie erfolgt. Jeder damit verbundene Geltungsanspruch kann aber nur relativ zu diesem kulturellen und historischen Hintergrund, in dem sich der argumentierende Philosoph befindet, erhoben, verstndlich gemacht und beurteilt werden. Doch selbst im Fall einer Zurckweisung der kulturrelativistischen These verbleibt noch die Mçglichkeit einer universalen Skepsis, die selbst die Transkulturalitt des Erfahrungsbegriffs zugestehen kann. Diese Position, vertreten vor allem durch Barry Stroud, kann problemlos die Notwendigkeits-, Apriorizitts- und Universalittsansprche fr die menschliche Lebensform zugestehen, denn ihre Relativierung erfolgt ber Mçglichkeitserwgungen, die durch den menschlichen Intellekt nicht intelligibel gemacht werden kçnnen. Was fr uns die Grenzen des Vernnftigen sein mçgen, mssen noch lange nicht die Grenzen des Mçglichen sein, da die Feststellung des Nicht-Intelligiblen jenseits dieser Grenzen gerade mit Mitteln unserer Vernunft erfolgt, deren Unvollkommenheit ja aber gerade erwogen wurde.
8.4 Der Erfahrungsbegriff in Abhngigkeit von der evolutionren Entwicklungsstufe Wenn es um Relativierungen des Erfahrungsbegriffs im Besonderen oder erkenntnistheoretischer Begrndungsanliegen im Allgemeinen mittels naturwissenschaftlicher Ergebnisse geht, dann kann jede naturalistische Position, die den Namen verdient, exemplarisch herangezogen werden. Systematisch kçnnten wir sogar gnzlich auf die Analyse dieser Spielart der Relativierung verzichten, weil wir unter Wahrung der Geltung-GeneseUnterscheidung eine dezidiert antinaturalistische Grundhaltung eingenommen haben.59 Im Hinblick auf die Relativierungsbemhungen den Erfahrungsbegriff betreffend wre es jedoch bedauerlich, wenn naturalistische Anstze bereits aufgrund des nicht mehr verfgbaren argumentativen Raums ignoriert werden wrden. Wir wrdigen naturalistische Relativierungsversuche gleichwohl, weil ihre Behandlung Begrndungsziele unseres Programms befçrdert und darber hinaus als komplementre Ergnzung zu unseren Ausfhrungen in 1.2 (mit leichten Redundanzen in den philosophischen Pointen) angesehen werden kann.
59 Siehe 1.2.1.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
Dass wir uns hierbei fr die Analyse der philosophisch gedeuteten Resultate der vergleichenden Verhaltensforschung von Konrad Lorenz entscheiden, hat vornehmlich zwei Grnde. Zum einen erhebt Lorenz explizit den Anspruch, eine Erkenntnistheorie allein auf der Basis biologischer und stammesgeschichtlicher Ergebnisse den Menschen betreffend zu begrnden.60 Zum anderen erfolgt diese Begrndung zum Teil unter Berufung auf Kant und zum Teil durch Umdeutung Kantischer Einsichten61, wobei Lorenz vor allem den „kantischen Geist“ seines eigenen Ansatzes betont.62 Darber hinaus darf nicht unterschtzt werden, welch prgenden Einfluss Lorenz, der immerhin auch kurzzeitig den Lehrstuhl Kants an der Universitt Kçnigsberg innehatte, mit seinem stammesgeschichtlichen Aposteriori auf nachfolgende Entwicklungen in der Philosophie hatte. Vor allem die in den 1970er und 80er Jahren populre evolutionre Erkenntnistheorie zehrte maßgeblich von den Vorarbeiten des Verhaltensforschers – ja, man darf sogar sagen, dass Die Rckseite des Spiegels das erste große systematische Werk dieser Strçmung darstellt. 8.4.1 Lorenz’ stammesgeschichtliche Umdeutung des Kantischen Apriori Damit Erkenntnis mçglich ist, bedarf es nach Kant sowohl der Sinnlichkeit als auch des Verstandes als den beiden Grundquellen des Gemts.63 Keine dieser beiden Quellen ist der anderen jeweils vorzuziehen – womit sowohl der vorkantische Rationalismus als auch der klassische Empirismus zu seinem Recht kommt – und keines dieser Vermçgen kann die Funktion des anderen bernehmen.64 Wie uns Gegenstnde ber die Bedingungen der „transzendentalen sthetik“ hinaus gegeben sind, kann nur Aufgabe empirischer Wissenschaften sein, whrend die Untersuchung des Verstandes eine ausschließlich apriorische Angelegenheit ist, die bei Kant vor allem in der „transzendentalen Analytik“ umgesetzt werden soll. Fr Kant haben die Resultate der empirischen Wissenschaften (im Besonderen der Psycholo-
60 Lorenz, Die Rckseite des Spiegels, 13. 61 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, passim. Ders., Die Rckseite des Spiegels, 25 f., 42, 91. 62 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 124 f. Ders., Eigentlich wollte ich Wildgans werden, 74. 63 Kant, KrV, B 74. 64 Ebd., B 75. Siehe hierzu unsere Problemgeschichte in 5.2, vor allem 5.2.5.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
539
gie) berhaupt keinen Einfluss auf den Kanon des Verstandes.65 Doch whrend damit eine dezidiert antinaturalistische Grundhaltung formuliert wird, deutet Konrad Lorenz mit großer Sympathie fr Kant dessen Erkenntnisprojekt um, indem er die Fragen nach der Beschaffenheit des Verstandes zu den Fragen nach den empirischen – evolutionsbiologischen – Bedingungen der Sinnlichkeit macht: Wie andere im Lauf der Stammesgeschichte entstandene und der Arterhaltung dienende Leistungen soll auch die des menschlichen Erkennens untersucht werden: als Funktion eines realen und auf natrlichem Wege entstandenen Systems, das mit einer ebenso realen Außenwelt in Wechselwirkung steht. […] Wir sind berzeugt davon, daß alles, was sich in unserem subjektiven Erleben spiegelt, aufs engste mit objektiv erforschbaren physiologischen Vorgngen verflochten und auf ihnen begrndet, ja mit ihnen in geheimnisvoller Weise identisch ist.66
Die damit avisierte Umdeutung des Kantischen „Apriori“ findet seine Motive aber nicht nur in der Wissenschaftsbiographie des Verhaltensforschers, sondern auch in seiner Lesart des Idealismus, dessen postkantische Prgung er als Forschungshemmnis beurteilt.67 Weniger Kant als vielmehr dessen Nachfolgern wirft er vor, eine Unabhngigkeit der Welt der Erscheinungen von der – wie er es nennt – „realen Welt“ propagiert zu haben, die dazu fhrt, dass ein erkenntnistheoretischer Idealist die wenig plausible These vertritt, dass den Gegenstnden des Alltags nur durch deren Erleben zur Realitt verholfen wird.68 Den klassischen Kantphilologen hlt Lorenz entgegen69, den „Entwicklungsgedanken“ in der Ausprgung apriorischer Strukturen gnzlich vernachlssigt zu haben und stattdessen unter vollstndiger Ausblendung der „realen Außenwelt“ nach den Gesetzmßigkeiten von Verstand und Vernunft zu suchen. Erklrungsversuche dieser Form beurteilt er als vçllig willkrlich und dogmatisch in ihrer Grenzziehung des Rationalisierbaren.70 Lorenz formuliert Bedenken, ob „ein Organ“, das in dauernder Auseinandersetzung mit der Natur ausdifferenziert wurde und zur Vernunftkritik befhigt, in seinen eigenen Gesetzen 65 Kant, KrV, etwa B 78. Siehe zudem seine quid juris/quid facti-Unterscheidung (etwa B 116 ff.) und seine Absage an Programme, die beides miteinander vermengen (B 119). 66 Lorenz, Die Rckseite des Spiegels, 12 f. 67 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 115. Ders., Die Rckseite des Spiegels, 25 ff. 68 Lorenz, Die Rckseite des Spiegels, 26. 69 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 94 f. 70 Ebd., 115.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
von der Außenwelt unabhngig sein kann. Fr Lorenz ist eine Trennung der Lehre vom Apriorischen (= Erkenntnistheorie) von der Lehre von der Außenwelt (= Erfahrungswissenschaften) nicht nur sinnlos71, sondern fr einen Naturwissenschaftler ist es nach seiner Auffassung eine Pflicht, stets nach natrlichen Erklrungen fr die Phnomene zu suchen, bevor man sich mit einer nicht-naturwissenschaftlichen Begrndung zufriedengibt.72 Damit klingt an, dass es fr Lorenz im Zweifelsfalle die naturwissenschaftliche Begrndungspraxis ist, die Wissen schafft und damit im engeren Sinne Wissenschaft ist. Daher soll ein Erklrungsschema fr Phnomene immer erst einmal nach den natrlichen Ursprngen und Genesen dieser Phnomene fragen und erst dann die Mçglichkeit einer „kultrlichen Quelle“ erwgen, wenn die naturwissenschaftlichen Begrndungsversuche erfolglos erschçpft sind. Letzteres ist fr Lorenz im Falle erkenntnistheoretischer Sachverhalte aber kein Indiz fr deren kultrlichen Ursprung, fr den die Naturwissenschaften nicht zustndig wren. Vielmehr wrde es sich dann um eine vorbergehende Duldung handeln: Man gibt sich fr den Augenblick mit einer nicht-naturwissenschaftlichen Erklrung zufrieden bis schließlich zu einem spteren Zeitpunkt eine naturwissenschaftliche Begrndung gelingt. Mit dieser methodologischen Grundhaltung, die keinen kategorialen Unterschied zwischen Geltungs- und Genesefragen kennt, unternimmt Lorenz den Versuch einer Naturalisierung der Erkenntnistheorie, der gemß alle erkenntnistheoretischen Fragen in Termini der Naturwissenschaften angemessen beschrieben und mit naturwissenschaftlichen Methoden geklrt werden kçnnen. Entsprechend ist fr ihn die Frage, worin die Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung bestehen, nicht durch eine geltungstheoretische Analyse des Erfahrungsbegriffs zu beantworten, sondern unter Verwendung jener Resultate, die wir evolutionsbiologischen Untersuchungen von verschiedenen Spezies verdanken. Lorenz rechtfertigt diese Auffassung vor allem unter Bezugnahme auf zwei, fr ihn grundlegende Einsichten: 1. Jeder Versuch einer rein apriorischen und damit antiempirischen Analyse luft Gefahr, Resultate zu etablieren, die nicht nur ihre eigenen situationsvarianten empirischen Bedingungen ignorieren, sondern
71 Ebd., 101. 72 Ebd., 95. Vgl. zudem Lorenz, Die Rckseite des Spiegels, 13.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
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diese sogar unterlaufen und damit einen nicht begrndbaren Absolutheitsanspruch erheben.73 („Metaphysikkritik“) 2. Auch die menschliche Vernunft mit ihren Anschauungsformen und Kategorien ist Resultat einer dauernden Wechselwirkung zwischen dem Erkenntnissubjekt und der es umgebenden Natur. Die menschliche Vernunft verstehen zu wollen, bedeutet, die Geschichte ihrer Entstehung zu verstehen.74 („Umdeutung des Apriori“) Fr Lorenz kann also der fr unsere transzendentale Entfaltung erforderliche Erfahrungsbegriff keine streng universelle Geltung beanspruchen, weil sein Gebrauch und die aus ihm ableitbaren Einsichten stets relativiert bleiben auf unsere jeweils verfgbare kognitive Entwicklungsstufe, die zwar in ihrer retrospektiv erfassbaren stammesgeschichtlichen Gerichtetheit auf eine asymptotische Annherung an das „an-sich-Seiende“ ausgerichtet ist75, deren Genese aber auch gnzlich anders htte verlaufen kçnnen: Wren unsere a priori denknotwendigen Verstandesgesetze bei einer ganz anderen historischen Entstehungsweise und einem somit ganz andersartigen zentralnervçsen Apparat nicht vielleicht ganz andere?76
Da fr Lorenz eine Erklrung apriorischer Erkenntnisbedingungen ber eine isolierte Reflexion der Vernunft aus den genannten Grnden nicht in Frage kommt, er aber im Sinne Kants am Erfordernis apriorischer Bedingungen fr die Mçglichkeit von Erkenntnis festhlt77, erfolgt eine Umdeutung des Ausdrucks:
73 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 97: „Den rein zuflligen, heutigen Ort dieser Grenze [des Erfahrbaren, M.W.] bei der Spezies Mensch in die Definition des „An sich“ Seienden einzubeziehen, wrde fr uns einen nicht zu rechtfertigenden Anthropomorphismus bedeuten“. Ebd., 103: „Die Aussage, daß ihnen absolute Gltigkeit zukomme, […] erscheint uns als anthropozentrische Vermessenheit“. Ebd., 124: „Die Absolutsetzung des Menschen, die Aussage, daß alle berhaupt denkbaren vernnftigen Wesen – und seien es Engel! – an die Denkgesetze des Homo sapiens L. gebunden sein mßten, erscheint uns als eine geradezu unbegreifliche berheblichkeit“. 74 Ebd., 95: „Wenn man nun die angeborenen Reaktionsweisen von untermenschlichen Organismen kennt, so liegt die Hypothese ungemein nahe, daß das „Apriorische“ auf stammesgeschichtlich gewordenen, erblichen Differenzierungen des Zentralnervensystems beruht, die eben gattungsmßig erworben sind und die erblichen Dispositionen, in gewissen Formen zu denken, bestimmen“. 75 Ebd., 110. 76 Ebd., 95. 77 Vgl. ebd., 100.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
Die fr jedes einzelne Erkenntnissubjekt vor 78 aller Erfahrung bereits verfgbaren Erkenntnisstrukturen sind das Resultat der stammesgeschichtlichen Anpassung an die natrlichen Gegebenheiten der Außenwelt. Die Vernunft ist nichts metaphysisch Gegebenes, „nichts vom Himmel Gefallenes“79, sondern etwas auf natrlichem Wege Entstandenes. Damit bildet das Aposteriori der Stammesgeschichte das Apriori jedes einzelnen Individuums und damit das Apriori der Erkenntnis. Diese „Anpassung“ der Vernunft- und Verstandesfunktionen an die natrlichen Gegebenheiten erfolgt auf demselben Wege, wie sich die Flosse eines Fisches an das Wasser angepasst hat oder der Huf eines Pferdes an den Erdboden.80 Dieses Apriori, das die Erscheinungsformen der uns umgebenden Welt bestimmt, zu verstehen, bedeutet, die „aposteriorische Entstehung des Apriorischen“81 erklren zu kçnnen. Eine umfassende naturwissenschaftliche Erklrung muss dabei Antworten auf die Fragen nach dem „Wozu“ (dem arterhaltenden Sinn), dem „Woher“ (der stammesgeschichtlichen Entwicklung) und dem „Warum“ (den natrlichen Ursachen der Erscheinung) geben.82 Sofern Lorenz die Ausdifferenzierung von organischen Leistungen ber die stammesgeschichtliche Anpassung der Erscheinungswelt an das „Ansich der Dinge“ beschreibt, so liegt dem die semantische Umdeutung eines weiteren kantischen Ausdrucks zu Grunde: „den Dingen an sich selbst“. Wir hatten an frheren Stellen dafr argumentiert83, dass diese Rede nicht im Sinne einer ontisch selbstndigen, epistemisch letztlich nicht zugnglichen Welt („der eigentlichen Wirklichkeit hinter den Erscheinungen“) verstanden werden darf, weil diese Beschreibungsweise einer Perspektive sideways-on geschuldet ist, die wir notwendigerweise nicht einnehmen kçnnen. Doch selbst wenn wir die Unerkennbarkeit einer transzendenten Welt postulieren wrden, die auf ominçse Weise unsere Erscheinungswelt bestimmt, so treffen wir damit nicht przise das Verstndnis von Lorenz. Fr diesen sind die „Dinge an sich selbst“ gleichbedeutend mit der „realen Welt“, der „Wirklichkeit“, der „eigentlichen Natur“, dem „Absoluten hinter den Erscheinungen“84, deren Erfahrbarkeit immer besser, aber stets 78 79 80 81 82
„vor“ im zeitlichen Sinne. Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 101. Ebd., 98. Ebd., 99. Vgl. ebd., 98. Ausfhrlich in ders., „Die angeborenen Formen mçglicher Erfahrung“, und schließlich in ders., Die Rckseite des Spiegels. 83 Im Besonderen in 2.1, 2.2 und 6.2. 84 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 104.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
543
unvollkommen durch sich immer hçher entwickelnde Lebewesen gegeben ist: Aber wenn auch nichts „absolut wahr“ ist, so ist doch jede Erkenntnis, jede neue Wahrheit ein Schritt in einer ganz bestimmten, definierbaren Richtung nach vorwrts: das Absolut Existente wird durch sie von einer neuen, bisher unbekannten Seite her gefaßt, in bezug auf eine neue Eigenschaft bekannt.85
Damit sind im Unterschied zu Kant die Grenzen des Erfahrbaren verschiebbar, weil sie durch jeden erfolgreichen Anpassungsschritt ausgeweitet werden. Lorenz exemplifiziert dies unter anderem mit dem Vergleich zwischen Meso- und Mikrokosmos, der deutlich machen soll, dass das, was wir aufgrund unserer limitierten Wahrnehmungsmodalitten nicht mehr erfahren kçnnen (was mesokosmisch also nicht „real“ ist), deshalb noch lange nicht unerkennbar sein muss, wenn wir etwa mit Mikroskopen „genauere Darstellungen des Gegenstandes“86 geben kçnnen. Fr Lorenz liefert dies zudem einen Beleg, warum die „Gesetzlichkeiten der reinen Vernunft“ keine universelle Geltung beanspruchen drfen, weil sie sich zwar „in den biologisch-praktischen Belangen des Arterhaltungskampfes“87 und damit in den mesokosmischen Verhltnissen bewhrt haben, allerdings in den Phnomenbereichen der Wellenmechanik und Atomphysik versagen. Fr Kant wre dies sicherlich kein Gegenbeispiel, denn dessen geltungstheoretische Trennung zwischen „Erscheinung“ und „Ding an sich“ verdankt sich der Differenzierung zwischen dem potentiell Wissbaren und sinnhaften Begrnden auf der einen Seite und dem Wissenstranszendenten auf der anderen.88 Wissenschaftlich-technische Neuerungen zur Untersuchung kosmischer sowie atomarer und subatomarer Strukturen fallen fr Kant ebenso in den Bereich der Erscheinungen wie jede neue propositional strukturierte Wahrnehmung, die sich verbesserten empirischen Bedingungen der Sinnlichkeit verdanken wrde. Das fr Lorenz naturwissenschaftliche Phnomen von Vernunft- und Verstandesleistungen wird nun genau so erklrt wie jede beliebige physiologische Leistung, die fr eine bestimmte Art berlebensnotwendig ist: alle unsere Anschauungsformen und Kategorien [sind] durchaus natrliche und, wie jedes andere Organ, stammesgeschichtlich „gewordene“ Gefße zur Aufnahme und rckwirkenden Verarbeitung jener gesetzmßigen Auswir85 86 87 88
Ebd., 110. Ebd., 104. Vgl. ebd., 102 f., 113. Ebd., 104. Siehe hierzu im Besonderen unsere Ausfhrungen zu Kants Sinnprinzip in 6.2.1.
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kungen des An sich Seienden, mit denen wir uns nun einmal auseinandersetzen mssen, wenn wir leben bleiben und unsere Art erhalten wollen.89
Die Vernunft- und Verstandesleistungen sind fr unsere Spezies deshalb berlebenswichtig und bilden damit einen arterhaltenden Sinn, weil der Mensch im Unterschied zu anderen Organismen ein „dauernd unfertiges, dauernd unangepasstes, strukturarmes, aber dauernd weltoffenes und dauernd werdendes Wesen“90 ist, das dieser kognitiven Fhigkeiten bedarf, um das fehlende „stammesgeschichtliche Sich-Festlegen“ kompensieren zu kçnnen. Damit folgt der Verhaltensforscher dem anthropologischen Grundverstndnis von Arnold Gehlen.91 Ebenso wie alle anderen ererbten und angeborenen Strukturen, befinden sich auch unsere Anschauungsformen und Kategorien in einer stetigen Entwicklung, die geprgt ist durch das Wechselspiel zwischen dem Etablieren „fester Strukturen“ und der „Plastizitt der organischen Regulation“.92 Beide Bedingungen sind erforderlich fr eine Hçherentwicklung des Organischen. Um dieses Wechselspiel fr unsere Vernunft- und Verstandesleistungen besser verstehen zu kçnnen, hilft die Betrachtung der stammesgeschichtlichen Entwicklung von nichtmenschlichen Organismen.93 So fhrt Lorenz aus, dass seit den Anfngen des Lebendigen im Reiche der Einzelligen Strukturfestlegungen und Flexibilitt in der Ausprgung weiterer Leistungen erforderlich waren fr eine Hçherentwicklung, denn whrend nur die feste Struktur die Konservierung von Leistungen gewhrleisten kann, sind es die nicht durch Strukturen festgelegten Bereiche eines organischen Systems, die die erforderlichen Freiheitsgrade fr eine Weiterentwicklung ermçglichen. Weder Organismen mit durchweg robusten Strukturen noch solche mit berhaupt keinen sind dauerhaft entwicklungsfhig, weil sie kein Potential fr eine Hçherentwicklung besitzen. So verbleiben Lebewesen mit mçglichst wenigen festen Strukturen auf dem Entwicklungsstand von Amçben, whrend Organismen mit einem „Maximum an hochdifferenzierten festgelegten Strukturen“ Schienenfahrzeuge sind, die sich nur auf vorgeschriebenen Bahnen mit ganz wenigen Weichen bewegen kçnnen.94 89 90 91 92 93 94
Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 102. Ebd., 108. Siehe Gehlen, Der Mensch. Vgl. Lorenz, Die Rckseite des Spiegels, 251 f. Vgl. Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 106. Etwa ebd., 111, 115. Ebd., 107.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
545
Dasselbe gilt nach Lorenz auch fr unsere Vernunft- und Verstandesleistungen, d. h. wo immer auch jemand deren „Absolutsetzung“ vollzieht, ist dieses „Denksystem“ auch schon falsch, weil er sich damit der Mçglichkeit des Fortschritts des Denkens und Wissens beraubt95 : Aus evolutiv varianten Verstandesleistungen lassen sich keine evolutiv invarianten Ermçglichungsbedingungen fr Erfahrung ableiten. Wer also etwa den Anspruch erhebt, aus unserem Erfahrungsbegriff evolutiv invariante Bedingungen fr die Mçglichkeit von Erkenntnis zu begrnden, der erweist sich als ein nicht entwicklungsfhiges „Schienenfahrzeug“, das aufgrund seiner dogmatischen Einstellung kein großes Entwicklungspotential hat. Nur derjenige, der erkennt, dass auch unser Wissen nur eine bergangsstufe zwischen dem schlechter und dem besser Angepassten ist, wird sich auch epistemologisch weiterentwickeln kçnnen. Zwar sind fr uns etwa die Anschauungsform des Raumes96 und die Kategorie der Kausalitt97 vorgeformte Denkformen und damit feste Strukturen, aber wir drfen diese – obwohl sie fr uns eine zwingende apriorische Gltigkeit besitzen – nicht absolut setzen. ber vorgeformte Denkweisen den Raum und die Kausalitt betreffend verfgen auch niederentwickelte Lebewesen, wenngleich diese „Denkstrukturen“ dort zum Teil nur in einer rudimentren Form ausgeprgt sind. Dies ist nach Lorenz also nichts spezifisch Menschliches, denn jedes Lebewesen bedarf vorgeformter, a priori gegebener Denkformen, um lebensfhig zu sein. Dass wir zudem ber die besagten Reflexionsleistungen verfgen, erhebt uns nicht kategorial ber andere Lebewesen, sondern charakterisiert die Entwicklungsstufe des spezifisch Menschlichen: der bewußte Drang, sich nicht festzufahren, nicht zum Schienenfahrzeug zu werden, sondern die jugendliche Weltoffenheit als Dauerzustand zu bewahren und in dauernder Wechselwirkung mit dem wirklich Existenten diesem Wirklichen nherzukommen.98
95 Vgl. ebd., 108. 96 Siehe hierzu die Analyse zur Raumwahrnehmung und Orientierung im Raum bei niederen Lebewesen ebd., 115 ff. Ders., Die Rckseite des Spiegels, Kap. VI und VII. 97 Siehe hierzu die Analyse der Kausalitt als einem Erfordernis zum Erwerb bedingter Reflexe in Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 119 ff. Ders., Die Rckseite des Spiegels, 134 ff. 98 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 124.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
Doch trotz dieser hoch entwickelten Leistungen sollten wir uns bescheiden zeigen99, denn in einer grundlegenden Hinsicht unterscheiden sich unsere kognitiven Fhigkeiten nicht von denen eines jeden anderen Lebewesens: Genauso wie sie sind auch wir nicht in der Lage, die Wirklichkeit vollstndig zu erkennen.100 Die Anpassung an die „reale Welt“ bleibt ein offener und unabgeschlossener Entwicklungsprozess, durch den lediglich sichergestellt ist, dass jeder erfolgreich vollzogene Schritt der Hçherentwicklung den Bereich des Erfahrbaren erweitert. Damit ist auch der Punkt erreicht, an dem wir die naturalistische Relativierung des Erfahrungsbegriffs zusammenfassen kçnnen. Mit der Aufhebung der Unterscheidung von Genese und Geltung wird der Gebrauch des Ausdrucks „Apriori“ im zeitlichen Sinne verstanden. Damit werden alle zu treffenden Aussagen ber die Anschauungsformen, die Kategorien, Sprache und Erfahrung mit einem Zeitindex versehen, der die Geltung der Einsichten beschrnkt auf den jeweils in Frage stehenden Entwicklungsschritt. Dies ist die (reduktiv) naturalistische Dimension in Lorenz’ Programm. Da die Entwicklung des Lebendigen unbestritten ein offener Prozess ist, der in seiner Erklrung in den Zustndigkeitsbereich der Naturwissenschaften fllt, unterliegen auch die umgedeuteten erkenntnistheoretischen Ausdrcke in ihrer Genese den hierfr begrndbaren Gesetzmßigkeiten. Im Besonderen ist dann auch unser Erfahrungsbegriff lediglich charakteristisch fr eine ganz bestimmte Entwicklungsstufe, so dass alle daraus abgeleiteten prsuppositionalen Einsichten in ihrer Geltung beschrnkt bleiben auf eben jene Entwicklungsstufe. Da die Anpassung an das natrlich Gegebene ein asymptotischer Annherungsprozess ist, besitzen unsere erkenntnistheoretischen Erkenntnisansprche ber das natrlich Gegebene stets nur einen bestimmten – unvollkommenen – Reifegrad. Die Geltung eben dieser Erkenntnisansprche bleibt damit relativiert auf den jeweils evolutiv entwickelten Erfahrungsbegriff. Dies bezeichnen wir als die relativistische Dimension in Lorenz’ Programm. 8.4.2 Die Irrelevanz der Stammesgeschichte fr die Erkenntnistheorie Um selbst dem Vorwurf einer Absolutsetzung zu entgehen, rumt Lorenz ein, dass alles – die naturwissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse 99 Ebd., 118, 123, 124. 100 Ebd., 123.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
547
eingeschlossen – den Status einer Arbeitshypothese trgt.101 Damit gesteht er zu, dass auch die Resultate seiner eigenen Forschung lediglich fr den Augenblick als gute Erklrungen fr die Herkunft und den Zweck kognitiver Leistungen anzusehen sind, whrend sie vielleicht schon durch den nchsten Entwicklungsschritt des menschlichen Erkenntnisvermçgens als berholt beurteilt werden. Und ich mçchte wirklich wissen, welches wissenschaftliche Argument gegen diese Auffassung geltend gemacht werden kann.102
Obgleich unsere Analyse letztlich auf eine Grundsatzkritik an der Aufhebung des Unterschieds zwischen Entstehungs- und Rechtfertigungszusammenhang hinauslaufen wird, wollen wir uns nicht einfach damit bescheiden, auf unsere frheren diesbezglichen Argumente103 hinzuweisen. Unter Maßgabe ihrer Geltung ist zwar das Erkenntnisprojekt von Lorenz zum Scheitern verurteilt, allerdings wollen wir ausgewhlte argumentative Linien der „aposteriorischen Erforschung des Apriorischen“ einzeln betrachten. So darf bereits bezweifelt werden, ob die Entgegnung auf einen mçglichen Absolutsetzungsvorwurf berhaupt authentisch ist. Lorenz’ naturalistisch relativierter Erfahrungsbegriff reiht sich nmlich nicht nur in das nachfolgende Schema ein, sondern soll fr dessen Bereitstellung allererst eine Rechtfertigung liefern.
101 Vgl. ebd., 109. 102 Ebd., 103. 103 Siehe vor allem 1.2.2 – 1.2.4.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
Schema der stammesgeschichtlichen Entwicklungsformen Entwicklungsform
vormenschlich
menschlich
nachmenschlich?
stufe
charakteristisch fr das Machen von Erfahrung
Erklrungstyp (fr die Mçglichkeit von Erfahrung)
Geltungsanspruch
Reprsentant
:
:
:
x
Raumorientierung durch Wegdressur (Auswendiglernen durch gesteuertes Herumkriechen)105
Wasserspitzmaus
:
:
x+y
Raumorientierung durch Wegdressur plus Orientierungsfhigkeit fr Abkrzungen106
Wanderratte
:
:
:
:
:
:
:
:
n
der Raum als ein Phnomen in der Lebenswelt (Raumprdikate, poietische Praxen)
vorwissenschaftlich
Bewhrung in der Praxis
der Mensch mit Kulturgeschichte
:
:
:
:
:
n+m
Der Raum als a priori reine Form der Anschauung
transzendentalphilosophisch
strikt universell
„klassischer Kant“
n+m+1
Raumanschauung als stammesgeschichtlich ausgeprgte Fhigkeit
naturwissenschaftlich
relativiert auf den Stand der stammesgeschichtlichen Entwicklung
Lorenz
n+m+2
?
?
?
?
:
:
:
:
:
:
:
:
:
:
y
?
?
?
?
keiner104
keiner
:
104 Gemß dem anthropologischen Menschenbild von Lorenz weist die menschliche Stammesgeschichte die Besonderheit auf, dass sie sich mit Sprache und Wissenschaft selbstreflexiv hinterfragen kann, um stammesgeschichtliche Defizite kompensieren zu kçnnen („Kants Lehre vom Apriorischen“, 124): Das „vorlufig Einzigartige des Menschengehirnes“ ist dessen „proteushafte Vernderlichkeit, das lavahafte Sich-Aufbumen gegen die eigenen strukturbedingten Funktionsbeschrnkungen“. 105 Vgl. Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 116 f. 106 Vgl. ebd., 117.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
549
Dass dieses Schema grob vereinfachend ist, spielt keine nennenswerte Rolle, denn durch die Veranschaulichung soll lediglich deutlich werden, dass i) sich Lorenz’ Erfahrungsbegriff auf der einen Seite bescheiden zeigt, weil er als Errungenschaft der Stammesgeschichte in seinen Geltungsansprchen auf eben diese relativiert bleibt (vgl. Spalte „Geltungsanspruch“), whrend ii) es eben dieser Erfahrungsbegriff ist, der universell genug scheint, um das gesamte Schema zu beschreiben. Lorenz erzhlt prima facie keine erkenntnistheoretische Geschichte zweiter Stufe ber die Dialektik verschiedener, aufeinander aufbauender Erfahrungsbegriffe (seinen eigenen inbegriffen) und zieht daraus entsprechende Schlussfolgerungen, sondern er beschreibt mittels seines Erfahrungsbegriffs auf derselben epistemischen Ebene eine naturwissenschaftliche Entwicklungsgeschichte107, in der auch der Erfahrungsbegriff von Lorenz auftritt. Wrde es sich tatschlich um einen, in seinen Geltungsansprchen bescheidenen Erfahrungsbegriff handeln, dann msste es neben dem – von Lorenz auch zugestandenen – Spielraum fr weiterentwickelte Erfahrungsbegriffe auf einer hçheren Entwicklungsstufe („n+m+2“) auch Raum fr eine komplette Revision des gesamten Schemas geben. Wir werden nunmehr dafr argumentieren, dass – gleich welche Begriffsdeutung wir vornehmen – der Ansatz von Lorenz nicht zu halten ist. Im Falle einer stammesgeschichtlich relativierten Lesart des Erfahrungsbegriffs wird sich die evolutionsbiologische Theorie als selbstwidersprchlich erweisen, whrend sie im Falle eines universellen Erfahrungsbegriffs zweiter Stufe inhaltsleer ist. 8.4.2.1 Das stammesgeschichtliche Aposteriori als stammesgeschichtliche Einsicht Sofern es nunmehr mçglich sein soll, dass mit der Entstehung neuer Entwicklungsformen und -stufen eine weiterfhrende, verbesserte Passung an das natrlich Gegebene geleistet werden kann (und somit unsere gegenwrtig bestehenden Erkenntnislimitationen partiell berwunden werden), muss doch zumindest die Passungsthese selbst von der stammesgeschichtlichen Entwicklung ausgenommen sein. Aufgrund der diagnostizierten stammesgeschichtlichen Relativierungen impliziert Lo107 Ob es sich hierbei tatschlich um eine chronologisch erzhlte Naturgeschichte handelt, werden wir in 8.4.2.3 diskutieren.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
renz’ organismus- und evolutionsbiologische Theorie die Mçglichkeit ihrer eigenen Revision auf einer spteren Entwicklungsstufe. Dieses Resultat in der Selbstanwendung antizipiert Lorenz, wenn er vorsorglich – wie eingangs zu 8.4.2 erwhnt – zugesteht: Alles ist Arbeitshypothese. Nicht nur die Naturgesetze, die wir durch individuell-menschliche Abstraktion a posteriori aus den Tatsachen unserer Erfahrung gewinnen, sondern auch die Gesetzlichkeiten der reinen Vernunft.108
Doch gerade weil diese Einsicht durch eine informelle Selbstanwendung der Theorie gewonnen wird, handelt es sich um ein Resultat, dessen Begrndung wesentlich an der Geltung des Entwicklungsstufen-Modells hngt. Um also zumindest die begrndete Mçglichkeit einer spteren stammesgeschichtlichen Revision einzurumen, bedarf es minimal einer Identittsbedingung, die sptere „Zustnde“ gleichermaßen als „Entwicklungsformen/-stufen“ ein und desselben Anpassungsprozesses auszuzeichnen gestattet. Denn immerhin muss Lorenz Flle wie den unserer gegenwrtig vollzogenen Programmformulierung ausschließen kçnnen, die zwar zeitlich spter zu seinem eigenen aufkommen und diesen auch kritisch hinterfragen, aber dennoch auf keiner hçheren organismischen Entwicklungsstufe zu verorten sind. Der Zeitindex und die Mçglichkeit der Revision mçgen zwar notwendige Bedingungen fr eine Hçherentwicklung sein, allerdings darf erst dann von einer organismisch hçheren Entwicklungsstufe gesprochen werden, wenn mittels naturwissenschaftlicher Methoden eine bessere Passung an das natrlich Gegebene diagnostiziert werden kann. Wir drfen also erst dann von verschiedenen Entwicklungsstufen E1 und E2 desselben Schemas S sprechen, wenn sowohl E1 als auch E2 mittels der Passungsterminologie ordinal in S verortet werden kçnnen. Kurz: Wir mssen in demselben wissenschaftlichen Sprachspiel bleiben. Wenn also Erkenntnissubjekte knftiger Entwicklungsstufen die bei Lorenz zur Anwendung gebrachten „Gesetzlichkeiten der reinen Vernunft“ als Arbeitshypothese ganz im Sinne des stammesgeschichtlichen Aposterioris zugunsten anderer verwerfen, dann erfolgt dies aufgrund einer besseren Passung an das natrlich Gegebene, denn die Passungsthese stiftet allererst die Mçglichkeit, knftige Zustnde ebenfalls als Entwicklungsstufen auszuzeichnen:
108 Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen“, 109.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
551
Die relativierte Geltung des stammesgeschichtlichen Erfahrungsbegriffs auf eine bestimmte Entwicklungsform prsupponiert die universelle Geltung der Passungsthese. Da jedoch die Passungsthese ihrerseits eine Arbeitshypothese (oder Folge einer solchen) ist, unterliegt sie selbstverstndlich selbst der stammesgeschichtlichen Entwicklung. Damit wird aber durch knftige Entwicklungsstufen nicht nur der stammesgeschichtliche Erfahrungsbegriff als Arbeitshypothese zugunsten eines anderen berwunden, sondern zudem mçglicherweise die Passungsthese selbst. Dies impliziert jedoch, dass die im obigen Schema aufgefhrten wie auch beliebig weitere Entwicklungsstufen ihr identittsstiftendes Merkmal verlieren, womit das Schema entleert wird, denn damit organismusbiologische Beschreibungen als stammesgeschichtliche Entwicklungsformen/-stufen verstanden werden kçnnen, mssen sie per definitionem im Modus der Passung an das natrlich Gegebene erfasst werden. Sollte also das die Theorie von Lorenz konstituierende Erfahrungswissen auf derselben Stufe stehen wie jene Erfahrungen, ber die die Theorie Aussagen macht, dann fhrt die Selbstanwendung zu dem Ergebnis: (~) Wenn die Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris wahr ist (O 7), dann ist die Passungsthese P (relativ zur Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris S) mçglicherweise falsch. Diese Aussage ist erst einmal von der Form ! x $S~P, was aber nichts anderes besagt als #SP x ~! („Sollte die Passungsthese P (relativ zur Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris S) notwendigerweise wahr sein, dann ist die Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris falsch.“). Nun gilt jedoch auf der anderen Seite die notwendige Geltung der Passungsthese relativ zur Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris. Dieses Ergebnis ist nicht Folge einer Selbstanwendung des Gehalts der Theorie auf die Geltung ihrer Resultate, sondern die Folge einer geltungstheoretischen Einsicht: Jede Aussage 8, die durch eine wissenschaftliche Theorie (bzw. durch einen beliebigen Hintergrundwissensbestand) T logisch impliziert wird, gilt relativ zu T notwendigerweise.109 Da die Passungsthese P eine identittsstiftente These fr die Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris (S) ist und sie sich a fortiori bereits selbst impliziert, gilt mit SVP im Besonderen auch #SP. Mit diesem Resultat sowie dem Ergebnis der Selbstanwendung (~) folgt aber umge109 Siehe hierzu unsere Erluterungen zum Notwendigkeitsoperator in 1.3.1.1.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
hend ~!, d. h. aus Lorenz’ Deutung, dass alles (inklusive seiner eigenen Theorie) eine stammesgeschichtlich bedingte Arbeitshypothese ist, folgt die Falschheit seiner Theorie. Sofern also die evolutionsbiologische Theorie von Lorenz wahr sein sollte, widerlegt sie sich selbst, denn im Falle ihrer Geltung darf unser Erfahrungsbegriff aufgrund potentiell neuer Arbeitshypothesen nicht absolut gesetzt werden. Dieses Verbot legitimiert sich aus der Offenheit der stammesgeschichtlichen Anpassung, die immer weiter voranschreitet und im Falle der Wahrheit von Lorenz’ Theorie einen Entwicklungsstand erreichen wird, auf dem die Falschheit eben derselben Theorie eingesehen wird. Unter der Voraussetzung, dass die Einsicht des stammesgeschichtlichen Aposterioris selbst eine stammesgeschichtliche Einsicht ist, ist sie falsch. 8.4.2.2 Das stammesgeschichtliche Aposteriori als Einsicht zweiter Stufe Argumentationsstrategisch mag es nun naheliegend sein, entgegen den Bekundungen von Lorenz seine evolutionsbiologische Theorie selbst von der stammesgeschichtlichen Entwicklung auszunehmen. Sofern die organismus- und evolutionsbiologische Theorie als eine erkenntnistheoretische Geschichte zweiter Stufe ber die Dialektik verschiedener, aufeinander aufbauender Erfahrungsbegriffe verstanden werden kann, ist zumindest der Raum fr eine mçgliche Selbstanwendung nicht mehr gegeben. Zwar mag es dann eine Inkohrenz zwischen den Inhalten des stammesgeschichtlichen Aposterioris und seiner eigenen Geltung geben, aber immerhin wre die Theorie prima facie nicht inkonsistent. Um die Theorie aus ihrem eigenen Anwendungsfeld herausnehmen zu kçnnen, mssen wir ihren Erfahrungsbegriff zu einem Begriff zweiter Stufe machen: Durch die Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris wird auf der Metaebene in Erfahrung gebracht, dass es auf der Objektebene des Machens von Erfahrung je nach Entwicklungsstufe verschiedene Erfahrungstypen gibt, deren Charakteristika durch die Weise der Passung an das natrlich Gegebene bestimmt sind. Der erklrende Erfahrungsbegriff von Lorenz ist natrlich weiterhin ber die Passungsthese bestimmt, denn mit naturwissenschaftlichen Mitteln wird in Erfahrung gebracht, dass (#) fr die Lebensform l Erfahrungen vom Typ El mçglich sind, weil die natrlichen Erkenntnisdispositionen von l (Al) in der Passungsweise Pl an das natrlich Gegebene G angepasst sind.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
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(#) soll selbst eine empirische Aussage(form) sein110, die deshalb ein (wissenschaftliches) Erfahrungsurteil(sschema) ausdrckt, weil der technische Erkenntnisapparat des Menschen diese Regelmßigkeit bei niedriger entwickelten Lebensformen auszuzeichnen erlaubt. Damit (#) zu einem begrndbaren Satz wird, muss der Evolutionsbiologe eine Korrelation zwischen El und Pl aufweisen kçnnen: „Bestimmte Erfahrungsweisen kçnnen von l gemacht werden, weil die Anpassung vom Typ Pl ist. Um aber die Passungsweise diagnostizieren zu kçnnen, muss Al mit G verglichen werden. Die Beschaffenheit von Al mag darber bekannt sein, dass im Rahmen organismusbiologischer und kognitionspsychologischer Untersuchungen festgestellt werden konnte, wie Al funktioniert. Wie gut nunmehr aber Al angepasst ist, erfordert zustzlich das Wissen, wie G beschaffen ist. Da wir im Rahmen experimenteller Untersuchungen ber die Erkenntnismçglichkeiten von Lebensformen nicht ber so etwas wie eine G-an-sich-Beschreibung verfgen, wird vom Verhaltensforscher eine Wirklichkeitsbeschreibung investiert, so wie er sie aus der Perspektive des Experimentators/Beobachters fr authentisch hlt.111 Die Passung Pl ist also ein Resultat des Abgleichs von Pl mit Gm, wobei „Gm“ die Wirklichkeitsbeschreibung aus der Perspektive der menschlichen Lebensform m ist. Durch diese Spezifikation verlieren die empirischen Resultate fr nichtmenschliche Lebensformen (Amçbe, Wasserspitzmaus, Wanderratte, Graugans usw.) weder ihre Geltung noch ihre Aussagekraft, wenngleich vielleicht Vorsicht geboten ist, mit den Ausdrcken „Erkenntnis“, „Wissen“ und „Erfahrung“ allzu freizgig zu verfahren. Betrachten wir nunmehr aber die Geltung von (#) unter dieser Przisierung, so stoßen wir auf folgende evolutionsbiologische Begrndung des stammesgeschichtlichen Aprioris: (+) Die Aussage (#) ist eine Erfahrung der menschlichen Lebensform m und mithin vom Typ Em. Und diese Erfahrung ist mçglich, weil die natrlichen Erkenntnisdispositionen Am in der Passungsweise Pm an das natrlich Gegebene Gm angepasst sind.
110 Genau betrachtet ist (#) aufgrund der Semantik von G keine empirische, sondern eine wissenstranszendente These. 111 Ausnahmslos alle Beispiele von Lorenz verfahren auf diese Weise.
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Kapitel 8: Die strikte Universalitt des Erfahrungsbegriffs
Es ist in der Terminologie Lorenz’ eine semantische Wahrheit, dass wir aufgrund von Am die Erfahrungswirklichkeit gar nicht anders erfahren kçnnen als in der Form von Gm. Genau dies besagt ja die Passungsthese zwischen den Erkenntnisdispositionen und dem natrlich Gegebenen. Damit wird die Begrndung von (#) zu einem analytischen Urteil und damit (#) selbst zu einer semantischen Wahrheit.112 Versteht man (#) trotz allem weiterhin als eine Aussage ber die Erfahrungswirklichkeit, kommt man zu der Einsicht, dass sie nicht wahr sein kann, weil sie bereits aus begrifflichen Grnden nicht falsch sein kann. Damit wird die Theorie des stammesgeschichtlichen Aposterioris aber zu einer gehaltleeren „empirischen“ Theorie. 8.4.2.3 Synchrone Geschichten als eine diachrone erzhlt Beschließen wollen wir diesen Abschnitt mit einer methodologischen Kritik, welche die epistemologischen Selbstausknfte allesamt beiseite lsst und einzig die Methode des Verhaltensforschers beleuchtet. D.h. unsere abschließende Kritik ist nicht erkenntnis-, sondern wissenschaftstheoretischer Natur. Bereits unter wissenschaftsphilosophischen Gesichtspunkten sind Bedenken anzumelden, weil Lorenz unter Verwendung empirischer Daten eine „Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“113 erzhlen mçchte, die bei genauer Betrachtung aber gar nicht als eine kohrente diachrone Entwicklungsgeschichte erzhlt wird, sondern aufgrund des empirischen Bezugsmaterials als eine Ansammlung von verschiedenen synchron verlaufenden Anpassungsgeschichten. Es trifft zwar zu, dass Lorenz mit einfachen Vorgngen beginnt und zu immer komplexeren voranschreitet, indem er etwa erst Vorgnge kurzfristiger Informationsgewinne (amçboide Reaktion, Kinesis usw.) beschreibt, dann zu Systemen bergeht, in denen unter anderem der Erfolg rckgemeldet wird (bedingte Reaktion, motorisches Lernen usw.), um schließlich ausgehend von kognitiv anspruchsvolleren Fhigkeiten (abstrahierende Leistungen, Nachahmung usw.) den menschlichen Geist mit seiner Kultur und Geschichte einzufhren. Allerdings werden alle diese Fhigkeiten nicht nur an rezenten Lebensformen eingefhrt, sondern auch ausnahmslos an diesen empirisch begrndet. Eine diachrone Entstehungsgeschichte wird schon deshalb nicht erzhlt, weil die empirischen 112 Ein vergleichbares Argument findet sich bei Janich, „Apriorisches Wissen“, 70 f. 113 So bereits der Untertitel von Die Rckseite des Spiegels.
8.4 Der Erfahrungsbegriff
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Daten nicht der Chronologie gengen.114 Wrde hier eine Naturgeschichte ber den Zeitraum Dt (mit Dt = jtn–t1j) des hierarchischen Aufbaus der Fhigkeiten von Lebewesen erzhlt werden, msste diese Geschichte auch beim Zeitpunkt t1 einsetzen, um schließlich beim gegenwrtigen Zeitpunkt tn zu enden. D.h. die Anpassungsgeschichte msste mit der Analyse der Fhigkeiten jener Lebewesen einsetzen, die zum Zeitpunkt t1 gelebt haben, um dann fortzuschreiten zu jenen, die zu t2 gelebt haben usw. Dies wrde jedoch bedeuten, dass in der Narration vor allem ein Wissen ber die Fhigkeiten der zahllosen fossilen Lebensformen Verwendung findet, das bei Lorenz nirgends anzutreffen ist. Streng genommen setzt die Naturgeschichte von Lorenz weder bei t1 noch bei t2 ein, sondern bei tn. Dieses Desiderat wird nun dadurch kompensiert, indem statt eines Wissens ber fossile Lebensformen ein Wissen ber rezente herangezogen wird: „Die Fhigkeiten der Amçbe und des Pantoffeltierchens reprsentieren die Fhigkeiten jener Lebewesen zu t1“, „Die Fhigkeiten der Wanderratte reprsentieren die Fhigkeiten jener Lebewesen zu ti(1