Transhumanismus: Über die Grenzen technischer Selbstverbesserung 9783110691047, 9783110690958, 9783110691078, 2020938205

Transhumanism is a cultural movement and an interdisciplinary research approach aimed at the global improvement of human

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German Pages 271 [272] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Zum Anspruch und Selbstverständnis des Transhumanismus: Nur Altes im neuen Gewand?
Self-Enhancement: eine neue Form der Selbstgestaltung? Nietzsche und der Transhumanismus im Vergleich
Transhumanismus – Trivialität oder Provokation?
Wir sind stets Cyborgs gewesen …
2. Zur Metaphysik des Transhumanismus: Ist das Ziel des Transhumanismus metaphysisch möglich?
Zur Anthropologie des Transhumanismus
Descartes’ späte Rache. Der körperlose Geist in der Maschine der Transhumanisten
Auf dem Weg zur Superintelligenz? Fortschritte und Grenzen der Computermodelle des menschlichen Gehirns
Verschmelzung von Technik und Leben? Begriffsklärungen an der Schnittstelle von Mensch und technischem System
3. Zur Ethik des Transhumanismus: Ist das transhumanistische Konzept von Verbesserung moralisch legitim und ethisch wünschenswert?
Eugenik als Dienst am guten Leben? Ethische Probleme der transhumanistischen Bestimmung von Verbesserung
Eine Apologie der menschlichen Natur. Vom Wert des Natürlichen und Kontingenten
4. Zur Kultur des Transhumanismus: Ist der Transhumanismus offen für andere Bereiche des menschlichen Lebens?
Ästhetisches Denken als Gegenargument zum Transhumanismus
Transhumanismus als Symptom symbolischer Verelendung. Zur anthropologischen Herausforderung der Digitalen Revolution
Namensregister
Sachregister
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Transhumanismus: Über die Grenzen technischer Selbstverbesserung
 9783110691047, 9783110690958, 9783110691078, 2020938205

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Transhumanismus

HUMANPROJEKT Interdisziplinäre Anthropologie

Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian Nida-Rümelin

Band 17

Transhumanismus

Über die Grenzen technischer Selbstverbesserung Herausgegeben von Stephan Herzberg und Heinrich Watzka

Diese Publikation wurde gefördert von der Stiftung Hochschule Sankt Georgen.

ISBN 978-3-11-069095-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069104-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069107-8 ISSN 1868-8144 Library of Congress Control Number: 2020938205 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band geht auf ein Symposion der Stiftung Hochschule Sankt Georgen zurück, das unter dem Titel „Schöne neue Welt, oder was kommt nach dem Menschen? Der Transhumanismus als Utopie und als technologisches Projekt“ am 02. und 03. November 2018 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main stattfand. Die Beiträge von Johanna Seifert, Tobias Müller und Miriam Ommeln wurden eigens für diesen Band verfasst. Die Herausgeber danken der Stiftung Hochschule Sankt Georgen für die großzügige Förderung der Tagung und der aus ihr hervorgegangenen Publikation. Frankfurt am Main, im April 2020 Stephan Herzberg

https://doi.org/10.1515/9783110691047-001

Heinrich Watzka

Inhalt Heinrich Watzka und Stephan Herzberg Einleitung 1

1 Zum Anspruch und Selbstverständnis des Transhumanismus: Nur Altes im neuen Gewand? Johanna Seifert Self-Enhancement: eine neue Form der Selbstgestaltung? Nietzsche und der Transhumanismus im Vergleich 29 Dieter Birnbacher Transhumanismus – Trivialität oder Provokation? Stefan Lorenz Sorgner Wir sind stets Cyborgs gewesen …

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61

2 Zur Metaphysik des Transhumanismus: Ist das Ziel des Transhumanismus metaphysisch möglich? Tobias Müller Zur Anthropologie des Transhumanismus

83

Heinrich Watzka Descartes’ späte Rache. Der körperlose Geist in der Maschine der Transhumanisten 107 Peter Jedlicka Auf dem Weg zur Superintelligenz? Fortschritte und Grenzen der Computermodelle des menschlichen Gehirns 131 Christoph Hubig Verschmelzung von Technik und Leben? Begriffsklärungen an der Schnittstelle von Mensch und technischem System 145

VIII

Inhalt

3 Zur Ethik des Transhumanismus: Ist das transhumanistische Konzept von Verbesserung moralisch legitim und ethisch wünschenswert? Edeltraud Koller Eugenik als Dienst am guten Leben? Ethische Probleme der 163 transhumanistischen Bestimmung von Verbesserung Stephan Herzberg Eine Apologie der menschlichen Natur. Vom Wert des Natürlichen und 185 Kontingenten

4 Zur Kultur des Transhumanismus: Ist der Transhumanismus offen für andere Bereiche des menschlichen Lebens? Miriam Ommeln Ästhetisches Denken als Gegenargument zum Transhumanismus Johannes Hoff Transhumanismus als Symptom symbolischer Verelendung. Zur anthropologischen Herausforderung der Digitalen Revolution 221 Namensregister Sachregister

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Heinrich Watzka und Stephan Herzberg

Einleitung

1 Begriffsbestimmung „Transhumanismus“ „Transhumanismus“ ist der Name (a) einer szientistisch-futuristischen Sammlungsbewegung, die ihre Heimatbasis im kalifornischen Silicon Valley hat,¹ (b) einer technikaffinen Richtung der Philosophie, die auch in der akademischen Welt Anhängerinnen und Anhänger hat, und (c) eines durch ungebremsten Technologieeinsatz herbeizuführenden Stadiums der Menschheitsentwicklung. Der philosophische Transhumanismus vereint die Ziele eines interdisziplinären Forschungsansatzes mit den Zielen einer kulturellen und intellektuellen Bewegung, indem er die Verständigung über die Möglichkeiten und Chancen der Verbesserung des menschlichen Organismus und seiner kognitiven, emotionalen und moralischen Fähigkeiten mit technischen Mitteln in den Mittelpunkt rückt. Transhumanisten² unterscheiden zwischen (a) traditionellen Methoden der Verbesserung des Menschen wie Erziehung, philosophische und ästhetische Bildung, Disziplin, Askese, Meditation, Selbstreflexion und (b) neuen Technologien wie Genom-Editierung, Verabreichung von Psychopharmaka, plastische Chirurgie, tiefe Hirnstimulation, Schaffung von Mensch-Maschine-Hybriden (Cyborgs) und Gehirnemulation (mind-uploading).³ Sie bejahen den uneingeschränkten Gebrauch dieser Technologien, um die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des Posthumanen zu erhöhen, so dass die Evolution nicht länger zufallsblind und ungesteuert, sondern mit Blick auf die eigene Zukunft zielgerichtet verlaufen kann. Laut Nick Bostrom, einem der führenden Vertreter des philosophischen Transhumanismus, unterscheidet sich eine posthumane Lebensform von der Lebensform nicht-verbesserter Menschen darin, dass sie mindestens eine zentrale Fähigkeit aufweist, die das Maximum dessen, was heutigen Menschen ohne Anwendung neuer Technologien erreichbar ist, „weit übertrifft“ (Bostrom 2018a, S. 146). Unter die allgemeinen zentralen Fähigkeiten rechnet Bostrom (a) die Ge Zu nennen sind die von Ray Kurzweil und Peter Diamandis gegründete Singularity University in Mountain View, Kalifornien (vgl. Boenig-Liptsin und Hurlbut 2016, S. 248 – 249), die von Natasha Vita-More geleitete gemeinnützige Mitgliederorganisation Humanity+, die World Transhumanist Association, das von Max More gegründete Extropy Institute.  Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und der Fokussierung auf den Inhalt wird im Folgenden ausschließlich die Form „Transhumanisten“ verwendet. Sie ist selbstverständlich inklusiv zu verstehen.  Vgl. den Überblick in Sorgner 2016, S. 40 – 64. https://doi.org/10.1515/9783110691047-002

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Heinrich Watzka und Stephan Herzberg

sundheitserwartung, d. h. die Fähigkeit, sowohl geistig als auch körperlich vollkommen gesund, aktiv und produktiv zu bleiben, (b) Kognition, d. h. allgemeine intellektuelle Fähigkeiten wie deduktives und analoges Schließen, Erinnerungsund Aufmerksamkeitsvermögen sowie spezielle Vermögen wie z. B. die Fähigkeit, Musik, Humor, Ironie, Erotik, Spiritualität oder Mathematik zu verstehen und wertzuschätzen, (c) Emotion, d. h. die Fähigkeit, affektiv angemessen auf Situationen und Menschen zu reagieren und das Leben zu genießen (Bostrom 2018a, S. 146). Transhumanisten gehen davon aus, dass die bisherige humane Lebensform nur ein Bruchteil dessen ausschöpft, was innerhalb der Beschränkungen von Raum und Zeit und der Naturgesetze möglich ist, so dass die Annahme, dass äußerst wertvolle Weisen des Lebens, Denkens, Fühlens und Sich-in-BeziehungSetzens auf ihre Verwirklichung warten, keineswegs utopisch ist, z. B. die signifikante Verlängerung der Lebenspanne ohne Krankheit, Leistungsminderung, Ermüdung und Motivationsabfall, die Umkehr von Alterungsprozessen, die Ausbildung bisher unbekannter kognitiver, emotionaler, moralischer, sozialer und ästhetischer Fähigkeiten, die als wertvoll und erstrebenswert erfahren werden, sobald sie realisiert sind (Bostrom 2005, S. 8). Im Zusammenhang der Überlegungen zur Verlängerung der Gesundheitsspanne wird sogar die Auffassung vertreten, dass Altern eine Krankheit darstellt und wie eine Krankheit bekämpft werden sollte (De Grey und Rae 2010). Das Fernziel einer regenerativen Medizin, die die Alterungsprozesse einer Zelle umkehrt, ist die potentielle Unsterblichkeit. Transhumanisten unterscheiden zwischen dem „Posthumanen“ und dem „Transhumanen“. Der „Transhumane“ ist ein Wesen des Übergangs, dessen Fähigkeiten zwischen dem nicht verbesserten Menschen und dem „Posthumanen“ angesiedelt sind. Ein „Transhumanist“ ist demgegenüber jemand, der dem Ziel der Entstehung des Posthumanen aufgeschlossen gegenübersteht oder es aktiv befördert (Bostrom 2005, S. 5). Der philosophische Transhumanismus versteht sich nicht zuletzt als ethische Theorie, wobei die Meinungen darüber divergieren, ob eine moralische Verpflichtung zur Verbesserung des Menschen besteht oder ob die Erreichung des Posthumanen lediglich ein wünschenswertes Ziel darstellt. Die Begründungen können utilitaristischer oder tugendethischer Natur sein. Da Transhumanisten sich zutrauen, objektive Kriterien eines wertvollen Lebens formulieren zu können, sind sie nicht gezwungen, den Einsatz von Technologien, die jemanden zum Posthumanen machen könnten, auf das Individuum, das sich freiwillig solchen Maßnahmen unterzieht, zu begrenzen. Aus transhumanistischer Sicht ist es nicht unethisch, beispielsweise irreversible Eingriffe in die genetische Ausstattung künftiger Menschen vorzunehmen, so lange sie dem Ziel der Hervorbringung einer Eigenschaft dienen, die von denen, die sie besitzen, als wertvoll und erstre-

Einleitung

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benswert empfunden werden dürfte.⁴ Die morphologische Freiheit, die Transhumanisten propagieren (Sandberg 2013, S. 56 – 58), beanspruchen sie nicht nur für sich selber, sondern für ihre Nachfahren und möglicherweise für größere Teile der zukünftigen Menschheit. Sie sind Befürworter sowohl einer autonomen, d. h. selbstbestimmten liberalen Eugenik als auch einer heteronomen, d. h. fremdbestimmenden liberalen Eugenik (Sorgner 2016, S. 42– 43; Bostrom 2018b, S. 92). Was Transhumanisten ausschließen wollen ist, dass Regierungen oder staatsähnliche Organisationen die Verbesserung ihrer Mitglieder zum Programm erheben. Eugenik als administrative Maßnahme wird abgelehnt. Der Transhumanismus bündelt Meinungen und Einstellungen, die unter Angehörigen einer wissensbasierten, technikaffinen Kultur und auf Innovationen angewiesenen Ökonomie auf breite Zustimmung treffen. Er provoziert durch die Infragestellung bisher weitgehend akzeptierter Grenzziehungen, z. B. der Grenze zwischen Technik und Natur, Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Personen und Sachen, Wachsen(lassen) und Herstellen, Therapie und Verbesserung, Selektion durch Partnerwahl und Selektion durch genetische Modifikation, traditionellen Erziehungsmethoden und Hervorbringung gewünschter kognitiver und emotionaler Dispositionen durch genetische Modifikation. Er antizipiert (prognostiziert, imaginiert) technische Anwendungen auf Bereiche, die bisher als nicht instrumentalisierbar galten: die menschliche Natur, die menschliche Keimbahn, die Identität von Personen, menschliches Bewusstsein, Geist, Subjektstatus.

2 Unterscheidungen: Trans-, Post-, Metahumanismus Außerhalb von Fachzirkeln wird häufig nicht klar genug zwischen Trans- und Posthumanismus unterschieden, außerdem sorgt für Verwirrung, dass der Transhumanismus die Hervorbringung des Posthumanen zum Ziel erklärt hat. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben hierzu Klärendes angemerkt (Loh 2018, S. 10 – 16; Sorgner 2016, S. 71– 84; Ranisch und Sorgner 2014, S. 9 – 16; Coenen 2012, S. 269). Unstrittig dürfte die Unterscheidung von Transhumanismus und Posthumanismus sein, wobei der Posthumanismus in einer kritischen und

 Bostrom ist Anhänger der von David Lewis vorgelegten dispositionalen Theorie ethischer Werte, wonach ein Objekt oder ein Zustand φ für eine Person X wertvoll oder erstrebenswert ist, wenn X mit φ bekannt oder vertraut ist und X über φ so klar wie möglich nachdenkt und urteilt (vgl. Lewis 1989).

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einer technologischen Variante vertreten werden kann (Loh 2018, S. 12– 13; TiroshSamuelson 2014, S. 55 – 56). Der Transhumanismus propagiert die technologische Transformation des Menschen zu einem posthumanen Wesen, während der Posthumanismus den Menschen an sich diskursiv überwinden möchte, indem er die zumeist humanistischen Dichotomien von Mensch/Tier, Mann/Frau, weiß/ schwarz, Lebewesen/Artefakt, Natur/Kultur, Subjekt/Objekt durchbricht und einen philosophischen Standort jenseits einer essentialistischen Bestimmung des Menschen einnimmt. Posthumanistinnen wie Rosi Braidotti begrüßen die technologischen Innovationen, die von Transhumanisten bejaht werden, weil sie dazu beitragen, die diskursiven Grenzziehungen verschwinden zu lassen, die dem Anthropozentrismus der westlichen Philosophie zugrunde liegen (Braidotti 2013, S. 37– 45). In Anlehnung an Stefan Herbrechter könnte man von einem „kritischen Posthumanismus“ sprechen (Herbrechter 2018, S. 94– 96; Herbrechter 2009, S. 6), der sich gleichermaßen gegen die im klassischen Humanismus propagierte Zentralstellung des rationalen, mit sich identischen (männlichen, weißen) Subjekts und die im postmodernen Turbo-Kapitalismus betriebene Kommodifizierung lebender Arten und ihrer genetischen Grundlagen wendet. Der kritische Posthumanismus ist in der kontinentaleuropäischen Tradition des Philosophierens beheimatet und eng mit der Literaturtheorie und den Kulturwissenschaften verbunden, währen der Transhumanismus tief in der englischsprachigen Tradition verwurzelt ist, die Autoren wie Darwin und Mill hervorgebracht hat. Der deutschsprachige Transhumanist Stefan Lorenz Sorgner vertritt eine zwischen Transhumanismus und Posthumanismus vermittelnde Position, die er „Metahumanismus“ nennt und die sich vom dominanten transhumanistischen Diskurs durch eine radikale Pluralität der Idee des Guten unterscheidet, die impliziert, dass eine nicht-formale Konzeption des Guten nicht verteidigt werden kann (Sorgner 2016, S. 83 – 84; Sorgner 2014, S. 34). Eine dem Transhumanismus verwandte Geistesströmung ist der technologische Posthumanismus, der nicht primär an der Verbesserung des Menschen, sondern der Entstehung einer maschinellen Superintelligenz oder „Singularität“ interessiert ist, von der die Menschheit zwar profitieren kann, von der aber auch Gefahren ausgehen, die von der Unterwerfung bis hin zur Auslöschung unserer Spezies reichen können (Bostrom 2016, S. 39). Autoren wie Ray Kurzweil, Nick Bostrom oder Hans Moravec dürften beiden Lagern, dem Transhumanismus und dem technologischen Posthumanismus, zuzurechnen sein (Kurzweil 1993, Kurzweil 1999, Kurzweil 2103, Moravec 1990, Moravec 1999). Wie der Transhumanismus kennt auch der technologische Posthumanismus ein posthumanes Stadium der Evolution, mit dem Unterschied, dass der Posthumane des technologischen Posthumanismus kein optimierter Nachkomme des bisherigen Menschen, sondern eine „artifizielle Alterität“ darstellt, die die menschliche Spezies ablösen und

Einleitung

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überwinden soll (Loh 2018, S. 13). Während die Technik im Transhumanismus das bevorzugte Mittel und Medium der Selbstüberschreitung des Menschen hin zum Posthumanen darstellt, ist sie im technologischen Posthumanismus autonom und gleichsam ihr eigener Zweck geworden. Christopher Coenen will im Transhumanismus eine Vorstufe des von ihm so genannten „Ingenieursposthumanismus“ erkennen. Der Transhumanismus verhalte sich zum Ingenieursposthumanismus wie der „Sozialismus zum Kommunismus“ (Coenen 2012, S. 268). Nach diesem Verständnis bezeichnet der Transhumanismus eine Übergangsphase, in der Teile der Menschheit auf dem Weg in eine posthumane Ära vorangehen sollten. Im Gegensatz zum (kultur‐)kritischen Posthumanismus sieht sich der Transhumanismus zumeist eher als „Fortführung des Humanismus denn als ein Bruch mit diesem, jedoch mit einem Fokus auf technische Veränderungen des menschlichen Körpers“ (Coenen 2012, S. 269). Die Differenz zum Humanismus alter Prägung besteht darin, dass nicht Pädagogen und Philosophen, sondern Ingenieure auf das menschliche „Material“ einwirken und dass ihr Fokus nicht auf den Geist, sondern auf dessen biologisches Substrat gerichtet ist. Der technologische Posthumanismus kennt kein Subjekt im klassischen Sinn, es sei denn man wollte den selbstlernenden Maschinen den Subjektstatus zuweisen. An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht der Transhumanismus, sondern der technologische Posthumanismus die Überwindung des Menschen radikal zu Ende denkt. Die Frage der Verhältnisbestimmung von Humanismus und Transhumanismus wird in einem der nächsten Abschnitte wieder aufgegriffen. Mit Blick auf die im vorliegenden Band zusammengeführten Beiträge empfiehlt es sich, mit Sorgner zwischen einem „Kohlenstoff-basierten“ und einem „Silizium-basierten“ Transhumanismus zu unterscheiden (Sorgner 2016, S. 76). Ersterer ist bestrebt, das biologische Substrat unserer Erlebnisfähigkeit, unseres Erinnerungsvermögens und unserer intellektuellen, emotionalen und moralischen Fähigkeiten zu verbessern und uns ein unbegrenzt langes Leben in Vitalität, Gesundheit, körperlicher Stärke und Schönheit zu ermöglichen. Der Kohlenstoff-basierte Transhumanismus fußt auf einer naturalistischen Anthropologie, wonach personale und geistige Fähigkeiten neuronal realisiert sind und sich am wirksamsten verändern lassen, wenn man die neuronale Basis (genetisch, biochemisch) verändert. Der Silizium-basierte Transhumanismus ist einer funktionalistischen Theorie des Geistes verpflichtet, wonach nicht die Art der materiellen Realisierung, sondern die funktionale Architektur und das „Programm“ für die personale Identität und das Erleben und die Leistungsfähigkeit der Person verantwortlich sind (More 2013, S. 7). Im Hintergrund steht die Software-Hardware-Unterscheidung. Silizium-basierte Transhumanisten gehen davon aus, dass die Tatsache der biologischen Verkörperung für uns (Personen)

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nicht wesentlich ist und dass wir den „Umzug“ auf eine Festplatte überleben werden (Koene 2013, S. 154). Sie stehen dem Substanz-Dualismus, wie ihn Platon und Descartes vertraten, nahe, indem sie die Person mit dem Geist und den Geist mit einem rechnergestützten Programm identifizieren (Kurzweil 2013, S. 102). Aus Sorgners Sicht hat ein Kohlenstoff-basierter Transhumanismus größere Realisierungschancen als sein Silizium-basiertes Pendant (Sorgner 2016, S. 77). Dies hindert viele Transhumanisten nicht daran, beide Entwicklungspfade als gleichrangig und einander ergänzend anzusehen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes lassen sich unter anderem danach einteilen, ob sie die Kohlenstoff- oder die Silizium-basierte Version des Transhumanismus in den Blick nehmen.

3 Alter Wein in neuen Schläuchen? In seinem 1957 erschienen Buch New Bottles for New Wine sieht der britische Biologe, Philosoph und Schriftsteller Julian Huxley die Menschheit an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, in dem sie die künftige Richtung der Evolution selber vorgibt und mit Hilfe fortgeschrittener Technologien die Potentiale des Menschseins voll ausschöpft oder besser noch neue Möglichkeiten erschafft, ja er spricht von der „kosmischen Pflicht“ (Huxley 1957, S. 14), unsere Entdeckungen an einem machtvolleren Humanismus zu bewähren, für den er den Terminus „Transhumanismus“ prägte: The human species can, if it wishes, transcend itself – not just sporadically, an individual here in one way, an individual there in another way, but in its entirety, as humanity. We need a name for this new belief. Perhaps transhumanism will serve. Man remaining man, but transcending himself, by realizing new possibilities of and for his human nature. (Huxley 1957, S. 17)

Aber ist der Gedanke der Selbstmodifikation wirklich so neu und zeichnet es nicht seit jeher die menschliche Gattung aus, dass sie die Fähigkeit und Bereitschaft zu fortwährender Selbstkorrektur und Verbesserung, insbesondere mit kulturellen Mitteln, besitzt? Ist der Transhumanismus am Ende nur „alter Wein in neuen Schläuchen“? Das spezifisch Neue der transhumanistischen Agenda wäre demnach (erstens) die Ausschließlichkeit, in der ihre Anhänger auf die Anwendung technischer Mittel, insbesondere so genannter konvergierender Technologien, setzen, (zweitens) der Ansatz bei der körperlichen Beschaffenheit und Funktionsweise des Menschen, „wenn auch weiterhin mit dem primären Ziel der Steigerung seiner mentalen Fähigkeiten“, wie Dieter Birnbacher in diesem Band schreibt. Eine Steigerung mentaler Fähigkeiten wurde bisher hauptsächlich durch Anwendung

Einleitung

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mentaler Techniken wie Memorieren, Meditieren, Training, Disziplin, Selbstbeobachtung erreicht. Der Transhumanismus unterscheidet sich von diesen klassischen Ansätzen darin, dass er die Steigerung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten auf technischem Weg erreichen möchte. Insofern überschneidet sich die Diskussion um den Transhumanismus mit der in der medizinischen Ethik geführten Debatte um das Enhancement (Bostrom/Savulescu 2009). Transhumanisten befürworten das erweiternde Enhancement, das über ein kompensatorisches Enhancement, wie z. B. Seh- und Hörhilfen oder Prothetik, hinausführt. Transhumanisten sind aber nicht nur an der erweiternden Verbesserung bereits grundgelegter Fähigkeiten, sondern an der Entstehung des Posthumanen interessiert. Obwohl Menschen Natur- und Kulturwesen sind, fokussieren sie ihre Aufmerksamkeit auf die Naturseite des Menschen, auf dessen „biologisches Substrat“ (Birnbacher 2006, S. 171), den Körper. Es ist hierbei zu beachten, dass der „Körper“ der Transhumanisten nicht der phänomenologische Körper oder Leib ist, in dem die Person ihre Empfindungen lokalisieren kann, in dem sie sich ausdrückt und durch den sie basale (körperliche) Handlungen ausführt, sondern der Organismus oder das zentrale und periphere Nervensystem, d. h. eine Abstraktion der (Neuro‐)Biologie und der Kognitionswissenschaft. Spezifisch für den Silizium-basierten Transhumanismus ist (drittens) die Aufhebung der Körpergrenze bzw. die Verlagerung der Schnittstelle, über die der Körper (das Gehirn) Informationen aufnimmt, ins Innere des zentralen Nervensystems. Bisher konnte man davon ausgehen, dass die Großhirnrinde zusammen mit den verstreut angeordneten Erinnerungsspeichern und den afferenten und efferenten Nervenenden einen geschlossenen Schaltkreis bildet, der über mehrere Schnittstellen mit der Außenwelt kommuniziert. Die Verbesserung kognitiver Fähigkeiten erfolgte immer auch auf dem Weg der Nutzung äußerer technischer Hilfen (Sprache, Schrift und andere Speichermedien, Techniken der Distribution und Übermittlung von Daten, Hör- und Sehhilfen), die Bedienoberfläche war aber bisher immer mit dem peripheren Nervensystem bzw. den Extremitäten (Hände, Füße, Außenhaut) verbunden. Indem die Mensch-Maschine-Interaktion in das Innere des zentralen Nervensystems verlegt wird, entfallen auf der einen Seite die Körperaußengrenzen und die klassischen Bedienoberflächen, auf der anderen Seite ist jetzt alles Körper, was unabhängig von der Betätigung der Extremitäten willentlich bewegt werden kann oder dem Informationszufluss unter Ausschaltung der Sinnesorgane und des peripheren Nervensystems dient. Die Hybridisierung des Menschen im Sinn der Einrichtung von Gehirn-Computer-Schnittstellen führt aber nicht nur zu einer Aufhebung der Körperaußengrenzen, sondern zu einer Erweiterung des Geistes (siehe dazu den Beitrag von Heinrich Watzka). Christoph Hubig macht in seinem Beitrag zu diesem Band darauf aufmerksam, dass wir es im Silizium-basierten Transhumanismus mit einem neuen Typ

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von Technik bzw. einer Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und technischem System zu tun haben. Hubig unterscheidet die bisherige „Kulturtechnik“, unter die er sowohl Intellektualtechniken als auch Realtechniken subsumiert, von der „Anthropotechnik“, die mittels so genannter NBIC-Technologien (Nano-, Bio-, Info-, Cogno-Technologien) zu einer Überformung, Entgrenzung und schlussendlich Substitution individuell-intentionaler Handlungsträgerschaft führt. Im Unterschied zu den bisherigen Kulturtechniken, die eine zweite Natur entstehen ließen, vertiefen die neuen ‚Converging Technologies‘ nicht zwingend den Bruch mit der ersten Natur. Sie lassen sich ebenso zwanglos als Fortsetzung der Entwicklungstendenz einer ersten Natur verstehen. Sollte letztere Diagnose zutreffen, bedeutete der Transhumanismus das Ende individueller verkörperter Handlungsträger, aber nicht notwendig deren physische Auslöschung. Bis zu Huxleys Prägung des Begriffs „Transhumanismus“ haben die Bemühungen um die Verbesserung des Menschen die Schranken der Spezies nicht überspringen wollen oder können. Mit dem zeitgenössischen Transhumanismus werden die Beschränkungen der Spezies Mensch jedoch niedergerissen. Dies gilt gleichermaßen für die Kohlenstoff- und die Silizium-basierte Spielart des Transhumanismus, sind doch genetisch modifizierte Lebewesen nicht weniger Artefakte als Cyborgs oder hochgeladene Gehirne. Bereits Nietzsche hatte den Menschen als ein Wesen des Übergangs betrachtet: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“ (Nietzsche 1968, S. 8) „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.“ (Nietzsche 1968, S. 10) Im modernen technikaffinen Transhumanismus betritt der Mensch die Brücke nicht zu Nietzsches Konstrukt des Übermenschen, der das Leben bedingungslos bejaht, sondern zu Artefakten, die im Verdacht stehen, den evolutiv gewordenen Menschen „anthropotechnisch“ hinter sich zu lassen (Hansmann 2018, S. 48). Die Befreiung des Menschen zu seinen Möglichkeiten, eine Idee, die erstmals in der Neuzeit artikuliert wurde, erfolgt nicht mehr in den Grenzen seiner humanitas. An die Stelle von Erziehung und Meditation treten Anthropotechnik und Substitution des organischen Substrats. Während Peter Sloterdijk den Terminus „Anthropotechniken“ für die „mentalen und physischen Übungsverfahren“ reserviert wissen will, mit denen Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, sich gegenüber vagen Lebensrisiken und der akuten Todesgefahr zu immunisieren (Sloterdijk 2009, S. 23), werden heute auch genetische Modifikation, pharmakologisches Enhancement, plastische Chirurgie und Einrichtung von Gehirn-Computer-Schnittstellen (Cyborgisierung) unter die Anthropotechniken gezählt. Eine der wichtigsten Funktionen des klassischen Humanismus, so Sloterdijk, sei die „Befreundung des Menschen mit dem Wort des Anderen“, d. h. die Förderung der Philanthropie gewesen, an der sogar Heidegger in seinem Humanismusbrief festhalte (Sloterdijk

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1999, S. 26 – 27). Für den Humanismus, so Sloterdijk, seien Menschen „Tiere unter Einfluss“, die der richtigen Art der Beeinflussung auszusetzen seien, die primär eine erzieherische ist. Von Züchtung hat vor Nietzsche niemand gesprochen. Aus der Perspektive von Nietzsches Zarathustra sind die Menschen der Gegenwart „erfolgreiche Züchter, die es vermocht haben, aus dem wilden Menschen den letzten Menschen zu machen“ (Sloterdijk 1999, S. 39). Mit Nietzsches These vom „Menschen als Züchter des Menschen“ werde der humanistische Horizont „gesprengt“. Der Humanismus könne und dürfe nämlich niemals weiterdenken als bis zur „Zähmungs- und Erziehungsfrage: Der Humanist lässt sich den Menschen vorgeben und wendet dann auf ihn seine zähmenden, dressierenden, bildenden Mittel an – überzeugt, wie er ist, vom notwendigen Zusammenhang zwischen Lesen, Sitzen und Besänftigen“. Nietzsche hingegen, der Paulus und Darwin gelesen habe, erkenne hinter dem „heiteren Horizont der schulischen Menschenzähmung einen zweiten, dunkleren Horizont“, einen „Raum, in dem unvermeidliche Kämpfe über Richtungen der Menschenzüchtung beginnen werden“ (Sloterdijk 1999, S. 39). Die Diskurse von Zähmung und Züchtung verschränken sich und lassen die Ahnung von „Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken“ aufkommen (Sloterdijk 1999, S. 42).

4 Ist der Transhumanismus ein Humanismus? Die Verwendung des Präfixes „Trans-“ könnte die Vermutung aufkommen lassen, dass der Transhumanismus eine Absage an das humanistische Projekt der Verbesserung des Menschen durch Erziehung und insbesondere durch literarische und künstlerische Bildung bedeutet. Um die Frage zu beantworten, ob der Transhumanismus das humanistische Projekt mit anderen (technologischen) Mitteln fortschreibt oder es preisgibt, empfiehlt es sich, zwischen älterem „literarisch-geisteswissenschaftlichem Humanismus“ und einem modernem „empirisch-experimentellen, naturwissenschaftlichem Rationalismus“ zu unterscheiden (Hansmann 2018, S. 27). Das Verhältnis zwischen beiden kann als Spannungsverhältnis zwischen der Idee der Perfektibilität des Menschen und seiner Perfektion, die auf technisch-instrumentellem Weg erreichbar ist, gedeutet werden (Hansmann 2018, S. 25). Begriffsgeschichtlich hervorzuheben sind zwei Verbindungslinien, die seit der Antike bestehen: A) Der klassische Humanismus verankerte bestimmte Bildungsvorstellungen in einem Bild vom Menschen, der humanitas, die als „Milde, Mitgefühl, Barmherzigkeit“, d. h. als „Menschenfreundlichkeit“ oder „Philanthropie“ zu kennzeichnen ist (Loh 2018, S. 18). Den Menschen zeichnet eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem Artgenossen, ein allen Menschen entgegengebrachtes

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Wohlwollen aus. Es handelt sich freilich um eine Fähigkeit, die gelernt und kultiviert werden muss und, da sie verlierbar ist, durch ständiges Üben zu erhalten ist. An dieser Stelle tritt das zweite Element des Humanismus zutage: durch Erziehung und Bildung vermag sich der Mensch zu einem Wesen zu formen, das zu einem „feinfühligen, sensiblen und sogar unbeschwerten Verhaltens gegenüber seinesgleichen“ fähig ist (Loh 2018, S. 18). Humanitas bezeichnet die „sowohl öffentlich-politische als auch geistige Forderung der Menschenbildung“ (Renaud 1998, S. 80). Generell bezeichnet der Terminus das „vorwiegend positiv Menschliche“, normativ verwendet ist humanitas „Inbegriff des Menschseins in Abgrenzung zur Tierwelt“ und bedeutet (a) das „wohlwollende Miteinander (benevolentia, clementia) durch die Anerkennung der menschlichen Würde (dignitas, virtus)“, (b) die „Geistesbildung vor allem durch griechische Literatur und Künste (litterae, doctrina, artes)“. In diesem Sinn entspricht humanitas der „Erziehung in der schönen Sprache (elegantia)“ (Renaud 1998, S. 80), d. h. dem Bildungsideal des alteuropäischen Humanismus, das im Rückgriff auf ein an der Antike ausgerichtetes Bildungsprogramm zu erreichen ist. Sofern der Terminus „Humanismus“ als Epochenbegriff verwendet wird, ist er kaum losgelöst von der kulturgeschichtlichen Epoche der Renaissance und deren Bildungsziel zu betrachten, nämlich der Forderung der „Rhetorisierung sämtlicher Formen der menschlichen Kommunikation, von der Sprachbeherrschung bis zu den Umgangsformen“ (Noe 1998, S. 2– 3). Ein gefüllter Begriff der humanitas begegnet uns zuerst bei Cicero, der eine originelle Synthese zweier ursprünglich griechischer Elemente vollzogen hat, nämlich der „παιδεία, paideia (Bildung)“ und der „φιλανθρωπία, philanthropia (Menschenliebe)“ (Renaud 1998, S. 80). „Philanthropie“ bedeutet zunächst die „Hilfe oder Hilfsbereitschaft gegenüber dem Nächsten“ und galt als Tugend der Höhergestellten, später die allgemeine Form des Umgangs mit den Mitmenschen, die an keinen Standesunterschied mehr gebunden ist (Renaud 1998, S. 80). Bei Cicero findet sich der Begriff in seiner vollen Ausprägung, und zwar von Anfang an in Verbindung mit der Überlegung, dass es die Sprachfähigkeit und insbesondere die Kunst der Beredsamkeit sind, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Die Ideal der Beredsamkeit wird mit dem Ziel des universal gebildeten Redners verknüpft. Zu diesem Zweck greift Cicero auf den griechischen paideiaBegriff zurück und erhebt die Forderung der umfassenden geistigen Bildung zur Grundlage der humanitas, welche gleichbedeutend mit philosophisch-literarischer Bildung (litterae, doctrina) ist (Renaud 1998, S. 82). Die Studien sind kein Selbstzweck, sie zielen auf die „ethische Gesamtbildung“, auf die „Veredelung des Menschen“. Die Selbstkultivierung der Seele durch Bildung ist gleichsam

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„Nahrung ihrer Humanität“ („animi cultus […] quasi quidam humanitatis cibus“). ⁵ Die Menschenbildung ist so umfassend zu verstehen, dass sie den „Sinn für das Schöne und für die Kunst“ mit einschließt (Renaud 1998, S. 82). Die durch Bildung zu fördernde humanitas hat neben der individuell-ethischen auch eine öffentlichpolitische Bedeutung: „Ciceros Bildungsziel ist der allseitig und philosophisch gebildete Redner, der zugleich Politiker ist“ (Renaud 1998, S. 82). Die Humanisten der Renaissance bringen das ciceronische Bildungsideal erneut in Erinnerung, so dass das „Streben nach dem ganzheitlichen Menschen durch das Studium der antiken Literatur“ zum Leitmotiv der Epoche avancieren konnte (Renaud 1998, S. 84). B) Der Zusammenhang von Menschlichkeit (humanitas) und Würde (dignitas) wurde von Cicero in seiner Schrift De officiis herausgestellt, insofern die Würde allen Menschen unabstufbar aufgrund ihrer Vernunft- und Moralfähigkeit zukommt. Die dignitas hominis, die Cicero in Anlehnung an stoische Autoren, insbesondere Panaitios, beschreibt, bildet das „Zentrum einer universalistischen Anthropologie“, die das humanistische Menschenbild mit der Idee des freien, rationalen und moralisch verantwortlichen Subjekts verbindet (Nida-Rümelin 2013, S. 48). Ciceros Würdebegriff wurde von Kant rezipiert und hat über ihn Eingang in die deutsche Verfassung gefunden. Rationalität ist keine kontextfrei aktivierbare mentale Disposition, sondern das Resultat eines auf Autonomie und Verantwortlichkeit ausgerichteten Bildungsprozesses. Bildung ist „auch immer Ausbildung von Vernunft, vernünftigen Überzeugungen, vernünftiger Praxis, vernünftigen Emotionen“ (Nida-Rümelin 2013, S. 100). Der Begriff der Würde, der im Begriff der humanitas enthalten ist, ist ein ontologischer und ein ethischer Begriff – ein ontologischer Begriff, weil er eine kategorial dualistische Metaphysik (Entgegensetzung von geistiger und materieller Welt) und die Sonderstellung des Menschen (einschließlich seiner übernatürlichen Bestimmung im christlichen Humanismus) voraussetzt. Solche dualistischen Anschauungen werden in den säkularen, naturalistischen, atheistischen und evolutionären Variationen des Transhumanismus abgelehnt, weshalb sich die Frage stellt, ob die Bezeichnung Humanismus noch gerechtfertigt ist (Sorgner 2016, S. 69 – 70). Die Mehrheit der Transhumanisten vertritt ein diesseitiges, materialistisches, naturalistisches, immanentes Verständnis der Welt. Die Evolutionstheorie spielt hinsichtlich des Verständnisses des Menschen eine zentrale Rolle. Da alles, was entstanden ist, sich weiterentwickeln wird, wenn es nicht vorher ausgestorben ist, verschreiben sich Transhumanisten der Aufgabe der Weiterentwicklung des Menschen auf technischem Weg.

 Cicero: De finibus bonorum et malorum V, 54 (zitiert nach Renaud 1998, S. 82).

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Der Begriff der humanitas oder Menschenwürde umfasst neben seiner ontologischen aber auch eine ethische Dimension, die traditionell perfektionistisch ausgerichtet ist. Das Musterbeispiel einer perfektionistischen Ethik ist die antikmittelalterliche Tugendethik. Ethische Tugend ist nicht angeboren. Menschen besitzen jedoch die Anlage zur Tugend, die durch Vorbild und Erziehung verwirklicht werden kann. Der Transhumanist Nick Bostrom ist zwar kein Vertreter der Tugendethik, bei ihm findet sich jedoch ein Äquivalent zur Idee der moralischen Vortrefflichkeit, die er in Abgrenzung von der allgemeinen Menschenwürde, die den moralisch-rechtlichen Personenstatus begründet, und der Würde, die sich in sozialer Stellung und sozialem Status ausdrückt, als Würde im Sinn einer „Qualität oder Vortrefflichkeit der Person“ bestimmt, ohne sie mit moralischer Tugendhaftigkeit oder Vortrefflichkeit im allgemeinen Sinn gleichzusetzen (Bostrom 2018c, S. 112). Während die allgemeine Menschenwürde auch für Transhumanisten nicht zur Disposition steht, hält es Bostrom für möglich, dass sich infolge technologischen Fortschritts neue Weisen der Vortrefflichkeit herausbilden werden, die er mit dem Namen der „posthumanen Würde“ belegt. Charaktermerkmale wie Gelassenheit, Eigenständigkeit, Selbstkontrolle, selbstgenügsamer Gleichmut, Nichtkorrumpierbarkeit, Willensstärke, Empathie und Urteilsfähigkeit lassen sich durch Erziehung und Disziplin, aber auch durch Techniken des Enhancement verstärken oder überhaupt erst herstellen (Bostrom 2018c, S. 116). Ein Einwand könnte lauten, dass der Vorgang der Verbesserung unserer Fähigkeiten unsere Würde mindert, anstatt sie zu vermehren, zumindest dann, wenn die Verbesserung auf künstlichem Weg erfolgt ist. Um diesen Einwand zu entkräften, macht Bostrom auf den Umstand aufmerksam, dass Eigenschaften, die wir uns durch unsere eigenen Entscheidungen, Überlegungen und Erfahrungen angeeignet haben, in gewisser Weise eher zu uns gehören als Eigenschaften, die uns in die Wiege gelegt wurden. Sofern der Vergleichspunkt die angeborene, nicht die erworbene Eigenschaft oder Fähigkeit ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass wir eine Eigenschaft, die wir auf dem Weg des technologischen Enhancement erworben haben, nicht weniger als unsere betrachten als eine Eigenschaft, die das Ergebnis eigener Anstrengung oder geistigen Wachstums ist (Bostrom 2018c, S. 119). Diese Einsicht ist mit der Überzeugung vereinbar, dass der Erwerb einer positiven Charaktereigenschaft durch geistiges Wachstum und Erfahrung sicherlich noch einmal mehr zu unserer Würde beiträgt – im Sinn einer „würdevollen Anstrengung und Überwindung von Schwächen und Hindernissen“ (Bostrom 2018c, S. 120). Der Vergleichspunkt ist aber nur der Besitz angeborener Eigenschaften und Fähigkeiten, nicht die bewusste Entscheidung für das erweiternde technologische Enhancement. Bostrom plädiert dafür, die Frage der Würde von der Frage des Mitteleinsatzes zu entkoppeln, ist es doch unsere Freiheit zur

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Selbstgestaltung und Selbsttransformation, die unsere Würde begründet, nicht die Beschränkung auf ein natürliches Mittel. Bostrom verweist auf den Renaissancephilosophen Pico della Mirandola, der in seiner Rede Über die Würde des Menschen als erster dem Gedanken Ausdruck verliehen hat, dass unsere Würde in unserer Fähigkeit zur Selbsttransformation besteht und wir durch die Ausübung dieser Fähigkeit an Würde gewinnen. Es lasse sich also dafür argumentieren, so Bostrom, dass „der Akt des freiwilligen, bewussten Enhancements eines Charakterzugs diesem eine zusätzliche Würde verleiht“ (Bostrom 2018c, S. 120). Wir haben gesehen, dass der Humanismus das spezifisch Menschliche als kultivierte und gebildete Philanthropie denkt. Eine weitere Wurzel des Humanismus ist der Gedanke der Menschenwürde, die mit der Vernunft- und Moralfähigkeit des Menschen begründet wird und die Grundzüge einer normativen Anthropologie erkennen lässt. Im Zentrum eines normativen Begriffs des Menschen stehen die Begriffe der Vernunft, der Freiheit und der Verantwortung, mit deren Hilfe sich überhaupt erst das Ziel einer humanistischen Lebensform umschreiben lässt (Nida-Rümelin 2013, S. 56). Zentrale Elemente der humanistischen Selbstkultivierung sind Vernunft in einem theoretischen und praktischen Sinn und Rationalität als Kernkompetenzen des autonomen und moralisch verantwortlichen Subjekts, woraus ersichtlich wird, dass „Rationalität“ weiter zu fassen ist als optimale Mittelwahl zur Steigerung des eigenen Wohlergehens oder der Erreichung auf die Zukunft gerichteter Veränderungen (Nida-Rümelin 2013, S. 67). Rationalität ist wesentlich „geteilte Praxis der Begründung von Entscheidungen“ (Nida-Rümelin 2013, S. 64). Handlungsgründe lassen sich zum größten Teil überhaupt nicht von einer Theorie instrumenteller Rationalität erfassen, weil die Mehrzahl der uns motivierenden Gründe nicht darauf gerichtet sind, ein für uns möglichst günstiges Ergebnis zu erzielen (Nida-Rümelin 2013, S. 66). Der erneuerte Humanismus kristallisiert sich in der „verantwortlichen Persönlichkeit […], die sich durchhaltende Gründe hat, erkennbar ist in den Gründen, die sie vorbringt, und die den Kern humaner Praxis, den respektvollen Umgang, keiner Form von Instrumentalisierung opfert“ (Nida-Rümelin 2013, S. 71). Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den Gründen, die wir uns zu eigen machen, unserer Lebensform und unserer Identität. Um Gründe angemessen abzuwägen und gegen „Augenblicksneigungen“ zu verteidigen, bedarf es keiner wissenschaftlichen oder philosophischen Theorien, hingegen charakterlicher Voraussetzungen, und diese sind das zentrale Bildungsziel eines erneuerten Humanismus. Die „Stimmigkeit des eigenen Lebens und der humane Umgang mit anderen sind weder genetisch noch kulturell determiniert, sondern bedürfen einer Praxis der Freiheit, der Bildung und der Selbstbildung“ (Nida-Rümelin 2013, S. 108). Der Transhumanismus scheint auf den ersten Blick am humanistischen Bildungsgedanken festzuhalten, wobei er den Nachdruck auf das erweiternde

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technologische Enhancement, nicht auf Bildungsanstrengungen im herkömmlichen Sinn legt. Auf der anderen Seite gilt sicher auch, dass das „klassische humanistische Ziel einer kultivierten, unbeschwert lebenszugewandten und geübten Philanthropie […] nur noch der Form nach wiederzuerkennen“ ist (Loh 2018, S. 21). Die posthumanen Fähigkeiten, auf die der Transhumanismus abzielt, sind auf kein bestimmtes Ideal der Humanität festgelegt, weder auf das klassische Ideal der Philanthropie noch auf das Ideal der verantwortlichen Persönlichkeit, die ihr Handeln an Gründe bindet und auf Interaktion und Kooperation unter Gleichen angewiesen ist. Die Ziele des Transhumanismus widersprechen solchen Idealen nicht, sie nehmen sie aber auch nicht ausdrücklich in den Blick. Der Rationalitätsbegriff vieler Transhumanisten ist der enge technisch-instrumentelle Begriff von Rationalität, sein ethisches Pendant ist der Konsequentialismus.

5 Seriöse Philosophie oder naive Technophilie? Längst nicht alle transhumanistischen Autorinnen und Autoren forschen und lehren an Universitäten oder universitären Forschungseinrichtungen, viele arbeiten in High-Tech-Unternehmen, firmeneigenen Forschungseinrichtungen, Lobbyverbänden und gemeinnützigen Organisationen. Einen brauchbaren Überblick darüber, wer weltweit dazu gehört und wer was vertritt, bietet eine von Max More und Natasha Vita-More herausgegebene englischsprachige Anthologie (More und Vita-More 2013). In den zurückliegenden Jahren sind zahlreiche Sammelbände und Monographien erschienen, die sich überwiegend kritisch mit dem Transhumanismus auseinandersetzen (Krüger 2019, Demuth 2018, Göcke/ Meier-Hamidi 2018, Loh 2018, Schenk/Karcher 2018, Spreen 2018, Hurlbut/TiroshSamuelson 2016, Deretić/Sorgner 2015, Ranisch/Sorgner 2014, Tirosh-Samuelson/ Mossman 2012). Trotz seiner Nähe zu angewandter Technologie, Produktmarketing, Ideenlobbying und Science-Fiction ist der Transhumanismus im Kern eine philosophische These, die mit philosophischen Argumenten zu kritisieren ist. Hierin ähnelt er dem Naturalismus, der bei aller Nähe zu den Naturwissenschaften eine philosophische, keine naturwissenschaftliche Theorie ist. Der Transhumanismus beinhaltet eine ethische und eine metaphysische These. Die ethische These besagt: (1) Die Hervorbringung des Posthumanen ist ethisch wünschenswert oder sogar moralisch geboten. Die metaphysische These lautet:

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(2) Die Existenz des Posthumanen ist möglich, und sie ist auf technischem Weg herbeiführbar. Die These (2) kann als wissenschaftliche Prognose gelesen werden. In so einem Fall müsste die Auseinandersetzung mit der Neurobiologie, den Kognitionswissenschaften, der Genetik, der Pharmakologie, der Künstlichen Intelligenz als einem Spezialgebiet der Informatik, der Medizin etc. geführt werden. Es wird nicht geleugnet, dass sich durch Wissenschaft und Technik beispiellose Fortschritte bei der Prävention, der Diagnose und der Therapie von Erkrankungen, der Verzögerung von Alterungsprozessen, der Steigerung von Leistungsfähigkeit und von Lebensqualität erzielen lassen. Der Transhumanismus rückt aber nicht die Verbesserung des bisherigen Menschen, sondern die Möglichkeit des Posthumanen, noch spezifischer, seine technische Realisierbarkeit, in den Fokus. Die Gewissheit, dass sich auf technischem Weg eine posthumane Daseinsform generieren lässt, fußt auf voraussetzungsreichen metaphysischen Annahmen, z. B. der Wahrheit einer funktionalistischen Theorie des Geistes und mentaler Eigenschaften, der Identifikation des Geistes mit dem Gehirn, der Supervenienz mentaler Eigenschaften über physikalischen Eigenschaften, einer repräsentationalen Theorie des Bewusstseins, wonach bewusste Zustände Repräsentationen zweiter oder höherer Ordnung sind, einer Neo-Lockeanischen Theorie personaler Identität, wonach psychokausale Kontinuität für die Identität einer Person hinreichend ist, einer computationalen Auffassung des Gehirns, wonach das Gehirn nicht nur einer datenverarbeitende Maschine gleicht, sondern eine solche Maschine ist. Die Erwartung geht dahin, dass die gewünschten posthumanen Fähigkeiten aus den technisch herbeigeführten Veränderungen bzw. Erweiterungen des natürlichen (biologischen oder biochemischen) Substrats von Personen bzw. dessen Substitution emergieren. Die Sache verkompliziert sich, weil menschliche Personen nie ausschließlich als Lebewesen, d. h. Angehörige einer biologischen Art, angesehen wurden, sondern ebenso als Kulturwesen (und in bestimmten Traditionen als Vernunftund Geistwesen), was seinen Grund darin hat, dass Menschsein und menschliche Möglichkeiten sich nicht ausschließlich der biologischen Evolution, sondern maßgeblich der kulturellen Evolution verdanken, die an sprachliche Verständigung, Vergesellschaftung, Traditionsbildung und Reflexion gekoppelt ist. Das „Wesen des Menschen“, die „menschliche Natur“, die „menschliche Lebensform“ sind nie nur biologisch, sondern immer auch kulturell, sozial, religiös und metaphysisch gedeutet worden. An dieser Stelle legt sich der Vergleich mit der modularen Auffassung des Geistes nahe, die jahrzehntelang die dominante Auffassung in der Kognitions-

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wissenschaft war und erst jüngst durch Ansätze einer verkörperten (embodied) und eingebetteten (embedded) Kognition abgelöst wurde. Gemäß der modularen Auffassung ist der Geist lokal (innerhalb des Schädels), repräsentational, computational und substratunabhängig. Der Geist setzt sich aus selbständigen, internen Repräsentationen zusammen, die von hochspezialisierten Mechanismen des Gehirns realisiert werden. Diese Mechanismen wurden durch natürliche Auslese geschaffen und sind in genetischen Strukturen kodiert. Sie dienen dazu, Informationen zu verarbeiten und einen Verhaltensoutput zu generieren, der geeignet ist, dem Organismus das Überleben zu sichern. Kognitive Zustände und Prozesse supervenieren über den inneren, physischen Eigenschaften des Organismus. Kognitive Phänomene lassen sich entsprechend den Grundsätzen des „methodologischen Solipsismus“ lokal erklären (Fodor 1980). Alles, was über die Grenzen des Körpers bzw. Schädels hinausgeht, ist nicht von Interesse, es sei denn, es spielt für die Generierung des sensorischen Inputs oder des motorischen Outputs eine Rolle. Transhumanisten zeigen ein auffälliges Desinteresse an Fragen der sozialen Interaktion und Organisation, der Sprache, Kommunikation, Erziehung und Politik, als ob Personen im Labor entstünden und sich beliebig umprogrammieren ließen. Wenn man berücksichtigt, wie viel für unsere Existenz von der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt, in der wir aufwachsen, abhängt, ist es doch erstaunlich, dass man sich entscheidende qualitative Verbesserungen allein von gezielten Veränderungen des biologischen Substrats oder dessen Substitution verspricht. Die ethische These (1) lässt sich in einer konsequentialistischen und einer perfektionistischen Spielart verteidigen. In der konsequentialistischen Lesart besagt die ethische These des Transhumanismus, dass der moralische Wert von Handlungen, die der Herbeiführung der posthumanen Daseinsform dienen, in der Realisierung eines oder mehrerer außer-moralischer Güter, z. B. Wohlbefindens, physischer und psychischer Gesundheit, gesteigerter Genuss- und Erlebnisfähigkeit, langen Lebens besteht. Heutige Spielarten des Konsequentialismus sind der Utilitarismus und der ethische Egoismus. In ihrer perfektionistischen Lesart besagt die ethische These, dass es für uns gut ist, posthuman zu werden. Die posthumane Daseinsform ist in sich erstrebenswert und wertvoll, da sie zu einem erfüllten Leben und gesteigertem Wohlbefinden führt. Sofern das ethische Ziel nicht primär in Genuss, langem Leben, Erreichung physischer Stärke und Schönheit, vielmehr in der Ausübung technisch gesteigerter emotionaler, kognitiver, sozialer und ästhetischer Fähigkeiten besteht, kann die ethische These auch tugendethisch gedeutet werden. Tugend erwirbt der Posthumane freilich weniger durch Erziehung und Gewöhnung als durch technische Modifikation.

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Eine ethische Bewertung des Transhumanismus hat zahlreiche Ansatzpunkte: die Verletzung des Verbots der (Selbst‐)Instrumentalisierung des Menschen, der Konflikt zwischen dem Recht auf morphologische Selbstbestimmung und dem Recht auf nicht-verbessertes Leben, der Zielkonflikt zwischen Selbstbestimmung und Wahrung der Würde, die Verteidigung des bio-konservativen Standpunkts einschließlich eines normativ gehaltvollen Begriffs der menschlichen Natur. In die ethische Bewertung sollte auch die dezidierte Ablehnung religiöser Weltbilder durch die Mehrheit transhumanistischer Autoren bei gleichzeitiger inhaltlicher Nähe zu den religiösen Vorstellungen einer Endzeit und einer Vollendung des Menschen, die seine physische Erneuerung einschließt, einbezogen werden. Es ist zu vermuten, dass der Transhumanismus seine Faszinationskraft auch aus religiösen Motiven bezieht, die ins Diesseits gewendet werden. Durch seine Zuspitzungen, seine prognostisch-imaginative Kraft, seine Radikalität ist der Transhumanismus ein idealer Gesprächspartner. Der Transhumanismus ist mehr als eine PR-Strategie der Zukunftsindustrien, er ist ein Diskurs über das Selbstverständnis des Menschen in einem technologischen Zeitalter, über die Ethik der Technologie und über Prioritäten in der gegenwärtigen und zukünftigen Forschung (Moos 2016, S. 161). Nicht nur Transhumanisten, sondern die Mehrzahl unserer Zeitgenossen betrachten Technologie als Vehikel historischer Transformationen und Motor des sozialen Fortschritts. Insofern stimmen die Vorstellungen der Transhumanisten über den technologischen Fortschritt mit der Mainstream-Sensibilität hinsichtlich der Dringlichkeit technologischer Lösungen angesichts menschlicher Nöte und Verletzlichkeiten überein. Die Visionen einer posthumanen Zukunft verraten weniger über die Zukunft als solche als über die Art und Weise, in der wir vom Standpunkt der Gegenwart aus über die Zukunft denken, d. h. sie sagen uns etwas über uns selbst (Grunwald 2016, S. 45). Die Debatte über spekulative Formen menschlicher Verbesserung ist so faszinierend, weil wir schon jetzt in einer Gesellschaft leben, in der Verbesserungstechniken rapide an Akzeptanz gewinnen. Schon Sandel zeigte auf, wie in der u.s.-amerikanischen Mittelschicht eine regelrechte „enhancement mania“ um sich greift, insbesondere im Bereich der Kindererziehung. Ehrgeizige Eltern wünschen sich Kinder, die in ausgewählten Feldern Spitzenleistungen erzielen (Sandel 2007, S. 50–51). Der ungezügelte Wettbewerb in einer Enhancement-Gesellschaft erhöht den Druck auf die Anwendung neuer Technologien. Hinzu kommt der Trend zur permanenten Selbstüberwachung der Körperfunktionen bei Freizeitaktivitäten, sportlicher Betätigung und am Arbeitsplatz. Der Besitz eines schönen, starken und stress-resistenten Körpers gilt vielen als Ideal, das ihnen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Mitbewerbern verschaffen kann. Wir leben in einer Kultur der permanenten Evaluation, des Vergleichens, Ratings und Rankings, nicht nur

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in der Arbeitswelt, sondern auch in der Freizeit und in der Partnersuche (Grunwald 2016, S. 47).

6 Ziel und Aufbau des vorliegenden Bandes Primäres Ziel dieses Bandes ist eine Kritik des Transhumanismus. „Kritik“ verstehen wir hier im ursprünglichen Sinn (krinein): als ein Unterscheiden zwischen Stärken und Schwächen, guten und schlechten Argumenten, Möglichkeiten und Grenzen transhumanistischer Positionen. Die Beiträge diskutieren zum einen den philosophischen Anspruch und das Selbstverständnis, mit dem der Transhumanismus auftritt, sowie die Weise, wie er sich historisch verorten lässt (Seifert, Birnbacher, Sorgner). Zum anderen diskutieren sie seine implizite Metaphysik (Müller, Watzka, Jedlicka, Hubig), Ethik (Koller, Herzberg) und Kultur (Ommeln, Hoff). Ist das vom Transhumanismus anvisierte Ziel metaphysisch möglich und auch technisch realisierbar? Ist die vom Transhumanismus geforderte technische Verbesserung der menschlichen Natur moralisch legitim und sozialethisch vertretbar? Ist die Selbstverbesserung des Menschen durch Überwindung seiner conditio humana überhaupt rational wünschenswert? Wird sie der Tiefe des Menschseins gerecht? Wird die Kultur als eigenständige Größe neben Natur und Technik einbezogen? Von der kritischen Durchleuchtung der Voraussetzungen des Transhumanismus soll eine aufklärerische Wirkung auf eine technikbegeisterte intellektuelle Öffentlichkeit ausgehen.

7 Übersicht über die einzelnen Beiträge Beruft sich der Transhumanismus zu Recht auf Friedrich Nietzsche und sein Konzept des Übermenschen? Johanna Seifert zeigt in ihrem Beitrag, dass die oft unterstellte semantische Verwandtschaft zwischen dem transhumanistischen Programm des self-enhancement und Nietzsches Gedanken der Selbstüberwindung haltlos ist. Zwar haben beide denselben Ausgangspunkt, die Zerrüttung des bisherigen Menschenbildes und das Problem der anthropologischen Neubestimmung, gehen aber in vollkommen verschiedene Richtungen. Während der Transhumanismus die Selbst-Gestaltung rein technisch und auf den menschlichen Körper bezogen versteht, muss Nietzsches Imperativ der Selbstüberwindung im Kontext eines genuin ethischen Projekts verstanden werden: Auf der Basis der klassischen These von der Unbestimmtheit des Menschen geht es ihm um eine neue Moral der Individualität.

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Dieter Birnbacher zeigt in seinem Beitrag, dass der Transhumanismus tatsächlich auf eine Trivialität hinausliefe, wenn die von ihm proklamierte Selbsttranszendenz des Menschen nichts Anderes besagt, als dass der Mensch von Natur aus unbestimmt und ihm die eigene Selbstgestaltung aufgegeben ist. „Selbsttranszendenz“ wird schon von den klassischen Humanisten als wesentliches Merkmal des Menschen angesehen. Eine solche Trivialisierung wird allerdings dem Transhumanismus nicht gerecht: Dieser ist tatsächlich eine Provokation, insofern es ihm um die direkte Verbesserung der körperlichen Beschaffenheit des Menschen durch Technik und Biomedizin (enhancement) mit dem Ziel der Steigerung des Wohlbefindens geht. Die bisher therapeutisch eingesetzten technischen Mittel sollen nun auch erweiternd eingesetzt werden, was eine differenzierte Bewertung notwendig macht. Vom Transhumanismus kann hier durchaus eine aufklärerische Wirkung ausgehen, insofern er eine vorurteilsfreie Prüfung des erweiternden Enhancement anmahnt. Allerdings sollte man realistisch bleiben und Chancen und Risiken genau abwägen (z. B. Fremdbestimmungsrisiken beim genetischen Enhancement; complicity mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, etwa mit dem Zwang zur gegenseitigen Überbietung). Stefan Lorenz Sorgner setzt in seinem Beitrag bei den neuesten Entwicklungen im Bereich der Gentechnik sowie der digitalen Technologien an. Durch sie werde die Wahrscheinlichkeit des Posthumanen erhöht. Die Potentiale der Gentechnik werden nach Sorgner am effizientesten ausgeschöpft, wenn sie mit digitalen Technologien verbunden werden: Immer kleiner werdende Computer können in unsere Körper implantiert werden, so dass wir zu „geupgradeten“ Menschen werden. Als Cyborgs können wir effizient mit unserer Umwelt in smart cities interagieren und verfügen auch über die entsprechenden Mittel, um mit dem Problem des Alterns fertig zu werden. Diese Entwicklung führt zu einer Vielzahl von intellektuellen, sozialen, politischen, ethischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, von denen das Internet-Panoptikum die gravierendste ist. Wenn die Freiheit als moralische, soziale und rechtliche Norm gefördert wird, können wir, so Sorgner, durchaus von den Vorteilen des digitalen Zeitalters profitieren. Dem Transhumanismus geht es nicht nur um die Verbesserung der Bedingungen, unter denen sich die menschliche Natur entfaltet, vielmehr geht es ihm darum, die menschliche Natur selbst durch Verschmelzung mit der Technik zu transformieren. Tobias Müller bietet in seinem Beitrag eine kritische Rekonstruktion und Prüfung der zentralen metaphysischen Annahmen und Konzepte, die der Transhumanismus in Anspruch nimmt, wenn er die technische Kontrollierbarkeit, Optimierbarkeit und Erzeugbarkeit des menschlichen Bewusstseins anstrebt (mind-uploading, mind-cloning). Ist das menschliche Bewusstsein nichts Anderes als eine Art Datenstruktur, die sich technisch herstellen und dann auf verschiedene Träger transferieren lässt? Sind die vom Transhumanismus in An-

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spruch genommenen technischen Mittel überhaupt geeignet für die angestrebte Transformation? Eine reduktiv-naturalistische Sicht der menschlichen Subjektivität wird von Müller mit guten Gründen kritisiert. Alternativ dazu wird ein Begriff „konkreter Subjektivität“ skizziert, der sowohl die Eigenart des menschlichen Bewusstseins als auch dessen Einbettung in kausale Naturzusammenhänge und damit auch die realen Manipulationsmöglichkeiten einbezieht. Die Erzeugung von Cyborgs (cybernetic organism) ist eine zentrale Idee des Transhumanismus. Von einigen Vertretern wird vorgeschlagen, dies mit der Nachbildung der funktionalen Architektur menschlicher Gehirne und ihrer Implementierung auf einem Rechner zu verbinden. Ziel ist, einen vom biologischen Substrat unabhängigen Geist, d. h. ein Geist, dessen Funktionen sich auf verschiedenen Rechnern implementieren lassen, zu kreieren. Heinrich Watzka geht in seinem Beitrag den metaphysischen Problemen solcher Technologien nach: Silizium-basierte Transhumanisten bewegen sich eigentlich in den Bahnen von Descartes’ dualistischer Metaphysik, wenn sie die menschliche Person mit dem Geist identifizieren, diesen streng funktionalistisch deuten und die phänomenalen und biologischen Aspekte der Verkörperung als unwesentlich betrachten. Damit handeln sie sich genau diejenigen skeptischen Szenarien ein (z. B. Gehirneim-Tank), mit denen sich die analytische Metaphysik und Philosophie des Geistes bis heute herumschlägt. Die jüngsten Erfolge der KI-Forschung (deep networks, deep learning) nähren die Hoffnung, dass in nicht allzu langer Zeit der menschliche Geist durch übermenschliche Fähigkeiten beträchtlich erweitert und transformiert werden kann. Peter Jedlicka thematisiert in seinem Beitrag die neuesten Fortschritte, aber auch die aktualen Grenzen von Computermodellen des menschlichen Gehirns. Gibt es prinzipiell unüberschreitbare Grenzen? Kann der menschliche Geist mit Hilfe eines Computermodells vollständig simuliert werden? Ist menschliches Bewusstsein erzeugbar und erweiterbar? Jedlicka bespricht drei klassische Argumente gegen die Möglichkeit, das Bewusstsein mit Hilfe eines Computermodells vollständig zu beschreiben. Selbstreflexion und Semantik weisen darauf hin, dass das menschliche Gehirn eine qualitativ neue, nicht-reduzierbare Ebene kognitiver Komplexität erreicht hat. Christoph Hubig geht in seinem Beitrag von dem Problem aus, dass die gegenwärtigen Debatten um den Transhumanismus meist in einer „schlecht abstrakten“ Weise geführt werden: Es fehlt eine präzise Bestimmung des Verhältnisses zwischen programmatischen Titelwörtern einerseits und markanten Beispielen andererseits. Es bleibt unklar, was die Kriterien der Verallgemeinerung, die Relevanz spezifischer Beispielfälle und überhaupt die Binnenstruktur eines Vorgehens ist, in dem technische und natürliche Verfasstheiten sowie intentionale Einstellungen aufeinandertreffen. Um diesem Mangel an Konkretion

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abzuhelfen, rekurriert Hubig auf Max Webers Begriff eines „Idealtypus“ und untersucht vier Idealtypen einer Interaktion zwischen Mensch und technischem System (klassische Systemtechnik, Hybridisierung der Handlungsträgerschaft, Delegation an autonome Systeme, „transhumanistische“ Systemtechnik). Nicht nur die Grenzen dieser Systeme werden herausgearbeitet, sondern auch die Grenzen unserer Erkenntnis hinsichtlich der Interaktion mit diesen Systemen: Diese Grenzen erlauben es uns nicht, die Rechtfertigung unserer Wissensansprüche einer externen Instanz, etwa der Evolution oder der Natur, zu überantworten. Hubig schlägt vor, die Begriffe „Natur“, „Technik“ und „Kultur“ nicht substanzontologisch zu verstehen, sondern als Reflexionsbegriffe, d. h. als Namen für Strategien, mit denen wir uns zu bestimmten Bereichen in ein Verhältnis setzen. Für den Transhumanismus ist die auf eigener Entscheidung beruhende Selbstverbesserung des Menschen mithilfe gentechnischer Maßnahmen moralisch legitim, da sie die Wahrscheinlichkeit eines guten Lebens erhöht. Edeltraud Koller prüft in ihrem Beitrag die Argumente des Transhumanismus für eine liberale Eugenik und geht auf das transhumanistische Konzept menschlicher Verbesserung ein: Auch wenn der Transhumanismus betont, dass die genetische Verbesserung in der Hand des Einzelnen liegt, so geht es letztlich nicht um das Individuum, sondern um die Verbesserung und Transformation der menschlichen Spezies überhaupt. Basis des transhumanistischen Denkens ist, so Koller, die klassische Auffassung von Eugenik als Verbesserung des menschlichen Genpools. Eine klassisch eugenische Maßnahme ist die PID und die mit ihr verbundene Embryonenselektion, die vom Transhumanismus als moralisch legitim erachtet wird. Was die transhumanistischen Konzepte des guten Lebens als Ziel der Verbesserungen betrifft, so werden soziale und kulturelle Zusammenhänge zu wenig berücksichtigt sowie das persönliche Wachsen durch den Umgang mit Grenzen und Kontingenzen ausgeblendet. Schließlich dominiert eine einseitige Fokussierung auf die genetische Ausstattung des Menschen. Es spricht, so Koller, vieles dafür, dass die Achtung der nicht an Bedingungen geknüpften Menschenwürde ein gutes Leben wahrscheinlicher macht als Selektionen und genetische Eingriffe, die über die Therapie schwerster Erkrankungen hinausgehen. Transhumanisten sehen die menschliche Natur als (defizitäres) Material an und lehnen einen gehaltvollen Begriff ab, aus dem sich inhaltliche Anhaltspunkte für die Frage nach dem gelungenen Leben gewinnen lassen. Zudem bleibt die Frage, was wir eigentlich für eine Art von Leben führen wollen, unterbelichtet. Stephan Herzberg entwirft in seinem Beitrag in einem ersten Schritt eine positive Lesart der Rede von einer menschlichen Natur. Dem klassischen, aristotelischen Begriff der menschlichen Natur liegt kein starrer Essentialismus zugrunde, wie vielfach angenommen wird, vielmehr ist jener durchaus flexibel und plastisch, um

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auch technische oder kulturelle Transformationen denken zu können. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, dass die Grenzen der menschlichen Lebensform gerade kein Hindernis für das gute Leben darstellen, wie der Transhumanismus annimmt, sondern zu seinen Ermöglichungsbedingungen gehören: Sich als Autor des eigenen Lebens zu erleben, im Umgang mit Grenzen und Kontingenzen zu wachsen und dabei spezielle Tugenden auszubilden – all diese Formen von Tätigkeit, in denen man sich als Mensch mit der Realität auseinandersetzt, sind für ein gutes menschliches Leben unverzichtbar. Nur so eröffnet sich dem Menschen ein Zugang zu dem, was man als „Tiefe des Lebens“ bezeichnen kann. Der Transhumanismus stellt den Menschen in all seinen Facetten zur Disposition. Miriam Ommeln rückt in ihrem Beitrag das Kunstwerk und die Schönheit überhaupt, und zwar in ihrem plötzlichen Erscheinen, Offenbarwerden und ihrer Macht, einen entwicklungsoffenen Neubeginn zu setzen, in den Mittelpunkt. Im Kontrast dazu zeigt sich die Einfältigkeit und Einseitigkeit transhumanistischer Positionen. Anhand von drei literarischen Texten (Stefan Zweigs „Schachnovelle“, Heinrich von Kleists „Marionettentheater“, Christoph Martin Wielands „Der Prozess um des Esels Schatten“) zeigt Ommeln die starke und subtile Ausdruckskraft literarischer Kunstwerke auf, durch die ein bleibender und tiefer Einblick in das menschliche Wesen, mit seinen Widersprüchlichkeiten und seiner unauslotbaren Tiefe, gelingen kann. Das ästhetische Denken zeigt sich als ein zwar eigenständiger, aber schwer fassbarer Erkenntnisweg, der gewichtige Berührungspunkt zu anderen Bereichen aufweist. Kunst und Technik verhalten sich komplementär zueinander; der eine Bereich kann dem anderen seinen Verfallszustand aufzeigen wie auch seine Optimierungsmöglichkeiten. Im Zentrum des Beitrags von Johannes Hoff steht das Dreieck von Biologie, Technik und Kultur. Diese drei Pole lassen sich voneinander unterscheiden, nicht aber trennen: Ausgehend von der evolutionsgeschichtlichen Einsicht, dass die Erfindung von Werkzeugen keine Konsequenz der biologischen Evolution des menschlichen Gehirns war, vielmehr die Evolution des Gehirns das Produkt der Erfindung von Artefakten, deren Gebrauch immer mit der Kultivierung von Formen sozialer Kooperation einherging, macht Hoff auf das Eigenleben technischer Artefakte aufmerksam. Artefakte funktionieren wie Prothesen, die die Reichweite unserer natürlichen Organe erweitern und damit unseren Blick auf die Welt verändern. Sie lassen Wünsche und Motive in uns aufkommen, die sich weder aus biologischen Instinktprogrammen noch aus autonomen Willensentscheidungen ableiten lassen. Sie tendieren dazu, mit unserem Leib eine Fusion einzugehen. Die digitale Revolution stellt uns das nicht-kontrollierbare, magische Eigenleben prosthetischer Artefakte vor Augen. Dafür ist der Transhumanismus blind, der, letztlich in den Bahnen des cartesischen Dualismus, Natur und Technik als isolierte Größen behandelt und ihre leibliche Vermittlung ausblendet. Das eigentli-

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che Problem des Transhumanismus liegt, so Hoff, in seiner laissez-faire Haltung gegenüber dem dritten Pol des Dreiecks von Natur, Technik und Kultur, und der damit verbundenen Verkennung des Verhältnisses zwischen den beiden ersten Polen. Der Transhumanismus lenkt von den eigentlichen Herausforderungen der Gegenwart ab: Neben der Verwüstung der Artenvielfalt ist das die im Zuge der digitalen Revolution bemerkbare Verwüstung geistiger Vielfalt und der damit einhergehende spirituelle Klimawandel. Hoff plädiert für eine Kultivierung von Praktiken, die uns zur Unterscheidung befähigen zwischen den Trugbildern einer narzisstischen Aufmerksamkeitsökonomie und echten Innovationen, die uns einem guten Leben näherbringen.

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1 Zum Anspruch und Selbstverständnis des Transhumanismus: Nur Altes im neuen Gewand?

Johanna Seifert

Self-Enhancement: eine neue Form der Selbstgestaltung? Nietzsche und der Transhumanismus im Vergleich Abstract: Self-Enhancement: A New Form of Self-Formation? Nietzsche and Transhumanism. The following article examines the relationship between Nietzsche’s concept of the Übermensch and its transhumanist adaption within a theory of self-enhancement. While Nietzsche and Transhumanism both start from the same assumption – the crisis of the current image of man and its corresponding self-conception –, they head in different directions. In contrast to the biological understanding of self-formation, which leads transhumanists to an overly literal and therefore misleading Nietzsche interpretation, Nietzsche situates the concept of self-formation within his theory of immoralism. With their undifferentiated naturalistic view transhumanists, however, are not capable of distinguishing life from nature, morality from biology, and education from breeding and therefore misunderstand Nietzsche’s concept of self-formation in terms of a genetic self-augmentation. In this manner, Nietzsche’s concept of self-formation is once again read in the light of a biological interpretation that ignores its ethical meaning. Reading Nietzsche with the attention he deserves, it becomes clear, however, that Nietzsche’s concept of self-formation does neither imply a biological meaning nor does it serve as a foundation for transhumanist thought; rather, it refers to an ethical claim that calls upon the individual to not accept values unquestioningly, but to justify them autonomously and individually.

1 Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms unter Leitung der Human Genome Organization (HugO) im Juni 2000 bildete den bisherigen Höhepunkt einer kontroversen Debatte über Fragen der Biopolitik und Bioethik. Bill Clintons euphorischer Ausruf „Jetzt lernen wir die Sprache, mit der Gott das Leben erschuf“ verdeutlichte zum einen die Brisanz und Emotionalität dieser Entdeckung und zeugte zum anderen von den hiermit verbundenen Hoffnungen. Das Mysterium Mensch schien auf einmal genetisch erklärbar und der Mensch von den Unvorhersehbarkeiten der natürlichen Evolution befreit zu sein. Mit den Erklärungsmodellen der Genetik und Evolutionsbiologie trat ferner die Utopie einer biologischen Mach- und Optimierbarkeit des Menschen zutage. Die natürliche, https://doi.org/10.1515/9783110691047-003

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kontingente Evolution schien einer selbstgesteuerten, künstlichen Evolution zu weichen und der Mensch zum – nicht mehr nur kulturellen, sondern nun auch – biologischen Schöpfer seiner selbst zu werden. Die „2. Evolution“ versprach eine neue, verbesserte Version des Menschen: die „Menschheit 2.0“. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms erfuhr die Debatte um die Fortschritte in den Biowissenschaften, die bis zur Jahrtausendwende hauptsächlich im engeren bio- und medizinethischen Bereich sowie in der Technikfolgenabschätzung geführt wurde, eine Popularisierung und weitete sich zu einer umfassenden gesellschaftlichen Debatte über die Möglichkeiten einer technischen „Verbesserung“ des Menschen, dem sogenannten „Human Enhancement“ aus (vgl. Metzger 2001; Coenen/Gammel/Heil/Woyke 2010, S. 9, 11). Fragen nach der technischen Optimierbarkeit des Menschen bestimmten von nun an nicht mehr nur die Feuilletons führender Zeitungen, sondern beschäftigten zunehmend auch die Politikberatung, Militärforschung und nicht zuletzt den Ethikrat. Die sich hieran anschließende akademische Debatte situierte sich indessen v. a. im Bereich der angewandten Ethik und Bioethik, wobei vorrangig die ethischen Implikationen des biotechnologischen Fortschritts diskutiert wurden. So etwa warf die Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik die biopolitische Frage nach dem Wert des Lebens und dem damit einhergehenden Recht auf Leben auf, während im Kontext der Keimbahntherapie – der künstlichen Veränderung des menschlichen Erbguts – die Bedeutung der Gattungsidentität und -konstanz diskutiert wurde, insofern man befürchtete, dass der Eingriff in Keimbahnzellen intergenerationelle Folgen haben und so die menschliche Gattungsidentität gefährden könnte (hierzu exemplarisch Habermas 2001, insbes. S. 38). Die Rede vom „engineered child“ bzw. den „Designer-Babys“ wiederum verwies auf die Frage nach dem Recht auf Selbstbestimmung, während die gentechnologische Möglichkeit der Hybrid- und Chimärenbildung im Sinne der Rekombination des Erbguts menschlicher und tierischer Organismen als die vielleicht dramatischste Gefährdung des „menschlichen Wesens“ erschien. In allen Fällen stand dabei das Problem der Unterscheidung von Therapie und Optimierung im Zentrum der Diskussion. Eine entscheidende Frage war somit, bis zu welchem Grad die technische „Verbesserung“ des Menschen legitim und ethisch vertretbar sei (man denke z. B. an Herzschrittmacher, Prothesen im Allgemeinen oder auch den Gehstock) und ab wann dem technischen Eingriff in den menschlichen Körper Grenzen gezogen werden sollten. Während bioethische Positionen in diesem Kontext häufig technikkritisch argumentieren, lässt sich auf der anderen Seite ihr genaues Gegenteil ausmachen: eine vermeintlich post-anthropozentrische, naturalistische und technophile Bejahung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die diesen als die endgültige Befreiung des Menschen von seinen biologisch-körperlichen Zwängen feiert.

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Im Kontext dieses „neuen Naturalismus“ (vgl. Kleeberg/Walter 2001; Metzger 2001; Quitterer/Runggaldier 1999) werden die Ansätze der geisteswissenschaftlichen Anthropologie für obsolet erklärt und durch Erklärungsmodelle der Genetik und Evolutionsbiologie ersetzt, die mit dem Anspruch auftreten, die einzig gültige Erklärung über das „Was“ des Menschen und das „Wie“ seiner Entstehung liefern zu können. In diesem Zusammenhang erfährt sodann auch das Paradigma der Selbstgestaltung und Selbstverbesserung eine grundlegende Veränderung: Fern seiner ursprünglichen intellektuellen und ethischen Bedeutung wird Selbstgestaltung zu einem biologischen Unternehmen, in dessen Rahmen der Mensch – durch Eingriffe in die menschliche Keimbahn, Implantierung von Computerchips und Nanorobotern in den Körper und das Gehirn und die Einnahme von smartdrugs – „vervollkommnet“ werden soll. Während der (bio)technologische Fortschritt somit auf der einen Seite affirmiert und in Form entsprechender Programmatiken theoretisch perpetuiert wird, erblickt man in ihm auf der anderen Seite eine „Gefährdung“ der „menschlichen Natur“, die es soweit wie möglich zu unterbinden gilt. Damit gleicht die Human-Enhancement-Debatte einem erbitterten Streit um die Stellung des Menschen – einem Streit zwischen technikkritischen Humanisten und technophilen Transhumanisten. Die einen – Bewahrer der „menschlichen Natur“, die anderen – Verfechter der Überwindung des Menschen und Propheten eines posthumanen Zeitalters.

2 Die Rede von der Überwindung des Menschen und des Humanismus ist dabei jedoch älter, als diese Debatten es zunächst vermuten lassen. So verwendete bereits der ägyptische Kulturtheoretiker Ihab Hassan in seinem Aufsatz Prometheus as performer: Toward a postmodern culture? (1977) den Begriff des Posthumanismus. Hier schreibt Hassan: „[…] Five hundred years of humanism may be coming to an end, as humanism transforms itself into something that we must helplessly call posthumanism“ (Hassan 1977, S. 843). Während die gedanklichen Anfänge des Transhumanismus in den 1970er bzw. späten 1950er Jahren liegen,¹ gewann der Transhumanismus jedoch erst Ende der 1990er Jahre im Rahmen seiner Institutionalisierung zur „World Transhumanist Association“ an Popularität. Die Selbstbezeichnung „Transhumanismus“ geht dabei auf den iranisch So schrieb bereits Julian Huxley in seinem 1957 erschienenen Essay „Transhumanism“: „The human species can, if it wishes, transcend itself – […] in its entirety, as humanity.We need a name for this new belief. Perhaps transhumanism will serve: man remaining man, but transcending himself, by realizing new possibilities of and for his human nature.“ (Huxley 1957, S. 17)

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amerikanischen Futuristen Fereidoun Esfandiary zurück, der neben dem Kryoniker Robert Ettinger und dem Psychologen Abraham Maslow zu den Gründerfiguren der transhumanistischen Bewegung gezählt wird und der die Figur des „transhuman“ folgendermaßen definierte: „a transhuman is a ‚transitional human‘, someone who by virtue of their technology usage, cultural values, and lifestyle constitutes an evolutionary link to the coming era of posthumanity“ (zitiert nach Sorgner 2009, S. 6). Dem Transhumanismus zufolge ist der Mensch somit nichts anderes als ein antiquiertes Relikt einer vergangenen Zeit. Die Zeit des Menschen scheint verstrichen, die Geschichte den Menschen hinter sich gelassen zu haben: „Die Zeit wird Herr: der Greis hier liegt im Sand! / die Uhr steht still – “ (Goethe 2001,V. 11592), jedoch nur für einen Moment, bevor der Zeiger der Geschichte seinen Gang von Neuem fortsetzt und die Ära des posthumanen Zeitalters einläutet.² Menschsein erscheint als eine inadäquate Form der Existenzweise, insofern sich die conditio humana durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt bereits so grundlegend verändert habe, dass für den Menschen kein Raum mehr bleibe – so die Transhumanisten. Um den eigenen technischen Erzeugnissen standhalten zu können, müsse sich der Mensch daher in Zukunft soweit optimieren (self-enhancement), dass er sein defizitäres Menschsein, sprich seine mangelhafte biologische Konstitution, überwindet. Überwindung und Optimierung bilden hier ein eng miteinander verbundenes Begriffspaar und zugleich das Moment, in dem sich der Transhumanismus von dem ihm verwandten Posthumanismus unterscheidet. Während Posthumanisten wie Hans Moravec, Frank Tipler, Marvin Minsky oder Raymond Kurzweil die Überwindung des Menschen fordern und ein Zeitalter nach dem Menschen anvisieren, fokussiert der Transhumanismus die Optimierung des Menschen und den Übergang vom Menschen zum Posthumanen. In diesem Sinn reaktualisierte

 Sowohl bei Nietzsche als auch bei Goethe findet sich das Bild der Uhr in Analogie zum „Tod des Menschen“. Die Stunde 0 steht in beiden Fällen für das Ende einer Weltperiode resp. das Ende des Menschen. Während Nietzsche das Uhrwerk mit dem Gang der Geschichte in Verbindung bringt und mutmaßt: „Wissen wir doch kaum, ob die Menschheit selbst nur eine Stunde, eine Periode im Allgemeinen, im Werdenden ist […]“ und sich fragt: „Hat dies ewige Werden nie ein Ende?“, haucht Faust Schlag Mitternacht sein Leben aus, wozu Mephistopheles bemerkt: „Was soll uns denn das ewge Schaffen? / Geschaffenes zu Nichts hinwegzuraffen?“ (V. 11598 – 11599) und anfügt: „Es ist so gut als, als wär es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre!“ (V. 11601– 11602). Das Bild vom Lauf des Zeigers über das Ziffernblatt der „großen Uhr“ Geschichte verweist dabei in beiden Fällen auf eine zyklische Zeitvorstellung. So wie der Zeiger bei Nietzsche nach dem Ablauf einer Weltperiode seinen Gang von Neuem fortsetzt, d. h. Geschichte als ein ewiger Prozess des Werdens vorgestellt wird, überdauert auch bei Goethe das „ewge Schaffen“ – die „ewig-rege[…], / heilsam-schaffende[…] Gewalt“ – den Tod des Menschen (V. 1379 – 1380).

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der Transhumanist Max More in den 1990er Jahren die Definition des Transhumanismus, indem er ihn – in Opposition zu dem aus der Thermodynamik stammenden Begriff der „Entropie“³ – als eine Philosophie des „Extropianismus“ beschrieb und in Verbindung zur Tätigkeit des „self-enhancement“ setzte (More 1990). Nick Bostrom schließt hier an, wenn er „transhumans“ als „transitional beings, or moderately enhanced humans […]“ beschreibt, die sich von den ihnen verwandten „posthumans“ lediglich durch ihren Grad der Optimierung unterscheiden (Bostrom 2005b). Post- und Transhumanisten unterscheiden sich folglich in ihren Zielsetzungen (Überwindung vs. Optimierung), stimmen jedoch zugleich in entscheidenden Punkten überein: Beide streben sie die Steigerung der Intelligenz, die Verlängerung der Lebensdauer (bis hin zur Überwindung der Sterblichkeit), die Aufhebung von Alterungsprozessen, die Eliminierung von Erbkrankheiten sowie die Befreiung von der Notwendigkeit des Gebärens, kurzum die Ausschaltung jeglicher Kontingenz an. Dabei setzen sie auf hochtechnologische Verfahren wie die Kryonik, smart-drugs, Brain-Computer-Interfaces und natürlich das „mind-uploading“. Sieht man jedoch einmal von der technologischen Ausrichtung dieser Bestrebungen ab, so muss eingestanden werden, dass hier uralte Menschheitsträume geträumt werden, strebten Menschen doch immer schon nach Vollkommenheit und Gottähnlichkeit – man denke nur an Nietzsche („Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein!“) oder Luther („Kein Mensch kann von Natur aus wollen, dass Gott Gott sei; vielmehr wollte er [wenn er nur könnte!], dass er selbst Gott sei und Gott nicht Gott.“) (zitiert nach Bayer 2001, S. 39). Neu ist jedoch, dass diese Utopien nun den Bereich des Imaginären zu verlassen und zu einer technisch realisierbaren Möglichkeit zu werden scheinen; was zur Folge hat, dass sich transhumanistische Vollkommenheitsphantasien auch nicht mehr mit dem Wunsch nach Gottähnlichkeit begnügen wollen: „We humans do not want to play god or to be god. We aspire to much more.“ (Esfandiary 1973, zitiert nach Krüger 2004, S. 136) Dieses „Mehr“ – das sich der Transhumanist Max More sogar namentlich zu eigen machte – besteht sodann in der technischen Optimierung des menschlichen Körpers, d. h. im „self-enhancement“. Allein auf diesem Wege, so der Glaube von Transhumanisten, könne der Mensch gegenüber seinen zunehmend komplexer werdenden technischen Erzeugnissen bestehen und sich zu einer höheren Version seiner selbst erheben. Dieser Optimierungsgedanke ist indessen insofern zutiefst ambivalent, als er zum einen nahtlos an die alte humanistische Tradition der Selbstverbesserung und Selbstgestaltung anschließt und zum anderen mit dieser durch seine biologisti-

 Der Begriff der „Entropie“ verweist auf das Abfallen aller Energiedifferenzen und bedeutet im kosmischen Kontext den angenommenen Wärmetod des Universums.

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sche und technizistische Ausrichtung bricht. Denn Gegenstand der Verbesserung ist nun nicht mehr der ganze Mensch, sondern lediglich der Mensch in seiner biologischen und organischen Verfasstheit.

3 In seinem Essay „Nietzsche, the Overhuman, and Transhumanism“ (Sorgner 2009) behauptet der Transhumanist Stefan Lorenz Sorgner eine strukturelle Analogie zwischen Nietzsches Philosophie und den transhumanistischen Zielsetzungen und geht von einer semantischen Verwandtschaft zwischen der Figur des „posthuman“ (mit ihrer Programmatik der „self-enhancement“) und Nietzsches Begriff des Übermenschen (mit seinem Gedanken der Selbstüberwindung) aus. Dieser Artikel, in dem sich Sorgner auf Bostrom bezieht, der seinerseits nur eine oberflächliche Ähnlichkeit der nietzscheanischen und transhumanistischen Philosophie annimmt (Bostrom 2005a), regte eine Debatte unter Nietzsche-Forschern und Transhumanisten an, in der die Bedeutung von Nietzsches Philosophie für die transhumanistische Denkrichtung verhandelt wurde.⁴ Ähnlich wie Sorgner geht so auch Max More von einer semantischen Analogie der Figur des Posthumanen und des Übermenschen aus. More schreibt: „That [the nietzschean, J.S.] thinking led to my introduction of the term ‘transhumanism’ […] and to my original transhumanist statement ‘The Extropian Principles’“, da: „one of the core transhumanist principles of extropy has been that of Self-Transformation“ (More 2010, S. 2). Mit Bezug auf Nietzsches Zarathustra spricht More dann auch von einer „extropic challenge“, wenn dieser fordert: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Das Gebot der Selbstüberwindung, das Nietzsche an zentraler Stelle in Also sprach Zarathustra entwickelt, wird von More und Sorgner sodann im Sinne des „self-enhancement“ ausgelegt und damit in ein Verhältnis zur technischen resp. genetischen Optimierung des Menschen gebracht. Dass Nietzsche selbst in seinen Schriften an so gut wie keiner Stelle von technischen Verfahren und Instrumenten spricht, bekümmert die Transhumanisten dabei wenig. Ungeachtet der Polyvalenzen in Nietzsches Werk lesen sie Nietzsches Schriften im Licht einer uneingeschränkten Wissenschaftsbefürwortung, aus der sie eine – wenn auch nicht explizite, so doch implizite – Technik-Bejahung ableiten (More 2010, S. 2; Sorgner 2009, S. 7). Allerdings erfahren Nietzsches einzelne Theoremen dabei eine unterschiedliche Bewertung.

 Nachzulesen in: Journal of Evolution and Technology,Vol. XX, Issue I, Fall 2009; Vol. XXI, Issue I & II, Fall 2010 sowie in: The Agonist. A Nietzsche Circle Journal, Vol. IV, Issue II, Fall 2011.

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Während sich Transhumanisten fast einhellig auf den Begriff des Übermenschen und das damit verbundene Programm einer „Umwerthung der Werthe“ beziehen, gehen die Meinungen hinsichtlich der Bedeutung des „Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ auseinander. Während etwa Paul Loeb den wissenschaftlichen Charakter der „ewigen Wiederkehr“ und seine Bedeutung für die transhumanistische Philosophie herausstellt, verwirft More den „Gedanken der ewigen Wiederkehr“ mit der Begründung, dass dieser – im Gegensatz zum Konzept des Übermenschen – aufgrund seines metaphysischen Gehalts mit dem transhumanistischen Fortschrittsgedanken unvereinbar wäre (More 2010, S. 1). Sorgner wiederum erklärt die in der Nietzscheforschung kontrovers diskutierte „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ kurzerhand zu einer „naturwissenschaftlichen Hypothese“ und unterstellt dabei zugleich auch dem „Willen zur Macht“ einen verborgenen Naturalismus. Ähnlich divergent sind dann auch die Einschätzungen hinsichtlich der Idee des Übermenschen. Während Michael Hauskeller eine individualistische Lesart verfolgt und den Übermenschen mit dem singulären „Ausnahme-Menschen“ in Verbindung bringt, vertreten Sorgner und Loeb eine speziezistische und biologistische Deutung, indem sie den Übermenschen als eine zukünftige Gattung und neue Spezies beschreiben (Loeb 2011, S. 5; Sorgner 2010, S, 226). Dabei bezieht sich vor allem Sorgner auf Nietzsches sogenanntes Züchtungs-Vokabular, das ihn dazu veranlasst, Nietzsches Gedanken der Selbstüberwindung mit dem transhumanistischen Programm einer genetischen Selbstoptimierung in Verbindung zu bringen. Besonders deutlich tritt die biologistische Tendenz der transhumanistischen Nietzsche-Interpretation dann dort zutage, wo der Gedanke der Selbstverbesserung in den Kontext einer „autonomen Eugenik“ rückt (Sorgner 2009, S. 6 – 7; Sorgner 2010, S. 259 – 260).⁵ Ausgehend von der begrifflichen Nivellierung von „Erziehung“ und „Züchtung“ definiert Sorgner „self-enhancement“ hier in Anlehnung an Nietzsche als eine individuelle und selbstbestimmte Form der genetischen Selbstaugmentierung, wobei ihm jedoch entgeht, dass Nietzsche, wenn er auf gewohnt provokante Weise vom „Zuchtmeister“ der alten Moral, der „Züchtung des Übermenschen“ oder der „Selbstzüchtigung“ spricht, dies nicht in einem buchstäblich biologischen Sinn meint, sondern hierbei die moralisch-kulturelle Formung und Bildung des Menschen im Blick hat.⁶

 Im Gegensatz zur „liberalen Eugenik“, die Sorgner – neben den „state regulated eugenics“ – zum „heteronomous type of eugenics“ zählt, zeichnet sich eine „autonome Eugenik“ dadurch aus, dass die Entscheidung über Erbgutveränderungen nicht bei Anderen (etwa dem Staat oder den Eltern) liegt, sondern individuell getroffen wird.  Ein Blick auf die Geschichte des Züchtungsbegriffs zeigt, dass dieser im 19. Jahrhundert noch nicht eindeutig zum biologischen Vokabular gehörte. Während sich der Begriff der Züchtung

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4 Vergleichbar mit Peter Sloterdijks Ausspruch, dass die bisherige „Schule der Menschenzüchtung“ (Sloterdijk 1999, 31– 32) „keine Schüler mehr“ findet und der Humanismus als Domestikationsform gescheitert sei, geht auch Nietzsches Denken von der Einsicht aus, dass der bisherige „Zuchtmeister“ – man nenne ihn Gott, Monotheismus, Christentum, die sokratisch-jüdisch-christliche Moral oder auch das asketische Ideal – seinen Dienst quittiert habe. Sowohl der Transhumanismus wie auch Nietzsche nehmen damit ihren Ausgang von der Zerrüttung eines bisher geltenden Menschenbildes und dem sich damit stellenden Problem einer anthropologischen Neubestimmung. Sind es im Fall des Transhumanismus die rasanten Entwicklungen im Bereich der Bio-, Nano-, Informations- und Kognitionswissenschaften, die den Begriff des Menschen zur Disposition stellen, so ist es bei Nietzsche der „Tod Gottes“, der einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Menschenbild zur Folge hat und eine neue Zeit des Experimentierens und Gestaltens einläutet: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ (Nietzsche 1999a/KSA 4, S. 14) Dieser Satz, der u. a. dafür verantwortlich ist, dass manches „gelehrtes Hornvieh“ Nietzsche schon zu Lebzeiten „eines Darwinismus verdächtigt[e]“ und ihm einen Progressismus und Biologismus nachsagte (Nietzsche 1999e/KSA 6, S. 300), verdeutlicht zum einen die enge Verwandtschaft zwischen dem Begriff des Übermenschen und dem Gedanken der Selbstüberwindung und verweist zum anderen auf eine für Nietzsche zentrale anthropologische Bestimmung: die Bestimmung des Menschen zur Selbstüberwindung. In der kryptischen Beschreibung des Menschen als „etwas, das überwunden werden soll“ verbergen sich indes zwei entscheidende anthropologische Prämissen. Zum einen die Annahme

heutzutage fast nur noch im Sinne einer durch genetische Eingriffe vorangetriebenen Weiterentwicklung definieren lässt, besaß er im 19. Jahrhundert im Kontext des Lamarckismus und der Annahme der Vererbung erworbener und erlernter Eigenschaften noch eine gewisse Mehrdeutigkeit und konnte sowohl als kulturelle Erziehung als auch im Sinne der biologischen Züchtung verstanden werden. Laut Petra Gehring werden die Begriffe „Züchtung“ und „Bildung“ erst seit Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ (1919) kategorial voneinander unterschieden (vgl. Gehring 2005, Sp. 1398; Brobjer 2000, S. 360). Dass Nietzsche den Begriff der Züchtung jedoch primär im Sinn der moralischen Bildung und Formung des Menschen verwendet, belegen seine Texte zur Genüge. Zur Veranschaulichung seien folgende Beispiele genannt: Nietzsche nennt seinen „Erzieher“ Schopenhauer einen „Zuchtmeister“, der Gedanke der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ wird als ein „züchtender, erziehender Gedanke“ bezeichnet, Religionen und Moralen wird eine „züchtende“ Funktion zugeschrieben (vgl. u. a. Nietzsche 1999b/KSA 5, S. 5, 79 – 80).

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einer grundlegenden menschlichen Unbestimmtheit – Nietzsche bestimmt den Menschen als das „noch nicht festgestellte Thier“ – und zum anderen der hieraus resultierende Anspruch zur Selbstbestimmung.⁷ Damit besitzt der Gedanke der Selbstüberwindung nicht zuletzt eine ästhetische Dimension, rückt er damit doch in den Kontext der künstlerisch-ästhetischen Selbstgestaltung, die sich darüber hinaus durch eine paradoxale Doppeldeutigkeit auszeichnet. Denn als das „noch nicht festgestellte“ Wesen, das sich Bestimmung, Form und Gestalt selbst zu verleihen hat, vereint der Mensch in sich zwei widerstrebende Momente: Er ist sowohl das rohe Material, das es zu gestalten und zu formen gilt als auch derjenige, der den Hammer gegen sich selbst erhebt und das „Geschöpf“ in sich bearbeitet, bis vom Steine die Stücke stäuben und das Bild, das in ihm schlief, zu Tage tritt (Nietzsche 1999b/KSA 5, S. 161; Nietzsche 1999a/KSA 4, S. 349). Insofern also der Mensch mit den „Hammerschläge[n]“ der „Künstler-Gewaltsamkeit“ (Nietzsche 1999c/KSA 5, S. 325) das „Bild der Bilder“ aus dem Stein, der er selbst ist, befreit, wird das Selbst des Menschen im Akt der Selbstgestaltung überhaupt erst konstituiert. Nietzsches Mensch ist somit keine unveränderliche, ahistorische und mit sich selbst identische Entität, sondern erweist sich als eine wandelbare Form, deren Gestalt Resultat der Lebenskunst (ars vivendi), der Erfahrung und des Selbst-Versuchs ist (Nietzsche 1999b/KSA 5, S. 49; auch Schmid 1992, S. 54). Nietzsches Imperative der Selbstüberwindung und Selbstgestaltung müssen somit im Kontext ihrer Zeit gelesen werden; sie sind Folge vom „Tod Gottes“ und der damit verbundenen Krise der abendländisch-christlichen Tradition – ein Ereignis, mit dem sich für Nietzsche indes eine großartige Idee verbindet: Nicht länger, so die Hoffnung, muss der Mensch einem „fremden Willen“ und einer „unpersönlichen“, d. h. dem eigenen Selbst widerstrebenden, Moral folgen, steht es ihm doch nun frei, zum Gestalter seiner selbst zu werden und den eigenen Willen als das einzig geltende Gesetz anzuerkennen. Der „Tod Gottes“ verheißt somit die Befreiung vom „Joch“ der alten Werte und eine Befreiung hin zu einer persönlichen und individuellen Moral. Dass dieser Übergang jedoch nicht ohne weiteres möglich ist, sondern eine grundlegende und nicht zuletzt schmerzhafte Transformation bedeutet, ist leicht vorstellbar. Um nämlich aus dem Zustand der

 Sorgner begnügt sich hingegen in seiner Nietzsche-Interpretation damit, den Menschen als „das noch nicht festgestellte Tier“ zu bezeichnen, wodurch er sich berechtigt fühlt, in Folge nur noch vom Menschen als dem kranken Tier (ohne Anführungszeichen) zu sprechen. Er übersieht dabei – willentlich? – den normativen Anspruch, der aus dieser Bestimmung folgt. Dies ignorierend erfasst er auch nicht, dass gerade die Unbestimmtheit des Menschen und die damit einhergehende Aufgabe zur Selbstbestimmung als Grund der Menschenwürde angesehen werden muss. Sein Vorhaben, mithilfe von Nietzsche den Begriff der Menschenwürde zu dekonstruieren, erweist sich damit als unrealisierbar und verfehlt (vgl. Sorgner 2010).

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Fremdbestimmtheit herauszutreten, muss der Mensch zunächst „untergehen“ und sich in seiner „eignen Flamme“ verzehren wollen, anderenfalls ließe sich fragen: „wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!“ (Nietzsche 1999a/KSA 4, S. 82) Diese Art der Transformation ist vorrangig eine des Willens: Der bisherige menschliche Wille hat sich aus seiner lebensnegierenden und reaktiven Struktur hin zu einer aktiven Bejahung des Lebens und zur „Lust am Werden“ zu befreien, insofern nur der Mensch eines derart starken und lebensbejahenden Willens befähigt ist, das „asketische Ideal“ hinter sich zu lassen und eine „Umwerthung der Werthe“ zu vollziehen. Willensstärke und Lebensbejahung sind somit die entscheidenden Voraussetzungen für die individuelle Moral des Übermenschen. Nur wer diese Attribute besitzt, ist letztlich stark genug, sein eigenes Gesetz zu formulieren, neue Werte und Tugenden zu erfinden und das Leben als einzig geltendes Prinzip der Wertschätzung anzuerkennen.⁸ Mit einer solchen übermenschlichen „Moral des Selbst“ ist, wie Volker Gerhardt bemerkt, eine Moralvorstellung angesprochen, die das abstrakte Prinzip der Allgemeingültigkeit durch jenes der individuellen Verbindlichkeit ersetzt und für die Nietzsche bekanntermaßen den Begriff des Immoralismus prägte (Gerhardt 1989; Gerhardt 1992; Gerhardt 2011). Dass der Immoralismus – mit dem Nietzsche einen „übersittlichen“ Zustand bezeichnet, in dem sich der „Werth der Werthe“ in sein Gegenteil verkehrt hat und der Nihilismus der bisherigen Moral überwunden ist – aber dennoch normativ zu verstehen ist, belegen Nietzsches Schriften zur Genüge – formuliert Nietzsche im Rahmen seiner „Umwerthung der Werthe“ doch zahlreiche neue Tugenden und betont die Notwendigkeit neuer, d. h. eigener „Wertetafeln“. Die „moralinfreien“ Tugenden des Immoralismus, die Nietzsche jedoch eher mit dem Begriff der „Tüchtigkeit“ (virtú) als mit jenem der „Tugend“ in Verbindung gebracht wissen will, implizieren somit ein neues Verantwortungsgefühl, eine neue „Redlichkeit“ und „Rechtschaffenheit“ sowie ein Gefühl der „Wahrhaftigkeit“ (Nietzsche 1999d/KSA 6, S. 170). Nietzsches Lehre vom Übermenschen und sein Imperativ zur Selbstüberwindung haben damit hauptsächlich zwei Bedeutungen: Zum einen verweisen sie auf das anthropologische Paradigma der Selbstgestaltung und zum anderen situieren sie sich im Bereich einer Moraltheorie, die das Verhältnis von Moral und Leben verkehrt, indem sie das Leben zum allgemeinen Prinzip der Wertschätzung erhebt (vgl. Gerhardt 2011, S. 217– 218).

 Die entscheidende Frage lautet hier: „Kannst du […] deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“ (Nietzsche 1999a/KSA 4, S. 81).

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5 Die Behauptung einer semantischen Verwandtschaft zwischen dem transhumanistischen Programm des self-enhancement und Nietzsches Gedanke der Selbstüberwindung erweist sich damit als haltlos. Denn während sich Nietzsche mit seinem Gedanken der Selbstüberwindung und der Annahme einer wesentlichen Unbestimmtheit des Menschen im Rahmen des klassisch philosophischen Paradigmas der Selbstgestaltung bewegt und die traditionsreiche These von einer grundlegenden Offenheit des Menschen vertritt, negiert der Transhumanismus im Rahmen seiner strikt naturalistischen Ausrichtung genau diese anthropologischen Prämissen. Anstatt eine Offenheit des Menschen anzunehmen, behauptet er seine biologische Determiniertheit. Der Gedanke der Selbstüberwindung und des self-enhancement verweisen demnach auf zwei divergente anthropologische Grundannahmen. Während der Transhumanismus ein biologisch-naturalistisches Verständnis des Menschen vertritt und sein Postulat der „Perfektionierung“ aus den Begrenzungen und Defiziten der biologischen Konstitution des Menschen ableitet, zeichnet sich der Mensch nach Nietzsche durch seinen moralischen, d.i. wertenden und wollenden Charakter aus, demzufolge seine „Optimierung“ nicht biologisch, sondern moralisch zu verstehen ist. Gegenstand der Überwindung ist bei Nietzsche somit kein defizitärerer Körper, sondern ein bestehendes Moralsystem. Nietzsches Übermensch und der „posthuman“ haben somit letztlich nur wenig miteinander gemein: Während sich jener durch einen starken und lebensbejahenden Willen und eine individuelle Moral auszeichnet, stellt dieser in letzter Konsequenz ein anorganisches und immaterielles „information pattern“ dar, das Resultat einer friktionslosen Verschmelzung von Technik und Organismus ist.⁹ In diesen Sinn begeht der Transhumanismus mit seiner Auslegung des Gedankens der Selbstüberwindung im Sinne einer genetischen Selbstaugmentierung einen grundlegenden Denkfehler. Entsprechend der begrifflichen Nivellierung von „Erziehung“ und „Züchtung“ übersieht er die begriffliche Differenz von Leben und Natur und missversteht daher Nietzsches Konzept einer lebensbejahenden Moral als eine „naturalistische Ethik“. Im Zuge dieser Fehlinterpretation sehen sich Transhumanisten – hier vor allem Sorgner – sodann ferner dazu be-

 Nach N. Bostrom ist die Entstehung des Posthumanen an den körperlichen Tod des Menschen gebunden. Erst hiernach kann eine posthumane Unsterblichkeit in Form eines immateriellen „information pattern“ oder ähnlichem erreicht werden. Damit jedoch perpetuiert der Transhumanismus das cartesianische Paradigma des Körper-Seele-Dualismus, welches Nietzsche im Rahmen seiner „Lehre vom Übermenschen“ längst hinter sich gelassen hat.

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rechtigt, den Menschen im Namen Nietzsches zu einem Naturwesen zu erklären, das – im Gegensatz zu dessen Bestimmung des Menschen als einem „anders-seinwollenden“ Lebewesen (Nietzsche 1999b/KSA 5, S. 22) – so und nicht anders ist. Diese biologistische und allzu wortgetreue Nietzsche-Interpretation, die blind für dessen differentielles, synthetisches und polyvalentes Denken ist und eine erneute ideologische Inanspruchnahme des Gedankens vom Übermenschen darstellt, führt so letzten Endes in die Irre. Um nämlich erkennen zu können, dass das „Natürliche“ in Nietzsches Ethik letztlich moralisch zu verstehen ist, muss Leben von Natur, Moral von Biologie und Erziehung von Züchtung unterschieden werden. Mit seiner undifferenzierten und einseitig naturalistischen Perspektive ist der Transhumanismus hierzu jedoch nicht in der Lage und demnach auch nicht dazu befähigt, den Gedanken der Selbstüberwindung in seiner ethisch-praktischen Bedeutung zu erfassen. Dadurch entgeht ihm, dass sich hinter Nietzsches Begriff des Übermenschen weitaus weniger die Vorstellung eines evolutionären Sprungs verbirgt als vielmehr ein ethischer Anspruch, der den Einzelnen dazu auffordert, Wertvorstellungen nicht unhinterfragt zu akzeptieren, sondern individuell aus sich selbst heraus zu begründen. Und so erweist sich die transhumanistische Inanspruchnahme von Nietzsches immoralistischer Ethik im Sinne eines biologischen Züchtungsprogramms als verfehlt. Betont Nietzsche mit seinem Gedanken der Selbstüberwindung doch v. a. das ethische, ästhetische und individuelle Moment von Selbstgestaltung und bietet damit – fern transhumanistischer Optimierungsphantasien – eine theoretische Alternative zu der reduktionistischen Logik neo-naturalistischer Theorieentwürfe.

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Transhumanismus – Trivialität oder Provokation? Abstract: Transhumanism – triviality or provocation? The contribution starts from the question how far the claim of transhumanism to promote the self-transcendence of mankind is a triviality or a provocation. It is a triviality as far as selftranscendence is an essential attribute of mankind over and against other biological species. It is a provocation as far as this self-transcendence is shifted from the traditional means of human progress such as education and training of physical and mental skills to technical and biomedical means directly applied to the human body. In this way, the discussion of human enhancement in biomedical ethics becomes relevant to the appraisal of transhumanism. The central threat of the availability of enhancements beyond merely compensatory ones is seen in the upgrading of standards in competitive contexts and the corresponding risks of discrimination.

1 „Transhumanismus“ – eine Trivialität? Der Transhumanismus sieht sich gern als agent provocateur, als eine provokative Bewegung, die gegen Technikdefaitismus und Technikfeindlichkeit angeht, vor allem wenn sie antiquierten Ideologien entspringen. Sie will den Weg freimachen für eine offene Zukunft (weiterer) Verbesserungen des Menschen, sowohl als Individuum wie als Gattung. Francis Fukuyama, ein Gegenspieler der Bewegung, hat die Idee des Transhumanismus sogar „the world’s most dangerous idea“ genannt (Fukuyama 2004). Dieses Urteil erscheint ebenso plakativ überzogen wie viele Verlautbarungen der Transhumanisten selbst. Ist diese Bewegung wirklich so subversiv, wie sie es erscheinen machen will? Ist sie nicht, wie viele argwöhnen, eine lediglich den Umständen unserer Zeit angepasste Version des Fortschrittsprogramms der französischen Aufklärung, der Positivisten in der Nachfolge Comtes und der Utilitaristen, die sich den „Fortschritt der Menschheit“ von der Überwindung von falschen Vorurteilen und dem Aufblühen von Wissenschaft und Technik erhofften? Der Transhumanismus hat selbst einiges dazu getan, die Provokation, als die er wahrgenommen werden will, unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Ein Teil davon geht auf das Konto seiner Selbstbenennung. Transhumanisten verstehen https://doi.org/10.1515/9783110691047-004

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sich typischerweise als Verkünder und Anreger eines Übergangs des Menschen in ein „posthumanes“ Zeitalter. „Posthuman“ heißt, dass es dann gelungen sein soll, die biologische Natur des Menschen so umzugestalten und zu erweitern, dass viele der gegenwärtig der menschlichen Selbstentfaltung gezogene Grenzen überwunden sind. Nimmt man den Ausdruck „Posthumanität“ beim Wort, besagt er, dass die Menschheit ihre gegenwärtigen Gattungsgrenzen so weit hinter sich gelassen hat, dass sie als neue Gattung, als eine „Nachfolgegattung“ der Gattung Mensch verstanden werden muss. So hat Lee Silver das Bild einer Menschheit entworfen, die das menschliche Genom so weit durchschaut und beherrscht, dass sie darangehen kann, die kognitiven Fähigkeiten ihrer Nachkommen mit gentechnischen Methoden so weitgehend zu verbessern, dass von einer neuen – bewusst gezüchteten – biologischen Spezies („GenRich“) gesprochen werden muss. Ein solches – aus der Science-Fiction-Literatur bekannte – Tableau (vgl. z. B. Butler 1999) begegnet naheliegenden Zweifeln: Wie glaubwürdig ist die Vision einer Weiterzüchtung der Menschheit in eine andere Art? Eine Herausbildung neuer Arten durch „natürliche Zuchtwahl“ ist extrem langwierig. Genetisch befindet sich der heutige Mensch noch weitgehend auf der Entwicklungsstufe des Steinzeitmenschen. Auf der anderen Seite ist eine technische Manipulation der menschlichen Keimbahn hochgradig riskant, auch wenn diese Option gegenwärtig in der Fachdiskussion zunehmend diskutiert wird. Ähnlich wie beim Klonen sind die Risiken von Fehlgriffen bei Interventionen in das übertragbare Genom zumindest auf absehbare Zeit nicht beherrschbar. Auch eine kollektive Eugenik mit der Absicht, die menschliche Gattung über sich hinaus zu steigern, wie es sich Nietzsche in einigen seiner subversivsten Phantasien ausdachte (vgl. Nietzsche 1980/KSA 6, S. 134) wäre kein Ausweg. Sie wäre nur schwer mit den vom Mainstream der Transhumanisten vertretenen liberalen Überzeugungen vereinbar. Darüber hinaus gibt es anthropologische Gründe dagegen, eine wie immer weit vorangetriebene Überwindung der conditio humana aus eigener Kraft als eine echte Überschreitung der Gattungsgrenzen zu verstehen. Ein Wesenszug des Menschen als Gattung ist die Fähigkeit und Bereitschaft zu fortwährender Selbstmodifikation, insbesondere mit kulturellen Mitteln. Bereits in Pico de la Mirandolas berühmter Rede über die Würde des Menschen von 1496 wird festgestellt, dass der Mensch nicht von Natur aus auf eine bestimmte Lebensform festgelegt ist, sondern seine spezifische Lebensform darin bestehe, über seine Lebensform selbst entscheiden zu können. Der Mensch sei „ein Geschöpf von unbestimmter Gestalt“, ermächtigt (aber auch verurteilt) zur Selbsterfindung und Selbstgestaltung (Pico della Mirandola 1990, S. 7). Nun wirken sich die kulturellen Faktoren der fortwährenden Selbstmodifikation primär auf die Ontogenese aus,

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darauf, wie das biologische Substrat des Menschen in einer konkreten Lebensgeschichte gestaltet, umgestaltet, entwickelt und differenziert wird. Aber teilweise wirken sich diese Faktoren auch auf die Phylogenese aus, z. B. durch kulturelle Regulatoren des Fortpflanzungsverhaltens wie Heiratsbeschränkungen (z. B. Verbote von Inzest und Endogamie) und der Förderung oder Vereitlung von Geburten. Die genetische Zusammensetzung jeder Generation ist u. a. auch das Resultat kultureller Faktoren. Wenn der Mensch – mit Arnold Gehlen – von Natur aus ein Kulturwesen ist, dann besteht die Natur des Menschen im umfassenden Sinn auch darin, seine biologische Natur fortwährend zu verändern. Die Chance, diese Natur direkter und gezielter mit technologischen Mitteln zu verändern, als es ihm in der bisherigen Geschichte der Menschheit möglich war, bedeutet insofern keinen radikalen Bruch mit der uns vertrauten menschlichen Natur, sondern verstärkt lediglich eine in dieser angelegten Tendenz. Eine Menschheit, die aus einer mit den Mitteln künftiger Wissenschaft und Technik modifizierten menschlichen Natur hervorgeht, würde insofern zumindest einen der zentralen Wesenszüge der menschlichen Gattung eher bestätigen als hinter sich lassen. Sie würde den „prometheischen“ Zug des Menschen bekräftigen (möglicherweise unter Vernachlässigung des „epimetheischen“ der Reflexion und weisen Selbstbeschränkung), aber sie würde die Grenzen des spezifisch Menschlichen ebenso wenig überschreiten wie Nietzsches Vision des Übermenschen. Ist „Trans“- oder „Post“-Humanismus demnach mehr oder weniger ein Papiertiger – ebenso wie die auf der Gegenseite gepflegte alarmistische Redeweise von einer zu erwartenden „Abschaffung“ (Lewis 1943) oder einem „Ende“ des Menschen (Fukuyama 2002)? Wie für die Transhumanisten die Redeweise von „Posthumanität“ ist bei den „Biokonservativen“ die häufige Redeweise von den „entmenschlichenden“ oder „dehumanisierenden“ Folgen bezeichnend. Dieselben Technologien (wie etwa die moderne Reproduktionsmedizin), in der die Transhumanisten Ansätze zu einer begrüßenswerten Überwindung bisheriger Grenzen menschlicher Steuerungsfähigkeit sehen, werden auf der anderen Seite als Einstieg in einen Automatismus gesehen, in dem das „wahrhaft“ (Lewis 1943, S. 49) oder „im vollen Sinne“ Menschliche (Kass 1997, S. 23) verlorengeht. Die unzulässige Dramatisierung liegt in der Unterschätzung der Fähigkeit des Menschen, als „erster Freigelassener der Schöpfung“ über den Umgang mit der von ihm geschaffenen Technik selbst zu bestimmen und einen Weg zu beschreiten, der zwischen der Skylla des Technikwahns und der Charybdis der Technikaskese hindurchführt. Wenn aber auf die Vision verzichtet wird, den Menschen über seine Gattungsgrenzen hinauszuführen – was bleibt vom Transhumanismus mehr als die Vision einer Verbesserung der natürlichen und sozialen Lebensbedingungen mit den Mitteln von Wissenschaft, Technik und Medizin? Schließlich scheint auch

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Julian Huxley, der den Ausdruck „transhumanism“ 1957 einführte, mit diesem Projekt wenig Anderes als diese – althergebrachten – Inhalte verbunden u haben (vgl. Huxley 1957, S. 17). Falls die These von der „Selbsttranszendenz“ des Menschen (Heyd 2005, S. 71) nichts anders besagt als diese Selbstverständlichkeit, wäre der Transhumanismus nur schwer gegen den Vorwurf der Trivialisierung zu verteidigen.

2 Transhumanismus – die Provokation Aber eine solche Trivialisierung würde dem Transhumanismus nicht gerecht. Das Spezifikum des Transhumanismus ist nicht schlicht die Ermutigung zur Lebensverbesserung durch Technik, wie sie die Menschzeit seit der Steinzeit – wenn auch in sehr unterschiedlichem Tempo – praktiziert hat, sondern durch eine Technik, die an der körperlichen Beschaffenheit und Funktionsweise des Menschen ansetzen. Der Provokationsgehalt des Transhumanismus liegt nicht in der vom Transhumanismus vertretenen positiven Bewertung einer Fortsetzung und Erweiterung der vielfältigen indirekten Verbesserung des Lebens der Menschheit mit technischen Mitteln, sondern in der positiven Bewertung der direkten Verbesserung der körperlichen Beschaffenheit des Menschen – wenn auch weiterhin mit dem primären Ziel der Steigerung seiner mentalen Fähigkeiten. Eine Steigerung der mentalen Fähigkeiten des Menschen ist in der Vergangenheit überwiegend durch mentale Techniken angestrebt worden. Diese wirkten zwar stets auch vermittels körperlicher Prozesse, insbesondere über die Aufnahme von Informationen über die Sinnesorgane und deren zerebrale Verarbeitung, aber sie bedienten sich überwiegend keiner materiellen oder biomedizinischen Mechanismen und wirkten nicht gezielt auf körperliche Faktoren ein. Bußübungen, Seelsorge, Psychotherapie und Meditations- und andere spirituelle Praktiken werden zwar des Öfteren durch materielle Hilfsmittel (wie Weihrauch und andere Rauschmittel) oder körperliche Faktoren (wie die Anstrengung, einen Kalvarienberg zu besteigen, Niederknien, Lotussitz oder liegende Position) verstärkt. Aber weder kommen bei diesen „Seelentechniken“ – mögen sie ein noch so hohes Niveau „technischen“ Raffinements erreichen wie die geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (vgl. Ignatius von Loyola 1967) – in der Regel technische Geräte oder Produkte zum Einsatz noch zielen sie auf die Veränderung bestimmter identifizierter Komponenten des menschlichen Körpers. Auch die vom Ende des 18. bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts geübte Praxis der seelischen Selbstbeobachtung und Selbstanalyse durch Tagebuchschreiben und brieflichen Austausch bedurfte außer Papier, Feder und Tinte keiner weiteren technischen Hilfsmittel. Kurz: Wenn es so etwas wie ein Spezifikum des Transhumanismus gibt, dann ist es

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das, dass er die Verbesserung des Menschen nicht nur, aber auch in die Hände der Technik und der Biomedizin legen will, d. h. in die direkte Anwendung technischen Know-hows auf die körperliche Seite des Menschen (z. B. in Gestalt künstlicher Reproduktionsmethoden) sowie die technische Aufrüstung des menschlichen Körpers durch die Ankopplung an technische Geräte (z. B. in Gestalt von Prothesen und inkorporierten Mensch-Maschine-Schnittstellen), beides zum Zweck der Funktionsverbesserung und der Steigerung von Wohlbefinden. Insofern überschneidet sich die Diskussion um den Transhumanismus mit der seit längerem in der Bioethik geführten Diskussion um das Enhancement – die Steigerung des Menschen mithilfe biomedizinischer Verfahren. Auch beim Enhancement geht es um eine Steigerung (primär individueller) physischer und psychischer Fähigkeiten und Befindlichkeiten mit im weitesten Sinne technischen Mitteln – im Gegensatz zu den Mitteln von Erziehung, Bildung, Übung und Training. Beispiele sind der Einsatz technischer Geräte in der Sportmedizin, im AntiAging und in der ästhetischen Chirurgie, aber auch die Anwendung chemischer Mittel in der Psychopharmakologie. Entscheidend sind nicht die Zwecke, sondern die Mittel. Damit ein Verfahren als Enhancement angesprochen werden kann, muss es sich bei den eingesetzten Mitteln nicht nur um psychologische oder pädagogische Mittel handeln. Ein noch so ausgeklügeltes Trainingsverfahren, durch das es gelingt, die Gedächtnisleistung zu verbessern, ist keine Form von Enhancement. Es ist jedoch Enhancement, sobald dasselbe Ziel durch die Einnahme bestimmter Hormone oder antioxidativer Substanzen erreicht wird. Es würde eine Überdehnung des Begriffs Enhancement bedeuten, jedwede „Verbesserung“ menschlicher Kompetenzen und Performanzen – und nicht nur biomedizinische – unter diesen Begriff zu subsumieren und – wie es etwa Allen Buchanan getan hat (vgl. Buchanan 2011, S. 45) – große Teile der Pädagogik, der Kulturpolitik und der Fortpflanzungssteuerung durch soziale Normen einzuschließen.

3 Kompensatorisches versus erweiterndes Enhancement Legt man einen engen Begriff von Enhancement zugrunde, ist offenkundig, dass Enhancement nicht das einzige, aber doch eines der zentralen Anliegen des Transhumanismus ausmacht. Allerdings liegt der Fokus des Transhumanismus eindeutig bei „erweiternden“ Enhancement-Anwendungen, die über ein kompensatorisches Enhancement hinausgehen. Kompensatorisches Enhancement zielt zwar wie das „erweiternde“ Enhancement auf eine Verbesserung von Fä-

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higkeiten und Befindlichkeiten über das medizinisch Indizierte hinaus. Das Ziel ist jedoch lediglich die Angleichung an das in der jeweiligen Gesellschaft geltende Normalmaß, wobei das „Anormale“ vom Individuum in der Regel als belastend und einschränkend empfunden wird. So sind Brille und Hörgerät als Mittel der Anti-Aging-Medizin Formen eines kompensatorischen Enhancements (wenn sie nicht sogar bereits als therapeutische Mittel anerkannt sind), nicht aber die Glättung von Falten oder die Haartransplantation mithilfe ästhetischer Chirurgie. Bei einem unfruchtbaren heterosexuellen Paar ist eine In-vitro-Fertilisation eine Form kompensatorischen Enhancements (wenn nicht sogar eine Form der Therapie), während dasselbe Verfahren bei einem lesbischen Paar eine Form von erweiterndem Enhancement wäre. Was als „Normalmaß“ gilt, ist dabei gesellschaftlich und historisch variabel. Von vielen Seiten besteht ein Interesse daran, dass Verfahren, die zunächst als kompensatorisches Enhancement gelten, als Formen von medizinisch indizierter Therapie anerkannt werden. Sobald bestimmte Verfahren für große Teile der Bevölkerung und nicht nur für eine kleine Minderheit interessant sind, haben nicht nur die Anbieter der betreffenden Mittel und Verfahren, sondern auch die Nachfrager ein Interesse daran, dass deren Kosten ganz oder teilweise von der Solidargemeinschaft übernommen werden. So ist zu erwarten, dass mit dem Anstieg des Alters, zu dem sich ein Kinderwunsch bemerkbar macht, nicht nur die Zahl der zur Erfüllung dieses Wunsches auf „künstliche“ Verfahren angewiesenen Ehepaare ansteigt, sondern dass auch der Druck zunimmt, die Anwendung des Verfahrens aus Mitteln der Solidargemeinschaft zu finanzieren. Eine ähnliche Interessenkonstellation besteht bei der Neu-Etikettierung von Verfahren, die zunächst dem erweiternden Enhancement zuzurechnen sind, als Verfahren des kompensatorischen Enhancement, u. a. deshalb, weil ein kompensatorisches Enhancement gesellschaftlich in höherem Maße akzeptiert ist, so dass auch die Hemmschwellen zu ihrer Inanspruchnahme niedriger liegen. Die gegen das erweiternde Enhancement nach wie vor bestehenden Ablehnungshaltungen werden, soweit dieses lediglich zum Ausgleich von Abweichungen von der Normalität eingesetzt wird, weitgehend suspendiert. Der relativ junge Ausdruck „Enhancement“ sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gemeinte Sache etwas Uraltes ist. Man könnte sogar sagen, dass Enhancement den Menschen als Gattung nicht weniger charakterisiert als elaborierte Sprache und differenzierte Moral. Selbststeigerung und Selbstgestaltung mit „technischen“ – durch die Bearbeitung von Natursubstanzen erzeugten – Mitteln ist für den Menschen etwas mehr oder weniger Natürliches. Eine besondere entwicklungsgeschichtliche Rolle scheint dabei dem Interesse an Selbstgestaltung und Ästhetisierung zuzukommen. Bereits die ältesten Zeugnisse der Hominisation geben Hinweise auf die Nutzung des Feuers zur Herstellung von

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Färbemitteln aus natürlichen Substanzen zu ornamentalen Zwecken. Wie paläoanthropologische Befunde nahelegen, gehört die Bemalung der Haut mit Naturfarben zu den ältesten Kulturtechniken, möglicherweise mit der evolutionären Funktion, die sozialen Rangunterscheide äußerlich sichtbar zu machen und dadurch die selektive Reproduktion unter Höherrangigen zu befördern. Gerade von den Völkern, die bis vor kurzem noch unter Steinzeitverhältnissen gelebt haben, sind eine Fülle von kosmetischen Techniken bekannt: Feilen der Zähne, Verlängern des Halses,Vernarbungen der Haut.Viele dieser Techniken tragen Merkmale, die heute als besondere Probleme der nicht nur kosmetischen Selbstgestaltungspraktiken gelten: irreversible Veränderungen, Deformationen, Gesundheitsgefährdungen.

4 Doping als Leitmetapher Der Transhumanismus bleibt also eine Herausforderung. Sie liegt darin, dass er den verbreiteten Ablehnungshaltungen gegen technische Verbesserungen des menschlichen Daseins, sobald sie in die Nähe des menschlichen Körpers kommen, entgegentritt und eine vorurteilslose Prüfung anmahnt, wie weit sie lediglich auf eine Abwehr des Neuen und Fremden hinauslaufen. Hierin liegt das genuin aufklärerische Potenzial der transhumanistischen Bewegung. Es ist ja mehr als befremdlich, dass in der Mehrzahl der öffentlichen Debatten über Enhancement nicht denjenigen die Beweislast aufgebürdet wird, die die Freiheit zum Enhancement einschränken möchte, sondern denjenigen, die diese Freiheit verteidigen. Wie verbreitet das Vorurteil gegen das erweiternde Enhancement ist, zeigt sich an einem Detail: der selbst bei liberalen Autoren verbreiteten Neigung, die Verwendung eines primär zu medizinischen Zwecken entwickelten Mittels oder Verfahrens als „Missbrauch“ zu etikettieren, wenn es zu Zwecken des Enhancement genutzt wird. Wogegen richtet sich die Kritik? Offensichtlich nicht gegen die Mittel als solche, da es sich weitgehend um Mittel und Techniken handelt, die, in therapeutischer Absicht eingesetzt, eher begrüßt als verdammt werden. Ebenso wenig richtet sie sich gegen die Zwecke des Enhancement. Im Gegenteil: Würden die Zwecke – physische und kognitive Leistungsfähigkeit,Wohlbefinden, Schönheit – nicht mit biomedizinischen, sondern mit den Mitteln von Training und Disziplin angestrebt, würde die Kritik in den meisten Fällen verstummen. Ähnlich wie beim Doping im Sport sind weder die Zwecke noch die Mittel für sich genommen Gegenstand der Kritik, sondern der Einsatz dieser Mittel zu diesen Zwecken. Nicht von ungefähr orientieren sich die Autoren, die bisher vielleicht am nachdrücklichsten gegen das Enhancement Stellung bezogen haben, die Verfasser des Be-

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richts Beyond Therapy des vom amerikanischen Präsidenten Bush eingesetzten President’s Council of Bioethics (President’s Council 2004) am Doping als Leitmetapher – in der offenkundigen Absicht, die vorwiegend negative Konnotation des Doping auf die weiteren Anwendungsbereiche des Enhancement ausstrahlen zu lassen. Problematisch an vielen Argumentationen gegen ein erweiterndes Enhancement ist, dass sie gewachsene Vorstellungen von Normalität artikulieren, die Ablehnung des Ungewohnten und Neuartigen aber darüber hinaus nicht begründen. So berufen sich etwa im Kontext der Diskussion um das Einfrieren von Eizellen für spätere Schwangerschaften einige Autoren auf einen „lebensweltlichen Natürlichkeitsbegriff“, der u. a. die Vorstellung beinhalte, „dass alles seine Zeit hat, dass die humane Lebensform typischerweise in bestimmten Phasen verläuft“. Dass eine Frau nach der Menopause ein Kind austrägt, sei nicht nur im biologischen, sondern auch in diesem lebensweltlichen Sinn „unnatürlich“ (Bittner/Müller 2009, S. 40). Dass dies kein gutes Argument ist, zeigt der darin enthaltene Verweis auf die „humane Lebensform“ als eine scheinbare Konstante. Diese ist jedoch keineswegs konstant, sondern variabel und änderbar, unter anderem durch Technik und Medizin. Im Gefolge der Lebensformen wandeln sich im Allgemeinen auch die Lebenswelten. So gehören (um im Bereich der Reproduktion zu bleiben) Geburtsschmerzen und der Verlust von Kindern durch Kinderkrankheiten heute nicht mehr zu den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, während stattdessen die künstliche Fortpflanzung mehr und mehr dazugehört. Das letzte Beispiel zeigt jedoch, dass sich die Vorbehalte gegen das erweiternde Enhancement nicht zwangsläufig nur Vorurteilen verdanken. Es ist ja durchaus nicht ausgemacht, wie gut sich ein Kind entwickeln kann, das von einer 50- oder 60-Jährigen geboren wird – trotz der rapide gestiegenen Lebenserwartung und Vitalität gerade älterer Frauen. Wie stets bei den gegen technische und medizinische Innovationen bestehenden Bedenken empfiehlt es sich auch hier zu fragen, ob in ihnen bei aller Vorurteilshaftigkeit nicht doch – im Sinne von Gigerenzers Theorie der „Bauchentscheidungen“ (vgl. Gigerenzer 2007) – eine verborgene Rationalität liegt, die sich dem oberflächlichen Blick nicht so leicht erschließt, aber im Prinzip rekonstruiert werden kann. Die Bedenken gegen die von Transhumanisten ins Feld geführten Zukunftstechniken scheinen sich aus einem schwer zu entwirrenden Geflecht von heterogenen Gründen, Motiven und Einstellungen zu speisen, an erster Stelle der Skepsis, wie weit die für die Zukunft propagierten „Verbesserungen“ tatsächlich diese Bewertung verdienen – einerseits weil der Erfolg der ins Auge gefassten technischen Innovationen nicht evident ist, andererseits weil absehbar ist, dass sich mit der weiteren Erleichterung des Daseins das Anspruchsniveau verschiebt

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und die gewachsenen Ansprüche den potenziellen Gewinn an Glück und Lebensqualität aufzehren. Schließlich ist nach übereinstimmenden sozialwissenschaftlichen Einschätzungen spätestens seit Ende der 1960er Jahre das Glücksniveau der Bevölkerung in den Industrieländern trotz erheblicher – und zum großen Teil auf den technischen Fortschritt zurückzuführender – Einkommenszuwächse nicht signifikant gestiegen. In der Tat stellen sich bei vielen Enhancement-Techniken die Fortschritte bei nüchterner Betrachtung als sehr viel geringer dar, als es zunächst scheint und ihre transhumanistischen Fürsprecher erhoffen. Um bei der Reproduktionsmedizin zu bleiben, verbucht etwa das gegenwärtig vieldiskutierte Einfrieren von Eizellen für spätere Schwangerschaften, auch solche nach der Menopause, bisher eine so geringe Erfolgsquote, dass ernsthafte ethische Bedenken dagegen bestehen, es nachfragenden Frauen zu empfehlen, nicht zuletzt angesichts der ökonomischen Interessen der entsprechenden Kliniken und der Tendenz zu einer angebotsinduzierten Anheizung der Nachfrage. Auch ist es bisher nicht gelungen, die Erfolgsrate der künstlichen Kinderwunschbehandlung durch In-vitro-Fertilisation über die natürliche Rate von 30 % hinaus zu steigern, so dass das Verfahren weiterhin in der Regel mehrfach wiederholt werden muss. Auch im Bereich des Neuro-Enhancement, der Stimmungsaufhellung, der Fähigkeit, sich gezielt zu entspannen, und der Steigerung kognitiver Funktionen wie Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistung ist fraglich, ob die neuen Mittel den Erwartungen gerecht werden. Für die meisten dieser Mittel ist unklar, wie weit die nach Einnahme festgestellten Verbesserungen kausal auf diese Mittel zurückzuführen sind und nicht vielmehr auf Placebo-Effekte wie die Erwartung, dass sich infolge der Einnahme die Stimmung aufhellt (vgl. Galert u. a. 2009, S. 45). Dies gilt insbesondere für viele zu Enhancement-Zwecken eingenommene Antidepressiva. Bei den kognitiv verbessernden Mittel ist eine aufmerksamkeitssteigernde Wirkung lediglich bei Modafinil nachgewiesen. Am wirksamsten zur Steigerung von Wachheit und Aufmerksamkeit scheint weiterhin das bewährte Koffein zu sein, als Mittel zur Entspannung das bekannte, aber verbotene, Cannabis. Die Mehrzahl der Hoffnungen – aber auch der Befürchtungen – richten sich allerdings weniger auf die verfügbaren Möglichkeiten als auf Zukunftsoptionen, etwa die transkranielle Magnetstimulation (TMS), bei der magnetische Impulse von außen an das Gehirn geleitet werden. Diese Methode könnte in Zukunft vor allem deshalb an Popularität gewinnen, weil sie nicht-invasiv und schmerzfrei ist. Oder es könnten Geräte direkt ins Gehirn implantiert werden, die überaktive Hirnregionen in ihrer Aktivität und damit die Entstehung negativer Gedanken und Gefühle hemmen, vergleichbar den heute bei Parkinson und anderen motorischen Störungen eingesetzten „Hirnschrittmachern“. Kognitive Funktionen könnten sich durch den Einbau von Chips ins Gehirn verbessern lassen, die wirksamer sind als

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die systematische Entwicklung durch Übung und Training. Unter ethischen Gesichtspunkten wäre u. a. interessant, das moralische Verhalten eines Menschen zu beeinflussen, etwa um die Integration in die Gesellschaft zu erleichtern oder allererst zu ermöglichen, möglicherweise mithilfe eines künstlich hergestellten Oxytozins, das Vertrauensbereitschaft und soziales Verhalten fördert. All dies ist freilich noch weitgehend Zukunftsmusik.

5 Chancen und Risiken Warnungen vor noch nicht ausgetesteten Enhancement-Verfahren scheinen insofern im Ansatz berechtigt. Dies gilt umso mehr, je invasiver die Verfahren sind und je höher das Risiko irreversibler Schäden zu veranschlagen ist. Invasive Verfahren wie der Einbau von Chips in den Organismus, etwa ein direkt ins Ohr eingebautes Handy, sind in der Regel risikoreicher als nicht-invasive Verfahren wie die gegenwärtig zur Therapie schwerer Depressionen eingesetzte transkranielle Magnetstimulation. Und ein Mittel, das sich absetzen lässt, ohne Spuren zu hinterlassen, oder ein Chip im Gehirn, der sich abschalten lässt, ist sowohl aus der Sicht des Nachfragers als auch aus der Sicht des Anbieters weniger problematisch als Eingriffe, bei denen irreversible Veränderungen unvermeidlich sind. Hinzu kommen bei genetischem Enhancement, sofern es sich auf die menschliche Keimbahn richtet, das Risiko von vererbbaren eingriffsbedingten Schädigungen und die Fremdbestimmungsrisiken, die daraus erwachsen, dass die Betroffenen an der Entscheidung über den Eingriff nicht beteiligt werden oder nicht beteiligt werden können, etwa weil der Eingriff – wie beim Keimbahn-Editing – zeitlich im Vorfeld der Geburt erfolgt. Diese Fremdbestimmungsrisiken sind bei gentechnischen Eingriffen in die Keimbahn sehr viel ausgeprägter als bei selektiven Verfahren wie der Präimplantationsdiagnostik. Bei diesem Verfahren ist die Wahlentscheidung über qualitative Merkmale des Nachwuchses auf die genetischen Konstellationen eingeschränkt, die sich bei der Kombination der elterlichen Gene natürlicherweise ergeben. Eine Wahlentscheidung kann stets nur aus dem bestehenden Angebot getroffen werden. Dagegen eröffnet die Keimbahnintervention wesentlich erweiterte Möglichkeiten der Entscheidung über die qualitative Beschaffenheit der Kinder, soweit diese wesentlich oder partiell von genetischen Faktoren abhängt – auch sehr viel weitergehende als etwa beim Klonen, bei dem ein bereits existierendes individuelles Genom lediglich kopiert wird und der Klon dazu verurteilt ist, neben den Vorteilen, die er aus seiner Genausstattung zieht, auch die daraus erwachsenden Nachteile mit der Person, dessen Genom er (weitgehend) übernimmt, zu teilen. Mit Fremdbestimmungsrisiken ist vor allem dann zu

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rechnen, sobald sich hinreichend sichere Ansätze einer gentechnischen Keimbahnintervention zu gesundheitsbezogenen präventiven Zwecken etabliert haben. Viele gesundheitsbezogene präventive Verfahren werden dazu anreizen, sie auch für nicht-gesundheitsbezogene Zwecke zu nutzen und, falls sie im Inland verboten werden sollten, durch „genetischen Tourismus“ zu umgehen. Robert Nozicks Vision eines „genetischen Supermarkts“ (Nozick 2011, S. 442) könnte Realität werden, wenn auch nur für eine kleine zahlungskräftige Minderheit. Das spezifische Fremdbestimmungsrisiko der Keimbahnintervention zu Zwecken des Enhancements liegt darin, dass anders als bei den Eingriffen zu therapeutischen Zwecken nicht garantiert ist, dass der Betroffene von dem Eingriff profitiert und dass er seine auf der Wahlentscheidung anderer beruhende genetische Ausstattung als Erweiterung und nicht als Einengung seiner Lebensmöglichkeiten empfindet. Bei gesundheitsbezogen präventiven Eingriffen kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sie, indem sie schwere genetisch bedingte Belastungen vermeiden oder mindern, unter dem Gesichtspunkt des Wohltuns wie unter dem der Selbstbestimmung eine insgesamt positive Bilanz aufweisen. Zwar kann der Betroffene nicht selbst über die Vornahme des Eingriffs (mit‐)entscheiden, aber er wird diese Entscheidung in der Regel nachträglich sowohl als Erleichterung empfinden als auch gutheißen. Nur wenige Heranwachsende oder Erwachsene beklagen sich darüber, dass ihre Eltern ihrer Impfung gegen Kinderlähmung zugestimmt haben. Das ist anders in Fällen, in denen eine von zwei Konstellationen vorliegt: dass die Wahl der Eltern über die Merkmale der Kinder Wünsche der Eltern realisiert, die erwartbar nicht mit den Wünschen des aus der genetischen Steuerung hervorgehenden Individuums übereinstimmen; oder dass die Wahl der Eltern die Wahlmöglichkeiten des aus der genetischen Steuerung hervorgehenden Individuums übermäßig einengt. Im ersten Fall liegt ein Fall von „Instrumentalisierung“ des Nachkommens (bzw. der ganzen, sich über Generationen erstreckenden Reihe der betroffenen Nachkommen) zur Erfüllung eigener Wünsche vor, im zweiten ein Fall von Nicht-Beachtung des von Joel Feinberg so genannten „Rechts auf offene Zukunft“ (vgl. Feinberg 1980). Das ethische Risiko der Einengung von Lebensmöglichkeiten durch genetische Steuerung ist allerdings insofern in der Regel gravierender als das durch anderweitige medizinische oder nicht-medizinische Vorprägungen, als die genetische Ausstattung, mit der wir geboren werden, psychologisch häufig eng mit der Vorstellung der eigenen Identität verknüpft wird. Danach wären die Fremdbestimmungsrisiken einer qualitativen Merkmalswahl mittels gentechnischer Eingriffe in die Keimbahn umso eher akzeptabel, als sie „Allzweck-Fähigkeiten“ betreffen – Grundfähigkeiten, die zu vielerlei Zwecken nützlich und mit nahezu allen Lebensplänen kompatibel sind, beispielsweise ein resilientes Immunsystem, ein mittleres Intelligenzniveau und eine nicht allzu ausgeprägte Aggres-

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sionsneigung. Es dürfte allerdings nur wenige „Grundfähigkeiten“ dieser Art geben. Die wünschenswerte Vielfalt der Lebensformen und Lebensstile ist nur auf dem Hintergrund einer entsprechenden Vielfalt der genetischen Anlagen zu haben, und für nahezu alle spezifischen Anlagen, die sich Eltern wünschen (etwa athletischer Körperbau, sportliche oder musikalische Begabung, Anpassungsfähigkeit, Soziabilität), lassen sich Umstände vorstellen, unter denen sie sich auf das Wohl oder die Freiheit des Kindes negativ auswirken. Damit sind die bei der Nutzung von Enhancement zu berücksichtigenden Risiken nicht erschöpft. Eine weitere Überlegung ist, dass man sich durch künstliche Eingriffe bestimmter Fähigkeiten berauben, seine Freiheit einschränken oder sich Chancen befriedigender Tätigkeiten entgehen lassen kann. So kann die erweiterte Verfügbarkeit von technischen Mitteln und Verfahren zur Steigerung der Erlebnisfähigkeit Freiheiten erweitern, aber auch einengen, etwa indem aufwendigere und anstrengendere, dafür aber möglicherweise tiefere und dauerhaftere Quellen von Lebenszufriedenheit verschlossen bleiben. Insofern ist die Befürchtung des President’s Council ernst zu nehmen, dass die jederzeitige Verfügbarkeit technischer Hilfsmittel – etwa zur Herstellung einer zufriedenen, heiteren, angenehmen Stimmungslage auch unter widrigen Lebensumständen – dazu führen kann, dass die von der Umwelt gestellten Herausforderungen gar nicht mehr als solche wahrgenommen und die zu ihrer Bewältigung verfügbaren Energien nicht mehr mobilisiert werden (President‘s Council 2004, Kap. 5). Befriedigung würde tendenziell nicht mehr aus der Auseinandersetzung mit realen Widerständen und der Bearbeitung realer Konflikte bezogen, sondern ohne lästigen und beschwerlichen Umweg aus einer „Glückspille“. Dies alles sind Gründe für einen umsichtigen Umgang mit den Möglichkeiten der technischen Funktionsverbesserung auf der Seite der Nachfrager, für relativ strenge Sicherheitsnormen auf der Seite der Produzenten und für anspruchsvolle Anforderungen an die Aufklärung über bekannte und potenzielle Haupt- und Nebenwirkungen auf der Seite der Anbieter. Fraglicher ist, ob dies auch Gründe für Verbote und anderweitige direkte und indirekte Zugangsbeschränkungen sind. Es ist gänzlich unklar, ob überhaupt „künstliche“, die Mittel der hochentwickelten Biomedizin nutzenden Verfahren im Schnitt höhere Risiken mit sich bringen als gänzlich nicht-technische Verfahren, mit denen nur selten Horrorprognosen assoziiert werden. Obwohl das heute im Leistungssport übliche Intensivtraining noch als „natürliche“ Form der Ausreizung der physischen Leistungsfähigkeit gilt, birgt es insgesamt doch höhere gesundheitliche Risiken als viele eindeutig als Enhancement zu charakterisierende biomedizinische Verfahren, etwa die Einnahme von Gingko zur Kompensation von Altersvergesslichkeit. Im Übrigen sind einseitige Gehirnakrobatik, wie viele Intellektuelle wissen, für Gesundheit und Charakter mindestens ebenso schädlich wie die Einnahme von Stimmungsauf-

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hellern. Dass sich ein dem Gedächtnis aufhelfender Chip (im Alter oder für besondere Belastungssituationen) möglicherweise sehr viel wirksamer erweist als jedes rein mentale Gedächtnistraining, heißt nicht, dass er bereits dadurch mit höheren Risiken verbunden ist. Allerdings erscheinen viele gegen technische Formen des Enhancement vorgetragene Risikoargumente überzogen. Zum Teil beschwören sie mehr oder weniger spekulative Gefahren herauf, von denen in keiner Weise absehbar ist, dass sie eine Chance haben, Wirklichkeit werden. Das gilt etwa für viele „Horrorszenarien“ im Zusammenhang mit Techniken, auf die von vornherein ein moralischen Anfangsverdacht fällt, etwa die Gendiagnostik. Es ist unwahrscheinlich, dass die in Zukunft zur Verfügung stehenden erweiterten Möglichkeiten zur gezielten Selektion von Nachkommen nach qualitativen Merkmalen (etwa auf der Grundlage einer hochdifferenzierten, verlässlichen und präimplantatorisch oder in frühen Phasen der Schwangerschaft einsetzbaren Pränataldiagnostik) dazu führen könnte, dass eine große Anzahl Eltern die Beschaffenheit ihrer Kinder „nach Katalog“ aussuchen wird oder in anderer Weise „designte“ Babys statt nach dem Zufallsprinzip zustande gekommene Kinder haben wollen. Wahrscheinlich ist, dass mehr Eltern als heute Kinder haben wollen, die bestimmte der von den Eltern geerbten Merkmale aufweisen oder nicht aufweisen, solange dies ohne überproportionalen Aufwand möglich ist. Sie würden aber sicher weiterhin wollen, dass ihre Nachkommen ihnen selbst in den Grundzügen ähnlich sind und dass sich und ihre Potenziale (aber auch möglicherweise ihre nicht ausgelebten Anteile) ein Stück weit in ihren Kindern wiederfinden. Auch wenn das „corriger la fortune“ in der Reproduktion üblicher würde als heute, liefe es wahrscheinlich auf lediglich kleinere Korrekturen hinaus und nicht auf eine totale Ersetzung des Zufalls durch Planung. Die Folgen wären sehr viel weniger dramatisch als die sich gegenwärtig aufgrund der Verfügbarkeit der entsprechenden Techniken in vielen Ländern entwickelnde Ungleichverteilung der Geschlechter aufgrund von Geschlechtsselektion. Irritierend an den von den Enhancement-Skeptikern aus der gegenwärtigen Entwicklung abgeleiteten „Horrorszenarien“ ist die Sicherheit, mit der häufig von der Unvernünftigkeit des Wunsches nach Fähigkeitserweiterung ausgegangen wird. Wie vernünftig oder unvernünftig die Inanspruchnahme dieser Möglichkeiten ist, hängt von individuellen Dispositionen und Wertpräferenzen ab und lässt sich kaum verallgemeinern. Die Erfahrung zeigt jedenfalls, dass die „künstliche“ Steigerung von Fähigkeiten, etwa mit pharmazeutischen Mitteln, von denen, die sich auf sie eingelassen haben, keineswegs durchgängig oder überwiegend als Fehlentscheidung bedauert wird. Auch von Sportlern, die mit Doping gearbeitet haben, ist nicht bekannt, dass sie dies nachträglich überwiegend bedauern. Selbst wenn die Nutzung von Enhancement-Techniken selbstgefährdend

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wäre und weder fremdgefährdende noch – wie das Doping im Leistungssport – mit den Sinngehalten der jeweiligen sozialen Sphäre unvereinbare Auswirkungen hätte, würde das für sich genommen nicht zur Legitimierung von Zugangsbeschränkungen hinreichen.

6 Complicity mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen Offenkundig gilt dies Letztere nicht mehr, sobald das Enhancement in durch Wettbewerbsstrukturen bestimmten gesellschaftlichen Bereichen zum Zuge kommt, etwa im Leistungssport, in großen Bereichen des Breitensports, in der Privatwirtschaft, der Wissenschaft, den performing arts und auf dem Arbeitsmarkt. Überall da, wo Wettbewerb herrscht, verändert die Verfügbarkeit von relevanten Enhancement-Techniken die Grundlagen der Konkurrenz und treibt die Maßstäbe, an denen sich die Konkurrenten messen lassen müssen, nach oben. Sobald einige Musiker beim Vorspielen ihre Chancen durch die Einnahme von Betablockern verbessern, haben auch alle anderen ein Motiv, dasselbe zu tun. Je mehr körperliche Schönheit bei Bewerbungen im Dienstleistungsbereich den Erfolg einer Bewerbung mitbestimmt, desto größer wird der Druck, mit künstlichen Mitteln nachzuhelfen. Die Folgen eines solchen „Wettrüstens“ mit Mitteln des Enhancement sind ambivalent. In der Wirtschaft werden die Menschen in der Rolle der Konsumenten stärker von der unter dem Konkurrenzdruck der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft erwirtschafteten Güter und Leistungen profitieren als in der Rolle der Arbeitnehmer, die den Arbeitsstress nur unter Zuhilfenahme von Psychopharmaka aushalten. Im Sport profitieren die Zuschauer von den durch Doping möglich gewordenen Spitzenleistungen, weniger die ehrlichen Teilnehmer, die regelmäßig das Nachsehen haben. Insgesamt muss die Entwicklung zu stets höheren Leistungsnormen allerdings als Fehlentwicklung gelten: Wer sich auf den rat race einlässt, riskiert gesundheitliche und Befindlichkeitsstörungen durch chronische Überforderung. Wer sich nicht auf ihn einlässt, aus dem Rennen genommen oder von vornherein disqualifiziert wird, riskiert dieselben Störungen durch chronische Unterforderung. Sofern Verfahren des Enhancement auf Leistungssteigerung zielen, haben sie an dieser Perversion der Verhältnisse auch dann Anteil, wenn sie nicht direkt für sie verantwortlich zu machen sind. Auch wenn sie keine direkte ursächliche Rolle spielen, stehen sie zu ihnen doch in jenem indirekten Bezug, der in der neueren bioethischen Diskussion mit dem Ausdruck complicity bezeichnet wird (vgl. Friele 2000).

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Complicity bedeutet eine schwache Form der Teilnahme an einem moralisch unzulässigen Verhalten anderer unterhalb der Schwelle der direkten aktiven Mitwirkung. Obwohl sie im Allgemeinen nicht mir derselben Schärfe verurteilt wird wie das moralisch problematische Verhalten, an denen sie partizipiert, erscheint das Verhalten des „Komplizen“ aufgrund der Verbindung mit dem unzulässigen Verhalten des Haupttäters doch als in gewissem Maße moralisch kontaminiert. Im Fall des leistungssteigernden Enhancement geht es freilich weniger um das Verhalten einiger „Haupttäter“ als um gesellschaftliche Strukturen, die ein kompetitives Verhalten nahelegen oder erzwingen. Zwecke und Mittel stehen vielfach in einem interaktiven, sich wechselseitig unterstützenden Verhältnis zueinander. Mit den Zwängen und Motivationen zur Überbietung anderer im Leistungswettbewerb wächst die Attraktivität von Enhancement. Aber mit der Verfügbarkeit von Enhancement wächst umgekehrt auch die Bereitschaft, nolens volens mitzuspielen, statt die dem Spiel zugrunde liegenden Erwartungshaltungen und Vorteilsstrukturen in Frage zu stellen. Angesichts der erweiterten Möglichkeiten, sich den Erwartungshaltungen anzupassen, wird es für den Einzelnen noch schwieriger, sich der complicity mit der Vorherrschaft der entsprechenden Normen zu entziehen, als es angesichts des auch in freien Gesellschaften virulenten Konformitätsdrucks ohnehin schon ist. Im Bereich der Erwartungen an die Attraktivität des weiblichen Körpers haben in den letzten Jahren vor allem Carl Elliott und Margret Little auf die fatalen Konsequenzen der um sich greifenden Wettbewerbsorientierung hingewiesen (vgl. Elliott 2003, Little 2009): Verlust der Individualität, Konformismus, fortwährende Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper, Versagensängste und – bei den Erfolglosen – Minderwertigkeitsgefühle. Indem die eigene körperliche Beschaffenheit an dem von den Medien und Idolen gesetzten Ideal gemessen wird, kommt es zu einer überwiegend negativen Fixierung auf den eigenen Körper, ähnlich der, die sich in vielen asketischen Religionen ausgeprägt hat. Diätübungen treten an die Stelle von Selbstgeißelungen und Naschhaftigkeit an die Stelle von Gefräßigkeit, Wollust und Trunksucht. Viele der Eingriffe, die heute junge Frauen an sich vornehmen lassen, entspringen dem Hass gegen die eigene körperliche Kontingenz. Dabei wird die Messlatte häufig so unrealistisch hoch angelegt, dass zur Erreichung des Ideals „aktive und dauerhafte Arbeit am eigenen Körper“ notwendig wird (Deak 2006, S. 222). Die paradoxe Folge ist eine Rekapitulation der überwunden geglaubten Doktrin der Erbsünde: Angesichts der überzogenen Ideale fühlen sich viele Frauen zwangsläufig von Sündhaftigkeit bedroht. Ähnliche Mechanismen zeigen sich seit längerem auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa bei Leistungsträgern in Wissenschaft und Wirtschaft. Auch wenn es verfehlt wäre, dafür die zunehmende Verfügbarkeit von leistungssteigerndem Enhancement verantwortlich zu machen, scheint sie für

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diese Entwicklung doch immerhin die Rolle einer Ermöglichungsbedingung zu übernehmen.

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Stefan Lorenz Sorgner

Wir sind stets Cyborgs gewesen … Abstract: We have always been Cyborgs … Computers are becoming smaller and penetrating our bodies so that we can become upgraded people who can interact efficiently with their environment in smart cities and have the means to cope with aging, the world’s worst mass murderer. This development is accompanied by new challenges related to digitisation, with the emergence of the Internet Panopticon being the most serious of all. I will show that by promoting freedom as a moral, social and legal norm, we can benefit from the advantages of the digital age, while its problematic aspects do not unfold their potentially disastrous implications. Wir befinden uns in einer Zeit, in der in vielen Bereichen der Lebenswelt Paradigmenwechsel stattfinden. Jüngst ging beispielsweise ein Nachrichtenbericht über die Erfindung von sogenannten biobags, eine Art künstlicher Gebärmutter, durch die Medien, mit deren Hilfe es möglich war, Schafe auf künstliche Weise zu züchten. In Kombination mit einer Vielzahl anderer Fortschritte im Bereich der Gentechnik, könnte diese Erfindung enorme Auswirkungen entfalten. Über das exponentielle Wachstum neuer Technologien und die damit verbundenen Veränderungen zu sprechen, bedeutet nicht, dass man diese Entwicklungen abwertend beurteilt. Im Gegenteil, künstliche Gebärmütter könnten die Schlüsseltechnologie für die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz darstellen. Wenn sie mit weiteren Gentechnologien kombiniert werden, bergen sie das Potenzial radikaler Konsequenzen für die Zukunft der Menschheit. Diese nie da gewesenen Möglichkeiten bieten einen Ausblick auf den Umgang mit Herausforderungen in Bezug auf die Förderung der Evolution – besonders aus einer posthumanen Perspektive. Es geht dabei um die folgenden Erkenntnisse: (1) Ein Übergang von einer dualistischen zu einer nicht-dualistischen Anthropologie. (2) Eine radikale Zunahme von Anthropotechniken mit dem Potenzial, die menschlichen Fähigkeiten zu verbessern; damit würde die Wahrscheinlichkeit des „Posthumanen“ erhöht: Maximierung des individuellen Gedeihens und Minimierung der Gefahr auszusterben. (3) Das Posthumane kann entweder durch digitale Technologien oder mit Hilfe von Biotechnologien entstehen. Drei Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang besonders relevant: (a) Gentechnik: Von der Genmodifikation mittels CRISPR/Cas9 (Sorgner 2015a) bis zur genetischen Selektion nach IVF und PID (Sorgner 2014); (b) das Upgrading des Menschen durch eine erhöhte https://doi.org/10.1515/9783110691047-005

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Cyborgisierung: PCs wurden zu Smartphones, die als nächstes in unseren Körper gelangen werden (Sorgner 2018a); (c) Übertragung unserer Persönlichkeit auf eine Festplatte, so dass unsere kohlenstoffbasierte Existenz zu einer siliziumbasierten wird (Sorgner 2018a). Diese drei grundlegenden Erkenntnisse führen zu einer Vielzahl von intellektuellen, sozialen, politischen, ethischen und wirtschaftlichen Herausforderungen (Ranisch/Sorgner 2014). Ich halte das Potenzial der Gentechnologien, insbesondere von CRISPR/Cas 9, für besonders vielversprechend, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wir zu Posthumanen werden. Damit wir die Gentechnik jedoch so effizient wie möglich nutzen können, benötigen wir zunächst einmal weitere Informationen über die Zusammenhänge zwischen genetischen Konstellationen und menschlichen Merkmalen. Wir werden diese über eine andere Entwicklung erhalten, nämlich das Upgrading des Menschen durch eine erhöhte Cyborgisierung. Diese Entwicklung wird in naher Zukunft die größten Auswirkungen auf unsere Lebenswelten haben und nimmt daher den Schwerpunkt meines Textes ein. Zunächst möchte ich einige Ausführungen zum Übergang von einer dualistischen zu einer nicht-dualistischen Anthropologie vorlegen, da es diese Entwicklung ist, die den bedeutendsten kulturellen Wandel darstellt, der seit Darwins Zeiten stattgefunden hat. Demgegenüber die Haltung einzunehmen, dass all diese Entwicklungen, auf die ich Bezug genommen habe, nicht stattfinden sollten, und zu fordern, dass diese Technologien nicht entwickelt werden sollten, ist keine realistische Option. Wenn diese Technologien in unserem Land nicht entwickelt werden, werden sie einem anderen Land entwickelt werden. Wenn Wissenschaftler und Ingenieure keine Genehmigung für die Forschung in irgendeinem Land erhalten, werden sie außerhalb des Bereichs der nationalen Regierungen agieren, z. B. auf Seasteads, d. h. vakanten Plattformen auf dem Meer, Forschungen durchführen.

1 Nicht-dualistisches Menschenverständnis Zarathustra war vielleicht der Erste, der eine strenge Unterscheidung zwischen Gut und Böse getroffen hat. Diese kategoriale Unterscheidung geht in den meisten Philosophien mit einer kategorialen, dualistischen sowie ontologischen Unterscheidung einher, und insbesondere mit dem Verständnis, dass alle Menschen aus einer immateriellen Seele, einem Bewusstsein oder Geist, und einem materiellen Körper bestehen. Dies war zumindest seit Platons Denken die in den westlichen Philosophien vorherrschende Auffassung, die den Bereich der Ideen, auf den wir durch das Denken zugreifen können, klar von dem sinnlichen Bereich trennt, in

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dem wir leben. Diese grundlegende Erkenntnis wurde von den meisten westlichen Philosophen in irgendeiner besonderen Form akzeptiert. Jeder von ihnen passte es an sein individuelles Verständnis an. Sowohl Platon als den Stoikern zufolge haben alle Menschen eine rationale Seele. Für die Stoiker ist dies jedoch ein Grund, warum alle Menschen auch als moralisch gleichwertig betrachtet werden sollten, was aus Platons Sicht nicht der Fall war. Descartes stimmt mit der stoischen Erkenntnis überein, dass alle Menschen eine rationale Seele besitzen. Er ist jedoch der Ansicht, dass nur Menschen irgendeine Art von Seele haben. Tiere hingegen bestehen bloß aus Materie. Die Stoiker und Platon hingegen behaupten, dass es weitere Arten von Seelen gibt, die Tiere und Pflanzen besitzen. Kant stimmt in vielerlei Hinsicht mit Descartes‘ Verständnis von Tieren und Menschen überein. Er nutzt diese Grundeinsicht, um hierauf eine komplexe Ethik zu entwickeln, die gegenwärtig insbesondere im deutschsprachigen Raum noch weitgehend als selbstverständlich angesehen wird (Sorgner 2016a, S. 85 – 87). Es ist sogar die intellektuelle Grundlage des deutschen Grundgesetzes, die auf dem Begriff der Menschenwürde basiert, ein Begriff, der nur dann vollständig verstanden werden kann, wenn man eine Ahnung von der Ethik Kants hat (Sorgner 2010). Nur Menschen haben eine Würde. Tiere, Pflanzen und Steine sollten wie Dinge behandelt werden. Sie alle fallen unter das Sachrecht. Es ist die Unterscheidung zwischen Subjekten und Objekten oder, normativ gesprochen, zwischen Dingen und Personen, die ihre intellektuelle Wurzel in der dualistischen anthropologischen Tradition hat, die zumindest seit Platon in der westlichen Welt die vorherrschende ist. Sie hat erhebliche praktische Auswirkungen, vom Verbot von Peep-Shows über das Verbot, entführte Flugzeuge, die anscheinend auf Kernkraftwerke zusteuern, abzuschießen, bis hin zum moralischen Status von Tieren und die Art und Weise, wie Tiere bei Experimenten behandelt werden können. Diese Anthropologie ist jedoch seit Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der von Darwin, Nietzsche und Freud vorgebrachten Erkenntnisse immer weniger plausibel geworden. Wir sehen uns nicht mehr als kategorial von dieser Welt getrennt, was unseren ontologischen Status betrifft. Wir gehen nicht mehr davon aus, dass wir einen materiellen Körper und eine immaterielle Seele haben. Wir haben eine bescheidenere Denkweise, da sie sich von der traditionellen menschlichen Hybris entfernt, die einen kategorial herausgehobenen Status in der Welt impliziert. Das bedeutet nicht, dass wir keine besonderen Eigenschaften besitzen. Das Erlernen einer menschlichen Sprache ist vielleicht nur für den Menschen möglich. Aber auch Tiere haben solche besonderen Eigenschaften. Vampirfledermäuse schaffen es, Blut mit Hilfe von Infrarotsensoren zu erkennen. Es ist ihre besondere Fähigkeit. Auch Tiere können einzigartige Fähigkeiten haben. Die Abkehr von der traditionellen Anthropologie impliziert, dass es nicht

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mehr plausibel ist, dass nur Menschen an der immateriellen Welt teilhaben können und dadurch Personen sind, während alle anderen Wesen als Dinge oder Objekte betrachtet werden müssen. Allerdings ist dies immer noch die Einschätzung, die in Deutschland und in vielen anderen Ländern rechtlich gültig ist. Ich behaupte nicht, dass wir im Bereich des Rechts eine dualistische Anthropologie durch eine nicht-dualistische ersetzen sollten, denn auf diese Weise würden wir eine fundamentalistische Sichtweise durch eine andere ersetzen, wobei keine der beiden Auffassungen von allen Bürgern geteilt wird. Eine liberaldemokratische und pluralistische Demokratie benötigt eine andere Grundlage. Diese Einsicht führt zu meinem Vorschlag, dass solche starken Anthropologien und ontologischen Positionen nicht Teil von liberalen Demokratien sein sollten, weil sie im Widerspruch zu der großen Vielfalt von Weltanschauungen stehen, die wir heute in allen liberalen Demokratien vorfinden können. Es ist der Wandel hinsichtlich unseres ontologischen Grundverständnisses, der für all die anderen Entwicklungen, über die ich sprechen werde, von fundamentaler Bedeutung ist. Sich nur als graduell von allen anderen Tieren getrennt zu sehen, bedeutet, dass wir genau wie sie rein auf der Grundlage evolutionärer Prozesse zustande gekommen sind. Wie alle Tierarten sind auch wir dann vom Aussterben bedroht, wenn die entsprechenden Anpassungen ausbleiben. Gelingt uns aber eine Anpassung, werden wir uns via Transhumane, d. h. weiterentwickelte Menschen, weiter zum Posthumanen, d. h. zu Mitgliedern einer neuen Spezies, entwickeln. Deshalb sind Technologien und ihre Weiterentwicklung von immenser Bedeutung für uns. Es ist bei weitem nicht der einzige Grund, Technologien einzusetzen (Sorgner 2013b).

2 Personenstatus für Tiere, Roboter und künstliche Intelligenz (KI) Eine der Implikationen des überarbeiteten Menschenverständnisses, das ich gerade beschrieben habe, ist die Relevanz der Abkehr von einer anthropozentrischen Grundlage für die Bewertung des moralischen Status einer Entität, wie er beim Speziesismus vorhanden ist, welcher moralisch problematische Implikationen birgt. Peter Singer hatte Recht, dass es spezistisch sei, den Personenstatus ausschließlich dem Menschen zuzuschreiben. Die moralische Anerkennung sollte von moralisch relevanten Fähigkeiten abhängen und nicht nur von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies. Sein Gegenvorschlag geht von der moralischen Relevanz der Leidensfähigkeit aus, die bei Wesen mit Selbstbewusstsein und Empfindungsfähigkeit besonders stark gegeben ist (Singer 2002, Singer 2011).

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Ich teile seinen Lösungsvorschlag nicht, halte ihn dennoch für bemerkenswert. Selbstbewusstsein ist eine faszinierende Eigenschaft. Wer sie besitzt, scheint anfälliger für Leiden zu sein als diejenigen, die sie nicht haben (Morton 2000). Und die Fähigkeit zu leiden scheint für die Beurteilung des moralischen Status eines Unternehmens relevant zu sein. Der Spiegeltest wird weithin als eine zuverlässige Methode angesehen, um zu testen, ob ein Organismus ein Selbstbewusstsein hat. Derzeit bestehen neun nicht-menschliche Tierarten den Spiegeltest. Nicht alle Individuen jeder Spezies sind selbstreden hierzu in der Lage, aber bei vielen ist dies schon der Fall.¹ Dennoch könnte man sich fragen, ob der Test in Bezug auf die Fähigkeit des Sehens voreingenommen ist. Vielleicht ist das Selbstbewusstsein in einigen Organismen enger mit dem Hören oder Riechen verbunden, z. B. bei Hunden, die den Spiegeltest nicht bestehen. Welche alternativen Tests könnten angewendet werden? Darüber hinaus scheint es einen engen Zusammenhang zwischen dem Spiegeltest, dem Selbstbewusstsein und unserer aktuellen Selfie-Kultur zu geben. Lässt sich Dürers Selbstdarstellung übrigens als Selfie analysieren? Doch Singers Vorschlag hat Implikationen, die von den meisten aufgeklärten Menschen nicht als plausibel angesehen werden. Mit seiner theoretischen Haltung ist es möglich, die Tötung eines schwerbehinderten neugeborenen Menschen moralisch zu rechtfertigen, was kontraintuitiv erscheint. Unsere weit verbreitete emotionale Reaktion auf diese Konsequenz könnte jedoch darin begründet sein, dass unsere Gefühle stark von der traditionellen jüdisch-christlichen Tradition geprägt sind. Wenn dies der Fall sein sollte, könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis wir unsere emotionale Moral an unsere theoretische Moral angepasst haben. Auf jeden Fall stellt Singers Vorschlag einen Schritt in die richtige Richtung dar. Persönlich bin ich der Meinung, dass uns ein Zusammenspiel zwischen drei Säulen, nämlich weit verbreiteten moralischen Intuitionen, neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und die Anerkennung der Relevanz negativer Freiheit, eine Grundlage für die Bewertung des moralischen Status jeder Art von Entität liefern sollte (Sorgner 2015b). Darüber hinaus muss die kulturelle Einbettung berücksichtigt werden. Mein Ansatz hat die Form einer Erzählung und ist dabei hermeneutischer Art, sodass die Relevanz des Diskurses und die Anerkennung der Relevanz der eben genannten drei Säulen betont wird. Diese Position berücksichtigt die permanente Veränderung sozialer Situationen und moralischer Bewertungen, sowie die damit verbundene Relevanz für die rechtliche Bewertung von Unternehmen. Darüber hinaus ist es eine verfahrenstechnische Lösung, die

 http://www.animalcognition.org/2015/04/15/list-of-animals-that-have-passed-the-mirror-test/, besucht am 1.4. 2020.

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nicht auf einen perfekten Zustand und eine perfekte Lösung abzielt, weil sie die Relevanz von Bewegung und Veränderung im Bereich der Moral anerkennt. Diese Position kann auch neue Entwicklungen integrieren, wie die Möglichkeit, Hybride zu erstellen. Das Vereinigte Königreich hat die Schaffung von Chimären aus Tieren und Menschen zugelassen, wenn sie innerhalb der ersten zwei Wochen nach ihrer Verwirklichung vernichtet werden. Aber warum sollten sie zerstört werden müssen? Uns fehlt eine Grundlage für die Bewertung des moralischen Status dieser hybriden Wesen. Sie stehen nicht im Widerspruch zur Menschenwürde, denn diese Wesen sind keine Menschen. Das Potenzial dieser Wesen kann enorm sein. Niederländische Wissenschaftler haben es bereits geschafft, Zebrafische genetisch so zu gestalten, dass sie die Photosynthese für Ernährungszwecke nutzen können. Die Fische werden dabei leicht grün, aber es funktioniert. Genetisch unterscheiden sich Zebrafische nicht so sehr vom Menschen. Vielleicht sind die kleinen grünen Menschen vom Mars sogar unsere Zukunft (Sorgner 2016a, S. 169 – 171). Darüber hinaus muss man bedenken, dass wir bereits Hybride sind. Auf unserer Haut und in unserem Darm befindet sich eine enorme Menge an Bakterien und anderen Mikroben. Ein menschlicher Körper besteht aus mehr nichtmenschlichen Zellen als aus menschlichen Zellen, und ohne diese Zellen könnten wir nicht überleben. Diese Erkenntnisse können für die Zukunft der Xenotransplantation von besonderer Bedeutung sein. Martine Rothblatt, eine Transhumanistin, besitzt eine Schweinefarm, um gentechnisch veränderte Schweine zu realisieren, deren Lungen zukünftig in Menschen transplantiert werden können, ohne dass die Lungen dabei abgelehnt werden. Es scheint ein vielversprechender Versuch zu sein. Sie ist besonders an diesem Vorgang interessiert, da ihre Tochter an einer lebensbedrohlichen Lungenerkrankung leidet. Die Abkehr von der Zuweisung eines allein dem Menschen kategorial herausgehobenen ontologischen Status kann jedoch auch bedeuten, dass wir bei entsprechenden Entwicklungen dem Computer oder der KI auch einen Personenstatus zuordnen müssten. Forscher versuchen bereits zu überprüfen, ob das Bewusstsein ein Phänomen ist, das auf der Komplexität neuronaler Strukturen basiert, indem sie versuchen, die Komplexität des Gehirns einer Katze mit einem Computer pro Neuron nachzuahmen. Es kann jedoch sein, dass das Bewusstsein nicht einmal benötigt wird, um einen besonderen moralischen Status zu erlangen. Wie sollten wir einen Computer mit Super-Intelligenz behandeln? Vielleich gibt es so etwas wie kognitives Leiden, was ohne Selbstbewusstsein und Empfindungsfähigkeit auskommt. Entsprechende Überlegungen habe ich andernorts bereits dargelegt (Sorgner 2018a). Katherine Hayles liefert uns Gründe für die Behauptung, dass es so etwas wie nicht-bewusste Kognition geben kann, und dass es Plausibilität besitzt, den Kreis

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der Wesen zu erweitern, die moralisch betrachtet werden sollten (Hayles 2017). Dieser Gedanke basiert auf den folgenden Überlegungen: Wenn wir gedemütigt werden, erleben wir nicht unbedingt das Gefühl des Leidens. Erniedrigt zu werden, könnte einfach mit der kognitiven Erkenntnis verbunden sein, dass man von jemand anderem nicht geschätzt wird, und wir schätzen es nicht, gering bewertet zu werden. Demütigung könnte daher eine Beziehung sein, die nicht nur für selbstbewusste Wesen problematisch ist, sondern auch für nicht-bewusste kognitive Wesen, d. h. Androiden wie Data aus der Serie Star Trek. Ist dies der Fall, könnte es sinnvoll sein zu behaupten, dass die kognitive Fähigkeit, zu erfassen, wie man bewertet wird, eine weitere relevante Grundlage für die Zuweisung eines moralischen Status einer Entität darstellt. Dies könnte eine Grundlage für die Zuweisung eines moralischen Status an bestimmte Roboter sein. Auf jeden Fall ist zu beachten, dass die Abkehr von einer anthropozentrischen Weltanschauung und das damit verbundene neue Verständnis eines moralischen Status für zukünftige bioethische Herausforderungen von zentraler Bedeutung ist, besonders im Hinblick auf moralische Fragen der Gentechnik (Sorgner 2018).

3 Aufhebung des moralischen Verbots, eine Person nur als Sache zu behandeln, da die traditionelle Form der Unterscheidung von Person und Sache keine Plausibilität mehr besitzt Die Person-Sache-Differenzierung, die auf die Kantische Philosophie zurückgeht, hat viele allgemeine moralische Implikationen (Sorgner 2010). Eine von ihnen ist das moralische Verbot, eine Person bloß wie eine Sache zu behandeln. In Deutschland bedeutet dieses Prinzip, dass Peep-Shows gesetzlich verboten sind und es ebenso verboten ist, ein entführtes Flugzeug abzuschießen, das direkt in ein Kernkraftwerk zu fliegen droht, solange sich ein Unschuldiger an Bord befindet. In beiden Fällen würden Personen bloß wie ein Objekt behandelt. Würde das entführte Flugzeug hingegen abgeschossen, träfe den unschuldigen Pilot an Bord kein anderes Schicksal, da er ohnehin sterben würde, das Leben von einer Million Menschen hingegen könnte gerettet werden. Hierbei würde die Regierung den unschuldigen Piloten jedoch alleine wie ein Objekt behandeln, um das Leben von einer Million Menschen auf der Erde zu retten. Solche utilitaristischen Berechnungen stehen im Widerspruch zu einer Ethik der Menschenwürde und dem traditionellen Verständnis des Personenstatus, die zu dem oben genannten mo-

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ralischen Verbot führt. Wenn jedoch die traditionelle Unterscheidung zwischen Person und Sache nicht mehr plausibel ist, gilt auch das moralische Verbot nicht mehr. Daher müssen wir eine neue Grundlage für moralische Prinzipien finden, was keine leichte Aufgabe ist, denn das traditionelle Verständnis von Personen und Sachen ist Teil vieler Rechtsverfassungen und hat bedeutende Auswirkungen auf unsere Lebenswelt. Es ist eine Aufgabe, mit der wir uns befassen müssen, um die Zukunft moralisch zu gestalten. Behandeln wir eine befruchtete Eizelle nur als Mittel, wenn wir sie nach der In-vitro-Fertilisation und der genetischen Präimplantationsdiagnostik auswählen? Behandeln Eltern ihre Nachkommen wie ein Objekt, wenn sie sich entschieden haben, sie genetisch zu verändern (Sorgner 2013a)?

4 Smart Cities brauchen einen aufgewerteten Menschen: Menschliches Gedeihen, das Internet-Panoptikum und die (genetische) Privatsphäre. Alle diese Entwicklungen legen einen Paradigmenwechsel nahe. Sie werden besonders auffällig, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Smart Cities richten. Smartwatches sowie das Internet der Dinge und eine ständig wachsende Anzahl selbstfahrender Autos sind heute ein fester Bestandteil unserer Lebenswelt. Es wäre naiv, anzunehmen, dass all diese Entwicklungen damit abgeschlossen sind. Vor etwa 6 Millionen Jahren existierte der letzte gemeinsame Vorfahre von Menschen und Menschenaffen. Die kommerzielle Nutzung des Internets wurde vor weniger als 30 Jahren etabliert.Wir müssen erkennen, dass sich das digitale Zeitalter noch im Anfangsstadium befindet und weltweit bereits erhebliche Auswirkungen auf unseren Lebensstil hat. Digitalisierungsprozesse verändern auch die Potenziale anderer aufstrebender Technologien, unter denen die große Vielfalt der Gentechnik besonders hervorzuheben ist. Die Genschere CRISPR/Cas9 könnte sogar die wichtigste wissenschaftliche und technologische Erfindung dieses Jahrzehnts sein. Doch ohne die Anwendung digitaler Technologien auf Gene, die mit Hilfe von Big Gene Data erfolgt, können Gentechnologien ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Das größte Potenzial für eine radikale Veränderung unserer Lebensweise liegt im Schnittpunkt dieser bahnbrechenden Technologien. Alle Prozesse der Lebenswelt werden digitalisiert. Autonome Autos erobern die Straßen. Blockchain-Technologien dezentralisieren das Internet. Kryptowäh-

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rungen greifen die Relevanz von Banken an. Smart Cities werden entwickelt. Doch wenn der Mensch gleichbliebe, könnten all diese Prozesse einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung nicht entfalten. Smart Cities brauchen upgegradete Menschen. Elon Musks Neuralink und alle anderen Unternehmen, Institute und Task Forces, die an Brain-Computer-Schnittstellen arbeiten, werden den größten Einfluss auf die Zukunft des menschlichen Gedeihens in den kommenden Jahrzehnten haben. Hieraus ergeben sich neue soziale Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Diese Themen werde ich im Rahmen der vorliegenden Überlegungen besonders analysieren.

5 Wir waren schon immer Cyborgs Nach der Verlagerung der Informationsverarbeitung von der analogen in die digitale Welt der Computer hat sich der Prozess der Mobilisierung dieser Systeme von schwerfälligen PCs hin zu viel praktischeren Smartphones entwickelt. Um jedoch noch schneller und einfacher auf digitale Informationen zugreifen zu können und eine effiziente Interaktion zwischen uns und autonomen Autos, dem Internet der Dinge und allen anderen Aspekten einer Smart City gewährleisten zu können, ist es notwendig, Computer stärker in unsere Körper zu integrieren. Genau daran arbeiten wir intensiv. Die einzelnen Komponenten, die derzeit im Smartphone vorhanden sind, müssten daher durch neue Geräte ersetzt werden. Der Computermonitor ist zu einer Smartphone-Oberfläche geworden, die sich gerade im Prozess befindet, immer näher an die menschlichen Sehnerven angeschlossen zu werden. Digitale Brillen, wie die nicht mehr produzierten von Google-Glass, sind in dieser Hinsicht nur ein Übergangsmedium und werden zunehmend in den Menschen integriert. Google hat bereits Kontaktlinsen entwickelt, die in der Lage sind, den Glukosewert der Tränenflüssigkeit des Auges zu messen. Diabetiker müssen diesen täglich überprüfen, was in der Regel durch Blutentnahme durch Injektionen geschieht. Die Implantation von Linsen im Auge und die anschließende sofortige Stimulation der Sehnerven wären die nächsten Entwicklungsschritte. Wenn keine Benutzeroberfläche mehr vorhanden ist, ist es sinnvoll, den Chip in den Körper zu integrieren. Derzeit wird die Außenseite der Hand zwischen Daumen und Zeigefinger häufig für die Aufnahme eines Chips verwendet, um Türen auf diese Weise zu öffnen. Ein schwedisches Unternehmen bietet seinen Mitarbeitern bereits an, einen solchen Chip zu verwenden. Es liegt auf der Hand, dass dieses System in nicht allzu ferner Zukunft als vielseitiger Schlüsselersatz eingesetzt wird, z. B. für Hotelzimmer oder zum Öffnen und Starten von Autos. Die Möglichkeiten eines solchen Chips gehen jedoch weit über diese einfache Anwendung hinaus, da es sich im Prinzip schon heute um einen

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gleichwertigen Computerersatz handelt. Ohne ein zusätzliches externes Gerät muss auch die Steuerung eines solchen Chips revolutioniert werden. So wie Maus und Tastatur durch Wisch- und Sprachtechnologie ersetzt wurden, werden auch für einen implantierten Computer neue Bedienelemente benötigt. Bereits 2016 benutzte eine meiner Studentinnen das Kontrollarmband Myo für eine Präsentation im Unterricht, das über Bluetooth mit dem Computer verbunden ist und es dem Träger ermöglicht, eine Power Point Präsentation mit Hilfe von Gesten zu steuern. Gestensteuerungssysteme verändern die Choreographie der MenschMaschine-Interaktion radikal. Auch ein in den Körper integriertes System könnte auf diese Weise betrieben werden; Wischen über die Geräteoberfläche und eine externe Maus würden überflüssig. Auch für die Texteingabe ist weder eine analoge noch eine digitale Tastatur erforderlich. Sprachbefehle können bereits jetzt verwendet werden. Inzwischen wird jedoch intensiv daran gearbeitet, die Steuerung über Tastatur und Sprache gänzlich zu vermeiden, indem versucht wird, Gedanken direkt in digitale Informationen zu übersetzen. So wären nur Gedanken notwendig sind, um einen Text über ein Brain-Computer-Interface zusammenzustellen. Ein Team um Tanja Schultz von der Universität Bremen war für die Grundlagenforschung auf diesem Gebiet verantwortlich. Inzwischen hat Facebook diese Idee aufgegriffen und beschäftigt ein Team von 60 Mitarbeitern, um dieses Wissen in die Praxis umzusetzen.² Die Zukunft des Tippens ist das Denken. Aus dem PC wurden Smartphones, die auf die Größe eines kleinen Chips reduziert werden, mit dem unser Körper in Richtung seiner transhumanen Existenz aufgewertet wird. Dieses Verfahren hat in vielerlei Hinsicht enorme Vorteile. So kann beispielsweise die ständige Überwachung des eigenen Körpers entscheidend für die Bereitschaft zur Bekämpfung alterungsbedingter Prozesse sein. Sobald sich der Blutzuckerspiegel, der Cholesterinspiegel oder der Blutdruck auf problematische Weise zu verändern scheint, könnten Menschen digital gewarnt werden. Das Problem könnte so sofort nach dem Auftreten und nicht erst dann gelöst werden, wenn es zu weit fortgeschritten ist. Auf der Grundlage dieser Technologien könnte sogar eine vorausschauende Instandhaltung des Menschen möglich sein, welche bei Maschinen üblich ist. Sensoren innerhalb eines Flugzeugs können uns sagen, dass ein bestimmter Teil des Triebwerks innerhalb der nächsten 6 Monate gestört sein könnte. Durch entsprechende Maßnahmen können Gefahren für das menschliche Leben reduziert oder ausgeschlossen werde. Mit RFID-Chips, die in den menschlichen Körper gelangen, können wir die vorausschauende Instand-

 https://www.sciencemag.org/news/2019/01/artificial-intelligence-turns-brain-activity-speech, besucht am 1.4. 2020.

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haltung der menschlichen Gesundheit realisieren. Forscher der Tufts University haben bereits einen in einem Zahn implantierten Sensor entwickelt, der jeden Biss verfolgt.³ Weiterhin könnten solche Sensoren ein ganzes Internet der körperlichen Dinge bilden, das dann mit dem normalen Internet der Dinge interagieren kann. Die Möglichkeiten dieser Art der Körperüberwachung sind enorm und dürften für die Bekämpfung alterungsbedingter Prozesse von großer Bedeutung sein. Hier kommt der Aspekt des menschlichen Gedeihens zum Tragen. Technologien haben stets die Wahrscheinlichkeit eines erfüllten Lebens erhöht, und der Mensch hat eine große Vielfalt an Zielen. Dennoch gibt es einige Herausforderungen, die für die meisten von uns problematisch sind, und eine dieser Herausforderungen ist der Prozess des Alterns.

6 Altern als Krankheit⁴ Mit Anfang 20 haben wir unsere beste körperliche Leistungsfähigkeit erreicht.Von diesem Zeitpunkt an ist unser Körper ständig im Verfall begriffen.Wir altern. Auch unser Gehirn, dessen Entwicklungsprozess zum Zeitpunkt unserer Höchstleistung abgeschlossen ist, verliert von da an leicht an Gewicht. Unsere Sehkraft verringert sich. Das Haar wird dünner und grau. Die Elastizität der Haut nimmt ab, weshalb Falten entstehen. Selbst wenn wir weiterhin normal essen, kommt es zu einer Gewichtszunahme. Mobilität, Ausdauer und Geschwindigkeit nehmen ab. Bei Männern sinkt der Testosteronspiegel ab dem Alter von zwanzig Jahren. Bei Frauen beginnt der Rückgang der Libido etwas später. Auch die Knochendichte ist im Alter von etwa zwanzig Jahren auf dem Höhepunkt. Dies sind übliche Prozesse des Alterns. Sie sind jedoch von Schäden begleitet, die unsere Überlebensfähigkeit direkt beeinträchtigen können. Dennoch gelten sie weithin als nicht unheilbare Alterungsprozesse und nicht als Krankheitszustände. Gleichzeitig müssen wir auch feststellen, dass zwei Drittel aller Todesfälle auf alterungsbedingte Erkrankungen zurückzuführen sind. Täglich sterben weltweit etwa 150000 Menschen. 100000 von ihnen sterben an Krankheiten, die durch alterungsbedingte Schäden verursacht werden. Nur ein kleiner Prozentsatz stirbt an den Folgen von HIV/AIDS. Diese Ergebnisse stehen im Zusammenhang mit der Einschätzung, dass das Altern eine Krankheit ist. Folgende Prozesse sind im Allgemeinen mit dem Altern verbunden: 1. Mutationen in den Genen, 2. Muta https://now.tufts.edu/news-releases/scientists-develop-tiny-tooth-mounted-sensors-can-trackwhat-you-eat, besucht am 1.4. 2020.  An anderer Stelle habe ich eine detaillierte Analyse dieses Themas durchgeführt (Sorgner 2018b).

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tionen der Mitochondrien, 3. Ablagerungen in den Zellen, 4. Ablagerungen außerhalb der Zellen, 5. Zellverlust, 6. Verlust der Teilungsfähigkeit der Zellen, 7. Erhöhung der extrazellulären Proteinvernetzung, die die Elastizität zwischen den Zellen reduziert. Der erste Prozess kann zu Krebs führen, der vierte zu Alzheimer und der fünfte zu Parkinson. Dennoch werden vor allem die Krankheiten bekämpft und nicht die Schäden, die zu ihnen führen und die mit dem allgemeinen Alterungsprozess identifiziert werden. Das ist das entscheidende Problem. Die Grenze unserer durchschnittlichen Lebenserwartung könnte ständig verschoben werden, wenn der Herausforderung des Alterns angemessen begegnet würde. Es ist diese Frage, die das Gedeihen des Menschen in allen Teilen der Welt erheblich fördern könnte (De Grey/Rae 2010). Uns geht es bereits recht gut. Die Tatsache, dass wir im Durchschnitt älter werden als unsere Vorfahren, ist eine fantastische Entwicklung, die mit unserer technologischen Entwicklung verbunden ist, d. h. durch Bildung, erworbene Leseund Schreibfähigkeit, Hygiene, Impfungen, Anästhetika, Antibiotika. Alle diese Phänomene sind technisch bedingt. Sie alle haben dazu beigetragen, die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa in den letzten 150 Jahren zu verdoppeln. Aber auch weltweit hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich erhöht. Dies gilt insbesondere für die Länder, in denen die Umsetzung der oben genannten technischen Maßnahmen von den Regierungen unterstützt wurde. Einige Forscher mögen argumentieren, dass sich die absoluten Altersgrenzen der menschlichen Spezies nicht verändert haben, sondern dass nur noch viel mehr Menschen in der Lage sind, ihnen nahe zu kommen, insbesondere wegen der deutlich geringeren Säuglingssterblichkeit. Allerdings bedeutet dies nicht, dass eine Obergrenze für den Menschen eine notwendige Eigenschaft ist. Vor vierhunderttausend Jahren entstand erstmals der Homo sapiens sapiens.Vor sechs Millionen Jahren hatten die heute lebenden Affen und der Homo sapiens sapiens gemeinsame Vorfahren. Es wäre naiv anzunehmen, dass der Homo sapiens sapiens in sechs Millionen Jahren noch existieren wird. Arten müssen sich ständig an die sich verändernde Umwelt anpassen. Entweder passt sich eine Spezies an oder sie stirbt aus. Es ist daher notwendig, ständig auf neue Techniken zurückzugreifen und diese zuerst zu entwickeln. Ein vielversprechendes Forschungsgebiet im Kampf gegen das Altern ist die Bildung von Mensch-Tier-Hybriden. Im Jahr 2017 wurde am Salk Institute for Biological Studies in Kalifornien eine Mensch-Schweine-Chimäre geschaffen, deren Entwicklung nur 28 Tage nach der Befruchtung unterbrochen wurde. Nicht nur die Möglichkeit, auf diese Weise Organe zu schaffen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Abstoßung durch den Empfänger gering ist, sondern auch die Möglichkeit, nicht-menschliche Gene in den Menschen zu übertragen und zu integrieren, könnte mit Hilfe dieser Forschung realisiert werden. Zahlreiche

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Merkmale nichtmenschlicher Art würden Menschen gerne besitzen, wenn es um das Altern geht. Besonders bemerkenswert ist hier das Axolotl-Genom. Das Genom dieses Salamanders ist etwa zehnmal größer als das des Menschen. Nach dem Verlust eines Körperteils wächst innerhalb von Wochen ein perfekter Ersatz mit Knochen, Muskeln und Nerven nach. Auch wenn das Netzhautgewebe beschädigt und das Rückenmark durchtrennt ist, kann es wiederhergestellt werden. Die Qualle Turritopsis Dohrnii hat eine weitere erstaunliche Eigenschaft. Es ist der erste uns bekannte multizelluläre Organismus, der sich aus dem Stadium eines geschlechtsreifen Individuums zurück in eine sexuell unreife Lebensform verwandeln kann. Erst nach der Fortpflanzung sterben diese Medusen. Einige Exemplare der Quahog-Muschel sollen über 400 Jahre alt geworden sein. Aber auch größere Tiere erreichen manchmal ein höheres Alter. Grönlandwale können mehr als 200 Jahre überleben. Die 2006 verstorbene Riesenschildkröte Harriet ist 176 Jahre alt geworden. Wenn wir mit der neu entwickelten Genschere CRISPR/ Cas9 die für diese Altersgruppen verantwortlichen Gene erfolgreich und zuverlässig auf den Menschen übertragen könnten, würden sich sicherlich viele Menschen sehr für diese Option interessieren. Eine weitere bestehende Technologie könnte ebenfalls dazu beitragen, die Lebenserwartung zu erhöhen: die Anwendung von Big Data-Analysen auf Gene, die in Hundertjährigen gefunden wurden. Das von der Ex-Frau eines GoogleGründers gegründete Unternehmen 23andme ist in dieser Hinsicht sehr vielversprechend. Kuwait hatte auch einige bahnbrechende Vorschriften umgesetzt, da sie kürzlich alle Besucher und alle Bewohner verpflichteten, ihre Gewebeproben zu liefern.⁵ Wird dies nicht getan, drohen den Verantwortlichen bis zu sieben Jahre Gefängnis. Ohne diese Vorschriften moralisch zu hinterfragen, ist klar, dass bei der Anwendung der Big Data-Analyse auf Gene diese Entwicklungen berücksichtigt werden müssen. Auf der Grundlage dieser Forschung können wir vielleicht herausfinden, dass bestimmte Gene oder eine bestimmte Genkonstellation in der Regel bei Hundertjährigen vorhanden sind, aber dass sie bei Menschen, die in einem früheren Alter gestorben sind, weniger häufig sind. Ein solcher Befund könnte darauf hindeuten, dass es eine Korrelation zwischen den entsprechenden Genen und der Langlebigkeit gibt. Mit Hilfe der Genmodifikation und der Genselektion könnte dann das Vorhandensein der entsprechenden Gene gefördert werden.

 Diese gesetzlichen Regelungen wurden jedoch 2017 wieder aufgehoben: https://www.newscientist.com/article/2149830-kuwaits-plans-for-mandatory-dna-database-have-been-cancelled/, besucht am 1.4. 2020.

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Hier sehen wir, dass durch ein erfolgreiches Zusammenspiel von Gen- und Digitaltechnologien die Chancen steigen, dass wir das Altern, also die Prozesse, die Schäden verursachen, erfolgreich bekämpfen können. Bis jetzt investieren wir viel Geld in den Umgang mit Krebs, Alzheimer oder Parkinson. Alle diese Krankheiten sind oft langfristige Folgen der oben genannten Schäden. Es ist politisch nicht sinnvoll, sich allein auf diese Handlungsweise festzulegen. Wenn wir eine bestimmte Krebsart erfolgreich behandeln, kann sich die Lebensdauer eines einzelnen Patienten um fünf Jahre erhöhen.Wenn wir jedoch erfolgreich mit dem Altern umgehen würden, steigt die Wahrscheinlichkeit, weitere 50 Jahre hinzuzugewinnen. Dies bedeutete einen enormen Unterschied in Bezug auf die Möglichkeit der menschlichen Entfaltung auf individueller Ebene. Daher ist das Potenzial der Anwendung digitaler Technologien auf die Krankheit des „Alterns“ enorm. Ein verstärktes politisches Interesse an der direkten Unterstützung der Forschung zu diesem Thema bedeutet also, an der Wurzel der Krankheiten anzusetzen und nicht an der Spitze des Eisbergs, d. h. den Krankheiten, die die langfristigen Folgen altersbedingter Prozesse sind. So würde das menschliche Gedeihen viel effizienter gefördert, als dies unter den derzeit gegebenen Bedingungen möglich ist. Eine Weiterentwicklung, die Ende 2017 von MIT-Forschern vorgestellt wurde, könnte diese Entwicklungen ergänzen. Diese Forscher haben eine Technik identifiziert, die es ihnen ermöglicht, dreidimensionale lebende Tattoos aus genetisch programmierten Zellen zu drucken. Diese könnten als Sensoren für körpereigene Prozesse, aber auch für Umwelteinflüsse eingesetzt werden, so dass wir sofort auf die daraus resultierenden Umwelt- und Körpergefahren reagieren könnten. Diese Entwicklung stellt auch den ersten Schritt hin zu lebenden Computern dar, mit deren Hilfe es möglich ist, die vielen bisherigen Vorteile der upgegradeten Person zu nutzen.⁶ Wir entwickeln autonome Autos, Smart Cities und das Internet der Dinge. Damit wir Menschen effizient mit dieser technisch verbesserten Umwelt interagieren können, müssen auch wir auf diese neue Ebene unserer Existenz aufsteigen: als Cyborg. Smart Cities und upgegradete Menschen sind zwei Prozesse, die Hand in Hand entwickelt werden müssen. Auch wenn diese Entwicklungen von enormer Relevanz für die Erhöhung unserer Gesundheitsspanne und damit für den menschlichen Aufschwung sein könnten, ergeben sich neue Herausforderungen, die ebenfalls nicht vernachlässigt werden dürfen. Das InternetPanoptikum muss als die größte Herausforderung angesehen werden, die mit dem digitalen Zeitalter verbunden ist.

 http://news.mit.edu/2017/engineers-3-d-print-living-tattoo-1205, besucht am 1.4. 2020.

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7 Internet Panoptikum⁷ Was ist dieses Internet-Panoptikum und in welchem Zusammenhang steht es mit den hier beschriebenen Digitalisierungsphänomenen? Das Panoptikum ist in erster Linie eine architektonische Struktur, die in Krankenhäusern, Schulen und Fabriken sinnvoll eingesetzt werden kann. Sie wurde im späten 18. Jahrhundert vom Gründer des Utilitarismus, dem Philosophen Jeremy Bentham, entwickelt. Es war Teil seiner Vorschläge für Rechts- und Sozialreformen. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf der Architektur von Gefängnissen, die jedoch nicht mehr gemeinsam mit ihm, sondern erst später nach seinen Entwürfen realisiert wurden. Das Panoptikum hat den Vorteil einer permanenten und kostengünstigen Überwachung der Gefangenen. Es besteht aus einem runden Gebäude mit zahlreichen Zellen, die vollständig lichtdurchflutet sind, mit Fenstern an der Innen- und Außenseite des Kreises. In der Mitte dieses Kreises befindet sich ein innen dunkler Turm mit wenigen Gucklöchern, in dem sich die Wächter befinden. Ob sich Wachen im Turm befinden oder nicht, ist für die Gefangenen nicht sichtbar. Den Gefangenen ist jedoch bewusst, dass alle ihre Handlungen jederzeit beobachtet werden können. Im Vergleich zu einem herkömmlichen Gefängnis benötigt das Panoptikum weniger Personal, was die Betriebskosten senkt. Gefängnisinsassen verinnerlichen das Bewusstsein für ständige Überwachung, so dass sie selbst dazu neigen, ihr eigenes Handeln zu zensieren (siehe Foucault 1977, S. 202). Im Gefängnis spielt die Überwachung eine Rolle zwischen Wächtern und Gefangenen. Im Internet-Panoptikum – und jeder Mensch, der in einer technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft lebt, lebt in einem solchen – ist die Situation noch komplexer, da die individuellen Rollen von Wächtern und Gefangenen weniger klar definiert sind. Jeder ausgezeichnete Hacker könnte ein Wächter sein. Gleichzeitig ist aber jeder Internetnutzer ein Gefangener. Die Digitalisierungsprozesse und das Internet der Dinge verbessern unsere Lebensqualität. Gleichzeitig ermöglichen beide eine lückenlose und kontinuierliche Überwachung. Die wichtigsten Bereiche der Personenüberwachung sind: 1. unser Raum-Zeit-Standort (GPS, Überwachungskameras, Navigationssysteme); 2. unsere Psychologie (gescannte E-Mail-Inhalte, Internet-Suchanfragen, aufgerufene Websites); 3. unsere Physiologie (Gesundheitsdaten, biometrische Daten, genetische Analyse, siehe Liu 2012). Die Informationen aus den ersten beiden Bereichen sind leicht zugänglich. Derzeit sind die Daten der dritten Kategorie besonders gefragt, ins-

 Einige Aspekte dieses Themas wurden in einem anderen Artikel analysiert (Sorgner 2017). In einer kürzlich erschienenen Monographie habe ich erklärt, wie sie sich auf andere Aspekte meines Nietzscheanischen Transhumanismus bezieht (Sorgner 2019).

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besondere das Interesse an genetischen Daten ist gegenwärtig enorm, und viele Unternehmen, wie 23andme, bieten diesbezüglich Dienstleistungen an. Mit dem Entstehen von verbesserten Menschen werden alle diese Daten zusammenkommen und digital verfügbar und zugänglich sein. Francis Bacon hat bereits folgendes erkannt: „Nam et ipsa scientia potestas est“ (Bacon 1859). Information ist Macht. Die Digitalisierung abzubrechen oder rückgängig zu machen, ist keine Option. Dies ist weder möglich noch wünschenswert. Die totalitäre Massenüberwachung ist jedoch kein kulturelles Umfeld, das auf den ersten Blick als wünschenswert angesehen werden sollte. Die zentrale Herausforderung dabei ist, das kulturelle Umfeld so zu strukturieren, dass die fortschreitende Digitalisierung nicht mit einer Re-Totalisierung der Gesellschaft in einem beispiellosen Ausmaß einhergeht. Die Zerstörung des Internets ist keine geeignete Lösung für unsere Situation. Wir wollen das Internet erhalten und weiter ausbauen, da es unsere Lebensqualität in vielen Bereichen erhöht und fördert. Mit der Existenz des Internets bleiben wir jedoch Insassen im Gefängnis des Internet-Panoptikums. Dies bedeutet auch einen Verlust der Privatsphäre. Was ist die Herausforderung der Privatsphäre? Ist sie wirklich so wichtig für uns? Warum schätzen wir sie? Die beiden wichtigsten Gründe dafür sind die Eigentumstheorie und die Sanktions-Theorie (Floridi 2014, S. 116). Diese sind jedoch keine sich gegenseitig ausschließenden Theorien. Beide Theorien werden durch die Anerkennung der Bedeutung von Macht vereint. Dies muss kurz erläutert werden: Meine Privatsphäre ist mir wichtig, denn sie geht Hand in Hand mit Informationen über mich. Informationen über mich selbst sind mein Eigentum. Eigentum ist wichtig, denn Eigentum wird von Macht begleitet. Wer etwas besitzt, kann über das Besessene verfügen. Das ist Macht. Auch die Sanktionstheorie des Datenschutzes kann auf diese Weise erklärt werden. Wir legen Wert auf Datenschutz, weil wir befürchten, dass die mit personenbezogenen Daten verbundenen Informationen sanktioniert werden. Zum Beispiel, wenn wir privat etwas tun, das entweder rechtlich, institutionell oder moralisch verwerflich ist, wie z. B. Konsum starker Drogen, Unterstützung von Euthanasie, Leben und Lieben auf polyamouröse Weise. Sanktionen sind Einschränkungen, die wiederum einen Machtverlust bedeuten, z. B. wenn jemand mit Freiheitsstrafe, Ausschluss aus einer Institution oder sozialer Ausgrenzung bestraft wird. Was die erste Theorie betrifft, so ist in einem System ohne Privatsphäre zumindest niemand prinzipiell besser dran. Da sich die Rolle der Wächter im Internet-Panoptikum nicht klar definieren lässt, ist hier jeder in der Rolle eines Gefangenen.Wächter können auch überwacht werden. Was die Sanktionstheorie betrifft, so ist die Situation etwas anders. Je mehr Werte und rechtliche und institutionelle Standards es gibt, desto mehr Sanktionen muss jeder von uns befürchten. Das ist der entscheidende

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Punkt, der angegangen werden muss. Wie viele Sanktionen müssen wir befürchten? Der Aufenthalt im Internet-Panoptikum bedeutet den Verlust der Freiheit und die ständige Angst vor Sanktionen. Aber ist es möglich, ohne Angst vor Sanktionen zu leben? Hobbes hat uns deutlich gemacht, dass dies nicht der Fall ist. Selbst die Stärksten müssen einmal schlafen, und wenn du schläfst, dann kannst du von den Schwächsten getötet werden. In einer Welt ohne politische Strukturen müssen wir befürchten, dass wir getötet werden, wann immer wir schwach, eingeschlafen oder krank sind. Diese Situation ist in niemandes Interesse. Deshalb sind politische Strukturen notwendig. Das bedeutet jedoch, dass es Standards gibt, die wiederum nur dann Sinn ergeben, wenn man bei Missachtung in irgendeiner Form sanktioniert wird. Angst vor Sanktionen sind in jeder sinnvollen politischen Ordnung gegeben. Sanktionen werden jedoch nur dann verhängt, wenn ein Verstoß gegen die Regeln erkennbar wird, was wiederum umso wahrscheinlicher wird, je besser ein System überwacht wird. Andererseits bedeutet dies, dass in einem Zustand der totalen Überwachung eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass jeder Regelverstoß aufgedeckt wird. Muss eine solche politische Ordnung problematisch sein? Nicht unbedingt. Wenn der Mörder eines unschuldigen Kleinkindes, ein Vergewaltiger oder ein Entführer gefasst wird, liegt das im Interesse der Bevölkerung. Ein Problem ist jedoch, dass in keiner Gesellschaftsordnung die Regeln fehlerfrei sind, d. h. in jedem System besteht die Gefahr von Sanktionen für Handlungen, die nicht unbedingt moralisch problematisch sind. Homosexuelle Handlungen wurden in Deutschland vor 50 Jahren strafrechtlich verfolgt. Inzwischen ist die Ehe für alle in Deutschland rechtlich legitim. Inzest ist auch heute noch unter Erwachsenen verboten. In Spanien ist dies nicht der Fall. Warum ein Staat das Recht haben sollte, kompetenten Erwachsenen zu sagen, mit wem er Sex haben darf, ist mir nicht klar. Eine sexuelle Beziehung ist ausschließlich eine Vertragsbeziehung zwischen zwei kompetenten Erwachsenen. Ein Grund, warum uns das Recht auf Privatsphäre wichtig ist, ist, dass es kein System von Regeln ohne Mängel gibt, weshalb wir befürchten, dass wir ohne guten Grund bestraft werden. Gerade aus diesem Grund ist die Anerkennung der Norm der negativen Freiheit, d. h. der Abwesenheit von Zwang, eine so zentrale Rechtsnorm. Je mehr individuelle Möglichkeiten es gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Handlung aus unangemessenen Gründen sanktioniert wird. In einem System, in dem jede Form von Privatsphäre verloren gegangen ist, ist diese Einsicht umso wichtiger. Im negativen Sinne bedeutet das: Die politische Norm der Freiheit ist in einem System der totalen Überwachung besonders wichtig, da sie die Wahrscheinlichkeit unangemessener Sanktionen verringert. Der gleiche Punkt kann und sollte positiv formuliert werden, und diese

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Begründung ist mindestens genauso wichtig wie die vorherige. Die politische Norm der Freiheit ist in einem System der totalen Überwachung besonders wichtig, da sie es wahrscheinlicher macht, dass es eine große Vielfalt an guten Lebensbedingungen gibt. Hier gehe ich davon aus, wie ich bereits oft dargelegt habe, dass ein nicht-formaler Begriff des guten Lebens höchst unplausibel ist, was in etwa bedeutet, dass keine Festlegung darüber, was ein gutes Leben ausmacht, notwendigerweise plausibel ist (Sorgner 2016b). Jeder Mensch hat ein einzigartiges Konzept, das es ihm ermöglicht, ein gutes Leben zu führen. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die einzig überzeugende Lösung für die Frage nach dem bestmöglichen kulturellen Rahmen vor dem Hintergrund der Digitalisierung darin bestehen kann, dass wir uns stets bemühen müssen, die Norm der negativen Freiheit auf rechtlicher, sozialer und kultureller Ebene zu fördern. Die Tatsache, dass negative Freiheit wichtig ist, basiert jedoch nicht auf einer Einsicht.Vielmehr ist es ein individuelles Urteil meinerseits, das glücklicherweise weit verbreitet ist. Normen und Werte sind genauso Fiktionen wie Geld. In all diesen Fällen geht es um geschaffene, fiktive und imaginäre Bewertungen, die nur dann wirksam sein können, wenn sie geteilt werden. In all meinen Schriften werbe ich für die Wirksamkeit dieser Freiheitsnorm. Wenn diese moralische, soziale und rechtliche Norm gefördert werden kann, haben wir Grund zu der Annahme, dass wir von den Folgen des Lebens als geupgradete Menschen in einer intelligenten Stadt profitieren können, während wir gleichzeitig im Internet-Panoptikum vertreten sein werden. Die Privatsphäre wird aufgegeben, aber die menschliche Pluralität muss gefördert werden. Dann können totale Überwachung und größtmögliche Pluralität des menschlichen Gedeihens Hand in Hand erfolgen, unsere Beschleunigung wird zu einer weiteren Verlangsamung führen, und die durchschnittliche Spanne der menschlichen Gesundheit wird deutlich erweitert, was die Wahrscheinlichkeit des menschlichen Gedeihens weiter erhöht.

Fazit Was habe ich in meinem Artikel gezeigt? Ich erklärte, dass Computer dabei sind, kleiner zu werden und in unseren Körper einzudringen, so dass wir zu upgegradeten Menschen werden, die effizient mit ihrer Umwelt in Smart Cities interagieren können und über die entsprechenden Mittel verfügen, um mit dem Altern, dem schlimmsten Massenmörder der Welt, fertig zu werden. Diese Entwicklung geht einher mit neuen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung, wobei das Entstehen des Internet-Panoptikums die gravierendste von allen ist. Indem wir die Freiheit als moralische, soziale und rechtliche Norm fördern, können wir von den Vorteilen des digitalen Zeitalters profitieren. Dies

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ermöglicht es, einer großen Vielfalt von Lebensstilen zu folgen, die dauerhaft verlangsamt werden, und unsere durchschnittliche Gesundheitsspanne erweitern, die weiterhin die Wahrscheinlichkeit unseres Gedeihens fördert. Daher kann ich abschließend betonen, dass ich es kaum erwarten kann, dass unsere posthumane Zukunft eintritt.

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2 Zur Metaphysik des Transhumanismus: Ist das Ziel des Transhumanismus metaphysisch möglich?

Tobias Müller

Zur Anthropologie des Transhumanismus Abstract: On the Anthropology of Transhumanism. The enormous progress of science and technology seems to have brought the realization of bold technoutopias within reach. According to transhumanism, technology should not only be used to improve working conditions or for therapeutic purposes, but to improve or change human nature itself through fusion with technology. This also includes the possibility of technology-based manipulation and reproduction of human consciousness (mind-upload or mind-cloning). The aim of this article is to critically reconstruct and examine the metaphysical concepts presupposed in the context of the transhumanist transformation of consciousness, thereby revealing the essential limitations of the transhumanist project. Subsequently, a concept of subjectivity is sketched that can take into account the specific nature of consciousness as well as the scientific-technical insights and the technical manipulation made possible by them.

1 Der Transhumanismus und die Zukunft der Menschheit: bestehender Klärungsbedarf In der Geschichte der Menschheit spielte die Verwendung von Technik eine entscheidende Rolle. Mit ihrer Hilfe ist dem Menschen nicht nur eine zunehmende Beherrschung der Natur und damit eine erhebliche Verbesserung von Arbeitsbedingungen ermöglicht worden. Vielmehr dient Technik auch dazu, die Lebensvollzüge des Menschen in unterschiedlichsten Bereichen zu unterstützen und zu optimieren. Vor allem durch die beispiellosen Erfolge der Naturwissenschaften der letzten Jahrzehnte, die zu einer immer detaillierteren und präziseren theoretischen Beschreibung der quantifizierbaren Aspekte der Natur führten, erweiterte sich der Bereich des technisch Machbaren in ungeahnter Weise. War es lange Zeit der Science-Fiction-Literatur vorbehalten, kühne Zukunftsvisionen der Menschheit zu entwerfen, in der dem Menschen durch die Anwendung von Technik völlig neue Horizonte eröffnet werden, so scheint die Realisierung solcher Entwürfe aufgrund des enormen Fortschritts in greifbare Nähe zu rücken. Gerade die Erfolge im Zusammenspiel von Mensch, Natur und Technik haben mit dem sogenannten Transhumanismus eine intellektuelle Bewegung beflügelt, die eine Radikalisierung der Interaktion von Mensch und Technik anstrebt. Dem Transhumanismus zufolge soll die Technik nicht nur zur https://doi.org/10.1515/9783110691047-006

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Verbesserung von Arbeitsbedingungen oder zu therapeutischen Zwecken dienen, letztlich soll auch die Natur des Menschen selbst durch die Verschmelzung mit Technik verbessert bzw. transformiert werden. Dadurch werde es möglich, sowohl die physische Basis als auch die psychisch-kognitive Verfassung des Menschen durch verschiedene Techniken zu perfektionieren (vgl. Sorgner 2016, S. 34– 64). Vertretern des Transhumanismus zufolge sind solche technischen Verbesserungen bereits teilweise realisiert. So können Implantate Lebensfunktionen ersetzen oder Psychopharmaka zur Optimierung mentaler Fähigkeiten eingesetzt werden (vgl. Loh 2018, S. 50). Eine vollständige Perfektionierung werde aber erst durch Schlüsseltechnologien erfolgen, die sich gerade in der Entwicklung befinden: So soll es zukünftig möglich werden, die genetische Basis des Menschen durch Human Genetic Engineering aktiv zu verbessern (vgl. Sorgner 2018a, S. 155 – 157). Die Menschheit ist demzufolge also in der Lage, ihre Entwicklung durch technische Eingriffe selbst in die Hand zu nehmen. Diese Entwicklung soll letztlich zu einer „durchgängig rationalen Zivilisation, frei von psychischen Leiden, gesellschaftlichen Konflikten und physischen Entbehrungen […]“ (Coenen 2007, S. 269) führen. Dies beinhalte nicht nur die Verlängerung der Lebens- und Gesundheitsspanne; die meisten Transhumanisten gehen davon aus, dass es zukünftig möglich sein wird, das menschliche Bewusstsein auf einen Computer zu transferieren, was zu einer „praktischen Unsterblichkeit“ führen werde (vgl. z. B. Sorgner 2018a, S. 157– 159). Dass die Realisierung eines solchen Zustands zukünftig tatsächlich im Bereich des technisch Machbaren liege, wird oft durch eine Extrapolation des aktuellen technisch-wissenschaftlichen Fortschritts begründet (vgl. z. B. Göcke 2018, S. 134– 135; Klaes 2018, S. 379): Dem wissenschaftlichen Fortschritt sei keine prinzipielle Grenze gesetzt, weshalb die gesamte Wirklichkeit früher oder später durch die naturwissenschaftliche Analyse beschreibbar und durch die entsprechende Technik auch manipulierbar werde. Abgesehen von der Frage, ob eine solche Transformation oder der Weg dorthin ein ethisch erstrebenswertes Ziel darstellt, setzen gerade die von den Transhumanisten angestrebte Kontrollierbarkeit, Optimierbarkeit und Erzeugbarkeit des Bewusstseins bestimmte metaphysische Annahmen voraus, die für die Erfolgsaussichten des transhumanistischen Projekts konstitutiv sind. Wenn es sich bei dem Transhumanismus um eine Weltanschauung handelt, deren Anspruch die Realisierung ihrer Ziele mit naturwissenschaftlichen Mitteln ist, dann kann durch eine philosophische Rekonstruktion der Mittel und Methoden der beteiligten Wissenschaften geklärt werden, ob diese prinzipiell hinreichend sind, um die ausgegebenen Ziele zu erreichen. Ziel dieses Beitrags ist es, die im Kontext der transhumanistischen Transformation des Bewusstseins vorausgesetzten metaphysischen Konzepte kritisch

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zu rekonstruieren, um damit die Frage beantworten zu können, ob und inwieweit es sich bei diesem Vorhaben um ein vernünftiges Programm handelt. Zu diesem Zweck wird zunächst der Extrapolationszusammenhang von technischer Entwicklung und der Vision des Transhumanismus untersucht. Durch eine Analyse der transhumanistischen Interpretation dieser Entwicklungen wird deutlich werden, welche metaphysischen Zusatzannahmen dabei vorausgesetzt werden müssen. Nach der kurzen Klärung einiger Grundbegriffe im Kontext des Bewusstseins werden diese metaphysischen Konzepte einer Kritik unterzogen, die die Grenzen des transhumanistischen Projekts deutlich werden lässt. Anschließend soll ein Konzept konkreter Subjektivität skizziert werden, das sowohl der Eigenart des Bewusstseins als auch den naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen und der dadurch ermöglichten Manipulation Rechnung tragen kann.

2 Vom naturwissenschaftlich-technischen Erfolg zur Utopie des Transhumanismus Auch wenn die genauen Anfänge des Transhumanismus schwer festzumachen sind, so gilt doch der Essay „The World, The Flesh and the Devil“ des irischen Physikers John Desmond Bernal von 1929 als einer der Schlüsseltexte der frühen transhumanistischen Bewegung (vgl. Coenen 2007, S. 270). In ihm entwarf Bernal eine Utopie, in der die menschliche Gattung letztlich vom „mechanischen Menschen“ abgelöst werden sollte. Zeichneten sich zu Bernals Zeit erstmals Techniken ab, mit denen man auf die Natur des Menschen Einfluss nehmen konnte, so beflügelte die aufkommende Computertechnologie und Kybernetik im besonderen Maße die transhumanistische Fantasie (vgl. Coenen 2007, S. 270). Es dauerte aber noch einige Jahrzehnte, bis der Transhumanismus die Mainstreamdebatten erreichte und heute als satisfaktionsfähige Position in aktuellen Diskussionen gilt. Maßgeblich für diese Aufwertung sind die großen technologischen Erfolge in jüngster Vergangenheit, die die menschliche Lebenswelt nachhaltig geprägt haben und die transhumanistische Vision als realistische Option erscheinen lassen: Kommunikation, gesellschaftliche Interaktion, Arbeitsund Produktionsschritte vollziehen sich oftmals bereits vollständig digitalisiert und eröffnen so neue und weitreichende Optionen für das menschliche Selbstverständnis. Ermöglicht wurde dies durch den massiven Einsatz neuester Computer- und Softwaretechnologie, die sich als hilfreiches Werkzeug herausgestellt hat. Der Einfluss und der Erfolg von Wissenschaft und Technik beschränken sich allerdings nicht nur auf den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt, sondern

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betreffen auch die Manipulation der psychophysischen Verfasstheit des Menschen, besonders im Bereich der medizinischen Therapie: Gelingt es, Mechanismen auf der physiologischen Ebene als notwendige Bedingungen für bestimmte menschliche Lebensvollzüge zu identifizieren, lässt sich dadurch meist einem Störungsbeseitigungs- und Störungsvermeidungswissen gemäß eine medizinische Therapie bzw. Prophylaxe finden (vgl. Janich 2006, S. 93 – 95). Besonders eindrucksvoll lässt sich dies im Bereich der Prothetik illustrieren. Gleich, ob es sich beispielsweise um den Einsatz sogenannter neurokybernetischer Prothesen (NCP) bei Epilepsiepatienten handelt, mit denen durch elektrische Impulse epileptische Anfälle vermieden werden können, oder um sogenannte Exoprothesen, die amputierte Gliedmaßen ersetzen, durch Sensoren Druck, Temperatur und Vibration erkennen und durch ein elektronisches Regelsystem verarbeiten können: Durch den Einsatz von Technik werden Teilfunktionen der jeweiligen Lebensvollzüge ersetzt oder zumindest reguliert. Solche Erfolge werden oft als Belege dafür angeführt, dass die vom Transhumanismus angestrebte Transformation des Menschen bei weiterem Fortschritt der Technik in absehbarer Zeit realisiert werden kann (vgl. z. B. Bostrom 2018, S. 193). Wie genau diese Transformation erreicht werden kann und was letztlich das Ziel dieser Entwicklung sein soll, wird in den verschiedenen Strömungen des Transhumanismus unterschiedlich beantwortet. Oftmals wird der Transhumanismus dabei von seinen Vertretern als eine Art Übergangsstufe angesehen, in der Teile der Menschheit in ein posthumanes Stadium übergehen werden. In diesem soll durch die technische Verbesserung des Menschen oder durch die Erschaffung posthumaner Intelligenzen eine neue Spezies etabliert werden, die die menschliche Gattung ersetzen soll (vgl. Coenen 2007, S. 268). Auch wenn der Transhumanismus keine einheitliche Bewegung darstellt, sondern eher als Sammelbegriff für verschiedene Strömungen aufgefasst werden muss, lassen sich doch einige gemeinsame Ziele ausfindig machen, die den meisten Varianten des Transhumanismus als Leitidee dienen. Hava Tirosh-Samuelson hat diese Ziele wie folgt auf den Punkt gebracht: Transhumanists do not speak in one voice, and the movement expresses a variety of impulses, which are often at odds with each other. Nonetheless, several themes are common to transhumanist discourse: the view of evolving human nature, the focus on biotechnological enhancement that will exceed ordinary human physical and cognitive traits, a preoccupation with human happiness that can be perpetuated indefinitely, a deep concern for longevity and radical life extension, and a technoutopia of human machine fusion that constitutes practical immortality. (Tirosh-Samuelson 2011, S. 29)

Im Kern geht es dem Transhumanismus also um eine technisch kontrollierte Steuerung der Evolution, mit der durch die technische Manipulation der

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menschlichen Natur eine ständige Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten einhergeht. Diese Entwicklung mündet den meisten Vertretern des Transhumanismus zufolge in einer technisch hergestellten starken Verbesserung und Kontrollierbarkeit des Geistes sowie letztlich in der Unsterblichkeit des menschlichen Bewusstseins. Grundlegend für diese Vision ist die Vorstellung, das menschliche Bewusstsein sei entweder identisch mit seiner neuronalen Grundlage oder lasse sich erschöpfend durch seine funktionale Struktur charakterisieren (vgl. Bostrom 2018, S. 192– 193). Denn nur dann ergäbe sich die Möglichkeit, das Bewusstsein in dem angestrebten Maß durch technische Eingriffe zu manipulieren oder gar in Perfektion zu simulieren. Als Datenstruktur wäre es somit – so die Vorstellung der Transhumanisten – auf einen Roboter transferierbar oder könnte nahezu unbegrenzt im Cyberspace weiterexistieren, was im Transhumanismus als „Mind-Uploading“ bzw. „Mind-Cloning“ bezeichnet wird. Dabei gehen die meisten Transhumanisten nicht von einer „echten“ Unsterblichkeit aus, denn es ist aus physikalischen Gründen sehr wahrscheinlich, dass kosmologische Entwicklungen jedem Leben früher oder später ein Ende bereiten: entweder durch die unendliche Dichte einer Singularität in einem sogenannten Big Crunch am Ende des Universums oder durch den Endzustand eines kosmologischen thermodynamischen Gleichgewichts, den sogenannten Wärmetod, in dem maximale Entropie erreicht und Leben (sogar abstrakt als Datenstruktur) ebenfalls verunmöglicht würde. Beiden Szenarien lässt sich auch mit technischen Hilfsmitteln aus rein physikalischen Gründen nicht entkommen, so dass mit „Unsterblichkeit“ im Transhumanismus letztlich nur ein sehr langes Leben gemeint sein kann (vgl. Sorgner 2018a, S. 157– 159). Aber auch in diesem „bescheideneren“ Fall setzt die transhumanistische Vision eine bestimmte Anthropologie und damit auch bestimmte metaphysische Konzepte voraus, die beispielsweise Aussagen darüber machen, was Bewusstsein seiner Natur nach ist und wie es sich technisch manipulieren bzw. transformieren lässt. Im Folgenden werden zunächst einige Grundbegriffe der Bewusstseinsdebatte erläutert, um anschließend die vom Transhumanismus vorausgesetzten Konzepte kritisch zu diskutieren und die metaphysischen Schwierigkeiten des transhumanistischen Projekts zu verdeutlichen.

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3 Anthropologische Voraussetzungen des Transhumanismus: der Mensch als rein kausal-funktionales Gefüge Wie bereits kurz angedeutet wurde, ist transhumanistischen Ansätzen zufolge die Möglichkeit einer weitreichenden technischen Manipulation und Transformation des menschlichen Bewusstseins, wie sie z. B. in der vollständigen Kontrolle des Geistes oder in dessen Reproduzierbarkeit angestrebt wird, aufgrund des enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritts in greifbare Nähe gerückt, und es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich solche Visionen realisieren ließen. Allerdings lässt sich durch eine genauere Analyse dieser Begründungsstrategie zeigen, dass der Erfolg heutiger technischer Manipulationsmöglichkeiten des Bewusstseins, wie sie z. B. in psychopharmakologischen oder neurokybernetisch-prothetischen Eingriffen vorliegt, als Begründung für die mögliche Erreichung der weitreichenden Ziele des Transhumanismus nicht hinreichend ist. Denn diese Erfolge zeigen zunächst nur, dass durch technische Beeinflussung der menschlichen Psyche bestimmte Störungen behoben werden können. Die Behauptungen des Transhumanismus gehen aber weit über diese Annahme und ihre vergleichsweise bescheidene metaphysische Voraussetzung der Wechselwirkung von Geist und Körper hinaus. Denn die Perfektionierung des menschlichen Bewusstseins oder seine Reproduktion im „Mind-Uploading“ bzw. „Mind-Cloning“ setzen voraus, dass das Bewusstsein eine Art Datenstruktur ist, die sich technisch herstellen und dann auf verschiedene Träger transferieren lässt (vgl. z. B. Sorgner 2018b, S. 37– 41).¹ Diese Auffassung setzt eine reduktiv-naturalistische Sicht der Natur und der menschlichen Subjektivität voraus, der gemäß sich alle Wirklichkeit als Folge eines „bloßen Verhaltens“ erschöpfend charakterisieren lässt, das rein (wirk‐) kausal-funktional beschrieben werden kann. Zusätzlich wird dabei angenommen, dass das Verhalten des Gesamtsystems bzw. „höhere“ Eigenschaften durch die kausalen Dispositionen der Einzelteile der fundamentaleren Ebene bestimmt werden (vgl. Cramm 2008, S. 44). Wirklichkeit ist also bottom-up verfasst: Kennt man die grundlegenden Strukturen und ihre Gesetzmäßigkeiten, so versteht man auch die auf ihnen basierenden Phänomene. In dieser Perspektive würden sich letztlich alle Dimensionen unseres Menschund Personseins als kausales Produkt der zugrundeliegenden materiellen Kon Einige Vertreter des Transhumanismus gehen sogar so weit zu behaupten, dass unsere gesamte Wirklichkeit schon eine Computersimulation sei (vgl. Bostrom 2018).

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stellationen entpuppen. Damit tritt an die Stelle des Menschen als eines handelnden Subjekts mit seinen geistigen Fähigkeiten und seelischen Dispositionen ein vollständig von physikalischen oder physiologischen Gesetzen bestimmtes materielles Substrat. Der Mensch wäre somit nur ein Anwendungsfall einer alle Wirklichkeit umfassenden Doktrin: Alles, was geschieht, ist letztlich auf eine physikalische oder physiologische Struktur zurückführbar oder zumindest durch diese vollständig festgelegt. Da mit dieser impliziten metaphysischen Grundannahme die Plausibilität der transhumanistischen Agenda steht und fällt, soll es im Folgenden darum gehen, die Schwierigkeiten des reduktiv-naturalistischen Ansatzes hinsichtlich des Phänomens der Subjektivität zu skizzieren. Zu diesem Zweck sollen hier zunächst einige grundlegende Minimalbestimmungen von „Bewusstsein“ und „Denken“, den beiden wesentlichen Modi menschlicher Subjektivität, erläutert werden. Anschließend wird es darum gehen, den metaphysischen Status dieser Phänomene und deren Verhältnis zu ihrer physischen Basis anhand einiger Argumente der aktuellen Debatte zu klären, um dann beurteilen zu können, ob die von den transhumanistischen Ansätzen in Anspruch genommenen technischen Mittel für die angezielten Transformationen überhaupt geeignet sind.

3.1 Begriffliche Klärungen im Kontext der Bewusstseinsdebatte Das sogenannte phänomenale Bewusstsein hat die Diskussionen der letzten Jahrzehnte in der Philosophie des Geistes wesentlich geprägt und bildet den Grundmodus von Subjektivität, weil dieser allen erlebenden Lebewesen zugeschrieben wird. Dabei hat sich herausgestellt, dass es nicht möglich ist, „Bewusstsein“ durch fundamentalere Begriffe zu definieren (vgl. Chalmers 1996, S. 4). Dies lässt sich u. a. auch daran erkennen, dass für Bewusstseinsphänomene mangels hinreichend bestimmter Begriffe oft Metaphern wie z. B. „Innenseite eines Organismus“ verwendet werden, um zumindest die Aufmerksamkeit auf dasjenige Phänomen zu lenken, zu dem alle bewusstseinsfähigen Lebewesen schon unmittelbar einen Zugang besitzen. Nur durch die jeweilige Vertrautheit mit diesem Phänomen wird es überhaupt möglich, die gemeinte Qualität zu beschreiben. In diesem Sinn kann man sich einer begrifflichen Bestimmung mit Thomas Nagel wie folgt nähern: But no matter how the form may vary, the fact that an organism has conscious experience at all means, basically, that there is something it is like to be that organism. There may be further implications about the form of the experience; there may even (though I doubt it) be

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implications about the behavior of the organism. But fundamentally an organism has conscious mental states if and only if there is something that it is like to be that organism – something it is like for the organism. (Nagel 1974, S. 436)

Nagel versucht hier zwei Grundeigenschaften des Bewusstseins zu erfassen: Einmal die phänomenale Qualität des bewussten Erlebens, dass es sich also irgendwie anfühlt, in diesem Zustand zu sein. Dieser Aspekt wird der „What-it-islike-ness“-Aspekt des Bewusstseins genannt und tritt immer nur mit einem anderen Charakteristikum zusammen auf, das Nagel ebenfalls nennt: Die Qualität des „What-it-is-like-ness“ ist immer schon für ein Subjekt, das diese erlebt. Oder anders ausgedrückt: Erleben ist durch phänomenale Qualitäten bestimmt (z. B. einen bestimmten Roteindruck), und diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht wie z. B. physikalische Eigenschaften einfach „an Dingen“ vorkommen, sondern dass sie nur als Qualitäten eines Erlebens in einem erlebenden Lebewesens auftreten, das als Subjekt fähig ist, dieses Erleben zu haben (vgl. Searle 2000, S. 561). Dabei werden bestimmte einzelne qualitative Aspekte des phänomenalen Bewusstseins „Quale“ bzw. im Plural „Qualia“ genannt (vgl. z. B. Searle 2000, S. 560 – 561).² Dazu gehören beispielsweise visuelle und auditive Eindrücke, Geruchs- und Tasterfahrungen, Gefühle usw. (vgl. Chalmers 1996, S. 6 – 10). Auch die Wahrnehmung ist eine bestimmte Art des phänomenalen Bewusstseins, nämlich die Erscheinungsweise, wie sich Dinge einem erlebenden Subjekt präsentieren. Diese Bezogenheit der erlebenden Lebewesen auf die Welt durch das phänomenale Bewusstsein ist auch eine grundlegende Voraussetzung für ein denkendes Subjekt, Erkenntnisse über die Welt zu generieren. Denn im Denken als einem spezifischeren Modus von Subjektivität werden durch Gedanken Sachverhalte der Wirklichkeit erkannt, die dem Subjekt durch das phänomenal Erlebte vermittelt werden, da das Erkennen der Welt sich letztlich auf eine Art der Wahrnehmung bezieht, die ihrerseits auf etwas Wirkliches bezogen ist. Ein weiteres konstitutives Merkmal des menschlichen Denkens besteht darin, dass es sich nicht nur in bereits vorgegebenen Bahnen bewegen, sondern dass es Gewohnheiten und damit verbundene normative Vorgaben hinterfragen und deren Anwendung kritisch reflektieren kann. Damit erschöpft sich Denken nicht in einem reinen Regelfolgen, denn die Festlegung und die kritische Prüfung, ob bestimmte Regeln in einem konkreten Fall Anwendung finden sollen, ist selbst schon Bestandteil einer rationalen Reflexion im Denken. Damit verfügt menschliches Denken über einen gewissen Grad an Spontaneität. Das bedeutet, das  Chalmers nennt noch „experience“, „what it is like“, „subjective experience“ und „phenomenal“, die alle mehr oder weniger das Gleiche bezeichnen (vgl. Chalmers 1996, S. 6).

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denkende Subjekt ist prinzipiell in der Lage, Inhalt und Richtung seiner Gedankengänge frei zu bestimmen.

3.2 Metaphysische Deutungen des menschlichen Bewusstseins in reduktiv-naturalistischer Perspektive Die transhumanistischen Ziele der vollständigen Kontrolle und Reproduzierbarkeit des menschlichen Bewusstseins setzen – wie bereits oben kurz angedeutet – eine reduktiv-naturalistische Perspektive voraus. Denn nur wenn Bewusstsein als mit den materiellen Strukturen identisch oder als Funktion dieser Strukturen aufgefasst wird, ließe sich die erforderliche Manipulation durch technische Eingriffe auch tatsächlich bewerkstelligen. Auch wenn reduktiv-naturalistische Positionen sich in ihren konkreten Formulierungen unterscheiden, gemeinsam ist ihnen die Auffassung, dass letztlich die fundamentalen physischen Strukturen alle anderen Ebenen durch physikalische bzw. physiologische Gesetze vollständig festlegen. Damit wird alles, was es gibt, rein wirkkausal bottom-up beschrieben: Die fundamentalen physischen Ebenen bestimmen auch alle „höheren“ Phänomene. In den letzten Jahrzehnten sind in der Philosophie des Geistes die damit verbundenen metaphysischen Konzepte – Identitätstheorie, starke Supervenienz und Funktionalismus³ – ausgiebig diskutiert worden. Im Folgenden werden diese Konzepte und die mit ihnen verbundenen Probleme kurz skizziert.⁴

Identitätstheorie und starke Supervenienz Während die identitätstheoretischen Ansätze behaupten, dass mentale Qualitäten schlicht mit physischen Strukturen identisch sind, behaupten Ansätze sogenannter starker Supervenienz zwar keine Identität, wohl aber, dass mentale Zustände durch die ihnen zugrundeliegenden physischen Strukturen vollständig bestimmt sind. Es ist hier nicht möglich, aber auch nicht notwendig, die weit verzweigte Diskussion der verschiedenen Argumentationsstrategien gegen diese Positionen  Letztlich würde auch das Konzept sogenannter schwacher Emergenz unter diese Aufzählung fallen. Da schwache Emergenz starke Supervenienz voraussetzt, wird sie hier nicht eigens behandelt.  Einen Überblick über die verschiedenen physikalistischen Varianten des reduktiven Naturalismus und deren philosophische Probleme bietet z. B. Kutschera 2009, S. 140 – 170.

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zu referieren. Vielmehr soll anhand eines Arguments deutlich werden, dass alle physikalistischen Positionen an dem Problem der genuinen mentalen Verursachung scheitern: Da diese aber als notwendig für rationale Erkenntnis im Rahmen der Wissenschaftspraxis ausgewiesen werden kann, erweist sich die These des Physikalismus als unvereinbar mit einem basalen Erkenntnis- und Rationalitätsanspruch.⁵ Ausgangspunkt für dieses Argument ist die reduktiv-naturalistische Grundannahme, dass die physischen Strukturen mit ihren Kausalkräften schon hinreichend sind, um alle anderen Zustände (seien diese mental oder physisch) vollständig zu bestimmen. Da angenommen wird, dass eine hinreichende Ursache für ihre Wirkung ausreichend ist und es keine systematische Überdetermination durch mehrere hinreichende Ursachen geben kann, können mentale Qualitäten wie Wünsche oder Überzeugungen selbst keinerlei kausale Kraft sui generis besitzen. Demzufolge rufe beispielsweise das physische Ereignis P1 durch Supervenienz das mentale Ereignis M1 hervor, und gleichzeitig sei es (bedingt durch das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt) die hinreichende Ursache für das nachfolgende physische Ereignis P2. M1 kann – wenn man systematische Überdetermination ausschließt – keinen Einfluss auf P2 besitzen, was bedeutet, dass ein mentales Ereignis kein physisches verursachen kann. Da P2 aber auch als hinreichende Realisierungsbasis für M2 angesehen wird, kann M1 noch nicht einmal M2 verursachen, womit auch eine mentale Verursachung auf der Ebene mentaler Ereignisse ausgeschlossen wäre.⁶ Das hieße, das vom Subjekt gelenkte Erzeugen und Entwickeln eines gedanklichen Zusammenhangs nach logischen Vorgaben wäre nicht möglich, weil die physikalische Mikroebene durch ihre kausalen Dispositionen gemäß einer starken Supervenienz (oder in dieser Hinsicht logisch äquivalenter physikalistischer Konzeptionen wie der Identitätstheorie) auch alle diese Aspekte hinreichend festlegt. Eine solche physikalistische Lesart der mentalen Verursachung ist demnach inkompatibel mit Rationalitätsstandards wissenschaftlicher und lebensweltlicher Urteilspraxis, nach der das denkende Subjekt in der Lage sein muss, seine Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken, und damit die Möglichkeit besitzt, gedankliche Zusammenhänge nach inhaltlichen und logischen Kriterien zu entwickeln. Das Argument lässt sich in Kurzfassung wie folgt darstellen:  Eine ausführliche Analyse findet sich in Müller 2013.  „Mentale Verursachung“ muss nicht bedeuten, dass die Entwicklung und Hervorbringung von Gedanken nach dem Muster eines strikten Ursache-Wirkung-Schemas wie bei Billardkugeln gedacht werden muss oder kann. Das Exklusionsargument soll zeigen, dass bei Supervenienzphysikalismen generell keine kausale Relevanz von mentalen Gehalten gedacht werden kann.

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(P1): Die Fähigkeit rationaler Erkenntnis und damit mentaler Verursachung (im Sinne eines gelenkten Erzeugens von Gedanken) erfordert vom erkennenden Subjekt das Vermögen, sich denkend an Sachfragen und logischen Normen orientieren zu können, sofern unter Berücksichtigung der Sachlogik gedankliche Zusammenhänge hergestellt werden sollen. (P2): Der reduktive Naturalismus beschreibt die Welt als bloße kausale Abfolge von physischem Geschehen und erklärt alle Phänomene „bottom-up“. (P3): Diese Orientierung an logischen Normen kann nicht durch rein wirkkausale Faktoren eingelöst werden, denn diese bestimmen das Geschehen sozusagen „blind“ gemäß der ihrer jeweiligen kausalen Kraft zugrundeliegenden physischen Ebene. (P4): Es gibt unbezweifelbar das Gelingen rationaler Erkenntnis (z. B. in der Mathematik / Logik usw.). (K): Also besitzt der Mensch prinzipiell das Vermögen, rational zu erkennen. Damit muss genuine mentale Verursachung möglich sein, und der reduktive Naturalismus ist falsch.

Funktionalismus Eine metaphysische Alternative zu Identitätstheorie und starker Supervenienz findet sich bezüglich der technischen Manipulierbarkeit menschlichen Bewusstseins im sogenannten Funktionalismus. Dieser ist zwar insofern prinzipiell kompatibel mit verschiedenen ontologischen Ansätzen in der Geist-Gehirn-Debatte (vgl. z. B. Cursiefen 2008, S. 11; Kim 1998, S. 125), als eine ontologische Reduktion auf physikalische Strukturen nicht als notwendig, sondern nur als möglich behauptet wird. Weil der Funktionalismus aber zudem beansprucht, ohne einen Rückgriff auf mentales Vokabular auszukommen, erfreut er sich auch innerhalb des reduktiv-naturalistischen Positionenspektrums großer Beliebtheit.⁷ Ausgangspunkt für seine Entwicklung war das Argument der sogenannten multiplen Realisierung, das besagt, dass dieselben mentalen Zustände, wie z. B. Schmerzzustände, in verschiedenen Lebewesen unterschiedlich realisiert werden können.⁸ Der Schmerz eines Menschen und der Schmerz eines Oktopus als eine

 Es gibt zwar eine prinzipielle Kompatibilität des Funktionalismus mit verschiedenen Positionen in der Geist-Gehirn-Debatte, aber die meisten Funktionalisten sehen eine physikalistische Ontologie als die erfolgversprechendste Version an. So kommt z. B. nach Kim im Grunde genommen nur die physikalische Realität als einzig vernünftige Realisierungsinstanz für die funktionalen Zusammenhänge in Frage (vgl. Kim 1998, S. 125).  Diese Argumentationslinie geht zurück auf Putnam 1967 und Fodor 1974.

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phänomenale Qualität basieren auf sehr unterschiedlichen physiologischen Strukturen. Gleiche mentale Zustände sind demnach also physisch multipel realisierbar. Im funktionalistischen Ansatz werden mentale Zustände deshalb nicht primär mit physischen Strukturen, sondern mit ihren kausalen Rollen identifiziert, wodurch auch eine gewisse Unabhängigkeit der Funktion von ihrer physischen Realisierung behauptet wird. Konkret wird ein funktionaler Zustand als die Menge aller kausalen Relationen zwischen mentalen Zuständen und Umwelteinflüssen als Input und Verhaltensreaktionen als Output angesehen. Ned Block definiert Funktionalismus wie folgt: Functionalism is the doctrine that pain (for example) is identical to a certain functional state, a state definable in terms of its causal relations to inputs, outputs, and other mental states. The functional state with which pain would be identified might be partially characterized in terms of its tendency to be caused by tissue damage, by its tendency to cause the desire to be rid of it, and by its tendency to produce action designed to shield the damaged part of the body from what is taken to cause it. (Block 1980, S. 257)

Diese starke Behauptung des sogenannten klassischen Funktionalismus hat sich aus verschiedenen Gründen als nicht haltbar erwiesen: So setzt z. B. schon die Bestimmung dessen, was als In- bzw. Output für einen spezifischen mentalen Zustand gelten kann, als gemeinsamen Bezugspunkt eine Bestimmung voraus, die nicht mehr durch funktionalistisches Vokabular beschrieben werden kann. Anderenfalls wäre überhaupt nicht klar, auf was sich die jeweiligen In- bzw. OutputKonstellationen beziehen, warum also ganz verschiedene Input-Output-Konstellationen demselben mentalen Zustand zugerechnet werden sollen (vgl. Hoffmann 2013, S. 41). Darüber hinaus kann die funktionalistische Analyse den „What-it-islike-ness“-Aspekt als das charakteristische Grundmerkmal des Bewusstseins nicht erklären, weil die Angabe der kausalen Rollen keine eindeutigen Rückschlüsse auf die jeweilige phänomenale Qualität zulässt. Damit ist das wesentliche Charakteristikum mentaler Zustände in funktionalistischen Ansätzen nicht mehr thematisierbar (vgl. Kim 1998, S. 126 – 128). Es ist zudem berechtigterweise daran gezweifelt worden, ob es für die meisten mentalen Zustände überhaupt eine eindeutige Charakterisierung durch kausale Rollen geben kann. Denn schließlich wissen wir aus Erfahrung, dass phänomenale Zustände bei verschiedenen Menschen, ja sogar bei derselben Person von ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen begleitet werden können, wenn sie sich überhaupt in einem Verhalten ausdrücken. So gibt es in der Anästhesie das bekannte Phänomen, dass es bei Operationen vorkommen kann, dass der Patient durch Muskelrelaxanzien komplett paralysiert ist und trotzdem alles – inklusive der Schmerzempfindung – bewusst erlebt, ohne dass sich dies körperlich eindeutig feststellen ließe (vgl. z. B.

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Domino 1999). Die skizzierten Schwierigkeiten machen schon deutlich, dass die Qualität des phänomenalen Erlebens und erst recht die des Denkens nicht identisch mit kausalen Rollen sein kann, weil diese schlicht zu unbestimmt sind: Verhaltensweisen lassen keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, ob mit ihnen auch ein phänomenales Erleben verbunden ist, weil es keine eindeutige Verbindung zwischen beiden gibt.

3.3 Metaphysische Schwierigkeiten des Mind-Cloning und Mind-Uploading Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die vom Transhumanismus vorausgesetzten metaphysischen Deutungen des Bewusstseins mit großen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Damit wird auch prinzipiell die Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit des Bewusstseins in Frage gestellt, was im Folgenden anhand des Mind-Uploading und Mind-Cloning verdeutlicht werden soll. Diesen transhumanistischen Konzepten gemäß soll es zukünftig möglich sein, durch eine Simulation des jeweiligen Gehirns einer Person auch das dazugehörige Bewusstsein auf einem Computer zu erzeugen, es bei Bedarf zu vervielfachen oder auf einen geeigneten künstlichen Körper zu transferieren (vgl. Klaes 2018, S. 402). Wenn die konkreten Verschaltungen und Funktionen dieses Gehirns auf einem Computer simuliert werden – so die Hoffnungen der meisten Transhumanisten –, dann bekäme man damit zugleich eine perfekte Kopie des menschlichen Bewusstseins mit all seinen Fähigkeiten, Erinnerungen und Charakterzügen. Das Bewusstsein wird dementsprechend als eine Art Datenstruktur aufgefasst, die entweder identisch mit den neuronalen Grundlagen oder deren Funktion sein soll. Als Begründung für diese Hoffnungen werden von Seiten des Transhumanismus die enormen Fortschritte in der Künstliche-Intelligenz-Forschung angeführt, die zeigen sollen, dass menschliche kognitive Fähigkeiten schon jetzt technisch realisiert werden können. So wird in der einschlägigen Literatur von vielen KI-Systemen behauptet, dass sie denken, lernen, voraussagen, analysieren, abwägen, entscheiden, wissen und planen können. Selbst Autonomie und Selbstbewusstsein wird einigen System zugeschrieben (Kurzweil 1992, S. 312– 321; Lenzen 2018, S. 19). Wenn also – so die Vertreter des Transhumanismus – KI-Systeme schon jetzt (oder zumindest bald) kognitive Fähigkeiten besitzen, die den menschlichen ebenbürtig oder sogar überlegen sind, warum sollte es also nicht auch möglich sein, das Erleben und Denken konkreter Personen irgendwann zu simulieren? Selbst wenn man von der Schwierigkeit absieht, dass das potentielle Duplikat

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eines Bewusstseins nicht mit dem Original identisch wäre, es sich also dann um das Bewusstsein einer anderen Person handeln würde, lässt sich noch grundlegender dafür argumentieren, dass es aus prinzipiellen Gründen nicht möglich ist, Erleben und Denken auf einer funktionalistischen Basis technisch zu erzeugen. Ausgangspunkt für diese Argumentation ist die Rekonstruktion der technischen Mittel, die für dieses Projekt zur Verfügung stehen. Hierbei ist das Konzept der Turing-Maschine zentral: Nach den heute gemeinhin akzeptierten Ausführungen des Mathematikers Alan Turing ist ein Computer eine Maschine, die nach syntaktischen Regeln formale Symbole manipulieren kann und dadurch algorithmisch, also durch schrittweise Umformung von Zeichenketten nach einem bestimmten, sich wiederholenden Schema Rechenschritte abarbeitet. Dies gilt nach wie vor auch für KI-Systeme, auch wenn diese durch Lernprozesse neue Datenmuster „erkennen“ können, die zuvor noch nicht programmiert waren (vgl. Mainzer 2010, S. 145 – 180). Einem Computer phänomenales Erleben und Denken zuzusprechen heißt nun zu behaupten, dass sich diese Qualitäten als kausal-funktional charakterisierbar erweisen und durch algorithmische Manipulation erzeugt werden können. Um die „kognitiven Fähigkeiten“ eines Computers besser einordnen zu können, sind zunächst verschiedene Ebenen in einer Computerstruktur zu unterscheiden, deren inhaltliche Bestimmtheit in der aktuellen Debatte meist nicht hinreichend berücksichtigt wird: 1. die physikalische Ebene des Computers, 2. die syntaktische Ebene, 3. die semantische Ebene. Es soll gezeigt werden, dass sich der Übergang von einer unteren Ebene (beginnend mit der physikalischen Ebene) zur nächst höheren nicht schon durch die inhaltlichen Bestimmungen der unteren Ebene ergibt, sondern dass zusätzliche Annahmen gemacht werden müssen, die nicht in der unteren Ebene enthalten sind. Sowohl die syntaktische als auch die semantische Dimension „kognitiver“ Prozesse liegen also nicht im Computer selbst, er besitzt diese Dimensionen also nicht für sich selbst, sondern sie kommen erst durch den Programmierer bzw. Computernutzer ins Spiel. Auf der physikalischen Beschreibungsebene stellt ein Computer ein System von physikalischen Zuständen dar, die gemäß kausalen Gesetzmäßigkeiten aufeinander folgen (dazu: vgl. Pylyshyn 1980, S. 113). Auf dieser Ebene ist der Computer also nichts anderes als die Summe von physikalischen Zuständen. Erst die technische Realisierung der Anordnung bestimmter Schaltelemente und deren Zusammenwirken ermöglicht es durch sogenannte Logikgatter, Funktionen der Boolschen Logik elektronisch auf diese physikalischen Strukturen abzubil-

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den.⁹ Dies ist wiederum die Bedingung dafür, dass in einem zweiten Schritt verschiedene algorithmische Strukturen durch den Programmierer auf die physikalische Ebene abgebildet werden können. Erst diese intentionale Abbildung sorgt dafür, dass die physikalischen Strukturen zu interpretierbaren syntaktischen Strukturen werden, die die physikalischen Strukturen des Computers von sich aus nicht besitzen, denn diese Zuordnung ergibt sich nicht schon allein aus den physikalischen Eigenschaften der Prozesse, sondern wird durch den Programmierer künstlich hergestellt (vgl. Fischer 2003, S. 45). Die physikalischen Strukturen müssen nur so verfasst sein, dass sie durch bestimmte physikalische Manipulationen auch die syntaktischen Manipulationen widerspiegeln können. Die syntaktische Unterbestimmtheit der physikalischen Strukturen lässt sich unter anderem daran erkennen, dass es auch hier eine Art multipler Realisierbarkeit gibt, denn syntaktische Strukturen können ganz unterschiedlich physikalisch realisiert werden. Aus einer Analyse der physikalischen Strukturen kann allein nicht geschlossen werden, um welche Syntax es sich handelt. Zu dieser syntaktischen Ebene kommt nun eine semantische Interpretation des Programmierers oder Benutzers hinzu, die die Verbindung der syntaktischen Strukturen mit semantischen Gehalten herstellt. Wiederum verhält es sich hier so, dass die untere Ebene die darauf aufbauende, interpretierende Ebene logisch nicht enthält. Aus der rein syntaktischen Struktur ist die Bedeutung der Struktur nicht ersichtlich. Ob der Computer also gerade das Wetter berechnet oder Schach spielt, ist aus einer rein syntaktischen Analyse nicht abzuleiten, was daran liegt, dass reine Syntax die Semantik nicht festlegt. Erst der Programmierer legt diese Verknüpfung der verschiedenen Ebenen fest, wobei er sowohl auf der syntaktischen wie auf der semantischen Ebene Spielräume hat, die durch seine Entscheidungen konkretisiert werden. Deswegen ist es irreführend, den Computer als symbolverarbeitende Maschine aufzufassen, denn streng genommen gibt es die Bezüge zu semantischen Interpretationen immer erst auf einer Programmiererbzw. Benutzerebene, die dem Computer selbst nicht zugänglich ist und für seine Aufgabe auch nicht zugänglich sein muss (Fischer 2003, S. 45). Für den Computer ist das Programm eine physikalische Struktur, die wiederum andere physikalische Strukturen generiert. John Searle hat diese Unterscheidung im Gedankenexperiment des sogenannten chinesischen Zimmers illustriert, mit dem er deutlich machen wollte, dass wirkliches Verstehen nicht einfach die Befolgung von syntaktischen Regeln bedeutet, weil Verstehen eine semantische Dimension involviert (vgl. Searle 1980, S. 417– 457). Diese Annahme kann anhand eines Beispiels

 Prinzipiell lassen sich Logikgatter auch anders physisch realisieren, sie sind aber heute fast durchweg elektronisch realisiert.

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von Klaus Fischer verdeutlicht werden: Gesetzt der Fall, es taucht ein Meteorit mit einer Oberflächengravur auf, die wie folgt aussieht: „>