110 69 87MB
German Pages 805 [883] Year 1984
Theologische Realenzyklopädie Band XII
w DE
G
Theologische Realenzyklopädie In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Richard Hentschke Günter Lanczkowski • Joachim Mehlhausen Wolfgang Müller-Lauter • Carl Heinz Ratschow Knut Schäferdiek • Henning Schröer Gottfried Seebaß • Clemens Thoma herausgegeben von Gerhard Krauset und Gerhard Müller
Band XII Gabler - Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum V
Walter de Gruyter • Berlin • New York
1984
Redaktion: Dr. Christian Uhlig, Dr. Michael Wolter L i e f e r u n g 1 / 2 G a b l e r - G e m e i n d e ersch. S e p t e m b e r 1 9 8 3 L i e f e r u n g 3 / 4 G e m e i n d e - G e s c h i c h t e ersch. D e z e m b e r 1983 Lieferung 5 G e s c h i c h t e - G e s e l l s c h a f t V ersch. Juni 1 9 8 4
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der Deutschen
Bibliothek
Theologische Realenzyklopädie / [Haupthrsg. Gerhard Krause ; G e r h a r d Müller. Fachhrsg. H o r s t Robert B a l z . . . ] . Berlin ; N e w York : de Gruyter NE: Krause, Gerhard [Hrsg.] Bd. 12. Gabler - Gesellschaft, Gesellschaft und Christentum V. - 1984 ISBN 3-11-008579-8
© 1984 by Walter de Gruyter & Co. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner F o r m (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) o h n e schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Printed in G e r m a n y . Satz und Druck: T u t t e Druckerei G m b H , Salzweg-Passau Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
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Gabler Gabler, Johann Philipp
(1753-1826)
1. L.eben und akademischer (Quellen/Literatur S. 3)
1. Leben und akademischer
Werdegang
2. Wissenschaftliche
Bedeutung
3. N a c h w i r k u n g
Werdegang
J. Ph. Gabler w u r d e am 4. Juni 1753 als Sohn des Juristen und Actuarius des F r a n k f u r t e r Konsistoriums in F r a n k f u r t / M a i n geboren (zur Familie: N D B 6 [1964] 8). Durch umfassende Bildung zum Studium in —»Jena 1 7 7 2 - 1 7 7 8 gerüstet, w u r d e er nach anfänglichem Philosophiestudium unter J . G . —»Eichhorn und J. J. —»Griesbach zur Theologie geführt. 1778 e r w a r b er den Magister mit der Schrift Dissertatio exegetica in illustrem locum Hebr. III, 3-6 (Jena 1778 [Sehr. 11,1-60]) und die Berechtigung zur Vorlesungstätigkeit in der Philosophischen Fakultät ( 1 7 . 1 0 . 1 7 7 8 ) . Anschließend kehrte er in seine H e i m a t s t a d t z u m kirchlichen Examen und zur Weiterbildung zurück, bis er 1780 eine Repetentenstelle in —»Göttingen übernahm. Dreieinhalb Göttinger Jahre brachten ihm nicht n u r die wissenschaftlich nachhaltige Verbindung mit dem Altphilologen Christian G o t t l o b Heyne ( 1 7 2 9 - 1 8 1 2 ) , sondern auch die vielbeachtete Untersuchung Dissertatio critica de capitibus ultimis IX-XIII posterioris Epistolae Pauli ad Corinthios ab eadem haud separandis (Göttingen 1782[Schr. 11,61-158]). Diese ist G r u n d l a g e seiner 1 7 8 3 erfolgten Berufung als Professor der Philosophie u n d Prorektor an das „Archigymnasium" in D o r t m u n d . 1785 folgte er einem Ruf nach —»Altdorf. D o r t ließ er sich 1785 ordinieren u n d erwarb am 21. Juni 1787 den D o k t o r der Theologie. N a c h Ablehnung von Rufen nach Gießen (1793) u n d D o r p a t (1804) ging er 1804 nach Jena. In rastlosem Einsatz w a r er d o r t f ü n f m a l Prorektor (in dieser Stellung 1806 Begegnung und Unterredung mit N a p o l e o n z u m Schutz von Stadt und Universität Jena). Am 17. Februar 1826 starb der vielfach Geehrte.
2. Wissenschaftliche
Bedeutung
2.1. Werdegang und wissenschaftlicher Weg Gablers sind eng miteinander verbunden. Eigenständige Überlegungen treffen sich intentional und methodisch mit Grundanliegen von J . G . Eichhorn, Johann August Ernesti ( 1 7 0 1 - 1 7 8 1 ) , J. J. Griesbach, C . G . Heyne und J. S. —»Semler. Seine exegetischen Untersuchungen vor u n d w ä h r e n d der Altdorfer Zeit sind seiner programmatischen Altdorfer Antrittsrede vom 30. M ä r z 1787 verpflichtet. Erst im Gefolge der der Exegese und Methodik des Auslegens gewidmeten Untersuchungen werden f ü r ihn kirchen- und dogmengeschichtliche Arbeiten von Belang. Das Bestreben, eine Vern u n f t u n d O f f e n b a r u n g ausgewogen zur Geltung bringende Dogmatik zu bearbeiten, die auf exegetischer Arbeit gründet und in sachgerechter Predigt mündet, läßt ihn zu einem überlegten und in seiner Weise einflußreichen Kirchenmann werden, der auf Allgemeinbildung und Ausbildung der künftigen Theologen/Pfarrer größtes Gewicht legt (z.B. Sehr. I, 8 1 3 - 8 2 4 ) . 2.2. Im Z e n t r u m des Werkes Gablers steht seine Altdorfer Antrittsrede, die ihn als Spätneologen ausweist (Leder 296): De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus (Sehr. II, 1 7 9 - 1 9 8 ; dt.: M e r k 2 7 3 - 2 8 4 ; engl.: SandysWunsch/Eldredge 1 3 4 - 1 4 4 ) . Ein in begründeter Differenzierung von Religion u n d Theologie vollzogener hermeneutisch komplizierter Prozeß dient der Filtrierung einer Biblischen Theologie „im engeren Sinn des W o r t g e b r a u c h s " als eigenständigen und unwandelbaren Fundaments im unaufgebbaren Gegenüber zur stets im Wandel begriffenen Dogmatik (vgl. zu Einzelheiten T R E 6, 4 5 7 f und die dort Genannten; dazu Sandys-Wunsch/Eldredge 144 ff). Die Bedeutung des Durchbrüchs der „Biblischen Theologie" als einer von der Dogmatik abgesonderten Teildisziplin wie die Grenze der in vieler Hinsicht zeitverhafteten Ausführungen dieser Rede greifen ineinander und bestimmen Gablers Gesamtwerk auch in den von ihm sachlich und terminologisch besonders von 1802 an vorgenommenen Akzentverschiebungen (Merk 50.97ff). 2.3. Von frühen exegetischen Arbeiten an bis zu einer späten Nachschrift zeigt Gabler die V e r k n ü p f u n g von —»Einleitungswissenschaft als theologischer Aufgabe und „Biblischer Theologie". 2.4. „Biblischer Theologie" dient die Methodik des Auslegens, denn „ D o g m a t i k m u ß von Exegese und nicht umgekehrt, Exegese von Dogmatik a b h ä n g e n " (Gabler, Eichhorns Urgesch., 1 1790, XV). Mit Hilfe der Einsichten C. G. Heynes in die Mythenerforschung ergibt sich f ü r Gabler 3. die Übernahme von dessen M y t h e n d e u t u n g auf das Alte Testament
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Gabler
(vgl. die Bearbeitung von Eichhorns Urgeschichte) wie — im Gefolge Georg Lorenz Bauers ( 1 7 5 5 - 1 8 0 6 ) - auf das Neue Testament (Sehr. I, 6 9 8 - 7 0 6 ; Merk 189 ff); 2. die Ablehnung des allegorischen Schriftsinns, was die Ablehnung der Hermeneutik I. —>Kants zur Folge hat und hinsichtlich der methodischen Erarbeitung einer „Biblischen Theologie" zur kritischen Auseinandersetzung mit C.F. (v.) —>Ammon und F . W . J . -H>Schelling führt (Nachweise Merk 58—69. 8 2 - 9 0 ) ; 3. die Unterscheidung von „Auslegen und Erklären" (Sehr. I, 2 0 1 - 2 1 4 ) , wobei er im Sinne seines Verstehens „Biblischer Theologie" der Interpretation ein größeres Gewicht als der Rekonstruktion beimißt. Entsprechendes gilt von seiner im ganzen zurücktretenden Interpretation des Alten Testaments (vgl. die Bearbeitung von Eichhorns Urgeschichte; Dogmatik [Nachschr. Netto] 1 2 9 - 1 4 0 ; Schröter 48 f. 55). 2.5. Die Bearbeitung der „Biblischen Theologie" ist ihm auch Grundlage der praktischen Theologie': „Christliche Predigten müssen biblischen Unterricht zur Basis haben, sonst hören sie auf, christliche Predigten zu seyn" (NThJ 1800, 5 9 6 Anm. [unter S. 598]). Die Herausarbeitung der „Biblischen Theologie" ist Einführung in vernunftgemäßen Glauben, wie er in die Unterscheidung von Religion und Theologie hermeneutisch bewältigender Predigt Gestalt findet (JATL 6 [1811] 166.175; Sammlung einiger Predigten, 1789, IX; weitere Belege Merk 110, Anm. 324). Ausführungen über homiletische und katechetische Seminare (Sehr. II, 720), das „Pastoral" und über homiletische und katechetische Theologie (Dogmatik [Nachschr. Netto] 51 f) verdeutlichen sein auf das Ganze der Theologie hin ausgerichtetes Denken. 2.6. Die Unterscheidung von Religion und Theologie ist Gabler häufig Anlaß, auf Zeitund Streitfragen einzugehen (gesellschaftskritische Überdeutung bei Dohmeier, passim); sie spiegelt theologisch vertieft sein Verständnis der Reformation und seine kritische Rückbesinnung auf die Bekenntnisschriften (bes. Sehr. I, 4 5 9 - 5 2 8 ; II, 6 9 3 - 7 2 2 ) : Mit der Hochschätzung der im europäischen Horizont gewürdigten Reformation verbindet sich ihm eine kritische Lutherrezeption, die auf ,^uther's Geist" reflektiert, im übrigen aber den Gegensatz von Lutheranern und Reformierten zugunsten von „Protestanten" zu überwinden sucht. Die Geschichte des freieren Schriftverständnisses im reformierten Raum (z. B. Jean Alphonse Turretini [1671 — 1737] in Genf, auf den er ausdrücklich verweist: Sehr. II, 715), ist ihm offenbar ebenso Grundlage seiner Überlegungen wie sein in theologischer Verantwortung auf Verständigung ausgerichtetes Wirken, das auch —»Unionsbestrebungen im frühen 19. Jh. nachdrücklich unterstützt. Eine solche Sicht verlangt in allen Bereichen der Theologie, ihrer Geschichte und Kirchenlehre, eine kritische Überprüfung des Synkretismus, die eine Abgrenzung gegenüber dem Mystizismus jeglicher Prägung einschließt (Sehr. I, 707—732. 806ff). Sie findet sich zusammengefaßt in einer „Dogmatik als Glaubenslehre" (Dogmatik [Nachschr. Netto] 7.1 ff.9ff): „Eine kritische Dogmatik i s t . . . das gerade Gegentheil von Synkretismus; denn sie muß nach festen Principien ... mit Hülfe einer rein kritischen Synthesis construirt werden" (Sehr. I, 721). 3.
Nachwirkung
Wirkungsgeschichtlich relevant wurde neben der Mythenerforschung (—> Mythos) vornehmlich Gablers Programm von 1 7 8 7 im Rahmen der Methodendiskussion mit seinem Altdorfer Kollegen Georg Lorenz Bauer, deren Ergebnis in der unabdingbaren Zusammengehörigkeit von Rekonstruktion und Interpretation nicht nur in der „Biblischen Theologie" bis heute nachwirkt (Merk 206—272). Weder die vermutete Infragestellung der terminologischen Verwendung des Ausdrucks „historisch-kritisch" durch Gabler noch die Vermutung, ihn als einen Vorläufer A. —>Schlatters anzusehen, haben sich als tragfähig erwiesen (gegen Haacker 224.226). Dem Versuch, Gabler am Übergang zur „lutherische(n) Restauration des 19. Jahrhunderts" einzuordnen (Leder 299), sind Grenzen gesetzt. Die wirkungsgeschichtliche Aufarbeitung seines Werkes weist erneut auf die umfassende theologische Bildung Gablers, der als einer der befähigsten Köpfe seiner Zeit angesehen wurde.
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Quellen J.I'h. Gablers Werke sind in verschiedenem Umfang verzeichnet bei Hans-Jürgen Dohmeier [s.u.], 201 - 2 0 6 . - Otto Merk |s. u.], 289. 293 f. - Wilhelm Schröter [s. u.], 9 6 - 101. - Johann Philipp Gabler, Kleinere theol. Sehr., hg. v. Theodor August Gabler/Johann Gottfried Gabler, 2 Bde., Ulm 1831. Ders., Sammlung einiger Predigten, Altdorf/Nürnberg 1 7 8 9 . - Ders., J . G . Eichhorns Urgeschichte, hg. mit Einl. u. Anm. v. Johann Philipp Gabler, Altdorf/Nürnberg, 1-11/2 1 7 9 0 - 1793. - Ders., Wie ein rechtschaffener christl. Lehrer nach dem Muster Jesu seine Religionsvortr. einzurichten habe. Eine Abschiedspredigt in der Stadtkirche zu Altdorf am Trinitatisfeste, Altdorf 1804. - Ders. [Hg.], NThJ { 1 7 9 8 - 1 8 0 0 ) ; J T L ( 1 8 0 1 - 1 8 0 3 ) ; JATL ( 1 8 0 4 - 1 8 1 \).-AktenundBriefe: Archiv der Univ. Altdorf in der UB F.rlangen-Nürnberg; Stadtbibliothek Nürnberg. - Kotlegnackschriften: UB Jena: Johann Philipp Gabler, Einl. in's NT. Nachschr. v. E . F . C . A . H . N e t t o j e n a 1815/16 [626 gez. S.]. - Bibl. Theol., vorgetragen v. D. Joh. Phil. Gabler nach Bauer, Breviar. Theol. Bibl. Nachschr. v. E. F. C. A . H . Netto, Jena 1816 [423 gez. S . ] . - Dogmatik, vorgetragen v. D. Joh. Phil. Gabler nach Ammon, Summa Th. Chr. Nachschr. v. E. F. C. A. H. Netto, 2 Bde., Jena 1816 [ 1042gez. S. u. 6 S. Register].- Carl Ranft, Briefe v. Johann Griesbach in Jena an Johann Philipp Gabler in Altdorf: Z V T h G 37 (1943) 3 1 6 - 3 2 5 . Literatur Hendrikus Boers, What is N T Theology? The Rise of Criticism and the Problem of a Theology of the NT, Philadelphia 1 9 7 9 , 2 3 - 3 8 . - G e r h a r d Delling, Johann Jakob Griesbach. Seine Zeit, sein Leben, sein Werk: T h Z 3 3 ( 1 9 7 7 ) 81 - 99. - Hans-Jürgen Dohmeier, Die Grundzüge der Theol. Johann Philipp Gablers, Diss. Münster 1976 (Lit). - Klaus Haacker, Bibl. Theol. u. hist. Kritik: Theol. Beitr. 8 (1977) 2 2 3 - 2 2 6 . - Christian Hartlich/Walter Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwiss., 1952 (SSEA 2). - Henneberg, Johann Philipp Gabler: N N D 4 (1826) 8 0 - 9 2 ( L i t . ) . - W e r n e r Georg Kümmel, Das NT. Gesch. der Erforschung seiner Probleme, 1 9 5 8 2 1 9 7 0 ( O A 3/3) 1 1 5 - 1 2 4 . Ernst Kutsch, Art. Johann Philipp Gabler: NDB 6 (1964) 8. - Klaus Leder, Univ. Altdorf. Z u r Theol.der Aufklärung in Franken. Die Theol. Fak. Altdorf 1 7 5 0 - 1 8 0 9 , Nürnberg 1965 (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 14) (Lit.). - Otto Merk, Bibl. Theol. des N T in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler u. Georg Lorenz Bauer u. deren Nachwirkungen, 1972 (MTSt 9) (Lit.). - John Sandys-Wunsch/Laurence Eldredge, J.P. Gabler and the Distinction Between Biblical and Dogmatic Theology. Translation, Commentary, and Discussion of His Originality: SJTh 33 (1980) 1 3 3 - 1 5 8 . - Wilhelm Schröter, Erinnerungen an D. Johann Philipp Gabler, Jena 1827. - Rudolf Smend, Johann Philipp Gablers Begründung der bibl. Theol.: EvTh 22 (1962) 3 4 5 - 3 6 7 . Otto Merk Gad
(Gottheit)
D i e G o t t h e i t G a d ist eine v o r allem v o n d e n W e s t s e m i t e n Syrien-Palästinas verehrte Glücks-, Schutz- und Schicksalsgottheit, deren w e i t e V e r b r e i t u n g b e s o n d e r s in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten darauf z u r ü c k z u f ü h r e n ist, d a ß sie unter hellenistischem Einfluß eine e n g e Beziehung z u r griechischen Tyche e i n g e g a n g e n ist. D e r N a m e der G o t t h e i t ist v o n der w e s t s e m i t i s c h e n W u r z e l g d ( d ) „ a b s c h n e i d e n , zuteilen, e n t s c h e i d e n " herzuleiten. D e r A u s d r u c k gad ist s o w o h l als E i g e n n a m e der G o t t h e i t als a u c h als A p p e l l a t i v u m u n d einfach in der B e d e u t u n g „ G l ü c k " belegt. Als s e l b s t ä n d i g e G o t t h e i t ist G a d im Alten Testament, in s a f a t e n i s c h e n Inschriften, in T a d m o r / P a l m y r a , in D u r a - E u r o p o s u n d in p u n i s c h e n Inschriften bezeugt. Im n a c h e x i l i schen Palästina des 5 . / 4 . Jh. s c h e i n t G a d als G l ü c k s g o t t h e i t eine g e w i s s e V e r e h r u n g g e n o s sen zu h a b e n . Jes 6 5 , 1 1 e r w ä h n t G a d ( L X X : daißtuv) g e m e i n s a m mit der Schicksalsgottheit m'ni ( L X X : ri>xrj), die w o h l mit der im arabischen R a u m weitverbreiteten G o t t h e i t M a n a t gleichzusetzen ist. In Palmyra begegnet G a d i m 1 . - 3 . Jh. n . C h r . s o w o h l als S c h u t z g o t t h e i t eines S t a m m e s Taimi ,gdtjmj (griech.r vx*} 0ai/j.Eiog-, CIS II, 3 9 2 7 ) , als a u c h als Stadtgöttin, gdtdmr (Cantineau 2 7 1 ) . In Palmyra sind darüber h i n a u s n o c h S o n d e r f o r m e n der G a d - G e s t a l t b e k a n n t g e w e s e n : G a d des Ö\s,gd msh' (Rep. 1 7 7 7 ) , u n d G a d der heilkräftigen Q u e l l e Efka,gd"jnt' brjkt' (CIS II, 3 9 7 6 ) . Die G o t t h e i t G a d k a n n s o w o h l m ä n n l i c h als a u c h w e i b l i c h g e d a c h t werden. D i e bildlichen D a r s t e l l u n g e n der G a d v o n P a l m y r a sind b e e i n f l u ß t d u r c h die kurz nach 3 0 0 v. Chr. v o n d e m Lysipp-Schüler E u t y c h i d e s g e s c h a f f e n e Statue der T y c h e v o n Antiochien (Parlasca 88 u.a.). A u s zahlreichen p a l m y r e n i s c h e n E i g e n n a m e n g e h t hervor, d a ß
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Quellen J.I'h. Gablers Werke sind in verschiedenem Umfang verzeichnet bei Hans-Jürgen Dohmeier [s.u.], 201 - 2 0 6 . - Otto Merk |s. u.], 289. 293 f. - Wilhelm Schröter [s. u.], 9 6 - 101. - Johann Philipp Gabler, Kleinere theol. Sehr., hg. v. Theodor August Gabler/Johann Gottfried Gabler, 2 Bde., Ulm 1831. Ders., Sammlung einiger Predigten, Altdorf/Nürnberg 1 7 8 9 . - Ders., J . G . Eichhorns Urgeschichte, hg. mit Einl. u. Anm. v. Johann Philipp Gabler, Altdorf/Nürnberg, 1-11/2 1 7 9 0 - 1793. - Ders., Wie ein rechtschaffener christl. Lehrer nach dem Muster Jesu seine Religionsvortr. einzurichten habe. Eine Abschiedspredigt in der Stadtkirche zu Altdorf am Trinitatisfeste, Altdorf 1804. - Ders. [Hg.], NThJ { 1 7 9 8 - 1 8 0 0 ) ; J T L ( 1 8 0 1 - 1 8 0 3 ) ; JATL ( 1 8 0 4 - 1 8 1 \).-AktenundBriefe: Archiv der Univ. Altdorf in der UB F.rlangen-Nürnberg; Stadtbibliothek Nürnberg. - Kotlegnackschriften: UB Jena: Johann Philipp Gabler, Einl. in's NT. Nachschr. v. E . F . C . A . H . N e t t o j e n a 1815/16 [626 gez. S.]. - Bibl. Theol., vorgetragen v. D. Joh. Phil. Gabler nach Bauer, Breviar. Theol. Bibl. Nachschr. v. E. F. C. A . H . Netto, Jena 1816 [423 gez. S . ] . - Dogmatik, vorgetragen v. D. Joh. Phil. Gabler nach Ammon, Summa Th. Chr. Nachschr. v. E. F. C. A. H. Netto, 2 Bde., Jena 1816 [ 1042gez. S. u. 6 S. Register].- Carl Ranft, Briefe v. Johann Griesbach in Jena an Johann Philipp Gabler in Altdorf: Z V T h G 37 (1943) 3 1 6 - 3 2 5 . Literatur Hendrikus Boers, What is N T Theology? The Rise of Criticism and the Problem of a Theology of the NT, Philadelphia 1 9 7 9 , 2 3 - 3 8 . - G e r h a r d Delling, Johann Jakob Griesbach. Seine Zeit, sein Leben, sein Werk: T h Z 3 3 ( 1 9 7 7 ) 81 - 99. - Hans-Jürgen Dohmeier, Die Grundzüge der Theol. Johann Philipp Gablers, Diss. Münster 1976 (Lit). - Klaus Haacker, Bibl. Theol. u. hist. Kritik: Theol. Beitr. 8 (1977) 2 2 3 - 2 2 6 . - Christian Hartlich/Walter Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwiss., 1952 (SSEA 2). - Henneberg, Johann Philipp Gabler: N N D 4 (1826) 8 0 - 9 2 ( L i t . ) . - W e r n e r Georg Kümmel, Das NT. Gesch. der Erforschung seiner Probleme, 1 9 5 8 2 1 9 7 0 ( O A 3/3) 1 1 5 - 1 2 4 . Ernst Kutsch, Art. Johann Philipp Gabler: NDB 6 (1964) 8. - Klaus Leder, Univ. Altdorf. Z u r Theol.der Aufklärung in Franken. Die Theol. Fak. Altdorf 1 7 5 0 - 1 8 0 9 , Nürnberg 1965 (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 14) (Lit.). - Otto Merk, Bibl. Theol. des N T in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler u. Georg Lorenz Bauer u. deren Nachwirkungen, 1972 (MTSt 9) (Lit.). - John Sandys-Wunsch/Laurence Eldredge, J.P. Gabler and the Distinction Between Biblical and Dogmatic Theology. Translation, Commentary, and Discussion of His Originality: SJTh 33 (1980) 1 3 3 - 1 5 8 . - Wilhelm Schröter, Erinnerungen an D. Johann Philipp Gabler, Jena 1827. - Rudolf Smend, Johann Philipp Gablers Begründung der bibl. Theol.: EvTh 22 (1962) 3 4 5 - 3 6 7 . Otto Merk Gad
(Gottheit)
D i e G o t t h e i t G a d ist eine v o r allem v o n d e n W e s t s e m i t e n Syrien-Palästinas verehrte Glücks-, Schutz- und Schicksalsgottheit, deren w e i t e V e r b r e i t u n g b e s o n d e r s in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten darauf z u r ü c k z u f ü h r e n ist, d a ß sie unter hellenistischem Einfluß eine e n g e Beziehung z u r griechischen Tyche e i n g e g a n g e n ist. D e r N a m e der G o t t h e i t ist v o n der w e s t s e m i t i s c h e n W u r z e l g d ( d ) „ a b s c h n e i d e n , zuteilen, e n t s c h e i d e n " herzuleiten. D e r A u s d r u c k gad ist s o w o h l als E i g e n n a m e der G o t t h e i t als a u c h als A p p e l l a t i v u m u n d einfach in der B e d e u t u n g „ G l ü c k " belegt. Als s e l b s t ä n d i g e G o t t h e i t ist G a d im Alten Testament, in s a f a t e n i s c h e n Inschriften, in T a d m o r / P a l m y r a , in D u r a - E u r o p o s u n d in p u n i s c h e n Inschriften bezeugt. Im n a c h e x i l i schen Palästina des 5 . / 4 . Jh. s c h e i n t G a d als G l ü c k s g o t t h e i t eine g e w i s s e V e r e h r u n g g e n o s sen zu h a b e n . Jes 6 5 , 1 1 e r w ä h n t G a d ( L X X : daißtuv) g e m e i n s a m mit der Schicksalsgottheit m'ni ( L X X : ri>xrj), die w o h l mit der im arabischen R a u m weitverbreiteten G o t t h e i t M a n a t gleichzusetzen ist. In Palmyra begegnet G a d i m 1 . - 3 . Jh. n . C h r . s o w o h l als S c h u t z g o t t h e i t eines S t a m m e s Taimi ,gdtjmj (griech.r vx*} 0ai/j.Eiog-, CIS II, 3 9 2 7 ) , als a u c h als Stadtgöttin, gdtdmr (Cantineau 2 7 1 ) . In Palmyra sind darüber h i n a u s n o c h S o n d e r f o r m e n der G a d - G e s t a l t b e k a n n t g e w e s e n : G a d des Ö\s,gd msh' (Rep. 1 7 7 7 ) , u n d G a d der heilkräftigen Q u e l l e Efka,gd"jnt' brjkt' (CIS II, 3 9 7 6 ) . Die G o t t h e i t G a d k a n n s o w o h l m ä n n l i c h als a u c h w e i b l i c h g e d a c h t werden. D i e bildlichen D a r s t e l l u n g e n der G a d v o n P a l m y r a sind b e e i n f l u ß t d u r c h die kurz nach 3 0 0 v. Chr. v o n d e m Lysipp-Schüler E u t y c h i d e s g e s c h a f f e n e Statue der T y c h e v o n Antiochien (Parlasca 88 u.a.). A u s zahlreichen p a l m y r e n i s c h e n E i g e n n a m e n g e h t hervor, d a ß
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Gad
andere Gottheiten wie z.B. Bol, Nabu oder Ateh als Gad, also als „Glücks(gottheit)", des Namensträgers verstanden wurden: gd'th, nbwgdj, gdjbwl (Rép. 2 5 3 ; 1070d.e.). Der palmyrenischen Kolonie von Dura-Europos sind zwei Tempel zuzuschreiben, in welchen der Gad von Dura und die Gad von Palmyra verehrt wurden. Im Tempel der beiden Gad befanden sich u.a. mit palmyrenischen Inschriften versehene Reliefs, die den Gad von Dura als Baal-schamën mit Attributen des Zeus darstellen und die Gad von Palmyra als Atargatis, die ihren rechten Fuß auf die Gottheit der Quelle Efka setzt. Beide Gottheiten waren außerdem auf Fresken im Tempel der palmyrenischen Götter abgebildet. Als Schutzgottheit von Stämmen ist Gad auch in den safatenischen Inschriften erwähnt, die auf arabische Stämme zurückzuführen sind, welche in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in der Landschaft östlich des Hauran s i e d e l t e n : ^ 'wd „Gad (des Stammes) 'Awid" (CIS V, 8 5 3 . 8 5 7 . 8 6 0 . 3 2 6 3 ) und gd df „Gad (des Stammes) Dajf" (CIS V, 2 4 4 6 ) . Im Hauran selbst begegnet in römischer Zeit Tyche/Gad vor allem als Stadtgottheit, die enge Verbindungen mit Lokalgottheiten eingegangen ist (Sourdel 4 9 - 5 2 ) . Schließlich ist auf zwei punische Inschriften zu verweisen, die Gad als Appellativum, wenn nicht gar als selbständigen Gottesnamen belegen: hgd (KAI 7 2 B ) und gd hsmm (?) „Gad des Himmels (?)" (KAI 147). Daneben finden sich in punischen und neupunischen Inschriften zahlreiche mit dem Element gd gebildete Personennamen, die die Verbreitung der Gottheit bis in das westliche Mittelmeergebiet bezeugen: brgd (KAI 7 2 A ) , g d ' (CIS I, 817), n'mgd', n'mtgd', gdnm, gdn'mt „Gad ist gütig" (CIS I, 3 8 3 . 7 1 7 . 1 0 4 3 . 1 5 2 0 u.a.). Probleme bereitet der Forschung nach wie vor die Rekonstruktion der Herkunft der Gottheit. Dies hängt vor allem mit der unterschiedlichen Beurteilung des Elementes gd in Personennamen zusammen, welche für den Vorderen Orient vor dem Eindringen hellenistischer Kultur als einzige Zeugnisse der Verehrung der Gottheit Gad in Frage kämen. Im Alten Testament: die Stammesnamen gad (Gen 49,19 u.ö.) undgadi (Num 34,14 u.ö.), die Eigennamen gad (Gen 30,11; I Sam 22,5 u.ö.), gad! (II Reg 15,14.17), gäddt (Num 13,11), gaddî-'el (Num 13,10) und 'azgad (Esr 2,12 u.ö.; jedoch möglicherweise vom pers. 'izgad [Bote] herzuleiten), sowie die Ortsnamen ba'al-gad (Jos 11,17 u.ö.) undmigdal-gad (Jos 15,37); in den Samaria-Ostraka: gdjw 8. Jh. v.Chr. (KAI 184.185); in aramäischen Texten: die Eigennamengd'[l?] 8./7. Jh. v.Chr. (CIS II, 76),gdnbw (Elephantine, CIS II 139), gdjh, gdj\gdh (Hatra 1.11. Jh. n. Chr., KAI 238.255.256) und 'zgd 3. Jh. v.Chr. (APFC 81); in nabatäischen Inschriften: gdtb (CIS II, 236.489) undgd[w>] (CIS II, 222); in einem altsüdarabischen Text: n'mgd (CIS IV, 330). Ist man geneigt, das Element gd als Repräsentanten eines Gottesnamens zu verstehen, wird man bereits für das ausgehende 2. Jt. mit einer Gottheit Gad in Syrien-Palästina rechnen dürfen (Noth, Personennamen 1 2 6 f ; anders Noth, Mari 145 f), auch wenn möglicherweise das Wissen um sie in der Folgezeit verschüttet war, wie die Interpretation des Stammesnamens Gad in Gen 3 0 , 1 1 nahelegen könnte. Faßt man das Elementgt/ in den alten Texten hingegen nicht als theophores, sondern prädikatives Element „Glück" auf, steht als ältester Beleg für die Gottheit Gad Jes 6 5 , 1 1 zur Verfügung, und es kann dann nicht ausgeschlossen werden, daß Gad in Syrien-Palästina durch die ab dem 5. Jh. vordringenden Nabatäer (—»Arabien und Israel) bekannt geworden ist, für deren Siedlungs- und Ausstrahlungsbereich die Verehrung Gads am besten bezeugt ist. Freilich ist auch die umgekehrte Auffassung, die Araber hätten Gad als eine späte aramäische Bildung übernommen, nicht ganz von der Hand zu weisen (Baudission, Kyrios 171). Quellen Aramaic Papyri of the Fifth Century B. C., ed. Arthur Ernest Cowley, Oxford 1923. - Corpus Inscriptionum Semiticarum, Paris 1881 ff. - Kanaanäische u. aramäische Inschr., hg. v. Herbert Donner/Wolfgang Röllig, 3 Bde., Wiesbaden 1 9 6 2 - 1 9 6 4 2 1 9 6 7 - 1 9 6 9 . - Répertoire d'épigraphie sémitique, Paris 1900 ff. Literatur Wolf Wilhelm Graf Baudissin, Art. Gad: RE 3 6 (1899) 3 2 8 - 3 3 6 (Lit.). - Ders., Kyrios als Gottesname im Judentum u. seine Stelle in der Religionsgesch., Gießen, III 1929.-Jean Cantineau, Tadmo-
Galaterbrief
5
rea: Syr. 1 7 ( 1 9 3 6 ) 2 6 7 - 2 8 2 . - Franz Cumont, Art. Gad: P R E 1 / 7 ( 1 9 1 2 ) 4 3 3 - 4 3 5 . - René Dussaud, La Pénétration des Arabes en Syrie avant Islam, Paris 1 9 5 5 . - Ders., Les religions des Hittites et des Hourrites, des Phéniciens et des Syriens, 1 9 4 9 (Mana 2: R E A ) . - O t t o Eißfeldt, Das A T im Lichte der safatenischen Inschr.: ders., KS, Tübingen, III 1 9 6 6 , 2 8 9 - 3 1 7 (Lit.). - Ders., Götternamen u. Gottesvorstellungen bei den Semiten: ebd., I 1 9 6 2 , 1 9 4 - 2 0 5 . - Ders., „Gut G l ü c k ! " in semitischer Namengebung: ebd., IV 1 9 6 8 , 7 3 - 7 8 . - Ders., Tempel u. Kulte syr. Städte in hell.-röm. Zeit, 1 9 4 1 (AO 40). J. G. Février, La religion des Palmyréniens, Paris 1 9 3 1 (Lit.). - Zellig S. Harris, A Grammar of the Phoenician Language, 1 9 3 6 (AOS 8). - Martin Noth, Die israelit. Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, 1928 ( B W A N T 4 6 ) . - Ders., Mari u. Israel: Gesch. u. AT. FS Albrecht Alt, 1 9 5 3 (BHTh 16) 1 2 7 - 1 5 2 . - Klaus Parlasca, D i e T y c h e v. Antiochia u. das Sitzende Mädchen im Konservatorenpalast: J b . des Röm.-Germanischen Zentralmuseums Mainz 8 ( 1 9 6 1 ) 8 4 - 9 5 T f . 3 8 - 4 2 . Michael Rostovtzeff, Le Gad de Doura et Seleucus Nicator: Mélanges Syriens I, FS René Dussaud, Paris 1 9 3 9 , 2 8 1 - 2 9 5 . (Lit.). - Klaus-Dietrich Schunck, kn.gad-, T h W A T 1 ( 1 9 7 3 ) 9 2 0 - 9 2 1 . - Dominique Sourdel, Les cultes du Hauran à l'époque Romaine, 1 9 5 2 (BAH 53) (Lit.). - W b . der Mythologie, hg. v. Hans Wilhelm Haussig. 1/1. Götter u. Mythen im Vorderen Orient, Stuttgart 1 9 6 5 . - H e i n z Wuthnow, Die semitischen Menschennamen in griech. Inschr. u. Papyri des vorderen Orients, Leipzig 1 9 3 0 (Stud. zur Epigraphik u. Papyruskunde 1/4). Gunther W a n k e G a d (Stamm)
—»Geschichte Israels
Galaterbrief l . T e x t 2. Verfasser 3. Gliederung und Inhalt 4. Adressaten 5. Die Situation in Galatien 6. DerGalaterbrief als theologisches Dokument 7. Der Galaterbrief als kirchengeschichtliche Quelle 8. Zeit und Ort der Abfassung 9. Zur Wirkungsgeschichte (Anmerkungen/Literatur S. 12) 1.
Text
Der in Nestle-Aland' 6 vorliegende Text dürfte dem Original sehr nahe kommen. Widersprüchliche textkritische Urteile beziehen sich auf kaum Erwähnenswertes. Umstritten ist die Authentizität von 2 , 7 f (Schenke/Fischer I, 79—81), doch sind die Argumente (die Verse lassen sich als Fremdkörper aus dem Zusammenhang lösen; griech. „Petros" statt, wie üblich, aram. „Kephas") nicht überzeugend. Der Versuch J. C. O'Neills, eine Lösung für die von Marcion angeblich erkannte, aber nur unzulänglich angefaßte Aufgabe, den Gal von Glossen und Interpolationen zu reinigen, ist willkürlich. 2.
Verfasser
Daß der Gal ein authentischer Paulusbrief ist, wird heute durchweg als erwiesen angesehen. Versuche des 19. Jh. (B. -»Bauer, nach ihm vor allem Rudolf Steck), seine Authentizität zu bestreiten, haben sich nicht durchsetzen können.
3. Gliederung
und
Inhalt
Die w o h l gründlichste Gliederung h a t H . D . Betz a u f g r u n d v o n Kriterien der griechischr ö m i s c h e n R h e t o r i k und E p i s t o l o g r a p h i e vorgelegt u n d dabei den Gal als „ a p o l o g e t i s c h e n B r i e f " b e s t i m m t (Gal 1 4 f f ) . E r gliedert ihn in die d a f ü r typischen A b s c h n i t t e p r a e s c r i p t u m :
1,
1-5;
exordium:
3 , 1 - 4 , 3 1 ; exhortatio:
1,6-11;
narratio:
1 , 1 2 - 2 , 1 4 ; propositio:
5 , 1 - 6 , 1 0 u n d conclusici:
2,15—21;
probatio:
6 , 1 1 — 1 8 . M i t dieser weithin einleuchten-
den C h a r a k t e r i s i e r u n g h a t er m e t h o d o l o g i s c h e s N e u l a n d betreten u n d so das V e r s t ä n d n i s entscheidend w e i t e r g e b r a c h t , a u c h w e n n m a n ihm in d e r A b g r e n z u n g der E i n z e l a b s c h n i t t e (beginnt die narratio
nicht erst mit 1 , 1 3 und die exhortatio
m i t 5 , 1 3 ? ) u n d in m a n c h e n Ein-
zelfragen seiner E x e g e s e nicht folgt. Bereits das praescriptum ist symptomatisch für den ganzen Brief: In der Grußadresse verweist Paulus auf seine Apostelstellung, die er keinem Menschen, sondern allein Jesus Christus und Gott verdanke. Im exordium kommt er direkt zur Sache: Keine Danksagung, wie sonst üblich, sondern sein Verwundertsein über den Abfall der Galater zu einem anderen Evangelium. Sein Evangelium ist, wie schon seine Apostelwürde, nicht menschlicher Art, sondern ihm durch Offenbarung zuteilgeworden. In der narratio (Beginn wohl 1,13), einem autobiographischen Abschnitt, begründet Paulus seine Unabhängigkeit von den Jerusalemer Autoritäten und die Anerkennung seines beschneidungsfreien Evangeliums durch sie auf der Jerusalemer Synode, zugleich aber auch seine Auseinandersetzung mit Petrus in Antiochien. Die propositio bringt die entscheidende theologische These: —»Rechtfertigung nicht durch Gesetzes-
Galaterbrief
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rea: Syr. 1 7 ( 1 9 3 6 ) 2 6 7 - 2 8 2 . - Franz Cumont, Art. Gad: P R E 1 / 7 ( 1 9 1 2 ) 4 3 3 - 4 3 5 . - René Dussaud, La Pénétration des Arabes en Syrie avant Islam, Paris 1 9 5 5 . - Ders., Les religions des Hittites et des Hourrites, des Phéniciens et des Syriens, 1 9 4 9 (Mana 2: R E A ) . - O t t o Eißfeldt, Das A T im Lichte der safatenischen Inschr.: ders., KS, Tübingen, III 1 9 6 6 , 2 8 9 - 3 1 7 (Lit.). - Ders., Götternamen u. Gottesvorstellungen bei den Semiten: ebd., I 1 9 6 2 , 1 9 4 - 2 0 5 . - Ders., „Gut G l ü c k ! " in semitischer Namengebung: ebd., IV 1 9 6 8 , 7 3 - 7 8 . - Ders., Tempel u. Kulte syr. Städte in hell.-röm. Zeit, 1 9 4 1 (AO 40). J. G. Février, La religion des Palmyréniens, Paris 1 9 3 1 (Lit.). - Zellig S. Harris, A Grammar of the Phoenician Language, 1 9 3 6 (AOS 8). - Martin Noth, Die israelit. Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, 1928 ( B W A N T 4 6 ) . - Ders., Mari u. Israel: Gesch. u. AT. FS Albrecht Alt, 1 9 5 3 (BHTh 16) 1 2 7 - 1 5 2 . - Klaus Parlasca, D i e T y c h e v. Antiochia u. das Sitzende Mädchen im Konservatorenpalast: J b . des Röm.-Germanischen Zentralmuseums Mainz 8 ( 1 9 6 1 ) 8 4 - 9 5 T f . 3 8 - 4 2 . Michael Rostovtzeff, Le Gad de Doura et Seleucus Nicator: Mélanges Syriens I, FS René Dussaud, Paris 1 9 3 9 , 2 8 1 - 2 9 5 . (Lit.). - Klaus-Dietrich Schunck, kn.gad-, T h W A T 1 ( 1 9 7 3 ) 9 2 0 - 9 2 1 . - Dominique Sourdel, Les cultes du Hauran à l'époque Romaine, 1 9 5 2 (BAH 53) (Lit.). - W b . der Mythologie, hg. v. Hans Wilhelm Haussig. 1/1. Götter u. Mythen im Vorderen Orient, Stuttgart 1 9 6 5 . - H e i n z Wuthnow, Die semitischen Menschennamen in griech. Inschr. u. Papyri des vorderen Orients, Leipzig 1 9 3 0 (Stud. zur Epigraphik u. Papyruskunde 1/4). Gunther W a n k e G a d (Stamm)
—»Geschichte Israels
Galaterbrief l . T e x t 2. Verfasser 3. Gliederung und Inhalt 4. Adressaten 5. Die Situation in Galatien 6. DerGalaterbrief als theologisches Dokument 7. Der Galaterbrief als kirchengeschichtliche Quelle 8. Zeit und Ort der Abfassung 9. Zur Wirkungsgeschichte (Anmerkungen/Literatur S. 12) 1.
Text
Der in Nestle-Aland' 6 vorliegende Text dürfte dem Original sehr nahe kommen. Widersprüchliche textkritische Urteile beziehen sich auf kaum Erwähnenswertes. Umstritten ist die Authentizität von 2 , 7 f (Schenke/Fischer I, 79—81), doch sind die Argumente (die Verse lassen sich als Fremdkörper aus dem Zusammenhang lösen; griech. „Petros" statt, wie üblich, aram. „Kephas") nicht überzeugend. Der Versuch J. C. O'Neills, eine Lösung für die von Marcion angeblich erkannte, aber nur unzulänglich angefaßte Aufgabe, den Gal von Glossen und Interpolationen zu reinigen, ist willkürlich. 2.
Verfasser
Daß der Gal ein authentischer Paulusbrief ist, wird heute durchweg als erwiesen angesehen. Versuche des 19. Jh. (B. -»Bauer, nach ihm vor allem Rudolf Steck), seine Authentizität zu bestreiten, haben sich nicht durchsetzen können.
3. Gliederung
und
Inhalt
Die w o h l gründlichste Gliederung h a t H . D . Betz a u f g r u n d v o n Kriterien der griechischr ö m i s c h e n R h e t o r i k und E p i s t o l o g r a p h i e vorgelegt u n d dabei den Gal als „ a p o l o g e t i s c h e n B r i e f " b e s t i m m t (Gal 1 4 f f ) . E r gliedert ihn in die d a f ü r typischen A b s c h n i t t e p r a e s c r i p t u m :
1,
1-5;
exordium:
3 , 1 - 4 , 3 1 ; exhortatio:
1,6-11;
narratio:
1 , 1 2 - 2 , 1 4 ; propositio:
5 , 1 - 6 , 1 0 u n d conclusici:
2,15—21;
probatio:
6 , 1 1 — 1 8 . M i t dieser weithin einleuchten-
den C h a r a k t e r i s i e r u n g h a t er m e t h o d o l o g i s c h e s N e u l a n d betreten u n d so das V e r s t ä n d n i s entscheidend w e i t e r g e b r a c h t , a u c h w e n n m a n ihm in d e r A b g r e n z u n g der E i n z e l a b s c h n i t t e (beginnt die narratio
nicht erst mit 1 , 1 3 und die exhortatio
m i t 5 , 1 3 ? ) u n d in m a n c h e n Ein-
zelfragen seiner E x e g e s e nicht folgt. Bereits das praescriptum ist symptomatisch für den ganzen Brief: In der Grußadresse verweist Paulus auf seine Apostelstellung, die er keinem Menschen, sondern allein Jesus Christus und Gott verdanke. Im exordium kommt er direkt zur Sache: Keine Danksagung, wie sonst üblich, sondern sein Verwundertsein über den Abfall der Galater zu einem anderen Evangelium. Sein Evangelium ist, wie schon seine Apostelwürde, nicht menschlicher Art, sondern ihm durch Offenbarung zuteilgeworden. In der narratio (Beginn wohl 1,13), einem autobiographischen Abschnitt, begründet Paulus seine Unabhängigkeit von den Jerusalemer Autoritäten und die Anerkennung seines beschneidungsfreien Evangeliums durch sie auf der Jerusalemer Synode, zugleich aber auch seine Auseinandersetzung mit Petrus in Antiochien. Die propositio bringt die entscheidende theologische These: —»Rechtfertigung nicht durch Gesetzes-
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Galaterbrief
werke, sondern allein durch den Glauben. D i e p r o b a t i o enthält die eigentliche Beweisführung in einer gegliederten Sequenz von Argumenten: 1. Argument 3,1 — 5: Die Erfahrung der Galater (Empfang des Geistes allein durch den Glauben). 2. Argument 3 , 6 - 1 4 : Das Zeugnis der Schrift für die Glaubensgerechtigkeit (Gen 15,6 in Verbindung mit Gen 12,3 [18,8?], Dtn 2 7 , 2 6 [ L X X ] . Hab 2 , 4 und Dtn 2 1 , 2 3 ) . 3. Argument 3 , 1 5 - 1 8 als argumentum ad hominem (menschliches und göttliches „Erbrecht"; dabei Schriftzitat nur als Hilfsargument). 3 , 1 9 ff ist mit Betz (Gal. 20) als Exkurs über die Funktion der Tora zu verstehen, kaum aber 3 , 2 6 - 4 , 1 1 als 4. Argument „from Christian tradition" (ebd. 20), da V.26 den in V.25 ankommenden Gedanken begründend fortführt. Im Argumentationsverlauf schließt V.29 zunächst (s. aber 4 , 1 2 ff) die mit 3,6 einsetzende Abrahamsargumentation ab („ihrseid doch schon durch Glaube und Taufe in Christus Abrahamssöhne!"), führt aber zugleich den 3 , 1 9 einsetzenden Exkurs bis 4 , 1 1 weiter, wobei das Ziel der theologischen Argumentation vollends deutlich wird: Die durch Christus freien Galater sollen sich nicht in die Knechtschaft der Tora begeben, da diese Knechtschaft mit ihrer vormaligen unter den Weltelementen identisch ist. Die weitere Argumentation enthält den Verweis auf das persönliche Verhältnis der Galater zu Paulus 4,12—18 und die Sara-Hagar-„Allegorie" 4,21-31. Umstritten ist, ob die exhortatio mit 5,1 (Betz) oder 5,13 (Merk) beginnt. 1 Mit Merk wird man wohl 5,1 —12 als Zusammenfassung von 3 , 1 - 4 , 3 1 und 5 , 1 3 als Anfang des paränetischen Teils beurteilen (Merk: Z N W 6 0 , 1 0 0 ff; Hübner, Gesetz bei Paulus 60,Anm. 65). 5 , 1 3 - 6 , 1 0 entfaltet den ethischen Teil als Bewährung der Freiheit durch Erfüllung des Liebesgebots im Sich-leiten-lassen vom Geist. Im eigenhändigen Briefschluß 6 , 1 1 - 1 8 warnt Paulus noch einmal vor seinen Gegnern, denen er nun unlautere Motive unterstellt, ehe er seinen Segenswunsch ausspricht.
4. Die
Adressaten
Im deutschsprachigen Forschungsbereich hat sich weithin die nordgalatische bzw. Landschaftshypothese durchgesetzt, wonach die Adressaten die in der Landschaft Galatien wohnenden Galater (279 v.Chr. nach Kleinasien eingedrungene Kelten, zunächst gefürchtete Plünderer, später als treue Anhänger Roms zivilisiert) sind. 25 v. Chr. wird Galatien Bestandteil einer nur abgekürzt provincia Galatia genannten Provinz, in die auch südlich gelegene Landschaften wie Pisidien, Lykaonien und (zeitweilig) Pamphylien eingegliedert werden. Auf diese politische Konstellation berufen sich die Vertreter der südgalatischen bzw. Provinzhypothese, die die Adressaten des Gal mit den Bewohnern der Act 13 f genannten Missionsgebiete des Paulus und Barnabas (sog. 1. Missionsreise) gleichsetzen.2 Für die Landschaftshypothese sprechen vor allem folgende Gründe: Der südliche Teil der Provinz wird im „zeitgenössischen Sprachgebrauch" (Vielhauer, Gesch. 107) nicht Galatien genannt, ebensowenig deren Bewohner Galater. Undenkbar ist, daß Paulus 3,1 etwa Pisidier oder Lykaonier als „dumme Galater" angeredet hätte. Und keineswegs trifft die Behauptung zu, er hätte stets die römischen Provinznamen verwendet. Act 16,6 kann wegen der auch sonst offenkundigen Differenzen der Act zu Angaben der authentischen Paulinen nicht als Argument gegen die Landschaftshypothese angeführt werden, zumal Act 18,23, wo die Talarwf] xÚQa zum zweiten Mal vorkommt, eine vorherige Mission voraussetzt (inion]QÍ^WV návxag rovg ¡iaQr\rág). 5. Die Situation in
Galatien
So umstritten auch bis heute die Situation in Galatien ist, in die hinein Paulus den Gal schreibt, so eindeutig lassen sich aus ihm gewisse Fakten erheben. In die galatischen Gemeinden sind Gegner des Paulus eingedrungen, die von den Heidenchristen die —»Beschneidung - offensichtlich als conditio sine qua non für deren Heil - verlangen (5,3; 6,12). Sie dürften auch Diffamierendes und historisch nicht Zutreffendes über Paulus gesagt haben (1,10ff). Doch bleibt dieses inhaltlich zumindest teilweise hypothetisch. Vor allem ist kontrovers, wer die Gegner waren. Bis zum Beginn dieses Jahrhunderts blieb die bereits in den Marcionitischen Prologen zu den Paulusbriefen vertretene Auffassung unbestritten: Galatae ... post discessum eius (sc. Pauli) temptati sunt a falsis apostolis, ut in legem et circumcisionem verterentur. Die falsi apostoli sind demnach Judaisten, also solche Judenchristen, die Beschneidung und Toraobservanz auch für Heidenchristen als heilsnotwendig ansahen; sie konnten die Bekehrung von Heiden zum Messias nur als Konversion zum Judentum begreifen. Wie aber ist eine judaisti-
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Galaterbrief
sehe A g i t a t i o n in Galatien d a m i t v e r e i n b a r , d a ß P a u l u s die G a l a t e r g e r a d e v o r e t h i s c h e m Libertinismus w a r n e n m u ß ( K a p . 5 ) ? Die als Ausweg aus diesem angeblichen Dilemma 1 9 1 9 von W. —»Lütgert vorgelegte Hypothese, Paulus kämpfe gegen zwei Fronten, gegen Judaisten und zugleich gegen libertinistische Pneumatiker, scheitert an der Tatsache, daß der Gal keine Polemik gegen zwei Fronten erkennen läßt. Um diese Aporiezu vermeiden, gab W. Schmithals die Judaistenthese ganz auf, indem er, Lütgerts zweite Front verabsolutierend, die Gegner des Paulus als pneumatische judenchristliche Cnostiker identifizierte. Im Grunde gibt es heute nur die Alternative: Judaisten oder Gnostiker; alle Zwischenpositionen (z.B. Schlier, Gal. 19 ff: Angehörige eines Judentums apokalyptischer Kreise, die außer der Beschneidung die gesetzliche Beobachtung des Kalenders fordern; Stählin: R G G 1 2, 1 1 8 8 : sektiererische judenchristliche Bewegung, die gnostisch gefärbt, aber doch in der Hauptsache gesetzlich bestimmt war; Marxsen, Einl. [ 1. — 3. Aufl.] 5 4 : christlich-jüdisch-gnostischer Synkretismus) oder sonstigen Modifikationen (z.B. Munck 7 9 ff: judaistische Heidenchristen) verschleiern die Fragestellung eher, als daß sie sie weiterführen. „Die Addition aller vorkommenden Motive zu einem synkretistischen Gebilde macht die Gegner völlig farblos" (Marxsen, Einl. [4. Aufl.] 65). Deshalb ist die Auseinandersetzung vornehmlich mit Schmithals zu führen. Um die Gegner des Paulus als Gnostiker ausmachen zu können, muß Schmithals eine zwar denkbare, aber methodisch nicht unbedenkliche Voraussetzung machen: Paulus war über diese Leute nicht richtig informiert. Diese Voraussetzung wird dann äußerst unwahrscheinlich, wenn es gelingt, aufgrund der Aussagen des Gal selbst ein in sich stimmiges Bild der Gegner zu zeichnen. Schmithals sieht hinter dem von ihnen erhobenen Vorwurf der Abhängigkeit des Paulus von Jerusalem, der unmöglich von Judaisten stammen könne, die gnostische Konzeption der unmittelbaren Berufung durch Gott (16 ff). Aber nirgends findet sich im Gal der Vorwurf der Abhängigkeit. Die Argumentationsrichtung verläuft vielmehr umgekehrt: Gegen den Vorwurf, Jerusalemer Weisungen zur Beschneidung der Heidenchristen mißachtet zu haben, erklärt Paulus, er sei als von Gott berufener und mit dem beschneidungs- und gesetzesfreien Evangelium betrauter Heidenapostel von den Jerusalemer Autoritäten unabhängig. Und gerade diese hätten seinen spezifischen Apostolat als gleichberechtigt mit dem ihren für die Juden anerkannt. Diese Argumentation fügt sich aufs beste zu der theologischen Argumentation, mit der Paulus die Galater bewegen will, sich nicht beschneiden zu lassen, um nicht unter die Knechtschaft des Gesetzes zu geraten; denn diese sei prinzipiell identisch mit der Knechtschaft unter den Weltelementen. Daß Paulus in diesem Zusammenhang betont mit der Abrahamssohnschaft argumentiert, läßt vermuten, daß die Gegner die Galater mit Gen 17 beeindruckten. Die Gnostikerhypothese kann auch nicht mit der Hypothese vom gnostischen Charakter der Beschneidungsforderung gestützt werden (Schmithals 2 5 ff); denn diese, selbst nur Hypothese (dazu Eckert 6 4 - 7 1 ) , könnte nur dann überzeugen, wenn sie Baustein im Rahmen einer besser begründeten Gesamthypothese wäre. 1 I n s g e s a m t läßt sich also der Gal a m u n g e z w u n g e n s t e n als Warnung setzesindoktrination
vor judaistischer
Ge-
interpretieren. D a b e i soll die bereits v o n L ü t g e r t e r k a n n t e Schwierig-
keit, wie d e n n die so deutliche W a r n u n g v o r einem L i b e r t i n i s m u s 5 , 1 3 ff mit judaistischer A g i t a t i o n zu vereinbaren sei, nicht geleugnet w e r d e n . D o c h dürfte es sich hier u m keine g r u n d s ä t z l i c h e Schwierigkeit h a n d e l n , z u m a l der f o r m g e s c h i c h t l i c h e C h a r a k t e r der P a r ä n e s e zu berücksichtigen ist ( V i e l h a u e r , G e s c h . 1 2 1 ) . Es v e r s t e h t sich also fast v o n selbst, d a ß h e u t e die J u d a i s t e n h y p o t h e s e w i e d e r a u f breiter F r o n t v e r t r e t e n wird (so z . B . fast alle Einleitungen [ o . a . ] , neben K ü m m e l , L o h s e und V i e l h a u e r a u c h die neuesten v o n M a r x s e n [ 4 . Aufl.], S c h e n k e / F i s c h e r und K ö s t e r ) . Sind aber die Agitatoren Judaisten, sosteilt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zu den Jerusalemer Autoritäten. Stammen sie selber von dort, zumindest aus Palästina (z.B. Lüdemann 59)? Oder stehen sie zumindest in Kontakt mit Jerusalem? Kämpft womöglich Paulus gegen Jerusalemer Intrigen? Allgemein wird aber heute angenommen, daß die Eindringlinge keinesfalls in offiziellem Jerusalemer Auftrag agitierten, da Paulus seine Abmachung gerade mit den „Säulen" getroffen hat. Spricht jedoch dann nicht gegen die palästinische Herkunft der Agitatoren, daß sie anscheinend gerade davon nichts wissen ? Aber nicht jeder palästinische Judaist mußte über die Synode genau informiert gewesen sein. Außerdem ist zu erwägen, ob nicht manche Judaisten das factum Antiochenum als Bestätigung ihrer Ansicht betrachteten, die sie nun noch vehementer vertraten. Für palästinische Herkunft der judaistischen Agitatoren spricht auch R. Jewetts erwägenswerte Hypothese, daß das Motiv ihrer Agitation, nicht verfolgt zu werden (6,12), auf zelotische Unruhen in Palästina weist: Palästinische Judenchristen schwebten in Todesgefahr, wenn sie Gemeinschaft mit gesetzlosen Heiden pflegten; also bedeutete die Beschneidung der Galater Rettung (NTS 1 7 , 2 0 4 f). Jedoch habe J a k o b u s die Agitation nicht veranlaßt ( 2 0 0 Anm. 3; gegen Bronson). A. Suhl will Jewetts Hypothese dadurch stützen, daß er annimmt, man habe durch die Agitation in Galatien einer möglichen Ge-
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fahr, der die palästinischen Judenchristen durch Annahme der von Unbeschnittenen stammenden Kollekte ausgesetzt gewesen wären, zu entgehen gesucht ( 1 7 - 2 0 ) . Doch sieht Suhl die Agitatoren nicht als palästinische Judenchristen, sondern nur als in „Verbindung mit J e r u s a l e m " stehend (17). Äußerst unwahrscheinlich ist die Annahme J . B . Tysons, die „judaisierende Häresie" gehe auf galatische Juden5 Christen zurück, die bereits zu den ersten Christen Galatiens gehörten, aber nicht von Paulus bekehrt worden seien ( N T 1 0 , 2 5 4 ) . Eine interessante Variante der Judaistenthese bietet H . D. Betz ( Z T h K 7 1 ) : Nach einer anfänglichen Periode des pneumatischen Enthusiasmus gibt es unter den Galatern Probleme mit dem „ F l e i s c h " . Um damit fertigzuwerden, ergreifen sie die von den Agitatoren angebotene Möglichkeit, durch Beschnei10 dung und Toragehorsam Heilssicherheit zu erlangen. In der T a t läßt sich 5 , 1 6 ff so lesen, als wolle Paulus beschwörend sagen: „Verlaßt euch auf den Geist! Dann kann das Fleisch sein Ziel nicht erreichen." Aber 3 , 2 läßt sich in diesen Duktus schlecht einfügen. Insgesamt wirkt diese Hypothese zu konstruiert.
6. Der Galaterbrief
als theologisches
Dokument
Der Gal bietet eine Theologie des Übergangs. So wie Paulus hier seine Gesetzes- und Rechtfertigungstheologie im polemischen Kontext formuliert, hat er sicher nicht auf der Jerusalemer Synode gesprochen; denn dann wäre ein Einvernehmen nicht erzielt worden. Dies ist das Wahrheitsmoment der m. E. zu weit gehenden These G. Streckers, nach der eine Reflexion über die Bedeutung des Gesetzes und der Rechtfertigung erst durch die in Galatien wirkenden judenchristlichen Gesetzeslehrer veranlaßt wurde ( 4 8 1 ; dazu Hübner: N T S 20 2 6 , 4 5 4 f f ) . Wenn aber Paulus die junge Christengemeinde als Eiferer für die väterlichen Überlieferungen (1,14) und somit für das —»Gesetz verfolgte, so ist anzunehmen, daß er dies wegen ihrer Gesetzesübertretungen tat. Dann aber dürfte ihn seine Berufung zum Heidenmissionar zu einer Reflexion über eine zumindest grundsätzliche Bejahung der Freiheit vom Gesetz veranlaßt haben. Doch könnte die polemische Antithese egycov vöfiov — ¿x Jii25 axecug (2,16) aus der Auseinandersetzung mit seinen galatischen Gegnern erwachsen sein, ebenso das Theologoumenon vom Gesetz als knechtender Macht (3,19ff). u
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Paulus bleibt aber theologisch nicht bei dem im Gal Gesagten stehen. Er mildert später im Rom die antinomistische Spitze seiner Theologie. Während es theologisch im Gal primär um die Freiheit vom Gesetz geht — als „prinzipieller Denker" (Eckert 24) bezieht er die Beschneidungsfrage sofort auf das grundsätzliche Gesetzesproblem: Beschneidung bedeutet totale Toraobödienz (5,3); diese ist aber nicht möglich ( 3 , 1 0 ; Zitat von Dtn 2 7 , 2 6 [ L X X ] ) ; also bedeutet der Gesetzesweg Knechtschaft (3,19) und Fallen aus der Gnade (5,4) - und da die Rechtfertigungslehre eher den Horizont der Darlegungen als die eigentliche Thematik bildet, ist die Theologie des Rom am Begriff der „Gerechtigkeit Gottes" ausgerichtet, der bezeichnenderweise im Gal noch nicht vorkommt. Im Gegensatz zum Rom, in dem das Gesetz in dialektischer Argumentation sowohl als zur Rechtfertigung unfähig ( 3 , 2 0 ; 8,3) als auch als Gottes Gesetz heilig und pneumatisch genannt ( 7 , 1 2 . 1 4 ; s. auch 8,2) und das Gebot als eig £coijv (7,10) charakterisiert werden, wird in Gal 3 , 1 9 f mit dem Argument vom dg 6e6g, der per definitionem keinen Mittler hat, die Inferiorität des Gesetzes gerade durch die Absentierung Gottes aus dem Gesetzgebungsprozeß bewiesen — einerlei, ob man die Engel 3 , 1 9 als Urheber 4 (wie durch V . 2 0 nahegelegt ist) oder als bloße Vermittler 5 des Gesetzes sieht. Die antinomistische Spitze des Gal gipfelt in der Behauptung von dergleichen versklavenden Funktion von Gesetz und Weltelementen (vgl. 3 , 2 3 . 2 5 ; 4 , 2 mit 4 , 3 . 9 ) . Mit diesem Gedankengang ist die universalistische Grundthese verflochten: Nicht das Gesetz des Mose für die Beschnittenen, sondern die Verheißungen an Abraham für alle Völker bedeuten das Heil (3,6ff). Deshalb wird in 4 , 2 1 - 3 1 in radikaler Umwertung aller jüdischer Werte die Gesetzesexistenz Israels durch die Sklavenexistenz Hagars und Ismaels interpretiert (zur exegetischen Begründung des Ganzen und Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen s. Hübner, Gesetz bei Paulus, vor allem 16—43). Das theologische Eigengewicht des Gal, in einem damit aber auch sein theologischer Obergangscharakter, wird u.a. noch durch folgende zwei Differenzen zwischen Gal und Rom deutlich: 1. Nach Gal 3 , 1 9 hat das Gesetz die Funktion, Sündentaten zu provozieren, nach Rom 3 , 2 0 ; 7 , 7 dient es aber nur zur Erkenntnis der Sünde. Die Apologie des Gesetzes
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7 , 7 - 1 2 hätte im Gal keinen Ort. 2. Nach Gal 5 , 1 4 wird „das ganze Gesetz",ö näg vönog, in dem einen Wort des Liebesgebotes erfüllt, obwohl die Galater sich nach 5,3 f eigens deshalb nicht beschneiden lassen sollen, um nicht „das ganze Gesetz", ÖXOVTÖV vöfiov, zu tun und so aus der Gnade zu fallen. Dann aber kann ö näg vößog nicht mit ökog o vößog identisch sein; s vielmehr dürfte in 5,14 eine ironisch-kritische Wendung vorliegen, zumal attributivesnäg in der Regel das Gegenüber einer Totalität zu einer Vielheit ausdrückt, hier aber dem nur Einen Gebot gegenübersteht: Dem quantitativ ganzen Gesetz des Mose wird das Liebesgebot als sog. ganzes Gesetz gegenübergestellt, das eben nicht aufgrund einer quantitativ genau fixierten Summe von Verboten und Geboten das Heil garantiert (s. auch 6,2: TÖV vöpov xov XQI10 OTOV). Entscheidend ist der Empfang des -^Geistes, dessen Frucht die -n>Liebe ist.6 7. Der Galaterbrief
als kirchengeschichtliche
Quelle
Ohne den Gal wäre unsere Sicht der frühesten Kirchengeschichte (—»Urchristentum) in gravierendem Ausmaß verzerrt. Wir wären aufgrund von Act über das sog. Apostelkonzil fehlinformiert, wüßten vom factum Antiochenum nichts und sähen das Verhältnis Juden15 Christen - Heidenchristen in den vierziger und fünfziger Jahren als ein weithin harmonisches. Und mag auch der Brief wegen seines subjektiven Charakters nur als parteiische Interpretation und nicht als objektive Darstellung zu beurteilen sein und uns außerdem das audiatur et altera pars verwehrt sein, so besitzen wir doch in ihm dieauthentische Interpretation jener Ereignisse durch den, der entscheidenden Anteil an wichtigsten historischen Wei20 chenstellungen hatte. Daher kann die Bedeutung des Gal als historische Quelle kaum überschätzt werden. Dann aber impliziert das exegetische Urteil über ihn, vor allem über seinen autobiographischen Abschnitt, das historische Urteil über wesentliche Aspekte der frühen Kirchengeschichte. Im Mittelpunkt des durch den Gal aufgegebenen historischen Fragekomplexes steht die 25 Frage nach dem sog. Apostelkonzil, das zutreffender Heidenmissionssynode genannt werden sollte. Läßt sich aus 2 , 7 - 9 mit Sicherheit entnehmen, daß Paulus auf ihr die „Säulen" vom Ursprung des von ihm gepredigten Evangeliums, das auf die Beschneidung der Heiden verzichtet, überzeugen konnte, so ist aber damit zugleich das Grundproblem der Deutung der Synode gegeben: Während in 2 , 1 - 1 0 nur von der Anerkennung des beschneidungs30 freien Evangeliums für die Heidenmission die Rede ist (das ist wegen 2,3 unbestreitbar, obwohl die Einigungsformel 2,9 nur die Teilung des Missionsauftrags ins Auge faßt), suggeriert der übrige Brief, Paulus habe darüber hinaus das prinzipiell gesetzesiveic Evangelium (vgl. 2,3 mit 5 , 3 f ) durchgesetzt (Hübner, Gesetz bei Paulus 21 ff). Daß Paulus das beschneidungsfreie Evangelium durchsetzen konnte, läßt sich möglicherweise so erklären, daß die ü sich an das Gesetz gebunden wissenden „Säulen" den jüdischen Präzedenzfall der nichtbeschnittenen „Gottesfürchtigen" vor Augen hatten und so die Heidenchristen als „christliche Gottesfürchtige", d.h. aber lediglich als Christen zweiter Klasse betrachteten. Aus dieser m. E. am ehesten einleuchtenden Annahme wäre aber, wenn man das Gesamtzeugnis des Gal ernst nimmt, zu folgern, daß Paulus, der alles auf seine grundsätzlichen Implikationen hin 40 durchdachte, die von den Jerusalemern in Analogie zur jüdischen Mission lediglich konzedierte Befreiung von der Beschneidung und vielleicht auch von Speisegesetzen als prinzipielle Freiheit vom Gesetz aufgefaßt hat (ähnlich Holmberg 22). Mag er auch damals noch nicht das Gesetz als grundsätzlich versklavende Macht verstanden haben, so waren dennoch durch die Jerusalemer Formel, die die theologischen Gegensätze übertünchte, die späteren Kontroversen im Prinzip vorprogrammiert (Hübner, Gesetz bei Paulus 53 ff). Mit dieser Hypothese wäre aber auch eine differenzierende Antwort auf die so umstrittene Frage nach der Stellung des Paulus auf der Synode möglich: Es ist zwischen dem Rollenselbstverständnis des Paulus und dem Verständnis seiner Funktion durch die Jerusalemer zu unterscheiden. Wem diese nämlich von ihrem ekklesiologischen Selbstverständnis her kraft 5 0 Vollmacht nur Konzessionen machen, den betrachten sie nicht — zumindest nicht im vollen Sinne - als gleichberechtigt; für sie ist also Paulus — genau wie Barnabas - lediglich Vertreter der von ihnen als abhängig betrachteten Mission der Antiochener. Nun sieht sich zwar Pau-
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lus von seinem apostolischen Selbstverständnis aus als Anwalt der von Judaisten bedrängten Heidenchristen Antiochiens, aber nicht als ihr Abgesandter, sondern als der berufene Heidenapostel, der auch für die Antiochener zuständig ist (anders Haenchen, Apg., ' 1 9 7 7 [KEK 3] 4 4 9 ) . Und auf keinen Fall hat er, wie es in extremer Weise Schlier (Gal. 68 f) unter Hinweis auf Gal 2 , 2 vertritt, seine Berufung als ergänzungsbedürftig durch „die entscheidende Autorität" der Jerusalemer beurteilt (ähnlich Holmberg 2 8 : Für Paulus war der Jerusalemer Apostolat „the highest doctrinal court o f the Church"). Möglicherweise könnte die Hypothese vom unterschiedlichen Verständnis der Jerusalemer Abmachungen auch für die Kollekte Gal 2 , 1 0 zutreffen. Doch ist sehr fraglich, ob man sie mit K.—»Holl (WdF 2 4 , 1 6 8 ) als Rechtsforderung der Urgemeinde den Heidenchristen gegenüber verstehen kann; außer Frage steht aber, daß Paulus sie so nicht verstanden hat. Außer Frage steht auch, daß das sog. Aposteldekret Act 15,28 f auf der Synode nicht erlassen wurde ( o v ó é v , Gal 2,6), auch nicht in dem Sinn, daß es allein Barnabas für die gemischte Gemeinde Antiochien, nicht aber Paulus für seine rein heidenchristlichen Gemeinden auferlegt wurde (so Lüdemann 98 f). Während nach der—»Apostelgeschichte das Verhältnis Judenchristen - Heidenchristen durch das „Aposteldekret" endgültig gelöst ist, bestätigt Gal 2 , 1 1 ff mit dem argumentativen Hinweis auf das factum Antiochenum, daß das Problem auch nach der Synode virulent bleibt. Der meist vertretenen Auffassung, daß es zu diesem Zusammenstoß kommen konnte, weil auf der Synode das Problem gemischter Gemeinden noch nicht in den Blick gekommen war, dürfte höchste historische Wahrscheinlichkeit beizumessen sein. Wenn von Lüdemann eingewandt wird, es sei „undenkbar, daß auf dem Konvent ein derartig fundamentales Problem der gemischten Gemeinden übergangen wurde" (98), so bleibt dies eine Behauptung, da wir über die konkrete Situation in —»Antiochien kaum etwas wissen. Vielleicht gibt uns aber Gal durch die Erwähnung des factum Antiochenum einen Hinweis auf die Entstehung des „Aposteldekrets" (anders Haenchen, a. a. 0 . 4 5 2 ff) und somit auf ein Erstarken judaistischer Tendenzen; denn wenn sich in gemischten Gemeinden Heidenchristen dem Dekret unterwerfen müssen, bedeutet dies die Dominanz judenchristlichen Denkens. Das factum Antiochenum könnte aber noch weiteres Licht auf die allgemeine Lage der Kirche um 5 0 n. Chr. werfen. Suhl (74) vermutet vielleicht nicht zu Unrecht, daß die Jakobusleute Gal 2 , 1 2 den Judenchristen in Antiochien klarmachten, daß ihre gesetzeswidrigen Mahlgemeinschaften mit Unbeschnittenen die Verfolgung der Jerusalemer Judenchristen zur Folge hätten — was dann auch Petrus und Barnabas einsahen. 7 Möglicherweise sieht Suhl auch richtig, daß die Aufteilung der Mission in 2 , 9 zwar zunächst geographisch gemeint war, daß aber der Konflikt in Antiochien darauf beruhte, daß man wegen der brisanten Situation Jerusalems „ein ethnographisches Verständnis durchzusetzen versuchte, wogegen Paulus berechtigte Einwände e r h o b " (68). Da also das kurz nach der Synode zu datierende factum Antiochenum judenchristliches Denken offensiv werden ließ (das gilt auch, wenn sich, was zumindest fraglich ist, Paulus in Antiochien durchgesetzt haben sollte), dürfte sicher auch die streng judaistische Partei, die sich auf der Synode nicht hatte durchsetzen können, Auftrieb erhalten haben. Von daher ist zu fragen, ob nicht die judaistische Agitation in Galatien wenige Jahre später im Lichte gerade dieser Entwicklung zu sehen ist. Es ist also vor allem der Gal, der als kirchengeschichtliches Dokument ersten Ranges zu zeigen vermag, daß die Synode eben nicht, wie die Act suggerieren, das Ende der judaistischen Bestrebungen bedeutet, sondern daß die Entwicklung zunächst einmal in die genau entgegengesetzte Richtung ging. (Was die Pseudoklementinen mit ihrer arg verzerrten Perspektive zur Erhellung der historischen Situation beitragen können, vermögen sie nur zu leisten, wenn Gal den Horizont absteckt.) Angesichts der Eskalation judenchristlicher Offensive vom vergeblichen judaistischen Widerstand auf der Synode über die wohl von Jakobus geforderte Aufhebung der Mahlgemeinschaft in Antiochien bis zum offenen judaistischen Angriff in Galatien (und Korinth?, s. II Kor; —»Korintherbriefe) verwundert zunächst, daß nach den galatischen Wirren Paulus in seiner theologischen Entwicklung die eindeutig antinomistische Spitze des Gal in dialektischer Sicht des Gesetzes aufgefangen hat (Rom). So verlangt das Faktum der theologischen Differenz beider Briefe, das den Gal eindeutig als theologisches Ubergangsdokument erweist, nach einer historischen Erklärung, die aber nur als Hypothese vorgestellt werden kann. Auszugehen ist dabei von der historisch wahrscheinlichen Verbindung der in Galatien wirkenden Judaisten mit Jerusalem. Dann aber ist anzunehmen, daß diese es sich nicht entgehen ließen, die Jerusalemer Kirchenleitung über die für jedes jüdische Ohr blasphemisch klingenden Aussagen des Gal - womöglich in vergröberter Art - genüßlich zu informieren. Daß der Gal bei Jakobus und seinen Anhängern, auch wenn sie alles andere als Judaisten waren, Entsetzen hervorrufen mußte, zumal Paulus sich auf Jerusalem berufen hatte, wird man schwerlich bestreiten können - es sei denn, man nimmt hypothetisch an, der Gal sei in Jerusalem unbekannt geblieben. Rom 1 5 , 3 0 f könnte Indiz dafür sein, daß Paulus von der Jerusalemer Reaktion erfahren hatte. Ist also das Faktum der im Rom doch partiell positiven Wertung von Beschneidung und G e s e t z - bei voller Wahrung des theologischen Anliegens des Gal, nämlich der Rechtfertigung allein aus Glauben - ein Hinweis darauf, daß Paulus trotz der Katastrophe,
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die das Bekanntwerden des Gal in Jerusalem für sein bereits durch das factum Antiochenum lädiertes Verhältnis zu den Jerusalemern bedeutete, doch noch eine theologische Annäherung an J a k o b u s und seine Gemeinde suchte? War der Rom die theologische Korrektur des Gal um des Dialogs mit Jerusalem willen? Trifft diese Hypothese zu, dann darf der Gal nicht, wie es so oft geschieht, als Vorstufe des R o m gesehen werden, der dort erst theologisch voll expliziert wird, sondern als ein bereits im Corpus Paulinum überholtes theologisches Dokument. Die Exegese des Briefes hätte die durch seinen Autor selbst vollzogene Korrektur mit zu berücksichtigen. Das aber bedeutet auch, das Verhältnis Heidenchristen Judenchristen während des Stadiums der Überwindung der im Gal dokumentierten theologischen Extreme neu zu bedenken. Daß die Position des Gal von Paulus auch in seinem Verhalten modifiziert wurde, zeigt überzeugend J . W . Dräne in seiner in der deutschen Forschung fast völlig ignorierten M o n o graphie.
8. Zeit und Ort der
Abfassung
Weithin unbestritten ist, daß der Gal zwischen I Thess und Rom geschrieben wurde (anders Bruce, Paul, 4 5 7 : möglicherweise vor dem „Council of Jerusalem" und somit vor I Thess; dies setze allerdings voraus, daß Gal 2 , 1 - 1 0 die Parallele zu Act 1 1 , 2 7 - 3 0 , nicht aber zu Act 15 sei, ebd. 1 5 0 f f 8 ) , d o c h ist auch die zeitliche Ansetzung dieser beiden Briefe kontrovers (I Thess zumeist 51; Lüdemann 2 7 2 : um 4 1 ; Rom zumeist nach 5 5 ; Lüdemann 2 7 3 : 5 1 / 5 2 oder 5 4 / 5 5 ) . Die für das Verständnis des Gal wichtigere Frage als die nach der absoluten Chronologie der beiden Eckdaten ist die nach seinem zeitlichen Verhältnis zu I Kor. Vor allem U. Börse vertritt wegen der theologischen Nähe des Gal zu Rom „die zeitliche Kombination" von Gal mit II Kor 1 0 - 1 3 (Börse 178; ähnlich Lüdemann 2 7 3 ; Suhl 2 1 7 f f : nach I Kor).Doch dürfte wegen der theologischen Differenz zwischen Gal und Rom Borses Argumentation nicht überzeugen (für Gal vor I Kor z.B. Köster, Einf. 5 5 0 ; Dräne 1 4 0 - 1 4 3 ; Hübner, Gesetz bei Paulus 57 Anm. 47). Fast allgemein ist Ephesus als Ort der Abfassung akzeptiert. 9. Zur
Wirkungsgeschichte
Ein dringendes Desiderat der Forschung ist eine ausführliche Darstellung der Wirkungsgeschichte des Gal. Diese Aufgabe, die nicht einfach in einer allgemeinen Darstellung der paulinischen Wirkungsgeschichte'' aufgehen darf, ist gerade angesichts der neueren Forschungsgeschichte geboten, in der sich mehr und mehr der unverwechselbare Platz des Gal im Prozeß des Werdens der paulinischen Theologie herausstellt. Ist vielleicht Paulus in der Kirchengeschichte da, wo er als Zeuge gegen Gesetz und Israel herangezogen wird, vor allem vom Gal her verstanden?
Aufgrund des in Abschn. 6 und 7 Gesagten wird man bereits die vitaPauli nach dem Gal, also vor allem sein theologisches Bemühen im Rom und vielleicht auch seine Katastrophe anläßlich seiner Kollektenreise nach Jerusalem, zur Wirkungsgeschichte des Gal rechnen müssen. Im 2. Jh. hat -H. Marcion den von angeblich judaisierenden Interpolationen gereinigten Gal (Rekonstruktion Hamack 6 7 * — 79*) an die Spitze seiner Ausgabe der Paulusbriefe gestellt und so die zentrale Bedeutung dieses Briefes für seine Theologie dokumentiert. Doch hat er in Kap. 3 ausgerechnet entscheidende torakritische Passagen gestrichen, obwohl gerade diese seine Grundthese vom Gegensatz des bloß gerechten Schöpfergottes und des guten Erlösergottes unterstrichen hätten. 1 0 Wenn er in seinen „Antithesen" Gesetz und Glauben bzw. Gesetz und Christus gegenüberstellt (ebd. 91), so hätte er damit die wesentliche Intention des Gal getroffen, wäre nicht zugleich alles durch seine Zweigötterdogmatik verdorben. Insofern hat A.v. —»Hamack recht: „Nur Luther mit seinem Rechtfertigungsglauben vermag hier mit Marcion zu rivalisieren; aber indem er die Identität des Schöpfergottes und des Erlösergottes festhielt, vermochte er mit diesem Glauben den ganzen Reichtum der Heilsgeschichte und der ,Gottesspuren' zu verbinden, den M . preisgeben mußte" (92). M. —»Luther, zu dessen Denkstrukturen auch das Denken in Antithesen gehört, hat zwar seine reformatorische Erkenntnis am Rom gewonnen; doch war es der Gal, den er besonders liebte („Ist mein Keth von Bor", W A . T R 1, 6 9 , 1 4 6 ) und mehrfach auslegte ( 1 5 1 6 / 1 7 Vorlesung; 1 5 1 9 Kommentar, in 2. Bearbeitung 1523; die sog. Große Galater-Vorlesung 1531). Gerade diese Gal-Auslegungen zeigen, wie sehr Luther als Exeget und biblischer Theologe Reformator ist, so daß es unerläßlich ist, seine exegetischen Schriften zu lesen, um ihn als Re-
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f o r m a t o r zu v e r s t e h e n . T r o t z gewisser U n t e r s c h i e d e in den verschiedenen G a l - A u s l e g u n g e n zeigt sich a b e r in ihnen allen eine d o m i n i e r e n d e G e m e i n s a m k e i t , „ d i e G r u n d v o r a u s s e t z u n g aller D e n k b e w e g u n g e n L u t h e r s , in der die w o h l tiefste Differenz des lutherschen T h e o l o g i sierens zur geistigen A r b e i t des M i t t e l a l t e r s l i e g t " (K. B o r n k a m m 3 8 7 ) , die die V e r f a s s e r i n (im A n s c h l u ß an G o g a r t e n ) als „ W i s s e n L u t h e r s u m die G e s c h i c h t l i c h k e i t der O f f e n b a r u n g " ( 3 8 9 ) bestimmt. F . C h r . —>Baur h a t seine T h e s e , d a ß P a u l u s gegen judaisierende G e g n e r , die a u f breiter F r o n t gegen seine M i s s i o n a n t r a t e n , zu k ä m p f e n h a t t e , a u ß e r m i t I K o r 1 , 1 2 e n t s c h e i d e n d mit d e m Gal b e g r ü n d e t ( 4 8 ff). G e r a d e v o n ihm aus entwirft er sein historisches Bild - s p ä t e r wird er es mit Hilfe H e g e l s c h e r K a t e g o r i e n modifizieren - v o n den zwei e n t g e g e n g e s e t z t e n Parteien „ s c h o n in jener ersten Z e i t " : A u f d e r e i n e n Seite P a u l u s , a u f d e r a n d e r e n die überall „ d e m Apostel sich entgegenstellende P a r t e i " , die sich auf J a k o b u s u n d Petrus berief, a b e r n i c h t v o n ihnen u n t e r s t ü t z t w u r d e . Sie findet eine gewisse F o r t s e t z u n g in den s p ä t e r e n E b i o niten. M i t dieser Sicht d e r frühen K i r c h e n g e s c h i c h t e g e s c h i e h t E n t s c h e i d e n d e s : K i r c h e n g e schichte w i r d „ a u s Parteien u n d ihren G e g e n s ä t z e n " als „ d a s Bild eines P r o z e s s e s " e n t w o r fen (K. Scholder: T R E 5 , 3 5 5 , 2 6 f f ) . Für die Auslegungsgeschichte des factum Antiochenum vgl. den ausführlichen Exkurs von Mußner (Gal. 146ff). Hier sei nur auf folgende Parallelen hingewiesen: Marcion bezeichnete Petrus als legis hotno (Test. IV, 11), Luther sieht Petrus und den Papst in gleicher Weise für das Gesetz und gegen das Evangelium irren (WA 2, 2 3 5 , 2 9 - 3 2 ; 4 0 / 1 , 1 3 2 , 2 9 - 1 3 3 , 8 ) , nach H. -^Lietzmann hat Petrus, der seit dem Vorfall von Antiochien in Gegensatz zu Paulus stand, dessen wichtigste Gemeinden judaistisch auszurichten versucht (SAB 1 9 3 0 , 153 ff). Daß aber simplifizierende Formeln wie „Petrus als Judaist" oder „Petrus als Gesetzesmensch" die Kompliziertheit der damaligen historischen Situation nicht erfassen können, ergibt sich aus den bisherigen Darlegungen zur Genüge. Für die katholische Theologie ist Gal 2 , 1 1 ff ein „kontroverstheologisches Fundamentalproblem" mit ökumenischer Relevanz (Lönning 1-69). Anmerkungen ' Andere Lösungsversuche s. Merk: Z N W 6 0 , 8 4 ff. 2 So vor allem Bruce: B J R L 5 2 ; ders., Paul 179; Michaelis, Einl. 183-187. 1 Zur Auseinandersetzung mit Schmithals s. u.a. Vielhauer, Gesch. 1 2 0 f f ; ders., Gesetzesdienst; Ekkert; Wilson; zu Gal. 4 , 9 f Mußner, Gal. 2 9 0 f f . 4 Vertreter dieser Auffassung s. Hübner, Gesetz bei Paulus 28 Anm. 5 0 . 5 Vertreter dieser Auffassung s. ebd. 28 Anm. 4 5 . 6 Exegetische Begründung ebd. 3 7 ff; ders.; KuD 2 1 , 2 3 9 ff. 7 Die mit dieser Annahme verbundenen Hypothesen Suhls ( 7 0 - 7 6 ) überzeugen nicht. 8 Auch Suhl ( 5 7 - 64) sieht die Kollektenreise wegen der prophezeiten Hungersnot als Anlaß der Reise Gal 2,1. '' Zur paulinischen Wirkungsgeschichte s. vor allem E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristl. Lit. bis Irenaus, Münster 1 9 7 9 ; A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels u. die Rezeption der paulinischen Theol. in der frühchristl. Lit. bis Marcion, 1 9 7 9 (BHTh 58); H.-Th. Wrege, Wirkungsgesch. des Evangeliums, Göttingen 1981. 10 Könnte die Streichung von Gal 3 , 1 9 f durch Markion damit zusammenhängen, daß er schon die dort ausgesprochene Absentierung Gottes aus dem Gesetzgebungsprozeß erkannt hatte und ihm deshalb die Trennung von Schöpfergott und Gesetz als suspekt erschien? Literatur Kommentare: J . A . Allen, 1 9 5 1 (TBC). - Augustin: PL 3 5 , 2 1 0 6 - 2 1 4 8 . - Jürgen Becker, 1 9 7 6 ( N T D 8). - Johann Albrecht Bengel, Gnomon Novi Testamenti, 1 7 4 2 . - Hans Dieter Betz, 1 9 7 9 (Hermeneia) (s. dazu William D. Davies: Religious Studies Review 7 [ 1 9 8 1 ] 3 1 0 - 3 1 8 ; Paul W. Meyer: ebd. 3 1 8 - 3 2 3 ; David E. Aune: ebd. 3 2 3 - 3 2 8 ) . - H e r m a n n Wolfgang Beyer, " 1 9 6 8 (NTD 8 ) . - J o h n Bligh, 1 9 6 9 (Hous Com 1 ) . - P i e r r e Bonnard, 1 9 5 3 : 1 9 7 2 (CNT 9). - Wilhelm Bousset ' 1 9 1 7 (SNT). - Ragnar Bring, Berlin/Hamburg 1 9 6 8 . - Ernest de Witt Burton, 1 9 2 1 = 1 9 7 5 (ICC). - Johannes Calvin (CR 77). - Günther Dehn, ' 1 9 3 8 (UCB 9). - G . S . D u n c a n , 6 1 9 4 8 ( M N T C ) . - Gerhard Ebeling, Die Wahrheit des Evangeliums, Tübingen 1 9 8 1 . - H u g o Grotius, Paris 1644. - D. Guthrie, 1 9 6 9 ( C e B ) . - A d o l f Hilgenfeld, Leipzig 1 8 5 2 . - C a r l Holsten,Berlin 1 8 8 0 . - 0 t t o Kuss, 1 9 4 0 ( R N T 6 ) . - M a r i e - J o s e p h Lagrange, ' 1 9 2 6 = 1 9 5 0 (EtB). - Hans Lietzmann, 1 9 1 0 " 1 9 7 1 ( H N T 10). - Joseph Barber Lightfoot, London 1 8 6 5 l o 1 8 9 0 = Grand Rapids 1 9 6 9 . - Richard Adalbert Lipsius, 2 1 8 9 2 (HC 2/2). - Dieter Lührmann, 1 9 7 8 (ZBK 7 ) . - M a r t i n Luther: (WA 2; 4 0 / 1 - 2 ; 5 7 / 2 ) . - Stanislaus Lyonnet, Paris 1 9 5 3 .
Galaterbrief
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- Christian Maurer, Zürich 1943. - Heinrich August Wilhelm Meyer, 1841 5 1 8 7 0 (KEK 7). - Franz Mußner, 1974 (HThK 9), dort weitere Lit.-Angaben für Kommentare. - W. Neil, 1967 (CBC). - Albrecht Oepke, 1937 5 1973 (ThHK 9). - Herman Ridderboos, Grand Rapids 4 1 9 5 4 . - Heinrich Schlier, 1949 '-'1971 (KEK 7). - Friedrich Sieffert 6 1880 ''1889 (KEK 7). - R . T . Stamm, 1952 (IntB 10). - A. Viard, 1964 (SBi). - Wilhelm Martin Leberecht de W e t t e , 2 1 8 4 5 (KEH). - Theodor Zahn, 1905 1922 (KNT 9). Zw Abschn. 1 -8: Roger D. Aus, Three Pillars and Three Patriarchs. A Proposal Concerning Gal 2,9: Z N W 70 ( 1979) 2 5 2 - 261. - Charles K. Barrett, The Allegory of Abraham, Sarah, and Hagar in the Argument of Gal: Rechtfertigung. FS E. Käsemann, Tübingen/Göttingen 1976, 1 - 1 6 . - Johan Christiaan Beker, Paul the Apostle, Philadelphia 1980. - Hans Dieter Betz, Geist, Freiheit u. Gesetz. Die Botschaft des Paulus an die Gemeinden in Galatien: ZThK 71 (1974) 7 8 - 9 3 . - Ders., The Literary Composition and Function of Paul's Letter to the Galatians: NTS 21 (1974/75) 3 5 3 - 3 7 9 . - Peder Borgen, Observations on the Theme „Paul and Philo". Paul's preaching of circumcision in Galatia (Gal 5,11) and debates on circumcision in Philo: Die paulinische Literatur u. Theol., hg. v. S. Pederson, Arhus/Göttingen 1 9 8 0 , 8 5 - 1 0 2 . - Günther Bornkamm, Paulus, UB 1 1 9 , 4 1 9 7 9 , v. a. 48 - 68. - Ders., Das Ende des Gesetzes, G. Aufs., I ! 1 9 6 1 (BEvTh 16) 1 3 3 - 1 3 8 . - Udo Borse, Der Standort des Gal, 1972 (BBB 41). - Michel Bouttier, Complexio oppositorum. Sur les formules de I Cor. XII.13; Gal. III.26 —28; Col. III.10, 11: NTS 2 3 ( 1 9 7 6 ) 1 - 1 9 . - Frederick F. Bruce, Galatian Problems: B J R L 52 ( 1969/70) 243 - 266; 53 ( 1970/71 ) 253 - 2 7 1 . - Ders., Apostle of the Heart Set Free, Exeter 1977, passim. - Ders., Further Thoughts on Paul's Autobiography. Gal 1 , 1 1 - 2 , 1 4 : Jesus u. Paulus. FS W . G . Kümmel, Göttingen 1975, 2 1 - 2 9 . - Charles H. Buck/Freer Taylor, Saint Paul. A Study of the Development of His Thought, New York 1969, 8 2 - 1 0 2 . - Rudolf Bultmann, Zur Auslegung v. Gal 2 , 1 5 - 1 8 : ders., Exegetica, Tübingen 1967, 3 9 4 - 3 9 9 . - Brendan Byrne, „Sons of God" - „Seed of Abraham", 1979 (AnBib 83) 141 - 190. - Frederic R. Crownfield, The Singular Problem of the Dual Galatians: J B L 64 (1945) 4 9 1 - 5 0 0 . - Erich Dinkier, Signum Crucis, Tübingen 1967, 2 7 0 - 2 8 2 . - John W. Drane, Paul. Libertine or Legalist?, London 1975, 5 - 5 9 . 7 8 - 9 4 . 1 1 0 - 1 1 4 . 1 3 7 - 1 4 3 . - Jost Eckert, Die urchristl. Verkündigung im Streit zw. Paulus u. seinen Gegnern nach dem Gal, 1971 (BU 6). — Eduard Earle Ellis, Prophecy and Hermeneutic, 1978 (WUNT 18) 1 0 9 - 1 1 2 . - Chalmer E. Faw, The Anomaly of Gal: BR 4 (1960) 2 5 - 3 8 . - Werner Foerster, Abfassungszeit u. Ziel des Gal: Apophoreta. FS E. Haenchen, 1964 (BZNW 30) 1 3 5 - 1 4 1 . - Heinrich Fürst, Paulus u. die „Säulen" der Jerusalemer Urgemeinde (Gal 2,6—9): Studiorum Paulinorum Congressus Internationalis Cathoücus 1961, II 1963 (AnBib 18) 3 - 1 0 . - José Maria Gonzalez Ruiz, Pedro en Antioquia, Jefe de toda la iglesia, según Gal. 2,11 — 14: ebd. 11 — 16. — Erich Gräßer, Das eine Evangelium, Hermeneutische Erwägungen zu Gal 1 , 6 - 1 0 : ZThK 66 ( 1969) 3 0 6 - 3 4 4 . - John J. Gunther, St. Paul's Opponents and Their Background, 1973 (NT. S 3 5 ) . - Ferdinand Hahn, Das Gesetzesverständnis im Rom u. Gal: ZNW 67 (1976) 2 9 - 6 3 . - E. A. Harvey, The Opposition to Paul: S t E v 4 / l (1968) 3 1 9 - 3 3 1 . - B e n g t Holmberg, Paul and Power, Philadelphia 1978, 1 5 - 5 6 . - Traugott Holtz, Die Bedeutung des Apostelkonzils f. Paulus: N T 16 (1974) 1 1 0 - 1 4 8 . - G e o r g e Howard, Was James an Apostle? (Gal 1,19): NT 19 (1977) 63 f . - D e r s . , Paul. Crisis in Galatia, 1979 (MSSNTS 3 5 ) . - Hans Hübner, Das Gesetz bei Paulus. Ein Beitr. zum Werden der paulinischen Theol., M982 (FRLANT 119) v.a. 1 6 - 4 3 . 8 1 - 9 1 . - Ders., Gal 3 , 1 0 u. die Herkunft des Paulus: KuD 19 (1973) 2 1 5 - 2 3 1 . - Ders., Das ganze und das eine Gesetz: KuD 21 (1975) 2 3 9 - 2 5 6 . - Ders., Identitätsverlust u. paulinische Theol. Anm. zum Gal: KuD 24 (1978) 1 8 1 - 193. Ders., Pauli theologiae proprium: NTS 26 (1979/80) 4 4 5 - 4 7 3 . - John J . Hughes, Hebr 9,15 ff and Gal 3,15 ff. A Study in Covenant Practice and Procedure: NT 21 (1979) 2 7 - 9 6 . - Jacob Jervell, Der unbekannte Paulus: Die paulinische Literatur und Theol., hg. v. S. Pedersen, Arhus/Göttingen 1 9 8 0 , 2 9 - 4 9 . - Robert Jewett, The Agitators and the Galatian Congregation: NTS 17 (1970/71) 1 9 8 - 2 1 2 . - Ders., Paulus-Chronologie, München 1 9 8 1 . - Karl Kertelge, Zur Deutung des Rechtfertigungsbegriffs im Gal: BZ 12 (1968) 2 1 1 - 2 2 2 . - Ders., Apokalypsis Jesou Christou (Gal 1,12): N T u. Kirche. FS R. Schnakkenburg, Freiburg 1974, 2 6 6 - 2 8 1 . - George D. Kilpatrick, Gal 1 , 1 8 I I T O P H I A I KHErweckung/Erweckungsbewegungen
(1516-1570)
Die Forschung über Leben und Werk dieses „erstklassigen Kopfes aus dem zweiten Glied der zweiten Generation" (Baur 4 3 ) von Reformatoren k o m m t nur zögernd in Gang (vgl. Voit 13). 1 5 1 6 als ältester Sohn des Bürgermeisters von Kothen geboren, bevorzugte Niko-
Gallus
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leau, R e c u e i l des diverses p i è c e s c o n c e r n a n t les c e n s u r e s de la F a c u l t é de T h é o l o g i e de Paris s u r l a h i é r a r chie de l'Eglise et sur la m o r a l e c h r é t i e n n e , M ü n s t e r 1 6 6 6 . - J a c q u e s B é n i g n e B o s s u e t , Œ u v r e s c o m p l è tes, c d . F. L â c h â t , 3 1 B d e . , Paris 1 8 6 3 / 6 7 . - D e r s . , C o r r e s p o n d a n c e , ed. C h . U r b a i n / E . L e v e s q u e , 15 B d e . , Paris 1 9 0 9 / 2 5 . - E t i e n n e le C a m u s , L e t t r e s , ed. A. I n g o l d , Paris 1 8 9 2 . - L o u i s C h a r l e s M a r i e D e l a v a u d , Le m a r q u i s de P o m p o n n e , Paris 1 9 1 1 . - A n t o i n e D u r a n t h o n , C o l l e c t i o n des p r o c è s v e r b a u x des A s s e m b l é e s g é n é r a l e s du C l e r g é de F r a n c e d e p u i s 1 5 6 0 j u s q u ' à p r é s e n t , 9 B d e . , Paris 1 7 6 7 / 7 8 . - G a b r i e l H a n o t a u x , R e c u e i l des i n s t r u c t i o n s d o n n é e s a u x a m b a s s a d e u r s et m i n i s t r e s de F r a n c e depuis les traités de W e s t p h a l i e j u s q u ' à la R é v o l u t i o n , 2 B d e . , Paris 1 8 8 8 / 1 9 1 l . - G o d e f r o y H e r m a n t , M é m o i r e s s u r l'his t o i r e e c c l é s i a s t i q u e du X V I I e siècle, ed. A. G a z i e r , 6 B d e . , Paris 1 9 0 5 - 1 9 1 0 . - Pierre I m b a r t de la T o u r , Les o r i g i n e s de la r é f o r m e , ed. Y . L a n h e r s , 2 B d e . , M e l u n ' 1 9 4 4 . - L o u i s Le G e n d r e , M é m o i r e s , ed. M . R o u x , Paris 1 8 6 3 . - A. L é m a n , R e c u e i l des i n s t r u c t i o n s g é n é r a l e s a u x n o n c e s o r d i n a i r e s de F r a n c e de 1 6 2 4 à 1 6 3 4 , Lille/Paris 1 9 2 0 . - Pierre L e m e r r e / A . D o r s a n n e , R e c u e i l des a c t e s , titres et m é m o i r e s c o n c e r n a n t les a f f a i r e s du C l e r g é de F r a n c e , 15 B d e . , Paris 1 7 1 6 - 1 7 5 2 . - L é o n M e n t i o n , D o c u m e n t s relatifs a u x r a p p o r t s du clergé a v e c la r o y a u t é de 1 6 8 2 à 1 7 0 5 , 2 B d e . , Paris 1 8 9 3 / 1 9 0 3 . - C h a r l e s de M o n t c h a l , M é m o i r e s , 2 B d e . , R o t t e r d a m 1 7 1 8 . - Paul P e l l i s o n , H i s t o i r e de L o u i s X I V , 3 B d e . , Paris 1 7 4 9 . L o u i s Ellies du Pin, H i s t o i r e e c c l é s i a s t i q u e du X V I I e siècle, 4 B d e . , Paris 1 7 1 4 . - Pierre P i t h o u , Les libertés d e l ' E g l i s e g a l l i c a n e , Paris 1 5 9 4 . - R e n é R a p i n , M é m o i r e s , e d . L. A u b i n e a u , 3 B d e . , Paris 1 8 6 5 . - R e cueil des induits a c c o r d é s au roi p a r les p a p e s A l e x a n d r e V I I et C l é m e n t I X p o u r la d i s p o s i t i o n des b é n é fices c o n s i s t o r i a u x et a u t r e s , P a r i s 1 6 7 0 . - E d m o n d R i c h e r , D e e c c l e s i a s t i c a e t p o l i t i c a p o t e s t a t e libellus, Paris 1 6 1 1 . - D e r s . , J o a n n i s G e r s o n i i et c a n c e l l a r i i Parisiensis o p e r a , 2 B d e . , Paris 1 6 0 6 . - D e r s . , H i s t o i r e du S y n d i c a t d ' E d m o n d R i c h e r , o . O . 1 7 5 3 . - S i m o n V i g o r , O p e r a o m n i a , Paris 1 6 8 3 .
Literatur L o u i s A n d r é , M . L e T e l l i e r et L o u v o i s , Paris 1 9 0 9 . - M a r i a d ' A n g e l o , Luigi X I V e la S a n t a S e d e , R o m 1 9 1 4 . - C h a r l e s F e l i x B e l l e t , H i s t o i r e du C a r d i n a l L e C a m u s , Paris 1 8 8 6 . - F e r d i n a n d o di B o j a n i , I n n o c e n t X I , sa c o r r e s p o n d a n c e a v e c ses n o n c e s , 3 B d e . , R o m 1 9 1 0 / 1 2 . - L o u i s D e d o u v r e s , Le P. J o s e p h de Paris, c a p u c i n , 2 B d e . , Paris 1 9 3 2 . - E t i e n n e D e j e a n , Un p r é l a t i n d é p e n d a n t a u X V I I e siècle, N i c o l a s P a v i l l o n , P a r i s 1 9 0 9 . - M a r c D u b r u e l , E n plein c o n f l i c t , la n o n c i a t u r e de F r a n c e , la S e c r é t a i r e r i e d ' E t a t du V a t i c a n , les C o n g r é g a t i o n s des a f f a i r e s de F r a n c e p e n d a n t la q u e r e l l e de la R é g a l e , Paris 1 9 2 7 . - Paul D u d o n , G a l l i c a n i s m e p o l i t i q u e et t h é o l o g i e g a l l i c a n e : R S R 1 9 ( 1 9 2 9 ) 5 1 3 - 5 2 9 . - C h a r l e s G é r i n , L o u i s X I V et le S a i n t - S i è g e , Paris 1 8 9 4 . - F r i e d r i c h H e y e r , D i e k a t h . K i r c h e v. 1 6 4 8 bis 1 8 7 0 : K I G 4 / N , 7 - 1 2 ( L i t . ) . - M a x I m m i c h , P a p s t I n n o c e n z X I . , Berlin 1 9 0 0 . - J o h a n n e s H a l l e r , D i e p r a g m a t i s c h e S a n k t i o n v. B o u r g e s : H Z 1 0 3 ( 1 9 0 9 ) 1 - 5 1 . - D e r s . , D e r U r s p r u n g der g a l l i k a n i s c h e n F r e i h e i t e n : H Z 9 1 ( 1 9 0 3 ) 1 9 3 - 2 1 4 . - M a t t h i e u L a u r a s , N o u v e a u x é c l a i r c i s s e m e n t s s u r l ' A s s e m b l é e de 1 6 8 2 , Paris 1 8 7 8 . - J o seph L e d e r , Q u ' e s t - c e q u e les l i b e r t é s de l'Église g a l l i c a n e ? : R S R 2 3 ( 1 9 3 3 ) 3 8 5 - 4 1 0 . 5 4 2 - 5 6 8 ; 2 4 ( 1 9 3 4 ) 4 7 - 8 5 . - J u l e s T h é o d o s e L o y s o n , L ' a s s e m b l é e du C l e r g é de F r a n c e d e 1 6 8 2 , Paris 1 8 7 0 . - L o u i s M a d e l i n , F r a n c e et R o m e , Paris 1 9 1 3 . - J o s e p h de M a i s t r e , D u P a p e , suivi l ' É g l i s e G a l l i c a n e d a n s s o n r a p p o r t a v e c le s o u v e r a i n P o n t i f e , 2 B d e . , B r ü s s e l 1 8 3 8 . - A i m é - G e o r g e s M a r t i m o r t , Le g a l l i c a n i s m e de B o s s u e t , P a r i s 1 9 5 3 . - V i c t o r M a r t i n , L ' a s s e m b l é e de V i n c e n n e s , Paris 1 9 0 9 . - D e r s . , Le g a l l i c a n i s m e et la r é f o r m e c a t h o l i q u e . Essai h i s t o r i q u e s u r l ' i n t r o d u c t i o n en F r a n c e des d é c r e t s du C o n c i l e de T r e n t e , Paris 1 9 1 9 . - D e r s . , Le g a l l i c a n i s m e p o l i t i q u e et le C l e r g é de F r a n c e , Paris 1 9 2 8 . - D e r s . , Les o r i g i n e s du g a l l i c a n i s m e , 2 B d e . , Paris 1 9 3 9 . - E u g è n e M i c h a u d , L o u i s X I V et I n n o c e n t X I d ' a p r è s les c o r r e s p o n d a n c e s i n é d i t e s du m i n i s t è r e des A f f a i r e s é t r a n g è r e s , 4 B d e . , P a r i s 1 8 8 3 . - G u i l l a u m e M o l l a t , L e s origin e s du G a l l i c a n i s m e p a r l e m e n t a i r e a u x X I V e et X V e s.: R H E 4 3 ( 1 9 4 8 ) 9 0 - 1 4 7 . - J e a n O r c i b a l , L o u i s X I V c o n t r e I n n o c e n t X I : les a p p e l s au f u t u r c o n c i l e de 1 6 8 8 e t l ' o p i n i o n f r a n ç a i s e , Paris 1 9 4 9 . — J e a n Rivière, L e p r o b l è m e de l'église et de l ' é t a t a u t e m p s de P h i l i p p e le B e l , Paris 1 9 2 6 . - K u r t S c h l e y e r , A n f ä n g e des G a l l i k a n i s m u s im 1 3 . J h . D e r W i d e r s t a n d des f r a n z . K l e r u s g e g e n die Privilegierung d e r B e t t e l o r d e n , Diss. H e i d e l b e r g 1 9 3 6 . - A. S i c a r d , L ' a n c i e n c l e r g é de F r a n c e , 3 B d e . , Paris 1 8 9 3 - 1 9 0 3 . D e r s . , R e c h e r c h e s h i s t o r i q u e s s u r l ' A s s e m b l é e du C l e r g é de F r a n c e d e 1 6 8 2 , Paris 1 8 6 9 . - J o s e p h T a n s , B o s s u e t en H o l l a n d e , Paris 1 9 4 9 . - R a y m o n d T h y s m a n , Le G a l l i c a n i s m e de M g r . M a r e t et l ' i n f l u e n c e de B o s s u e t : R H E 5 2 ( 1 9 5 7 ) 4 0 1 - 4 6 5 . - J e a n - M a r i e V i d a l , J e a n C e r l e et le s c h i s m e de la r é g a l e au d i o cèse de P a m i e r s , Paris 1 9 3 8 . - D e r s . , F r a n ç o i s - E t i e n n e de C a u l e t , é v ê q u e de P a m i e r s , Paris 1 9 3 9 .
Gabriel Adriânyi Gallitzin, Amalia Gallus, Nikolaus
Fürstin
von —>Erweckung/Erweckungsbewegungen
(1516-1570)
Die Forschung über Leben und Werk dieses „erstklassigen Kopfes aus dem zweiten Glied der zweiten Generation" (Baur 4 3 ) von Reformatoren k o m m t nur zögernd in Gang (vgl. Voit 13). 1 5 1 6 als ältester Sohn des Bürgermeisters von Kothen geboren, bevorzugte Niko-
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Gallus
laus Hahn später die lateinische Fassung seines Namens, der den Gegnern Anlaß zu mancher Verunglimpfung war. Als Vierzehnjähriger bezog Gallus die Universität —»Wittenberg. Seinerdamaligen Lehrer J . -h> Jonas, Matthias Schenk,—»Luther und—»Melanchthon erinnerte er sich auch in späteren Jahren dankbar. Nach seiner Promotion zum Magister im Herbst 1 5 3 7 reiste er nach Erfurt und Nürnberg, wo er mit Veit Dietrich zusammentraf, den er bereits aus Wittenberg kannte. Mit einer Disputation über die Erbsünde beendete er 1 5 4 0 sein Studium, um anschließend das Rektorat an der Mansfelder Stadtschule zu übernehmen. Doch bereitete ihm die pädagogische Arbeit viel Mühe und Verdruß. Daher traf es sich günstig, daß er durch Vermittlung Luthers und Melanchthons im Mai 1 5 4 3 zum Diakon in Regensburg bestellt wurde, wo kurz vorher durch eine Volksbewegung die Reformation durchgesetzt worden war. In Zusammenarbeit mit dem gleichzeitig angestellten Superintendenten Hieronymus Noppus und dem Ratskonsulenten Johann Hiltner ordnete Gallus das evangelische Kirchenwesen Regensburgs bis zum—»Interim 1 5 4 8 . Gallus entwickelte sich zur prägenden Gestalt unter den Theologen Regensburgs, da er sich sehr stark der Gemeindepredigt widmen konnte, wobei er beim Kernstück reformatorischer Lehre, dem paulinischen Rechtfertigungsbegriff, einsetzte. Nachdem J . —»Funks Katechismus von 1 5 4 2 nicht die erhoffte Wirkung und Verbreitung erlangt hatte, förderte Gallus den häuslichen Unterricht durch die Herausgabe einer Schrift, die bis 1 5 8 7 immer neu aufgelegt wurde. Während des Regensburger Religionsgesprächs (—»Reformationsgespräche) 1 5 4 6 gab Gallus seiner Hoffnung auf Gelingen der Verhandlungen in mehreren Predigten Ausdruck. Die Nachricht von Luthers T o d , die während des Gesprächs eintraf, deutete er aber als schlechtes Omen. Trotz seiner unbestreitbaren Erfolge, auf die er schon nach kurzer Wirksamkeit zurückblicken konnte, mußte Gallus erkennen, daß nicht nur die Regensburger Gemeinde durch die zu erwartenden gewaltsamen kirchlichen Einigungsbestrebungen des Kaisers schweren Zeiten entgegenging. Als im Juli 1 5 4 6 der -^»Schmalkaldische Krieg eröffnet wurde, bestätigten sich seine Befürchtungen. Da nach dem Scheitern der konziliaren Bemühungen des Kaisers die provisorische nationale Lösung eines Interims Gestalt annahm, versuchte Gallus, der nicht am Augsburger Reichstag 1 5 4 7 / 4 8 teilnahm, über den Rat von Regensburg Einfluß auf die Verhandlungen zu gewinnen. Er nahm dabei eine kompromißlos ablehnende Haltung ein. Rückblickend erinnerte er sich, daß ihm die Beschäftigung mit dem Interim Anlaß war, sich für die Wiederherstellung der biblischen und reformatorischen Unterscheidung von —»Gesetz und Evangelium einzusetzen, noch bevor er auch nur den Namen des -H>Flacius kannte. Nachdem Gallus, in Nürnberg beraten von Veit Dietrich und A. —»Osiander, mit anderen evangelischen Geistlichen Regensburg wegen der Einführung des Interims verlassen hatte, gelangte er über Wittenberg, wo er den erkrankten —»Cruciger als Prediger an der Schloßkirche vertrat, nach —»Magdeburg. Berufungen nach Kopenhagen, Zwickau, Merseburg, Ungarn und Rostock hatte er abgelehnt. In Magdeburg trat er in engste Gemeinschaft mit N. v. —»Amsdorf und Flacius und beteiligte sich mit zahlreichen Schriften, teils selbständig, teils als Mitverfasser, an allen anstehenden Auseinandersetzungen: dem Adiaphoristischen, dem Majoristischen (G.—»Major) und dem Osiandrischen Streit (^Gnesiolutheraner). Auch den Kampf des Flacius gegen —»Schwenckfeld um das rechte Schriftverständnis unterstützte er. Lediglich im Erbsündenstreit konnte er Flacius nicht folgen und lehnte dessen Beurteilung der Erbsünde ab. Auf die oft maßlosen Beleidigungen seiner Gegner reagierte Gallus stets maßvoll und besonnen und widerlegte sie gründlich und zusammenhängend. Bei den Übergabeverhandlungen leistete er der Stadt Magdeburg durch sein Geschick große Dienste, ohne in der Sache, der Ablehnung des Interims und der Adiaphora, nachgegeben zu haben. Nachdem in Regensburg durch den Passauer Vertrag von 1 5 5 2 die Aufhebung des Interims und die Rückkehr zu reformatorischem Gottesdienst ermöglicht war, wurde Gallus von Hiltner erneut für die Donaustadt gewonnen, diesmal als Superintendent. Gallus leitete die Regensburger Gemeinde, mit der er auch während seiner Abwesenheit in enger brieflicher Verbindung stand, bis zu seinem T o d und führte die Reformen, die Jonas 1 5 5 3 mit sei-
Gamliel II.
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11er Kirchenordnung eingeleitet hatte, meist in enger Z u s a m m e n a r b e i t mit Hiltner weiter. So kam es zur Abschaffung der M e ß g e w ä n d e r und Levitenröcke, zur Beseitigung der nicht evangelisch deutbaren Heiligenfeste, zur Wiedereinsetzung des Konsistoriums als Ehegericht und zur Einführung einer Kirchenregimentsordnung. Ein von Gallus 1 5 5 6 / 5 7 verstärkt angestrebter Ausgleich mit M e l a n c h t h o n scheiterte, und der Regensburger Melanc h t h o n a n h ä n g e r Martin Schalling mußte unter dem Druck des Gallus die Stadt verlassen. Aus A n l a ß einer Berufung nach M a g d e b u r g , von w o man ihn 1 5 5 3 nur ungern hatte ziehen lassen, bekräftige Gallus seine Stellung in Regensburg im J a h r 1 5 6 0 durch Vergleichsartikel mit dem R a t , in denen ihm erneut Lehrfreiheit in W o r t und Schrift zugestanden wurde. O b wohl seine Arbeitskraft zunehmend durch Krankheit beeinträchtigt wurde, konnte er seine zweite Regensburger Wirksamkeit durch die Abfassung einer ungewöhnlich reichhaltigen, das gesamte kirchliche Leben regelnden Kirchenordnung krönen, die wohl 1 5 6 7 , dem T o desjahr Hiltners, entstand. Daraus geht der anticalvinistische Kurs des Gallus deutlich hervor. Ein in die Kirchenordnung eingefügter Katechismus diente der Vorbereitung der Geistlichen. Von Regensburg aus wirkte Gallus bei der Einführung der Reformation auch in anderen Gebieten mit. So beriet er 1563 Graf Joachim von Ortenburg. Neuere Forschungen von Sakrausky haben gezeigt, daß das sog. Kärntner Bekenntnis aus dem Jahr 1 5 6 6 schon 1 5 5 7 von Gallus entworfen wurde. 2 6 Kärntner Pfarrer redigierten es als Verteidigungsschrift und übermittelten es dem Landesfürsten, um dessen Vorwürfe zurückzuweisen. Es bezieht sich durchgehend auf das —»Augsburger Bekenntnis und wurde von den Kärntner Geistlichen lediglich im äußeren Rahmen überarbeitet. Bis 1578 in Kraft, wurde es dann durch die Religionsspezifikation der Stände Innerösterreichs abgelöst.
Die in die letzten J a h r e seines Lebens fallenden Einigungsbestrebungen v o n J . ^ A n d r e a e und M . ^ - C h e m n i t z verfolgte Gallus mit Z u r ü c k h a l t u n g , da er eine breite Zustimmung zu der geplanten Einigungsformel für unwahrscheinlich hielt. Den Sieg des Luthertums, für den er zeitlebens gekämpft hatte, erlebte er nicht mehr. Er starb während einer Kur im Schwarzwald a m 1 7 . 6 . 1 5 7 0 , nachdem er erklärt hatte, d a ß er bei der Lehre, die er in Predigten und Schriften vertreten habe, bleiben wolle und keinen Buchstaben daran ändere. D a ß sich Regensburg zu einem Z e n t r u m des Luthertums entwickelte, von dem in den folgenden J a h r zehnten vielfältige Wirkungen ausgingen - vor allem nach Österreich und in den südosteuropäischen R a u m - , ist vor allem auf die Tätigkeit des Gallus zurückzuführen. Quellen Eine Edition der Schriften und Briefe fehlt. Druckschriften sind verzeichnet bei Voit 2 3 4 - 2 4 0 ; zu ergänzen wäre z.B.: Das Regensburger Bekenntnis ( 1 5 6 0 ) , die Apologie dieses Bekenntnisses ( 1 5 6 3 ) , das Kärntner Bekenntnis ( 1 5 6 6 ) , die Regensburger Kirchenordnung ( 1 5 6 7 ? ) und eine Refutatio impiorum mandatorum ( 1 5 6 7 , zusammen mit Flacius); zahlreiche Handschriften im Stadtarchiv Regensburg. - E K O 1 3 / 3 , 1 9 6 6 .
Literatur J ö r g Baur, Rez. v. Hartmut Voit: Nikolaus Gallus: A R G . B 7 ( 1 9 7 8 ) 4 3 - 4 4 . - Robert Dollinger, Das Evangelium in Regensburg. Eine ev. KG, Regensburg 1 9 5 9 . - Ders., Der Beitr. der Kirche v. Regensburg zur Konkordienformel v. 1 5 7 7 : Z B K G 3 2 ( 1 9 6 3 ) 1 3 3 - 1 5 4 . - Oskar Sakrausky, Der Flacianismus in Oberkärnten: J G P r ö 7 6 ( 1 9 6 0 ) 8 3 - 1 0 9 . - D e r s . , Die Unterzeichnung der Konkordienformel durch die Kärntner Pfarrer u. Landstände: J G P r ö 9 4 ( 1 9 7 8 ) 6 7 - 8 1 . - Günter Schlichting, Einheit in der Wahrheit. Das Ringen um die Konkordienformel in der Reichsstadt Regensburg: Bekenntnis zur Wahrheit. Aufs, über die Konkordienformel, hg. v. J o b s t S c h ö n e , Erlangen 1 9 7 8 , 1 2 1 - 1 5 0 . - Matthias Simon, Art. Gallus, Nikolaus: R G G 1 2 ( 1 9 5 8 ) 1 1 9 7 . - Hartmut Voit, Nikolaus Gallus. Ein Beitr. zur Reformationsgesch. der nachlutherischen Zeit, 1 9 7 7 ( E K G B 54) (Lit.).
Gerhard Simon Gamliel (Gamaliel)
II.
Enkel Gam(a)liels I. (vgl. Act 5 , 3 4 ; 2 2 , 3 ) , T r ä g e r des Titels R a b b a n und (zeitweilig) des N ä s i ' - A m t e s (Patriarch). W i r k t e ca. 8 0 bis ca. 1 1 5 n . C h r . in J a v n e ( J a b n e , J a m n i a ) . Sein Verhältnis zu seinem „ V o r g ä n g e r " in J a v n e , —»Jochanan ben Z a k k a j , ist nicht faßbar. Als
Gamliel II.
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11er Kirchenordnung eingeleitet hatte, meist in enger Z u s a m m e n a r b e i t mit Hiltner weiter. So kam es zur Abschaffung der M e ß g e w ä n d e r und Levitenröcke, zur Beseitigung der nicht evangelisch deutbaren Heiligenfeste, zur Wiedereinsetzung des Konsistoriums als Ehegericht und zur Einführung einer Kirchenregimentsordnung. Ein von Gallus 1 5 5 6 / 5 7 verstärkt angestrebter Ausgleich mit M e l a n c h t h o n scheiterte, und der Regensburger Melanc h t h o n a n h ä n g e r Martin Schalling mußte unter dem Druck des Gallus die Stadt verlassen. Aus A n l a ß einer Berufung nach M a g d e b u r g , von w o man ihn 1 5 5 3 nur ungern hatte ziehen lassen, bekräftige Gallus seine Stellung in Regensburg im J a h r 1 5 6 0 durch Vergleichsartikel mit dem R a t , in denen ihm erneut Lehrfreiheit in W o r t und Schrift zugestanden wurde. O b wohl seine Arbeitskraft zunehmend durch Krankheit beeinträchtigt wurde, konnte er seine zweite Regensburger Wirksamkeit durch die Abfassung einer ungewöhnlich reichhaltigen, das gesamte kirchliche Leben regelnden Kirchenordnung krönen, die wohl 1 5 6 7 , dem T o desjahr Hiltners, entstand. Daraus geht der anticalvinistische Kurs des Gallus deutlich hervor. Ein in die Kirchenordnung eingefügter Katechismus diente der Vorbereitung der Geistlichen. Von Regensburg aus wirkte Gallus bei der Einführung der Reformation auch in anderen Gebieten mit. So beriet er 1563 Graf Joachim von Ortenburg. Neuere Forschungen von Sakrausky haben gezeigt, daß das sog. Kärntner Bekenntnis aus dem Jahr 1 5 6 6 schon 1 5 5 7 von Gallus entworfen wurde. 2 6 Kärntner Pfarrer redigierten es als Verteidigungsschrift und übermittelten es dem Landesfürsten, um dessen Vorwürfe zurückzuweisen. Es bezieht sich durchgehend auf das —»Augsburger Bekenntnis und wurde von den Kärntner Geistlichen lediglich im äußeren Rahmen überarbeitet. Bis 1578 in Kraft, wurde es dann durch die Religionsspezifikation der Stände Innerösterreichs abgelöst.
Die in die letzten J a h r e seines Lebens fallenden Einigungsbestrebungen v o n J . ^ A n d r e a e und M . ^ - C h e m n i t z verfolgte Gallus mit Z u r ü c k h a l t u n g , da er eine breite Zustimmung zu der geplanten Einigungsformel für unwahrscheinlich hielt. Den Sieg des Luthertums, für den er zeitlebens gekämpft hatte, erlebte er nicht mehr. Er starb während einer Kur im Schwarzwald a m 1 7 . 6 . 1 5 7 0 , nachdem er erklärt hatte, d a ß er bei der Lehre, die er in Predigten und Schriften vertreten habe, bleiben wolle und keinen Buchstaben daran ändere. D a ß sich Regensburg zu einem Z e n t r u m des Luthertums entwickelte, von dem in den folgenden J a h r zehnten vielfältige Wirkungen ausgingen - vor allem nach Österreich und in den südosteuropäischen R a u m - , ist vor allem auf die Tätigkeit des Gallus zurückzuführen. Quellen Eine Edition der Schriften und Briefe fehlt. Druckschriften sind verzeichnet bei Voit 2 3 4 - 2 4 0 ; zu ergänzen wäre z.B.: Das Regensburger Bekenntnis ( 1 5 6 0 ) , die Apologie dieses Bekenntnisses ( 1 5 6 3 ) , das Kärntner Bekenntnis ( 1 5 6 6 ) , die Regensburger Kirchenordnung ( 1 5 6 7 ? ) und eine Refutatio impiorum mandatorum ( 1 5 6 7 , zusammen mit Flacius); zahlreiche Handschriften im Stadtarchiv Regensburg. - E K O 1 3 / 3 , 1 9 6 6 .
Literatur J ö r g Baur, Rez. v. Hartmut Voit: Nikolaus Gallus: A R G . B 7 ( 1 9 7 8 ) 4 3 - 4 4 . - Robert Dollinger, Das Evangelium in Regensburg. Eine ev. KG, Regensburg 1 9 5 9 . - Ders., Der Beitr. der Kirche v. Regensburg zur Konkordienformel v. 1 5 7 7 : Z B K G 3 2 ( 1 9 6 3 ) 1 3 3 - 1 5 4 . - Oskar Sakrausky, Der Flacianismus in Oberkärnten: J G P r ö 7 6 ( 1 9 6 0 ) 8 3 - 1 0 9 . - D e r s . , Die Unterzeichnung der Konkordienformel durch die Kärntner Pfarrer u. Landstände: J G P r ö 9 4 ( 1 9 7 8 ) 6 7 - 8 1 . - Günter Schlichting, Einheit in der Wahrheit. Das Ringen um die Konkordienformel in der Reichsstadt Regensburg: Bekenntnis zur Wahrheit. Aufs, über die Konkordienformel, hg. v. J o b s t S c h ö n e , Erlangen 1 9 7 8 , 1 2 1 - 1 5 0 . - Matthias Simon, Art. Gallus, Nikolaus: R G G 1 2 ( 1 9 5 8 ) 1 1 9 7 . - Hartmut Voit, Nikolaus Gallus. Ein Beitr. zur Reformationsgesch. der nachlutherischen Zeit, 1 9 7 7 ( E K G B 54) (Lit.).
Gerhard Simon Gamliel (Gamaliel)
II.
Enkel Gam(a)liels I. (vgl. Act 5 , 3 4 ; 2 2 , 3 ) , T r ä g e r des Titels R a b b a n und (zeitweilig) des N ä s i ' - A m t e s (Patriarch). W i r k t e ca. 8 0 bis ca. 1 1 5 n . C h r . in J a v n e ( J a b n e , J a m n i a ) . Sein Verhältnis zu seinem „ V o r g ä n g e r " in J a v n e , —»Jochanan ben Z a k k a j , ist nicht faßbar. Als
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Gamliel II.
Näsi' war er Vorsitzender des bet-din (Gelehrtenkollegium zu halachischen, gottesdienstlichen und disziplinaren Fragen; auch -H>Sanhedrin, Synedrion genannt) und des bet-midras, wo Aktualisierungen der Bibel betrieben wurden; außerdem galt er als (inoffizieller) Repräsentant der Juden bei der politischen (römischen) Obrigkeit. In den problemreichen Jahren nach der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) wurde er zu einer wichtigen Integrationsfigur gegenüber drohenden Gefahren von politischen, sozialen und religiösen Auflösungstendenzen. In dieser Hinsicht sind auch seine häufigen Reisen nach verschiedenen Orten des Landes zu verstehen (tTer2,13; tPes 2,11; tShab 13,2; mGit 1,5 u.a.), auf denen erden Beschlüssen des Sanhedrin Geltung verschaffte. Offensichtlich korrespondieren diese Reisen auch einem politischen Rechtsstatus, wie er von den Römern dem Näsi' zugestanden wurde. Dies könnte auch der Hintergrund eines Berichtes in mEd 7,7 sein, nach dem sich Gamliel II. nach Syrien begibt, um vom römischen Statthalter eine „Erlaubnis" zu bekommen. Vielleicht reflektiert diese Stelle, wenngleich in chronologisch nicht einwandfreier Weise (nach 70 unterstand die Provinz Palästina nicht mehr dem römischen Statthalter in Syrien), so etwas wie das offizielle Bemühen Gamliels II. um die politische Anerkennung seines Patriarchenamtes, oder zumindest um ein begrenztes Maß der Akzeptierung von jüdischer Selbstverwaltung in Palästina. Das Bestreben nach friedlichem Ausgleich mit den römischen Behörden steht wohl auch hinter der Erzählung, nach der römische Gesandte zu Gamliel II. gekommen seien, um das jüdische Gesetz zu studieren, wobei sie dann nichts Inkriminierendes fanden außer einigen wenigen restriktiven Bestimmungen gegenüber Nichtjuden, von deren Kenntnis sie aber keinen polemischen Gebrauch machten (vgl. SifDev § 344; F. 400f; yBQ IV,1,4b; bBQ 38 a). Speziell im Hinblick auf politische Erfordernisse wird auch die Sondergenehmigung für das Haus des Näsi', griechische Bildung erwerben zu dürfen, erwähnt (tSot 15,8; bSot 49b). Nach mSot 3,4 bekommt ein Fragesteller, der sich wundert, R. Gamliel im der Aphrodite geweihten Bad zu Akko zu sehen, die Antwort: „Nicht ich kam in ihr Gebiet, sie kam in das meinige!" — vielleicht auch eine opportune Demonstration von Flexibilität des ansonsten für seine religionsgesetzliche Strenge gegenüber sich selbst (vgl. mBM 5,8) bekannten Patriarchen. - Mehrfach wird in rabbinischen Quellen von (mindestens) einer Romreise des Gamliel II. berichtet, wobei ihn hauptsächlich R. Josua b. Chananja, R. Eleasar b. Asarja und R. Akiba begleiteten (SifDev § 43; bMak Ende u.ö.). Nach DevR 2,24 soll es ihm dabei gelungen sein, einem drohenden Plan zu weltweiter Judenverfolgung erfolgreich zu begegnen. Die für eine solche Reisetätigkeit infrage kommende Regierungszeit des Domitian liefert dafür allerdings keinen Anhaltspunkt, wenngleich dieser römische Kaiser dem Judentum zugeneigte Mitglieder seiner Familie hinrichten ließ. Zweifellos sind aber diese Berichte ein authentischer Ausdruck für die emsigen Bemühungen des Patriarchen, im Sinne der politischen und religiösen Neuordnung der jüdischen -^Gemeinden mit Javne als seinem rabbinischen Zentrum möglichst viele Schritte zur positiven Beeinflussung der römischen Machthaber zu unternehmen. Im Zusammenhang mit der Romreise von Gamliel II. berichtet die rabbinische Literatur mehrfach von Kontroversen des Patriarchen und seiner Begleiter mit römischen „Philosophen" (vgl. bAZ 54b; BerR 1,9; ShemR 30,9 u.ö.), wobei sich die Gelehrten als gewandte Verteidiger des jüdischen Monotheismus erweisen. Im inneren Umkreis seiner Näsi'-Tätigkeit in Javne zeigt sich Gamliel II. in seinem Bestreben, die Vielfalt rabbinischer Toraauslegung möglichst auf eine einheitliche Praxis zu bringen, als strenger Patriarch, der ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht auf eigene Vorteile anderen Rabbinen gegenüber geradezu absolutistisch verfahren konnte. Seinen eigenen Schwager R. Elieser b. Hyrkan, der sich einem Mehrheitsbeschluß widersetzte, soll er nach bBM 59 b in den —>Bann getan und dadurch aus der rabbinischen Gemeinschaft ausgeschlossen haben. In diesem Zusammenhang habe er auch folgendes Gebet gesprochen: „Herr der Welt, es ist vor Dir offenkundig, daß ich dies nicht um meiner oder der Ehre meines Hauses willen getan habe, sondern um Deiner Ehre willen, auf daß die Streitigkeiten in Israel nicht überhand nehmen". Drastisch ist auch das Beispiel der Disziplinierung des R. Josua b. Chananja, der in der kalendarischen Frage der Festlegung des Monatsbeginnes Tischri mit dem Näsi' differierte. Nach mRHSh 2,9 befiehlt der Patriarch dem Gegner, mit „Stock
Gansfort
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und G e l d " am Y o m Kippur mit seiner K a l e n d e r r e c h n u n g vor ihm zu erscheinen. Auf Anraten seiner Kollegen tritt R. J o s u a tatsächlich den W e g z u m Patriarchen an u n d n i m m t seine Feiertagsberechnung z u r ü c k . Auch der b e r ü h m t e R. —>Akiba b e k a m die starke H a n d des Schulhauptes von J a v n e zu s p ü r e n : N a c h t D e m 5 , 2 4 b ü ß t e Akiba die von ihm d u r c h g e f ü h r t e Verzehntung von agrarischen P r o d u k t e n der „ K u t ä e r " mit einem d r o h e n d e n Verweis des N ä s i ' . Jedoch m u ß t e der Patriarch, der d u r c h w i e d e r h o l t e D e m ü t i g u n g gerade des R. J o s u a b. C h a n a n j a sein R e n o m m e e als unbestechlicher u n d persönlich integrer H ü t e r der rabbinischen Kinheit z u n e h m e n d infrage stellte, eines Tages die Schmach d e r A m t s e n t h e b u n g d u r c h Rabbinatskollegen e r f a h r e n , welche an seiner Stelle R. Eleasar b. Asarja einsetzten (bBer 2 7 b / 2 8 a ; yBer IV,1, 7 c - d u . ö . ) . Erst d u r c h späteres Einlenken erreichte Gamliel II. die R ü c k g e w i n n u n g seines f r ü h e r e n Amtes, wenngleich er einen Teil seiner Befugnisse bleibend an R. Eleasar b. Asarja abtreten m u ß t e (als ' A b Bet Dln oder als N ä s i ' in differierender Angabe der beiden T a l m u d e a . a . O . ) . Am d e n k w ü r d i g e n T a g der A b s e t z u n g Gamliels II. soll auch die Protokollierung des M i s c h n a t r a k t a t e s Edujot erfolgt sein (bBer 2 8 a) — eine N o t i z , die sicher nicht den heutigen U m f a n g des T r a k t a t e s meint, s o n d e r n eher das F a k t u m , d a ß „an jenem T a g e " die L e h r d o m i n a n z des Patriarchen d u r c h Fixierung bislang minorisierter halachischer T r a d i t i o n e n d u r c h b r o c h e n w u r d e . Die geschichtliche Bedeutsamkeit Gamliels II. besteht in erster Linie in den religionsgesetzlichen Festlegungen von J a v n e w ä h r e n d seiner Amtszeit, denen d a s rabbinische J u d e n t u m auch später folgte. Diese Beschlüsse sind w o h l nicht i n n e r h a l b einer Synode gefallen, sondern eher sukzessiv w ä h r e n d eines längeren Z e i t r a u m e s . Diesbezüglich ist p r i m ä r die tendenziell hillelitische (—>Hillel/Hillelschule) Festlegung der religionsgesetzlichen Praxis zu nennen. Einen solchen T r e n d zur Vereinheitlichung d e r halachischen Wissenschaft u n t e r hillelitischer D o m i n a n z scheint folgende Überlieferung in bEr 13 b zu reflektieren: „Drei J a h r e lagen die Schule S c h a m m a i s u n d die Schule Hilleis in Kontroverse; diese u n d jene sagten: die H a l a c h a richtet sich nach uns. Da erging eine H i m m e l s s t i m m e (Bath Kol) u n d sagte: diese u n d jene sind W o r t e des lebendigen G o t t e s , aber die H a l a c h a ist wie die Schule Hilleis." So gesehen stellt die Lehrtätigkeit u n d A m t s f ü h r u n g Gamliels II. wichtige Weichen zur halachischen E n t w i c k l u n g im Hinblick auf die s p ä t e r e M i s c h n a . Besonders zu e r w ä h n e n ist die auf Gamliel II. z u r ü c k g e f ü h r t e V e r p f l i c h t u n g z u r täglichen (dreimaligen) Rezitation des „ A c h t zehngebetes" (mBer 4,3 sowie die dazu gehörige G e m a r a ) , dessen W o r t l a u t er beeinflußte, speziell jedoch d u r c h die E i n f ü g u n g der 12. Benediktion, deren „ K e t z e r v e r w ü n s c h u n g " der mimm teilweise auch die noserim (Judenchristen) u m f a ß t . V o n k a n o n i s c h e r A b g r e n z u n g heiliger Schriften zur Zeit Gamliels II. k a n n n u r in sehr allgemeinem Sinn gesprochen werden. Es f a n d e n B e m ü h u n g e n statt, Bibeltexte u n t e r die rabbinische A u t o r i t ä t zu stellen u n d sie vor ketzerischer Interpretation u n d A u s w e i t u n g zu schützen. Jedenfalls h a t Gamliel II. neben R. J o c h a n a n b. Z a k k a j maßgeblich d a r a n Anteil, d a ß die sakralen u n d p r o f a n e n G r u n d l a g e n des J u d e n t u m s in Palästina auf d e m H i n t e r g r u n d der politischen u n d religiösen K a t a s t r o p h e der T e m p e l z e r s t ö r u n g s o w o h l lebensfähig blieben als auch den v e r ä n d e r t e n Lebensbedingungen der tempellosen Zeit flexibel a n g e p a ß t w u r d e n . Literatur M. Aberbach, Did Rabban Gamaliel II. impose the ban on Rabbi Elieser ben Hyrcanus?: J Q R 54 (1964) 2 0 1 - 2 0 7 . - Gedalia Alon, The Jews in their Land in the Talmudic Age, Jerusalem, I 1980. Ders., Jews, Judaism, and the Classical World, Jerusalem 1977. - Heinrich Graetz, Gesch. der Juden, Leipzig. IV 1908, 2 7 - 4 0 . 3 9 2 - 3 9 3 . - Günter Stemberger, Das klassische Judentum, München 1979.
Nico Oswald G a n s f o r t , Wessel (ca. 1.
1419-1489)
Leben
Um 1 4 1 9 in G r o n i n g e n g e b o r e n , w u r d e G a n s f o r t u m 1 4 3 2 n a c h Z w o l l e auf die dortige h e r v o r r a g e n d e Schule geschickt. Er blieb d o r t a n n ä h e r n d 17 J a h r e , z u n ä c h s t als Student u n d
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und G e l d " am Y o m Kippur mit seiner K a l e n d e r r e c h n u n g vor ihm zu erscheinen. Auf Anraten seiner Kollegen tritt R. J o s u a tatsächlich den W e g z u m Patriarchen an u n d n i m m t seine Feiertagsberechnung z u r ü c k . Auch der b e r ü h m t e R. —>Akiba b e k a m die starke H a n d des Schulhauptes von J a v n e zu s p ü r e n : N a c h t D e m 5 , 2 4 b ü ß t e Akiba die von ihm d u r c h g e f ü h r t e Verzehntung von agrarischen P r o d u k t e n der „ K u t ä e r " mit einem d r o h e n d e n Verweis des N ä s i ' . Jedoch m u ß t e der Patriarch, der d u r c h w i e d e r h o l t e D e m ü t i g u n g gerade des R. J o s u a b. C h a n a n j a sein R e n o m m e e als unbestechlicher u n d persönlich integrer H ü t e r der rabbinischen Kinheit z u n e h m e n d infrage stellte, eines Tages die Schmach d e r A m t s e n t h e b u n g d u r c h Rabbinatskollegen e r f a h r e n , welche an seiner Stelle R. Eleasar b. Asarja einsetzten (bBer 2 7 b / 2 8 a ; yBer IV,1, 7 c - d u . ö . ) . Erst d u r c h späteres Einlenken erreichte Gamliel II. die R ü c k g e w i n n u n g seines f r ü h e r e n Amtes, wenngleich er einen Teil seiner Befugnisse bleibend an R. Eleasar b. Asarja abtreten m u ß t e (als ' A b Bet Dln oder als N ä s i ' in differierender Angabe der beiden T a l m u d e a . a . O . ) . Am d e n k w ü r d i g e n T a g der A b s e t z u n g Gamliels II. soll auch die Protokollierung des M i s c h n a t r a k t a t e s Edujot erfolgt sein (bBer 2 8 a) — eine N o t i z , die sicher nicht den heutigen U m f a n g des T r a k t a t e s meint, s o n d e r n eher das F a k t u m , d a ß „an jenem T a g e " die L e h r d o m i n a n z des Patriarchen d u r c h Fixierung bislang minorisierter halachischer T r a d i t i o n e n d u r c h b r o c h e n w u r d e . Die geschichtliche Bedeutsamkeit Gamliels II. besteht in erster Linie in den religionsgesetzlichen Festlegungen von J a v n e w ä h r e n d seiner Amtszeit, denen d a s rabbinische J u d e n t u m auch später folgte. Diese Beschlüsse sind w o h l nicht i n n e r h a l b einer Synode gefallen, sondern eher sukzessiv w ä h r e n d eines längeren Z e i t r a u m e s . Diesbezüglich ist p r i m ä r die tendenziell hillelitische (—>Hillel/Hillelschule) Festlegung der religionsgesetzlichen Praxis zu nennen. Einen solchen T r e n d zur Vereinheitlichung d e r halachischen Wissenschaft u n t e r hillelitischer D o m i n a n z scheint folgende Überlieferung in bEr 13 b zu reflektieren: „Drei J a h r e lagen die Schule S c h a m m a i s u n d die Schule Hilleis in Kontroverse; diese u n d jene sagten: die H a l a c h a richtet sich nach uns. Da erging eine H i m m e l s s t i m m e (Bath Kol) u n d sagte: diese u n d jene sind W o r t e des lebendigen G o t t e s , aber die H a l a c h a ist wie die Schule Hilleis." So gesehen stellt die Lehrtätigkeit u n d A m t s f ü h r u n g Gamliels II. wichtige Weichen zur halachischen E n t w i c k l u n g im Hinblick auf die s p ä t e r e M i s c h n a . Besonders zu e r w ä h n e n ist die auf Gamliel II. z u r ü c k g e f ü h r t e V e r p f l i c h t u n g z u r täglichen (dreimaligen) Rezitation des „ A c h t zehngebetes" (mBer 4,3 sowie die dazu gehörige G e m a r a ) , dessen W o r t l a u t er beeinflußte, speziell jedoch d u r c h die E i n f ü g u n g der 12. Benediktion, deren „ K e t z e r v e r w ü n s c h u n g " der mimm teilweise auch die noserim (Judenchristen) u m f a ß t . V o n k a n o n i s c h e r A b g r e n z u n g heiliger Schriften zur Zeit Gamliels II. k a n n n u r in sehr allgemeinem Sinn gesprochen werden. Es f a n d e n B e m ü h u n g e n statt, Bibeltexte u n t e r die rabbinische A u t o r i t ä t zu stellen u n d sie vor ketzerischer Interpretation u n d A u s w e i t u n g zu schützen. Jedenfalls h a t Gamliel II. neben R. J o c h a n a n b. Z a k k a j maßgeblich d a r a n Anteil, d a ß die sakralen u n d p r o f a n e n G r u n d l a g e n des J u d e n t u m s in Palästina auf d e m H i n t e r g r u n d der politischen u n d religiösen K a t a s t r o p h e der T e m p e l z e r s t ö r u n g s o w o h l lebensfähig blieben als auch den v e r ä n d e r t e n Lebensbedingungen der tempellosen Zeit flexibel a n g e p a ß t w u r d e n . Literatur M. Aberbach, Did Rabban Gamaliel II. impose the ban on Rabbi Elieser ben Hyrcanus?: J Q R 54 (1964) 2 0 1 - 2 0 7 . - Gedalia Alon, The Jews in their Land in the Talmudic Age, Jerusalem, I 1980. Ders., Jews, Judaism, and the Classical World, Jerusalem 1977. - Heinrich Graetz, Gesch. der Juden, Leipzig. IV 1908, 2 7 - 4 0 . 3 9 2 - 3 9 3 . - Günter Stemberger, Das klassische Judentum, München 1979.
Nico Oswald G a n s f o r t , Wessel (ca. 1.
1419-1489)
Leben
Um 1 4 1 9 in G r o n i n g e n g e b o r e n , w u r d e G a n s f o r t u m 1 4 3 2 n a c h Z w o l l e auf die dortige h e r v o r r a g e n d e Schule geschickt. Er blieb d o r t a n n ä h e r n d 17 J a h r e , z u n ä c h s t als Student u n d
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später als Latein- und Logiklehrer. Wessel lebte in der Burse der —»Brüder vom gemeinsamen Leben. Besonders in den letzten zwei Jahren, die er dort verbrachte, besuchte er häufig —>Thomas von Kempen auf dem nahen Agnetenberg. Nachdem er zunächst daran gedacht hatte, Mönch zu werden, verließ er schließlich den Ort für ein geistig offeneres Umfeld. Von 1449 bis ungefähr 1475 studierte und lehrte Wessel an verschiedenen Universitäten u n d reiste umher. An den Universitäten von —»Köln ( 1 4 4 9 - 1 4 5 2 , 1455), —»Heidelberg ( 1 4 5 6 - 1 4 5 7 ) u n d ^ P a r i s (ca. 1 4 5 8 - 1 4 7 0 , 1473) lernte er Griechisch, Hebräisch u n d Arabisch, las klassische Autoren und Kirchenväter ebenso wie philosophische, theologische und medizinische Schriften im engeren Umkreis seiner eigenen Epoche. Z u seinen Freunden zählten Joh. —>Pupper von Goch, G. —»Biel, —»Johannes Ruchrat von Wesel, Francesco dela Rovore, der spätere Papst —»Sixtus IV., und Joh. —»Reuchlin, dem er den Rat gab, Hebräisch zu studieren. W a r er in Köln und Heidelberg ein entschlossener Realist gewesen, so gewann Wessel in Paris die Uberzeugung, daß der -H>Nominalismus seinem Glauben gemäßer sei. Insbesondere schätzte er dessen Logik und gedankliche Klarheit hoch ein. Wessel w a r um seiner Gelehrsamkeit willen als Lux Mundi und seiner Argumentationskraft wegen als Magister Contradictionum bekannt, und er n a h m teil an der Erörterung von Themen wie —»Ablaß und päpstliche Autorität. Seit 1470 war die Pariser Universität in Auseinandersetzungen, um nationalkirchliche Interessen und Lehrfragen verwickelt. Wessel w a r vermutlich als Vermittler zwischen dem Papst, dem König und der Universität 1470 und noch einmal 1473 in Rom tätig. Im J a n u a r 1473 schrieb David von Burgund, der Bischof von Utrecht, an Wessel und bot ihm Schutz vor seinen Feinden an. Als die Konflikte etwa 10 Jahre später beigelegt waren, forderte König Ludwig XI. von Frankreich Wessel zur Rückkehr nach Paris auf mit der Bitte um Hilfe bei der Reform der Universität. Sixtus IV. bot Wessel 1473 in R o m die Erfüllung jedes Wunsches an. Wessel wünschte zuerst, daß sein Freund ein guter Hirte sein möge, bat dann aber auf erneute Nachfrage hin um hebräische und griechische Bibeln aus der Vatikanischen Bibliothek. Wessel ging niemals nach Paris zurück, sondern reiste durch Italien, machte in Florenz und Venedig Station und hielt sich wohl etwa zwischen 1475 und 1477 in Basel auf. Dann kehrte er in seine Heimat zurück, wo man ihn als gefeierten, geliebten Sohn willkommen hieß. Etwa 1 4 7 8 - 1 4 8 2 lebte er in Zwolle und 1 4 8 2 - 1 4 8 9 in Groningen und widmete sich dem Studium, der Meditation, der Schriftstellerei und dem geistigen Austausch mit Persönlichkeiten am H o f e Davids von Burgund, mit Mönchen vom Agnetenberg, mit Rudolf Agricola und einem Kreis von Gelehrten und Adligen aus den Niederlanden und Westfalen, die sich in der Benediktinerabtei Aduard zusammenfanden. Er starb am 4. O k t o b e r 1489. 2.
Werke
Die erhaltenen Schriften stammen aus seinen späteren Lebensjahren, etwa aus der Zeit von 1475 bis 1489. Sie enthalten A b h a n d l u n g e n über theologische Fragen und kirchliche M i ß b r ä u c h e sowie zu persönlichen Andachtsübungen (hierzu gehören etwa De benignissima Dei Providentia, De causis incarnationis, De magnitudine passionis, De dignitate et potestate Ecclesiastica, De Sacramento Eucharistiae, De uratione), seine systematische M e t h o d e der Meditation (Scalae meditationis) und seine Briefe.
3.
Gedankenwelt
Wie die —»Devotio moderna fand auch Wessel in der Heiligen Schrift eine Hauptquelle seines Denkens und in —»Augustin und —»Bernhard von Clairvaux zuverlässige Anleitung. Sein Denken erfuhr nach dem Fortgang aus seiner Heimat keinen erkennbaren Umbruch; vielmehr entfaltete er die einmal gegebene Grundlage weiter (anders Post 480). So betont er mit Nachdruck, ganz wie Augustin und die Devotio moderna, die Abhängigkeit des Menschen von Gott, setzt dabei aber auch menschliches Bemühen voraus. In F o r t f ü h r u n g dieses Gedankens kam er unter Rückgriff auf eine Reihe mittelalterlicher Quellen und in sprachlichem Einklang mit —»Gregor von Rimini zu dem Schluß, daß jede Ursache entweder Gott in seinem Wirken oder das Z u s a m m e n w i r k e n mit Gottes Wirken sei, oder, in sprachlicher Annäherung an al-Gazzälls Tahäfut, daß zweite Ursachen nicht so sehr wirkliche Ursachen als vielmehr Anlässe zum göttlichen Handeln seien. O h n e die Wirksamkeit der zweiten Ursa-
Gansfort
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chen zu verneinen, betonte er unsere Abhängigkeit: „Dieses beständige Empfinden wirklicher Ehrfurcht wird unterdrückt, erstickt und zerstört von jenen, die denken, daß Gott die Dinge so geschaffen hat, daß sie aus sich heraus handeln und nicht Gott in ihnen" (Miller/Scudder 11,79). In der Nachfolge Augustins ist Sünde für ihn hauptsächlich Selbstliebe; Bestimmung des Menschen sei es, sich Gottes in der Liebe zu ihm zu erfreuen. D e r o r d o s a l u lis und das Ziel des Menschen sind in der Nachfolge Bernhards beschrieben als ein Anwachsen der Liebe und in Bildern aus dem —»Hohenlied als mystische Hochzeit der Seele mit dem Bräutigam Christus. Wie bei Thomas von Kempen ist Christus vor allem anderen unser Vorbild und Lehrer. Die Aufgabe des Menschen ist es, mit Gott im Glauben, in der Meditation über ihn und der Liebe zu ihm zusammenzuwirken. Aus der biblischen Erzählung vom Schacher am Kreuz (Lk 2 3 , 3 9 ff) schloß Wessel, daß allein der Glaube die Voraussetzung der Erlösung ist; die Liebe jedoch sei die Voraussetzung des Eingangs in Gottes Herrlichkeit. Durch Meditation gibt man seinem inneren Leben Gestalt und wird zur Vergebung, zur Gnade und zur Herrlichkeit geführt. Die Kehrseite der Betonung des inneren Lebens ist bei Wessel eine Abschwächung der Bedeutung äußerer sakramentaler Gnadenmittel für das Heil. Auch wenn er beim Abendmahl die Transsubstantiation bejaht, legt er den Nachdruck doch auf d i e c o m m e m o r a t i o und die geistliche Teilhabe, in der Christus gegenwärtig ist. Und wenn er auch die Ansicht teilt, daß im Bußsakrament (—»Buße) die unvollkommene Reue der attritio sich in die vollkommene der contritio wandeln könne, betont er doch, daß es nicht der Priester ist, der die Sünden vergibt, sondern der in die Herzen aller Gläubigen eingegossene Heilige Geist, ob nun der Priester sich dessen bewußt ist oder nicht. Klare Vorstellungen hat Wessel von der der Kirche und der Schrift jeweils zukommenden Autorität. Menschliche Behauptungen, gleichviel wer sie äußert, haben nur Wahrscheinlichkeit für sich; von Gott inspirierte Schriftaussagen sind notwendigerweise wahr. Unter Bezug auf Joh 2 0 , 3 0 schließt er die ungeschriebene apostolische Tradition in dieregula fidei ein, deutet sie aber im engen Sinn und nicht als Rechtfertigung für neue päpstliche Dekrete. Praktisch benutzt Wessel in seinen erhaltenen Schriften nur den schriftlich fixierten Kanon oder das Evangelium als Norm für die Glaubenswahrheit und als Kanon im Kanon die zwei großen Gebote, an denen das ganze Gesetz und die Propheten hängen. 4.
Nachwirkung
Wessel hat durch Männer, die er kannte, und durch die zwischen 1522 und 1617 in Wittenberg, Basel, Zwolle und Marburg erschienenen Ausgaben seiner Farrago rerum Theologicarum und durch eine 1 5 2 2 publizierte deutsche Ubersetzung von De dignitate et potestate Ecclesiastica auf das allgemeine Reformklima eingewirkt. Wahrscheinlich beeinflußte er —»Zwingli und —»Erasmus in ihrem Abendmahlsverständnis und den letzteren in seinem Verständnis des —»Fegfeuers als eines Ortes eher der Reinigung als der Strafe. Er gab dem Bibelhumanismus Auftrieb. Die weite Verbreitung einer deutschen Bearbeitung von De oratione läßt an einen Einfluß auf die Frömmigkeit im weiteren Umfeld der Devotio moderna denken. Wessels systematische Meditationsmethode, die er für die Mönche des Agnetenberges geschrieben hatte, beeinflußte Johannes Mombaers Rosetum, das seinerseits Ignatius von —»Loyola erreichte und dessen —»Exerzitien beeinflußte. Werke M. Wesseli Gansfortii Groningensis Opera, Facs. der Ed. Groningen 1 6 1 4 , 1 9 6 6 (Monumenta Humanística Bélgica 1).
Literatur Johann Friedrich, Johann Wessel. Ein Bild aus der KG des 15. Jh., Regensburg 1 8 6 2 . - Edward Miller, Wessel Gansfort. Life and Writings and Principal Works, transí, by J. Scudder, 2 Bde., New York 1917. - Heiko A. Oberman, Forerunners of the Reformation, New York 1 9 6 6 . - Margaret Ogilvie, Wessel Gansfort's Theology of Church Government: N A K G 55 ( 1 9 7 4 / 7 5 ) 1 2 5 - 1 5 0 . - A. J. Persijn, Wessel Gansfort, De oratione dominica in een dietse bewerking, Assen 1 9 6 4 . - Regnerus Post, The Modern Devotion, 1968 ( S M R T 3). - Maarten van Rhijn, Studien over Wessel Gansfort en zijn Tijd,
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Garizim und Ebal
Utrecht 1 9 3 3 . - Ders., Wessel Gansfort, 's-Gravenhage 1 9 1 7 (Lit.). - Lee Snyder, Wessel Gansfort and the Art o f Meditation, Diss. Cambridge, Mass. 1 9 6 6 (Lit.). - Carl Ullmanri, Reformatoren vor der Reformation, Hamburg, II 1 8 4 2 .
Sarah D. Reeves Garizim und Ebal Garizim und Ebal sind zwei einander gegenüberliegende Erhebungen des samarischen Gebirges, die den Westrand der Ebene von —»Sichern (Teil Baläta) begrenzen und so zugleich einen zur Küstenebene führenden Paß einschließen. Der Ebal (hebr, c Ebäl, griech. raißaX-, heutiger arab. NamtGebellslämtye-, 940 m hoch) liegt dabei im Norden, der Garizim (hebr. Gerizzim, griech. u.a. ragi^iv, heutiger arab. Name Gebet et-Tör-, 881 m hoch) im Süden von Sichern. Zahlreiche Quellen am Fuße der Berge begründen die Fruchtbarkeit der Ebene von Sichern. Diese Lokalisierung der zuerst im Alten Testament (s. u.) erwähnten Berge w a r zur Zeit der Rabbinen und Kirchenväter umstritten. Auf Grund eines Mißverständnisses von Dtn 11, 2 9 f, welches durch eine antisamaritanische Polemik genährt wurde, findet sich zuerst im Talmud die Tradition, daß die Berge bei —>Gilgal zu lokalisieren seien (ySot 1, 3, 2 1 c; bSot 3 3 b). Diese Ansicht wurde später von einigen Kirchenvätern übernommen (Eusebius v. Caesarea, o n o m . : G C S Eus. III/1 6 4 , 9 - 2 3 ; Epiphanius, haer. 9, 2, 5 ; Prokopius v. Gaza, C o m m . in Dtn.: PG 8 7 / 1 9 0 6 f). Auf der Karte von M a d e b a finden sich beide Lokalisierungen.
Bereits in vorisraelitischer Zeit hatte der Garizim kultische Bedeutung. Dies bestätigen die auf dem Bergvorsprung Tananir (Hirbet et-Tenänlr) vorgenommenen Ausgrabungen (1932 G. Welter; 1968 R. G. Boling). Sie brachten vor allem ein 18 X 18 m großes quadratisches Gebäude, einen Altar sowie zahlreiche Kleinfunde (Räucherständer, Mazzebe, Waffen u.a.) zutage. Die Keramikanalyse ergab eine Datierung der Funde für die späte Mittelbronzezeit (MB IIc). Im Übergang zur Spätbronzezeit wurde die Anlage durch Feuer zerstört. Auf Grund des Vergleichs mit ähnlichen Quadratgebäuden (Amman; Naharija) dürfte die Frage nach der Funktion der Anlage als eines Heiligtums inzwischen geklärt sein (vgl. Otto 150—158). Möglicherweise handelt es sich um ein Mittelpunktheiligtum und Wallfahrtsziel, mit dem auch halbnomadische Gruppen in Verbindung treten konnten (vgl. den Vorgang Gen 33, 1 8 - 2 0 ) . Hinlänglich bekannt sind die beiden Berge aus dem Alten Testament. Nach deuteronomistischer Theologie sind sie Schauplatz der in Dtn 11, 29; 27, 4 gebotenen und Jos 8, 30ff berichteten Segen- und Fluchzeremonie. Möglicherweise stehen hinter diesen Ereignissen Erinnerungen an kultische Begehungen bei Sichern (G. v. Rad, ATD 8, 119). In Jdc 9, 7 ist der Garizim als der Ort erwähnt, von dem aus Jotam seine Baumfabel den Sichemiten zurief. Im ausgehenden 4. Jh. v. Chr. wurde auf dem Garizim ein Tempel erbaut, der zum kultischen Zentrum der—>Samaritaner wurde. Dieser Tempel war Nachahmung der Jerusalemer Kultstätte (A. Alt, KS II, •'1964, 337) und entstand infolge einer Verdrängung von Priestern aus Jerusalem, die hier ein neues Kultzentrum errichteten (Kippenberg 58f). Reste dieses Tempels sind vermutlich bei den Ausgrabungen auf einem Nebengipfel des Garizim, dem Teil er-Räs (unter R. J. Bull 1967) aufgefunden worden. 128 (oder erst 108/107, vgl. BRL 2 295) v. Chr. zerstörte der Hasmonäer Johannes Hyrkanos die Kultstätte auf dem Garizim (Josephus, Ant XIII, 254 f; Bell I, 63). Dennoch bestand der Kult weiter, und die Frage nach dem legitimen Kultort wurde zwischen Juden und Samaritanern heftig diskutiert (s. Bill. I, 5 4 9 - 5 5 1 ) . Auch an Jesus wurde nach Joh 4, 20 die Streitfrage herangetragen. Nach 135 n. Chr. ließ Kaiser Hadrian auf dem Teil er-Räs einen römischen Jupitertempel errichten (s. Ausgrabungen unter R . J . Bull). Über seine Geschichte ist wenig bekannt. 484 n. Chr. wurde von Kaiser Zeno eine oktogonale, der Maria-Theotokos geweihte Kirche errichtet. Justinian umgab sie einige Jahrzehnte später mit Festungsanlagen. Die Ruinen dieser im 8. Jh. von den Kalifen zerstörten Gebäude sind noch heute auf dem Garizim zu sehen. Erst seit dem 18./19. Jh. bekamen die Samaritaner das Recht zurück, auf dem Garizim das Passafest zu feiern.
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Garizim und Ebal
Utrecht 1 9 3 3 . - Ders., Wessel Gansfort, 's-Gravenhage 1 9 1 7 (Lit.). - Lee Snyder, Wessel Gansfort and the Art o f Meditation, Diss. Cambridge, Mass. 1 9 6 6 (Lit.). - Carl Ullmanri, Reformatoren vor der Reformation, Hamburg, II 1 8 4 2 .
Sarah D. Reeves Garizim und Ebal Garizim und Ebal sind zwei einander gegenüberliegende Erhebungen des samarischen Gebirges, die den Westrand der Ebene von —»Sichern (Teil Baläta) begrenzen und so zugleich einen zur Küstenebene führenden Paß einschließen. Der Ebal (hebr, c Ebäl, griech. raißaX-, heutiger arab. NamtGebellslämtye-, 940 m hoch) liegt dabei im Norden, der Garizim (hebr. Gerizzim, griech. u.a. ragi^iv, heutiger arab. Name Gebet et-Tör-, 881 m hoch) im Süden von Sichern. Zahlreiche Quellen am Fuße der Berge begründen die Fruchtbarkeit der Ebene von Sichern. Diese Lokalisierung der zuerst im Alten Testament (s. u.) erwähnten Berge w a r zur Zeit der Rabbinen und Kirchenväter umstritten. Auf Grund eines Mißverständnisses von Dtn 11, 2 9 f, welches durch eine antisamaritanische Polemik genährt wurde, findet sich zuerst im Talmud die Tradition, daß die Berge bei —>Gilgal zu lokalisieren seien (ySot 1, 3, 2 1 c; bSot 3 3 b). Diese Ansicht wurde später von einigen Kirchenvätern übernommen (Eusebius v. Caesarea, o n o m . : G C S Eus. III/1 6 4 , 9 - 2 3 ; Epiphanius, haer. 9, 2, 5 ; Prokopius v. Gaza, C o m m . in Dtn.: PG 8 7 / 1 9 0 6 f). Auf der Karte von M a d e b a finden sich beide Lokalisierungen.
Bereits in vorisraelitischer Zeit hatte der Garizim kultische Bedeutung. Dies bestätigen die auf dem Bergvorsprung Tananir (Hirbet et-Tenänlr) vorgenommenen Ausgrabungen (1932 G. Welter; 1968 R. G. Boling). Sie brachten vor allem ein 18 X 18 m großes quadratisches Gebäude, einen Altar sowie zahlreiche Kleinfunde (Räucherständer, Mazzebe, Waffen u.a.) zutage. Die Keramikanalyse ergab eine Datierung der Funde für die späte Mittelbronzezeit (MB IIc). Im Übergang zur Spätbronzezeit wurde die Anlage durch Feuer zerstört. Auf Grund des Vergleichs mit ähnlichen Quadratgebäuden (Amman; Naharija) dürfte die Frage nach der Funktion der Anlage als eines Heiligtums inzwischen geklärt sein (vgl. Otto 150—158). Möglicherweise handelt es sich um ein Mittelpunktheiligtum und Wallfahrtsziel, mit dem auch halbnomadische Gruppen in Verbindung treten konnten (vgl. den Vorgang Gen 33, 1 8 - 2 0 ) . Hinlänglich bekannt sind die beiden Berge aus dem Alten Testament. Nach deuteronomistischer Theologie sind sie Schauplatz der in Dtn 11, 29; 27, 4 gebotenen und Jos 8, 30ff berichteten Segen- und Fluchzeremonie. Möglicherweise stehen hinter diesen Ereignissen Erinnerungen an kultische Begehungen bei Sichern (G. v. Rad, ATD 8, 119). In Jdc 9, 7 ist der Garizim als der Ort erwähnt, von dem aus Jotam seine Baumfabel den Sichemiten zurief. Im ausgehenden 4. Jh. v. Chr. wurde auf dem Garizim ein Tempel erbaut, der zum kultischen Zentrum der—>Samaritaner wurde. Dieser Tempel war Nachahmung der Jerusalemer Kultstätte (A. Alt, KS II, •'1964, 337) und entstand infolge einer Verdrängung von Priestern aus Jerusalem, die hier ein neues Kultzentrum errichteten (Kippenberg 58f). Reste dieses Tempels sind vermutlich bei den Ausgrabungen auf einem Nebengipfel des Garizim, dem Teil er-Räs (unter R. J. Bull 1967) aufgefunden worden. 128 (oder erst 108/107, vgl. BRL 2 295) v. Chr. zerstörte der Hasmonäer Johannes Hyrkanos die Kultstätte auf dem Garizim (Josephus, Ant XIII, 254 f; Bell I, 63). Dennoch bestand der Kult weiter, und die Frage nach dem legitimen Kultort wurde zwischen Juden und Samaritanern heftig diskutiert (s. Bill. I, 5 4 9 - 5 5 1 ) . Auch an Jesus wurde nach Joh 4, 20 die Streitfrage herangetragen. Nach 135 n. Chr. ließ Kaiser Hadrian auf dem Teil er-Räs einen römischen Jupitertempel errichten (s. Ausgrabungen unter R . J . Bull). Über seine Geschichte ist wenig bekannt. 484 n. Chr. wurde von Kaiser Zeno eine oktogonale, der Maria-Theotokos geweihte Kirche errichtet. Justinian umgab sie einige Jahrzehnte später mit Festungsanlagen. Die Ruinen dieser im 8. Jh. von den Kalifen zerstörten Gebäude sind noch heute auf dem Garizim zu sehen. Erst seit dem 18./19. Jh. bekamen die Samaritaner das Recht zurück, auf dem Garizim das Passafest zu feiern.
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Gaza Literatur
R o b e r t G. Boling, Bronze Age Buildings at the S h e c h e m H i g h Place. A S O R E x c a v a t i o n s at T a n a n i r : BA 3 2 (1969) 8 2 - 1 0 3 . - Ders., T a n a n i r ( M o n t G a r i z i m ) : RB 7 6 (1969) 4 1 9 - 4 2 1 . - R o b e r t J. Bull, An Archaeological C o n t e x t f o r U n d e r s t a n d i n g J o h n 4, 2 0 : BA 3 8 ( 1 9 7 5 ) 5 4 - 5 9 . - Ders., T h e E x c a v a t i o n of Teil e r - R a s on M t . Gerizim: B A 3 1 (1968) 5 8 - 7 2 . - D e r s . , A Preliminary E x c a v a t i o n o f a n H a d r i a n i c T e m p l c at Teil er Ras o n M o u n t Gerizim: AJA 7 1 ( 1 9 6 7 ) 3 8 7 - 3 9 3 . - D e r s . / E d w a r d Fay C a m p b e l l , T h e Sixth C a m p a i g n o f B a l ä t a h (Shechem): B A S O R 190 (1968) 4 - 1 9 . - S i e g f r i e d B ü l o w , D e r Berg des Fluches: Z D P V 73 ( 1 9 5 7 ) 1 0 0 - 1 0 7 . - O t t o Eißfeldt, Gilgal o d e r Sichern (Dtn 11, 2 9 - 3 2 ; 2 7 , 1 1 - 1 3 ; 2 7 , 1 - 8 ; Jos 8, 3 0 - 3 5 ) : ders., KS, T ü b i n g e n , V 1 9 7 3 , 1 6 5 - 1 7 3 . - H a n s G e r h a r d K i p p e n b e r g , G a r i z i m u. Synagoge, 1 9 7 1 ( R V V 30) (Lit.). - E c k a r t O t t o , J a k o b in Sichern, 1 9 7 9 ( W M A N T 110) (Lit.). - H a d r i a n R e l a n d , D e m o n t e G a r i z i m : ders. D i s s e r t a t i o n u m M i s c e l l a n e a r u m , T r a j e c t i ad R h e n u m , 1/3, 1706, 1 2 1 - 1 6 2 . - H a r o l d H e n r y R o w l e y , S a n b a l l a t a n d t h e S a m a r i t a n T e m p l e : B J R L 3 8 ( 1 9 5 5 / 5 6 ) 1 6 6 - 1 9 8 . - A l f o n s M a r i a Schneider, R o m . u. byz. Bauten auf d e m G a r i z i m : Z D P V 6 8 ( 1 9 5 1 ) 2 1 1 - 2 3 4 (Lit.). - Gabriel Welter, D e r S t a n d der A u s g r a b u n g e n in Sichern: AA 4 7 (1932) 2 8 9 - 3 1 4 .
Joachim H a h n Gastarbeiter ^ A r b e i t e r / A r b e i t e r b e w e g u n g , -n>Diakonie Gattungsforschung/Gattungsgeschichte —»Formgeschichte/Formenkritik Gaza Die Stadt Gaza liegt etwa drei Kilometer von der Südwestecke des Mittelmeers entfernt und ist von diesem durch hohe Sanddünen getrennt. Soviel wir wissen, gewann Gaza erstmals um 1100 v. Chr., in der Richterzeit, eine gewisse Bedeutung, namentlich in der Zeit Simsons. Um 3 3 2 v. Chr. w u r d e Gaza von Alexander dem Großen belagert (Arrian II, 26), vermochte aber zwei M o n a t e lang Widerstand zu leisten. Die M a c h t Gazas w a r jedoch, wie die Propheten vorhergesagt hatten (Jer 47; Am 1, 6; Zeph 2, 4), nicht von Dauer, und die Stadt verlor in den folgenden Jahrhunderten an Bedeutung. An Act 8, 26 wird Gaza im Z u s a m m e n h a n g mit der T a u f e des äthiopischen Eunuchen erwähnt. Wir wissen jedoch nicht, o b Philippus dort erfolgreich gepredigt hat, und unser Wissen über die Frühgeschichte des Christentums in Gaza ist dürftig. Es gab einen anhaltenden heidnischen Widerstand gegen das Eindringen des Christentums. Das geht daraus hervor, daß Eusebius von Caesarea in h.e. 8, 13, 5 nicht von einem „Bischof von G a z a " , sondern von einem „Bischof der Gemeinden
u m G a z a " ( e n i a x o n o g rwv
äfupi
rrjv
Fä'Qav
exxXrjaidjv) spricht. Der Widerstand veranlaßte den Bischof also, nicht in der Stadt selbst, sondern in einem Dorf außerhalb zu w o h n e n . Eusebius (mart. Pal. 3, 8 , 1 3 ) spricht von Verfolgung und Martyrium in Gaza selbst und erwähnt einen Bischof Silvanus (h.e. 8, 13, 5), der zusammen mit anderen in die Bergwerke geschickt und schließlich enthauptet wurde. Einige christliche Frauen wurden gefoltert; trotzdem weigerten sie sich, ihren Glauben zu verleugnen und ihre Jungfräulichkeit preiszugeben (mart. Pal. 8, 4 - 8 ) . Diese Bekennerakte mögen dazu beigetragen haben, daß sich im 4. Jh. die Präsenz des Christentums in Gaza und vor allem im Hafen M a i u m a verstärkte. Damit war auch ein Aufblühen von Mönch tum und Askese verbunden. Am bekanntesten ist der Anachoret Hilarion (ca. 2 9 1 - 3 7 1 ; Hieronymus, v. Hil. 14: PL 23, 3 5 C ) . Bischof Asklepas nahm am Konzil von —>Nicäa teil und unterstützte Athanasius; er wurde dann von arianischen Gegnern verurteilt und abgesetzt, später aber rehabilitiert und als Bischof wieder eingesetzt. Unter Julian wurde die Aktivität der Christen in Gaza und im Hafen M a i u m a einschneidend beschränkt. Die Zeit ihres größten Wohlstands und Wachstums erlebte die Kirche von Gaza vermutlich während des Episkopats des Porphyrius ( 3 9 5 - 4 2 0 n. Chr. s. Hill). Ein bedeutender Faktor f ü r die Ausbreitung der Kirche war das Aufhören einer Dürreperiode im Jahr 396, das man auf die Gebete der Gläubigen zurückführte. Die Kirche verdrängte schließlich das Heidentum völlig. Wahrscheinlich war der Christianisierungsprozeß im 6. Jh. abgeschlossen. Nach der Eroberung durch die Araber um 6 3 4 trat der —»Islam in Gaza die Herrschaft
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Gaza Literatur
R o b e r t G. Boling, Bronze Age Buildings at the S h e c h e m H i g h Place. A S O R E x c a v a t i o n s at T a n a n i r : BA 3 2 (1969) 8 2 - 1 0 3 . - Ders., T a n a n i r ( M o n t G a r i z i m ) : RB 7 6 (1969) 4 1 9 - 4 2 1 . - R o b e r t J. Bull, An Archaeological C o n t e x t f o r U n d e r s t a n d i n g J o h n 4, 2 0 : BA 3 8 ( 1 9 7 5 ) 5 4 - 5 9 . - Ders., T h e E x c a v a t i o n of Teil e r - R a s on M t . Gerizim: B A 3 1 (1968) 5 8 - 7 2 . - D e r s . , A Preliminary E x c a v a t i o n o f a n H a d r i a n i c T e m p l c at Teil er Ras o n M o u n t Gerizim: AJA 7 1 ( 1 9 6 7 ) 3 8 7 - 3 9 3 . - D e r s . / E d w a r d Fay C a m p b e l l , T h e Sixth C a m p a i g n o f B a l ä t a h (Shechem): B A S O R 190 (1968) 4 - 1 9 . - S i e g f r i e d B ü l o w , D e r Berg des Fluches: Z D P V 73 ( 1 9 5 7 ) 1 0 0 - 1 0 7 . - O t t o Eißfeldt, Gilgal o d e r Sichern (Dtn 11, 2 9 - 3 2 ; 2 7 , 1 1 - 1 3 ; 2 7 , 1 - 8 ; Jos 8, 3 0 - 3 5 ) : ders., KS, T ü b i n g e n , V 1 9 7 3 , 1 6 5 - 1 7 3 . - H a n s G e r h a r d K i p p e n b e r g , G a r i z i m u. Synagoge, 1 9 7 1 ( R V V 30) (Lit.). - E c k a r t O t t o , J a k o b in Sichern, 1 9 7 9 ( W M A N T 110) (Lit.). - H a d r i a n R e l a n d , D e m o n t e G a r i z i m : ders. D i s s e r t a t i o n u m M i s c e l l a n e a r u m , T r a j e c t i ad R h e n u m , 1/3, 1706, 1 2 1 - 1 6 2 . - H a r o l d H e n r y R o w l e y , S a n b a l l a t a n d t h e S a m a r i t a n T e m p l e : B J R L 3 8 ( 1 9 5 5 / 5 6 ) 1 6 6 - 1 9 8 . - A l f o n s M a r i a Schneider, R o m . u. byz. Bauten auf d e m G a r i z i m : Z D P V 6 8 ( 1 9 5 1 ) 2 1 1 - 2 3 4 (Lit.). - Gabriel Welter, D e r S t a n d der A u s g r a b u n g e n in Sichern: AA 4 7 (1932) 2 8 9 - 3 1 4 .
Joachim H a h n Gastarbeiter ^ A r b e i t e r / A r b e i t e r b e w e g u n g , -n>Diakonie Gattungsforschung/Gattungsgeschichte —»Formgeschichte/Formenkritik Gaza Die Stadt Gaza liegt etwa drei Kilometer von der Südwestecke des Mittelmeers entfernt und ist von diesem durch hohe Sanddünen getrennt. Soviel wir wissen, gewann Gaza erstmals um 1100 v. Chr., in der Richterzeit, eine gewisse Bedeutung, namentlich in der Zeit Simsons. Um 3 3 2 v. Chr. w u r d e Gaza von Alexander dem Großen belagert (Arrian II, 26), vermochte aber zwei M o n a t e lang Widerstand zu leisten. Die M a c h t Gazas w a r jedoch, wie die Propheten vorhergesagt hatten (Jer 47; Am 1, 6; Zeph 2, 4), nicht von Dauer, und die Stadt verlor in den folgenden Jahrhunderten an Bedeutung. An Act 8, 26 wird Gaza im Z u s a m m e n h a n g mit der T a u f e des äthiopischen Eunuchen erwähnt. Wir wissen jedoch nicht, o b Philippus dort erfolgreich gepredigt hat, und unser Wissen über die Frühgeschichte des Christentums in Gaza ist dürftig. Es gab einen anhaltenden heidnischen Widerstand gegen das Eindringen des Christentums. Das geht daraus hervor, daß Eusebius von Caesarea in h.e. 8, 13, 5 nicht von einem „Bischof von G a z a " , sondern von einem „Bischof der Gemeinden
u m G a z a " ( e n i a x o n o g rwv
äfupi
rrjv
Fä'Qav
exxXrjaidjv) spricht. Der Widerstand veranlaßte den Bischof also, nicht in der Stadt selbst, sondern in einem Dorf außerhalb zu w o h n e n . Eusebius (mart. Pal. 3, 8 , 1 3 ) spricht von Verfolgung und Martyrium in Gaza selbst und erwähnt einen Bischof Silvanus (h.e. 8, 13, 5), der zusammen mit anderen in die Bergwerke geschickt und schließlich enthauptet wurde. Einige christliche Frauen wurden gefoltert; trotzdem weigerten sie sich, ihren Glauben zu verleugnen und ihre Jungfräulichkeit preiszugeben (mart. Pal. 8, 4 - 8 ) . Diese Bekennerakte mögen dazu beigetragen haben, daß sich im 4. Jh. die Präsenz des Christentums in Gaza und vor allem im Hafen M a i u m a verstärkte. Damit war auch ein Aufblühen von Mönch tum und Askese verbunden. Am bekanntesten ist der Anachoret Hilarion (ca. 2 9 1 - 3 7 1 ; Hieronymus, v. Hil. 14: PL 23, 3 5 C ) . Bischof Asklepas nahm am Konzil von —>Nicäa teil und unterstützte Athanasius; er wurde dann von arianischen Gegnern verurteilt und abgesetzt, später aber rehabilitiert und als Bischof wieder eingesetzt. Unter Julian wurde die Aktivität der Christen in Gaza und im Hafen M a i u m a einschneidend beschränkt. Die Zeit ihres größten Wohlstands und Wachstums erlebte die Kirche von Gaza vermutlich während des Episkopats des Porphyrius ( 3 9 5 - 4 2 0 n. Chr. s. Hill). Ein bedeutender Faktor f ü r die Ausbreitung der Kirche war das Aufhören einer Dürreperiode im Jahr 396, das man auf die Gebete der Gläubigen zurückführte. Die Kirche verdrängte schließlich das Heidentum völlig. Wahrscheinlich war der Christianisierungsprozeß im 6. Jh. abgeschlossen. Nach der Eroberung durch die Araber um 6 3 4 trat der —»Islam in Gaza die Herrschaft
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Gaza
an. D i e s e w u r d e nur durch die A n w e s e n h e i t der T e m p l e r w ä h r e n d der -H> Kreuzzüge unterb r o c h e n . In d e n letzten hundert Jahren sind zahlreiche Inschriften e n t d e c k t w o r d e n , die meisten in M a i u m a (vgl. D A C L 6). A u s der G e g e n d v o n G a z a s t a m m e n mehrere christliche Schriftsteller. Z w a r k a n n man Commodian beiseite lassen, d e n n in seinen Schriften gibt es nur eine e i n z i g e u m s t r i t t e n e Stelle, die sich m ö g l i c h e r w e i s e auf G a z a bezieht (s. die Arbeiten v o n Brewer), aber P r o k o p i u s , A e n e a s u n d Z a c h a r i a s R h e t o r sind hier zu n e n n e n . D i e s e drei bilden die s o g . ,Trias v o n Gaza'. D a s erhaltene Werk des Prokopius (gest. 5 3 8 ) besteht in der H a u p t s a c h e aus—»Katenen z u m Alten T e s t a m e n t , die aus älteren K o m m e n t a r e n z u s a m m e n g e s t e l l t sind. G u é r a u d und N a u t i n ( 6 3 - 7 6 . 8 3 - 8 7 ) z i e h e n P r o k o p i u s für die R e k o n s t r u k t i o n v o n O r i g e n e s t e x t e n heran u n d w e i s e n darauf hin, d a ß w i r nur einen A u s z u g aus s e i n e m W e r k besitzen. Es liegen Katenen z u m O k t a t e u c h mit A u s n a h m e des B u c h e s Ruth, zu C a n t , K o h u n d Jes vor. In ihnen f i n d e n —»Philo v o n A l e x a n d r i e n , —»Origenes, - ^ B a s i l i u s v o n C a e s a r e a , —»Theodoret v o n Kyros u n d —»Cyrillus v o n A l e x a n d r i e n b e s o n d e r e B e a c h t u n g . A u ß e r d e m besitzen w i r v o n P r o k o p i u s zahlreiche Briefe u n d einige kleinere W e r k e , die m e h r ihres Stils als ihrer T h e o l o gie w e g e n Interesse verdienen. B i o g r a p h i s c h e A n g a b e n sind aus den Briefen u n d der Grabrede des Choricius v o n G a z a zu e n t n e h m e n . Aeneas von Gaza w a r stärker p h i l o s o p h i s c h interessiert. Er setzte sich mit der Philosop h i e seiner Zeit auseinander, v o r a l l e m in d e m D i a l o g Theophrastus : H i e r verteidigt er die Unsterblichkeit der Seele, bestreitet aber ihre Präexistenz u n d h e b t die B e d e u t u n g der leiblichen A u f e r s t e h u n g hervor. A e n e a s hinterließ a u ß e r d e m 2 5 Briefe. Zacharias Rhetor (Bruder des P r o k o p i u s ? ; gest. v o r 5 5 3 ) schrieb eine G e s c h i c h t e der Jahre 4 5 0 - 4 9 1 , ein a n t i m a n i c h ä i s c h e s W e r k , das syrisch erhalten ist, u n d d e n D i a l o g A m monius über die S c h ö p f u n g . Drei h a g i o g r a p h i s c h e W e r k e über Severus v o n A n t i o c h i e n , den A s k e t e n Isaias u n d Petrus d e n Iberer s i n d e b e n f a l l s syrisch erhalten. Quellen Epistulae diversorum philosophorum, o r a t o r u m et rhetorum sex et viginti, ed. M . Musuro, Venedig 1499. - Philosophi Christiani de immortalitate animae et mortalitate universi, ed. C. Barthius, Leipzig 1655. - Robert Devréesse, Les anciens commentateurs grecs de l'Octateuque et des Rois, 1959 (StT 2 0 1 ) . - Aeneas v. Gaza, Theophrastus, ed. M. E. Colonna, Neapel 1 9 5 8 . - Ders., Epistole, ed. L. M. Positano, 2 1961 (CSG 19). - Choricius v. Gaza, Opera, ed. R. Förster/E. Richtsteig, Leipzig 1929, 1 0 9 - 1 2 8 . - George Francis Hill, T h e Life of Porphyry Bishop of Gaza by M a r k the Deacon, Oxford 1912. — Procopius v. Gaza, Epistulae et declamationes, ed. A. Garzya/R. J. Loenertz, 1963 (SPB 9). Ders., Catena in Ecclesiasten, ed. Sandro Leanza, 1978 (CChr.SG 4). - Ders., Lacatena all'Ecclesiasten di Procopio di Gaza del cod. M a r c Gr. 22, ed. S. Leanza: Studia codieologica, 1977 (TU 124) 2 7 9 - 2 8 9 . - Ders., Un Nuova codice delle Epistole di Procopio di Gaza, ed. A. Garzya/R. J. Loenertz: Le parole et le idee 9 ( 1967) 71 f. - Ders., Varia: PG 87, 21 - 2 7 9 2 ex parte. - Ders., Lesefrüchte 213, ed. U. v. Wilamowitz-Möllendorff: Hermes 61 (1926) 2 9 7 f . - Zacharias Rhetor, hist. eccl., 1 9 1 9 - 2 4 (CSCO 83 f. 87f). - Ders., Varia: PG 85, 1 0 1 2 - 1 1 7 8 . Literatur Wolfgang Aly, Art. Prokopios v. Gaza: PRE 23 (1957) 2 5 9 - 2 7 3 . - Altaner 515 f. - Walter Bauer, Die Severus-Vita des Zacharias Rhetor: ders., Aufs. u. KS, Tübingen 1967, 2 1 0 - 2 2 8 . - Heinrich Brewer, Kommodian v. Gaza, Paderborn 1906. - Ders., Die Frage um das Zeitalter Kommodians, Paderborn 1910. - Maria Elizabetta Colonna, Zacario Scolastico il su „ A m m o n i o " e il „ T e o f r a s t o " di Enea di Gaza: AFLF(N) 6 (1956) 1 0 7 - 1 1 8 . - Jean Darroudès, Un recueil épistolaire byzantin: REByz 14 (1956) 8 7 - 1 2 1 . - Robert Devréesse, Chaînes exégétiques grecques: DBS 1 (1928) 1163 f. - Hermann Diels, Uber die v. Prokop v. Gaza beschriebene Kunstuhr v. Gaza, 1917 (APAW 26/7). - Glanville Downey, Art. 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6 9 5 - 7 2 0 . - E . Legier, Essai de biographie d'Encc de G.iza: O r C h r 7 ( 1 9 0 7 ) 3 4 9 - 3 6 9 . - Raymond Joseph Loenertz, Observations sur quelques lettres d'Encc de Gaza: HJ 7 7 (1958) 4 3 8 - 4 4 3 . - Marcin A b r a h a m Meyer, History of the city of Gaza, N e w York 1 9 0 7 , - S t e p h a n u s S i k o r s k i , De Aenea Gazaeo, Breslau 1909. - Walther Sontheimer, Art. Aineas aus Gaza: KP 1 (1964) 175. - M o r s t i n o w a Starowieyski, Aeneas Gazaeus Ep. 1 - 2 5 trad, en polon avec notes critiques: M e a . 28 (1973) 9 3 - 1 0 8 . M a n f r e d W a c h t , Aeneas v. Gaza als Apologet, 1969 (Theoph. 21). - K. Wegenast, Zacharias Scholastikos: P W C L A 1967, 2 2 1 2 - 2 2 1 6 . - Leendert Gerit Westerlink, Ein u n b e k a n n t e r Brief des Prokopius v. Gaza: B y z Z 6 0 (1967) 1 f . - O t t o Zöckler, Hilarion v. G a z a . Eine Rettung: N J D T h 3 (1894) 1 4 7 - 1 7 8 . Weitere Lit.: CPG III, 6 9 9 5 - 7 0 0 1 . 7 4 3 0 - 7 4 5 1 .
Geoffrey V. Gillard Gebärden, Liturgische
—»Gesten
Gebet I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. J u d e n t u m IV. Neues Testament V . A l t e Kirche VI. Mittelalter VII. Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst VIII. Dogmatische Probleme gegenwärtiger Gebetstheologie IX. Praktisch-theologisch
34 42 47 60 65 71 84 95
I. Religionsgeschichtlich Das Gebet ist allen Religionen als Ausdruck menschlicher Z u w e n d u n g zur Gottheit eigen. M a n hat daher in der Religionswissenschaft das Gebet mit der Religion selbst auf das Engste verbinden zu müssen sich veranlaßt gesehen. C.P. Tiele stellt als Ergebnis religionsbeobachtender Forschungen fest: „ W o das Gebet gänzlich verstummt ist, da ist es um die Religion selbst geschehen" (110). Das Gebet gehört zur religiösen Praxis der schrift- und geschichtslosen Völker ebenso wie zu den Hochreligionen. Solange wir den Menschen in seinen Religionen beobachten können, betet er zu der ihm bekannt gewordenen Gottheit. 1. Das Gebet hat im Leben der Gläubigen wie in ihrem Kult eine ständige und feste Stelle. Die verschiedenen Weisen des Betens im Leben wie im Kult sind als Bittgebet, als Sündenbekenntnis und Bitte um Vergebung, als Dankgebet für Korn, Reis und Regen wie meist zugleich neues Erbitten dieser Lebensgrundlagen zwar verschiedenen Charakters. Sie erweisen sich aber — auch noch in den Lobpreisungen — immer wieder als Bittgebet. Leben und Kult sind als Dasein vor der Gottheit ständig als Bitte um die gute Gabe der Gottheit gestaltet. Wir kennen alle diese das Leben wie das Opfer begleitenden Bitten. Aber wir wissen von den Erfahrungen mit „ e r h ö r t e n " Bitten fast nichts. Gleichwohl bleibt das Gebet Kennzeichen des religiösen Ausdrucks. O f f e n b a r ist das Gebet nicht zu enttäuschen? Oder wir müssen wohl besser sagen: offenbar ist das Bitten im Gebet vorwiegend garnicht ein utilitaristisches Bitten. das der Erhörung bedarf. Das Gebet ist vielmehr Rede der in allem bedürftigen Menschen vor den Wesen, deren Präsenz alle Gabe „ist". Das heißt, die uns naheliegende utilitaristische Deutung des Betens ist im Kern o f f e n b a r falsch. Das Gebet meint den Gott und in ihm das, was er hat, nämlich Leben, Gesundheit und Überfluß an allem Lebensnotwendigen. Die Beobachtung, daß jedes Gebet letztlich Bittgebet — als Selbstaussetzung des alles Bedürfenden vor seinem Gott — ist und in seiner ständigen Geschichte in den Religionen nicht enttäuscht abstarb, weist das Verständnis des Gebetes in die ihm angemessene Richtung. Enttäuschung über nicht erhörtes Gebet bleibt den Aufklärungszeiten vorbehalten, die den —»Utilitarismus pflegen. 2. Das Gebet kennzeichnet den Vorgang, in dem ein Mensch zu seinem —»Gott von sich und den Seinen, von seiner und ihrer N o t spricht. Dies geschieht zumal als Bitte. Alle Le-
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6 9 5 - 7 2 0 . - E . Legier, Essai de biographie d'Encc de G.iza: O r C h r 7 ( 1 9 0 7 ) 3 4 9 - 3 6 9 . - Raymond Joseph Loenertz, Observations sur quelques lettres d'Encc de Gaza: HJ 7 7 (1958) 4 3 8 - 4 4 3 . - Marcin A b r a h a m Meyer, History of the city of Gaza, N e w York 1 9 0 7 , - S t e p h a n u s S i k o r s k i , De Aenea Gazaeo, Breslau 1909. - Walther Sontheimer, Art. Aineas aus Gaza: KP 1 (1964) 175. - M o r s t i n o w a Starowieyski, Aeneas Gazaeus Ep. 1 - 2 5 trad, en polon avec notes critiques: M e a . 28 (1973) 9 3 - 1 0 8 . M a n f r e d W a c h t , Aeneas v. Gaza als Apologet, 1969 (Theoph. 21). - K. Wegenast, Zacharias Scholastikos: P W C L A 1967, 2 2 1 2 - 2 2 1 6 . - Leendert Gerit Westerlink, Ein u n b e k a n n t e r Brief des Prokopius v. Gaza: B y z Z 6 0 (1967) 1 f . - O t t o Zöckler, Hilarion v. G a z a . Eine Rettung: N J D T h 3 (1894) 1 4 7 - 1 7 8 . Weitere Lit.: CPG III, 6 9 9 5 - 7 0 0 1 . 7 4 3 0 - 7 4 5 1 .
Geoffrey V. Gillard Gebärden, Liturgische
—»Gesten
Gebet I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. J u d e n t u m IV. Neues Testament V . A l t e Kirche VI. Mittelalter VII. Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst VIII. Dogmatische Probleme gegenwärtiger Gebetstheologie IX. Praktisch-theologisch
34 42 47 60 65 71 84 95
I. Religionsgeschichtlich Das Gebet ist allen Religionen als Ausdruck menschlicher Z u w e n d u n g zur Gottheit eigen. M a n hat daher in der Religionswissenschaft das Gebet mit der Religion selbst auf das Engste verbinden zu müssen sich veranlaßt gesehen. C.P. Tiele stellt als Ergebnis religionsbeobachtender Forschungen fest: „ W o das Gebet gänzlich verstummt ist, da ist es um die Religion selbst geschehen" (110). Das Gebet gehört zur religiösen Praxis der schrift- und geschichtslosen Völker ebenso wie zu den Hochreligionen. Solange wir den Menschen in seinen Religionen beobachten können, betet er zu der ihm bekannt gewordenen Gottheit. 1. Das Gebet hat im Leben der Gläubigen wie in ihrem Kult eine ständige und feste Stelle. Die verschiedenen Weisen des Betens im Leben wie im Kult sind als Bittgebet, als Sündenbekenntnis und Bitte um Vergebung, als Dankgebet für Korn, Reis und Regen wie meist zugleich neues Erbitten dieser Lebensgrundlagen zwar verschiedenen Charakters. Sie erweisen sich aber — auch noch in den Lobpreisungen — immer wieder als Bittgebet. Leben und Kult sind als Dasein vor der Gottheit ständig als Bitte um die gute Gabe der Gottheit gestaltet. Wir kennen alle diese das Leben wie das Opfer begleitenden Bitten. Aber wir wissen von den Erfahrungen mit „ e r h ö r t e n " Bitten fast nichts. Gleichwohl bleibt das Gebet Kennzeichen des religiösen Ausdrucks. O f f e n b a r ist das Gebet nicht zu enttäuschen? Oder wir müssen wohl besser sagen: offenbar ist das Bitten im Gebet vorwiegend garnicht ein utilitaristisches Bitten. das der Erhörung bedarf. Das Gebet ist vielmehr Rede der in allem bedürftigen Menschen vor den Wesen, deren Präsenz alle Gabe „ist". Das heißt, die uns naheliegende utilitaristische Deutung des Betens ist im Kern o f f e n b a r falsch. Das Gebet meint den Gott und in ihm das, was er hat, nämlich Leben, Gesundheit und Überfluß an allem Lebensnotwendigen. Die Beobachtung, daß jedes Gebet letztlich Bittgebet — als Selbstaussetzung des alles Bedürfenden vor seinem Gott — ist und in seiner ständigen Geschichte in den Religionen nicht enttäuscht abstarb, weist das Verständnis des Gebetes in die ihm angemessene Richtung. Enttäuschung über nicht erhörtes Gebet bleibt den Aufklärungszeiten vorbehalten, die den —»Utilitarismus pflegen. 2. Das Gebet kennzeichnet den Vorgang, in dem ein Mensch zu seinem —»Gott von sich und den Seinen, von seiner und ihrer N o t spricht. Dies geschieht zumal als Bitte. Alle Le-
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bensnöte erscheinen in den Gebeten als Bitte - sei es Regen oder jagdbares Wild oder Kornwuchs oder Herdenfruchtbarkeit, sei es Stammesgedeihen, Kriegsglück oder Nachwuchs. Der Mensch spricht vor seinem Gott zu seinem Gott. Er anerkennt Gott als seinen Gott, indem er alles Gedeihen und Gelingen ihm zuschreibt. Die Gebete in den Religionen zeigen, wie recht —>Luther hatte, wenn er im Großen Katechismus zum 1. Gebot schreibt: „Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten". Insofern ist das Gebet von van der —»Leeuw (402) wie von Goldammer (236) als dialogisch charakterisiert. Das Gebet geschieht im Gegenüber zu einem angesprochenen Wesen - das kann auch eine „Bergspitze" (s.u.) sein oder ein fetischartiger Gegenstand von dem man alles erwartet, dessen man bedarf. Man kann sich beklagen bei ihm und auch bedanken, man kann es loben und ihm seine Sünden bekennen, zumal kann man ihm all das darlegen, dessen man bedarf. Wenn wir diesen „dialogischen" Vorgang Gebet nennen, so scheiden wir es einerseits von der Beschwörung und andererseits von der Anbetung. Die Beschwörung kann auch gebetsartige Formen haben, sucht aber durch begleitende Handlungen den Erfolg bzw. die Erhörung zu erzwingen. In der Beschwörung geht es wirklich um die Realisierung des Erwünschten. Andererseits hat die Anbetung ihren Charakter darin, daß der Mensch wortlos oder hymnisch vor seinem Gott verharrt und sich der Gottheit öffnet, um nur vor ihr dazusein. Dies geschieht schweigend oder die Gottheit beschreibend. Man wird gut tun, diese Unterscheidung von Beschwörung, Gebet und Anbetung erstens zu beachten, um das Gebet in seiner Eigenart erfassen zu können und es freizuhalten von allem Zauberischen wie von allem sogenannten Mystischen. Zweitens aber wird man gerade bei Wahrung dieser Unterscheidung rasch bemerken, daß die Grenzen nicht nur fließend sind, sondern daß jedes Gebet etwas von Beschwörung (Gebetswiederholung) und auch etwas von Anbetung (das Nembutsu) an sich hat.
Unter Gebet also verstehen wir die vornehmlich „personhafte", dialogische Zuwendung eines Menschen zu seinem Gott, um ihm das eigene Dasein in seiner Bedürftigkeit oder Zufriedenheit als den Wirkungsbereich „dieses" Gottes darzustellen. Dabei gibt es viele Mischformen. Denken wir an die langen Gebete aus dem nördlichen Nepal, die aus langen - Anbetung zu nennenden - Beschreibungen der Gottheit bestehen, denen dann eine dreizeilige kurze Bitte folgt (Funke 2 4 2 f). Ebenso finden sich Lob, Dank und Bitte häufig bei Homer zusammen (z.B. II. 1,453f) mit Erinnerung an vergangene Gotteserfahrung. 3. Die Religionswissenschaft hat dem Gebet nur selten die Rolle zugestanden, die es in den Religionen hat, wie die Geschichte der —»Frömmigkeit der Religionen immer noch aussteht. Aber man hat, wie man das mit allen Phänomenen versucht, das Gebet abzuleiten gesucht. Man hat das oft nach der Regel versucht, daß Not beten lehrt. So geht auch F. —»Heiler in seinem großen Werk über das Gebet (41 ff) vor. Damit ist die Deutungsrichtung auf den Utilitarismus vorgezeichnet. Vielmehr kann man das Gebet nur mit dem Erscheinen der Gottheit verbinden. Dabei bleibt es sich gleich in welcher Form dies geschieht - als Mensch oder Tier oder Berg oder Ruf. Die Gottheit erweist sich in ihrer Epiphanie als Hort des „Heils". Dies „Heil" kann sich als politisches, wirtschaftliches, biologisches oder ewiges Heil darstellen. Damit ist das Gebet gegeben. Denken wir an Jes 6. Damit ist das Gebet aber auch als ständiger Ausdruck des Religionübens gegeben. Wo der Mensch „sich" der Gottheit vorstellt, kommt er als der dessen Bedürftige, was er an diesem Gott wesenhaft erfuhr. Vor den Religionen wie zumal vor dem Gebet versagt also die funktionale Definition, wie Lübbe (174) sie vorschlug: Religion sei „Kontingenzbewältigungspraxis". Die Kontingenz, vor der das Gebet in den Religionen wieder und wieder „entsteht", ist die Kontingenz der hervordrängenden Gottheit! Jedoch das Gebet bewältigt weder die Kontingenz Gottes noch die Kontingenz der Welt. Das Gebet drückt vielmehr die Tat-Sache, daß ein Mensch oder eine Menschengruppe in ihrem menschlichen Dasein von der „Gottheit" erreicht wurde und sich ihr dialogisch aussetzt, in Worten, die den Abstand qua Bitte markieren und markieren müssen, aus. Dieser Akt hat seinen Sinn in sich als beschreibende Erhebung dieses Gottes und als ebenso beschreibende Darstellung des Menschen. Das letztere aber kann nur der Abstand sein, d. h. „die Not", sterblich, unrein, hungrig oder durstig zu sein. Hier liegt wohl der Grund dafür, daß Widengren das Gebet aus dem Sündenbekenntnis entfaltet ( 2 5 8 - 2 7 8 ) .
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4. Das Gebet in den Religionen wird typisiert. Die Fülle der Gebete, die uns überliefert sind, läßt derartige Gruppierungen als sinnvoll erscheinen. Heiler hat solche Typisierung versucht. Das heißt, er unterscheidet das primitive Gebet von dem prophetischen. Oder er unterscheidet das reine eudämonistische Gebet von dem ethischen. Er unterscheidet das freie Gebet von dem Gebetsformular. Er unterscheidet das Gebet des einzelnen von dem Gemeindegebet. Solche Unterscheidungen bieten sich als Ordnungsprinzipien an. Doch sie besagen sehr wenig. Sie sind von sehr verschiedenen M a ß s t ä b e n aus gewonnen. Sie überschneiden sich und erweisen sich als sehr äußerlich. Wenn wir d a f ü r nur die Unterscheidung von freiem Gebet und dem Gebet nach einem Formular ansehen: Der -H>Islam z. B. hat in d e r S a l ä t , dem fünfmal am Tag zu vollziehenden Gebet, eine Gebetssitte inauguriert, in der sich der Islam seit 1350 Jahren vollzieht. Die islamische Salät besteht nur aus festen Preis- und Lobsprüchen für Allah, aus der 1. und 112. Sure. Es folgt mit erhobenem Zeigefinger das Bekenntnis des einen Gottes und seines Dieners M u h a m m a d , darauf folgt der Segenswunsch über das Prophetengeschlecht und endlich der doppelte Friedensgruß. Diese ganze Salät, deren Hauptteil erweitert und zwei oder mehrmals (die rak a) gebetet werden kann, ist reines Formular. Sie wird normal in der Moschee und in Gemeinschaft gebetet, kann aber genausogut allein vollzogen werden. Wer das Beten von Muslimen kennt, weiß, wie alle diese „Formeln" mit Inbrunst und persönlichster Beteiligung gebetet werden können. M a n hat diese Salät als „vertrautes Gespräch" zwischen Allah und seinem Knecht verstanden und ausgelegt. Z w a r gibt es im Islam, zumal im Sufitum, freie Gebete. Aber dieSalät u m f a ß t alles freie Beten und engt es nicht ein. Wenn der Muslim im Segen über die Propheten betet „ . . . gib nun den Segen dieses Lebens . . . " , so kann dieser Wunsch ebenso „primitiv" wie „prophetisch", ebenso „eudämonistisch" wie „ethisch" gefüllt werden. Je nach der Situation, in der der Beter sich befindet, wird dies oder das im Vordergrund stehen. 5. Das Gebet des altägyptischen Arbeiters Nofer-Abu kann unsere Überlegungen zusammenfassen: „Ich bin ein unwissender M a n n , der keinen Verstand hat, u n d vermag Gut und Böse nicht zu unterscheiden. Ich habe mich einmal gegen die Bergspitze vergangen, und sie hat mich gestraft. Ich bin T a g und Nacht in ihrer H a n d . Ich sitze auf einem Ziegel wie eine Schwangere; ich rufe nach dem Wind, aber er k o m m t nicht zu mir. Ich betete zu der kraftreichen Bergspitze und zu jedem Gott und jeder Göttin. Siehe, ich sage zu G r o ß und Klein, die in der Arbeiterschaft sind: ,Seid demütig zu der Bergspitze, denn ein Löwe w o h n t in der Bergspitze; sie schlägt, wie der wildblickende Löwe schlägt, u n d sie verfolgt den, der gegen sie frevelt'. Ich rief nach meiner Herrin, und da fand ich, daß sie als erfrischender Wind zu mir kam. Sie w a r mir gnädig, nachdem sie mich ihre H a n d hatte sehen lassen. Sie w a n d t e sich gnädig zu mir und sie ließ mich meine Leiden übersehen, und w a r mein Wind. Wahrlich, die Bergspitze des Westens ist wohltätig, w e n n man nach ihr ruft. N o f e r - A b u sagt u n d verspricht: ,Wahrlich, hört all ihr O h r e n , die auf Erden leben: Seid demütig gegen die Bergspitze des W e s t e n s ' " (Roeder 57).
Dieses Gebet enthält alles, was man in Gebeten finden kann. Bitte und D a n k , anbetende Ehrfurcht und Bekenntnis. Das Gebet zeigt die ganze Spontaneität dieses Beters in der Glut der westlichen Wüste und sein Vertrauen zu der Bergspitze des Westens, auch wenn der kühle Wind nicht k o m m t . Dieser M a u r e r lebt in der Geborgenheit der Bergspitze und wenn er auch nichts „ w e i ß " , kann er doch die anderen Arbeiter warnen und zugleich anleiten — aus seinem Gebet heraus. Er gewinnt sein schlichtes Selbstbewußtsein aus seinem betenden Verhältnis zur Bergspitze des Westens. Dies hält ihn so, daß er seine Leiden übersehen kann. Und er ruft nach dem Wind, aber er k o m m t nicht! Das Gebet eröffnet den Beter, wie er nun da ist, vor dem Gott, der sich ihm zu erkennen gab. Piaton hat bereits den utilitaristischen Charakter von Gebet wie von Opfer widerlegt (Eutyph. 14c). Die Gebete haben einen tieferen Sinn als nur den kühlenden Wind zu besorgen. Sie lassen das Leiden übersehen, weil sie die Präsenz des Gottes vergewissern bzw. dieselbe zur Ausdrucksgestalt erheben. In der islamischen Mystik meint man, daß Allah im Gebet mit sich selbst redet. Das liegt ja auch nicht so fern: Das Gebet manifestiert die Gottheit. Die Gebete in den Religionen sind sehr vielfältig. Das Gebet des Afrikaners pflegt sehr wortreich zu werden ( D a m m a n n 127). Das Gebet des antiken Griechen bleibt maßvoll und
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v e r h a l t e n ( H e i l e r 1 9 8 ) . H a t m a n die s t ä n d i g e F ü l l e d e r G e b e t e in d e n R e l i g i o n e n b e m e r k t u n d sich a n g e s e h e n , d a n n k a n n m a n d e m U r t e i l T i e l e s w o h l z u s t i m m e n , d a ß R e l i g i o n und G e b e t aufs E n g s t e z u s a m m e n g e h ö r e n , u n d m a n w i r d w o h l a u c h s a g e n , d a ß d e r M e n s c h soviel P e r s o n a l i t ä t zeigt u n d h a t , wie er in d i e s e m d i a l o g i s c h e n O f f e n s e i n v o r G o t t d a ist. M a n w i r d a u c h w e i t e r s c h l i e ß e n k ö n n e n - w i e T i e l e es t a t - , d a ß d a , w o das G e b e t a b s t i r b t , n i c h t n u r R e l i g i o n ihr E n d e h a t , s o n d e r n a u c h die P e r s o n a l i t ä t des M e n s c h e n .
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II. Altes Testament 1. Grundsätzliches 2. Klassifizierung Gebete 6. Geschichtliche Entwicklungen
3. Alltagsgebete 7. Sonderformen
4 . Namengebung 5. Ritualisierte (Quellen/Literatur S. 41)
1. Grundsätzliches 1.1. Gebetstermini. Das Alte Testament kennt noch keinen Oberbegriff „ G e b e t " . Die häufigsten Begriffe dafür: t'fillä, t'binnä [Klage- bzw. Bittgebet] auf der einen Seite und tödä, t'hillä [Danklied, Preislied] auf der anderen Seite spiegeln noch die beiden grundlegenden Pole des „ G e b e t s " im A T wieder: Klage und Lob (s.u. Abschn. 1.5). Die vielen hebräischen Verben für „ b e t e n " sind überwiegend nicht spezifisch religiös. Sie entstammen entweder der Umgangssprache wieqärä' [rufen], z/sä caq [um Hilfe schreien] oder hödä [preisen] (Gen 4 9 , 8) und hillel [rühmen] (Cant 6, 9), oder sie stammen aus der höfischen Sprache wiehitbannen [um Gnade bitten] und hillä pänim [(durch Geschenke) für sich einnehmen wollen, besänftigen] (Ps 4 5 , 13; vgl. Seybold: Z A W 8 8 , 2ff). Es ist also das Bitt- und Lobverhalten gegenüber anderen Menschen bzw. Höhergestellten, welches das Sprachmuster für das Gebet zu Gott liefert. Die wenigen spezifisch religiösen Begriffe für „beten" hitpallel (79 x) und cätar ( 2 0 x) sind durch Verallgemeinerung eines ganz speziellen religiösen Vorgangs entstanden: des fürbittenden Eintretens eines machtbegabten Gottesmannes, das sich ursprünglich vom normalen Gebetsvorgang stark unterschied (s.u. Abschn. 7.2). Dieser Befund deutet schon an, daß das Gebet im Alten Testament nie zu einer rein religiösen Übung geworden ist; es blieb trotz aller Ritualisierung immer auf den alltäglichen Lebensvollzug bezogen. 1.2. Gebetsgesten. Das Gebet war im Alten Testament nie ein reiner Wortvorgang, sondern immer mit begleitenden Handlungen verbunden. Unmittelbar dazu gehörten verschiedene Gebetsgesten, die größtenteils mit denen der vorderorientalischen Umwelt identisch sind (vgl. v. Soden 162): „stehen"
('ämad I Reg 8, 22; nissab I Sam 1, 26, vgl. akk. i/uzüzzu); „niederknien" (kärac I Reg 8, 54, vgl. akk.
kamäsu)-, „sich niederwerfen" (qädad Gen 2 4 , 26) und „Proskynese vollziehen" (histabawä Gen 2 4 , 2 6 ; P s 5 , 8, vgl. skV.sukenu), wobei Gesicht und Handflächen die Erde berührten (wie im—>Islam). Die-
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ser auch im Hofzeremoniell beheimatete Gestus (II Sam 14, 33) bezeichnet d a n n häufig auch die Gottesverchrung schlechthin (Dtn 4, 19). Von ihm auf eine besonders unterwürfige innere Gebetshaltung im Alton Testament schließen zu wollen (so Schmidt 8 7 6 ; Hesse: EKL 1, 1435), ist absurd; die meisten Klagegebete im Alten Testament sind weit schärfer als etwa unsere christlichen Gebete. Eine weitere Gebetshaltung ist das Ausstrecken oder Erheben der H ä n d e (päras kappajim I Reg 8 , 2 2 ; mas'at kappa)im Ps 141, 2 vgl. akk. nis qäti und die babylonischen „ H a n d e r h e b u n g s b e t e " , a r a m . ns'jdjn KAI 2 0 2 A Z. 11). Eine Aufteilung der Gesten auf Klage- und Lobgebete ist nicht möglich (vgl. Gen 24, 26 Lob in der H a l t u n g der Proskynese; Ps 141, 2 Erheben der H ä n d e bei der Klage). Bei Klagegebeten konnten noch weitere Trauerriten h i n z u k o m m e n (Weinen, Zerreißen der Kleider, Fasten u. a.), wie sie auch bei der Totenklage bezeugt sind (Esr 9, 5).
1 ..3. Gebet und Kult. Neben dem Gebetsgestus war das Gebet im Alten Testament häufig mit begleitenden gottesdienstlichen Handlungen verbunden (z. B. Opfer), dennoch gehört es dadurch noch lange nicht „unlöslich zum Kult" (Hesse: EKL 1 , 1 4 3 3 ) . Das Gebet war im Alten Testament keineswegs notwendig an den heiligen Ort und bestimmte heilige Zeiten gebunden, sondern konnte überall, auf der Straße (II Sam 15, 31) oder auf dem Krankenbett (Jes 3 8 , 1 - 3 ) und zu jeder Zeit, wenn es nötig w a r (I Sam 25, 32), an Gott gerichtet werden. Durch die ganze alttestamentliche Geschichte laufen unkultische und kultische Gebete nebeneinander her, wobei noch einmal zwischen den Gebeten des kasuellen Kleinkults und denen des kasuellen und stetigen Großkults unterschieden werden m u ß (zu dieser Differenzierung des Kultbegriffs s. Gerstenberger, Der bittende Mensch 147ff; Albertz, Frömmigkeit 26 f). M a n wird darum verschiedene Grade der kulti;chen Einbindung (Ritualisierung) des Gebets zu unterscheiden haben. Zugleich wird man mit Rückwirkungen des Großkults am Tempel auf die private Gebetspraxis rechnen müssen (Gebetszeiten, Gebetsrichtung nach Jerusalem). 1.4. Gebet und Magie. Auszugehen ist d a v o n , d a ß für den Menschen des antiken Vorderen Orients Gebet und Magie keine Gegensätze waren, sondern sich gegenseitig ergänzten. Die babylonischen Klagegebete etwa wurden als EN/siptu = Beschwörung eingeleitet und sind in den sie umgebenden Ritualen von vielen magischen H a n d l u n g e n begleitet gewesen (\gl. die Su'illa-Gebete, die Serie namburbi u. a.), magische Z w a n g s h a n d l u n g und personales Gebet die iten dem gleichen Zweck, der Abwehr bedrohender M ä c h t e und der Rettung der Leidenden. Dabei waren sich die Babylonier d u r c h a u s bewußt, d a ß auch das magische Ritual auf die Hilfe der Götter angewiesen w a r und genauso wie das Gebet versagen k o n n t e (vgl. Gerstenberger, a . a . O . 7 4 - 7 7 ) .
Im Vergleich dazu treten in der alttestamentlichen Überlieferung magische Begleithandlungen zum Gebet deutlich zurück (vgl. aber etwa I Reg 17, 21 f und s.u. Abschn. 3.2; 3.6; 7.2). Dieser Befund ist wohl z . T . Ergebnis einer selektiven Uberlieferung, hat aber sicher auch etwas mit der besonders intensiven personalen israelitischen Gottesbeziehung zu tun. 7.5. Die anthropologische Dimension des alttestamentlichen Gebetes. Das alttestamentliche Gebet ist noch weit stärker als unser heutiges Beten unmittelbare Lebensäußerung: In seinen beiden Polen Klage und Lob ist es direkte Reaktion auf extreme Grenzerfahrungen menschlicher Existenz: Das Klagegebet ist der vor Gott ausgeschüttete Schmerz (Ps 102, 1), das Lobgebet die zu Gott hin geäußerte wiedererwachte Lebensfreude. Im alttestamentlichen Beten wird noch die ganze Spannweite menschlicher Existenzerfahrung zwischen tiefster Verzweiflung und a u f a t m e n d e m Jubel vor Gott gebracht (vgl. Westermann, Loben Gottes 13 ff; Brueggemann: J S O T 17, 3 ff). Diese tiefe existentielle Verankerung des alttestamentlichen Gebets zeigt sich an einer Reihe von Besonderheiten: 2.5.1. Klage und Lob bleiben über die längste Zeit der alttestamentlichen Geschichte voneinander getrennt: Die Klage gehört in die Situation der N o t , das Lob in die Situation der Rettung (s. aber u. Abschn. 6). D a ß man Gott in der N o t loben kann und soll (Hi 1, 21), ist eine für das Alte Testament ganz untypische, extreme Möglichkeit. Wohl aber läßt sich in vielen Klagegebeten eine Bewegung von der Klage auf das Lob hin erkennen (Westermann, a . a . O . 43 f. 54 f); hier zeigt sich ein Transzendieren der Notsituation im Verlauf des Betens: Indem der Leidende seine N o t vor Gott bringt, streckt er sich in die Z u k u n f t hinein auf die Wende seiner N o t hin aus (im Unterschied zur Totenklage, die rückwärts gewandt bleibt; vgl. Westermann, Klage 251 f). W o dieses Sich-Ausstrecken auf Z u k u n f t ausbleibt (Ps 88),
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w o der Lebenswille zerbricht, da erstirbt letztlich auch das Gebet. An seine Stelle tritt die Verfluchung des Tages der Geburt (Jer 2 0 , 1 4 - 18; Hi 3), in der Gott nicht mehr angeredet wird. 1.5.2. Es ist in den alttestamentlichen Gebeten fast immer nur eines, um das gebeten wird: die Wende der N o t . Eine Reihung von Bitten ist dem alttestamentlichen Gebet fremd. Die alttestamentlichen Menschen beten nicht ständig, sondern nur aus wirklichem Anlaß. 1.5.3. Die anthropologische Tiefendimension zeigt sich in den drei Teilen der Klage (vgl. Westermann, Struktur 5 2 ff. 275 ff): So wie jeder Mensch in Beziehung zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu Gott steht, so begegnet in den Klagegebeten die Ich/Wir-Klage, die Feindklage und die Anklage gegen Gott. Alle drei Dimensionen des Menschseins sind vom Leid betroffen und in Frage gestellt, alle drei Dimensionen werden im Danklied, das sowohl Gott als auch die Mitmenschen des Leidenden mit einbezieht, wieder ins Reine gebracht. So k o m m t in den Gebeten des Alten Testaments der Mensch viel umfassender und grundsätzlicher zur Sprache, als wir es in unseren heutigen Gebeten gewohnt sind. 2.
Klassifizierung
Eine Klassifizierung des alttestamentlichen Gebets läßt sich unter drei Gesichtspunkten vornehmen: Unter dem Gesichtspunkt der anthropologischen Grundsituation (Not-Rettung) lassen sich Klage- und Lobgebete unterscheiden; unter dem Gesichtspunkt des im Gebetsvorgang Redenden und Handelnden finden sich Gebete des einzelnen (oder besser der Kleingruppe) und Gebete der Gemeinschaft (oder besser der Großgruppe), wobei die Gebete von öffentlichen Funktionsträgern (Prophet, König) eine gewisse Zwischenstellung einnehmen. Schließlich lassen sich verschiedene Stufen der Ritualisierung unterscheiden: die noch gar nicht ritualisierten Alltagsgebete, die ritualisierten Gebete des kasuellen Kleinkultes (Klagelied und Danklied des einzelnen) und die weit stärker ritualisierten Gebete des kasuellen (Klage des Volkes) und des stetigen Großkultes (Hymnen, Liturgische Psalmen u.ä.). 3.
Alltagsgebete
Alltagsgebete sind n a t u r g e m ä ß schlecht bezeugt, weil sie nur in den seltensten Fällen tradiert werden. Doch belegen die vielen, in die alttestamentlichen Erzählungen eingestreuten Gebete eindeutig, daß die Israeliten aus dem unmittelbaren Lebensvollzug heraus bei vielen Gelegenheiten spontan Gebete zu Gott gesprochen haben. Allerdings handelt es sich hierbei nicht u m Protokolle wirklich gesprochener Gebete, sondern schon um literarische Stilisierungen der T r a d e n t e n .
Allgemeine Charakteristika der meisten überlieferten Alltagsgebete sind: 1. Kürze, 2. prosaische Form und 3. große Direktheit im Umgang mit Gott. 3.1. Klagen. Schon der unartikulierte und ungerichtete Aufschrei der gequälten Kreatur kann im Alten Testament Gebetscharakter haben: Gott hört auf das Weinen des verdurstenden Kindes (Gen 21, 16 f) wie auf das Schreien der geschundenen Fronarbeiter (Ex 3, 7; vgl. 2, 23). Artikuliert, aber noch ungerichtet ist die urtümliche Klage Rebekkas: „ W e n n so etwas passiert, w a r u m ,lebe ich' d a n n ? " (Gen 2 5 , 2 2 ; vgl. 27,46; T o b 3,15; I M a k k 2, 7.13; IV Esr 5,35); sie lebt fort in der Verfluchung des Tages der Geburt (Jer 2 0 , 1 4 - 1 8 ; Hi 3 , 1 - 1 0 ; I Reg 19,4). Die an G o t t gerichteten Klagen der Frühzeit sind - obwohl z . T . späte literarische Bildungen — häufig von schroffen Anklagen gegen Gott gekennzeichnet (Jdc 1 5 , 1 8 ; vgl. die Klagendes Mittlers: J d c 6 , 1 3 ; E x 5 , 2 2 f ; deuteronomistisch: 3 2 , 1 1 f; N u m 1 4 , 1 3 f f ; Jos 7, 7ff; Westermann, Struktur 6 7 f f . 291 ff). Eine wichtige Rolle spielte die Klage der kinderlosen Frau (später auch des Mannes): Gen 1 5 , 2 f; 3 0 , 2 ; ISam 1 , 1 0 ; Jes 4 9 , 2 1 ; vgl. 5 4 , 1 - 4 ; Ps 1 1 3 , 9 ; vgl. das ugaritischeDJeremia/Jerem i a b u c h ) . Die Klage des s c h e i n b a r gescheiterten G e r i c h t s p r o p h e t e n wird a u f g e n o m m e n in die Klage des G o t t e s k n e c h t e s (Jes 4 9 , 4 ) und g e w i n n t hier, in V e r b i n d u n g mit seinem stellv e r t r e t e n d e n Sühneleiden, z u m ersten M a l eine z e n t r a l e positive B e d e u t u n g für das V o l k , die s o g a r ü b e r die V o l k s g r e n z e n h i n a u s w e i s t (vgl. die K l a g e J e s u a m K r e u z ) . 7 . 4 . Klage
Gottes.
E s gibt im Alten T e s t a m e n t n o c h eine eigenartige S o n d e r f o r m der
Klage, w e l c h e die G e b e t s s i t u a t i o n völlig s p r e n g t : die Klage G o t t e s ; » « s a t z w e i s e bei -n>Hosea (2, 1 0 . 1 5 ; 8, 5 b . 8 ) , d a n n voll e n t w i c k e l t bei - ^ J e r e m i a klagt G o t t über den Abfall seines V o l k e s ( 2 , 1 0 - 1 3 . 3 1 - 3 2 ; 3 , 2 0 ; 8 , 7 ; 1 8 , 1 3 - 1 5 a ) u n d ü b e r d a s Unheil, d a s e r ü b e r e s geb r a c h t h a t ( 1 2 , 7 - 1 3 ; 1 5 , 5 - 9 ) . Diese V o r s t e l l u n g , d a ß G o t t a m F e h l v e r h a l t e n seiner Ges c h ö p f e (so s c h o n Gen 6 , 5 f) u n d an i h r e m Leiden selber leidet, ist eine der tiefsten Einsichten der a l t t e s t a m e n t l i c h e n G o t t e s e r k e n n t n i s u n d weist h i n ü b e r ins N e u e T e s t a m e n t , w o G o t t in Jesus C h r i s t u s die V e r f e h l u n g e n und Leiden der M e n s c h e n selbst auf sich n i m m t . Quellen Jan Assmann, Äg. Hymnen u. 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42
G e b e t III
tung des rel. Erlebens in der Psalmendichtung Israels, 1 9 2 6 ( B W A N T 3 6 ) . - Wolfgang Richter, Das Gelübde als theol. Rahmung der Jakobsüberlieferungen: B Z NF 11 ( 1 9 6 7 ) 2 1 - 5 2 . - Leonard Rost, Ein Psalmenproblem: T h L Z 93 ( 1 9 6 8 ) 2 4 1 - 2 4 6 . - Hans Schmidt, Art. Gebet. IIA. Gebet u. Gebetsriten in Israel und im nachexilischen Judentum: R G G 2 2 ( 1 9 2 8 ) 8 7 5 - 8 7 9 . - Willy Schottroff, Der altisraelit. Fluchspruch, 1 9 6 9 ( W M A N T 30) 1 6 5 - 1 6 7 . - Klaus Seybold, Das Gebet des Kranken im AT, 1 9 7 3 ( B W A N T 9 9 ) . - D e r s . , Reverenz u . G e b e t . Erwägungen zu der Wendung hilläpamm: Z A W 8 8 (1976) 2 - 1 6 . - W o l f r a m v. Soden, Art. Gebet II: RLA 3 ( 1 9 5 7 - 7 1 ) 1 6 0 - 1 7 0 . - Hans-Peter Stähli, Art. pll hitp. beten: T H A T 2 ( 1 9 7 6 ) 4 2 7 - 4 3 2 . - Johann J a k o b Stamm, Die akkadische Namengebung, 1 9 3 9 ( M V Ä G 44) = Darmstadt 1968. - Ders., Hebr. Ersatznamen: FS B. Landsberger, 1 9 6 5 (AS 16) 4 1 3 - 4 2 4 = ders., Beitr. zur hebr. u. altorientalischen Namenkunde, 1 9 8 0 ( O B O 30) 5 9 - 7 9 . - Ders., Ein Problem der altsemitischen Namengebung: Fourth World Congress of Jewish Studies. Papers, Jerusalem, 1 1 9 6 7 , 1 4 1 - 1 4 7 = ebd. 8 1 - 9 5 . - H e r m a n n Vorländer, Mein Gott. Die Vorstellungen vom persönlichen Gott im Alten Orient, 1 9 7 5 ( A O A T 23). - Adolf Wendel, Das freie Laiengebet im vorexilischen Israel, Leipzig 1932. - Claus Westermann, Die Begriffe für Fragen u. Suchen im AT: K u D 6 ( 1 9 6 0 ) 2 - 3 0 = Ders., Forschung am AT, II 1 9 7 4 (TB 55) 1 6 2 - 1 9 5 . - Ders., Art Gebet. II. Im AT: R G G 1 2 ( 1 9 5 8 ) 1 2 1 3 - 1 2 1 7 . - Ders., Das Loben Gottes in den Psalmen, Göttingen 1953 = " 1 9 6 8 . Ders., The Role of Lament in the Theology o f the O T : Interp. 28 ( 1 9 7 4 ) 2 0 - 3 8 = Die Rolle der Klage in der Theol. des AT: ders., Forschung am A T , II 1 9 7 4 (TB 55) 2 5 0 - 2 6 8 . - Ders., Struktur u. Gesch. der Klage im AT: Z A W 6 6 ( 1 9 5 4 ) 4 4 - 8 0 = ders., Forschung am AT, I 1 9 6 4 ( T B 24) 2 6 6 - 3 0 5 . - Geo Widengren, The Accadian and Hebrew Psalms of Lamentation as Religious Documents, Stockholm 1 9 3 7 . - Hans Walter Wolff, Der Aufruf zur Volksklage: Z A W 7 6 (1964) 4 8 - 6 5 . - Weitere Lit. -»Psalmen. Rainer Albertz III. J u d e n t u m 1. Quellen 2. Forschung 3. Struktur, Geschichte, Theologie 3.2. Sabbatliturgie 3.3. Feiertagsliturgie (Literatur S. 47) 1.
3.1. Der tägliche Gottesdienst
Quellen
J ü d i s c h e s Gebetsleben k o m m t v o r a l l e m in d e r Liturgie — in d e r S y n a g o g e u n d a m F a m i lientisch - z u m A u s d r u c k . D a h e r v e r m i t t e l n B e o b a c h t u n g e n ü b e r jüdische Liturgien, ihre E n t s t e h u n g u n d S o n d e r h e i t e n , den besten E i n d r u c k ü b e r Geist u n d F o r m jüdischen B e t e n s . Halachische Vorschriften und geschichtliche Entwicklungen ermöglichten Gebetsformen, deren Konsistenz und A u s s t r a h l u n g a u c h ins p r i v a t e Gebetsleben hinein a u ß e r o r d e n t l i c h s t a r k sind. Die Ausbildung der jüdischen G e m e i n d e l i t u r g i e b e g a n n bereits in biblischer Zeit. Die wichtigsten G r u n d l a g e n w u r d e n j e d o c h in t a n n a i t i s c h e r Z e i t gelegt. W e n n w i r die jüdische Liturgiegeschichte in ihrem W e r d e n u n d W a c h s e n g e n a u e r erfassen wollen, k ö n n e n w i r uns jedoch nur a u f eine relativ kleine A n z a h l mittelalterlicher B e r i c h t e stützen
(—»Gebet-
bücher). Die wichtigsten sind: 1) Gaonäische Responsen einschließlich Gebetbücher babylonischer Herkunft (ca. 7 5 0 - 1 0 5 0 ) , besonders der Seder Rav Amram (ca. 870) und der Siddür Saadja (ca. 9 2 0 ) . 2) Palästinische Quellen aus derselben Zeit: u.a. Geniza-Fragmente über Gottesdienstordnungen und der Massekhet Sofrim (ca. 750) u . a . J J Frühe westeuropäische Handbücher für das Gebet. Für Frankreich: der Mabzör Vitry und ¿ex Siddür Raschi (11. Jh.); für Italien: der Seder Hibbür Berakhöt (12. Jh.) und d i e S i b b o l e Haleket (13. Jh.); für Spanien: die Sac"re simha (11. Jh.) und Abudarham (14. Jh.); für die Provence: der Sefer Hammanhig (12. Jh.); für Deutschland: d e r S e f e r Haroqeah (12. Jh.), der 'Or Zaru'a (13. Jh.) und gesammelte Schriften von Schülern des R. Me'ir von Rothenberg (gest. 1 2 9 3 ) . 4) Rechtskodices des Spätmittelalters, besonders der des —.Mose ben Maimon, J a k o b ben Aschers 'Arba' Türim (14. Jh.), Joseph Karos —»Schulchan Aruk (16. Jh.) sowie Kommentatoren dieser Werke. 5) Kabbalistische Abhandlungen, wie jene von —»Isaak Lurias Schüler Chaim Vital (16. Jh.) und H-p Sene luhöt habberit von Isaia Horowitz (17. Jh.). Zusammenstellungen des verfügbaren Quellenmaterials wurden u. a. von Isaak Baer (Seder 'Avodat Jisra'el, 1885) besorgt, als mit der wissenschaftlichen Bearbeitung bereits begonnen worden war, besonders in der durch Leopold Zunz ( 1 7 9 4 - 1 8 8 6 ) am deutlichsten vertretenen Wissenschaftstradition. 2.
Forschung
Zwei Richtungen, die philologische und die formkritische, stehen sich hier gegenüber. Die philologische postuliert ein literarisches Modell, wonach Gebete in verschiedene textliche Schichten, die einst unabhängig voneinander existierten, zerlegbar seien. Folgende Fragen stehen dabei im Vordergrund:
Gebet III
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W a s ist d e r U r t e x t u n d w e s h a l b u n d w a n n w u r d e n s p ä t e r e S c h i c h t e n z u g e f ü g t ? D i e p h i l o l o g i s c h e R i c h tung hat viele h e r v o r r a g e n d e T h e o r i e n ü b e r das W e r d e n h e u t i g e r L i t u r g i e n h e r v o r g e b r a c h t . L e o p o l d Z u n z w a r d e r P i o n i e r ; b e d e u t e n d e s p ä t e r e F o r s c h e r w a r e n u. a. I s m a r E l b o g e n (gest. 1 9 4 3 ) u n d E . D a niel G o l d s c h m i d t ( g e s t . 1 9 7 3 ) . D e m g e g e n ü b e r h a b e n A . S p a n i e r u n d J o s e p h H e i n e m a n n die E x i s t e n z von U r t e x t e n b e s t r i t t e n . Sie e r k l ä r t e n , das p h i l o l o g i s c h e S t r e b e n n a c h e i n e m n i c h t v o r h a n d e n e n U r t e x t sei z u m S c h e i t e r n verurteilt. M i t i h r e r f o r m k r i t i s c h e n M e t h o d e s t i e ß e n sie a u f n e u e F r a g e n u n d A n t w o r ten. Sie w a r e n der A n s i c h t , die L i t u r g i e der ersten n a c h c h r i s t l i c h e n J a h r h u n d e r t e sei in der s p r a c h l i c h e n A u s g e s t a l t u n g n o c h n i c h t festgelegt g e w e s e n . D e m e n t s p r e c h e n d c h a r a k t e r i s i e r t e n sie dieselbe als frei (kawwanä) i n n e r h a l b der S t r u k t u r (qeva'). D a s h e i ß t : E i n e festgesetzte O r d n u n g v o n T h e m e n w u r d e d u r c h die v e r s c h i e d e n e n V o r b e t e r je v e r s c h i e d e n a u s g e f ü h r t . F o l g l i c h w u r d e im A n s c h l u ß an j e d e liturg i s c h e A n w e i s u n g eine t h e o r e t i s c h u n b e g r e n z t e Z a h l v o n s p o n t a n e n E n t w ü r f e n p r o d u z i e r t . E i n i g e v o n i h n e n b e s t a n d e n f o r t u n d w u r d e n zu k o n s t i t u i e r e n d e n G e b e t e n in b e s t e h e n d e n R i t e n . D i e M e h r z a h l kam wieder außer Gebrauch. F o r m k r i t i k e r w e r t e n also die L i t u r g i e w e s e n t l i c h als von A n f a n g an k r e a t i v . S t a t t einen n i c h t e x i s t e n t e n U r t e x t zu s u c h e n , stellen sie einen d i f f e r e n z i e r t e n F r a g e n k a t a l o g a u f . Sie a n a l y s i e r e n G e b e t e a u f g r u n d ihres Stils o d e r i h r e r F o r m u n d weisen v e r s c h i e d e n e F o r m e n v e r s c h i e d e n e n I n s t i t u t i o n e n d e r zur D e b a t t e s t e h e n d e n P e r i o d e zu, w i e d e m G e r i c h t s h o f , d e r S y n a g o g e , d e m T e m p e l o d e r den G e l e h r t e n g r e m i e n . G e b e t e w e r d e n aus der I n s t i t u t i o n , die sie w i d e r s p i e g e l n , e r k l ä r t : aus d e m T e m p e l k u l t , der V o r t r a g s w e i s e , den das G e b e t b e t r e f f e n d e n A u s d r u c k s w e i s e n eines G e r i c h t s h o f e s , d e m L e s e n d e r S c h r i f t seitens d e r S t a n d m a n n s c h a f t e n (macamad). L e t z t e r e b e s t a n d e n a u s L a i e n , die sich w ä h r e n d b e s t i m m t e r z u g e t e i l t e r W o c h e n z u m G e b e t t r a f e n , in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m Z e i t p u n k t des O p f e r s in J e r u s a l e m .
3. Struktur, Geschichte,
Theologie
Öffentliche liturgische Gottesdienste sind um einen Kern von täglichen Gebeten.herum aufgebaut. Sie wurden zuerst an —»Festen und Feiertagen ausgestaltet, um deren Gehalte darzustellen. Die normale tägliche Struktur erfordert drei Gottesdienste: den Morgen- {Sah^it), den Nachmittags- (Minhä) und den Abendgottesdienst (cArvit o d e r M a " r i v ) . In der Praxis werden Mirtha und Ma"riv meistens kombiniert: unmittelbar vor und nach dem Einbruch der Nacht. An Feiertagen wird zusammen mit dem Morgengebet ein zusätzliches Gebet ( M ü s ä f ) gesprochen. Am Versöhnungstag (ursprünglich an allen Fasttagen) wird ein abschließendes Gebet (N e c ilä) rezitiert. 3.1. Der tägliche Gottesdienst. Die zwei zentralen Gottesdienst-Einheiten, die in die Zeit vor 7 0 n. Chr. zurückreichen, sind dasS"ma c (Dtn 6 , 4 - 9 ; 1 1 , 1 3 - 2 1 ; Num 15,37—41) und seine Lobpreisungen (—»Benediktionen) und die T'fillä, „das Gebet" (bekannt auch als CAmidä [Standgebet] und S'möne cF.sre [Achtzehngebet]). Die Pflicht zur fortgesetzten qeri'at S'mac[Lesung desS'ma'] wurde aus Dtn 6 , 7 abgeleitet. Josephus kannte sie bereits als Teil des Gottesdienstes (vgl. Ant 4, 213). Das Lesen des S^ma* bildet einen Höhepunkt der Morgen- und Abendgottesdienste. Durch dieses grundlegende Credo wird die Einheit Gottes bekannt, der gemäß den drei begleitenden Lobpreisungen als Schöpfer (besonders der Trennung von Licht und Finsternis), Offenbarer der Tora (und so als liebender Erwähler Israels zu seinem Bundesvolk, —»Erwählung) und Erlöser (einst beim Auszug aus Ägypten und schließlich bei der Erlösung am Ende der Zeiten; —»Exodusmotiv) wirkt. DieTefillä folgt auf das Semac. Sie besteht aus einer bestimmten Reihe von Berakhöt (Benediktionen, Lobpreisungen, Segenssprüche). Die ersten drei Berakhöt, die letzten drei und die mittleren dreizehn bilden unter sich je eine Einheit. Die mittleren dreizehn bilden die Grundbitten der Liturgie. Die Entscheidung, die Berakhöt in dieser Reihenfolge festzulegen, wird Gamliel II. (ca. 90 n. Chr.) zugeschrieben. Vermutlich waren vor dieser Zeit verschiedene Segensspruchserien in Gebrauch; diese variierten bezüglich Inhalt und Zahl der Lobpreisungen. Wer hebr Sir 51 als authentischen liturgischen Abschnitt einschätzt, findet darin das älteste Beispiel. Eventuell ersetzte die geordnete Themenliste Gamliels II. die lokale Vielfalt. Darüber hinaus war in Babylonien die Bitte um den Wiederaufbau von Zion unter einem -^»Messias in zwei B'rakhöt aufgeteilt, so daß die „achtzehn" B'rakhöt in den traditionellen Riten neunzehn Segenssprüche bilden. Obwohl wesentlich Bittgebet, ist die Tefillä theologisch ähnlich relevant wie das vorher-
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gehende Semac. Der erste Segensspruch ('Avöt) bezeugt Gottes immerwährende Beziehung zu Israel seit den Tagen der Patriarchen, deren Gerechtigkeit ihre Nachkommen auf die messianische Befreiung hinweist. Der zweite (G'vüröt) feiert Gottes Macht, besonders seine Kraft, Tote zum Leben zu erwecken. Der dritte ist die O'dussat Hassem, bzw. die Heiligung des Namens (Gottes), allgemein bekannt als Qc'dussä; er bestätigt Gottes Heiligkeit (—»Trishagion). Die letzten drei Lobpreisungen, von einigen als vom Ritus des Tempelkults abhängig gesehen, fordern eine Wiederherstellung jenes Kultes (in messianischen Zeiten), bringen Gott Dankgebete dar und bitten um Frieden. Bezüglich der 13 mittleren Bitten ist man in der Forschung geteilter Meinung. Einige sehen einen Unterschied zwischen persönlichen und nationalen Bitten, während andere das durchgehende nationale Anliegen hervorheben. Nach letzteren drücken alle Segenssprüche die klassische jüdische Heilslehre aus. Zu Beginn stehe das Wissen über Gott, die Reue und die göttliche Vergebung; sie gipfele in der Sammlung der Exilierten, der Wiederherstellung der Gerechtigkeit, der Belohnung der Gerechten, der Bestrafung der Bösen und dem Wiederaufbau Zions unter messianischer Herrschaft. Nicht jede jüdische Liturgie enthält heute alle diese theologischen Aussagen. Besonders Reformjuden modifizieren einige traditionelle Positionen. Auch orthodoxe Kommentare wandeln bisweilen diese liturgischen Aussagen in Richtung auf eine zeitgemäße Glaubensaussage hin ab. Vor und nach Semac und Tefillä finden sich ursprünglich variable Gebetseinschübe. Anfangs folgten z. B. private Gebete auf dnsS'mac und seine Benediktionen. Als aber Gamliel II. die T'fillä an diese Stelle setzte, mußten diese weiter hinten Platz finden. Im 11. Jh. ( M a h z ö r Vitry) — teilweise auch schon im 9. Jh. ( A m r a m ) — wurden ursprünglich private Gebete zum festen Bestandteil der Liturgie. Ein bestimmtes privates Gebet, das bBer 17 a dem Mar, Sohn des Rabina (ca. 5 0 0 n. Chr.) zugeschrieben wird, wurde nun als vorbildlich angesehen. Ähnlich wurde die talmudische Notiz, man solle nach der T'fillä soviel beten, wie man möchte, und sogar ein volles Bekenntnis ablegen (vgl. bBer 3 1 a ) , später zu einer Reihe festgelegter Bitten um Erbarmen ( T a h a n ü n ) umgeformt. Darin wird Gott angefleht, er möge an seinem Volk trotz der wenigen guten Werke gnädig handeln. Daher fügt die heutige Liturgie im Anschluß an die T'fillä zuerst das sogenannte Privatgebet von Mar und dann den Tahanün hinzu. An Montagen und Donnerstagen folgt vor dem Schluß des Gottesdienstes eine Toralesung, eine Praxis, die nach traditioneller Auffassung Esra eingeführt hat. Schlußgebete, die einer gesonderten Betrachtung wert sind, sind das 'Alenü und das Qaddis. Im 'Alenü (2./3. Jh. n. Chr.) wird Gottes Herrschaft über alle und alles (Universalismus) mit seiner speziellen Erwählung Israels (Partikularismus) verbunden. Ursprünglich wurde es für Neujahr verfaßt: als Einleitung für den Moment des Blasens des Söfär, der Gottes Herrschaft feiert. Um 1 3 0 0 verlegte man es aber ans Ende jedes Gottesdienstes. Das Qaddis ist mit dem —»Vaterunser verwandt, obwohl es ursprünglich kein privates Gebet war. Es wurde jeweils als Abschluß des Studiums im Lehr- bzw. Midraschhaus gebetet. Im 8-/9. J h . brachte man das Qaddis mit dem Sterben jüdischer Menschen in Zusammenhang, und im 13./14. Jh. ist es für Österreich als „Gebet eines Trauernden" belegt. Als solches gilt es auch heute noch. Teilweise markiert es auch die Trennung zweier Gottesdienstabschnitte. Entsprechend den zunehmenden Erweiterungen des Gottesdienstes nach der T'fillä entstanden auch weitere einleitende Gebetsteile vor derselben. Vermutlich bereiteten sich bereits im 2. Jh. n. Chr. viele Juden mit Psalmengebet für das Gemeindegebet vor. Im 9 . / 1 0 . Jh. wurde diese Praxis — Psalmen wurden vor dem Semä gebetet — zur allgemeinen liturgischen Norm ipesüqedezimrä). Ihr Kern sind Ps 1 4 5 - 1 5 0 , denen e i n e B e r ä k h ä folgt, die man Birkat Has-sir nennt. Diese 6 Psalmen bilden das „tägliche Hallet", im Unterschied zum „Großen Hallel" (Ps 136) und zum „Ägyptischen Hallel" (Ps 1 1 3 - 1 1 8 ) . Die beiden letzteren sind im allgemeinen für Feiertage reserviert. Noch vor diesen einleitenden Psalmen fanden im Morgen-Gottesdienst die Birkhof Has-sahar Platz: verschiedene auf den Tagesanfang bezogene Segenssprüche, die ursprüng-
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lieh Teil der häuslichen Frömmigkeit waren. Bereits im Seder Rav Amram sind sie Teil des öffentlichen Gottesdienstes. Trotz weiterer jahrhundertelanger Kontroversen haben sie diesen Platz behalten. Die Birkhof Has-sahar setzen sich aus verschiedenen talmudisch belegten Morgenlobpreisungen zusammen (vgl. bBer 60 b) sowie aus Lernstoff über den Tempelkult. Der Nachmittagsgottesdienst besteht besonders aus Tjillä, 'Alenü und Qaddis. Den Abendgottesdienst kennzeichnet das nächtliche Semac mit einer zusätzlichen Lobpreisung (.Haskivenü), die für die Nacht göttlichen Schutz erbittet. Danach folgt die T"fillä, die ursprünglich freiwillig war, aber im 12. Jh. als obligatorisch betrachtet wurde (so Maimonides). Der Gottesdienst schließt mit 'Alenü und Qaddis. 3.2. Sabbatliturgie. Der oben umschriebene gottesdienstliche Grundbestand wird für spezielle Tage verändert. Verschiedene Worte und Sätze werden in Standardgebeten abgeändert. Ferner werden neue, zum speziellen Tag passende Inhalte hinzugefügt. D e r ^ S a b b a t wird im allgemeinen als Vorgeschmack der vollkommenen messianischen Zeit gewertet. Daher werden die 13 mittleren T7i7/ä-Benediktionen, die auf Mängel und Unvollkommenheiten hinweisen, durch eine einzige, die Heiligkeit des Tages bezeugende Benediktion (Qedussat Haj-jöm) ersetzt. Die Toralesung am Morgen wird durch eine Lesung aus den Propheten (Haftärä) ergänzt und die Tora wird am Sabbatnachmittag nochmals gelesen. Der Sabbat wird im jüdischen Haus, das als Ort jüdischer Frömmigkeit ebenso wichtig wie die Synagoge ist, durch den Qiddüs, eine angepaßteQ'dussat Haj-jöm, eingeleitet. Dieser ist mit dem Trinken von Wein und dem Entzünden der Kerzen verbunden. Beides reicht als Brauch mindestens in 1. Jh. n. Chr. zurück. Die Verbindung mit der Benediktion ist ab dem 9. Jh. n. Chr. belegt. Am Sabbat findet ferner die oben bereits erwähnte Müsäf-Liturgie statt sowie (seit dem 16. Jh.) die Begrüßung des Sabbat (Oabbalat Sabbat). Letztere hat ihren Platz zu Beginn des Gottesdienstes am Freitagabend. Ihre Wurzeln liegen in der kabbalistischen Theosophie, wonach die Schöpfung durch kontinuierlich voranschreitende Entwicklungsphasen göttlicher Emanation bestimmt wird. Die Gottheit wird als bisexuell geschildert; die männlichen und weiblichen Teile sind im Exil, sozusagen der eine vom anderen entfernt. In der Gottheit gibt es somit Entfremdungen, die unserer unerlösten und bruchstückhaften Welt entsprechen. Sabbat - als Vorgeschmack der Erlösung - bringt eine Vereinigung der göttlichen Präsenz zustande. Demgemäß wird im Qabbalat Sabbat-Gebet eine Gelegenheit ergriffen, nicht nur den Sabbat zu begrüßen, sondern — wichtiger—den weiblichen Aspekt Gottes, personifiziert als die Braut Sabbat. Die Liturgie nimmt durch die Rezitation von sechs Psalmen, die die ersten sechs Tage der Schöpfung versinnbildlichen, ihren Fortgang. Danach kommt der Sabbat und wird mit dem aus dem 16. Jh. stammenden Gedicht Lekha Dödi [„Der Braut entgegen, Freund, wohlan - Laßt froh den Sabbat uns empfahn"] begrüßt. Der männliche Teil Gottes wird eingeladen, seinen weiblichen Aspekt (bzw. seine Braut) als Vorbereitung für die göttliche Vereinigung zu empfangen. DieHavdalä [Trennung] am Sabbatausgang bezeugt die für das Judentum fundamentale Zweiteilung der Wirklichkeit in die Bereiche des Heiligen und des Profanen. 3.3. Feiertagsliturgic. Auch die Feiertagsliturgie erfuhr im Verlauf der Zeit beträchtliche Ausdehnungen (—>Feste und Feiertage). Sie unterscheidet sich von der Sabbatliturgie u.a. dadurch, daß sie reich an Piyyütim ist. Diese sind hochstilisierte Gedichte byzantinisch-palästinischer Dichter aus dem 4 . / 5 . - 7 . Jh. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, ob die Piyyütim als natürlich-kreativer Ausdruck - ähnlich der zeitgleichen byzantinischen kirchlichen Hymnendichtung - oder als jüdische Antwort auf Verfolgungen zu charakterisieren sind. Jedenfalls fanden einige von den etlichen tausend Piyyütim Eingang in die Liturgie von Feiertagen. Man benennt sie entsprechend ihrer poetischen Form und ihrem Platz in der Liturgie. Als wichtigste Piyyütim gelten jene, die zwischen einzelnen Berakhot der Tefillä eingereiht sind (O'rovöt). Die Stimmung eines Feiertags kann man teilweise aufgrund der Piyyütim, die seine Liturgie kennzeichnen, feststellen. Die drei Wallfahrtsfeste (Pesach, Wochenfest, Laubhüttenfest) erhielten in rabbinischer
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Gebet III
Zeit — gegenüber der biblischen Zeit — zusätzliche Werte und Gehalte. Das Laubhiittenfest (Sükköt) konzentriert sich (gemäß Lev 23, 40) von seinen Ursprüngen her um „die Hütte", um das Schwingen des Palmzweiges (Lülav) und das Nehmen der Zitrusfrucht ('Etrög). In mRHSh 1, 2 wird auch der Gedanke des Gerichts mit diesem Fest verbunden. In den Piyyutim Hösa'nöt, in denen Gott upi Rettung angefleht wird, wird dies reflektiert. Das Wochenfest (S"vücöt) feiert die Sinaioffenbarung; seine Piyyütim werden 'Azharöt genannt, weil sie Gebote aufzählen. DiePesafc-Liturgie besteht u.a. aus poetischen Ausgestaltungen, die sich auf den Exodus beziehen und aus einer zu Hause stattfindenden Seder-Zeremonie mit Haggada-Liturgie. Die Struktur dieser Hausliturgie stammt aus dem 1./2. Jh. n. Chr. Verschiedene Abschnitte sind jedoch mittelalterlich oder noch jüngeren Datums. Die Halbfeiertage Purim und Hanukka feiern Gottes befreiendes Einschreiten, wie es (für Purim) im Buch Esther erzählt wird und (für Hanukka) unter den Hasmonäern geschah. Sie sind liturgisch durch eine besondere T'/iV/ä-Einfügung gekennzeichnet, in der ein Dank „für die Wunder" (cAl han-nissim) ausgedrückt wird. An Purim wird die Estherrolle gelesen, eine Praxis, die seit dem Mittelalter parallel läuft zum Lesen der Klagelieder am neunten'Av, von -H>Kohelet an Sükköt, des —»Hoheliedes an Pesah und des Buchs —»Ruth am Wochenfest. Das häusliche Hanukka-Ritual, acht Tage lang Lichter zu entzünden, enthält alte Lobpreisungen, welche das Hanukka- Wunder bekennen und den Brauch vom göttlichen Befehl ableiten, obwohl der stützende biblische Beleg fehlt. Diese Lobpreisungen sind talmudisch (bShab 23 a). Die Lobpreisung über den göttlichen Befehl zur Entzündung der Lichter wurde von späteren Autoritäten als Vorbild für die Beräkhä über die Sabbatlichter benützt. Die Hohen Feiertage Rös has-sanä und Yotn Kippür enthalten bemerkenswerte Liturgien. Die Zeit dieser Feste ist die Zeit der gemeindlichen —»Buße vor Gott. Die zehn Tage zwischen den beiden Feiertagen sind Tage der Reue, und der zwischen beide Feiertage fallende Sabbat ist der Sabbat der Umkehr. Typisch für Rös has-sanä ist das Blasen des Söfar. Diese Zeremonie weist hin auf Gottes Herrschaft (Malkujjöt), sein fortwährendes Gedenken des Bundes mit Israel (zikhrönöt) und den Schofar klang (söfäröt), der die zwei höchsten Manifestationen des Bundes - Sinai und das messianische Ende der Zeit - in Erinnerung ruft. Von den vielen Rös has-sanä-Piyyütim verdienen zwei Erwähnung. Der majestätische und populäre „Un e tane Töqef", ein Teil einer längeren Qerövä in der Müsäf T'fillä, bekräftigt die Wohltat der Buße, des Gebetes und der Barmherzigkeit. 'Avinü Malkenü ist ein Bittgebet um Gnade trotz des Fehlens von guten Werken. Es entwickelte sich aus einem kurzen Gebet des R. —»Akiba um Regen. In der heutigen Form ist das 'Avinü Malkenü eine Litanei, welche im allgemeinen nach der Tefillä in der Zeit von Rös has-sanä bis Yom Kippür gebetet wird. Der Yom Kippür stellt den Höhepunkt der Bußzeit dar und wird dementsprechend gestaltet. Der Gottesdienst beginnt mit den Kol Nidre, einer aramäischen, juridisch-liturgischen Formel aus dem nachtalmudischen Palästina. Der Gaon Natronai kannte sie bereits in der Mitte des 9. Jh. Das Kol Nidre fängt mit einer Einleitung an, die Meir von Rothenberg (gest. 1293) zugeschrieben wird. Es ist berühmt wegen seiner Melodie, deren Klang und Rhythmus die älteste Art synagogaler Musik, die sogenannte Misinai [vom Sinai] Art, widerspiegelt. Diese entstand vom 12.—15. Jh. in Nordeuropa. In der Yom Kippür-Liturgie sind übrigens auch verschiedene Spezifika des Rös has-sanä-Gottesdienstes aufgenommen (z.B. das 'Avinü Malkenü und das Un'tane Töqef). Die Tefillä des Yom Kippür wird von einer kurzen und einer langen Form des gemeindlichen Bekenntnisses begleitet. In seinem Kern geht dieses auf die frühe Mischna-Zeit zurück. Der dafür gebrauchte Ausdruck Widdui bedeutet jedoch nicht nur Bekenntnis, sondern auch Aussage. Es geht also nicht nur um ein Bekenntnis von Sünde, sondern auch um ein Zu-sich-Kommen in der ganzen Haltung vor Gott im Lichte der eigenen Bundes-Verpflichtung (—»Buße). So schildert z. B. das Bekenntnis, das anläßlich der Abgabe des „zweiten Zehnten" gesprochen wird (mMSh 5 , 1 0 - 1 3 ) , einen Pilger, der die Erfüllung seiner gesamten Verantwortung beteuert und Gott anruft, er solle ihm als Bundespartnerin geeigneter Weise antworten, indem er für sein und seiner Familie Wohlbefinden sorge. Das Bekenntnis der Unterlassung von Bundes-Verpflichtungen ist a b e r - besonders am Yotn Kippür — ebenso angebracht. Eine feste Formel wurde damals durch den Hohepriester im
Gebet IV
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T e m p e l g e s p r o c h e n ( m Y o m 3, 8; 4 , 2; 6, 2). D i e S y n a g o g e b e v o r z u g t e j e d o c h p e r s o n a l e Bek e n n t n i s s e , die d u r c h e i n z e l n e s p o n t a n r e z i t i e r t w u r d e n — m i n d e s t e n s bis z u m E n d e d e r a m o r ä i s c h e n E p o c h e ( b Y o m 8 7 b). Bereits i m 8. J h . w a r j e d o c h — z u s ä t z l i c h zu j e d e m P r i v a t g e b e t , d a s m ö g l i c h e r w e i s e n o c h p r a k t i z i e r t w u r d e - ein e i n h e i t l i c h e s G e m e i n d e b e k e n n t n i s die N o r m . D e r M w s ä ^ - G o t t e s d i e n s t des Yom Kippür ist l i t u r g i s c h b e s o n d e r s r e i c h . Er e n t h ä l t die 'Auddä, e i n e l ä n g e r e p o e t i s c h e K o m p o s i t i o n , d i e d i e heilige G e s c h i c h t e v o n d e r S c h ö p f u n g bis z u r E i n f ü h r u n g des G o t t e s d i e n s t e s -n>Aarons u n d s e i n e r N a c h k o m m e n in E r i n n e r u n g ruft. D a n n wird der Tempelgottesdienst mit liebevoller A u s f ü h r l i c h k e i t — d u r c h reichliches E i n b e z i e h e n v o n E r e i g n i s s e n , auf d i e s c h o n d i e M i s c h n a B e z u g n i m m t — d a r g e s t e l l t . D a s Müsäf-Gebet e n t h ä l t f e r n e r e i n e n T e i l , d e r an d i e V e r s t o r b e n e n e r i n n e r t (Hazkarat N'samöt o d e r Yizk6r)\ er b e s t e h t a u s G e b e t e n , d i e in d e r M e m o r b u c h - T r a d i t i o n d e r N a c h k r e u z z u g s zeit Z e n t r a l e u r o p a s w u r z e l n u n d a u c h d i e C h m i e l n i t z k i - V e r f o l g u n g im P o l e n des 1 7 . J h . w i d e r s p i e g e l n . L i b e r a l e L i t u r g i e n (wie z. B. d i e a m e r i k a n i s c h e u n d e n g l i s c h e R e f o r m ) h a b e n die cAvödä des Y o m K i p p u r n o c h e r w e i t e r t . Sie v e r l ä n g e r t e n d i e S c h i l d e r u n g d e r h e i l i g e n G e s c h i c h t e bis in d i e G e g e n w a r t h i n e i n u n d f ü g t e n n o c h A u s b l i c k e in d i e Z u k u n f t h i n z u . H e u t e w i r d a u c h d e r H o l o k a u s t m i t e i n b e z o g e n . In e i n i g e n K r e i s e n w i r d d i e E r i n n e r u n g a n d e n H o l o k a u s t ( Y ö m Has-sö'ä) u n d a n d i e i h m f o l g e n d e G e b u r t d e s m o d e r n e n S t a a t e s Israel (Yom Ha'asma'ut) m i t einer e i g e n e n L i t u r g i e l e b e n d i g g e h a l t e n . 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Gebet IV
Spätestens seit der —»Aufklärung leidet die Rezeption der neutestamentlichen Aussagen über das Gebet darunter, daß der allgemein religiöse, im weiteren Sinne kultische und von Magie nicht streng trennbare, vielmehr mit dem Offenbarungsgeschehen selbst verbundene Charakter des Gebets verkannt wird. Statt dessen hat man die Gebetsparänese puristisch vereinseitigt (besonders die gegen das „Plappern" gerichtete), und ein durchaus „werkgerechter" Perfektionismus zeigt an, daß auch hier „Religion" durch „Ethik" ersetzt wurde. Hier ist vom Neuen Testament her zu korrigieren. Denn dort gilt: 1. Gebet ist ein nicht nur sprachlicher, sondern ganzheitlicher Ausdruck (Beziehung zu Zeiten und Orten, zu Waschen und Salben, zu Nahrungsaufnahme und Sexualität, zu Wahrnehmung und Bewegungen wie Kniebeugen, Niederfallen, Ausbreiten der Hände, An-die-Brust-Klopfen, Handauflegen und sogar zum Quantum des Schlafes). 2. Im Gegensatz zu uns gilt hier wie im Judentum noch die fundamentale anthropologische Voraussetzung, daß alles, was Seele (ipvxtf) oder Geist {nvev/ua) ist, damit zugleich auch eine Stimme (zum Beten) besitzt und umgekehrt. Daher kann das Blut der Märtyrer (als Träger der Seele) zu Gott um Rache flehen, daher betet der von Gott geschenkte Geist in den Christen (z.B. Gal 4,6), daher sind die Engel als TivEVfiara in ständiger Anbetung und daher ist überhaupt ständiges Beten ein Zeichen der Kräftigkeit des Geistes. Theologisch ist im folgenden besonders wichtig: 1. Das Gebet hat deutlich kultische Züge: Damit ist Gott nicht „ortlos", sondern ist in einer bestimmten „Welt", in der Gott und Mensch durch ein metaphorisches Koordinatensystem aufeinander bezogen sind. So ist Nähe Gottes im Christentum von Anfang an nicht nur zeitlich-eschatologisch, sondern auch räumlich verstanden: Die Berufung der Christen in diese Nähe Gottes macht ihr Leben zum ständigen Dienst vor Gott, dessen selbstverständlichste Äußerung das Gebet ist. Nur ein Christentum, das dieses bewahrt, kann theologische Kontinuität mit Israel konkret glaubhaft machen. —2. Gebet ist immer eng auf Gerechtigkeit/Rechtfertigung bezogen und ist nur unter dieser Bedingung (das Bußgebet ist ein Grenzfall, s. u.) auch wirksam: a) Nur so ist es automatisch wirksam, als Sprach-Handlung in besonderem Sinne („Magie" unterscheidet sich vom Gebet dadurch, daß sie die jeweils sozial unterlegenen Frömmigkeitsformen bezeichnet). b) Nur so ist es auch als Fürbitte (für andere, für Feinde, für den Staat) denkbar. Die Gerechten verwenden ihre Gerechtigkeit vor Gott für andere. In diesem Stellvertretungsgedanken liegt ein wichtiges ekklesiologisches Korrektiv individualistischer Frömmigkeit. — 3. Gegenüber der unmittelbaren Umgebung ist im frühen Christentum ein Zug besonders hervorgehoben: Alle sind nun Freunde Gottes, aller Gebet wird sicher erhört (nicht nur das der auserwählten Gerechten). Wo das Verhältnis zu Gott nach diesem Modell gedacht ist, wird es unnötig, sich auf die Berührung mit der himmlischen Welt durch Gebetsfasten oder Gebet als Aktion des Sünders vorzubereiten. Beide Traditionen bestehen im frühen Christentum — auch für Jesus — nebeneinander. In der Folgezeit und für uns kann das Modell der vertraulichen Freundschaft (in der auch Jesus als Gebets-Mittler überwunden wird) hilfreich und befreiend sein. 1. Gebet
im frühchristlichen
Alltagsleben
Kürze, Häufigkeit und formelhafte Verfestigungen (wie z.B. „Gott Dank", Rom 7 , 2 5 ; im Brief sind bezeugt für I Tim 4 , 4 f auch Krates 33, ed. Hercher 215) lassen Rückschlüsse zu: ?. Tischgebete (vgl. auch 4,3); Josephus, Bell 2 , 1 3 1 (vor und nach dem Essen; Gott als Spender des Lebens); Jub 2 2 , 6 ; EpArist 184—6; EvThom 6 (vgl. dazu Heinemann: J JS 13; Finkelstein). —2. Gebete zum Abschied bzw. bei der Testamentsgabe: Act 2 0 , 3 6 ; 2 1 , 5 ; ApkMos 5 (Gebet und Testament); slHen A 5 7 , 2 ; Jub 3 1 , 3 1 ; Josephus, Ant 1 , 2 6 8 . 2 7 0 . 2 7 2 . Bei der Aussendung: Act 13,3. Gehört auch Lk 2, 2 9 - 3 2 hierher? 3. Sündenbekenntnisse (ApkMos 32; JosAs 12; Parjer 8,4 [Hss.]; TestAbr A 14) und Bitten um Sündenvergebung: a) für sich selbst: Mt 6,12; Act 8 , 2 2 ; Philo, De Iona § 1 8 - 2 5 ; Parjer 8,4 (Hss.); kopt JerApokr (ed. Kuhn) 4: „Vergib mir, Herr, denn du weißt . . . " ; III Makk 2,19; Sir 2 1 , 1 ; 39,5; 11 Q Ps a PleaDeliv 13 f: „Vergib, Herr, meine Sünde, und reinige mich von Bosheit"; SiblV, 165 f; syrBar 84,10; JosAs 12,4.7. - Umkehr (jxExävoia) als Sitz im Leben: Act 8 , 2 2 ; ApokrEz (ed. Denis 123); kopt JerApokr 3; Philo, Imm 8; JosAs 11 —15. ¿>J für andere: Lk 2 3 , 3 4 ; Act 7,60; I J o h 5 , 1 6 ; Act 8,24; Josephus, Ant 6,128 (von der Sünde zu befreien); 11,144 (vergeben); TestRub 4,4; TestBenj 3,6 (nicht anrechnen); TestAbr A 1 4 (Michael und Abraham); koptHen (ed. Milik 103 f: nicht zählen der Menschen
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Sünden); Jakobus (Eusebius v. Caesarea, h.e. 2,23,6). - 4. Gebete für Israel haben typische Elemente: Erbarmen über das Volk, Vergebung „um der Erzväter willen", der Eid an die Erzväter, des Bundes gedenken (nicht aber der Ungerechtigkeiten), Israel als Erbe oder Weinberg, nicht ausliefern an Feinde oder: aus ihrer Hand erlösen (vgl. Lk l,54f.72f)- - 5. Bitten um das Kommen (Gottes, des Geistes, usw.): Mt 6,10; Lk 11,2 (Hss.: „Geist komme . . .", vgl. ActThom 27 und dazu Ott 112ff); das „Maranatha": I Kor 16,22; Apk 22,20; Did 10,6. - Josephus, Ant4,46 (vgl. III Makk 6,9 f). Zumpaganen (Piaton, leg. IV, 7 1 2 b ) und magischen Hintergrund vgl. Hamman: ANRW 23/2, 1244. - Lk 11,2 (Geistbitte vor Brotbitte) steht in Zusammenhang mit den späteren Mahl-Epiklesen. — 6. Bitten um „Erlösung" (oft:gvw) von Feinden oder bösen Menschen: Mt 6,13; Rom 15,31; Did 10,5 (vom Bösen); II Thess 3,2.3; Jub 12,19f; 23,24; Josephus, Ant 6,89; Testjos 4,8; JosAs 12,7.11; vgl. Flusser: IEJ 16, 198 f: Erlösen vom Satan und von bösen Menschen. - 7 . Gebete um Geburt eines Kindes-. Lk 1,13; Lib Ant 50,4; Josephus, Ant 1,228. -8. Sterbegebete: Lk 23,46; ApkMos 42 („nimm meinen Geist an"); topisch ist das Gebet des Märtyrers vor seinem Tod: II Chr 24,22; II Makk 6,30; II Apkjac 62f. 9. Bitte um Heil (Rettung; OMTtjgia): Rom 10,1 (für Juden); Phil 1,19; (Hebr5,7); Jak 5,14 f; Philo, De Iona 30; Josephus, Bell 7,67; Ant 11,17; Ap 2,196; TestLev 2,4; TestAbr A 1 4 . - 2 0. Wichtige Teilelemente: a) die Einfügung in Gottes Willen: Mt 6,10; Mk 14,36; Rom 1,10; b) Gott kennt den Beter ganz genau: Act 1,24; TestLev 2,3 (Zusatz: „Herr, du kennst alle Herzen"); LibAnt 50,4; koptjerApokr 4; Susanna 35 a; ApkSedr 16; c) Gott vermag alles: Mk 14,36; Eph 3,20; d) Bewahrung vor Versuchung: Mt 6,13; 1 l Q P s a 1 5 5 , l 1; koptEpistJak 4 , 2 8 - 3 0 ; vgl. Flusser: IEJ 16,198 f. - 11. Anreden: a) „mein Herr", „mein Gott", „mein höchster Gott": Joh 20,28; Mk 15,34; JosAs 12,7.12; Jub 12,19; oder: „Herr" (Act 7,60) und verdoppelt, wie auch sonst beim Anrufen von Personen (Act 9,4) in Mt 7,22; 25,11; b) „Vater" Weish 14,3; mit Ich-Stil Sir 23,1 („Herr, Vater").4; ApokrEz (ed. Denis 123: „Wenn ihr umkehrt und sagt: „Vater", werde ich euch erhören" = I Clem 8,3; NHC II/6, 1 3 5 , 2 9 - 1 3 6 , 4 ; s. auch koptJerApocr 3). In christlichen Texten: „Vater" (z.B. Lk 23,34), mit Ich-Stil in Mk 14,35; Joh 11,41; 12,27, als 'äbba'-Anrede (aramäische Gebetsworte sind auch in Amen, Halleluja, Maranatha usw. bewahrt worden [vgl. T R E 3,602 ff]: offensichtlich führte der häufige Gebrauch zu formelhafter Festigkeit) in Mk 14,35; Gal 4,6; Rom 8,15. - Sir 23,1.4 zeigt ebenso wie Gal 4; Rom 8, daß diese Anrede weder für Jesus allein typisch ist noch (von Paulus) als solche empfunden wurde (vgl. auch die Anrede 'abi [„mein Vater"] in Sifra Lev 20,26; MekhY Ex 20,6). Die Uberbetonung bei Jeremias (z. B. Abba) hat vielmehr den Grund, daß man angesichts exegetischer Kritik und liberaler Jesusforschung wenigstens und nur aus den sog. „ipsissima verba" meint theologische Aussagen von Gewicht ableiten zu dürfen (zur Vater-Anrede in paganen Gebeten vgl. Hamman: ANRW 2 3 / 2 , 1 2 3 3 f ) . 12. Der Rekurs auf Gottes Taten in der Einleitung: Act 4,24; Jub 10,3. -13. Zu den täglichen Gebeten gehörte wohl bereits früh das —>Vaterunser (Mt 6 , 9 - 1 3 ; Lk 1 1 , 2 - 4 ; vgl. Did 8,3). Ein typisches Gemeindegebet ist I Clem 5 9 - 6 1 erhalten, während Gebete wie Act 4 , 2 4 - 3 0 ; Mt 11,25 f mit Lk 10,21; Joh 17 primär literarischer Absicht ihre Gestalt verdanken (Gebete markieren wichtige Wendepunkte in der Erzählung auch im Judentum). Nicht zu vergessen ist die Rolle des Psalters (vgl. Mk 15,34; Mt 27,46; Act 4,25 f; Apk 15,3 f [Ps 86,9 f]). Zur Bedeutung und Eigenart der täglichen Gebete im Judentum zur Zeit des NT vgl. jetzt besonders die große Sammlung 4 Q 5 0 3 . 2. Gebet
als Kontakt
mit der himmlischen
Welt
An den ausgebauten Szenen in den erzählenden Gattungen wird erkennbar, daß das Gebet Teil eines komplexen Geschehens ist, innerhalb dessen der Beter in den Aktionsraum Gottes und seiner Engel eintritt. Daher kann Gebet für den Kontakt mit Gott überhaupt stehen (Act 2 , 2 1 ; in der Funktion des Hauptgebotes vor der „ L i e b e " I Petr 4 , 7 ; im Gegensatz zum Anbeten der Götzen: J u b und slHen). — Daß das Gebet den Beter aus der irdischen Szenerie heraushebt, wird an folgendem deutlich: 2.1. Das Gebet bereitet das Wunder vor: Mk 7 , 3 4 (zum Stöhnen s.u.); Act 9 , 4 0 (Petrus/Tabitha); 1 2 , 5 ; 1 6 , 2 5 f ; 2 8 , 8 . Die Vorlage für Joh 1 1 , 4 1 ist I Reg 1 8 , 3 6 f : Die „Redaktion" durch den Evangelisten betont Typisches: Vater-Anrede, Dank statt Bitte, Glaube an das Gesandtsein statt „erkennen, daß du der Gott Israels bist und ich dein Sklave" (vgl. armenElia: „damit dieses Volk erkennt, daß du allein der wahre Gott bist"; Josephus, Ant 8,342: Sichtbarmachen der Macht). Rezipiert wird der Stoff in weiteren Toten-Erweckungsgebeten (ActPhil 84: „wegen des dabeistehenden Volkes"; Act Petr 28: praesentibus istis omnibus; ActThom 30: „zeige deine Herrlichkeit"; vgl. auch Actjoh 75). Ferner: Act 4 , ( 2 4 - ) 3 0 / 3 1 (dazu: die Erschütterung der Welt nach Moses Gebet in M o r t M o s , ed. Gfroerer); TestAbr A 18 (Auferweckung); Josephus, Bell 4 , 4 6 4 (gegen Vor-
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Gebet IV
läge II Reg 2,19—22: magische Praktiken und Gebet bei Umwandlung der Quelle); Ant 2,275 (Bitte um Wunderkraft und Kenntnis des Namens); 8,237.342 (Kraft offenbar); 9,23; 10,29; lQGenApokr 20, 21 f. Gebet um Kraft: Josephus, Ant 9,8; 8,342; Oratio Iacobi: Pap. Graec. Mag. 2,148 f; TestLev Zusatz 2,3 (8); Actjoh 82; ActPhil 18 f. 23.39. -Wichtig ist das Prophetenwunder in VitProph Ezechiel: ôià JiQootv-/flÇ aùro//«rFrau einen b e s o n d e r e n Schutz gegen widrige
Engel (die den W e g
versperren) nötig: D e r Schleier h a t , wie überall, so a u c h hier a p o t r o p ä i s c h e F u n k t i o n . V e r w a n d t ist o f f e n b a r : 2 . 6 . Das Gebet
als Kampf
bei Gott.
N i c h t vorschnell zu h a r m o n i s i e r e n ist die Auffas-
sung ü b e r den B e t e r , d e r ( m i t Streitgefährten) bei G o t t u m sein Anliegen k ä m p f t u n d d a z u m i t einer p n e u m a t i s c h e n R ü s t u n g a n g e t a n ist R o m 1 5 , 3 0 ( m i t s t r e i t e n n g d g r ö v Oeöv); II K o r 1 , 1 1 ; E p h 6 , 1 4 - 1 7 ( W a f f e n r ü s t u n g ) : S c h w e r t des Geistes, w e l c h e s ist W o r t G o t t e s d u r c h alle A n b e t u n g u n d Bitte (vgl. d a z u M o r t M o s , ed. G f r o e r e r 5 1 5 : die G e b e t e des M o s e w a r e n „gleich einem S c h w e r t , d a s alles s c h n e i d e t " ) ; K o l 4 , 1 2 ; Philo, D e I o n a 3 0 (ringen); vgl. a u c h die „ U n v e r s c h ä m t h e i t " L k 1 1 , 8 . 2 . 7 . A u c h die vielfältigen Antworten a u f d a s G e b e t spielen im R a u m G o t t e s : a) Gott läßt mitteilen, daß das Gebet erhört worden ist: Dan 1 0 , ( 5 ) . 1 2 (ein Mann: „seitdem du dich gedemütigt hast, wurde dein Wort gehört"); Lk 1 , 1 0 / 1 3 (Engel: „dein Gebet wurde erhört"); Act 1 0 , 3 f (Engel Gottes: Gebete und Almosen stiegen auf zum Gedenken); 1 0 , 3 0 f (ein Mann: „erhört wurde dein Gebet"); JosAs 15,2 (Engel: „siehe, ich habe gehört alle Worte deines Betens"); Josephus, Ant 8 , 1 2 5 (Traum: Gott habe das Gebet erhört); 9,9 (Seher: Gott habe die Gebete erhört); 1 0 , 1 6 (Jesaja: Gott habe das Gebet erhört); VitAd 9 (Satan als Engel: „ G o t t hat euer Stöhnen gehört und eure Buße angenommen"); TestLev 4 , 2 (Engel: Gebet erhört; Trennung vom Unrecht; Sohn und Diener). b) Antwort durch Gottes Stimme-, Joh 1 2 , 2 8 f: die „Stimme" antwortet auf Jesu Bitte um Verherrlichung; das Volk meint, ein Engel (s.o.) oder ein Donner (vgl. Sir 4 6 , 1 6 f : Samuel rief den Herrn an/Donner und Stimme Gottes) habe geredet; J u b 1 2 , 1 9 - 2 4 (Stimme des Herrn durch Engel); J u b 1 0 , 3 - 6 (Gebet). 7.9 (Antwort). 10 (Auftrag an Engel); koptJerApokr 4 (Gebet/Gott antwortet). - Die Antwort auf ein Bußgebet ist die Mitteilung der Sündenvergebung in TestAbr A 14 („ich vergebe dir die Sünde"); J u b 4 1 , 2 4 (Engel im Traum: ihm werde vergeben), —c) Auf das Gebet hin sendet Gott Engel, die das Erbetene ausführen: M t 2 6 , 5 3 (den Vater bitten/zwölf Legionen Engel); Parjer 6,1 f (Gebet/Engel des Herrn kommt und bringt ihn); 6 , 1 1 (Gebet Baruchs/Engel kommt).15; TestSal 2 , 7 ; ApkAbr 10 ff (Gebet/Opfer/Vision); koptJerApokr 15 (Gott erhört das Gebet des Jeremia sofort und sendet Michael); Gebet des R. Simeon b. Johai (Wünsche ebd.); ApkMos 3 2 ; grBar 4 , 1 3 - 1 5 (Gebet/Gott sendet Sarasael). - d) Einfache Schilderung der Erhörung-. Act 1 , 2 4 - 2 6 ; 8 , 1 5 - 1 7 ; Sir 4 6 , 1 6 £ ; 4 7 , 5 ; Weish 7,7; PsSal 6,5 (Salomo bat: der Herr erhörte sein Gebet).
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Gebet IV
Alle diese Texte gewinnen Bedeutung, wenn man bedenkt, daß so die Weise formuliert wird, in der Mensch und Gott gemeinsam in der Geschichte „vorkommen": Gebet ist der Anteil des Menschen als das durchaus wirksame Wort des Gerechten innerhalb der Weltsicht apokalyptischer Textgattungen, die im übrigen alles von Gott erwarten. 3. Gebet als kultische
Aktion
3.1. Gebet als sakrale Sprache. Da Gottes Bereich als Heiligtum gedacht wird, ist Gebet sakrale Sprache und damit durch ein besonderes Verhältnis von Wort und Wirklichkeit ausgezeichnet; es steht in direkter N ä h e zu Fluch und Segen (z.B. Mt 19,13; Jub 31,31; Josephus, Ant 1,42; 4,306), so daß der, der das „Falsche" betet, gesteinigt wird (Josephus, Ant 14,22f), und es hat konsekrierenden Charakter (I Tim 4,4f). Als sakrale Sprache bewirkt Gebet das, was der Sprecher sagt — freilich unter der einen Bedingung, daß er „gerecht" und kultfähig ist, und um diese Bedingungen der Gebetserhörung geht es immer wieder. Wie sehr Gebet kultische Aktion ist, wird daran deutlich, daß zwischen Gebet und —»Gelübde terminologisch nicht unterschieden wird (der Beter verspricht Gott etwas dafür, daß er ihn erhört: Act 18,18; 21,23). 3.2. Gebet und Opfer. Hier wird oft eine enge Beziehung gesehen: a) Gebet als Teil des Opfers: Apk 8,3; Philo, I m m 8 (beten und opfern); P a r j e r 9,2 f (opfern u n d beten); A p k A b r 17 ( „ n i m m an mein Gebet . . . ebenso auch das O p f e r " ) ; Josephus, Ant 1, 9 6 - 9 8 (Gebet u m A n n a h m e des Opfers); 8 , 3 3 9 (opfern und die Götter anrufen); 16,55 (vollkommene Opfer - vollk o m m e n e Gebete); slHen A 2,2; k o p t J e r A p o k r 13. — b) Gebete werden dargebracht wie/als O p f e r : Ps 140,2 (wie Weihrauch) H e b r 5,7; Josephus, Bell 3 , 3 5 3 ; Ant 3,189; 8,108 („die Gebete opfernd schikken wir sie in die Luft"); Const. Apost. 7 , 3 7 („durch Christus dargebracht im G e i s t " ) . - c ) Gebet ist Teil H e b r 5,7; Josephus, Ant 3,189. - d) Das Gebet wird „angenomder O p f e r g a b e des Hohenpriesters: men" (wie ein Opfer): I T i m 2 , 1 - 3 ; Ps 140,2 L X X ; VitAd 9 (suscepit); ApkAbr 17 (Gebet annehmen); Josephus, Ant 3 , 1 9 1 ; Const. Apost. 7, 37. - e) das Gebet steigt auf vor Gott (wie O p f e r d u f t ) : Act 10,4; LibAnt 5 0 , 4 (ascendat oratio mea in conspectu tuo hodie); Josephus, Ant 8,108 (in die Luft senden); ä t h H e n 9,10 (Geseufze ist emporgestiegen); 47,1 f; Herrn m a n d 10,3,2 (aufsteigen zu Gottes Altar); Philo, De Iona 18. - f ) Das Gebet „tritt ein vor Gott": syrTestAd (10. Stunde): Ö f f n u n g des Himmelstores, damit die Gebete eintreten k ö n n e n ; M o r t M o s (ed. Gfroerer 323): Schließung der Himmelspforten, u m den Aufstieg des Gebets des M o s e zu verhindern, —g) Das Gebet hat Sühnefunktion (Sib 4 , 1 6 6 : „Sühnt mit Lobpreisungen die Gottlosigkeit") u n d engen Bezug zur Sündenvergebung (s.o.).
3.3. Bedingungen für Gebetserhörung. Insbesondere setzt das Gebet Kultfähigkeit (Vorbereitung: Sir 18,23) und Reinheit (unvereinbar mit Geschlechtsverkehr: I Kor 7,5; Sextus, Sent. 81) voraus, um wirksam werden zu können, und wie beim Opfer werden diese Bedingungen auch moralisch verstanden: I Tim 2,8 (zum Gebet heilige H ä n d e o h n e Z o r n u n d Streit); I Petr 3,7 (Ehren der Frau als Bedingung für die Fruchtbarkeit des Gebets); Philo, De Iona 11 (Gebet durch Sünden vereitelt); Imm 8 (Reinheit äußerlich und an der Seele als/xerävoia)- y Reinheit z u m Beten durch Besitzverzicht: Sextus, Sent. 81.
Vor anderem aber ist Bedingung, daß man dem Bruder vergeben hat (Mk 11,25; M t 6,12.14—15; vgl. auch hier wieder die Analogie zum Opfer: Mt 5,23 f; syrDidask 11: „verzeih dem Bruder, und wenn du es um deines Bruders willen nicht tun magst, so . . . tue es wenigstens um deiner selbst willen, damit du erhört wirst, wenn du betest, und ein angenehmes Opfer dem Herrn darbringst"). M t 6,14f folgt direkt auf das Vaterunser, weil ohne diese Bedingung das ganze Gebet nicht erhört würde; Denkvoraussetzung ist: Durch Nachahmung Gottes (gerade in dem Punkt, der für ihn typisch ist und den man von ihm erwartet) ist man ihm ähnlich und damit überhaupt „gesprächsfähig" (in Rom 8 wird dasselbe Problem durch den Geistbesitz der Christen gelöst); vgl. zu „Ähnlichkeit" im gleichen Kontext M t 5,45—48. So muß man dem Partner tun, was man von Gott selbst erwartet. Weitere Bedingungen für die Erhörung (im Z u s a m m e n h a n g der Zusicherung sicherer Gebetserhörung) s i n d : a j Glauben (Mk 11,24; J a k 1,5 f; 5,15; J u d 20); b) Einigkeit in der Gemeinde (Mt 1 8 , 1 9 f ; besteht zwischen Einsinnigkeit und Dem-Bruder-Vergeben ein Zusammenhang?); c) christliche Werke im allgemeinen (Joh 15,7: Bleiben u n d Bewahren der W o r t e ; 15,16: bleibende Frucht bringen; I Joh 3,22: Gebote bewahren und Gott Gefälliges tun; d) Umkehr (ApokrEz, ed. Denis 123) o d e r Aufgeben
Gebet IV
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des Ehebruchs ( 1 Q G e n A p o k r 2 0 , 2 2 : Abraham kann nicht für den König beten, während Sara mit ihm ist); c) ISeten im Namen Jesu (Joh 1 4 , 1 3 f ; 1 5 , 1 6 ; 1 6 , 2 3 . 2 6 f ) .
3.4. Gebet als himmlischer Kult. Wesentlicher Teil des (himmlischen) Kultes ist das Gebet auch nach Apk 8,3 f: Der Engel bringt Kohlenbrand vom Brandopferaltar zum Rauchopferaltar und bringt so Räucherwerk und Gebete zum Brennen und Aufsteigen vor Gott; von demselben Feuer wirft der Engel auch auf die Erde, so daß das Gebet der Christen mit dem Ursprung der Strafe für die Erde in engem Zusammenhang steht. Von Engeln als Gebetsopferdienern sprechen verwandte T e x t e in unterschiedlichem Sinn: a) Engel als Fürbitter für Menschen (Mt 1 8 , 1 0 ; VitAd 9 [rogavimus pro vobis]-, Sach 1 , 1 2 ; äthHen 15,2; 4 0 , 6 ; 1 0 4 , 1 ) . - £ > J Engel bringen die Gebete der Menschen dar: Apk 5 , 8 ; Hen 9 , 3 ; slLeiterJak 5 : Engel schütten Gebete vor G o t t aus für Israels Befreiung; armenApkPaulus: Michael und Gabriel bringen Gebete der Menschen vor G o t t ; besonders: T o b 1 2 , 1 2 f: „Als du betetest, . . . brachte ich euer Gebetsopfer vor den Heiligen"; 1 2 , 1 5 ; vgl. auch S h e m R 2 1 , 4 ; b H a g 1 3 b und imSupplices des römischen M e ß k a n o n s :
Jube haec perferri per manus saneti angeli tui in sublime altare tuum. Ähnlich bringen die Engel auch gute Werke vor Gott.
3.5. Gebet, Blut, Naherwartung. Eine besondere Verbindung besteht zwischen Gebet und -^»Blut: Beides sühnt und kann deshalb vom Gerechten stellvertretend und auch für seine Feinde (Mt 5,44; Rom 5 , 6 - 8 ) eingesetzt werden. Beides (Märtyrerblut und Gebet um baldiges Kommen Gottes) ruft zu Gott um Rache. Zudem stehen wir hier an einer der Wurzeln der Naherwartung im frühen Christentum: Gott wird alsbald reagieren, weil zwei neue Faktoren da sind: Gebete der Gerechten und vergossenes Blut (Jesu und der Märtyrer). Die Einheit dieser Vorstellungen liegt darin, daß das Blut Träger der Seele ist und deshalb rufen und beten kann (Konvergenz von Seele und Stimme, s.o.). So begegnet die Verbindung B l u t - Gebet - baldiges Gericht in Apk 6 , 1 0 f . l 7 ; II M a k k 8 , 2 - 4 ; äthHen 4 7 , 1 - 4 (das Gebet der Gerechten und ihr Blut steigt auf vor G o t t . Heilige bitten G o t t deswegen, daß dies nicht vergeblich sein möge und der Verzug des Gerichtes nicht ewig dauere. Ankündigung des Gerichtes: Die Zahl ist nahe [vgl. Apk 6 , 1 1 ] , das Gebet erhört, und das Gericht k o m m t ) ; H e b r 1 2 , 2 3 - 2 9 , bes. 2 4 (Blut Abels/Jesu ruft: Gericht); äthHen 9 f (Blut vergossen; Seelen klagen; Engel beten; Uriel offenbart das Ende). - In fast allen Texten geht es um das baldige Kommen des Gerichtes („Wie lange . . . ? " , „ V e r z u g " , „in Kürze"). Zum Hintergrund dieser Konzeption: a) G o t t reagiert schnell auf vergossenes Blut: Gebetsinschrift von Rheneia auf Delos (CIJ I, 7 2 5 ) „damit du rächst das unschuldige Blut [und] die Rache suchst aufs schnellste"; in Verbindung mit der Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten ( M t 2 3 , 3 4 - 3 6 : Gericht noch in dieser Generation), — b) Blut schreit und betet, G o t t rächt: Hi 2 4 , 1 2 ; J u b 4 , 3 ; äthHen 2 2 , 5 - 7 . -c) Gebet um Gottes baldiges K o m m e n ( P s 7 9 , 5 ; Hen 9 7 , 5 ; IV Esr 6 , 5 9 ; 4 , 3 5 f; besonders Lk 1 8 , 7 - 8 : Rächung der Gerechten aufgrund des Gebets in Kürze; äthHen 9 7 , 5 : Gebet der Gerechten dringt zum Herrn; die T a g e des Gerichtes werden dann „ ü b e r r a s c h e n " ) . Hierzu finden sich zahlreiche Analogien in der paganen Magie: Sowohl die Bitte um das Kommen (èXdé) als auch das „sehr b a l d " (raxv, jây iaza ) sind technische Begriffe magischer T e x t e (vgl. Pap. Graec. M a g . passim und auch H a m m a n : A N R W 2 3 / 2 , 1 2 3 0 f : „Prières imprécatoires et magiques"); zur Schnelle auch: Hebr 1 3 , 1 8 f; Josephus, Ant 3 , 2 5 .
3.6. Gebet und Tempel. Wie der —»Tempel Ort des Kultes ist, so ist er auch Ort des Gebets, auch im frühen Christentum (Lk 1,10; 2 , 3 7 ; 18,10; Act 3,1; 2 2 , 1 7 ; vgl. Josephus, Ant 3,100; 9,8; 10,29; Ap 1,209). So heißt er „Haus des Gebets" (koptJerApokr 27: „O Haus des Gebets, welches zum Tempel der Götzen wurde: Gott dieses Hauses, Vater der Güte") und wird gerade für diesen Zweck (Lk 19,46) nunmehr für alle Völker (Mk 11,17; Mt 21,13), nämlich auch in bezug auf den Vorhof der Heiden, durch Jesus bestimmt. Weil jetzt auch die Heiden rein sind und anbeten werden, stellt. Jesus den kultischen Charakter dieses Hofes wieder her. - Wenn alles im Tempel vornehmlich als Gebet aufgefaßt wird, erklärt sich, warum Opferschalen „Schalen des Gebets" heißen (vgl. Apk 5,8 mit koptJerApokr 13: „Gebetsschalen") und weshalb überhaupt das Bethaus Ersatz des Tempels und kultischer Mittelpunkt des Diasporajudentums werden konnte (Hengel). Begreiflich wird auch, weshalb Lukas wie kein anderer neutestamentlicher Autor jüdische Gebetstraditionen aufnimmt und das Gebet Jesu wie der Gemeinde überall so stark betont, denn hier liegt für ihn der Schlüssel der Kontinuität von Judentum und Christentum. Durch das Gebet wird für ihn die alles entscheidende Verbindung mit dem jüdischen Tempel praktisch realisiert (vgl. die
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Gebet IV
o b e n g e n a n n t e n Stellen u n d bes. A c t 2 2 , 1 7 an d e r S c h w e l l e z u r H e i d e n m i s s i o n ) . N a c h J o s e p h u s , A p 1 , 2 0 9 h e i ß t es v o n d e n S y n a g o g e n , d a ß die J u d e n a m S a b b a t ev r o i g iegoig
die
H ä n d e a u s b r e i t e t e n u n d bis z u m A b e n d b e t e t e n . Das ausgeprägte Interesse des Lukas an Gebet und Lobpreis der Christen ist an der Verwendung von do^ä^eiv und cir/agioTitv erkennbar. Gebet ist für ihn die fortwährende Aktualisierung der Heilserfahrung nach Ostern, die eigentliche Fortsetzung des Kontaktes Jesu mit Gott. Von daher ist Jesus (mit den Aposteln) lebendes Vorbild für die Gemeinde, ist das Gebet die Vorbereitung auf die Parusie (Lk 2 1 , 3 6 ; 1 8 , 1 - 8 nach 1 7 , 2 0 f f ) und stellt es die Einheit und Wirklichkeit der Gemeinde dar (Act l , 1 4 f ; 2 , 4 6 f; 12,5), insbesondere in der Situation der Märtyrerkirche. So ist das Gebet im ganzen Ausdruck des neuen Verhältnisses zu G o t t mit allen seinen Konsequenzen (daher auch in Lk 1 8 , 7 Ausdruck des Erwähltseins). - Besondere Beachtung verdient der Lobpreis bei Lukas: Er findet sich zunächst überwiegend in den Wunderberichten aus dem Sondergut, in Act dann aber auch sehr häufig als Reaktion auf die Hinzunahme der Heiden im Wirken des Paulus, welche so als das „neue W u n d e r " gekennzeichnet wird. Aber auch schon in L k 5 , 1 2 - 2 6 ; 7 , 1 - 1 7 ; 1 3 , 1 0 - 1 7 ; 1 7 , 1 5 f; 1 8 , 4 3 u n d 1 9 , 3 7 f w i r d d e r Lobpreis nicht nur zur Komposition eingesetzt (in Kap. 5 und 7 als Zusammenbinden von Wunderberichten), sondern dient bereits dem T h e m a Juden/Heiden (so sicher in Kap. 7: todkranker Heide/toter Jude; Kap. 13: VerStockung der Autoritäten Israels; Kap. 17: der von Juden verachtete Samaritaner dankt; Kap. 18 f: Lobpreis bei messianischen Aktivitäten Jesu). 3.7.
Gebet,
Fasten,
Almosen.
A n d e r e r s e i t s w i r d i m J u d e n t u m w i e im f r ü h e n C h r i s t e n -
t u m G e b e t i m m e r n e b e n - ^ . F a s t e n u n d A l m o s e n als die K u l t a r t g e n a n n t , die i h r e m W e s e n n a c h a n P r i e s t e r u n d den T e m p e l v o n J e r u s a l e m n i c h t s t r e n g g e b u n d e n ist: Dabei ist Fasten zunächst Vorbereitung oder Begleitung des Gebetes und entspricht damit dem Fasten vor und während der Visionen als menschlicher „ B e i t r a g " bei der Begegnung mit der himmlischen Welt: M t 1 7 , 2 1 ; Lk 2 , 3 7 ; 5 , 3 3 von den Johannesjüngern und den Pharisäern im Gegensatz zu Jesu Jüngern, vgl. dazu auch E v T h o m 1 0 4 : Die Notwendigkeit von Beten und Fasten (als zwei Teilen einer Übung) wird von Jesus oder von einigen seiner Jünger als M e r k m a l des Sünders bzw. der Buße (vgl. M k 2 , 2 0 : vor dem Gericht) abgelehnt. Denn Jesus ist nicht Sünder und bedarf dessen nicht. Durch Gebet und Fasten muß der nicht in Gottes Bereich erst eintreten, der diesen Kontakt viel unmittelbarer hat. Doch ergeben sich zu M t 4 , 2 beträchtliche überlieferungsgeschichtliche Spannungen, die hier nicht auszugleichen sind. - Die Gemeinde jedenfalls praktiziert Beten und Fasten: vgl. Act 1 3 , 2 f; 1 4 , 2 3 ; 1 0 , 9 f (Vorbereitung der Epiphanie). - J u d e n t u m : hebrHen 15 B (Mose fastet vor dem Gebet für Israel); Josephus, Ant 6 , 2 2 ; 1 1 , 1 3 4 ; T e s t j o s 4 , 8 ; 1 0 , 1 ; TestBenj 1,4; Gebet des R . Simeon b. J o h a i (Wünsche, a . a . O . 1 6 5 : Fasten/Gebet/Vision). - Später verselbständigt sich Fasten weitgehend: M t 6 , 1 6 - 1 8 ; Lk 1 8 , 1 0 . 1 2 ; Did 1,3 (Fasten für Verfolger); Testisaak 4 , 8 ; ö d e r e s bezeichnet eine bestimmte Art des Betens, vielleicht eben jene, die Jesus - im Unterschied zu anderen Arten - nach Lk 5 , 3 3 ; EvThom 1 0 4 nicht praktiziert. - Z u r Verbindung mit Almosen: M t 6 , 2 - 1 8 ; E v T h o m 6; 14; kopt. Anon. Apk (ed. Steindorff 5 2 - 5 5 ) ; T o b 1 2 , 8 ; II Clem 16,4. In T e s t J u d 1 9 , 2 steht Gebet neben Umkehr und Demütigung. S o w i r d in I P e t r 4 , 7 — 9 d a s G e b e t (als n ä c h s t l i e g e n d e F o l g e r u n g a u s d e m n a h e n E n d e ) z u e r s t d u r c h L i e b e e r s e t z t , d e n n , s o h e i ß t es: „ L i e b e d e c k t S ü n d e n z u " u n d ist d a r i n , s o w ä r e z u e r g ä n z e n , d e m G e b e t f u n k t i o n s g l e i c h . D i e s e L i e b e w i r d d a n n als G a s t f r e u n d s c h a f t p r ä z i siert. S o w i r d a m E n d e — a u f d e m W e g ü b e r t r a d i t i o n e l l e A u f f a s s u n g e n ü b e r d a s G e b e t —die G a s t f r e u n d s c h a f t die a u s d e r N a h e r w a r t u n g r e s u l t i e r e n d e K o n s e q u e n z . 3.8.
Gebet
und Stellvertretung.
K u l t i s c h ist d a s G e b e t a u c h in d e r G e l t u n g d e r K a t e g o r i e
d e r S t e l l v e r t r e t u n g (in p r i e s t e r l i c h e r F u n k t i o n : J o s e p h u s , A n t 3 , 1 8 9 : O p f e r u n d G e b e t „ f ü r u n s " . 1 9 1 : G e b e t „ f ü r u n s v o m e r w ä h l t e n A a r o n " ) als D a r b r i n g e n eines A k t e s d e r G o t t e s v e r e h r u n g f ü r d e n , d e r ihn selbst n i c h t a u s f ü h r e n k a n n o d e r will ( d e r F ü r b i t t e r ist S ä u l e , Schutz oder M a u e r : P a r j e r 1,2; Philo, De Iona 3 6 ; syrDan 1 , 1 9 ; Eusebius, h . e . 2 , 2 3 , 7 ) . D e r G e r e c h t e o d e r G o t t N ä h e r s t e h e n d e b i t t e t a u c h f ü r d e n , d e r f e r n e r steht. U n d g e r a d e a u c h w e n n j e n e r n i c h t „ g l a u b t " , w i r k t d a s G e b e t f ü r ihn ( m ö g l i c h e B e g r ü n d u n g d e r K i n d e r t a u f e n a c h I P e t r 3 , 2 1 ) . S o w i r d d a s B e t e n „ f ü r " k u l t i s c h „ a n g e n o m m e n " (I T i m 2 , 1 — 3 ) . Z u r F ü r bitte sind alle die g e e i g n e t , die G o t t n a h e s t e h e n u n d d e r e n G e b e t d a h e r w i r k s a m ist, s o alle P r o p h e t e n , b e s o n d e r s M o s e , f e r n e r H e n o c h u n d die drei E r z v ä t e r (bes. J a k o b u n d A b r a ham),
ferner Engel,
Priester und erwählte
Gerechte;
Jesus:
Joh
16,26
(nicht
mehr);
1 7 , 9 - 2 6 ; I J o h 2 , 1 f; L k 2 2 , 3 2 ; H e b r 7 , 2 5 . - D a h e r w i r d i m N e u e n T e s t a m e n t b e s o n d e r s a u c h die F ü r b i t t e f ü r e i n a n d e r ( J a k 5 , 1 6 ) b z w . w e c h s e l s e i t i g z w i s c h e n A p o s t e l u n d G e m e i n d e
Gebet IV
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(s. u.) möglich. D a ß im Endgericht keine Fürbitte mehr gestattet sein wird (weil es dann um die Werke „jedes einzelnen" geht), ist nur die Kehrseite dessen, was demnach jetzt noch möglich ist: die Gerechtigkeit (und das deshalb wirksame Wort) der einen gilt für die anderen vor Gott. Daher gibt es auch das „Fasten f ü r j e m a n d e n " (Did 1,3). 3.9. Ort und Zeit. Das unaufhörliche Gebet. Wie alles kultische T u n , so hat auch das Gebet eine Beziehung zu R a u m und Zeit. O r t e des Gebets sind außer dem Tempel besonders: das H a u s (Act 10,30.9; 12,5.12; 28,8; A p k M o s 5; das Gemach: M t 6,6; T e s t j o s 3,3), die N ä h e des Wassers (Act 16,13; 21,5; Josephus, Ant 14,258 am Meer), der Berg (Josephus, Ant 7,203; Lk 6,12; 9,28; M k 6,46; M t 14,23) und die Einsamkeit (Mk 1,35; Lk 5,16; 9,18). Dreimal täglich zu beten wird vom J u d e n t u m ü b e r n o m m e n (vgl. den Exkurs „Die Gebetszeiten der alten Synagoge": Bill. II, 6 9 6 - 7 0 2 ) : morgens: M k 1,35; T e s t j o s 3,6; Philo, V i t C o n t 27; 1QS 10,10; Plinius d. J., ep. 10,96,7 (antelucem Carmen)-,- mittags: Act 1 0 , 9 ; - a b e n d s : (Mk 15,34); Act 3,1; 10,30 ( 4 . - 9 . Stunde); M k 6,46 f; Philo, VitCont 27; 1QS 10,10; J u b 6 , 1 4 . - Ausdrücklich wird das dreimalige Gebet bezeugt in Did 8,3 (Vaterunser) und Josephus, Ant 10,252 ( D a n i e l ) . - D a g e g e n hat das nächtliche Beten einen besonderen Bezug zu O f f e n b a r u n g : M k 1,35; Act 16,25 (mitternachts); Lk 6,12 ( v o r d e r Apostel wähl).
Eine hervorragende Rolle spielt das immerwährende Gebet f ü r den Dienst im Himmel (hebrHen; Ma c aseh M e r k a v a h , vgl. Gruenwald 186) und auch für das Gebet auf Erden (AssMos 1,11 von Mose: „keinen Tag auslassend"; A p k M o s 13: „nicht nachlassen"; Test Sal C 1,5 „ T a g und N a c h t " ; Josephus, Ant 6 , 2 3 1 „ i m m e r f o r t " ; Bell 6,306 Tag für Tag derselbe Ruf; Testisaak 4,8 jeden Tag, das ganze Leben), christlich in Lk 2,37 (Fasten, Beten, Dienen); 18,1 (immer, nicht nachlassen).7 (Tag und Nacht); ebenfalls von der Witwe: I T i m 5,5 Tag und N a c h t ; Lk 21,36 (beten und wachen allezeit); Act 10,2 (stets); 10,30; 12,5 (ohne Unterlaß; vgl. Jdt 4,9); 2 6 , 7 (Israel); von der Fürbitte des Apostels: allezeit: R o m 1,10; I T h e s s 1,2; Kol 1,3; 4,12; IIThess 1,11; nicht aufhören: Eph 1,16; Kol 1,9; Tag und N a c h t : I Thess 3,10; von der Gemeinde: Eph 6,18; I Thess 5,17 (unaufhörlich). - Jedenfalls ist Dauer für das Gebet typisch: Lk 6,12 (die ganze Nacht); Act 10,30 ( 4 . - 9 . Stunde); I Kor 7,5 (Stunden oder Tage; vgl. dazu T e s t N a p h 8,8: eine Zeit zum Coitus - eine Zeit zum Beten); 4 0 Tage: grBar 4,14. — Die Qualität des Gebets der Gerechten ist wesentlich durch Dauer bestimmt (wobei an Wiederholen der gleichen Inhalte gedacht ist: Josephus, Bell 6,306), denn a) ist Gott wie jeder zeitgenössische König durch Dienst und Bewachung „ r u n d um die U h r " geehrt, b) heißen die Engel deshalb die Nicht-Schlafenden oder f y g i j y o Q o i [Wächter], und c) erlaubt die Vitalität ihres Pneumas diesen ständigen Dienst vor Gott. So wird d) auch Israels Dienst im Tempel nach Analogie dazu gedacht (Act 26,7), und da e) sich die christliche Gemeinde der Gerechten wie die Gemeinde von Q u m r a n in Gemeinschaft mit den Engeln weiß (vgl. dazu K. Bergen Z T h K 73 [1976] 193 ff), teilt sie auch deren Kultübung. Es kann also keine Rede davon sein, daß die genannten neutestamentlichen Aussagen „übertrieben" sind. Vielmehr entspricht ständig zu beten dem Status des Beters vor Gott: Weil es die Gemeinde der Erwählten ist, steht sie ständig vor Gott (wie Levi nach Test Lev 2,10: beim Herrn stehen/sein Diener sein/seine Geheimnisse den Menschen künden). 4. Kirchensoziologische
Aspekte
4.1. Lehrer des Betens. Christen empfinden es als ihre Situation, daß sie nicht wissen, was sie beten sollen (Rom 8,26). Wer soll ihnen die W o r t e geben? — Und die Art zu beten kennzeichnet Gerechte und Ungerechte (Lk 18,11.13). So ist man auf den verwiesen, der an G o t t und seinem Geist teilhat (oder auf diesen Geist selber: R o m 8,26—28). So lehrt der Engel Abraham das Gebet (ApkAbr 17f) oder der Engelfürst die Seraphim (hebrHen 26,8), die Pharisäer lehren es ihre Anhänger (Josephus, Bell 18,15: Gebet wie O p f e r n a c h ihrer iifyyr]Oig; Lk 5,33), Johannes der Täufer lehrt so seine Schüler (Lk 11,1), das Wie des Gebets ist Inhalt der Frage an den Lehrer Jesus (Lk 11,1 o f f e n b a r in Überbietung des Täufers; EvThom 6: jiüjg;Mt 6,7—15; vgl. auch die Inhalte der Gebetsparänese, z.B. M k 13,18) und „die Apostel" lehren Gebetsworte (Did 8 , 2 - 1 0 , 7 ) . Daher haben nach Did 10,7 die Propheten allein
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Gebet IV
das Recht, Gebete neu zu formulieren, denn ihre Gebete werden sicher angenommen, während die anderen sich an die von ihnen und anderen Autoritäten gelehrten und bewährten Gebete halten müssen. Das „liturgische" Recht bestimmt sich nach dem Maß der Geistbegabung und der Autorität überhaupt (hellenistisch: Sent.Pythagor. 15: „Allein der Weise weiß zu beten"). 4.2. Die exklusive Zusicherung der bedingungslosen Erhörung des Gebets. Eine solche wird als Vollmacht verstanden (Sextus, Sent. 375). Nach jüdischen Texten kommt sie regelmäßig auserwählten Freunden (Geliebten) Gottes zu, wie Abraham (TestAbr A 8 zu Gen 22,17), Esra (grEsr 7: Geliebter), Daniel (persDan, ed. Zotenberg 393: mein Freund), Mose (hebrHen 15,4f), Philippus (ActPhil 22), R. Simeon (Wünsche, a.a.O. 165: gerechter Mann). Diese Exklusivität wird im Neuen Testament selbstverständlich auch für Jesus behauptet (Joh 11,22, vgl. auch rum.ApkAbr 34 f), aber sie gilt nun, und das ist das Besondere, grundsätzlich allen Erwählten (Joh 16,26 f: Gott liebt euch: Die Christen sind jetzt selbst in den Status von Geliebten aufgerückt wie vordem nur besondere Gottesfreunde und haben nun keine Fürbitte solcher Gottesmänner mehr nötig, auch nicht die Fürbitte Jesu; Mt 7,8; Lk 11,9.13; Jak 1,5; 5,15.16; Joh 14,13f; 15,7.16; 16,23f; I Joh 3,22; 5,14f; Epjac 1 0 , 3 2 - 3 5 ; Sonderfall: Gott weiß, bzw. erfüllt schon vor dem Gebet: Mt 6,8; Joh 11,41 f; TPsJ Jes 53,7: Er betete, und ihm wurde geantwortet, und bevor er seinen Mund auftat, war er angenommen.) — wie schon in der jüdischen eschatologischen Erwartung (ApokrEz, ed. Denis 123; koptJerApokr 3). Diese Ausweitung ist Ausdruck eines neuen Gottesverhältnisses. Sprachlich sind alle diese Sätze durch das Wortfeld „bitten" (alrelv, ^rjTeiv) und „empfangen" (Xafißdvsiv, dodtfoezai, da)(J£i,yiyv£o6ai, JIOLEIV) gekennzeichnet; oft geht es um „jeder, der" oder um „was ihr wollt". Subjekt des Gebens ist Gott oder Jesus (Joh 14,13 f). Korrekturen dieser Konzeption sind einerseits Bedingungen für die Erhörung des Gebets (vgl. o. Abschn. 3), andererseits Mk 1 0 , 3 5 - 4 5 (Wortfeld bes. in V. 36), und zwar in Richtung auf Martyrium und Dienen als vorausgehende Phase. 4.3. Personen oder Gruppen, die besonders mit dem Gebet zu tun haben: a) Daß Jesus stets allein, meist in der Einsamkeit, nie mit den Jüngern betet, kennzeichnet ihn als singularen Offenbarungsmittler (vgl. o. Abschn. 2; z.B. Mk 1,35; 6,46; 1 4 , 3 5 - 4 1 ; vgl. Hebr 5,7; ausgeprägt besonders bei Lukas: 6,12; 9,18; 9,28). Bei Lukas tritt Jesus so vor allen entscheidenden Aktionen in Kontakt mit Gott, so wie nach Act es dann die Gemeinde tut. b) Prophetinnen (Lk 2,37; I Kor 1 1 , 4 - 1 3 ) und Propheten (Did 10,7; vgl. l l Q P s a Dav Comp; I Kor 1 1 , 4 - 1 3 ; Act 13,1.3; vgl. IThess 5 , 1 7 - 2 0 ) . Gegen Friedrich ist aber das Gebet nicht nur Vorrecht der Propheten, c) Autoritätsträger (Jak 5,14f: Älteste; Kol 4,12: Epaphras). d) Witwen-, als institutionalisierte Armenfrömmigkeit: I Tim 5,5 (Lk 1 8 , 2 - 7 ; 2 , 3 6 - 3 8 ; Act 9,41). - Anknüpfungspunkt: Sir 35,14 (17): Gott erhört Witwen sicher; Jdt 9,4; TestHi 15,5 (Arme beten); Philo, SpecLeg 1, 308; Herrn sim 2,7; 5,3,7.e) Apostel (Act 8,15.24; 14,23). — Paulus bittet für die Gemeinde um Erkenntnis (s.o.) oder um ein Wiedersehen (z.B. II Kor 9,14; Phlm 22; Hebr 13,18 f; II Tim 1,3 f; hellenistisch: Alkiphron 11,1,3; semitisch: Padua P I), oder er formuliert Gebetswünsche direkt im Brief (oft mit Gott als Subjekt und Optativ, z.B. I Thess 3 , 1 1 - 1 3 ) oder betet um Gemeinschaft (Phil 1,4; Phlm 4). Wie Jesus leistet er Fürbitte für den Glauben als „Stärkung" (Lk 22,32; I Thess 3,13, vgl. II Thess 3,3). Oft betrifft seine Fürbitte den Glauben und seine Realisierung im Werk (oder: in Liebe), so daß hier, am Anfang der Briefe, Glaube und Werk typisch verknüpft werden (I Thess 1,2; 3,10; II Thess 1,11; Phlm 4; Kol 1,3). f) Christliche Gemeinschaften (als versammelte): Act 1,14 (einmütig) vgl. 2,1; 1,24; 2,42; 4 , 2 4 - 3 1 ; 6,6; 12,5.12; II Kor 9,14 (eine Gemeinde bittet für die andere). Daher soll die Gemeinde auch für den Apostel beten (I Thess 5,25; Rom 15,30; Hebr 13,18; II Thess 3,1; Kol 4,2f; Eph 6,18 f), ähnlich schon in Prophetenbriefen (Parjer 7,23: „vernachlässige nicht, in deinen Gebeten für uns zu beten, daß er . . . lenke"), hellenistisch bei Dionysius v. Antiochien, ep. 41. Die starke Betonung des Gemeindegebets ist zwar nicht ganz neu (vgl. Jdt 4,9), setzt aber doch die Konzeption von der Gemeinde der Gerechten voraus, mit denen man gemeinsam vor Gott tritt (im Judentum
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mit Engeln: TestAbr A 14; TestSal 15,7; ApkAbr 17) oder die man wirksam um Fürbitte angehen kann (wenn die Verstorbenen noch zur Gemeinde dazugehören, daher auch Verstorbene: VitProph 13; auch Engel). Wo die Gemeinde als solche da und eins ist, betet daher auch Christus mit ihr (Mt 18,20) - oder der Geist spricht und wirkt, so nach einem einigermaßen festen Installationsschema (Name der Gemeindeautoritätfen], Name des Einzusetzenden, Fasten, Gebet, Handauflegung, [Geist-Wort], Entlassung) in Act 6,4—6; 13,1—3; 14,23 (vgl. auch Lk 6,12). Auch der initiale Geistempfang wird ähnlich gedacht: Act 8,14; vgl. auch Act 1 , 2 4 - 2 6 ; I Tim 4 , 1 4 und TestLev 2,3 (Zusatz). In der Briefliteratur, insbesondere im Corpus Paulinum, hat das im Brief selbst formulierte Gebet außerordentliche Bedeutung. Der Grund: Das Gebet des Apostels ist, wenn er denn berufener Apostel ist, der Erhörung gewiß. Es ist selbst verbale Heilsteilgabe und insofern das Beste, was der Apostel in Abwesenheit seiner Gemeinde geben kann. Auch hieran wird erkennbar, daß der Apostelbrief schriftliche F o r m religiöser Segensrede ist. So wird noch in II Thess 3 , 5 nach dem einleitenden Satz V . 4 deutlich, daß das G e b e t die Kraft zum Tun vermitteln soll. Auch sonst ist deshalb häufig das paränetische Anliegen als G e b e t formuliert.
4.4. In der Fürbitte für alle Menseben (ITim 2,1; Josephus, Ap 2 , 1 9 6 ; Sextus, Sent. 372) und für die Obrigkeit (I Tim 2,1; Jer 29,7; Esr 6 , 1 0 ; I Makk 7 , 3 7 ; I Clem 61; Justin, Apol 6 5 , 1 ; - Josephus, Ant 8 , 1 2 4 ; 11,17. 1 0 2 . 1 1 9 ; 1 2 , 5 5 . 9 8 ; Julian Apost. 24,3.4) leistet die Gemeinde stellvertretend-priesterlichen Dienst für alle. 4.5. Das Gebet des Gerechten für seine Feinde ( M t 5 , 4 4 ; Lk 6 , 2 8 ; Did 1,3 mit Fasten für Verfolger; POxy 1224; Justin, apol. 1, 15,9; syrDidask 2 1 ; hellenistisch: Sextus, Sent. 2 1 3 ) , realisiert in Lk 2 3 , 3 4 ; Act 7 , 6 0 ; von Jakobus: Eusebius, h.e. II, 2 3 , 1 6 f ; jüdisch belegt in T e s t j o s 18,2 (anders LibAnt 52,3), hat eine Analogie im Blutvergießen für Feinde (Rom 5,6—8) und ist wie das Gebet für alle Menschen und den heidnischen Herrscher Grenzfall der Verantwortung des Gerechtfertigten für alle im Rahmen der Vorstellung, daß die Gemeinde der Gerechten die dynamische und (in Gebet wie Mission) offensive Mitte konzentrischer Kreise ist. So wird hier theologisch deutlich (wie überall, wo es um Fürbitte der Gerechten geht), daß nicht allein Gott neu erfahren wird, sondern daß dazu bleibend eine Gemeinde der Gerechten gehört, die als solche Vollmacht und Pflichten für die anderen vor Gott hat. So dürfen die Christen Fürbitter sein, weit mehr als irgendjemand sonst oder zuvor. So bittet der Apostel Rom 10,1 für die Rettung Israels. Auch die zahlreichen Bitten für die Mission gehören dazu: Mt 9 , 3 8 ; Lk 10,2 (um Missionare); Act 4 , 2 3 - 3 1 ; Eph 6 , 1 9 f (um Freimut), in Verbindung mit dem „Wort*': Act 4 , 3 1 ; 6,4; Eph 6 , 1 9 ; II Thess 3,1; Kol 4 , 3 . 4.6. Die Kehrseite des Selbstverständnisses der Gemeinde der Betenden ist die Abgrenzung von anderen: Mt 6,7; M k 1 2 , 3 8 . 4 0 ; Did 8,2 (nicht wie Heuchler). 5.
Gebetsparänese
Diese gibt es im Judentum nur in der späten —»Weisheit (Sir), angrenzend in der hellenistischen Sentenzenliteratur und daher im Neuen Testament auch inmitten paränetischer Abschnitte (Rom 12,12; I Thess 5 , 1 7 ; daher auch in Haustafeln und Ständeschemata: I Tim 2 , 1 . 8 ; 5,5; I Petr 3,7; als weisheitlicher Mahnspruch z.B. Phil 4 , 6 ; als Weisheitsregel J a k 1,5). Die hellenistische Sentenzenliteratur k e n n t a j indikativische Formulierungen über die Bedingungen für die Erhörung des Gebets: Wichtig sind im Blick auf die im Neuen Testament geforderte Vergebungsbereitschaft die Bedingungen, daß der Beter selbst hört, wenn jemand bittet (Sextus, Sent. 2 1 7 ) , bzw. auf die Eltern zu hören (ebd. 4 9 2 ) . Der Beter soll durch nichts anderes belastet (vgl. Phil 4 , 6 ) , bzw. rein sein durch Besitzverzicht (Sent.Pythag. 17; Sextus, Sent. 8 1 ) . Weiter werden gefordert: Freiheit von Vergnügungssucht und von Faulheit; b) imperativische Formulierungen über den Inhalt des Gebets: Im Vergleich zu M k 1 4 , 3 6 b ist besonders wichtig Kleitarch 14 (Bitte, daß dir zuteil wird nicht, was du willst, sondern was sein muß; vgl. Sextus, Sent. 8 8 ) . Ferner: Nicht, was man nicht behalten darf; keine Schmerzlosigkeit; gut zu sterben; was Gottes würdig ist bzw. was man nicht von Menschen b e k o m m t ; den Feinden wohltun zu können (Sextus, Sent. 2 1 3 ) .
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Im Neuen Testament sind die M a h n u n g e n wichtig, ü b e r h a u p t zu beten (Jud 20; Phil 4,6), und zwar besonders in Verbindung mit „ W a c h e n " , bzw. allezeit zu beten, speziell in eschatologischem Kontext und mit Hinweis auf den Kairos: M k 13,33 (Mt 24,42: nur wachen); Lk 21,36 (Wacht, jederzeit bittend); I Petr 4,7 (Nähe des Endes; mit Klugheit und Nüchternheit); als Schutz vor der Versuchung (sc. zum endzeitlichen Abfall): M k 14,38; M t 26,41; Lk 22,40 (ohne „ w a c h t " ) . 4 6 . - Ohneeschatologischen Kontext in Eph 6,8 (beten allezeit im Geist und wachen); Lk 18,1; Kol 4,2; „verharren im Gebet": Kol 4,2; Rom 12,12; I Thess 5,17; vgl. Act 2,42; 6,4; I Tim 5,5. - A p k M o s 13 (nicht müde werden); syrApkMos (Lohn in beiden Welten f ü r den, der betet, fastet, wacht und leidet). — Es handelt sich wohl in allen Texten u m die paränetische Umsetzung der oben geschilderten Konzeption vom ständigen Gebet. N o t w e n d i g sind die Wachenden, die zum k o m m e n d e n König und seinem Reich gehören (V Esr 2,13: ite, et accipietis, rogate vobis dies paucos, ut minorentur; iam paratum est vobis regnum, vigilate). So werden nach grEphraem II, 211 auch die Dämonen vertrieben, wenn immerfort der Psalm Gottes N a m e n nennt. Die M a h n u n g , nicht zu plappern wie die Heiden (Mt 6,7), entspricht wohl Sir 7,14 (gegen die Wiederholung von Worten beim Beten) und richtet sich auch gegen einen mystischen und zeitgenössischen jüdischen Brauch (Josephus, Bell 6,306). M t 6,7 macht deutlich, d a ß hier Abgrenzung vom Heidentum versucht wird. — Umgekehrt ist die M a h n u n g , im Verborgenen zu beten (Mt 6,1 — 6), Korrektur einer gerade gegenüber der paganen Ü b e r f r e m d u n g sehr gelobten Sitte, in aller Öffentlichkeit zu beten (Josephus, Ant 10,255: Daniel betete zu G o t t jiävxojv
ößcüvzwv).
Das Verhältnis von Moral und Gebet wird z u m T h e m a in E v T h o m 6; 14 (gegen Heuchelei); M k 12,40 (Witwen schädigen/lange Gebete); I Petr 4 , 7 (Verbindung von Gebet und Liebe, die Sünden zudeckt) und dort, w o u m rechtes Verhalten gebetet wird (Sir 37,15; vgl. dazu Lk 1,79; TestLev 2,3 Z u satz [8]: „zu tun, was dir gefällt"; Josephus, Ant 8,120; TestSim 2,13). Weitere Mahnungen betreffen das Wie (Frauen n u r verhüllt: I Kor 1 1 , 4 - 1 3 ; mit Verstand: I Kor 1 4 , 1 3 - 1 5 ; im Geist: J u d 20; Eph 6,18 f) und das W a s (um Vergebung zu bitten: M t 6,9; Act 8,22; Sib 4 , 1 6 5 f; syrBar 84,10; Sir 21,1; 3 9 , 5 und besonders Lk 1 8 , 1 0 - 1 3 ; u m Weisheit: Jak 1,5 f; um Rettung: M k 13,18; M t 2 4 , 2 0 ; nicht in Versuchung zu k o m m e n : Lk 22,40; M t 6,13; für andere zu beten: Test Gad 7,1 [für den, dem es besser geht]; T e s t j o s 18,2 [für den, der Böses antun will]; für einander: J a k 5,16; in der Krankheit: Jak 5 , 1 4 f . l 6 ; Sir 38,9).
Die verschiedensten Aspekte des Gebets sind in M k 14,32—42 zusammengefaßt: 1. Jesus betet allein und empfiehlt sich selbst als Vorbild (14,38). 2. Jesu Gebet wird hier in drei dramatisch gestalteten Phasen als Kontakt mit der himmlischen Welt (vgl. den Erzählrahmen m i t M k 9 , 2 - 8 ! ) dargestellt: Auf der Erzählebene wird Jesu Schwäche (14,35) durch das dreimalige Gebet so ü b e r w u n d e n , daß Jesus am Schluß sagen kann: „Auf, wir gehen!"; dem entspricht auf der Reflexionsebene 14,38: Das Gebet steht der Schwäche des Fleisches gegenüber und überwindet sie. Lk 22,43 verdeutlicht dies durch den Engel, der Jesus stärkt. 3. 14,36.38 bezeugen die Popularität wichtiger, im Vaterunser verwendeter (vgl. dazu auch bes. Jub 12,19f) Elemente.4. Die häufige M a h n u n g zum Wachen und Beten ist hier auf die Versuchung zum Abfall angesichts des Leidens gedeutet. Lk 22,40 betont den paränetischen Aspekt durch Voranstellung. — Indem Lukas seine Version des Vaterunsers (Lk 11,4) mit der Bitte enden läßt, nicht in Versuchung zu führen, läßt er für den Beter die Bitte entscheidend sein, G o t t möge ihn vor seiner eigenen Schwäche bewahren, aufgrund derer er in der Versuchung abfallen könnte. Im Unterschied zu M t 6,13 wird nicht „der Böse" verantwortlich gemacht, sondern die Bedrohung durch die eigene Schwäche wird als die größte G e f a h r (Schlußposition im Gebet!) zum Ausdruck gebracht. Die Bewahrung vor Versuchung ist so das Ziel des Gebetes. Anmerkung ' Zu den Belegen vgl. K. Berger, Die Griechische Daniel-Diegese, 1976 (StPB 27) X I - X X I I I ; ders., Unfehlbare O f f e n b a r u n g : Kontinuität u. Einheit. FS Franz M u ß n e r , Freiburg u . a . 1981, 2 6 1 - 3 2 6 , hier 261-265.
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Struktur und Verständnis dieser noch in der antiken Reichskirche ausgebildeten öffentlich-amtlichen Liturgie werden übernommen und bestimmen die weitere Entwicklung des Gebetes. Nicht nur die vom Mitvollzug ausgeschlossenen Gläubigen, vor allem die Mönche verschaffen ihrem Andachtsbedürfnis im außerliturgischen und privaten Beten Raum. Die erstaunliche Einheitlichkeit dieses Gebetes hat ihre Ursache im gemeinsamen Ausgangspunkt: Vulgata, Patristik und Liturgie in lateinischer Sprache. Dazu kommt das geistige Verständnis aller das Beten bestimmenden Texte (—»Schriftauslegung). Erst im Verlaufe des späteren Mittelalters verliert dieses Gebet als schöpferischer Nachvollzug von Liturgie und Unterweisung seine bestimmende Mitte. Abhängiges verselbständigt sich, Peripheres gewinnt an Gewicht. Dafür kann man pastorale Mängel, philosophische und theologische Wandlungen ausmachen. Eine Soziologie des Gebetes wird noch andere Ursachen anzuführen haben. Zunächst ist anzumerken, daß die Charakterisierung des Gebetes als schöpferischer Nachvollzug nur bedingt gilt. Neben den gebildeten und spirituell führenden Schichten gibt es die in primitiven Vorstellungen eingebundene —»Volksfrömmigkeit der Unterschichten. In dem langsamen Ausgliederungsprozeß einzelner Schichten spielt die Formung der Frömmigkeit durch eine der gleichen sozialen Gruppe zuzuordnende monastisch-klerikale Reformbewegung eine wichtige Rolle. Das Gebet der Volksfrömmigkeit wird dabei vergeistigt und verkirchlicht; zugleich bemächtigt sich diese des kirchlichen Gebetes und macht es seinen Bedürfnissen dienstbar. Die spätmittelalterlichen Zerfallserscheinungen des kirchlichen Gebetes sind aus dieser soziokulturell bedingten Dialektik mitzuerklären. Unter verkirchlichten Formen lebt also jene archaische Gesinnung fort, die frühmittelalterliche Gebete prägt, wie den Wiener Hundsegen (Müllenhoff/Scherer 16, IV, 3); auch der Einfluß des kirchlichen —»Exorzismus (Vogel/Elze 1 9 3 - 2 2 4 ) und der vielen Beschwörungsformeln (Bartsch 3 5 4 - 4 1 7 ) ist dabei zu berücksichtigen. Zur Entfernung von der „liturgischen Mitte" trägt auch der wachsende Einfluß des philosophischen Gebetes bei, in dem es um Selbsterkenntnis, Tugendkampf und praktische Lebensweisheit geht. Betrachtung der letzten Dinge (—»Ars moriendi) und ethisch-asketische Konsequenzen zeichnen die viele Gebete prägende Trostbuchliteratur aus (vgl. Abschn. 3.3). In Verbindung mit mystisch-meditativem Gedankengut steht dann am Ende das Gebet des Frommen, in dem die Communio vom Individuum verdrängt wird.
2. Der frühmittelalterliche
Anfang
2.1. Allgemeine Charakterisierung. In der von verschiedenen Einflüssen gespeisten und für griechische Anregungen offenen frühmittelalterlichen Frömmigkeit finden sich viele Eigenheiten primitiver Religiosität. Sündenangst und Dämonenfurcht, Schutz- und Hilfsbedürfnis prägen die Gebete, die in erster Linie Mönchen und Priestern als asketischen Gebetsspezialisten aufgetragen sind. In den endlosen Bitt- und Bekenntnisformeln müssen möglichst vollständig die heilenden und helfenden Eigenschaften Gottes sowie Mängel und Bedürfnisse des Menschen aufgezählt werden. Doch auch dieses Gebetsgut steht in der Überlieferung und tradiert ihre Erfahrung. Die verba sancta der Schrift und der amtlichen Liturgie binden die religiösen Bedürfnisse des privaten Betens der allgemeinen lex credendi ein. So klingt in der übermächtigen Klage und Bitte auch Anbetung, Dank und Fürbitte auf. Z u d e m ist in aller quantitativ gesteigerten und abzuleistenden Formelrezitation das kontemplative Anliegen nicht zu übersehen. Die M a h nung der -^Benediktusregel ( 1 9 , 6 ) , so beim Psalmengebet zu stehen, „ d a ß unser Herz in Einklang ist mit unserem W o r t " , darf als gemeinmonastische Mahnung verstanden werden. Vgl. auch die Anleitung des Prudentius v. Troyes (gest. 8 6 1 ) zu seinen Flores psalmorum: „ M ö g e es dich nicht verdrießen diese Verse im Herzen und im Munde zu erwägen . . . und so bete rezitierend und mit Vertrauen und Jubel pflücke diese Blumen" (PL 1 1 5 , 1 4 4 9 D. 1 4 5 1 A ) ; —»Hinkmars Anleitung zum Kommunionempfang: „ M ö g e das Herz festhalten, was der Mund bekennt, möge der Glaube sein, was das W o r t bekennt: Sei also ein Glied des Leibes Christi, damit das Amen wahr w i r d " (PL 1 2 5 , 9 2 4 B ; vgl. ebd. 9 2 6 C ) . Die im Frühmittelalter geschaffenen Gebete sind in den Precum libelli (—»Gebetbücher) gesammelt. Mit großer Verbreitung, Beliebtheit und nachhaltiger Wirkung ist zu rechnen. Sie haben Eingang gefunden in das Gebetsgut des 11. und 1 2 . J h . ; viele wurden auch—»Au-
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gustin, --»Anselm von Canterbury und anderen Autoren zugesprochen. So ist zu sagen, d a ß das frühmittelalterliche Gebetsgut nach Form und Inhalt die weitere Entfaltung bestimmt. 2.2. Die wichtigsten Gebetsarten. Biblische M a h n u n g zum ständigen Gebet und monastisches Selbstverständnis führen zunächst zur quantitativen Steigerung des Psalmengebetes currentc psalterio. Es sind psychologische, sachliche und praktische Gründe, die in die angestrebte laus perennis Gliederung und Abwechslung bringen. Die dadurch entstandenen Übungen und Gebete finden teilweise Eingang in das öffentliche Beten; vor allem bestimmen sie das private Beten. Die meisten späteren Gebete und Andachten haben hier ihren Ursprung. Die einfachste Art, der M o n o t o n i e zu entgehen, bestand in der Verbindung des Gebetes mit körperlichen Übungen. So kannte das irische M ö n c h t u m den Crossfigel (möglichst langes betendes Verharren mit ausgespannten Armen). M a n konnte z.B. Ps 118 mit 100 Kniebeugen oder im Crossfigel beten (vgl. Godel 284.314—316). Auch die aus altmonastischer Praxis ü b e r n o m m e n e n Metamen (den Boden berührende Verneigungen des Hauptes) gehören dazu und finden in vielfältiger Form Eingang ins mittelalterliche Beten (Gebetsgebärden 85 — 86). Dazu sind zu zählen die Kasteiungen und die Loricatio (Tragen von Panzerringen und -hemden usw.; —»Askese), eine alte asketische Praxis, die auch im irischen M ö n c h t u m verbreitet war. Diese materialisierte Loricatio, die auf den dem Asketen und M ö n c h aufgetragenen D ä m o n e n k a m p f verweist, w a r von der geist ichen begleitet. Anrufungen in Prosa und Reim an die göttlichen Personen, die einzelnen Heilsgeheimnisse, an -^-Engel und —»Heilige sind darunter zu verstehen (Godel 2 9 3 - 3 0 6 mit Texten). Nach Psalmversen, Schriftworten und liturgischen Texten geformt, dringen sie in Messe und Stundengebet ein, finden vor allem Verwendung im privaten Gebet. Sie bilden die Grundelemente weiterer und sich verselbständigender Gebete. In ihrer einfachsten Form leben sie weiter als Stoßgebete, die zur Gebetshaltung vieler Heiligen gehören; oft in Verbindung mit der altmonastischen Tradition des Jesusgebetes (vgl. Scherschel 3 5 - 3 9 ) . Aus der Aneinanderreihung einzelner Verse entstehen verschieden lange deprekatorische oder eulogische Gebete. N a c h Form und Inhalt gleich, richten sie sich anfangs an die göttlichen Personen, umkreisen preisend oder bittend die verschiedenen Heilsgeheimnisse; später wenden sie sich auch an —»Maria usw. (vgl. das pseudoalkuinische Tu es sacerdos [PL 101,477] mit den Christusanrufungen des —»Johannes v. Fecamp [Conf. theologica III, 922—933] und dem Gebet Tanget me, spiritus sanete, digitus [Wilmart, Auteurs 4 3 0 - 4 3 1 ; ebd. 4 5 7 - 4 7 3 ähnliche Gebete gegen Laster und um entsprechende Tugenden]). Sind diese Gebete für den einzelnen gedacht, steht das deprekatorische oder eulogische Wechselgebet im Vordergrund bei den Litaneien. Damit wird ein Gebet geschaffen, das sich während des ganzen Mittelalters größter Beliebtheit erfreut und den vielen paraliturgischen Bedürfnissen (Prozessionen usw.) entsprach (zur Entwicklung vgl. Meersseman I, 21 f; II, 4 4 - 4 8 ; Fischer). Sündenangst und Sühne durch Bußgebete bilden eine herausragende Thematik frühmittelalterlicher Frömmigkeit. Als Apologien (Wilmart, Precum libelli 73—75; 2 1 - 2 4 = PL 101,524—526) finden die privaten Sündenbekenntnisse auch Eingang in Messe und Offizium. In der Bußpraxis spielen sie eine wichtige Rolle; in vereinfachter Form finden sie sehr f r ü h volkssprachliche Verbreitung in den Beichtformeln und lebten fort in der Offenen Schuld des Gemeindegottesdienstes. M i t der W a n d l u n g des Bußverständnisses H»Beichte II) ändern sich die Apologien und werden zu Reuegebeten umgeformt. Der Affekt der contritio versucht sich meist an der Passionsbetrachtung zu entzünden (vgl. 3.2.). Die Psalmen als verba saneta spielen im privaten Gebet eine beherrschende Rolle. D a f ü r werden unter verschiedenen Gesichtspunkten Psalmenreihen zusammengestellt: für die Tageszeiten, zur A n r u f u n g der einzelnen Heilsgeheimnisse, f ü r verschiedene Anliegen und N ö t e . Am bekanntesten sind die sieben Bußpsalmen und die Ps 119—134 zusammenfassenden 15 Gradualpsalmen. Auswahl der Psalmen u n d geistige Deutung wurden erleichtert durch die Angaben zur distributio psalmorum und die tituli psalmorum in den Handschrif-
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ten, bis sie ab dem 12. Jh. von den Antiphonen verdrängt wurden. Der geistliche Sinn, auf den sich die attentio richten sollte, wurde auch durch die collectae am Ende einer Psalmenreihe eingebracht (Brou, Psalter Collects 1 7 - 2 0 ) . Eine ähnliche Funktion haben die —»Hymnen, die verstärkt im öffentlichen und privaten Gebet Eingang finden. Dem Privatgebet zuzuordnen ist der in karolingischer Zeit entstandene und als Collectio psalterii Bedae sive psalterium parvum (CC 1 2 2 , 4 5 2 - 4 7 0 bzw. PL 9 4 , 5 1 5 - 2 7 ; 1 0 1 , 5 6 9 - 7 9 ) verbreitete Kurzpsalter. Wie in den Flores psalmorum (z. B. PL 4 0 , 1 1 3 5 - 1 1 3 8 ; 1 1 5 , 1 4 5 1 - 1 4 5 6 ) handelt es sich um ein Geflecht von Versen aus allen oder verschiedenen Psalmen nach dem Muster der Lorica. Aus den mit Hymnen und Gebet versehenen und unter ein bestimmtes Thema gestellten Psalmenreihen entwickeln sich früh die Zusatzoffizien (—»Stundengebet). In St. Riquier ist im 9. Jh. diese Praxis schon üblich (Bishop 314—332), in den Klöstern der Reform von —»Cluny ist sie verbindlich geworden. In den Reformorden des 12. und den Bettelorden des 13. Jh. werden einzelne (bes. Totenoffizium und marianisches Offizium) beibehalten. Sie werden auch früh von Laien rezipiert und finden sich in den Precum libelli und den spätmittelalterlichen Stundenbüchern (—>Gebetbücher); neben Toten- und Marianischem Offizium oft das zu Ehren des eigenen Namenspatrons. Daß man im Psalter als verbum sanctum das eigentliche Gebet sah, ist noch zu spüren am Namen marianischer Psalter für den spätmittelalterlichen —»Rosenkranz. Der alte Name für die neue Sache wird verständlich, wenn man um die äußere Entwicklungsgeschichte des Rosenkranzes weiß — Ablöse der Psalmen für illiterati durch Paternosterreihen (Paternosterpsalter) — und um die Anleitung beim labial gesprochenen Wort, die attentio auf den geistlichen Sinn zu richten (vgl. Meersseman II, 2 - 2 8 ; Scherschel 91 — 162). Parallel zu den Zusatzoffizien und aus ähnlichen Motiven entstehen die Votivmessen (vgl. —»Abendmahlsfeier II; Franz, Messe 1 1 5 - 2 9 1 ) . In den dafür verfaßten Formularen finden die zeitgenössischen Hymnen und Orationen Eingang. Große Aufmerksamkeit wird in der durch das entsprechende Eucharistieverständnis eingefärbten Meßfrömmigkeit den Vorbereitungs- und Danksagungsgebeten geschenkt. Solche finden sich bereits in den karolingischen Precum libelli. Weite Verbreitung fand das von Johann v. Fécamp verfaßte Gebet Summesacerdos (Text bei Wilmart, Auteurs 114—124. 101 — 125 zu Vorläufern, Entwicklung und Verbreitung). Besonders zahlreich sind die Kommuniongebete, von denen einige auch Eingang ins Missale fanden (Jungmann, Missarum sollemnia II, 4 2 8 - 4 5 5 . 455—460; zum Kommuniongebet der Laien: 4 6 1 f. 618). Erst recht nimmt deren Zahl zu seit der eucharistischen Bewegung des 13. Jh. Nach dem Muster der Anrufungen während der Elevation entstehen Kommuniongebete wit Anima Christi (Text: Wilmart ebd. 21); auch eucharistische Hymnen gehören dazu, wie der im 12. Jh. entstandene Hymnus Adoro te devote (Text: Wilmart, ebd. 3 8 4 - 3 8 5 . 3 6 0 - 4 1 4 zu Vorläufern und Verbreitung). Die zumeist als Anleitungen fürs Volk verfaßten Gebete fördern im Verlaufe des Mittelalters jenen vertrauten Umgang mit Jesus, dem —»Thomas von Kempen mit den Worten Ausdruck verleiht: „Große Kunst ist es, den Umgang mit Jesus zu kennen, und Jesus bei sich zu halten, große Klugheit" (Nachfolge Christi II, 8; vgl. ebd. Buch 4: Vom Sakrament des Altars). Daß diese eucharistische Andacht sich aus dem Meßvollzug gelöst hatte, war eine Folge frühmittelalterlicher Voraussetzungen, die durch die allegorischen Meßerklärungen (Franz, Messe 3 3 3 - 7 2 8 ) gefördert wurde. 3. Hochmittelalterliche
Vertiefung
und
Entfaltung
3.1. Allgemeine Charakterisierung. Die von verschiedenen Kräften gespeiste religiöse Bewegung seit der 2. Hälfte des 11. Jh. prägt die Frömmigkeit des hohen und späteren Mittelalters. Mit-»Anselm v. Canterbury klingt ein Thema an, dem —»Bernhard v. Clairvaux vollendeten Ausdruck verschafft. Neben den großen Meistern ist auf die vielen Vertreter der verschiedenen Schulen und Richtungen zu achten, in deren Traditionen und religiösen Erfahrungen dann die —»Scholastik neue Akzente setzt. Das gilt besonders von den spirituellen Meistern der Bettelorden. Zentren der Frömmigkeit sind zunächst noch die Klöster. Mit den Regularkanonikern wächst der formende Einfluß auf den Klerus; mit den Bettelorden erlangt die monastische Spiritualität eine vorher
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u n b e k a n n t e Breitenwirkung auf die religiöse Oberschicht des Kirchenvolkes, die in den —»Bruderschaften religiös aktiv wird. Bezüglich des Gebetsgutes ist zu sagen, d a ß die seit dem Frühmittelalter üblichen Gebetsarten weiter entfaltet und im Zuge dieser Rezeption affektiv besetzt werden. Auch wird das Gebet zum meditativen Text. Je nach Schule und Richtung variiert die T h e m a t i k , die die Gebete umkreisen: Verstand und Liebe, Erkenntnis und Affekt, menschliches Elend u n d göttliches Erbarmen, Aktion und Kontemplation. Das Gebet wird freier, subjektiver, bringt Gefühl und E r f a h r u n g ins Spiel; es appelliert an Reflexion, Gefühl und Einbildungskraft. Das Verlangen G o t t zu lieben, wird z u m H a u p t t h e m a .
3.2. Das affektive Gebet. Vom betenden Subjekt her gesehen geht es um Weckung des Affektes, vom Objekt her um Z u k e h r zu affektiv entzündbaren Gegenständen der Heilsgeschichte. Die Einzelheiten aus dem Leben und Leiden Christi werden wichtig und führen zu einer neuen Leben-Jesu-Frömmigkeit. Die Wurzeln dieser betenden Z u k e h r zum Leben Jesu reichen weit in die Vergangenheit zurück (ausführlich zu genetischer Entwicklung und mittelalterlicher Entfaltung Baier). Die in der patristischen Tradition vorhandenen Ansätze werden zu besonderen Andachten ausgebildet: zur Kindheit, zum N a m e n , zum Herzen, zu den fünf Wunden, zum Kreuz, zu einzelnen Stationen des Leidens (besonders zum gepeinigten Heiland in der „Wize") usw. Zur Weckung von Affekt, Mitleid und Andacht werden die verschiedenen Gebetsgattungen verwendet: betrachtende Gebete, H y m n e n , Litaneien, Reue-, Dank- und Bittgebete. Sie werden zugeschnitten zu Kommunion- und Tugendgebeten usw. Vom affektiven Gebet wird auch die Heiligenverehrung, besonders die Marienverehrung, die seit dem 12. Jh. für die Frömmigkeit signifikant ist, geprägt. Z u r Marienbitte u n d -klage tritt in auffallender Dichte das Marienlob, das um die Stichworte ave-gaude-salve kreist und in der Vielfalt von Hymnen, Gebeten, Anrufungen und Litaneien Niederschlag findet. In formaler und inhaltlicher Hinsicht wirkt als Vorbild der aus dem Osten rezipierte H y m n u s Akathistos (Meersseman I; Text: 104—127; Umarbeitungen 133—228). Ausdruck der marianischen Frömmigkeit ist auch das bei -^»Petrus Damiani bezeugte Ave Maria (PL 145,564), das rasch rezipiert und zum verbreitetsten Mariengebet wird (Beißel, Verehrung Mariens 2 2 9 - 2 3 4 ; 460—463; Scherschel 49—90). Es bildet dann den Gebetstext f ü r die verschiedenen Marienpsalter bis hin zum Rosenkranz (Texte von Rosarien, Marienpsaltern, Klauseln, Litaneien, Grußorationen und marianischen Freudenandachten bei Meersseman II, 79—256; Klinkhammer 193—279; Scherschel 163—170). Die Einbeziehung der Heiligenverehrung (—»Heilige/Heiligenverehrung) in die affektive Frömmigkeit ist deutlich zu merken in den 19 Gebeten des Anselm v. Canterbury zu Heiligen (Opera III, 5 - 7 5 ) . Auch wird die Heiligenlegende zur erbaulichen Lektüre, was sich z. B. an der großen Verbreitung der Legenda aurea des Jacobus a Vorágine ablesen läßt. 3.3. Das meditative Gebet. In Theorie und Praxis der mittelalterlichen Frömmigkeit steht der deprekatorische Aspekt des Gebetes im Vordergrund. N o c h —»Thomas v. Aquin handelt vorwiegend davon (S. th. II—II 83). Doch darf nicht übersehen werden, daß in der psychologischen Komplexität des Gebetsvorganges und der Lehre von den Wesensteilen des Gebetes zur Bitte auch die Lobpreisung gehört. Klassische Darstellung des Z u s a m m e n h a n ges der partes integrales bei T h o m a s v. Aquin (S. th. I I - I I 83,17); vgl. dazu bereits die Ausführungen Anselms v. Havelberg (gest. 1158) in De ordine pronunciandae letaniae ( 1 4 9 - 1 5 0 ) . So ist auch die Erhebung der Seele zu Gott im Bittgebet (S. th. I I - I I 8 3 , 7 a 2 ) jenem Gesamtvorgang eingebettet, in dem das von der G n a d e geweckte und begleitete Gebet in uns vertrauten Umgang mit Gott bewirkt (Thomas v. Aquin, C o m p e n d i u m theologiae 11,2), also kontemplativer Art ist. Doch vor aller lehrhaften Entfaltung ist die Praxis des meditativen Betens im Auge zu behalten, die über —»Cassian u . a . weitergegeben wurde und sich an den Dreischritt von lectio-meditatio-oratio hält. Von der retractatio tacita, durch die die gesprochene Lesung zu unterbrechen sei, spricht bereits —»Isidor v. Sevilla (PL 83,689). Meditatio als Fortsetzung der lectio und Vorbereitung der oratio behandelt auch —»Beda Venerabilis in De templo Salomonis (PL 9 1 , 7 3 6 - 7 3 8 ) , findet Beachtung bei —»Hrabanus M a u rus in De videndo Deum und De puritate cordis (PL 112,1261 —1303). Anselms v. Canter-
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bury Prolog zu den Orationes (Opera 111,8) ist Echo der Praxis und bringt Vertiefung. Zu den großen theoretischen Schriften, die die Tradition systematisieren und nachhaltigen Einfluß ausüben, gehören: -^Hugos v. St. Viktor De meditatione (PL 1 7 6 , 9 9 3 - 9 9 8 , Baron 4 0 6 - 4 1 0 ) ; —»Wilhelms v. St.Thierry Epistola ad fratres de Monte Dei (PL 1 8 4 , 3 0 7 - 3 5 4 ; SC 223); Guigos U.Scala claustralium sive tractatus de modo orandi (PL 1 8 4 , 4 7 5 - 4 9 6 ; SC 136,82—123). Der Dreischritt lectio-meditatio-oratio wird bei Johann v. Fécamp behandelt in den Stichworten intelligere-capere-sapere (Leclercq, Jean de Fécamp 68 — 76); bei —»Rupert von Deutz in De Victoria verbi (PL 1 6 9 , 1 2 1 9 - 2 0 ) mit tactus-contactus-affectus umschrieben. Meditation bildet bei den Exponenten der monastischen Theologie mit lectio und oratio eine Einheit. Es geht um geistliche Auslegung und affektive Aneignung des Textes, und sie ist dadurch bereits Gebet (Leclercq, a.a.O. 100). Auch für Thomas v. Aquin ist diemeditatio noch die aus der lectio folgende Vergegenwärtigung Gottes (In IV. Sent. d. X V q.4 a. 1 q.2 ad 1 ). Die Anleitung zum Aufstieg der Seele mittels der über die oratio hinausführenden contemplano beginnt bei Guigo II. und wird von -^Bonaventura und anderen Meistern der franziskanischen Spiritualität weiterentwickelt. Die Meditation als eigene Andachtsübung wird erst in den formulae exercitiorum im Umkreis der —»Devotio moderna weiter ausgebildet. Mit Betonung des meditativen Gebetes gewinnt die oratio mentalis an Bedeutung und gehört zur—»Mystik, die zu definieren ist als Vereinfachung und Totalisierung des inwendigen Gebetes. Dank Aufzeichnungen und Nachschriften wurden viele der im Zustand von Erleuchtung und Einung gemachten wortlosen Erfahrungen überliefert. Zu diesem mystischen Gebetsgut zählen auch zahlreiche geistliche Dialoge sowie verschiedene und formal an Augustin ausgerichtete confessiones. Das vielfältige meditative Schrifttum übt einen nachhaltigen Einfluß auf die Gebetsformeln aus. Das de necessitate medii gebotene Gebet auch der Laien wird reichhaltiger und begnügt sich nicht mehr mit den Grundgebeten (Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Ave Maria), wie die vielen Stundenbücher des Spätmittelalters zeigen. Allerdings sind viele meditative Gebete der —»Passionsfrömmigkeit eingebunden und auf praktische Ziele gerichtet: Trost in —»Anfechtung, Erwerbung von Tugenden (vgl. Ludolf v. Sachsen, Vita Christi 11,60; De duodecim utilitatibus tribulationum, PL 2 0 7 , 9 8 6 - 1 0 0 6 ; ed. u. komm. v. Auer, Leidenstheol. 1 - 1 8 ) . Als Gebete der via purgativa nehmen sie vielfach auch die Anliegen der Trostbuchliteratur auf. Quellen S. Anselmi Caniuariensis Archiepiscopi Opera omnia III. Ed. Franciscus Sai. Schmitt, Edinburgh 1 9 4 6 . - Tractatus domini Anshelmi Havelbergensis episcopi de ordine pronuntiandae letaniae. Hg. v. Fr. Winter, Zur Gesch. des B. Anselm v. Havelberg: Z K G 5 ( 1 8 8 2 ) 1 3 8 - 1 5 5 . - Guigues II, le Chartreux, Lettre sur la vie contemplative (l'échelle des moines). Douze méditations. Ed. et trad. Edmund Colledge/ James Walsh, 1 9 7 0 (SC 163). - Meditationes Guigonis, Prioris Cartusiae. Le recueil des Pensées du b. Guigue. Ed. complète par Dom André Wilmart, 1 9 3 6 (EPhM 2 2 ) . - Guillaume de SaintThierry, Lettre aux frères du Mont-Dieu (Lettre d'or). Ed. et trad. Jean Déchanet, 1 9 7 5 (SC 2 2 3 ) . - J o hannes v. Fécamp, Confessio theologica: Leclercq/Bonnes (s. u.) 1 1 0 - 1 8 3 . - Ludolphus de Saxonia, Vita Jesu Christi e quatuor Evangeliis et scriptoribus orthodoxis concinnata. Ed. L. M . Rigollot, 4 Bde., P a r i s 2 1 8 7 8 . - Karl Miillenhoff/Wilhelm Scherer, Denkmäler dt. Poesie u. Prosa aus dem 8. bis 12. Jh., Berlin 1 8 9 2 . - Precum libelli quattuoraevi Karolini. Ed. André Wilmart, Rom 1 9 4 0 . - Repertorium bib Ii cum medii aevi. Ed. Friedrich Stegmüller, Madrid, X 1 9 7 9 (RBMA) 1 0 7 - 1 1 1 (Ave Maria); 1 7 7 - 1 8 1 (Credo); X I 1 9 8 0 , 1 6 4 - 1 6 5 (Oratio); 1 9 1 - 2 0 1 (Pater noster); 4 6 9 - 4 7 0 (Symbolum). Thomas v. Aquino, Compendium theologiae: ders., Opuscula theologica, Turin, I 1 9 5 4 . - Ders.,In IV Sent. Ed. Vives, Paris, X , 1 8 7 3 . - Ders., Summa theologiae I I - I I q. 8 1 - 8 3 . 1 7 9 - 1 8 8 : ders. Opera o m nia iussu Leonis XIII. edita, R o m , XII, 1 9 0 6 . - Cyrille Vogel/Reinhard Elze, Le Pontifical Romanogermanique du dixième siècle. 3 Bde., 1 9 6 3 - 1 9 7 2 (StT 2 2 6 ; 2 2 7 ; 2 6 9 ) .
Literatur Albert Auer, Leidenstheol. im SpätMA, 1 9 5 2 (KGQS 2). - Walter Baier, Unters, zu den Passionsbetrachtungen in der Vita Christi des Ludolf v. Sachsen, 1 9 7 7 (ACar 4 4 ) (Lit.). - Roger Baron, Spiritualité
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Isnard W. Frank
VII. Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst te
1. Das Allgemeine Kirchengebet 2. Die Kollektengebete 3 . Abendmahlsgebete 5 . Gebete bei kirchlichen Handlungen (Quellen/Literatur S. 83)
4 . Beichtgebe-
Z u m privaten Gebet in diesem Bereich —»Gebetbücher III.
„Nächst dem Predigtamt ist das Gebet das höchste Amt in der Christenheit" (WA 3 4 / 1 , 3 9 5 , 1 4 f ) . „Man kann und soll wohl überall, an allen Orten und zu jeder Stunde beten; aber das Gebet ist nirgends so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufen einträchtig miteinander betet" (WA 4 9 , 5 9 3 , 2 4 - 2 6 ) . Die Äußerungen M. —»Luthers über die Bedeutung des Gebets in der versammelten Gemeinde und sein häufig wiederholter Hinweis auf Gebot und Verheißung des Gebets kennzeichnen die Wandlung in Gebetsverständnis und Gebetspraxis nach dem Verständnis der Reformation: Das Gebet ist nicht Mittel und Werk, um Gottes Gnade und Hilfe zu erlangen, sondern Antwort des Glaubens auf das, „was Gott an uns gewendet h a t " (Luther). Weil also das Gebet Frucht der Evangeliumsverkündigung ist, hat die Darstellung seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner Ausdrucksformen in erster Linie das Gebet in der versammelten Gemeinde ins Auge zu fassen, wo das die Antwort auslösende W o r t gepredigt wird. Das Gebet des einzelnen ist, wie die Liebestat des einzelnen, im Grunde nur Auswirkung und Ausübung des durch die Predigt geweckten und genährten Glaubens. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird im folgenden das evangelische Gemeindegebet behandelt, während die Entwicklung des privaten Betens einschließlich seiner zeitweise engeren, zeitweise auch gestörten inhaltlichen und praktischen Beziehung zum gottesdienstlichen Beten auch aus sachlichen Gründen im Artikel —»Gebetbücher dargestellt ist. Das „Kirchengebet" aus reformatorischem Ansatz ist grundsätzlich volkssprachliches Gemeinde-Gebet, inhaltlich begründet, geprägt und abgegrenzt durch die biblische Uberlieferung, insbesondere durch das exemplarische Leitbild des —»Vaterunsers. Gleichwohl knüpft dieses evangelische Gemeindegebet der Reformationszeit durchweg an überlieferte Ausdrucksformen des öffentlichen Gebets der abendländischen Christenheit an und begründet seinerseits wieder eine eigene Tradition des von der verdeutschten Bibel geprägten gottesdienstlichen Betens, eine Tradition, die sich auch dann durchhält,
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wenn das Bedürfnis nach Zeitgemäßheit in Sprache und theologischer Aussage vorherrschend ist oder wenn gegenüber dem als formelhaft empfundenen geprägten Gemeindegebet neue Lebendigkeit im persönlichen und situationsgerechten „ f r e i e n " Gebet des Vorbeters gesucht wird.
1. Das Allgemeine
Kirchengebet
Auffallendes Kennzeichen eines evangelischen —»Gottesdienstes war im deutschen Sprachgebiet neben der volkssprachlichen —»Predigt schon früh die volkssprachliche Fassung des Fürbitten-Gebets, nachdem in der lateinischen Messe schon seit dem 5. Jh. die alte oratio fidelium aus dem Hörbereich der Gemeinde herausgenommen und in den vom Priester leise gesprochenen Canon Missae verlegt worden war. Doch hatten sich Reste alten Brauches erhalten, und spätmittelalterliche Neubildungen im Zusammenhang mit der volkssprachlichen Predigt entsprachen dem Bedürfnis des Volkes, das seine Anliegen ins Gebet der Kirche aufgenommen haben wollte. 1.1. Gebetsvermahnung und —>Vaterunser. Schon die Benediktusregel (cap. 13 und 17) kannte diesen Gebetstypus, der die offene Reihe der Bitten (litania) mit dem Vaterunser als zusammenfassender Schlußkollekte verband (vgl. Jungmann, Wortgottesdienst 63 ff). Wie das Manuale Curatorum von Ulrich Surgant (Basel 1503 u.ö.) ausweist, war es vor allem in Süddeutschland üblich, der Predigt in der Volkssprache das volkssprachliche Gebet pro omni statu ecclesiae in der Form einer Prosphonese (Bittet für . . . um . . . ) mit abschließendem gemeinsam gesprochenen Vaterunser folgen oder vorausgehen zu lassen. An diese offenbar weit verbreitete Praxis konnte die Reformation anknüpfen. Entweder wurden nur Stichworte zu freier Formulierung gegeben wie in Mecklenburg 1540 (EKO 5, 154) und 1552 (EKO 5,198), Pommern 1535 (EKO 4,341) und Kurland 1570 (EKO 5, 89), oder die Agenden enthielten formulierte Prosphonesen wie in Zürich 1523/25 (SchmidtClausing 89ff), Basel 1526 (Smend 216), Breslau 1526 (Löhe 193), Braunschweig 1528 (EKO 6,443), Augsburg 1537 (EKO 12,70), Naumburg 1537 (EKO 2, 80), Calenberg 1542 (EKO 6, 793), Lüneburg 1564 (EKO 6, 545), Pommern 1569 (Höfling 235), Lauenburg 1585 (Höfling 240); ebenso die jeweils abhängigen Agenden. In der Deutschen Messe, 1526, verband Luther, der diese Form des Gemeindegebets kannte (vgl. WA 49, 613, 29; 614, 6 - 9 ; 52, 732, 3 3 - 7 3 3 , 38), das Vaterunser mit den speziellen Bitten noch enger, indem er eine prosphonetische Vaterunserparaphrase ausformulierte, die dann in gleichbleibender Wortgestalt („praescriptis verbis") der Gemeinde das „angewandte" Vaterunser einprägen sollte (WA 19, 97, 3 - 7 ) . Diesem Vorbild folgten die Vaterunserparaphrasen von Naumburg 1527 (EKO 2, 60) und Veit Dietrich, Agendbüchlein, 1543 (EKO 11, 500). Dieser gestaltete außerdem im Anschluß an Formulierungen Luthers eine in der Hauspostille, 1544, veröffentlichte Gebetsvermahnung, die in amtliche Agenden überging (EKO 2, 308). M. ^ B u c e r 1539 (EKO 8, 120f) und J. -^Calvin 1542 (Beckmann 155 f. 303 f) nahmen Luthers Anregung so auf, daß sie das ausführliche Kirchengebet mit einer knappen Vaterunserparaphrase abschlössen. Schließlich boten Kurpfalz 1563 (EKO 14,390ff) und 1577 (EKO 14,159) Vaterunserparaphrasen in epikletischer (an Gott gerichteter) Gebetsform. Die Form der Prosphonese mit abschließendem Vaterunser bzw. mit Vaterunserparaphrase trat im Laufe der Zeit mehr und mehr zurück gegenüber epikletischen Formen der Fürbitte. 1.2. Die Litanei als Volksgebet. Das Kyrie im Eingang der Messe erinnert daran, daß hier einmal eine Kyrie-Litanei gebetet wurde, wie sie der Liturgie der Ostkirche bis heute eigen ist. Immerhin bewahrte das monastische Gebet in den Preces die alte Litania ad Laudes et Vesperas, wobei allerdings die Kyrie-Rufe durch Psalm-Versikel ersetzt wurden. Volkstümliche Bedeutung gewann diese Gebetsform in der verselbständigten und reicher ausgeformten Allerheiligenlitanei, die als Prozessionsgebet vor allem an Bittagen und zu besonderen Anlässen in Gebrauch kam. Luther wurde durch die Türkengefahr veranlaßt, eine evangelische Fassung der Allerheiligenlitanei herzustellen (dabei Ausscheidung der Heiligenanrufung). Sie erschien 1529 in lateinischer Fassung für Lateinschülerchöre an Stadtkirchen und in deutscher Fassung zum
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Wechselgesang zwischen Einzelsängern und Gemeinde. Bemerkenswert ist die kunstvolle Symmetrie des Aufbaus und die sorgfältige, an das Verfahren bei der Deutschen Messe erinnernde, von Luther selbst stammende musikalische Gestaltung. Offenbar wollte Luther um der gemeinsamen Ausführbarkeit willen ein singbares ausdrückliches Gemeinde-Gebet schaffen. Von inhaltlicher Bedeutung war die zentrale Stellung der christologischen Prädikationen und die reformatorische Akzentuierung und Aktualisierung der Fürbitten. Als Gemeindegebet in besonderen Gottesdiensten fand die Litanei weite Verbreitung und Aufnahme in den Agenden und Gesangbüchern, so in Sachsen 1539 (EKO 1,272), Brandenburg 1540 (EKO 3,74), Veit Dietrich, Agendbüchlein, 1543 (EKO 11,503), Calenberg 1542 (EKO 6,811), Lüneburg 1564 (EKO 6,552), außerdem in Württemberg 1553 (EKO 14,159ff, w o sie beim Fehlen eines Schülerchors auch vom Pfarrer vorgesprochen werden konnte); ebenso in den abhängigen Agenden. Verschiedene Agenden ordneten den Gesang der Litanei für den Fall an, daß im Sonntagsgottesdienst keine Kommunikanten vorhanden waren, z.B. Brandenburg 1540 (EKO 3,74), Mecklenburg 1552 (EKO 5,200.202), Pommern 1569 (EKO 4,439f) und Wolfenbüttel 1569 (EKO 6,150). In Lüneburg 1564 (EKO 6,543) wurde zwischen Epistel und Evangelium (vgl. EKO 11,368) eine epikletisch gefaßte monologische Kurzform der Litanei gebetet. Auch sonst drangen die Spezialbitten der Litanei in andere Formen des Allgemeinen Kirchengebets ein, so in Pommern 1569 (Höfling 234), Lüneburg 1564 (EKO 6,545 f), Lauenburg 1585 (Höfling 240) und Kurpfalz 1577 (EKO 14,159). Nachdem in der Epoche der Aufklärung die Litanei teilweise verdrängt oder als monologisches Gebet ohne Gemeindebeteiligung zeitgemäß umgearbeitet worden war (z. B. Württemberg 1809,290ff), wurde sie im 19. Jh. wieder mit dem ursprünglichen Text in neubearbeitete Agenden aufgenommen, so in Preußen 1829 und 1895 (jeweils im Anhang); W. —»Löhe, Agende, 2 1853,149ff (mit ausführlicher Einführung); Bayern 1856,99ff (mit Noten); Baden 1858,49ff.93 ff. Schon im 16. Jh. hatte die Litanei als Bittgebet in Notzeiten auch den Charakter eines Bußgebets angenommen, z.B. in Württemberg 1553 (= EKO 14,161). Entsprechend wurde sie im 19 Jh..dem Büß- und Bettag, teilweise auch dem Karfreitag als Allgemeines Kirchengebet zugewiesen, jedoch meist nur gesprochen und vielfach ohne Beteiligung der Gemeinde an den Bittrufen, so in Preußen 1829 (I,50ff). Der reformierten Tradition, die das responsorische Beten nicht schätzte, blieb die Litanei immer fremd. Eine Frühform der Litanei, die ostkirchliche „Ektenie" aus der Chrysostomos-Liturgie (BKV 5,220) fand im 19. Jh. erstmals Eingang in die evangelische liturgische Tradition durch die Preußische Agende 1829 (II, 71 f) und 1895 (I, 13f). 1.3. Das Diakonische Gebet (Kollekten-Reihe). In den Orationes sollemnes des Karfreitags hat die lateinische Kirche eine sehr alte Form des Allgemeinen Kirchengebets bewahrt. Sie bestand aus einer Reihe von kurzen Prosphonesen mit Angabe des Gebetsgegenstandes durch einen Diakon, worauf die Gemeinde niederkniete und still betete. Z u m jeweils abschließenden Kollektengebet des Vorstehers erhob sie sich wieder und beschloß das Gebet mit -H>Amen. Auch an diese Form eines aufgegliederten und aufgeteilten Gemeindegebets knüpfte man in der Reformationszeit an, als es galt, das volkssprachliche Kirchengebet zu ordnen. Das früheste Beispiel f ü r eine aus zehn Gliedern bestehende Reihe von Prosphonesen und Kollekten findet sich als Beigabe im Katechismus des Andreas Althamer 1528 (MGP XXII/3,34ff); die Gebete stammen nach M. Brecht von Joh. -n>Brenz (ZSRG.K 55 [1969] 327), der diese Form (mit 7 Gliedern) auch in Schwäbisch Hall 1543 (Löhe 204f) und Württemberg 1553 ( = EKO 14,151 ff) aufgenommen hat. Auch Waldeck 1556 (Precationes solennes, Bl. Q 4 a ff) und Frankfurt 1565 (Höfling 102ff) boten das diakonische Gebet. Freilich dürfte in allen Fällen die Zuweisung der Prosphonesen an einen zweiten Vorbeter („Diakon") unterblieben sein. Auch stellte schon Württemberg 1553 (= EKO 14,156ff) neben die dialogische Form des Gebets eine kürzere, monologische Fassung, die das Diakonische Gebet in der Folgezeit verdrängte. Erst Löhe (Agende, 2 1853,201 ff) machte wieder auf das Diakonische Gebet aufmerksam, worauf es vereinzelt in Agenden Aufnahme fand, so in Bayern 1 8 5 6 , 1 5 6 ff
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(als Kirchengebet) und Baden 1858, 152ff. 157 (bei Gebetsgottesdiensten). Doch waren Pfarrer und Gemeinden noch nicht bereit, das dialogisch strukturierte Gebet auch dialogisch auszuführen. Weitere Versuche der Reformationszeit, das volkssprachliche Fürbittengebet als Reihe von mehreren Kollekten, jedoch ohne Prosphonesen, zu gestalten, schlössen sich an die mittelalterliche Sitte an, nach dem Gloria mehrere (bis zu sieben) Meßkollekten hintereinander zu beten, so Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,188 ff), Veit Dietrich 1543 (EKO 13,495ff) und Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,71), oder sie ersetzten die Kanon-Gebete durch deutsche Kollekten für die Obrigkeit, die Diener des Wortes und die Einigkeit der Christen, so Brandenburg 1540 (EKO 3,68 f), Calenberg 1542 (EKO 6,815 f) und PfalzNeuburg 1543 (EKO 13,74). Doch setzte sich diese Form des Kirchengebets nicht durch. 1.4. Das Gebet nach der Predigt. Die „gemeinen Gebete in fortlaufender Gebetsform" (Löhe) haben unterschiedliche Wurzeln. Es kann sich um Fortbildungen oder Verkürzungen dialogischer Gebetsformen handeln, etwa indem bei der Gebetsvermahnung mit Vaterunser bzw. bei der Vaterunserparaphrase die Prosphonese zum epikletischen (an Gott gerichteten) Gebet umgebildet wird (Kurpfalz 1563) oder indem die Litaneibitten unter Ausscheidung der Bittrufe der Gemeinde zu einem monologischen Fürbittengebet gestaltet werden (Lüneburg 1564) oder indem die Reihe der Kollekten zu einem längeren Gebet zusammenwächst (Württemberg 1553). Das allmähliche Zurücktreten dialogischer Gebetsformen zeigt, daß es im Reformationszeitalter letztlich nicht gelang, das —»Priestertum aller Gläubigen beim gottesdienstlichen Gebet zur Geltung zu bringen: Allgemein durchgesetzt hat sich das monologische Gebet des Predigers gewiß auch aus ganz praktischen Gründen. Immerhin blieb fast durchweg die gemeinsam gesprochene „Volks-Kollekte", das Vaterunser, als Abschluß des allgemeinen Kirchengebets erhalten. In Südwestdeutschland, also im Gebiet des auf die Predigt konzentrierten oberdeutschen Prädikantengottesdienstes, entwickelte sich schon früh ein sprachlich und inhaltlich der Predigt zugeordnetes epikletisches Gemeindegebet, das vom Prediger vorgesprochen wurde, während die Gemeinde nur im Liedgesang zu Wort kam. In Straßburg trat dieses „homiletische Gebet" an die Stelle des Meßkanons, der den Rest der alten Fürbitten enthielt (Te igitur, Memento); es rückte in den späteren Ausgaben (1537ff) nach Wegfall der Präfation näher an die Predigt und zog dann auch das Vaterunser als Abschluß an sich (drei inhaltlich ähnliche Formen: Hubert 100f.103ff.105ff). Die langen Fürbittengebete in Kassel 1539 (EKO 8,120f), Genf 1542 (Beckmann 301 ff), Köln 1543 (Bl. 106 a ff) sowie Hessen 1566 und 1574 (EKO 8,318.438f) waren Ausformungen des Straßburger Gebets (Bucer). Kurpfalz 1563 (EKO 14,389 ff) bot fünf „Gebete nach der Predigt", darunter die kurze Form aus Württemberg 1553, das Wochentagsgebet aus Zürich 1535 (Schmidt-Clausing 107) und das stark erweiterte Straßburger Gebet. Die in den Agenden festgehaltenen Gebete nach der Predigt aus d e m 16. J h . erwiesen sich dank des stereotypen G e b r a u c h s u n d der p r ä g e n d e n Sprachgestalt als b e m e r k e n s w e r t beständig. Dahinter stand auch die A u t o r i t ä t der - ^ O b r i g k e i t , die ü b e r T e x t u n d Inhalt des Fürbittengebets wachte. Ein Beispiel d a f ü r w a r das vom reformiert g e w o r d e n e n Landesherrn Preußens f ü r reformierte und lutherische Gemeinden herausgegebene u n d verbindlich g e m a c h t e „ p r e u ß i s c h e " Kirchengebet ( 1 7 1 3 / 1 7 1 7 ) , das zum festen Bestandteil der evangelischen Gebetstradition g e w o r d e n ist.
Im 17. und 18. Jh. übernahmen die Agenden teilweise längere Gebete, besonders zu den Festzeiten, aus verbreiteten Gebetbüchern. Das Festliche wurde jetzt nicht mehr im liturgischen Proprium, sondern im homiletischen Kern des Gottesdienstes gesucht; dort konnte es sich individueller und gefühlvoller äußern. In der Aufklärungsepoche führte die Nachbarschaft der Predigt zu ausgedehnten predigtartigen Gebeten in belehrendem, rührendem oder pathetischem Ton, wobei oft die theologische Substanz verloren ging. Trotz der Bestrebungen zur Wiedergewinnung eines dialogischen Gemeindegebets blieb im 19. Jh. das „Predigergebet" vorherrschend und betonte, auch wenn es an den Altar verlegt wurde, die Rolle
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des Pfarrers, der „den Gottesdienst hält". Im Gegensatz zum 16. Jh. konnten konfessionelle Profile am Allgemeinen Kirchengebet nicht mehr festgemacht werden. 1.5. Der Inhalt des Allgemeinen Kirchengebets. Auch im Inhalt schlössen sich die volkssprachlichen Fürbittengebete zunächst an die Vorbilder der lateinischen Kirche an. Es ging um die gleichen Amtspersonen, Hilfsbedürftigen und Bedürfnisse wie im Karfreitagsgebet, in der Allerheiligenlitanei oder der deutschen Gebetsvermahnung: um die Kirche und ihre Diener, die weltliche Obrigkeit, die Kranken und Bedrängten, die Reisenden und Schwangeren, die Früchte des Feldes usw. Doch setzte Luther durch Einfügung konkreter Einzelbitten aus den Gebetsvermahnungen in seiner Litanei neue Akzente, vor allem durch Bitten für den Lauf des Evangeliums und um Abwehr von Bedrohungen und Spaltungen in der Gemeinde. Mit der Vaterunserparaphrase versuchte Luther noch stärker, das unter dem Gebot und der Verheißung Jesu stehende, erhörungsgewisse Beten einzuüben und dem Gemeindegebet den Charakter eines Werkes und Pensums zu nehmen. Die paradigmatische Bedeutung des Betens nach der biblischen Norm des Vaterunsers hat dazu beigetragen, daß später in den meisten evangelischen Gemeindegebeten eine bestimmte Rangfolge der Gebetsanliegen eingehalten wurde: Zuerst geht es um Gottes Sache ( 1 . - 3 . Bitte), dann um die irdischen Bedürfnisse (4. Bitte) und schließlich um die Angefochtenen und Bedrängten ( 5 . - 7 . Bitte). Vom Ende des 16. Jh. an wurde die inhaltliche Bindung an das Vaterunser lockerer und formaler: Die Gebete öffneten sich mehr für konkrete Bitten und Bedürfnisse, wie sie in der Litanei aneinandergereiht waren. Zugleich aber verstärkte sich die Tendenz, das Gebet der gesellschaftlichen Ordnung gemäß zu strukturieren. Es ging dann um das geistliche und das weltliche Regiment, so in Preußen 1568 (EKO 4,83 f), oder um den geistlichen, den weltlichen und den Ehe-Stand, so in Ulm 1656 (Löhe 209). Dazu kam die Gewohnheit, den Landesherrn samt Familienangehörigen und Amtsleuten mit Rang und Titel zu nennen, so daß das „Kirchengebet" zur Einübung in staatstreue Gesinnung dienen konnte. Die Geschichte des Allgemeinen Kirchengebets hat gezeigt, wie schnell es zur Manipulation und Indoktrination mißbraucht werden kann, wenn das Vaterunser nicht mehr inhaltlich zur Geltung kommt, wie es Luther gewollt hat. 2. Die
Kollektengebete
Wo die Reformation für den volkssprachlichen Gottesdienst den Meß typ zugrundelegte, da ergab sich die Notwendigkeit, über die Beibehaltung der Kollektengebete zu entscheiden. Luther sagte dazu 1523, man möge sie beibehalten, wenn sie „fromm" seien, was bei den Sonntagskollekten normalerweise der Fall sei (vgl. WA 12,209,14f). Nächster Schritt mußte dann die Eindeutschung sein: zwischen 1526 und 1534 veröffentlichte Luther insgesamt 15 nach lateinischen Vorlagen übertragene und 3 neu geschaffene deutsche Kollekten, von denen 17 in den Ausgaben des Klugschen Gesangbuchs (1533 ff) abgedruckt wurden. Brandenburg-Nürnberg brachte 1533 (EKO 11,188 ff) 27 ebenfalls nach lateinischen Vorlagen übertragene deutsche Kollekten, darunter 6 von Luther und 10 aus dem Althamerschen Katechismus. Luthers und die Nürnberger Gebete bildeten in vielen reformatorischen Kirchenordnungen den festen Grundstock an Kollekten, der später nicht ersetzt, sondern lediglich ergänzt wurde. I m G e g e n s a t z zu früheren U b e r s e t z u n g e n , die d u r c h eine holprige W ö r t l i c h k e i t gekennzeichnet w a ren, zeigten die evangelischen Kollekten einen freieren U m g a n g mit den V o r l a g e n , um in S a t z s t r u k t u r , R h y t h m u s und S p r a c h m e l o d i e wirkliche E i n d e u t s c h u n g e n z u s t a n d e zu bringen. D a s Bedürfnis n a c h ein e r der d e u t s c h e n S p r a c h e eigenen größeren R e d u n d a n z führte teilweise d a z u , d a ß zwei lateinische Kollekten zu einer deutschen z u s a m m e n g e a r b e i t e t w u r d e n .
Die eigentliche Bedeutung der evangelischen Kollekten liegt jedoch darin, daß sie das sprachliche Gefäß wurden, in dem sich der reformatorische Glaube betend aussprechen konnte. Luther fügte die Kollekten den neuen Kirchenliedern im Gesangbuch bei, weil sie die Gemeinden in evangelisches Beten einüben sollten. Denn der Aufbau einer Kollekte, in der sich der Beter zunächst der in einer Prädikation angesagten Heilstat Gottes erinnert, um daraufhin vertrauensvoll zu bitten und dann in der Konklusion mit dem Ausblick auf die ver-
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heißene Erfüllung zu schließen, entsprach ganz dem reformatorischen Ansatz, wonach das Gebet des Glaubens, das immer neu gelernt werden muß, aus dem vorgängigen Zuspruch des Evangeliums erwächst und im Bekenntnis zu Christus als dem Bürgen und Fürsprecher der Erhörung gewiß wird. Bis zur Mitte des 16. Jh. kamen die Kirchenordnungen mit dem nur geringfügig erweiterten Grundstock von einigen allgemeinen Kollekten und den Kollekten für die Festzeiten aus. Die Weiterentwicklung der evangelischen deutschen Kollekte ist auf den Lutherschüler Veit Dietrich zurückzuführen, der schon in seinem Agendbüchlein, 1 5 4 3 (EKO 1 1 , 4 9 6 f) 7 neu geschaffene Kollekten vorgelegt hatte. Dietrich veröffentlichte 1 5 4 6 seine Kinderpredigten und stellte hinter jede Sonntagsperikope mit Auslegung ein zusammenfassendes kurzes Gebet im Kollektenstil. Prädikation und Bitte bezogen sich dabei auf den vorausgehenden Bibeltext, es entstand die „Textkollekte" als charakteristische Form evangelischen Betens. Seit Sachsen 1 5 5 5 (EKO 1 , 2 7 5 ff) ergänzten die Kirchenordnungen in der Folgezeit ihren Bestand an Kollekten durch den Rückgriff auf Dietrichs Textkollekten; Hoya 1 5 8 1 (EKO 6 , 1 1 4 8 ) verwies sogar auf den vollständigen Zyklus bei Veit Dietrich. Auf das Gebetbuch des Johann Mathesius 1 5 6 3 , das Gebete zu den sonntäglichen Evangelienperikopen enthielt, wurde in Lauenburg 1 5 8 5 verwiesen. Österreich u. E. 1 5 7 1 übernahm sogar 111 Texte aus Mathesius. Bis zum Ende des 16. J h . waren zwar gelegentlich einzelne lateinische Kollekten zusätzlich übersetzt und in die Kirchenordnungen aufgenommen worden, so in Calenberg 1 5 4 2 (EKO 6 , 8 1 2 f f ) , Mecklenburg 1 5 4 5 ( E K O 5 , 1 5 2 ) , Spangenberg, Kantionale, 1 5 4 5 , Sachsen 1 5 5 5 (EKO 1 , 2 7 5 ff), Lüneburg 1 5 6 4 ( E K O 6 , 5 6 8 f f ) . Jedoch kam es zu keiner geschlossenen Übernahme des verdeutschten Zyklus der Meßkollekten in die Agenden. Preußen 1 5 2 5 und 1 5 4 4 ( E K O 4 , 3 7 . 7 2 ) brachte zwar eine Verdeutschung, die aber mangels sprachlicher Qualität bereits 1 5 6 8 verschwand. Die Ubersetzung der Meßkollekten durch Michael Coelius erschien in einem Gebetbuch zum privaten Gebrauch (vor 1 5 5 0 ) und wurde wie die verdeutschten Meßkollekten im Missale des Matthias Ludecus ( 1 5 8 9 ) nicht in die Agenden des 16. J h . übernommen. Die nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich begründete Eigenprägung eines evangelischen Kollektengebets setzte sich überall durch. Dem entspricht auch die Beobachtung, daß die Agenden an keiner Stelle Texte aus der mittelalterlichen und jesuitischen Gebetsliteratur übernommen haben, im Gegensatz zu den evangelischen Gebetbüchern, die in der 2. Hälfte des 16. J h . sich bereitwillig katholisch-mystischen Einflüssen geöffnet haben. Das Zeitalter der Aufklärung wußte mit den überlieferten „altertümlichen" Kollektengebeten nicht viel anzufangen. Entweder ließ man sie ganz weg oder man verfertigte neue, meist wortreichere, inhaltlich verflachte Kollekten. Die Funktion der Summarienkollekten von Veit Dietrich blieb dort erhalten, wo neue Kollektengebete als Summarium der in der Predigt verkündigten Wahrheiten und Sittenlehren geschaffen wurden. Kollekten in Gedichtform, womöglich im Wechsel gesprochen, erinnerten daran, daß die alten Kollekten bestimmten sprachlichen Stilgesetzen folgten und im Altargesang ausgeführt worden waren. Erst die Preußische Agende 1 8 2 2 / 2 9 , die den Gottesdienst im Meßtyp wiederherstellte, brachte die alten evangelischen Kollekten als „Gebet vor der Epistel" wieder zur Geltung, und zwar 11 für die Hauptfeste und 3 6 allgemeine, jeweils mit davorgesetztem Versikel. Löhe sammelte in seiner Agende 7 1 ( 1 8 4 4 ) bzw. 1 3 0 ( 1 8 5 3 ) Kollektengebete aus der evangelischen Uberlieferung und fügte seinem Perikopenbuch ( 1 8 6 1 ) den vollständigen Zyklus der verdeutschten Meßkollekten bei. Hannover 1 8 5 2 (Petri) bot 6 2 Kollekten der regionalen Überlieferung. Ein erneuerter Kanon evangelischer Kollektengebete bildete sich im 19. Jh. heraus durch die Agenden Bayern 1 8 5 6 (76 Kollekten), Sachsen 1 8 8 0 / 1 9 0 6 ( 1 5 1 Kollekten), Hannover 1 8 8 9 (83 Kollekten), Preußen 1 8 9 5 (93 Kollekten) u.a. Während Bayern und Hannover sich auf Kollekten der reformatorischen Tradition beschränkten, boten Sachsen und Preußen zusätzlich neue Kollekten „im alten Stil". Trotz der verhältnismäßig großen Zahl von Kollektengebeten kam es im 19. J h . in den amtlichen Agenden noch nicht zur Zuordnung der Gebete zu jedem Sonn- und Feiertag,
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auch nicht zur Rezeption des vollständigen Zyklus der Meßkollekten aus der abendländischen Tradition. Es blieb bei der Einteilung in Festkollekten und allgemeine Kollekten, zu denen auch Kollekten für bestimmte Anliegen gehörten. Da die Kollektengebete im 19. Jh. weithin nicht mehr im Altargesang ausgeführt und als Abschluß des auslntroitus, Kyrie und Gloria bestehenden, ebenfalls gesungenen Eingangsteils verstanden wurden, sondern als Gebete zur Vorbereitung der Schriftlesung, verschob sich ihre Funktion in Richtung auf das Gebet vor der Wortverkündigung (Eingangsgebet) nach oberdeutscher Tradition. Freilich war dieses Gebet dort ursprünglich ein stereotypes oder freies Gebet, das sich teilweise mit der Offenen Schuld verband. Texte boten zuerst Zwingli 1525 (Schmidt-Clausing 130), Straßburg 1526 (Hubert 96), Kurpfalz 1563 (EKO 14,388 f) Baden 1686 (2). H i e r h e r g e h ö r t ferner das stereotype Eingangsgebet mit stillem Vaterunser vor der Predigt aus Württemberg 1668 (Zeremonienordnung). Auch die lutherischen Agenden kannten die Aufforderung zum Gebet um Gottes Geist f ü r die A u f n a h m e der Predigt, z.B. Lüneburg 1564 (EKO 6,544). D e m oberdeutschen Kanzelgottesdienst fehlte also die klassische Kollekte, doch gibt es bei Calvin eine bemerkenswerte Parallele zu den Summarienkollekten Veit Dietrichs. In seinen biblischen Vorlesungen pflegte Calvin ein kurzes, gleichbleibendes Gebet u m Öffnung des göttlichen Wortes vorauszuschicken und die Vorlesung mit einer Textkollekte zu beschließen. Doch sind diese lateinischen Gebete erst im 20. Jh. verdeutscht und in reformierte Agenden ü b e r n o m m e n worden. Die Bedeutung der neuen deutschsprachigen Kollektengebete k a m im übrigen auch darin zum Ausdruck, daß sie nicht n u r in der Funktion der Eingangskollekte im Meßgottesdienst oder der Schlußkollekte im Tageszeitengebet Verwendung fanden. So w u r d e in Braunschweig 1528 (EKO 6,442) und Mecklenburg 1552 (EKO 5,200), falls der Abendmahlsteil mangels Kommunikanten ausfiel, zum Schluß eine Sonntagskollekte gebetet, wofür die Dankkollekte nach dem Abendmahl ( P o s t c o m m u n i o ) formaler A n k n ü p f u n g s p u n k t gewesen sein dürfte. In Württemberg 1553 (= E K O 14,154), wo der Gottesdienst nach oberdeutscher Tradition keine Eingangskollekte kannte, waren die De fempore-Kollekten auch nach der Predigt (als Predigtschlußgebet), im Abendmahl (als Schlußgebet) und in der Vesper zu verwenden. In Sponheim 1 7 2 1 , 2 3 0 f f . 2 6 6 rückten die allgemeinen und Festkollekten der evangelischen Tradition im Gottesdienst ohne Abendmahl unmittelbar vor den Segen. Ihre Zahl wurde durch 24 neue Kollekten (zum Teil im Stil einer Dankkollekte) vermehrt. Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,188) entfaltete die Eingangskollekte durch Aneinanderreihung von Fest- und Kasus-Kollekten zum Allgemeinen Kirchengebet. In ihrer zusammenfassenden Funktion und biblisch-theologischen Prägung w u r d e die deutschsprachige Kollekte zum bündigen Ausdruck des öffentlichen Gebets der evangelischen Christenheit. 3.
Abendmahlsgebete
Da die vom Priester nur leise gebeteten Kanongebete in den reformatorischen Abendmahlsordnungen (—> Abendmahlsfeier) ganz wegfielen, blieb neben Einsetzungsworten und Vaterunser als Gebetstext n u r das Dankgebet nach dem E m p f a n g übrig. Die von Luther aufgrund einer lateinischen Vorlage geschaffene, aber charakteristisch erweiterte Postcommunio (statt: dignos nos eius participatione perficias „gedeihen lassest zu starkem Glauben gegen dir und zu brünstiger Liebe unter allen") aus der Deutschen Messe, 1526, w u r d e in den lutherischen Ordnungen weithin unveränderlicher Bestandteil des Abendmahlsordinariums. Daneben verbreitete sich die längere, kombinierte Dankkollekte aus BrandenburgN ü r n b e r g 1533 (EKO 11,197) mit ihrem eigenartigen theologischen Akzent („du wollest durch deinen Heiligen Geist in uns w i r k e n " . . . „angezeigt und zugesagt") in den abhängigen O r d n u n g e n , seit Köln 1543 (Bl. 104 b ) und Württemberg 1553 (EKO 14,150) mit dogmatischer Korrektur („angeboten und gegeben"). Das Straßburger Dankgebet (Hubert 112f) mit starker Hervorhebung der im Abendmahl mitgeteilten Christusgemeinschaft wurde in verschiedenen Fassungen von den abhängigen Agenden ü b e r n o m m e n , z.B. von Genf 1542 (Beckmann 1 5 5 f . l 6 4 ) und Kassel 1539 (EKO 8,123).
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Gebet VII
Beim Präfationsgebet ergibt sich ein uneinheitlicher Befund: Die überlieferte lateinische Präfation wurde beibehalten, so in Brandenburg 1540 (EKO 3,68), teilweise besonders an Festtagen, freigestellt, so in Braunschweig 1528 (EKO 6,441), Sachsen 1539 (EKO 1,271), Pommern 1535 (EKO 4,341) und Mecklenburg 1552 (EKO 5,199); doch kamen verdeutschte Präfationen, z. B. Straßburg 1524 (Hubert 64.76) und Erfurt 1525 (EKO 2,376 ff), nicht in allgemeine Übung, nachdem Luther in der Deutschen Messe die Präfation gänzlich ausgeschieden hatte, weil e r p r a e f a t i o als „Vor-Rede" ( = Anrede) verstand und als deutsche Vermahnung gestaltete. So übernahmen in den reformatorischen Abendmahlsliturgien die stereotypen Abendmahlsvermahnungen die Funktion der eucharistischen Gebete und verhinderten so deren Verdeutschung und Rezeption. Doch ist zu beachten, daß beispielsweise die weit verbreitete Nürnberger Abendmahlsvermahnung von A. —»Osiander 1524 (EKO 11,47) ursprünglich dazu diente, die (damals noch lateinisch rezitierten) Einsetzungsworte für die Gemeinde zu „eröffnen". Die bisher in die Kanongebete eingebetteten, aber vom Priester leise rezitierten Einsetzungsworte kamen jetzt im Rahmen einer Abendmahlsparänese laut zu Gehör. Komplementär dazu übernahm die Gemeinde die verdeutschten Abendmahlsgesänge Sanctus (seit 1526) und Agnus (seit 1528). Die das Abendmahlsgeheimnis entfaltenden eucharistischen Gebete der Tradition wurden also nicht einfach gestrichen; ihre Funktion wurde von der Verkündigung und dem Gemeindegesang übernommen. Folgerichtig fiel die Präfation vielfach ganz weg, so in Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,195) und abhängigen Agenden, oder sie wurde verkürzt zum Präfamen vor den Einsetzungsworten (Luther, Formula Missae, 1523) bzw. vor dem Vaterunser, so in Kassel 1539 (EKO 8,123). Immerhin ist im Reformationszeitalter an einigen Stellen die Neubildung evangelischer Abendmahlsgebete zu verzeichnen. In Straßburg, wo man die Kanongebete durch ein Allgemeines Kirchengebet ersetzt hatte (Hubert 65.80), ging dieses Gebet in ein Abendmahlsgebet über (Hubert 102.104.107), das in die abhängigen Agenden übernommen wurde,z.B. Genf 1542 (Beckmann 155) und Kurpfalz 1563 (EKO 14,386). Das Gebet bittet, durch die Speisung mit dem Himmelsbrot möge Christus in den Glaubenden leben, die Teilhaber des neuen und ewigen Gnadenbundes geworden sind. Ein ähnliches Gebet vor dem Abendmahlsempfang mit der Bitte um die „selige Gemeinschaft" in Christi Abendmahl, das Bucer in Köln 1543 (Richter 11,42) veröffentlichte, wurde von den südwestdeutschen Agenden, die dem Meßtyp nicht folgten, in die Abendmahlsordnung übernommen, so von Württemberg 1553 ( = EKO 14,149) und abhängigen Agenden. Der Versuch, eine evangelische Konsekrationsbitte zu formulieren, wurde in Nördlingen 1522 (EKO 12,286), Straßburg 1524 (Hubert 68) und Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,73) gemacht, fand jedoch ebenso wenig Nachahmung wie der Entwurf einer erweiterten Präfation in Köln 1543 (von Bucer, Richter 11,43), deren heilsgeschichtliche Anamnese an ostkirchliche Anaphoren erinnert. Die Aufklärungsepoche variierte und paraphrasierte die überlieferten Abendmahlsvermahnungen und Dankgebete in wortreichem, zeitgemäßem Stil, meist moralisierend oder zur Erzielung feierlicher Rührung in gereimten Gebeten. Mit der preußischen Agende 1 8 2 2 / 2 9 begann dann der Rückgriff auf die geprägten Texte der Reformationszeit, insbesondere kam es jetzt zur Rezeption der verdeutschten Präfationen, die in Preußen als feierliche Gebetstexte auch im abendmahlslosen Meßgottesdienst gebraucht wurden. Im allgemeinen setzte sich für die Präfationen die sprachliche Fassung aus Löhes Agende 1844 (26 ff) und die gesangsweise Ausführung durch, so in Bayern 1856 (13 f), Sachsen 1 8 8 0 / 1 9 0 6 (124), Hannover 1889 (11); auch unierte Kirchen übernahmen jetzt die Präfationen, z.B. Baden 1858 (23) und Hessen 1904 (168 f), freilich in gesprochener Form. Zugleich begannen die Abendmahlsvermahnungen aus den Agenden zu verschwinden. Im 19. Jh. finden sich auch erste Ansätze zu einer Abendmahls-Berac^a (PostsanctusGebet), so in Bayern 1856 (17) und in verschiedenen Privat-Agenden. Dabei kamen als neue inhaltliche Akzente das Selbstopfer Christi und der Christen sowie die Personen-Epiklese zur Geltung.
Gebet VII 4. Beichtgebete
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(—»Beichte)
In der lateinischen Kirche hatte sich im 11. Jh. aus den privaten priesterlichen Rüstgebeten (Apologien) ein eigener Vorbereitungsritus entwickelt, dessen Kern ein Sündenbekenntnis (Confiteor) war, das der Priester vor der Verrichtung seines heiligen Amtes sprach. Es war eine folgenreiche Entscheidung, als man in Straßburg diesen Reinigungsakt des Priesters in ein deutsches Rüstgebet der Gemeinde vor dem Abendmahlsgang umwandelte, wobei der liturgische Absolutionsspruch durch ein Bibelwort ersetzt wurde. Seit 1530 erschien dieses Rüstgebet in drei Formen, zwei als gemeinsames Sündenbekenntnis und eines als Sündenbekenntnis eines einzelnen nach den 10 Geboten. Der Text des 2. Straßburger Sündenbekenntnisses (Hubert 92) wurde von anderen Agenden ü b e r n o m m e n , so von Köln 1543 (Richter 2,42), Württemberg 1553 (= EKO 14,161) und Kurpfalz 1563 (EKO 14,388). Vor allem ist es über Genf 1542 (Beckmann 149 f) Kennzeichen des reformierten Gottesdienstes geworden, wobei Calvin durch eine Einfügung („wir bekennen . . . vor deiner heiligen Majestät") das Bekenntnis als Akt demütiger Anbetung qualifiziert hat, statt als Aufzählung von Aktualsünden. Das Straßburger Rüstgebet hat hinsichtlich seiner Stellung weitere Agenden beeinflußt, die ebenfalls ein Rüstgebet vor den Introitus des Meßgottesdienstes gestellt haben, so Dö bers M e ß o r d n u n g N ü r n b e r g 1525 (EKO 11,51), die wiederum auf Mecklenburg 1540 (EKO 5,151) einwirkte. Daneben gab es Agenden, die das Confiteor der lateinischen Überlieferung als privates Rüstgebet des Liturgen beibehielten, so Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,188), Brandenburg 1540 (EKO 3,68) und Pommern 1569 (EKO 4,437). Neben dem Confiteor der Messe fand die Reformation eine weitere Form des Sündenbekenntnisses vor, nämlich die volkssprachliche „ O f f e n e Schuld" oder „ O f f e n e Beicht". Sie gehörte zu den katechetischen Stücken, die den Rahmen des volkssprachlichen Predigtgottesdienstes im späten Mittelalter bildete, wie das Manuale Curatorum des Ulrich Surgant (Basel 1503 ff) ausweist. Die Sitte, nach der Predigt gemeinsam die Offene Schuld zu beten, wurde von vielen evangelischen Agenden ü b e r n o m m e n . Weite Verbreitung fand die Offene Beichte aus W ü r t t e m b e r g 1536 (Bl. B 7 a ), bei der die Aufzählung der Einzelsünden an die H e r k u n f t des Textes aus der Privatbeichte erinnert. Diese Formel ü b e r n a h m e n Württemberg 1553 (= EKO 14,145), Kurpfalz 1563 (EKO 14,389) und Wolfenbüttel 1569 (EKO 6,144), ebenso die abhängigen Agenden. Kurpfalz 1556 (EKO 14,151) verband die Offene Beichte mit dem Fürbittengebet und begründete diese Verbindung in einem Präfamen. Andere Fassungen des Sündenbekenntnisses nach der Predigt (ohne Aufzählung einzelner Sünden: ich habe gesündigt „in Gedanken, Worten und Werken") boten Basel 1523 (Smend 51) und 1525 (Smend 216), Calenberg 1542 (EKO 6,795), Mecklenburg 1552 (EKO 5,203) u n d Sachsen 1581 (EKO 1,557). Braunschweig 1528 (EKO 6,443) verband Sündenbekenntnis und Fürbitten nach der Predigt, beides in der Form der V e r m a h n u n g (Prosphonese). Der selbständige Beichtgottesdienst oder Beichtteil zur Vorbereitung auf den Abendmahlsgang, bestehend aus Ansprache (Vermahnung), Sündenbekenntnis und Absolution, gehört in diesen Z u s a m m e n h a n g , zumal weithin dieselben Texte für das Beichtbekenntnis verwendet wurden. Bei den traditionellen Beichtgebeten handelt es sich um fest geprägte, wiederholbare Formeln, die den Kollektengebeten insofern gleichen, als sie bündige Z u s a m m e n f a s s u n g eines vorgängigen Glaubensaktes, hier der Selbstprüfung vor Gott sind. Als Offene Schuld erwuchs das Beichtgebet aus der Predigt, am Anfang des Gottesdienstes setzte es gewissenhafte Kirchgänger voraus bzw. veranlaßte es die Voranstellung des Dekalogs, wie in der späteren reformierten Tradition. Hier führte das Gesetz zum Bekenntnis der Sünde, dort w a r es eher die in der Evangeliumspredigt k u n d w e r d e n d e „Güte Gottes, die zur Buße leitet" (Rom 2,4). Die allgemeine Formel bedurfte jedenfalls der vorangehenden Entfaltung und Zuspitzung. Als im 19. Jh. die dialogische Gottesdienstgestaltung der reformatorischen Agenden wiederhergestellt wurde, kombinierte m a n vor allem in unierten Kirchen das „reformierte" (= eigentlich Straßburger) Sündenbekenntnis samt nachfolgendem Absolutionsspruch mit
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Gebet VII
dem „lutherischen" ( = abendländischen) Kyrie und Gloria, z.B. in Bayern 1856 (4ff), Baden 1858 (16f), Preußen 1895 (1,3 f), und zwar auch in abendmahlslosen Gottesdiensten. Das führte allmählich zu einer stärkeren Differenzierung der mit dem festen Kyrie verbundenen „Bußgebete": Neben das herkömmliche Sündenbekenntnis („wir haben gesündigt") trat das Eingeständnis von gelegentlichem Versagen in bestimmten Lebensbereichen („Wir sind oft lieblos gewesen") und die Klage über Not und Verstrickung („Wir haben Angst und sind ratlos"). Es ist auffällig, daß Luther das Vaterunser als Beichtgebet (WA 30/1,235,1; 3 8 4 , 4 - 5 ; 1 9 , 9 6 , 3 3 - 9 7 , 1 ) und die Evangeliumspredigt als öffentliche Absolution ansah (WA 15,485, 28—486,12). Seine Gottesdienstordnungen kannten keine Formeln für Confiteor und Offene Schuld, und die Beichte war bei ihm ein Stück privater Seelsorge. Das allsonntägliche Sündenbekenntnis bzw. Büß- und Beichtgebet zu Beginn eines abendmahlslosen Predigtgottesdienstes spiegelt demnach einen anders akzentuierten theologischen Ansatz. Die Befriedigung eines religiösen Grundbedürfnisses durch das formalisierte Reinigungs-Ritual zu Beginn des Gottesdienstes wird leicht gesetzlich mißverstanden. Inhalt und Form der gottesdienstlichen Beichtgebete sind daher bis in die Gegenwart ein ungelöstes theologisches Problem geblieben. 5. Gebete bei kirchlichen
Handlungen
Bei der Neugestaltung der Gottesdienste zu kirchlichen Handlungen waren nach reformatorischem Verständnis „Gottes W o r t und G e b e t " (I T i m 4 , 4 f) konstitutiv. Dagegen traten sakramentale und juridische Vollzugsformeln zurück. Zu einem engeren Anschluß an die Gebetstexte der abendländischen Tradition kam es vor allem bei der T a u f e . M i t den neu geschaffenen deutschen Gebeten, die immer auch darüber Aufschluß geben, wie die jeweilige kirchliche Handlung als Anwendungsfall der Evangeliumspredigt zu verstehen ist, wurde eine eigene evangelische liturgische Tradition begründet, die bis in die Gegenwart weiter gewirkt hat. Im folgenden sind nur die hauptsächlichen Gebetstraditionen berücksichtigt; örtliche Sondertexte blieben außer Betracht. Für alle Gebete in den kirchlichen Handlungen gilt, daß sie im Aufklärungszeitalter stark bearbeitet und sowohl sprachlich wie inhaltlich an die Bedürfnisse vernünftiger und „ r ü h r e n d e r " Gebetspraxis angepaßt wurden. Zu Anfang des 19. J h . erfolgte dann der Rückgriff auf die Gebete des Reformationszeitalters.
5.1. Taufgebete. Die ersten reformatorischen Taufordnungen (—>'Taufe) boten zunächst die verdeutschten Taufgebete der lateinischen Kirche, so Luther 1523 (EKO 1,18 f: 3 Gebete), Osiander 1524 (EKO 11,34: 4 Gebete) und Straßburg (Hubert 27f: 4 Gebete). Doch erweiterte Luther bereits im Taufbüchlein, 1523, unter Verwendung typologischer Motive aus der Liturgie der Osternacht das Gebet zur Datio Salis zu dem eigenartigen „Sintflutgebet", dessen Zuschreibung an Luther lange strittig war (vgl. F. Schmidt-Clausing: Zwing. 22 [1972] 516ff). In einer umgearbeiteten Fassung wurde dieses Gebet übernommen von Jud 1523 (Schmidt-Clausing 153), Zwingli 1525 (Schmidt-Clausing 153) und Kurpfalz 1563 (EKO 14,340). Im revidierten Taufbüchlein, 1526, behielt Luther neben dem Sintflutgebet nur das 2. Gebet der Tradition mit dem Zitat aus Mt 7,7 bei. Zusammen mit dem Dankgebet nach der Taufe aus Württemberg 1553 ( = EKO 14,124) blieben diese 3 Taufgebete durch Jahrhunderte fester Bestandteil der von Luthers Taufbüchlein geprägten Taufordnungen. Eine andersartige Traditionslinie nahm ihren Ausgang von den wortreichen, belehrenden Taufgebeten in Straßburg 1537 (Hubert 46.47.51) mit dem Hinweis auf die Beschneidung als Tauftypus und deutlicher Einbeziehung der Taufgemeinde in die Bitten. Die Gebete wurden in überarbeiteter Fassung rezipiert und durch weitere Taufgebete ergänzt in Augsburg 1537 (EKO 12,77f), Kassel 1539 (EKO 8,117f) und Köln 1543 (Richter 11,39). Auch Kurpfalz 1563 (EKO 14,341) blieb mit seinem aus den Ordinancien des Martin Micron 1554 (EKO 7,614) genommenen Dankgebet nach der Taufe in der Bucerschen Tradition, wonach Verkündigung und Gebete bei der Taufe stets auf den Glauben der Eltern und der Gemeinde zielten. 5.2. Konfirmationsgebete. Bucer, der in Kassel 1539 die erste evangelische Konfirmationsordnung vorlegte (—»Konfirmation),war auch der Verfasser des großen Konfirmationsgebetes, das in fast alle Konfirmationsordnungen überging. Das vierteilige Gebet enthielt die
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Bitte um den Heiligen Geist, um Stärkung zu christlichem Leben, um Gehorsam gegen das Evangelium und eine abschließende Vaterunserparaphrase (EKO 8,125 f). Der Fürbitte folgte die Segnung unter Handauflegung mit einer Accfpe-Formel („Nimm hin den heiligen Geist"), deren Inhalt im vorausgehenden Gebet schon als Bitte enthalten war. In Köln 1543 (Höfling, Taufe 11,368) und Waldeck 1556 (Höfling, ebd. 369) entfiel die abschließende Vaterunser-Paraphrase, und die Handauflegung erfolgte während eines zweiten kürzeren Gebets. Hessen 1566 (EKO 8,299) vollzog die Handauflegung zu einem mit der Segensformel kombinierten Segnungsgebet, während Calenberg 1542 (EKO 6,842 f) dem großen Konfirmationsgebet ein neues kürzeres Gebet folgen ließ, aber erst zur Segensformel die Hand auflegte. Pommern 1569 (EKO 4,444) hatte als Fürbitte das Vaterunser mit anschließendem neuen Konfirmationsgebet. Dann folgte die Handauflegung zum aaronitischen Segen. Die anders strukturierte Konfirmationsordnung von Lauenburg 1585 (Höfling, Taufe 11,406) stellte ein eigenes kürzeres Fürbittengebet hinter die (schweigend vollzogene) Segnung mit Handauflegung. Auch dort, wo Bucers Konfirmationsordnung mit Verpflichtungsfragen und Handauflegung zur Segnung nicht übernommen wurde, schloß man die öffentliche Katechese vor der Erstkommunion mit dem 1. Teil des Bucerschen Konfirmationsgebetes - so in Württemberg 1553 (= EKO 14,133) und Coburg 1626, in Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,62) mit inhaltlich entsprechender Gebetsvermahnung und Vaterunser. Das Konfirmationsgebet ist ein typisches Beispiel für die Gestaltung einer evangelischen Segnung: Der eigentliche Segnungsakt erwächst aus der vorausgehenden Fürbitte der Gemeinde, die in der abschließenden Segensformel unter Handauflegung spürbar zugeeignet wird. Das Fürbittengebet enthält die Bitte um den Heiligen Geist, ist also eine Personen-Epiklese. Wäre Bucers Konfirmationsgebet nicht so lang ausgefallen, so hätte die Handauflegung auch schon zu diesem Gebet erfolgen können. Nach reformatorischem Verständnis war also das Gebet der versammelten Gemeinde, nicht eine sakramentale Vollzugsformel Kern der evangelischen Segnung. Das von Luther ohne Anschluß an die Tradition neu geschaf5.3. Ordinationsgebete. fene Ordinationsformular 1537 (—»Ordination) enthielt ein Gebet, das unter Handauflegung gesprochen wurde. Es bestand aus dem Vaterunser und einem aus den ersten drei Bitten des Vaterunsers entfalteten speziellen Ordinationsgebet mit der Bitte um den heiligen Geist für den Ordinanden. Neben diesem weit verbreiteten Ordinationsgebet Luthers (EKO 1,27) wurden die beiden Ordinations- bzw. Installationsgebete aus Württemberg 1547 ( = EKO 14,241 f) auch in Norddeutschland rezipiert, so in Sachsen 1580 (EKO l,382f), Wolfenbüttel 1569 (EKO 6,190f) und abhängigen Agenden. Diese Gebete enthielten die Bitte um Erhaltung des Predigtamtes und um die Gabe des Heiligen Geistes. Im Ordinationsgebet Bucers aus Kassel 1539 (EKO 8,127) ging es ebenfalls um die Geistbegabung. Doch wurden die Vielfalt der Dienste nach Eph 4,8 ff und die Seelsorge besonders herausgestellt. Dem Gebet folgte wieder, wie bei Bucers Konfirmationsgebet, eine unter Handauflegung gesprocheneAcdpe-Formel. In Hessen 1566 (EKO 8,198) folgte dem gleichen Ordinationsgebet die Handauflegung, jedoch wurde dazu ein kurzes neues Kollektengebet gesprochen. Ein spezielles Gebet zur Installation in Preußen 1568 (EKO 4,110f) mit der Bitte um den Heiligen Geist für den neuen Pfarrer handelte vom vollmächtigen Predigen und vom willigen Hören. Im 19. J h . wurden mit den alten Ordnungen auch die Gebete der Tradition wieder in Gebrauch gen o m m e n , vor allem in den lutherischen Kirchen, z . B . Bayern 1 8 5 6 und Hannover 1 8 8 9 . Jedoch trat vielfach der kirchenrechtliche Aspekt der Amtseinweisung so in den Vordergrund, daß nicht mehr das Gebet der versammelten Gemeinde als Personen-Epiklese, sondern die rechtlich relevante Vollzugsformel im Mittelpunkt der Handlung stand. Die zum Teil neugefaßten Gebete verloren damit ihre ursprüngliche Funktion und bildeten nur noch den geistlichen Rahmen für einen gemeindeöffentlichen Verwaltungsakt der Kirchenleitung.
5.4. Traugebete. Für die kirchliche Handlung nach erfolgter Eheschließung vor der Kirchentüre (—>Ehe) hatte Luther in seinem Traubüchlein, 1529 (EKO 1,23 f) die konstitutiven Stücke „Gottes Wort und Gebet" so geordnet, daß den biblischen Lesungen mit Traupredigt
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ein Kollektengebet folgte, zu dem über das knieende Hochzeitspaar die Hände ausgestreckt wurden. Das Gebet, das vom Segen Gottes über den Ehestand spricht und einen Hinweis auf Eph 5,32 enthält, ist weithin als einziges evangelisches Traugebet übernommen worden. An anderer Stelle wurde eine Anknüpfung an die lateinischen Gebete der Brautmesse versucht, so in den schwerfällig übersetzten Gebeten aus Brandenburg 1540 (EKO 3,84), wo der alte ausführliche Brautsegen mit den alttestamentlichen Paradigmen Rahel, Rebekka und Sara wörtlich beibehalten war. Den gleichen Brautsegen brachte Straßburg 1524 (Hubert 7), jedoch nunmehr auf beide Brautleute bezogen. Schon 1523 erschien in Zürich (Schmidt-Clausing 169) ein langes Ehesegnungsgebet, das unter Aufnahme der biblischen Motive des erweiterten alten Brautsegens jetzt auf die Altväter Abraham, Isaak und Jakob anspielte und neben Eph 5 auch Joh 2 anklingen ließ. Die kürzere Fassung dieses Gebets aus Zürich 1529 (Daniel 111,204) und das spätere Straßburger Traugebet 1526 (Hubert 19) ließen durch die Nennung der Patriarchen immer noch erkennen, daß sie aus dem lateinischen Brautsegen erwachsen waren. Das Straßburger Traugebet wurde auch von Genf 1542 (Clemen 164), Augsburg 1537 (EKO 12,83), Kurpfalz 1563 (EKO 14,401), Hessen 1566 (EKO 8,324) und Österreich 1571 (Höfling 201 f) zum Teil in erweiterter Fassung übernommen. Auch Bucers Traugebet in Kassel 1539 (EKO 8,127) war eine eigenständige Bearbeitung des Straßburger Gebets, jedoch unter Betonung der neutestamentlichen Motive. Während Luther allen Nachdruck auf die mit Präfamina versehenen ausgedehnten Traulesungen legte und sich mit einem knappen Segensgebet begnügte, das als äußerste Verkürzung des lateinischen Brautsegens angesehen werden kann, blieb im Süden Inhalt und Form des ausführlichen Brautsegens der Tradition auch in der reformatorischen Bearbeitung erhalten. Jedoch wandelte sich die Funktion des Traugebets. Es folgte der Traupredigt, wie im Predigtgottesdienst die Fürbitten der Predigt zugeordnet waren, und faßte wortreich die Trauverkündigung nochmals zusammen, um dann in eine Vaterunserparaphrase überzugehen. Die Trauung war als Eheschließung mit Wortgottesdienst, nicht als Segnung der geschlossenen Ehe gestaltet. 5.5. Bestattungsgebete. Kaum eine kirchliche Handlung wurde von den Reformatoren aller Richtungen so kritisch beurteilt und so einschneidend verändert wie die —>Bestattung. Auf die Anknüpfung an die Tradition und die Ausgestaltung eines Rituals wurde daher gänzlich verzichtet, es blieben nur Wort Gottes, Gesang und Gebet. Die Agenden verzeichneten vielfach nur ein Gebet, das die Wortverkündigung abschloß. Das früheste Beispiel eines Bestattungsgebetes bietet Straßburg 1537 (Hubert 129 f) mit der Bitte um Stärkung des Glaubens und Heiligung des Lebens im Aufblick zu dem auferstandenen und erhöhten Herrn. Eine Bitte für den Verstorbenen fehlt. Das Gebet wurde vor allem im Südwesten in die Agenden aufgenommen, z.T. in erweiterter Fassung, so in PfalzZweibrücken 1557 (Bl. 146 a ), Köln 1543 (Bl. 132 a ), Hessen 1566 (EKO 8,336), Österreich 1571 (Bl. 172"), aber auch in Pommern 1569 (Bl. 256 b ). Die Agende Sachsen 1540 (EKO 1,275) befriedigte den Wunsch nach einem Begräbnisgebet durch die entsprechend erweiterte Osterkollekte Luthers. Es gab wenige Agenden, die das Gebet nicht übernahmen, sofern sie überhaupt ein Begräbnisgebet vorsahen. In Sachsen 1555 (EKO 1,279) erschien eine neue Begräbniskollekte mit dem Ausblick auf das ewige Leben, das durch den Tod als Abschied von dieser bösen Welt eröffnet wird. Außerdem griff man auf eine Summarienkollekte Veit Dietrichs zum Evangelium des 24. Sonntags nach Trinitatis (Mt 9,18—26) zurück, die ebenfalls in abhängige Agenden überging. Während die Bestattungsgebete aus Jakob Otters Betbüchlein, 1537, in offiziellen Agenden keine Aufnahme fanden, wurden 12 Gebete aus dem Gebetbuch 1563 von Johannes Mathesius in Österreich 1571 eingefügt. Das einzige aus einer lateinischen Vorlage übersetzte Begräbnisgebet steht im Missale des Matthias Ludecus (1589), doch stammt die Vorlage aus dem Baseler Psalmbuch, 1524, wahrscheinlich von Joh. —»Oekolampad. Neue Bestattungsgebete kamen dann noch einmal im 17. Jh. heraus, so in Koburg 1626 (2 Gebete von Joh. —»Gerhard), Hanau-Lichtenberg 1659 (3 Gebete), Württemberg 1666 (1
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Gebet aus dem Gebetbuch von 1 6 0 2 des J o h a n n e s H e r m a n n ) , Baden 1 6 8 6 (1 Gebet). Sie fanden aber meist erst im traditionsfreundlichen 1 9 . J h . Aufmerksamkeit, so in Bayern 1 8 5 6 , bei Löhe, II 1 8 5 9 , und in anderen Privat-Agenden. In diesen Gebeten kamen die E m p findungen der Trauernden, die Bitte um eine sanfte R u h e und das unterschiedliche Schicksal von Leib und Seele stärker als früher zur Geltung. Die verhältnismäßig spärliche Ausbeute an Bestattungsgebeten zeigt einmal, daß m a n die Bestattung sehr schlicht gestaltete, zum Teil im Anschluß an biblische Lesungen mit wörtlich festgelegten Kurzansprachen, die in ein geprägtes Gebetsvotum übergingen, so in Schwäbisch Hall 1 5 4 3 (von Brenz), ü b e r n o m m e n in Köln 1 5 4 3 (Bl. 1 2 9 ff), Pfalz-Zweibrücken 1 5 5 7 (Bl. 1 4 3 ff) und Sachsen 1 5 8 0 ( E K O 1 , 3 7 2 ) . Andererseits m a c h t e Luther in dem v o n ihm eingeleiteten Bestattungsliederbuch 1 5 4 2 ( W A 3 5 , 4 7 8 f) deutlich, daß der Gesang der Gemeinde das wesentliche Element eines christlichen Begräbnisses ist. Das gemeinsame Beten der Christen kann v o m vorgesprochenen Gebet in den Lobgesang übergehen, mit dem die Gemeinde der Erlösten ihren H e r r n rühmt (Jes 3 5 , 1 0 ) . Die Ausformung eines Bestattungs-Rituals und die Differenzierung der Bestattungspredigt führten im 1 9 . Jh. zur V e r m e h r u n g der Bestattungsgebete in den Agenden. Sie n a h m e n jetzt stärker die Empfindungen der Trauernden auf und waren weniger bekennende Glaubensantwort auf die Heilsbotschaft angesichts des T o d e s . Gleichzeitig wurden die Bestattungsgesänge von instrumentaler Musik abgelöst. Quellen Joachim Beckmann (Hg.), Quellen zur Gesch. des christl. Gottesdienstes, Gütersloh 1956. BSKORK. - Carl Clemen (Hg.), Quellenbuch zur prakt. Theol. I. 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3. Dogmatische Grundfragen
4. Gebet und Eschatologie
Einleitung
1.1. Der unerläßliche Kontext heutiger Gebets-Theologie. Nach mehr als 50 Jahren ökumenischer Bewegung und im Zeitalter vieler Gespräche auch mit den außerchristlichen Religionen kann heute über das Gebet grundsätzlich nicht mehr allein im innerchristlichen Raum nachgedacht und gesprochen werden. Dies gilt in einem noch höheren Maße für das Gespräch zwischen Christen und Juden. Da das Gebet eine anthropologische und damit streng geschichtliche Größe ist, läßt sich nichts .Zeitloses' über es sagen. Der nachfolgende Artikel, der - situationsgebunden - von einem evangelisch-theologischen Ansatz ausgeht, versteht sich daher in einem bewußt geschichtlichen Sinne. Er will lediglich an einer Reihe von ausgewählten Problemen des Gebetes andeuten und skizzenhaft ausführen, worum es im letzten Drittel des 20. Jh. exemplarisch und schwerpunktmäßig beim christlichen Gebet zu gehen scheint, kann dies aber nicht anders verstehen als eingeordnet in den großen Zusammenhang christlichen und jüdischen und darüber hinaus menschlichen Betens überhaupt. Dies macht es unerläßlich, nicht nur nach dem Sinn und Wesen ,fremden' Gebets zu fragen, sondern auch die eigene Gebets-Theologie und -Praxis einer kritischen Sichtung zu unterwerfen. 1.2. Phänomenologisch-Fundamentalanthropologisches. Beten ist ein menschliches Phänomen. Zu allen Zeiten haben Menschen gebetet, und solange es Menschen gibt, werden sie beten. Keine philosophische, anthropologische oder gar theologische Beschäftigung mit dem Gebet kann daran vorbeigehen. Der Mensch ist sprachlich verfaßt. Er kann sprechen, also auch beten. Und wie die menschliche Sprache sich zu artikulieren vermag vom Schrei bis hin zum Schweigen und zur sog. Sprach-Losigkeit, so liegen auch die Möglichkeiten für das Gebet auf einer sehr breiten Skala: vom Gebets-Schrei bis zum sprach- und lautlosen Verstummen, vom Dialog bis zum ,wortlosen' Selbstgespräch, von einer die Wirklichkeit (er)öffnenden, erschließenden und bewältigenden Rede bis zum Verschleiern und durch Rede Zudecken dessen, was ist und worum es geht. Und wie die Sprache einerseits Ausdruck des Mensch-Seins des Menschen ist, der seine bloße biologische Vorfindlichkeit mit ihrer Hilfe ,transzendiert', so transzendiert er im Gebet sich selbst und die Welt und ,deutet' sich und die gesamte Wirklichkeit im Hin-Blick auf Sinn. Er drückt im Gebet Sinn-Erfahrungen aus — in Form von Lob, Dank und Preis und von Hoffnung, Hilferuf oder Verzweiflungsschrei. - Die beiden fundamentalanthropologischen Grund-Determinanten des Gebets sind also die nur dem Menschen eigene Fähigkeit zur SelbstTranszendierung (reflektierende Selbst- und Welt-Erfahrung) und seine Endlichkeit (die sich im weiten existentiellen Spannungsbogen zwischen Angst und Hoffen aktualisiert). Das Gebet ist deswegen auch in derselben Weise offen und anfällig für alles menschliche Irren und Sich-Verfehlen wie alle anderen Formen menschlichen Agierens und Reagierens. Von daher gehören Gebet und Gebets-Kritik untrennbar zusammen. Da der Mensch letztlich anthropologisch nicht feststellbar' ist, ist es auch das Gebet nicht. Denn wie der Mensch selbst, so unterliegt auch das Gebet Deutungen und (Miß-)Verständnissen, die durch
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diu menschliche Endlichkeit und durch die sachliche Relativität allen menschlichen Erkennens vorgegeben sind. Eine sog.,offenbarungstheologische' Definition des Gebets käme daher einer fundamentalanthropologischen contradicho in adiecto gleich. Diese Einsicht macht es dem denkenden Menschen unmöglich, das biblische (speziell neutestamentliche) Gebet offenbarungstheologisch zu verabsolutieren und es aus seiner umfassenden ,Einbindung' in das Allgemein-Menschliche und damit auch Allgemein-Religiöse zu lösen. 1.3. Zur gegenwärtigen Situation des Gebets. Die christliche Dogmatik kann an diesen anthropologischen Daten nicht vorübergehen, sondern die ihr aufgetragene Klärung in Sachen Gebet nur im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Dabei merkt sie bald, daß ein seltsamer Hiatus klafft zwischen dem, was in der Lebenswirklichkeit des heutigen Menschen an Gebet geschieht, wie darüber gesprochen und geschrieben wird, und dem, was sich im Rahmen der theologischen Lehre vollzieht. Kaum eine moderne protestantische Dogmatik enthält ein spezielles Kapitel über das Gebet, in welchem die grundsätzlichen Fragen der Gebetstheologie angesprochen werden. An selbständigen Publikationen zum Thema gibt es außer der belangreichen Arbeit von Ménégoz (Problème) auf protestantischer Seite seit den 20er Jahren bis etwa 1950 nur kleinere Abhandlungen (vgl. Mulert; Hirsch; Stange; Thielicke; de Quervain; Benckert; Hallesby). Es herrscht weitgehende Ubereinstimmung in der pessimistischen Beurteilung der heutigen Situation des Gebets: „Die beste Zeit für Gottesglauben und Gebet scheint vorbei zu sein" (Fons D'Hoogh: Conc[D] 5 [1969] 667); „Beten gilt dem gegenwärtigen nachchristlichen Bewußtsein als Ersatzhandlung" (Solle 109); „daß in unserer Gegenwart das Gebet scheinbar [anscheinend?] abstirbt" (Ratschow 143); die „Gebetslosigkeit" habe heute „weiteste Verbreitung gefunden" (Ebeling, Dogmatik 1,196). Dem steht die Beobachtung des Katholiken Hermann Schmidt gegenüber: „Wie die ,Gott-ist-tot'-Ideologie hat auch die Gebetskrise in der öffentlichen Meinung die umgekehrte Wirkung: vielleicht wurde noch nie so viel über Gott und das Beten gesprochen und geschrieben wie heute" (9). F. —»Heiler hat 1965 mahnend seine Stimme gegen die „säkularistische" Vernachlässigung, ja Verächtlichmachung des Gebets erhoben: „Die ganze Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten ist eine betende gewesen . . . Nicht nur Juden und Christen, auch Heiden haben zu allen Jahrhunderten gebetet" (227). „Der Gebetstrieb des Menschen ist eben unausrottbar" (231). „Das Gebet ist eine seelische Großmacht" (241). „Das Gebet ist sinnvoll, ja notwendig auch für den modernen Menschen" ( 2 4 3 ) . - V o n einer völlig andersartigen theologischen Grundposition her hat zuletzt G. Ebeling ähnliche Argumente vorgebracht: „Trotz aller Differenzen, die dabei zu registrieren sind, erweist sich das Gebet als ein religiöses Grundphänomen. Es gibt keine Religion ohne Gebet. Und zwar ist es ,das Herz und der Mittelpunkt aller Religion'" (hier zitiert Ebeling Heiler). Ebeling führt die moderne Gebetssituation unter vielen Christen auf angebbare Gründe zurück: „Mangelnde Anschauung und Kenntnis von der Wirklichkeit des Gebets in der Kirchengeschichte ist sicher mitschuldig an der rachitisch anmutenden Gestalt, die es heute weithin im Leben und Bewußtstein der Christen angenommen hat" (Wort u. Glaube 111,418.419). Nach allem, was seit—»Barth, —»Bonhoeffer, der Gott-ist-tot-Theologie usw.über und auch gegen das Gebet geschrieben wurde, mutet diese (ja mindestens teilweise in Abwertung umgeschlagene) Gebets-Kritik seltsam an angesichts einer heute weltweiten Revitalisierung von ,Religion' und damit auch von Gebets-Wirklichkeit. „Der Gebetsdrang des Menschen ist ein irrationaler, der allen rationalen Einwänden trotzt und darum immer wieder siegreich durchbricht und über alle Gebetskritik und Gebetszweifel hinweggeht" (Heiler 231 ). Oder dogmatisch ausgedrückt: „Das sind nur Ansätze zu einer Lehre vom Gebet. Sie lassen wohl immerhin so viel ahnen, daß darin wie durch ein Brennglas alle Linien christlicher Lehre und christlichen Lebens sich vereinen" (Ebeling, Wort u. Glaube 111,427). Gültig ist und bleibt die Feststellung Ménégoz', wonach sich der Wert jeder Theologie, Dogmatik und Religionsphilosophie daran bemißt, was sie über das Gebet zu sagen hat (Problème 530). 2.
Prinzipienfragen
2.1. Das Proprium des christlichen Gebets. Der oben gewählte Ausgangspunkt des Gebets als eines religiösen Grundphänomens verdunkelt nun aber gerade nicht jene entscheidende Frage nach dem Proprium des christlichen Gebets, sondern treibt sie erst mit aller Schärfe hervor. - N a c h Bloth meint christliches Beten „in all seinen Erstreckungen und Formen das Hervortreten des Gottes . . d e r in Israel und als Jesus von Nazareth zum Heil der W e l t gehandelt h a t " (Aspekte 7 4 ) . Trotz einiger Vorbehalte im ganzen wie im einzelnen finden sich zutreffende Formulierungen zur Definition des eigentlich „Christlichen" am christlichen Gebet etwa bei F. D. E. -^Schleiermacher ( „ . . . sind wir uns bewußt, daß wir als Christen uns hierin doch eines besonderen Vorzuges erfreuen. Denn wie wir durch Christum zur Erkenntniß des Vaters in einem höheren Sinne gelangt und aus seinem Geiste auf's Neue geboren, auch gerne als durch ihn Erlöste in einem engeren Sinne in der Gemeinschaft des
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himmlischen Vaters stehn", Predigten, IV 1844, 357) und A. —»Ritsehl („Die Anrufung Gottes als unseres Vaters durch Jesus Christus [§ 13] unterscheidet die christliche Religion von allen übrigen, einschließlich der des A . T . " , Unterricht in der christl. Religion [1875], 1966 [TKTG 3] § 79). Bei Ritsehl ist damit zwar der Divergenz-, nicht aber der unerläßliche Konvergenz-Punkt zwischen Neuem und Altem Testament markiert. Altes und Neues Testament konvergieren jedoch u n t r e n n b a r im —»Vaterunser, das als Gebet (rein inhaltlich) der alttestamentlich-jüdischen Tradition entstammt und dennoch (gerade deswegen!) zum christlichen Gebet schlechthin geworden ist. Die durch Jesus Christus dem Christen vermittelte Kindschaft gegenüber Gott ist bei Schleiermacher ebenso das Z e n t r u m des christlichen Gebets wie etwa bei M . —»Kahler („Demgemäß findet die Kindschaft ihren kennzeichnenden Ausdruck an dem Freimut des Gebetes, welchen der Sohnesgeist anregt und unter den Schwankungen des Seelenlebens erhält", Die Wiss. der christl. Lehre, hg. v. M. Fischer, 1 9 6 6 , 4 3 2 ) . Hier wird in einem zugleich die trinitarische Basis und Struktur des christlichen Gebets deutlich: Gebet an den Vater, durch den Sohn,i>« Heiligen Geist. Auf diese trinitarische G r u n d s t r u k t u r als das Proprium christlichen Gebets haben in den letzten Jahren neben P. C. Bloth auch W. Lohff (Gebet u. Gebetsei''.iehung 22) und neuestens H . - M . Barth (Wohin, bes. 112ff) nachdrücklich hingewiesen. Sie ist sowohl Ausgangs- wie Zielpunkt aller christlichen Gebets-Lehre und -Praxis (s. aber u. Abschn. 2.2. Das Gebet als göttliches Gebot. Seit Schleiermacher ist es in der protestantischen Tradition weithin üblich geworden, das Gebet aus anthropologischen oder weltanschaulich-metaphysischen B e g r ü n d u n g e n ' abzuleiten. So sehr es solche Begründungen sicherlich auch gibt, m u ß doch festgehalten werden, daß das Gebet als christliches (und schon als alttestamentliches) nicht p r i m ä r daraus abgeleitet werden kann und darf. Die zunehmende Anihropologisierung des Gebets hat zwei innerlich zusammenhängende Auswirkungen: M a n m u ß es (1) de facto nicht-theonom ,begründen' und verliert dabei (2) die biblische Basis für die mit jedem christlichen Gebet verbundene Erhörungs-Gewißheit. Am Ende dieser Entwicklung bleibt dann nichts anderes übrig als das Gebet als Selbst-Gespräch. Im Gegensatz zur gesamten biblischen, kirchengeschichtlichen und speziell reformatorischen Theologie (Luther; Calvin; v. a. Heidelberger Katechismus, Frage 116) m u ß der Mensch sich selber sagen, w a r u m er beten soll (vgl. dazu Asseburg, bes. 2 1 7 f f ) . Besonders in der reformierten Tradition stehende Theologen wie K. —»Barth (vgl. KD 111/4,106) und E. —»Thurneysen („Das Gebet ist ein Gebot Gottes, istheilsnotwendig, es hat die Verheißung der Erfüllung", Die Lehre v. der Seelsorge, M ü n c h e n 1948, 168) wiesen nachdrücklich auf diesen GebotsCharakter des Gebets hin. Dieser Hinweis soll keineswegs anthropologisch relevante Fragen rund um das Gebet unterdrücken, sondern n u r deutlich machen, von welchem vorgegebenen Fundament aus sie zu behandeln sind, wenn es dabei um das christliche Gebet gehen soll. 2.3. Theologie und Gebet. Geht es christlicher Theologie um den im Alten und Neuen Testament sich offenbarenden Gott, so kann das Gebet zu ihm „nicht ein religiöser Akt neben anderen" sein, sondern es konzentriert „sich in ihm das Ganze des Gottesverhältnisses" (Ebeling, Dogmatik I, 208). Mit „allem N a c h d r u c k " m u ß dann „gesagt werden, daß Gebet das Herz der Theologie ist" (Häring 131). Der späte Barth kann in diesem Sinne formulieren: „ D e r erste und grundlegende Akt theologischer A r b e i t . . . ist das Gebet" (Einf. in die ev. Theol., 1962, 176). Der lutherische Dogmatiker E. Schlink hebt im selben Sinne unter den „ G r u n d f o r m e n der theologischen Aussage" das Gebet als die erste hervor: „ D a s Gebet ist die Antwort auf das Evangelium in der Anrede des göttlichen Du. In dieser Antwort wird die Heilstat, die durch das Evangelium verkündigt wird und geschieht, vom Glaubenden als an ihm geschehen und als f ü r ihn in Kraft stehend ergriffen und in Anspruch g e n o m m e n " (Der k o m m e n d e Christus u. die kirchl. Traditionen, 1961, 25). Der christliche Theologe kann es per definitionem mit Gott in erster Linie nicht anders „zu tun h a b e n " als im Gebet: „Theologie ist gerade als Wissenschaft n u r möglich . . . als Theo-logie des betenden Glaubens" (Ott 122). „ D a r u m ist das Gebet der Prüfstein des Glaubens und dife Theologie des Gebetes
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der Prüfstein aller Theologie. O b wir unter G o t t einen Ich-Du-Gott verstehen oder ein namenloses Absolutes, entscheidet über die Christlichkeit einer Theologie" (Brunner, Dogmatik III, 368). 2.4. Das Gebet als theologischer Erkenntnisweg. M . —>Luther hat auf die Frage: „ W a r umb lesset er uns denn bitten und unsere not furtragen und gibts nicht ungebeten, weil er alle not besser weis und sihet denn wir selbs" ?, die A n t w o r t gegeben: „ d a r u m das wirs erkennen und bekennen was er uns f ü r güter gibt und noch viel mehr geben wil und kann . . . Sihe solch erkentnis jm gebet gefellet Gott wol und jst der rechte, hoheste und kostlichste Gottes dienst den wir jm thun können . . . Also leret uns das gebet das wir beide uns und Gott erkennen und lernen was uns feilet und woher wirs nemen und suchen sollen" (WA 32,419,1 ff). Damit ist für Luther das Gebet u. a. auch ein Lern-Vorgang, durch den rechte Erkenntnis Gottes wie auch Erkenntnis unserer eigenen Lage gewonnen werden kann. Ja, Luther spitzt letzteres bisweilen stark auf die Selbst-Erkenntnis zu (aber nur im Rahmen der Gottes-Erkenntnis): „Also das wir durch unser gebet mehr uns selbs unterrichten denn j n " (ebd. 419,10). Das Erkenntnis-Moment des Gebets wird von C . H . Ratschow auf die allgemeine existentielle Situation des Menschen ausgedehnt: „Christliches Gebet hat also nichts zu tun mit hohen enthusiastischen Emotionen. Aber es h a t viel zu tun mit der nüchternen Erkenntnis, was es denn eigentlich mit unserem Leben sei, mit seinen Schönheiten und mit seinen Schrecklichkeiten" (47). Das Gebet „beleuchtet" also unsere Situation im Lichte Gottes und „spiegelt" sie in diesem Lichte f ü r uns erkennbar wider. Das Gebet wird so,,das grundlegende, entscheidende Problem aller Theologie, wenn m a n nach der Bedeutung fragt, die ,es' für die Gotteserkenntnis h a t " (Stange 6). 3. Dogmatische
Grundfragen
3.1. Die Frage nach dem dogmatischen Ort des Gebets. Bisher gibt es noch keine „Dogmengescnichte des christlichen (bzw. protestantischen) Gebets". Z w a r haben M . —»Luther (vgl. Damerau; Pelkonen) und J. —»Calvin (Inst. 111,20-1559; vgl. Scholl) dem Gebet in ihrer Theologie eine zentrale Funktion gegeben, aber schon U. -H»Zwingli setzte sich vorwiegend mit Mißbräuchen des Gebets auseinander (CR 90,851 ff). Ph. -H>Melanchthon k o m m t erst in der 2. Auflage seiner Loci communes auf das Gebet zu sprechen (CR 21,536—542) und bringt dann in der 3. Auflage ein leicht verändertes Kapitel De invocatione Dei seu de precatione (CR 2 1 , 9 5 5 - 9 8 4 ) . Schon bei ihm wird nicht mehr sichtbar, welch zentrale Rolle das Gebet in der Theologie Luthers gespielt hatte. Melanchthon weist ihm — als 29. Kapitel gegen Ende seines Systems - eine mehr oder weniger zufällige Stelle an. Konnte Luther seinen Glauben und seine Theologie in dem Satz zusammenfassen, dieser Glaube sei nichts anderes „denn eyttel gepet" (WA 8,360,29), so läßt sich zumindest f ü r weite Bereiche der evangelischen Theologie sagen, daß diese zentrale Erkenntnis speziell in der dogmatischen Lehrbildung keinen wirksamen und greifbaren Niederschlag gefunden hat. Dogmatisch^ Standardwerke wie H . Schmids Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche (hg. v. H . G . Pöhlmann, Gütersloh 9 1979) haben denn auch keinen Paragraphen über das Gebet und in H. Heppe/E. Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche (Neukirchen 1958) fehlt im Sachregister das Stichwort Gebet völlig. N u r F. —»Schleiermacher, der der Lehre vom Gebet in der Ekklesiologie seiner Glaubenslehre einen markanten O r t sicherte (§§ 1 4 6 - 1 4 7 ) , und jüngst G. Ebeling, der die Gotteslehre in eine explizite Lehre vom Gebet einbettet, wobei das Gebet so etwas wie die Funktion eines (rechtverstandenen) Gottes-,Beweises' b e k o m m t (Dogmatik 1,192 ff), bilden hier wirklich erwähnenswerte Ausnahmen. A. —»Schlatters Hinweis, daß es beim christlichen Gebet u m tiefste Beziehung des Menschen zu Gott gehe (vgl. Das christl. Dogma, 1911,226), ist mehr ein Fanal als eine in der bisherigen Dogmatik auch n u r entfernt realisierte Aufgabe. F. Mildenberger hat—ansatzweise — in einer dogmatischen Vorlesung „jedes der dogmatischen Lehrstücke abgeschlossen mit einem Paragraphen über einen der genannten Aspekte (sc. Bitte, Fürbitte, D a n k und Anbetung) des Gebets" (9 f) und damit das / o d - D e n k e n in Sa-
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chen des Gebets im Prinzip überwunden und das Gebet zu einer allen dogmatischen loci zugeordneten Größe gemacht. Schon vor ihm hatte K. —»Barth einen ähnlichen Weg eingeschlagen (vgl. KD III/3,271 ff, bes. 301 ff; III/4, 95 ff; IV/3,1011ff; vgl. Hardon; Herlyn). Eine künftige dogmatische Lehre vom Gebet muß G. Ebelings Einsicht: „Das Phänomen des Gebets wird somit zum hermeneutischen Schlüssel der Gotteslehre" (Dogmatik 1,193) aufgreifen und weiterdenken. Stimmt sein Satz: „Vom Gebet her stellt sich heute die Frage sehr scharf, was es um das wesenhaft Christliche sei" (Wort u. Glaube 111,421), so muß er Auswirkungen auf die gesamten Dogmatik haben. Dann kann die entscheidende Frage nicht mehr lauten: „Welchen ,Ort' hat das Gebet in der Dogmatik?", sondern nur noch: „Welchen ,Ort* hat die Dogmatik im Gebet?". Das Gebet ist nicht ein (einzelner) bestimmter locus innerhalb der Dogmatik, sondern die Dogmatik macht alle ihre Aussagen im alles umgreifenden Horizont des Gebets. Erst dadurch wird sie zur christlichen Dogmatik. 3.2. Trinitarisches Gebet. Der wesensmäßig trinitarische Charakter des christlichen Gebets wird in der westlichen Tradition viel zu wenig reflektiert. Entweder es herrscht — wie etwa bei Schleiermacher und Ritsehl - (letztlich) ein metaphysischer Gottes-Gedanke o d e r wie bei K. Barth - eine rein christologische Orientierung vor (vgl. KD 111/3,312), oder das Gebet wird (wie in der „Gott-ist-tot-Theologie") fast ausschließlich mit einem bestimmten modernen Verständnis der Gottes-Frage und ihrer Diskussion vorwiegend in den USA und in Europa verknüpft. Das gottesdienstliche „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist" ist aber der wahre Ursprung und eigentliche Quell alles christlichen Betens. Liturgie und Dogmatik entfalten das aus ihnen Kommende lediglich auf verschiedene Weisen: die Liturgie ist gottesdienstlich „gebetete Dogmatik" und die Dogmatik „systematischer Denk-Vollzug der Liturgie". Sie geht entlang des Weges einer heilsökonomischen Trinitätslehre von Gottes dreieinigem Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus und entfaltet „in Anamnese, Prädikation und Epiklese die Dimensionen des Perfektischen, des Präsentischen und des Futurischen. Mit dieser Weise der Ermöglichung und Ausformung des christlichen Gebets haben wir die differentia specifica umschrieben, um deretwillen es nicht in der geistigen Situation' der Spätantike aufgeht und mit ihr vergeht" (Bloth 75). Für das christliche Gebet gilt so die nur paradox zu formulierende Aussage, daß Christen weder wissen, was noch wie sie überhaupt beten sollen, und daß es der Heilige Geist ist, der „in" ihnen betet und mit dem Vater spricht (Rom 8,26.34; vgl. W. Lohff: Gebet u. Gebetserziehung 22). D. —»Bonhoeffer hat denselben Sachverhalt christologisch umschrieben: „Unser Gebet ist vermitteltes Gebet, vermittelt durch Christus, den Mittler" (GS, III 2 1966, 296). 3.3. Gebet und Gottesfrage. G. Ebeling bestimmt die Relation zwischen Gebet und Gottesfrage so, „daß das Gebet nicht ein religiöser Akt neben andern ist, sondern daß sich in ihm das Ganze des Gottesverhältnisses konzentriert" (Dogmatik 1,208). „Wäre Gott nicht, wäre das Gebet sinnlos" (ebd. 213). Die moderne Gebetskrise hängt mit der Gottesfrage zusammen (vgl. Schäfer) und liegt in einer zunehmend „metaphysischen" Fassung des Gottesgedankens bzw. seiner „Ethisierung" begründet. Exemplarisch kann hier auf A. —»Ritsehl hingewiesen werden, bei dem sich „bereits eine gewichtige Umwandlung in der Gebetsauffassung aufweisen läßt, in dem Sinne nämlich, daß das G e b e t . . . seinen transzendenten Bezug auf Gott einzubüßen beginnt und stattdessen zu einem Mittel der Bewußtseinserhellung, sprich Bewußtmachung der Aufgabe im Reich Gottes wird" (Asseburg 57). Aber weder ein metaphysischer Gottes-Gedanke noch viel weniger eine rein „ethische" Gottes-Vorstellung können das Gebet als Ausdrucks- und Realisierungsmedium einer gelebten Gottesbeziehung verständlich machen. Demgegenüber findet sich bei Luther ein völlig anderer Zugang zum Gebet, der über das Nachdenken über Gott hinaus in den Bereich elementarer, lebensmäßiger Gottesbegegnung vordringt, in dem allein das Gebet als Reden mit oderz« Gott sich ereignen kann: „Die erste (sc. lere), das man ja für allen dingen balde zu Gott lauffe und schreye ynn der not zu yhm und klages yhm. Denn das kan Gott nicht lassen, er mus helffen dem der do schreyet und rufft" (WA 19,222,9-11). Hier werden nicht „meta-
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physische Rahmen- oder Ermöglichungs-Bedingungen" abgesteckt, anhand deren dann sekundär die Entscheidung darüber fällt, wie und gegebenenfalls ob Gebet überhaupt möglich und denkbar sei, sondern die menschliche Situation wird direkt im Gebet vor Gott ausgebreitet. Vielleicht ist die Frage nach den „weltanschaulichen Bedingungen der Möglichkeit von Gebet" überhaupt der Sündenfall vieler moderner Formen von Gebets-Theologie. Sie leugnet nämlich unbewußt die iustificatio impii, indem sie das Gebet von Vor-Bedingungen abhängig macht, die der Beter (denkend und reflektierend) zu erfüllen hat, ehe er dem göttlichen Gebot (der göttlichen Einladung) zum Gebet folgen kann. Zwischen den lebendigen Menschen und seine unmittelbare existentielle Situation und Gottes Einladung und Zusage tritt eine vom Menschen aufgerichtete Barriere, von deren Überwindung die Befolgung des göttlichen Gebotes und die Geltung der göttlichen Zusage abhängig gemacht werden. Erfolgt diese Klärung aber nicht bzw. fällt sie zweideutig oder kontrovers aus, so hat auch das Gebet keinen „ G r u n d " mehr. Die Begleiterscheinungen dieser Entwicklung liegen auf der H a n d : Auf der einen Seite ein weitgehender bis fast völliger Traditionsbruch (vgl. E. Lange: Bernet 162) und auf der anderen Seite der Verzicht darauf, „das Gebet in seinem weiteren Kontext, im Kontext der Frömmigkeit, der gegenwärtigen Religiosität aufzusuchen" (ebd. 161). Damit ist aber das Gebet aus seiner fundamentalanthropologischen Verankerung (s.o. Abschn. 1.2) herausgelöst und um „das Geheimnis der Erfahrung selbst" zentriert, „das den Menschen um der dem Geheimnis innewohnenden Rationalität willen zur Reflexion, zu einer Besinnung nötigt, die ich Beten nenne" (Bernet 141). Mit einem solchen Gebetsverständnis können jedoch keine religiöse Gemeinschaft oder irgendein Alltagsmensch in seinen Nöten und Sorgen leben. Es führt dann auch geradlinig zu der ekklesiologischen Folgerung: „Beten als gottesdienstliches und damit kollektives Element hat kaum eine andere Chance als die, auf illusionäre Situationen zu fixieren" (Bernet 140). Damit ist aber der Horizont einer „wirkliche(n) Bestimmung Gottes im Wege anamnetischer Vergewisserung seines Heilshandelns" (Bloth 63) verlassen. An die Stelle des Heiligen Geistes tritt die Selbstreflexion. Alles Entscheidende und Heilsame, was der Mensch erfährt und weiß, muß er sich nun selber sagen — auch im sog. Gebet. 3.4. Glaube und Gebet. So sicher Bonhoeffers Feststellung, „die Voraussetzung des Gebetes ist der Glaube, die Bindung an Christus" (Nachfolge, 1961,138) richtig ist, gilt der biblische Aufruf zum Gebet (vgl. etwa Ps 50,15 u.ö.) oft gerade dem Angefochtenen, dem im Glauben Schwachen. Dabei ist nicht die „ K r a f t " des Glaubens die Voraussetzung für den Gebets-Appell, sondern das göttliche Gebot (s. o. Abschn. 2.2). Das Gebet kann darum kein bloßes consecutivum der Gottes-Erfahrung sein, wie W. Herrmann meinte (s. dazu Asseburg 115). So sehr es auch in unsere Erfahrung eingebettet und von ihr abhängig sein mag, so darf es in keinem Falle zu einer ,Funktion' der ,Stärke' unseres Glaubens gemacht werden. Die sog. ,Identifikations-Formel' (Glaube = Gebet) läßt sich also nicht,linear': wo ,viel' Glaube ist, da ist auch ,viel' Gebet usw., sondern nur dialektisch verstehen: Glaube und Gebet sind untrennbar aufeinander bezogen, der Glaube kann nicht ohne Gebet leben, und das Gebet nicht ohne den Glauben geschehen: „Glaube ist je nur im Gebet konkret. M . a . W. Gebet ist vollzogener Glaube" (Benckert: EvTh 15,547). Zwar ist es Gott allein in seiner Gnade, der den Glauben schenkt. Aber er selber gibt uns das Gebot, dieses Geschenk betend zu hüten: „Qui non orat, mit derzeit wird er fidem verlieren" (WA 3 4 / 1 , 3 9 5 , 1 3 - 1 4 ; vgl. auch 8,360,29 ff). 3.5. Rechtfertigung und Gebet. In der —»Rechtfertigung des Sünders vollzieht sich einerseits die Aufrichtung der Heiligkeit und Liebe Gottes, andererseits der Freispruch des verlorenen Menschen. Beide Akte werden im Gebet eins. Gottes Gerechtigkeit ist es, die den Sünder rechtfertigt. Im Gebet erkennt der Sünder diese Gerechtigkeit an und überläßt sich unter Verzicht auf die eigene Würdigkeit der Gnade Gottes. Rechtfertigung und Gebet bilden demnach kein zeitliches Nacheinander, sondern ein sachliches Ineinander, das man (in Anlehnung an eine Formulierung Bonhoeffers) etwa so beschreiben könnte: „ N u r der Gerecht-
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fertigte betet - und nur der Betende wird gerechtfertigt". Indem sich Rechtfertigung von Gott her ereignet, ereignet sie sich auf Seiten des Menschen darin, d a ß er sie betend empfängt. Undialektisch und damit mißverständlich spricht W. Lohff von dem, „ w a s in der Dogmatik der Reformation betont wird, daß die Rechtfertigung die Voraussetzung heilsamen und rechten Betens sei" (Gebet und Gebetserziehung 21). Rechtfertigung kann aber nicht anders als w j Gebet empfangen werden. Sowohl Luther (WA 4 2 , 6 6 2 , 1 - 4 ) wie Calvin (Inst. 111,20,1) betonen, daß es der Heilige Geist ist, den Gott uns über all unser Bitten (und Beten) hinaus schenkt, der uns das ,Abba'-Rufen lehrt und ermöglicht und uns so in den Bereich der ,Kindschaft', d . h . des Gerechtfertigt-Werdens, versetzt: „ D a r u m b , w o ein Christ ist, da ist eigentlich der heilige Geist, der da nicht anders thut, denn jmerdar betet" (WA 4 5 , 5 4 1 , 2 7 f ) . In diesem Gebet realisiert sich die Rechtfertigung, nicht wegen oder aufgrund des Gebets. — Das Gebet ist also keine Vor-Bedingung oder Voraus-Setzung der Rechtfertigung, aber sehr wohl der eigentliche O r t oder die eigentliche Weise ihrer Realisierung. 3.6. Ekklesiologie und Gebet. Christlicher Gottesdienst ist streng genommen in erster Linie Gebetsdienst (vgl. P. Brunner: Leit. 1,256: „ . . . daß der Gottesdienst als ganzer in der Dimension des Gebetes steht"). Die Doxologie gibt „ G o t t die Ehre, die er schon hat, genauer, sie preist die Herrlichkeit, die Gott hat und ist, und zwar auch dann hat und ist, wenn der Mensch ihm nicht die Ehre gibt. Die Doxologie ist die Widerspiegelung der ewigen göttlichen Herrlichkeit im Lobe des M e n s c h e n " (E. Schlink, Der k o m m e n d e Christus u. die kirchl. Traditionen, 1961, 27). „ G o t t selbst ist in der Doxologie ein und alles" (ebd. 29). Aber dieses „ein und alles" wird im Gebet der Gemeinde konkret entfaltet: „Die Vergewisserung Gottes im christlichen Gebet geschieht anamnetisch, d . h . durch Erinnerung und Dank. Das Anreden Gottes ist also nicht spätantiker Rest, sondern Ausdruck der geglaubten Beziehung des Ortes der eigenen Existenz zum anamnetisch bestimmten und vergewisserten G o t t des Alten und Neuen Testaments" (Bloth 65). Von daher reicht es nicht aus, den christlichen Gottesdienst allein durch die Predigt und die Sakramente konstituiert sein zu lassen (vgl. E. Schlink, Theol. der luth. Bekenntnisschr., 1947,273), denn sowohl der Predigt wie den Sakramenten gehen Gebete voraus, die unter A n r u f u n g Gottes, Jesu Christi und des Heiligen Geistes „deutlich" machen, was in der Verkündigung und Sakramentsverwaltung eigentlich geschieht. Und es folgen ihnen Gebete, die nochmals „verdeutlichen", was gesagt wurde und sich ereignet hat. Das Gebet stellt also nicht so etwas wie eine (gar bloß akzidentelle) „ Z u s a t z " - G r ö ß e zur Verkündigung und zum Sakraments-Vollzug dar, sondern in ihm ereignet sich wie in einem unerläßlichen M e d i u m alles Geschehen innerhalb des Gottesdienstes. „Im Blick auf das, was Gott in Jesus Christus f ü r uns und alle Welt getan hat, wird das Gebet der Kirche zur ,Eucharistia', zur danksagenden Anamnese der großen, rettenden Taten Gottes" (P. Brunner, a . a . O . 259). — Im Gebet und durch das Gebet konstituiert Gott seine neue Schöpfung, sein neues Volk. O h n e Gebet träten weder diese neue Schöpfung, noch die Gemeinde des neuen Bundes, noch der Glaube des einzelnen Christen je in Erscheinung. O h n e Gebet gäbe und gibt es keine Kirche. Das Gebet ist d a r u m zusammen mit W o r t und Sakrament die primäre nota ecclesiae. Die (öffentliche) Verkündigung und den (öffentlichen) Sakramentsvollzug kann man im äußersten Falle verbieten und unterbinden. Solange aber das geschieht, was Jesus als die einzige Voraus-Setzung seiner heilschaffenden Gegenw a r t in M t 18,20 genannt hat, wird es dennoch immer Kirche geben. 3.7. Das Gebet - ein —»Sakrament? Leider hat die protestantische Dogmatik die Frage von ApolCA 13 (BSLK 294): Si omnes res annumerari sacramentis debent, quae habent mandatum Dei et quibus sunt additae promissiones, cur non addimus orationem, quae verissime potest dici sacramentum ?, nicht positiv aufgenommen. „ M a n h a t . . . in der evangelischen Dogmatik das Gebet als ein Gnadenmittel neben Predigt und Sakrament angesehen. Richtig an dieser Betrachtungsweise ist das Verständnis für den Z u s a m m e n h a n g des Gebets mit der reinen Gnade. Aber w ä h r e n d das Gnadenmittel das Instrument für die Mitteilung der G n a d e ist, stellt das Gebet den Reflex der Gnade d a r " (R. Prenter: N T U 1 , 5 0 0 ) . Wenn man jedoch von einem Sakramentsverständnis ausgeht, wie es z.B. P. —>Althaus for-
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muliert („Sakramente sind die von Jesus Christus empfangenen, mit der Verkündigung des Evangeliums verbundenen sinnbildlichen Handlungen der christlichen Kirche, in denen kraft ihrer Stiftung Gottes gegenwärtiges gnädiges Handeln durch Jesus Christus geschieht und vom Glauben empfangen wird. So gehören zum Sakramente drei Momente: das Evangelium von Gottes gnädigem Handeln; die sinnbildliche Handlung, welche ein Zeichen für Gottes heilsames Handeln zu sein vermag; die Stiftung oder Einsetzung, welche beides, Evangelium und Zeichen, verbindet und das Zeichen zum Träger des Handelns Gottes erwählt h a t " , Die christl. Wahrheit, ' 1 9 5 2 , 5 3 7 ) , muß auch das Gebet zu den Sakramenten gerechnet werden. W o die Gemeinde das KVQIE eXerjoov ruft oder der einzelne Lk 1 8 , 1 3 c betet, da ereignet sich Gottes heilsames Handeln (gegen Prenter, s.o.), und da geschieht das, was Jesus selber nach M t 1 8 , 2 0 als „ Z e i c h e n " seiner realen Gegenwart „gestiftet und eingesetzt" hat. — H . - M . Barth hat das hier anstehende dogmatische Problem deutlich angesprochen und damit weit über den Bereich des Protestantismus hinaus jene Fragen aufgeworfen, an denen keine künftige Gebetstheologie evangelischer oder auch ökumenischer Observanz wird vorbeigehen können: „Das Gebet der Gemeinde ist eng verwoben mit jenen dem Wort zugeordneten und es doch transzendierenden ,Mysterien' (so nennt sie die Ostkirche), die nach unserem westlichen Sprachgebrauch „Sakramente" heißen. Das Gebet ist, so gesehen, eine besondere Weise des Sakramentsvollzugs. Im Gebet geschieht, was in der Taufe geschieht: ein Mensch wird in den neuen Äon des kommenden Gottesreiches hineingestellt, vom Geiste Gottes erfüllt, zum Bruder Christi und zum ,Sohn', zur ,Tochter' Gottes erklärt. Im Gebet vollzieht sich die Absage an den alten Äon . . . Im Gebet greift, wie in der Taufe, die Zukunft des Reiches Gottes Platz. Im Gebet geschieht auch, was im Abendmahl geschieht: ein Mensch findet, wovon er leben und worauf er sterben k a n n " (Wohin 180). Hier werden Anstöße gegeben, die die Gebetstheologie aller christlichen Kirchen vor neue und in ihren sachlichen Implikationen weitreichende Aufgaben stellen. Ist Jesus Christus das „Ur-Sakrament" der christlichen Kirche, so ist das Gebet das allen anderen Sakramenten wesensnotwendig vor- undzMgeordnete „Beg/e/f-Sakrament", durch das alles Handeln der Kirche (Liturgie, Sakramente im engeren Sinne, Verkündigung und alles sonstige Tun) sowohl seiner Herkunft nach (das Gebet als göttliches „ G e b o t " und als „Anweisung" Jesu für seine Jünger und für die Kirche) wie im Blick auf seine Ziel-Setzung („Dein Reich k o m m e ! " ; „Nun bitten wir den Heiligen Geist"; „ K o m m e bald, Herr J e s u ! " ) einerseits erst seine Ermächtigung und Legitimität und andererseits seinen unverwechselbaren Bezug zum lebendigen Gott und seinem heilschaffenden Handeln an Israel, an der Christenheit und an der gesamten Menschheit erhält.
4. Gebet und —>Eschatologie 4.1. Gebet und,,zukünftige"
Kirche. D. —>Bonhoefferhat im Mai 1944 Gedanken
zum
Tauftag eines jungen Verwandten niedergeschrieben und darin herbe theologische Kritik an der Kirche seiner Zeit geübt: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den M e n s c h e n . . . Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen — aber der Tag wird kommen —, an dem wieder Menschen berufen werden, das W o r t Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und e r n e u e r t . . . Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten" (Widerstand u. Ergebung, München 1 9 5 6 , 2 0 7 ) . Hier i s t - bei aller nicht zu konservierenden Situationsgebundenheit der Aussage — das Gebet in aller Form als nota praecipua fidei (et verae ecclesiae) angesprochen. Freilich hat Bonhoeffer keine Antwort mehr auf jene Kernfrage geben können, die er selber so formuliert hatte: „ W a s bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das G e b e t ? " (ebd. 180). Die gegenwärtige Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß Fortschrittsoptimismus und
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,Theologie der H o f f n u n g ' einem tiefen Pessimismus und einer wachsenden Angst vor der Z u k u n f t gewichen sind. H a t etwa M . Luther doch recht, wenn er ausführt: „So k ö m p t er (sc. Jakob) nu und legt Gott seine not f ü r , thut nicht mehr denn das er yhm seine verheissung auffriicket, und thut ein recht starck feurig gepet. Denn das heist nicht beten, wenn man ynn der kirchen stehet, plerret und plappert, sondern angst leret recht beten" (WA 24,5 71,26 ff) ? Für Luther ist die Angst ein (theologisch offensichtlich unverdächtiges) ,Existential', das er ohne jede Bedenken mit dem Gebet in Verbindung bringt. Damit wird die anthropologische Grund-Situation des Angst-Habens als ,Ursprungs-Ort' des Gebets vorausgesetzt und akzeptiert - freilich nicht ohne deutlichen Hinweis auf die (gerade für Luther so entscheidend wichtige) göttliche ,Verheißung'. Luther nimmt damit nicht n u r Gottes Zusage ernst, sondern auch die reale Lage des Menschen zwischen Angst und H o f f n u n g . K. Barth hat dieser Position ein apodiktisches: „Es ist nicht w a h r , daß N o t beten lehrt" gegenübergestellt, es allerdings dadurch abgeschwächt, daß er weiterfuhr: „Sie lehrt auch sorgen ohne Gebet oder in merkwürdiger Konkurrenz mit einem dann freilich selbst etwas merkwürdigen Gebet" (KD NI/3,100). Da es aber kein Mensch-Sein ohne N o t und Angst geben kann, wird die Angst immer eine der wichtigsten Quellen f ü r menschliches Gebet bleiben — gleich, wie man ein solches Gebet im einzelnen oder grundsätzlich theologisch beurteilt. Kasch folgt Luthers Sicht, wenn er der menschlichen Vernunft die Fähigkeit zuweist, „wieder begreiflich zu machen, w a r u m das W o r t , N o t lehrt beten' eine so breite Erfahrungsgrundlage im Menschengeschlecht hat: eben weil in der N o t das Selbst um seinen Bestand fürchtet und sich daher erst recht seines Grundes zu vergewissern sucht" (81). Dieses existentielle Sich-seines-Grundes-Versichern ist aber eine völlig andere anthropologische Kategorie als etwa W. Bernets ,Beten', das nicht umsonst um die rational-kognitiven Begriffe „Denken, Rationalität, Reflexion und Besinnung" kreist. Das Denken über das Gebet hat zwar durchaus auch seine sachliche Legitimität, besonders in der Theologie. Aber es kann als Nach-Denken dem Lebensvollzug gegenüber immer nur eine sekundäre Aufgabe sein, selbst und gerade dann, wenn es das Gebet der kritischen Reflexion unterwirft, es auf biblische und theologische Sachgemäßheit ü b e r p r ü f t , es in den weiten Kontext von Religionswissenschaft und -psychologie stellt oder es auch der religionskritischen Sondierung ausliefert, ob es sich bei ihm im ganzen oder im Einzelfall etwa um eine kollektive oder individuelle Regression und damit um eine Flucht vor der zu bestehenden Wirklichkeit (Angst, N o t usw.) handelt. Der alte Streit zwischen einem offenbarungstheologisch und einem fundamentalanthropologisch fundierten Gebetsverständnis ist in der Gegenwart mit neuer Schärfe aufgebrochen. Seine Beilegung wird sich in der Z u k u n f t nicht mehr mit disjunktiv-diastatischen Formeln erreichen lassen, da sie an der vielschichtigen Wirklichkeit vorbeigehen. Es gab und wird immer geben sowohl den aus p u r e r Angst und ,nur' in aktueller N o t betenden Menschen — wie auch viele Menschen (und zwar in allen Religionen), die das Gebet als eine (wie auch immer verstandene) göttliche Einladung verstehen und von dorther praktizieren. Vermittelt werden können diese beiden Pole der Gebets-Wirklichkeit für eine christliche Theologie nur so, wie es G. Ebeling im Blick auf die alte Streitfrage nach der christlich-dogmatischen Beurteilung von Religion im ganzen getan hat: „Die im Sinne des Evangeliums in Brauch genommene christliche Religion ist die zur Wahrheit gebrachte Religion" (Dogmatik 1,139). Analog formuliert auch R. Prenter im Blick auf die Frage nach der Christlichkeit des christlichen Gebets: „Erst wenn das Gebet gerechtfertigt und wiedergeboren wird in Jesus Christus, wird es ein rechtes Gebet sein" (In Extremis. Zs. der Schweiz. Christi. Studenten-Vereinigung, Sept./Okt. 1947, 82). 4.2. Die Aufhebung aller Geheimnisse des Gebets in der ewigen Anbetung Gottes. Die Anbetung Gottes (Doxologie) ist nach den biblischen Zeugnissen sowohl des Alten (Ex 15,18; Ps 5,12; 9 3 , 1 - 2 ; 96,10; 145,1 u.ö.) wie auch des Neuen Testaments (Mt 6 , 1 3 b ; Rom 1,25; 11,36; 16,27; Gal 1,15; I Tim 1,17; Jud 25; Apk 7,12 u.ö.) die einzige „von Ewigkeit zu Ewigkeit" fortdauernde Form des Gebets. Wie Glaube und H o f f n u n g , so kommen auch alle Formen des Gebets außer ihr (Bitte, Fürbitte usw.) einmal zu ihrer eschatolo-
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gischen „ E r h ö r u n g " und d a m i t Erfüllung, jenseits d e r e r es sie nicht m e h r geben wird. W a s letztlich allein bleibt, ist d i e ó ó £ a G o t t e s , die zugleich d a s einzig w a h r e Heil d e r M e n s c h e n und d e r g e s a m t e n S c h ö p f u n g ist: Allein in àex glorificano num et mundi.
Dei vollzieht sich di e salus
homi-
S o w o h l M . L u t h e r w i e a u c h J . C a l v i n h a b e n sich z u m P r o b l e m dieser e s c h a t o -
logischen D o x o l o g i e g e ä u ß e r t : „ D a s aller erst und aller g r ö s t ist die behailigung des n a m e n gottes, und w e n n die selbig v o l b r a c h t ist, so seyn alle ding v e r b r a c h t " ( M . L u t h e r : 6 , 2 1 , 8 f ) . Calvin schrieb in ä h n l i c h e m Sinne ü b e r d a s V a t e r u n s e r als g a n z e s : Tametsi eiusmodi
est tota oratio,
ut ubique
gloriae
Dei ratio in primis
habenda
WA autem
sit (Inst. 1 1 1 , 2 0 , 3 5 ) .
Dies ist das letzte W o r t , d a s eine christliche d o g m a t i s c h e L e h r e v o m G e b e t im , e s c h a t o l o g i schen A u s b l i c k ' zu sagen v e r m a g . A b e r i n d e m sie es s a g t und s o sagt, g e w i n n t sie ein Kriter i u m , an d e m alles christliche
(und d a r ü b e r h i n a u s alles m e n s c h l i c h e ) G e b e t aller Z e i t e n zu
messen ist. Z u f l u c h t , Hilfe und Heil s u c h e n die G e b e t e aller M e n s c h e n . Die biblische A n t w o r t auf diese S u c h e liegt in d e r 1. Bitte des V a t e r u n s e r u n d in d e m beschlossen, w a s urchristliche Predigt ( e t w a n a c h A c t 4 , 1 2 ) an ihre H ö r e r w e i t e r g a b . Christliche T h e o l o g i e und d a m i t a u c h G e b e t s - L e h r e n e h m e n ihren sachlichen U r s p r u n g im geschichtlich v e r a n k e r t e n a n a m n e t i s c h e n L o b p r e i s G o t t e s und seines heilschaffenden T u n s für Israel, für die V ö l k e r und für seine g e s a m t e S c h ö p f u n g . Ihr letztes W o r t k a n n d a r u m a u c h n u r d e r H i n w e i s a u f den e s c h a t o l o g i s c h e n u n d i m m e r w ä h r e n d e n L o b p r e i s dieses lebendigen G o t t e s sein, in dessen A n b e t u n g d u r c h alle K r e a t u r allein das jeder denkerischen D u r c h d r i n g u n g letztlich u n z u g ä n g l i c h e G e h e i m n i s m e n s c h l i c h e n G e b e t s seit Urzeiten (das w o h l m i t d e m u n d u r c h d r i n g l i c h e n G e h e i m n i s des M e n s c h e n und d e r S c h ö p f u n g identisch ist) endgültig a u f g e h o b e n (conservare
und elevare!)
sein w i r d .
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Gebet Vili
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Müller
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Gebet IX IX. Praktisch-theologisch
1. V o r b e m e r k u n g 2. Z u r Entwicklung des Gebetsproblems in der Praktischen Theologie 3. Hilfen z u m Beten als christlicher Praxis (Literatur S. 102) 1.
Vorbemerkung
Praktische Theologie sieht sich beim T h e m a Gebet in besonderer Weise auf die Ergebnisse der anderen hier arbeitenden Disziplinen angewiesen. Viele Einzelheiten der folgenden, stark exemplarisch verfahrenden Skizze setzen also nicht n u r formal die ihr vorangehenden Abschnitte voraus; die gelegentlichen Rückverweise wollen ebensowenig nur theologiegeschichtliche Stützen der hier vorgetragenen Sicht bereitstellen. Vielmehr gehört es zur Eigentümlichkeit des Gebets, seiner Realien und seiner Probleme, d a ß sie erst dem gemeinsamen Blickwinkel aus historischer Linie, systematischer Durchdringung und praktischem Vollzug sich theologisch erschließen.
2. Zur Entwicklung
des Gebetsproblems
in der Praktischen
Theologie
2.1. Das „persönliche" Gebet im ,,religiösen Leben". Im Jahre 1918 leitete F. —»Heiler seine für die damals eben begonnene Erforschung dieses Gebietes epochale Monographie bei einem Überblick über „die bisherige religionswissenschaftliche Untersuchung des Gebets" mit folgenden Sätzen ein: „Aus der zentralen Stellung, welche das Gebet im religiösen Leben der Menschheit einnimmt, sollte m a n schließen, d a ß die Untersuchung des Gebets einen der hauptsächlichen Gegenstände theologischer und religionswissenschaftlicher Forschung bildete. Wer das glaubt, wird, wenn er die theologische Literatur durchmustert, sich bitter enttäuscht f ü h l e n " (4 f). Selbst die „jüngeren Disziplinen der allgemeinen Religionsgeschichte und der Religionspsychologie . . . befassen sich viel mehr mit den religiösen Vorstellungen und Bräuchen, den M y t h e n , Dogmen und Riten als mit dem eigentlichen religiösen Leben, das nicht in bloßen Gedanken über G o t t und Jenseits, nicht in bloßen Kulthandlungen und sittlichen Taten besteht, sondern in einem Verkehr mit dem Heiligen, einem Umgang und einer Gemeinschaft mit G o t t " (6).
Diese Sätze konzentrieren die Gebetsforschung und ihren „eigentlichen" Gegenstand auf den Begriff „religiöses L e b e n " . Nicht „ b l o ß e " metaphysische Gottes- und Jenseits-Spekulationen, nicht „ b l o ß e " rituelle Gottesverehrung und ethische N o r m i e r u n g des Handelns will sie untersuchen; weil „religiöses Leben" nicht darin allein „besteht", geht es bei seiner Erforschung um den „ V e r k e h r " (W. —»Herrmann) mit dem —»„Heiligen" (R. —»Otto), wie er sich im „ U m g a n g " und der „ G e m e i n s c h a f t " mit Gott vollzieht. Einer solchen Fragestellung, deren zentrale Begriffe sich mit den damals modernsten Erkenntnissen von Theologie, Philosophie und Religionswissenschaft berührten, k o n n t e die „theologische Literatur" zum Gebet in der T a t nicht genügen. Die Entwicklungen in der systematischen Theologie vom Gebetsverständnis F. —>Schleiermachers über A. -n>Ritschl (s.o. Abschn. VIII.2.1) hatten zwar durch W. H e r r m a n n (RE 1 6,386ff) einen gewissen Konsens zumal in der Frage nach dem Verhältnis von Gebet und „ N a t u r o r d n u n g " erbracht: Das „angeblich f r o m m e Spiel, das Gebet als Arbeitsmittel zu benutzen" (391), w a r unter der Prämisse durchschaut worden, „ d a ß wir nur zu dem Gott beten können, der uns gegenwärtig ist. Gegenwärtig aber ist uns nur der Gott, den wir in unserem eigenen Leben gefunden h a b e n " (387), und „je näher er uns k o m m t , desto klarer wird uns, wie hoch er über uns ist" (388). Die gleichzeitige Entwicklung der kirchlich geordneten wie der persönlichen Praxis des ,religiösen Lebens' jedoch war, aus unterschiedlichen Frömmigkeitsquellen gespeist, w ä h r e n d der letzten Jahrzehnte andere Wege gegangen, sowohl was das Gebet in der versammelten Gemeinde (s.o. Abschn. VII, bes. l.d),2.) als auch was das private Beten anlangt (—»Gebetbücher [III.5]). Der „Geist der liturgischen Restauration des 19. J h . " prägte noch die preußische Agende von 1895 „zwischen Orthodoxie und Pietismus, zwischen Überlieferung und Erweckung" (A. Niebergall: TRE 2,59 f), wenngleich „der theologische Liberalismus" gerade ihre Sprache und vor allem einzelne psychologisch abgesicherte liturgische Z u o r d n u n g e n {Kyrie, Gloria in excelsis) schon deutlicher bestimmte. Im Unterschied dazu stellte z.B. das apologetisch tendierende ,Persönlichkeits'-Denken einer „christlichen Lebensphilosophie f ü r moderne M e n s c h e n " (E. Pfennigsdorf, Persönlichkeit, Schwerin M '°1921) ganz auf die „lebens-
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Gebet IX
volle Wechselbeziehung zwischen Mensch und Gott" ab; dies „persönliche Wechselverhältnis" eines „Ich zum Du . . . bekundet" sich „auf Seiten des Menschen in Gebet und Gottvertrauen, auf seiten Gottes in Gnade und Treue" (315). Inmitten solcher ja nicht einfach gegenläufigen Strömungen suchte die Praktische Theologie um die Jahrhundertwende und bis zum Ersten Weltkrieg den Fragen nach Gebet und Beten deutlicher handlungs- und lebensalterbezogene Antworten zu erarbeiten. Während der noch jungen Geschichte des Faches hatten sie zuvor fast nur dem liturgischen —»Gottesdienst gegolten (s. z.B. K. R. Hagenbach, Enzyklopädie u. Methodologie derTheol. Wissenschaften, hg. v. E. Kautzsch, Leipzig l o 1 8 8 0 , 406ff; T. Harnack, O. Zöckler, Hb. der theol. Wissenschaften, Nördlingen, IV 2 1885, 386 ff; vgl. jedoch bes. die für liturgisch-gebetstheologische Fragen in dieser Zeit instruktivste Schrift J . Bauer, Die Agendenreform der Gegenwart, 1911 [SGV 65] 3 0 - 6 9 und ferner F. Niebergall, Prakt. Theol., Tübingen, II 1919, 211 ff: „die Stimme der Gemeinde"). Nun richteten sich die Interessen mehr und mehr auf Wert und Funktion des Gebets für die —>Seelsorge (s. z.B. H.A. Köstlin, Die Lehre v. der Seelsorge, a 1 9 0 7 [SLPT] 312. 394f; P. Blau, Praktische Seelsorge, Hamburg 1912, bes. 256 ff; vgl. noch M. Schian, Art. Seelsorge: Hb. f. das kirchl. Amt, Leipzig 1928,552f[Lit.]), und die ->Predigt (s. z.B. H. Hering, Die Lehre v. der Predigt, 1905 [SLPT 1] 415ff; O. Baumgarten, Predigt-Probleme, Tübingen 1904, 83 ff. 106 ff; P. Kleinert, Homiletik, Leipzig 1 9 0 7 , 1 8 6 f). Das einzige Gebiet aber, auf dem es in der Praktischen Theologie zu wirklicher „Gebetsforschung" kam, war die sich gerade jetzt zur —»Religionspädagogik wandelnde —>Katechetik. Besonders D. Vorwerks hier führendes Buch nahm F. Heiler denn auch 1918 zusammen mit einigen „religionspsychologischen Untersuchungen" und einzelnen theologischen Arbeiten von seiner oben zitierten Enttäuschung an der Literatur aus (a. a. O. 11.14). Vorwerk schloß sich sowohl den theologischen Gebetsauffassungen von W. Herrmann und J. —> Kaftan (Vorwerk 1,606 ff) als auch von M. —»Kähler (611 f) und vor allem A. —»Schlatter (621 ff) an. Dessen Dogmatik (Das christl. Dogma, Calw 1 9 1 1 , 2 1 9 ff) stellte das Gebet zumal als „Akt" des „Wollens" neben „Bekenntnis" und „Opfer", ordnete sie alle indes als aktuale Religion dem auf ethisches Handeln offenen „Gottesdienst" zu ( 2 1 3 - 2 3 9 ) . Von hier aus meinte Vorwerk, einerseits Verbindung zur „religionspsychologischen Gebetsforschung seit [William] James" (I, 627 ff; II, 13 ff) gewinnen zu können; andererseits bot sich ihm so die theologische Brücke zu einem „der besten Gedanken heutiger Erziehungskunst, daß der Unterricht darauf abzielen soll, die Selbsttätigkeit des Schülers zu wecken. Gebet aber ist Religion in ihrer Selbsttätigkeit" (I, IV). Wie stark solche Ansichten den katechetischen und religionspädagogischen Grundvorstellungen der Zeit entsprachen, zeigt ein Blick auf den —>Religionsunterricht (s. z. B. R. Kabisch, Wie lehren wir Religion?, Göttingen 1910, 76ff. 108 ff, bearb. v. H. T ö g e l 6 1 9 2 3 , 45 ff. 98 ff; vgl. noch O. Eberhard, Arbeitsschulmäßiger Religionsunterricht, Stuttgart 2 1924, 247ff. 292 ff) und auf den —»Kindergottesdienst (s. z.B. Smend; P. Zauleck, Theorie und Praxis des Kindergottesdienstes, Gütersloh 1914, 95 ff; vgl. noch J. Scheller/O. Eberhard, Tat u. Leben im Kindergottesdienst, ebd. 1929, 44ff). Für den —»Konfirmandenunterricht hat Vorwerk selbst das Gebet ausführlich thematisiert (II, 57ff, dort weitere Lit.). 2.2. „Anbetung" und „Antwort". Bei seiner Auslegung von Rom 8,26 ging K. —»Barth in charakteristischer Weise mit F. Heilers Buch um: „Indem Paulus diese Worte schreibt, weiß er, daß er nicht weiß, was er beten soll nach Gebühr! Warum weiß er nicht? Offenbar darum, weil auch das Gebet keineswegs ,das Wunder der Wunder' ist, ,das sich täglich in der Seele des Frommen vollzieht', weil ,das Streben nach Befestigung, Stärkung und Steigerung des eigenen Lebens das Motiv allen Betens' ist und sein Wesen der ,Verkehr des Frommen mit dem persönlich gedachten und als gegenwärtig erlebten Gott' (F. Heiler), weil auch das tiefste, heroischste, gewaltigste Beten . . . nur eines anschaulich zu machen vermag: wie wenig auch der betende Mensch über das Eigene, Gedachte und Erlebte hinauskommt" (Der Römerbrief, M ü n c h e n 1 1 9 2 2 , 3 0 0 ; Zitate bei Heiler 4 9 5 . 4 9 1 . 4 8 9 , dort keine Hervorhebungen!).
Barths Verständnis des Gebetes war in dieser für das praktisch-theologische Thema Gebet grundlegenden Zeit von den oben beobachteten Begriffen und Ableitungen diametral
G e b e t IX
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unterschieden. Seine Auffassung vom „lebendigen G o t t " in Jesus ließ ihn gegen den „frommen M e n s c h e n (diese hartnäckigste Spezies der G a t t u n g M e n s c h ! ) " ( 3 5 2 ) den „unbedingten imperatorischen A n s p r u c h , . . . die schlechthinnige F r e m d h e i t , . . . die freie Initiative des absoluten M o m e n t s der Gerechtigkeit G o t t e s " ( 3 6 5 ) stellen, und dies „in der Erkenntnis, daß wir alle nur G o t t fürchten, lieben und anbeten k ö n n e n " ( 3 5 6 ) . Die ,,,Anrufung' Gottes", in der der N a m e Jesu „existentiell bekannt, geglaubt, gefürchtet, geliebt" ( 3 6 7 f ) wird, ist die „sachgemäße G o t t e s v e r e h r u n g " ( 4 1 6 ; zu R o m 1 2 , 1 ) . Aus ihr folgt „ a u c h das primäre Ethos der gebrochenen Linie, der gebeugten Anbetung des erbarmenden G o t t e s " ( 4 1 7 , vgl. 4 2 2 ) ; sie aber trägt, wie „alle Handlung als solche nur Gleichnis und Zeugnis ist vom Handeln G o t t e s " ( 4 2 0 ) , das „ G e b e t als E t h o s " . Barth sah zu R o m 1 2 , 1 2 („Haltet an im G e b e t " ) das „ B e t e n " als „ein T u n . (Von einem sekundären T u n , vom Beten als V o r g a n g , nicht von der Anbetung, die wir als primäres, alles T u n eröffnende Handlung kennen, ist hier sichtlich die R e d e . ) " ( 4 4 2 ) . Und noch einmal n a h m er Bezug a u f Heiler, dessen religionswissenschaftlich erhobene Auffassung von „ A n b e t u n g " ( 4 9 1 ff) er freilich nicht diskutierte: „Unerhört fremdartig ragt dieses Tun in die Welt des Menschen hinein, unerhört nahe kommt es einem Durchbruch aus dem Gleichnis ins absolute Tun. Aber welches menschliche Tun stünde gleichzeitig tiefer in der Problematik alles menschlichen Tuns als dieses ? Erschütternd klar ist es ja durch Heilers Buch geworden, wie profan gerade die ,Welt des Gebets' ist, wie nahe wir uns gerade hier dem gänzlich Absurden befinden. . . . Zur ethischen Tat wird das Gebet durch das Anhalten. Anhalten ist nicht die Häufung der Quantität oder die Verfeinerung der Qualität des Betens, sondern das Anhalten in der Richtung, die Kontinuität des Gebets im Gebet; Gott ist gemeint, wird gesucht, Gott will, daß gebetet wird" (433). Distanz und N ä h e dieser Gedanken zum oben (Abschn. 2 . 1 ) erwähnten ebenfalls ethisch tendierenden Gebetsverständnis etwa Schlatters müssen wohl an der Unterscheidung zwischen dem „ p r i m ä r e n " T u n der „ A n b e t u n g " und dem „sekundären T u n " des Betens als „ V o r g a n g " , als „ A n h a l t e n " und darin am sich hier auswirkenden Verhältnis zwischen „lebendigem G o t t " und „ f r o m m e m M e n s c h e n " genauer ausgemessen werden. Aber die praktisch-theologischen Konsequenzen werden aus Barths Hinweis deutlicher, in seiner Fremdartigkeit k o m m e das „ T u n " , der „ V o r g a n g " des Betens „einem Durchbruch aus dem Gleichnis ins absolute T u n . . . unerhört n a h e " . Grenze und Ubergang zwischen Anbetung und Beten halten dies T u n des Menschen als „Gleichnis und Z e u g n i s " eben dem handelnden Willen Gottes zugleich fern und verbunden. Als wenige J a h r e später und unter mancherlei verborgener Anknüpfung nicht zuletzt an Barths Römerbrief das Berneuchener Buch vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation ( H a m b u r g 1 9 2 6 ; Neudr. D a r m s t a d t 1 9 7 1 ) erschien, stellten seine Autoren, über Barth hinausgehend, die gesamte „ A u f g a b e " ( 6 7 ff) der Kirche am Begriff „Gleichnis" dar. „ A u t o n o m i e , Realismus, Relativismus" des Menschen sahen sie in der „ H a l t u n g des G l a u b e n s " a l s , A n t w o r t ' überwindbar: „ W e r zum Glauben erweckt wird, ist damit zugleich herausgerufen aus der Krankheit unendlicher Selbstbeachtung; indem er in die Offenbarung des gegenwärtigen Gottes hineingestellt wird, wird ihm auch sein eigenes Äußeres und inneres Leben zum Gleichnis ein Stück der gesamten W e l t , das seinen Sinn nur als O r t der göttlichen O f f e n b a r u n g e m p f ä n g t " ( 8 9 ) . D a r u m konnte das Buch fortfahren: „Die echte Sprache des Glaubens ist Gleichnisrede . . . Die Gleichnisrede ist die dem ,Wort Gottes' allein angemessene Form menschlicher Rede. Man darf nur nicht vergessen, daß es selbst eine Gleichnisrede ist, wenn wir von Gottes ,Wort' sprechen . . . Das Wort ist das geistigste, zugleich das persönlichste unter allen Symbolen. In dem Wort verliert der Begriff seine Starrheit und kommt als lebendiger Anspruch vom Ich zum Du. Darum ist das ,Wort' das rechte Gleichnis für die Offenbarung Gottes" (90). „Nur da ist Offenbarung, nur da ist Wort Gottes, wo ,in, mit und unter' einer endlichen Wirklichkeit das ewige jenseitige Du uns anspricht und in der konkreten Situation unsere Entscheidung fordert" (92). „Die durch das Wort Gottes erweckten Menschen werden in dem gemeinsamen Hören des Wortes zur Gemeinde, die ihm [dem ,Wort'] antwortet in Gebet und Gehorsam" (104). Wenn „das G e b e t " die „unmittelbarste A n t w o r t auf das an uns ergangene G o t t e s w o r t i s t " , dann kann es weder „als eine Art religiöser oder kirchlicher V e r p f l i c h t u n g " hingestellt werden noch k a n n ihm „der Realismus des religiösen D e n k e n s " oder „der den Glauben aus-
Gebet IX
98
höhlende Relativismus" genügen. D a n n ist aber andererseits die Kirche des ,Wortes' „ihren Gliedern eine ganz elementare Hilfe" (114), „eine wirkliche Erziehung zum Gebet schuldig" (115). Deren „ Z i e l " m u ß es sein, „ d a ß dem Menschen der R h y t h m u s der Zeit durchscheinend gemacht werde für die O f f e n b a r u n g . . . u n d damit eine jede Zeit geheiligt werde, . . . daß der einzelne Mensch sich bei den konkreten Anlässen u n d W e n d e p u n k t e n seines Lebens wirklich vor Gott gestellt finde und lerne, im Gebet zu a n t w o r t e n auf den Anspruch, der hier an ihn ergeht, . . . daß der einzelne willig gemacht werde, . . . sich als Glied der Gemeinde an seinen O r t zu stellen, w o er mit der Gemeinde sich hinwenden und ausrichten läßt zu dem k o m m e n d e n Reich" ( 1 1 5 f ) .
Durch die Kategorien , A n b e t u n g " und A n t w o r t " wollte sich das Gebetsverständnis der theologischen Wende nach dem Ersten Weltkrieg ebenso deutlich den Auffassungen der —»Reformation verpflichten wie es sich von den Leitbildern einer Theologie des „religiösen Lebens" samt der s o g . , m o d e r n e n ' Praktischen Theologie seit dem Anfang des Jahrhunderts geschieden sah. W ä h r e n d der nun beginnenden Jahrzehnte wurde in vielfachen Brechungen und Verflechtungen mit Wissenschaft und Kirche versucht, dies Verständnis praktisch-thcologisch zu verwirklichen. Die neue „liturgische Bewegung" (vgl. W. Birnbaum, Das Kultusproblem u. die liturg. Bewegungen des 20. Jh., Tübingen, II 1970, 20ff) bekrönte ihre wirkungsstarke und umfassende gottesdienstpraktische und dadurch gemeindebezogene Arbeit mit dem Standardwerk Leiturgia (zum Gebet vgl. z.B. I, 111.256 ff; II, 355 ff); der ihr in vielem nahestehende O t t o Haendler konnte aus dieser H e r k u n f t sowohl die gesamte —*Liturgik als „ D a s Gebet der Kirche" betiteln (Grundriß der Prakt. Theol., 1957 [STö.T 6] 144ff, s. bes. 164ff) als auch für die Predigt neben solchen Wurzeln „tiefenpsychologische" Einsichten fruchtbar machen (Die Predigt, Berlin ' i 9 6 0 , 174ff). Die gebetstheologischen Anstöße der —»Dialektischen Theologie setzten sich im Unterschied dazu eher für die —»i'Kreuzzüge b e w a h r t e . O b w o h l p a l ä s t i n i s c h e G o t t e s dienstordnungen mit ihren typischen sprachlichen Eigenheiten aus jener Zeit erhalten sind, g i b t es n i c h t n u r e i n e , s o n d e r n z a h l r e i c h e s o l c h e r O r d n u n g e n , die d u r c h e i n e b e t r ä c h t l i c h e p o e t i s c h e V i e l f a l t , s o w o h l i n n e r h a l b der S t a m m g e b e t e selbst als a u c h in den E i n f ü g u n g e n o d e r Z u s ä t z e n für b e s o n d e r e A n l ä s s e , g e k e n n z e i c h n e t sind (—>Gebet III). — I n n e r h a l b des b a b y l o n i s c h e n B e r e i c h s (vgl. W i e d e r : T a r b . 3 7 ) f ö r d e r t e n die j ü d i s c h e n A u t o r i t ä t e n (die G a o n e n ) von d e r M i t t e des 8 . J h . an e i n e z u n e h m e n d e s p r a c h l i c h e V e r f e s t i g u n g d e r G e b e t s i n h a l t e (vgl. H o f f m a n , C a n o n i z a t i o n ) . Sie f o l g t e n d a r i n d e m k u l t u r e l l e n Z e n t r a l i s m u s d e r m o s l e m i s c h e n A b b a s s i d e n . In R e s p o n s e n an die w e l t w e i t z e r s t r e u t e n j ü d i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n e r k l ä r t e n sie ihre e i g e n e n l i t u r g i s c h e n G e b r ä u c h e als für a l l e J u d e n v e r b i n d l i c h . Bis z u r M i t t e des 1 1 . J h . h a t t e n sie z w e i , m ö g l i c h e r w e i s e drei v o l l s t ä n d i g e G e b e t s o r d n u n g e n verfaßt. D i e e r s t e u n d e i n f l u ß r e i c h s t e ist der Seder
Rav Amram
v o n A m r a m G a o n (gest. 8 7 1 ) (vgl.
d a z u G i n z b e r g , G e o n i c a ; M a r x ) . V o n S p a n i e n aus f a n d e r w e i t e V e r b r e i t u n g u n d w u r d e z u m g r u n d l e g e n d e n V o r b i l d für die l i t u r g i s c h e n G e b r ä u c h e W e s t e u r o p a s . E r b e s t e h t a u s e i n e r umfassenden Z u s a m m e n s t e l l u n g von G e b e t e n mit v o r g e s c h r i e b e n e m W o r t l a u t und detaill i e r t e n V o r s c h r i f t e n für die D u r c h f ü h r u n g eines G o t t e s d i e n s t e s . O b w o h l die T e x t e d e r G e b e t e des A m r a m n i c h t i m m e r s o r g f ä l t i g w i e d e r g e g e b e n w u r d e n , ist d e r b e g l e i t e n d e K o m -
104
Gebetbücher I
mentar jedoch so zuverlässig überliefert, daß seine Abhängigkeit von babylonischen Vorbildern deutlich wird. Und in der Tat strebte er danach, sich von palästinischen Sammlungen abzugrenzen. Er fügte eine ältere, von seinem Vorgänger Natronai (gest. 858) verfaßte Ordnung von Segenssprüchen sowie andere gaonäische Vorlagen, die auf Yehudai (gest. 761) zurückgehen, in sein Werk ein. Das zweite gaonäische Gebetbuch ist der Siddur Saadja des —»Saadja Gaon (gest. 942; vgl. Heinemann: Tarb. 34; Wieder: Saadya Studies; Zulay). Saadjas Absicht zufolge sollteer dem durchschnittlichen Gottesdienstbesucher angesichts der verwirrenden Vielfalt der damals existierenden liturgischen Gebräuche die Unterscheidung des Geeigneten vom Ungeeigneten ermöglichen. Anders als der Seder Rav Amram enthält Saadjas Text kurze und einfache Anweisungen zum Ablauf der Liturgie, die in arabischer, nicht aramäischer Sprache aufgezeichnet sind. Anders als Amram verwendet Saadja auch palästinisches Material, bevorzugt poetische Ausschmückungen (pijjütim) und erweist sich als Meister in der für seine Zeit typischen islamischen liturgischen Ästhetik. Letzteres zeigt sich vor allem in seiner Vorliebe für einen logischen Aufbau, grammatikalische Exaktheit, sprachliche Genauigkeit, die sich an der Bibel orientierte (—»Tanach), und in seiner Philosophie (vgl. z. B. seine beiden baqasöt). Jüngere Quellen erwähnen noch ein drittes Gebetbuch von Hai Gaon (gest. 1038), das aber nicht erhalten ist. Etwa im 10. Jh. verlagerte sich der Mittelpunkt der jüdischen Welt nach Westeuropa, wo jede Gemeinde ihr liturgisches Leben weitgehend auf der Basis von Amrams Gebetbuch selbst gestaltete. In einigen Fällen ist aber auch eine Vertrautheit mit dem Siddur des Saadja, anderen selbständigen gaonäischen Vorlagen und auch mit Entscheidungen älterer jüdischer Autoritäten Nordafrikas (vor allem in Tunis) und Palästinas nachweisbar. Eine grundsätzliche rituelle Differenz läßt sich zwischen Spanien (S'farad) auf der einen und Frankreich/Deutschland (Askenas) auf der anderen Seite aufweisen, die jedoch in eine noch weitergehende lokale Vielfalt zerfällt. Darüber hinaus gibt es auch unabhängige liturgische Sonderentwicklungen. Etwa im 14. Jh. war die Liturgie so umfangreich geworden, daß sie auf mehrere einzelne Gebetbücher verteilt wurde, die in Aschkenasien Siddur/Siddürim (tägliche und Sabbatgebete), Mahzor (Feiertagsliturgie) undHaggadä (Pesachseder) hießen. Ab etwa 1520 erschienen gedruckte Gebetbücher, die die unterschiedlichen liturgischen Lokaltraditionen vereinheitlichten. Oft hing diese Standardisierung von der Willkür der Drucker ab. Vom 17. bis 19. Jh. gab es Bemühungen, falsche Textüberlieferungen zu korrigieren. Sabbatai Sofer, ein hervorragender polnischer Grammatiker und Kabbaiist, versuchte zwischen 1613 und 1618 einen wissenschaftlich zuverlässigen Ritus festzulegen. Sein kritisches Bemühen wurde durch Wolf Heidenheim ( 1 7 5 7 - 1 8 3 2 ) , der wissenschaftlich kommentierte Ausgaben druckte, und seinen Schüler Seligman Baer, dessen Seder Avodat Israel (1868) den kritischen Stand seiner Zeit widerspiegelt, in die moderne Zeit hinein weitergeführt. In dieser Zeit verbreitete sich der sefardische Ritus in den Mittelmeerländern, in Holland, England und durch spanische Emigranten auch in der Neuen Welt, wo er sich den liturgischen Gebräuchen dieser Länder anpaßte und weiterentwickelte. Der aschkenasische Ritus breitete sich über Nordeuropa nach Polen und Rußland und dann auch nach Nordamerika, wo er seitdem vorherrscht, hin aus. Vom 16. Jh. an kombinierten Kabbalisten und später im 18. Jh. polnische Chasidim beide Riten. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jh. fanden in vielen europäischen jüdischen Gemeinden, besonders in Deutschland, aber immer mehr auch in Amerika, liturgische Reformen statt, die unterschiedlich — theologisch, philosophisch, politisch oder ästhetisch - motiviert waren. Typische Reformwerke sind das 1819 erschienene Gebetbuch, das als erstes die liturgische Reform in Deutschland in umfassender Weise einführte, sowie David Einhorns Olath Tamid (1858; vgl. Friedland), das zum Vorbild für die Reform in den Vereinigten Staaten und Kanada wurde, wo seit 1894/95 ein vereinheitlichtes Union Prayer Book existiert (vgl. Silberman; Hoffman, Language). Seit Leopold Zunz ( 1 7 9 4 - 1 8 8 6 ) wurden die Gebetbücher nach ihrer geographischen
G e b e t b ü c h e r II
105
Herkunft untersucht. M a n n a h m an, die liturgischen G e b r ä u c h e stünden mit der Entstehung und dem Z u s a m m e n b r u c h jüdischer Gemeinden in Z u s a m m e n h a n g . Entscheidend ist jedoch nicht der geographische, sondern der soziale Unterschied. So spiegeln Gebetbücher heute ideologische Positionen bestimmter jüdischer Gruppen und deren konsequente soziale Distanz zu anderen (jüdischen) Gruppen wider. Spezifische Tendenzen eines Gebetbuches hängen ab von früherer gemeindlicher Selbstdefinition als „Britische R e f o r m g e m e i n d e " , als „ c h a s i d i s c h " (dieser oder jener Richtung), oder als „amerikanisch k o n s e r v a t i v " und so weiter. Z u r Z e i t scheinen Juden überall, in Europa, Israel und besonders in den USA, eine neue „ N a c h - H o l o c a u s t - I d e n t i t ä t " auszubilden. Dieser Prozeß hat zu bemerkenswerter liturgischer Kreativität geführt (vgl. H o f f m a n , Liturgy), die auch die Reproduktion alternativer Gebetbücher einschließt. In ihnen wird das Prinzip der „Freiheit innerhalb der S t r u k t u r " verdeutlicht, welches die rabbinische Liturgie seit ihren frühesten Tagen gekennzeichnet hat. Quellen Geniza-Fragmente: Heinemann, Prayer (s.u.) 302. — M. Higger (Hg.), Massekhet Sofrim, New York 1937. - Seder Rav Amram, ed. Daniel Goldschmidt, Jerusalem 1971; engl. Lund 1951/74. - Siddur Rav Saadja Gaon, hg. v. S. Assaf/I. Davidson/I. Joel, Jerusalem 2 1 9 6 3 . Literatur Israel Davidson, Otsar Hashirah Wehapijjut, 4 Bde., 1929 = New York 1970. - Ismar Elbogen, Der jüd. Gottesdienst in seiner gesch. Entwicklung, 1913 = Hildesheim 1962. - Y. N. Epstein, Sur les Chapitres de ben Baboi: REJ 75 (1922) 1 7 9 - 1 8 6 . - Eric L. Friedland, Olath Tamid by David Einhorn: HUCA 45 (1974) 301 - 332. - Louis Ginzberg, Geonica, I 1909 = New York 1 9 6 8 , 1 1 9 - 1 5 4 . - Ders., Ginzei Schechter, II 1929 = New York 1969, 5 0 4 - 5 7 3 . - Daniel Goldschmidt, Mechkarei Tefillä Upijjut, Jerusalem 1969. - Robert Gordis, A Jewish Prayer Book for a Modern Age: CJud 2 (1945) 1 - 2 0 . - Joseph Heinemann, Keta' im Missidur Rav Saadiah: Tarb. 34 (1964/65) 3 6 3 - 3 6 5 . - Ders., Prayer in the Talmud, 1977 (SJ 9). — Moshe Hershler, Siddur of Rabbi Solomon ben Samson of Garmaise, Jerusalem 1977. - Lawrence A. Hoffman, Creative Liturgy: Jewish Spectator 1 9 7 5 , 4 2 - 5 0 . - D e r s . , Gates of Understanding, New York 1977, 1 3 1 - 1 6 8 . - Ders., The Language of Survival in American Reform Liturgy: CCAR Journal 24 (1977) 8 7 - 1 0 6 . - Ders., The Canonization of the Synagogue Service, Notre Dame 1979. — Ders., Censoring In and Censoring Out. A. Function of Liturgical Language: Ancient Synagogues, hg. v. J. Gutmann, Philadelphia 1981, 1 9 - 3 8 . - Ders., Rez. v. S. C. Rief Shabbethai Sofer and His Prayer-Book (s. u.): Journ. of Reform Judaism 1 9 8 2 , 6 1 - 6 7 . - Louis Jacobs, Hasidic Prayer, New York 1973. - J. Kaufmann, The Prayer Book According to the Ritual of England before 1290: J Q R 4 (1892) 2 0 - 6 3 . - Elieser Landshut, Amudei Ha'avodah, 1 8 5 7 - 1 8 6 2 = New York 1965. - Samuele David Luzzatto, Einf. in den Machsor Minhag Italiani, Livorno 1846. - Jacob Mann, Les Chapitres de ben Baboi et les Relations de R. Jehoudai Gaon avec la Palestine: REJ 70 (1920) 1 1 3 - 1 4 8 . - Alexander Marx, Unters, zum Siddur des Gaon R. Amram: J J L G 5 (1907) 3 4 1 - 3 6 6 . - J a k o b J. Petuchowski, Prayerbook Reform in Europe, New York 1969. - Siefen C. Rief, Shabbetai Sofer and his Prayer Book, Cambridge 1979. - Abraham I. Schechter, Studies in Jewish Liturgy, Philadelphia 1930. Siddur Hageonim Wehamekubalim Wehachasidim, Jerusalem, 1 1970. - Lou H. Silberman, The Union Prayer Book. A Study of Liturgical Development: Retrospect and Prospect, hg. v. B. W. Korn, New York 1 9 6 5 , 4 6 - 8 0 . - N a p h t a l i Wieder, Fourteen New Genizah Fragments of Saadiah's Siddur together with a Reproduction of a Missing Part: Saadya Studies, hg. v. E.I.J. Rosenthal, Manchester 1943, 2 4 5 - 2 8 3 . - Ders., Lecheker Minhag Bavel Hakadmon: Tarb. 37 (1967/68) 1 3 5 - 1 5 7 . 2 4 0 - 2 6 4 . Menachem Zulay, Schemoneh Esreh Lerav Saadiah Gaon: Tarb. 16 (1944/45) 5 7 - 7 0 . - Leopold Zunz, Der Ritus des synagogalen Gottesdienstes, Berlin 1859. Lawrence A. H o f f m a n II. Mittelalter 1. Die karolingischen Libelli precum 2. Gebet- und Andachtsbücher des Hochmittelalters 3. Die Stundenbücher des 1 4 . - 1 6 . Jh. 4. Die spätmittelalterlichen Gebetbücher 5. Die gedruckten Gebetbücher des 1 5 . - 1 6 . J h . (Quellen/Literatur S. 108) 1. Die karolingischen
Libelli
precum
Das christliche Gebetbuch für den privaten G e b r a u c h des Gläubigen außerhalb der öffentlich-kirchlichen Liturgie ist im 8. J h . in Irland und im angelsächsischen Bereich aus spanischen Vorbildern entwickelt worden. Die G e b e t b ü c h e r , die unter dem N a m e n —> Alkuins
106
Gebetbücher II
überliefert sind, und das als Book of Gerne bekannte, zwischen 721 und 740 geschriebene Gebetbuch für Bischof Aethelwold von Lindisfarne (Cambridge, UL, M s . 2 1 3 9 ) dürften inhaltlich dem nicht bewahrt gebliebenen Urtyp dieser Gattung entsprechen. Neben —»Hymnen, -^.Gebeten und Litaneien aus der gesamten christlichen Tradition werden besonders viele Gebetsanweisungen für den Gebrauch der —»Psalmen gegeben. Der Psalter w a r seit frühchristlicher Zeit das aus der jüdischen Tradition ü b e r n o m m e n e Gebetbuch par excellence. —»Cassian und andere Lehrer des —»Mönchtums hatten das Psallieren nach dem Vorbild der orientalischen M ö n c h e auch in den Klöstern des Westens zum Mittelpunkt des Gebetsoffiziums gemacht. Für den Laien w a r der Psalter während des gesamten Mittelalters der einzige von der Kirche für die private Lektüre erlaubte Teil der Bibel. Daher gab es auch zahlreiche Versuche, die mitunter schwer verständlichen 1 5 0 Psalmen durch Kürzung, Auswahl und Umdeutung dem Gebrauch für das private Gebet anzupassen.
Im Zuge der—»Karolingischen Renaissance wurde dieser Gebetbuchtypus von den —»Benediktinern auf dem Festland übernommen und weiterentwickelt. Die bald als Libelli precum bezeichneten Handschriften fanden aus religiösen und kirchenpolitischen Gründen eine rasche Verbreitung. Inhaltlich sind vor allem drei Gebetstypen für die Libelli precum charakteristisch. Das theologisch-dogmatisch abgefaßte Dreifaltigkeitsgebet richtet sich gegen den von Spanien aus verbreiteten Adoptianismus. Das Gebet um —»Bekehrung oder die Confessio ist die wohl originellste Gebetsform des karolingischen Mönchtums mit der nachhaltigsten Wirkung. Durch das Namhaftmachen des Guten und Bösen in der Aufzählung der Tugenden und Laster soll die Unterscheidung der Geister, die Sensibilität für die Präsenz Gottes geweckt und verfeinert werden. Schließlich fanden aus der altirischen Tradition die sog. Loricae (Schildgebete) Aufnahme, die von Gott und den Heiligen in litaneiförmiger Anrufung den Schutz für Leib und Leben erflehen. Die Gebetbücher für die karolingischen Herrscher wurden in den Klöstern nach Art der liturgischen Bücher illuminiert (—»Buchmalerei). Drei dieser Gebetbücher sind erhalten: das Gebetbuch Karls des Kahlen (München, Schatzkammer), der Psalter Ludwigs des Deutschen mit angehängtem Gebetsteil, entstanden in St. Omer (Berlin, SBPK, Ms.Theol.lat.fol.58) und das Gebetbuch Ottos III. (Pommersfelden, Ms. 347). Von den sonstigen Libelli precum, die bis ins Spätmittelalter abgeschrieben wurden, sind etwa 2 0 0 Codices bewahrt geblieben. 2. Gebet-
und Andachtsbücher
des
Hochmittelalters
Durch die Reformen des Ordenswesens im 11. Jh. und den Aufschwung des geistlichen Lebens in den neugegründeten Orden vertieft sich in den Klöstern die Gebetslehre. Nach den literarischen Vorbildern Cassians, —»Augustins und —»Gregors I. verfassen die größten Theologen der Zeit Gebetstexte und -^»Meditationen, durch die sie die Quintessenz der eigenen Glaubenserfahrung vermitteln. Der erste Vertreter dieser Gattung war der italienische Benediktiner -^»Johannes von Fecamp. Aus seinem Werk Gonfessio theologica stellte er selbst verschiedene Sammlungen von Gebeten und Meditationen zusammen, von denen er eine der deutschen Kaiserin Agnes von Poitou (gest. 1077) widmete. Noch größere Verbreitung fanden die Meditation es et orationes, die ^-Anselm von Canterbury für seine Mitbrüder im Kloster Bec in der Normandie verfaßte. Auf seiner Reise nach Rom im November 1103 offerierte er der Markgräfin Mathilde von Tuszien diese Sammlung, deren zahlreiche Mariengebete einen Markstein in der Verehrung der Gottesmutter als Mittlerin der Gnade darstellen. Auch von anderen bekannten Autoren der Zeit sind Gebets- und Andachtsbücher überliefert, darunter ^ P e t r u s Damiani, Eckbert von Schönau, Anselm von Lucca, —»Aelred von Rievaulx, Arnauld von Bonneval. Die Meditationes de cognitione humanae conditionis wurden -h> Bernhard von Clairvaux, die Meditationes vitae Christi -^»Bonaventura zugeschrieben. Besonders unter dem inspirierenden Einfluß der —»Zisterzienser und ^»Franziskaner konzentriert sich die Gebetsandacht mehr auf die Person Christi in seinen menschlichen Mysterien. Ein eindrucksvolles Exemplar dieser Gattung ist das sog. Gebetbuch der —»Hildegard von Bingen (Clm 935), das in der 2. Hälfte des 12. Jh. am Mittelrhein in Zisterzienserkreisen entstanden sein dürfte. Die 68 Gebete und die ganzseitigen Andachtsbilder
Gebetbücher II
107
haben die wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte von der Schöpfung der Welt bis zum Jüngsten Gericht zum Inhalt, wobei die Passion Christi den umfangreichsten Teil einnimmt. J. Die Stundenbücher
des 14.—16. Jh.
Das Stundenbuch (livre d'heures, getijdenboek) als Gebetbuch für den Laien entwickelte sich zu Beginn des 14. Jh. aus den seit dem 9. Jh. in den Klöstern üblichen Sonderoffizien. Von der Kirche zunächst nur zögernd akzeptiert, breitete es sich rasch aus und blieb mit vielen lokalen Varianten bis zur Mitte des 16. Jh. vor allem in Frankreich und den Niederlanden in Gebrauch. Seine Hauptelemente, die kleinen Offizien Mariae et S. Crucis, sind wie das liturgische Chorgebet nach den kanonischen Tagesstunden eingeteilt (—»Stundengebet). Diese am Chorgebet orientierten Formen lassen wenig Spielraum für eine individuelle Frömmigkeit; bezeichnenderweise erfahren die Stundengebete auch k a u m eine Weiterentwicklung. Die eigentliche Bedeutung des Stundengebets liegt eher im kunstgeschichtlichen und religiösen Wert der —>Andachtsbilder, für die sich, ausgehend von den Sienesischen Meistern um Simone Martini am päpstlichen Hof zu Avignon, nach und nach eine feste Ikonographie und ein bestimmter Kanon herausbildet. Die künstlerische Bedeutung ihrer Ausstattung hat die Stundenbücher auch zu einem Prestigeobjekt des Adels und, vor allem in Flandern und N o r d f r a n k r e i c h , des wohlhabenden Bürgertums gemacht. So soll der Duc Jean de Berry ( 1 3 4 0 - 1 4 1 6 ) 18 kostbar ausgestattete Stundenbücher besessen haben, wovon 6 erhalten sind. 4. Die spätmittelalterlichen
Gebetbücher
Von der ansehnlichen Z a h l spätmittelalterlicher Gebetbücher, die in vielen größeren Bibliotheken a u f b e w a h r t werden, sind n u r die wenigsten in Katalogen und Monographien erfaßt. Daher können diese f ü r das Geistesleben des Spätmittelalters so wichtigen Quellen nur unvollständig behandelt werden. Die Darstellung beschränkt sich auf den deutsch- und niederländischsprachigen R a u m , w o sich die Entwicklung des Gebetbuchs am deutlichsten abzeichnet. In den Klöstern konnte das traditionelle, normierte Chorgebet das Verlangen nach Glaubensvertiefung nicht mehr befriedigen. M a n legte Gebetssammlungen an wie das Orationale magnum der Zisterzienser von Altencamp (Darmstadt, H s 521), ein nahezu vollständiges Arsenal von Gebeten, H y m n e n und Andachten aus der gesamten christlichen Uberlieferung. Aus solchen größeren Kompendien wurden wieder kleinere Gebetbücher zusammengestellt, zunächst noch in lateinischer Sprache, später auch übersetzt für die Konversen, Laienbrüder und Schwestern des Dritten Ordens. Der Einfluß der mitteldeutschen Frauenmystik ist zuerst in einem Gebetbuch faßbar, das um 1300 für ein moselfränkisches Zisterzienserinnenkloster geschrieben wurde (Trier, StB, Ms. 1149/451). Auch im städtischen Bürgertum entstand das Bedürfnis nach einem privaten Gebetbuch für Laien. J o h a n n von N e u m a r k t (gest. 1380) hat als Kanzler am Prager Hof Gebete in deutscher Sprache gesammelt wie auch selbst verfaßt und in mindestens zwei verschiedenen Gebetbüchern verbreitet. In den Kreisen der oberdeutschen —»Gottesfreunde entwickelt sich in der 2 . H ä l f t e des 14. Jh. eine eigenständige, mystisch gefärbte Gebetsfrömmigkeit, die in H . —»Seuses Tagzeiten und 100 Betrachtungen der ewigen Weisheit ihren Ausdruck f a n d . In den Niederlanden setzte die größere Verbreitung von Privatgebetbüchern mit dem von G. —>Groote ins Mittelniederländische übertragenen Stundenbuch ein, das, stets angereichert mit weiteren Privatgebeten, Vorbild wurde für die in den Skriptorien der —»Brüder vom gemeinsamen Leben und in den Frauenklöstern hergestellten Gebetbücher. Das erste bedeutende Exemplar dieser Art ist das 1415 wohl in Arnheim entstandene Gebetbuch f ü r die Herzogin Maria von Geldern (Berlin, SBPK, Ms.germ.qu.42) in mittelniederländischer Sprache mit mittelrheinischem Einschlag. Zwischen 1450 und 1530 wird die Mehrzahl der uns erhaltenen Gebetbücher geschrieben. Bestimmend f ü r ihren Inhalt ist der Einfluß von Lesemeistern und Beichtvätern der Bettelorden. Neben vielen neuen Passionsandachten, Kommunion-, Meß- und Heiligengebeten sowie der —»Beichte enthalten sie auch die Segensformeln, die schon im lateinisch-deutschen
108
Gebetbücher II
Gebetbuch von Muri aus dem 12. Jh. verzeichnet sind, außerdem Ablaßgebete, die sich im Laufe des Mittelalters als typische Laiengebete aus den Loricae weiterentwickelten. Aus dieser Tradition entstehen gegen Ende des Mittelalters auch die längeren litaneiförmigen Christus- und Marienandachten, durch die sich der Betende in die Heilsmysterien mit einbezieht. Viele dieser Andachtsübungen und Gebete sind literarische Perlen der neuen Innerlichkeit wie sie unter Einfluß der—>Devotio moderna gepflegt wurde. Einige dieser A n d a c h t e n - z . B . der —»Rosenkranz und der ^ K r e u z w e g — w e r d e n , wenngleich in stark schematisierter Form, bis heute in der katholischen Kirche praktiziert. In den Ablaßversprechungen und mit Legenden beladenen Empfehlungen wirkt sich besonders gegen Ende des Mittelalters eine naiv anmutende, abergläubige Volksfrömmigkeit aus, die oft zum Gebetsinhalt in Gegensatz tritt. Ein Privatgebetbuch neuen Stils, nach der Liturgie des Kirchenjahres geordnet, wurde von den reformierten Zisterzienserinnen mehrerer norddeutscher Klöster eingeführt und am Anfang des 16. Jh. im übrigen deutschen und niederländischen Sprachbereich ü b e r n o m m e n . 5. Die gedruckten
Gebetbücher
des 15. —16. Jh.
Die Zisterzienser waren die ersten, die die D r u c k k u n s t zur Förderung der Gebetskultur einsetzten. 1489 erschien bei J o h a n n Grüninger in Straßburg der Liber meditationum ac orationum qui antidotarius animae dicitur des Nicolaus Salicetus, Arzt und Abt des Zisterzienserklosters Baumgarten in der Diözese Straßburg. Seinem Beruf als Arzt entsprechend, hat Salicetus die Gebete nach Art eines H a n d b u c h s der Seelenheilkunde angeordnet. Bei Grüninger erschien auch die Erstausgabe des bekanntesten spätmittelalterlichen gedruckten Gebetbuchs, des Hortulus animae, ein kleinformatiges, mit Holz- und Metallschnitten reich verziertes lateinisches Gebetbuch, das die wichtigsten Teile des Stundenbuchs und Gebete für verschiedene Anlässe in sich vereinigt. Die oberdeutsche Fassung des Hortulus animae, das Seelengärtlein, dessen erste Ausgabe ebenfalls bei Grüninger in Straßburg gedruckt wurde, bearbeitete der Dichter und H u m a n i s t S. —»Brant. Daneben sind niederdeutsche und eine tschechische Ubersetzung bekannt. Eine protestantische Überarbeitung des Seelengärtleins brachte 1 5 4 7 / 4 8 der Drucker Georg Rhau in Wittenberg heraus. Der Hortulus animae läßt sich mit seinen Bearbeitungen bzw. Übersetzungen zwischen 1498 und 1523 in 52 lateinischen, 36 ober-, 11 niederdeutschen und einer tschechischen Ausgabe nachweisen. In Frankreich entwickelt sich gegen Ende des 15. Jh. der Druck von Stundenbüchern zu einem eigenständigen Zweig der Buchproduktion, an dem bekannte Drucker-Verleger, wie Thielmann Kerver in Paris beteiligt sind. Quellen Drucke und Editionen: [Ps.] Alcuini De p s a l m o r u m usu über: PL 101, 4 6 5 - 5 0 8 . - Ders., Officia per ferias: PL 101, 5 0 9 - 6 1 2 . - Sancti Anselmi Liber m e d i t a t i o n u m et o r a t i o n u m : PL 158, 7 0 9 - 1 0 2 0 . - Venerabiiis Bedae Libellus precum: PL 9 4 , 5 1 5 - 532. - A r t h u r Benedict Kuypers, The Prayer-Book of Aedelvald the bishop, c o m m o n l y called „ T h e Book of C e r n e " , Cambridge 1902. - Eckberti abbatis Schonaugensis O p u s c u l u m de laude crucis: PL 195, 1 0 3 - 106. - Ders., Soliloquium seu Meditationes: PL 1 9 5 , 1 0 5 - 1 1 4 . - E i n niederdt. G e b e t b u c h , h g . v. Axel M a n t e , L u n d / K o p e n h a g e n I 9 6 0 . - Guigues II le C h a r t r e u x , D o u z e Méditations,ed. E d m u n d Colledge/James Walsh: SC 163 (1970) 1 2 5 - 2 0 3 . - G u i llaume de St. Thierry, Meditativae orationes, ed. Marie-Madeleine Davy, Paris 1934. - [Johannis Fiscamnensis] Liber m e d i t a t i o n u m : PL 40, 9 0 1 - 9 4 2 ; 147, 4 4 5 - 4 6 0 . - Ders., Confessio theologica, ed. Jean Leclercq/Jean-Paul Bonnes, Un maître de la vie spirituelle au XI e siècle, Jean de Fécamp, Paris 1946. - Johannis Gualberti Preces: PL 146, 9 6 9 - 9 8 0 . - Sehr. J o h a n n s v. N e u m a r k t , ed. Joseph Klapper. IV. Gebete des H o f k a n z l e r s und des Prager Kulturkreises, Berlin 1935. — Libellus sacrarum precum: PL 101, 1 3 8 3 - 1 4 1 6 . - Liber Precationum Caroli Calvi, Ingolstadt 1583. - Meditationes piissim a e d e c o g n i t i o n e h u m a n a e c o n d i t i o n i s : PL 1 8 4 , 4 8 5 - 5 0 8 . - Meditationesvitae Christi: Bonaventurae O p e r a omnia, ed. A . C . Peltier, Paris, XII 1868, 5 0 9 - 6 3 0 . - Precum libelli q u a t t u o r Aevi Karolini, ed. André Wilmart, R o m 1940. Kataloge und Repertorien: Gerard A c h t e n / H e r m a n n Knaus, Dt. u. niederl. Gebetbuchhss. der Hessischen Landes- u. Hochschulbibliothek D a r m s t a d t , D a r m s t a d t 1959. - Dies./Leo Eizenhöfer, Die lat. Gebetbuchhss. der Hessischen Landes- u. Hochschulbibliothek D a r m s t a d t , Wiesbaden 1972. Odilo Heimig, Ein benediktinisch-ambrosianisches Gebetbuch des frühen 11. Jh.: ALW 8 (1964) 325—435. — W o l f g a n g Jungandreas, Ein moselfränkisches Zisterzienserinnengebetbuch im Trierer
G e b e t b ü c h e r III
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Raum: A M R h K G 9 (1957) 1 9 5 - 2 1 3 . - Victor Leroquais, Les livres d'heures manuscrits de la Bibliothèque Nationale, 3 Bde., Paris 1927. - Pierre Salmón, Livrets de prières de l'époque carolingienne: RBen 86 (1976) 2 1 8 - 2 3 4 ; 90 (1980) 1 4 7 - 1 4 9 . - André Wilmart, Le manuel de prière de Saint Jean Gualbert: RBen 48 (1930) 2 5 9 - 2 9 9 . - D e r s . , The prayers of the Bury Psalter: DR 4 8 ( 1 9 3 0 ) 1 9 8 - 2 1 6 . 5
Literatur
Gerard Achten, Das christl. Gebetbuch im MA, Berlin 1980 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskat. 13). — Henri Barré, Prières anciennes de l'occident à la Mère du Sauveur, Paris 1963. - Robert Bultot, Les „meditationes" Pseudo-Bernardines sur la connaissance de la condition humaine: SE 15 (1964) 2 5 6 - 2 9 2 . - Radu Constantinescu, Alcuin et les „Libelli p r e c u m " de l'époque caio rolingienne: R T h A M (RHSp) 50 (1974) 1 7 - 5 6 (Lit.). - Franz Xaver Haimerl, Ma. Frömmigkeit im Spiegel der Gebetbücher Süddeutschlands, München 1952. - Elisabeth Klemm, Das sog. Gebetbuch der Hildegard v. Bingen: JKSW 74 (1978) 2 9 - 7 8 . - Albert Labarre, Art. Heures (Livres d'): DSp 7 (1969) 4 1 0 - 4 3 1 . - M a r i a Meertens, D e g o d s v r u c h t i n de Nederlanden naarhandschriften van gebedenboeken der XV e eeuw, Antwerpen, I—III. VI 1 9 3 0 - 1 9 3 4 . - Peter Ochsenbein, Art. Gebetbuch für Barbara Ulis statt u. ff. Art.: VerLex" 2 (1979) 1 1 1 2 - 1 1 2 8 . - Ders., Art. Hortulus animae: ebd. 4 (1982) 1 4 7 - 1 5 4 (Lit.). - André Wilmart, Auteurs spirituels et textes dévots du moyen âge latin, Paris 1971. Gerard A c h t e n III. R e f o r m a t i o n s - u n d N e u z e i t 1. Reformatorischer Umbruch und Neubeginn 2. Neue Frömmigkeit aus älteren Traditionen 2» 3. Enzyklopädische Sammlung und Rezeption 4. Entschiedene und nachdenkende Frömmigkeit 5. Rückgriff auf das Erbe und Ausweitung (Neuere Textsammlungen/Literatur S. 119) 1. Reformatorischer
Umbruch
und
Neubeginn
In der Vorrede zu s e i n e m Betbüchlein v o n 1 5 2 2 schrieb Luther: „ U n t e r anderen viel schedlichen leren und biichlin / d a m i t die Christen verfuret v n d betrogen / v n d vnzeliche 25 m i s g l a u b e n auff k o m e n sind / acht ich nicht für die w e n i g s t e n / die bettbüchlein I . . . mit ablas v n d rotten h o c h a u f f g e b l a s s e n / d a z u k ö s t l i c h e n a m e n darauff geschrieben / Eins heist H o r t u l u s a n i m e / das ander der Paradisus a n i m e / v n d s o fortan / das sie w o l wirdig w e r e n einer starcken guter r e f o r m a t i o n / o d d e r gar vertilget w e r e n " ( W A 1 0 / 2 , 3 7 5 , 3 - 1 1 ) . Bei dieser Beurteilung der g e b r ä u c h l i c h e n G e b e t b ü c h e r w a r es verständlich, d a ß Luther lieber 30 durch die E v a n g e l i u m s p r e d i g t G l a u b e n w e c k e n w o l l t e , als d a ß er die alten G e b e t s f o r m e l n durch n e u e ersetzte. D o c h als m a n in seiner U m g e b u n g unter V e r w e n d u n g v o n ihm stamm e n d e r F o r m u l i e r u n g e n an die H e r a u s g a b e e v a n g e l i s c h e r G e b e t b ü c h e r ging, veröffentlichte er 1 5 2 2 ein eigenes G e b e t b u c h . Hortulus animae evangelisch (1520), das älteste evangelische Gebetbuch (Faksimile der HandSchrift), hg. v. Ferdinand Cohrs; Leipzig o. J. [nach 1910] (Zuschreibung an Agricola). - Georg Spalatin, Etliche christliche Gebet. . . . E r f u r t 1522 = WA 1 0 / 2 , 4 9 5 - 5 0 1 („Auszug aus Luthers Buchle", offenbar unter Verwendung eines handschriftlichen Florilegiums, das sich Luther angelegt hatte); vgl. R G G '6,221. - Martin Luther, Ein Betbüchlein, Wittenberg 1522 = WA 1 0 / 2 , 3 7 5 - 5 0 1 ; 51 z. T. stark veränderte und erweiterte Ausg. bis 1592. 40
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In seiner Urgestalt enthielt Luthers Betbüchlein k e i n e G e b e t s f o r m e l n , s o n d e r n Parap h r a s e n der drei H a u p t s t ü c k e des K a t e c h i s m u s , P s a l m e n u n d biblische T e x t e . Luther g a b also eine E i n f ü h r u n g in den G l a u b e n u n d w o l l t e das „ e i n f ä l t i g e " , v o m W o r t der Bibel genährte Beten anregen. Dieser biblischen A u s r i c h t u n g des e v a n g e l i s c h e n Gebets f o l g t e n d a n n a u c h die ersten e v a n g e l i s c h e n G e b e t b ü c h e r anderer A u t o r e n : Otto Braunfels, Biblisch Betbüchlein der Altväter, Straßburg 1528; 15 Ausg. bis 1562 (Gebetsunterricht, biblische Gebete, Psalmen); vgl. R G G 1 1 , 1 3 8 8 . - Georg Schmaltzing, Der Psalter Davids... m Gebetsweise. . . .Zwickau 1527; 13 Ausg. bis 1591 (Psalmparaphrasen als Bittgebete); vgl. Schulz 18 Anm. 7. - Wenzeslaus Link, Ein schön nützlich Betrachtung und herzlich Gebet. . ., o. O. 1529 (Anleitung zum täglichen Gebet); vgl. R G G 1 4, 380. - Georg Rhau, Hortulus animae, Wittenberg 1547; 8 Ausg. bis 1563 (biblische Betrachtungen und Glaubenslehre); vgl. R G G ' 5, 1081. Allerdings m a c h t e sich z u n e h m e n d das Bedürfnis n a c h f o r m u l i e r t e n G e b e t e n bemerkbar, s o in der N ü r n b e r g e r A u s g a b e v o n Luthers Betbüchlein ( 1 5 3 6 ) , in das G e b e t e aus der
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Gebetbücher III
geistlichen Tradition Schwenckfeldischer Versammlungen eingefügt waren; auch sie müssen als Beispiele des neuen Betens gewertet werden: Bekenntnis der Sünden mit. . . nützlichen Gebeten, zur Liegnitz in Schlesien zusammengetragen, o. O. etwa 1531; 4 Ausg. bis 1541. - Eines christliehen Hausvaters mit seinem Gesind tägliche Übung, Frankfurt 1535; 3 Ausg. bis 1538. — Ein nützliches Betbüchlein samt anderen heilsamen Lehren . . . , Nürnberg 1536 = Luthers Betbüchlein (Ausg. b; die „schlesischen" Gebete in WA 10/2, 4 7 0 - 4 8 1 ) . In die Wittenberger Ausgabe des Betbüchleins von 1 5 2 9 (Ausgabe Z) wurde erstmals ein Passional aufgenommen. Luther begründete das in der Vorrede folgendermaßen: „Ich habs für gut angesehen das alte Passionalbüchlein zu dem bettbüchlein zu thun / allermeist vmb der Kinder vnd einfeltigen willen / welche durch bildnis vnd gleichnis besser bewegt / die Göttlichen geschieht zu b e h a l t e n / d e n n durch blosse w o r t " ( W A 1 0 / 2 , 4 5 8 , 1 6 - 1 9 ) . Seinem Ansatz treu bleibend, stellte Luther neben jedes der von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht führenden Bilder nur einen kurzen biblischen T e x t . Spätere evangelische Passionalbüchlein brachten dann auch wieder formulierte Gebete zu den einzelnen Leidensstationen aus spätmittelalterlicher Tradition: Deutsch Passional unsers Herrn Jesu Christi. Mit schönen tröstlichen Gebetlein, Nürnberg 1539; 3 Ausg. (später mit Bildern) bis 1548 (Ubers, der Precationes in passionem Jesu Christi des Cornelius Crocus S. J . , Antwerpen 1531; insgesamt 60 Gebete, wieder abgedr.: Gebetbuch Uhden Nr. 589); zu Crocus vgl. AGL 1, 2206. — Passio Von dem Leiden unseres Herren Jesu Christi. . ., Nürnberg 1552; 3 Ausg. bis 1563 (49 Holzschnitte von Virgil Solis mit Gebeten und Luthers Vorrede aus dem Betbüchlein von 1 5 2 9 ) . - Esaias Heidenreich, Passional-Büchlein, Leipzig 1580. 1582 (62 Gebete, ohne Bilder); vgl. ADB 11, 3 0 2 . 7 9 6 . - Martin Moller,Soliloquia de Passione Christi, Görlitz 1587; vgl. RGG 1 4, 1 0 8 9 . Jesaias Tannenberg, Passional. . ., Leipzig 1592; vgl. AGL 4, 1000. - Johann Tettelbach, Passional Jesu Christi . . ., Lauingen 1593 u. Leipzig 1596; vgl. AGL 4, 1071. Seit der Wittenberger Ausgabe von 1 5 2 5 (Ausgabe V) war Luthers Betbüchlein durch den Sermon von der Bereitungzum Sterben von 1 5 1 9 ( W A 2 , 6 8 5 — 6 9 7 ) ergänzt. D a m i t w a r der Weg für Betrachtungen und Gebete zu einer evangelischen —>ars moriendi eröffnet. In der Folgezeit erschien eine Fülle von neuen Gebetbüchern zum Trost für Kranke und Sterbende: Heinrich Odenbach, Ein Trostbüchlein für die Sterbenden, Straßburg 1530; 10 Ausg. bis 1570; vgl. Schulz 19 Anm. 11. - Leonhard Brunner, Ein christlicher Bericht, ivie man sich bei den Kranken und Sterbenden halten solle. . ., Straßburg 1531; 3 Ausg. bis 1551, vgl. RGG 1 1,1449. - Heinrich Bullinger, Bericht der Kranken, Augsburg 1536; 4 Ausg. bis 1553; vgl. RGG 1 1, 1510. - Kaspar Kantz, Wie man den kranken und sterbenden Menschen . .. Gott befehlen soll. . ..Straßburg 1542; 5 Ausg. bis 1605; vgl. EKO 1 2 , 2 7 3 . - Kaspar Huberinus, Wie man die Kranken trösten soll. . ..Augsburg 1542; 3 Ausg. bis 1567; vgl. RGG 1 3, 463; vgl. Schulz 19 Anm. 14. - Johann Spangenberg, Ein neu Trostbüchlein, Wittenberg 1543; 9 Ausg. bis 1598; vgl. RGG 6 , 2 2 3 . - Leonhard Werner,Seelentrost, Nürnberg 1556; 5 Ausg. bis 1597. - Georg Walther, Trostbüchlein aus der heiligen Schrift [Halle] 1558; 4 Ausg. bis 1600; vgl. Schulz 51. — Johann Leon, Handbüchlein, von diesem Jammertal selig abzusterben . . , Jena 1560; 5 Ausg. bis 1611; vgl. ADB 18, 298. - Wendel Schemp, Handbüchlcin etlicher trostreicher Gebet . . , Leipzig 1561; 3 Ausg. bis 1568; vgl. Schulz 49. - Petrus Glaser, Ein neu Lehr-, Trost-, Beichtund Gebetbüchlein für die Kranken und Sterbenden, Bautzen 1565; 5 Ausg. bis 1594; vgl. Schulz 46. Gebete aus Odenbach, Kantz und Spangenberg sind wieder abgedruckt bei Rolf Eberhard, Tröstung der Kranken, München 1938. In die Wittenberger Ausgabe des Betbüchleins von 1 5 2 5 (Ausgabe V) wurde Luthers Sermon von Beichte und Sakrament von 1 5 2 4 ( W A 1 5 , 4 8 1 — 4 9 7 ) aufgenommen. Auch dieses Thema nahmen später zahlreiche evangelischen „ K o m m u n i o n b ü c h e r " auf, die mit Gebeten und Betrachtungen zum Sakramentsempfang zurüsten wollten: Christoph Lasius, Beichtbüchlein, Leipzig 1551; 4 Ausg. bis 1575 (Beichtformulare); vgl. ADB 17, 733; 20, 248. - Caspar Melissander, Betbüchlein und christlicher Unterricht von der Beicht, Absolution und Abendmahl. Große Ausg., Leipzig 1582. - Ders., Beicht- und Betbüchlein für andächtige Kommunikanten, Leipzig 1583; Ders., Beicht- und Betbüchlein für christliche Kommunikanten. NB der großen Ausg., Leipzig 1586; 8 Ausg. bis 1632; Kleine Ausg., Leipzig 1586; 15 Ausg. bis 1689, vgl. NDB 2, 228; Schulz 47. Die Aufnahme der „Kurzen F o r m " von 1 5 2 0 in das Betbüchlein
hatte ohne Zweifel ei-
Gebetbücher III
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nen auch die Jugend betreffenden katechetischen Akzent. Folgerichtig gab es bald Versuche, Gebete für die Jugend zu formulieren: J o h a n n e s B u g e n h a g e n , Gebetlin . . . den jungen Kindern in den christlichen Schulen zu Frommen . . ., o . O . 1531 ; teilweise w i e d e r a b g e d r . : G e b e t b u c h U h d e n . — J o h a n n e s Z w i c k , Gebät für jung Lüt, die man in Schulen und im Husalltag . . . sprechen mag . . . o. O . o . J. [ u m 1 5 3 0 ] (mit b e i g e f ü g t e n R e i m s t r o p h e n l i e d e r n ) . - N e u e A u s g . ( h o c h d e u t s c h ) : G e b e t e u. Lieder f. die J u g e n d v. J o h a n n e s Z w i c k , hg. v. F r i e d r i c h S p i t t a , G ö t t i n g e n 1 9 0 1 ; f e r n e r : J o h a n n e s Z w i c k , U ß d e r W e r c k s t a t t sines L e b e n s , hg. v. J e a n H o t z , Z ü r i c h 1 9 4 2 , 4 8 - 1 1 1 ; zu Z w i c k vgl. R G G 1 6, 1 9 5 0 . - Ü b e r die e b e n f a l l s f ü r die J u g e n d b e s t i m m ten G e b e t e Veit D i c t r i c h s s. u.
Da das Betbüchlein Luthers im wesentlichen Glaubenslehre und pastorale Unterweisung aufgrund des biblischen Zeugnisses war, aber (mit Ausnahme der Nürnberger Ausgabe von 1536) keine Gebetsformulare anbot, konnte es nicht ausbleiben, daß man „eigentliche" Gebetbücher als Sammlungen von Gebetstexten vermißte. Das führte zur Herausgabe der ersten, noch unsystematisch zusammengestellten umfangreicheren Gebetbücher mit erstaunlich vielen Auflagen: M i c h a e l W e i n m a r , Ein schön gemein Betbüchlein, darinnen die fürnehmsten Gebet für allerlei Stände und Mängel der Well. . . zusammengebracht, A u g s b u r g 1 5 3 2 u . 1 5 3 5 ; vgl. Schulz 3 7 9 . - F e u e r zeug christenlicher Andacht, N ü r n b e r g 1 5 3 7 ; 15 A u s g . bis 1 6 0 0 ( u r s p r ü n g l i c h f ü r s t l i c h e s P r i v a t g e b e t b u c h ) ; vgl. Schulz 1 ¡3.-Ein Betbüchlein für allerlei gemein Anliegen, Leipzig 1 5 4 3 , 2 7 A u s g . bis 1 5 9 6 ; vgl. S c h u l z 117. — Viel schöner andächtiger Gebet. . . zusammengetragen (vor 1 5 4 3 ) N ü r n b e r g 1 5 4 9 ; 3 Ausg. bis 1 5 8 5 . - N e u e A u s g . : Betbüchlein . . ., k o r r i g i e r t u . g e b e s s e r t , N ü r n b e r g 1 5 4 3 ( w a h r s c h e i n l i c h d u r c h Veit D i e t r i c h ) . — Gebet des hochlöblichen Churfürsten seliger Gedächtnis Johann Friedrichen • . ., W i t t e n b e r g 1 5 5 7 ; 13 A u s g . bis 1 6 0 0 (ein w e i t e r e s „ F ü r s t e n g e b e t b u c h " , d a s a u c h d e n U n t e r t a n e n d i e n l i c h w a r ) ; vgl. Schulz 1 2 3 .
Luthers Betbüchlein ist aus der Verkündigung in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde erwachsen. Sein Ziel w a r es, die Glieder der Gemeinde gebetsmündig zu machen und aus der geistlosen Bindung an die Werkerei der Formelgebcte zu befreien. Aber Luther gab der Gemeinde auch formulierte Gebete in die H a n d , bezeichnenderweise zusammen mit den neuen ^ K i r c h e n l i e d e r n . Das —»Gesangbuch w u r d e das Liturgiebuch der Gott lobenden Gemeinde. Die eingestreuten Gebete machten das Gesangbuch auch zu einem Gebetbuch. Offensichtlich entsprach die Struktur dieser knappen Gemeindegebete (Kollektengebete) in besonderer Weise der reformatorischen Verkündigung, weil die Bitte aus einer Anamnese der göttlichen Verheißung erwuchs und in eine Doxologie mündete. Dem Beispiel Luthers, der nur Fest- und allgemeine Kollekten schuf, folgten bald andere sprachmächtige Prediger mit ganzen Kollektenzyklen. So wurde das gottesdienstliche Beten als Beispiel und Vorbild in die Häuser hineingetragen: K l u g ' s c h e s G e s a n g b u c h 1 5 3 3 ( D K L 1 5 3 3 " 2 ) : 15 K o l l e k t e n g e b e t e ; A u s g . 1 5 4 3 : 1 w e i t e r e s Kollekt e n g e b e t ; vgl. Schulz 140— 1 4 4 . — J a k o b O t t e r , Betbücblein für allerlei gemein Anliegen der Kirchen, fleißig zusammenbracht. . ., S t r a ß b u r g 1 5 3 7 ; 4 A u s g . bis 1 5 4 8 . (Die ü b e r a u s r e i c h h a l t i g e , m i t H o l z schnitten geschmückte S a m m l u n g enthält lauter neue Gebete, zumeist im Kollektenstil „ a u f f s eynfältigst g e s t e h v o n den h a u p t a r t i c k l e n v n s e r s heyligen C h r i s t l i c h e n g l a u b e n s v n d d e n f ü r n e m s t e n w e r c k e n C h r i s t i Jesu vnseres h e y l a n d s , a u c h a n d e r e n d i n g e n . . . D a s w o l l e s t d u C h r i s t l i c h e r leser a n n e m e n , v n d dich in d e i n e m a n l i e g e n v n d b c s c h w e r d e n d a d u r c h z u r a n d a c h t f ü r d e r n . " ) . - T e i l w e i s e r N a c h d r u c k : W a l d e m a r M a c h o l z , Ev. G e b e t e , G ö t t i n g e n 1 9 3 3 , 1 8 - 2 6 (31 G e b e t e ) . - W i l h e l m G ö h l , K i r c h e n g e b e t e , M ü n c h e n 1 9 4 0 (22 G e b e t e ) . - O t t o D i e t z , G e b e t e d e r Kirche, M ü n c h e n 1 9 5 2 (19 G e b e t e ) ; zu O t t e r vgl. R G G 1 4 , 1 7 4 6 . — Veit D i e t r i c h , Summaria Christlicher Lehr für das junge Volk. Was aus eim jeden Sonntags-Evangelio zu merken sei, samt angehenkten Gebeten . . ., N ü r n b e r g 1 5 4 6 ; 8 A u s g . bis 1 5 7 8 ( e r s t m a l s ein v o l l s t ä n d i g e r , a u f d i e alten E v a n g e l i e n p e r i k o p e n d e r S o n n - u n d F e s t t a g e des K i r c h e n j a h r e s b e z o g e n e r Z y k l u s ) . - N a c h d r . : O t t o D i e t z , D i e E v a n g e l i e n - K o l l e k t e n des Veit D i e t r i c h , Leipzig 1 9 3 0 . H e i n r i c h B e n c k e r t , Veit D i e t r i c h s G e b e t e zu d e n E v a n g e l i e n d e s K i r c h e n j a h r e s , Breslau 1 9 4 0 . - T e i l w e i ser N a c h d r . : W a l d e m a r M a c h o l z , Ev. G e b e t e , G ö t t i n g e n 1 9 3 3 , 5 - 1 1 ( 2 4 G e b e t e ) ; zu D i e t r i c h vgl. R G G ' 2, 195. - M i c h a e l C o e l i u s , Ein gülden Kleinod, damit ein Christ gezieret, täglich vor seinem Gott erscheinen soll. . . sampt den Episteln und Evangelien über ganze Jahr, und auf ein jetzliche ein Gebet, o . O . o . J. [ u m 1 5 5 0 ] . — S p ä t e r e A u s g . : Wie ein Christ Gott täglich danken . . . und beten soll. ., E r f u r t 1 5 5 6 ; 4 A u s g . bis 1 5 8 2 ( a u ß e r d e m d o p p e l t e n K o l l e k t e n z y k l u s G e b e t e „ f ü r alle S t ä n d e u n d N o t G o t t a n z u r u f e n " ) ; vgl. A D B 3, 6 8 0 ; 4 , 7 9 5 . - J o h a n n e s M a t h e s i u s , Schöne und christliche gemeine Gebetlein
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Gebetbücher III
. . ., Leipzig 1563; 5 Ausg. bis 1584. - Neudr.: Hg. v. Wilhelm Löhe, Nürnberg 1836. - Teilweiser Nachdruck: Allg. Gebetbuch 1883; zu Mathesius vgl. R G G ' 4, 8 0 8 . - Die Kollektengebete Dietrichs, teilweise auch des Mathesius, sind in zahlreiche Gebetbücher, Gesangbuchanhänge und Agenden als Kanon eines auf die alten Evangelien bezogenen Kollektenzyklus übergegangen.
Die nach Luthers Tod erschienenen Bände der Jenaer Ausgabe seiner Werke ermöglichten es, das Bedürfnis nach formulierten Gebeten, hinter denen die Autorität des Reformators als eines evangelischen Vorbeters stand, zu befriedigen. So kam es bald zu umfangreichen Sammlungen von Gebetstexten, auch kurzen Gebetsseufzern, und in Gebetsform gebrachten Äußerungen aus Luthers Predigten, Schriftauslegungen und Briefen, die als Luthergebetbücher weite Verbreitung fanden: Ein neu Betbüchlein des seligen und teuren Mann Gottes Doctoris Martini Lutheri, aus seinen eigen Geist Trost und lebendigen Worten und Tomis gezogen . . ., Eisleben 1565; 10 Ausg. bis 1600 (mit Vorw. v. Antonius Otto; „neu" im Verhältnis zum Betbüchlein von 1522); vgl. Schulz 84. - Petrus Treuer, Beteglöcklin Doctoris Martini Lutheri, von allen wohlklingenden, geistreichen, herzlichen, starken und feurigen Gebeten, aus allen des Mannes Gottes gedruckten Büchern zusammengestimmet . . ., treulich aufs neu zugericht. Straßburg 1579; 8 Ausg. bis 1710 (einschließlich der aus Otto übernommenen insgesamt 493 Gebetstexte); vgl. Schulz 48. - Aus Treuers Betglöcklein entnahmen andere Pastoralschriften des ausgehenden 16. Jh. ganze Abschnitte: Melissander (s. o.; 100 Gebete). - Konrad Porta, Pastorale Lutheri. . ., auf beiderlei Edition aller seiner Bücher, zu Wittenberg u. Jena gedruckt, auch die Eisleb. u. andern Schriften gerichtet . . ., Eisleben 1582; 7 Ausg. bis 1729 (40 Gebete); vgl. Schulz 48. — Anton Probus, Gebete, wie sich ein Christ schicken und bereiten soll zur Beicht, Absolution, Abendmahl . . ., Erfurt 1592; 3 Ausg. bis 1648 (110 Gebete); vgl. Schulz 48.
Gebete für eine christliche Ordnung des Tageslaufs veröffentlichte Luther in den Beigaben zum Kleinen Katechismus 1529. Nach dem monastischen Vorbild war im Spätmittelalter ein privates Tageszeitgebet (Morgen- und Abendsegen) und Tischgebet entstanden, sozusagen ein elementares häusliches —»Stundengebet, bei dem das spezielle Gebet nur ein Teilstück war. Luther nahm diese Ordnung auf und ließ beim Morgen- und Abendsegen dem Credo und Vaterunser die Tageszeit-Kollekte folgen, beim Tischgebet gingen Psalmverse und Vaterunser der Tisch-Kollekte voraus. Während Luther die Gebete vor und nach Tisch aus den überlieferten lateinischen Texten übersetzte (lediglich mit dem in der Anrede eingefügten „Vater"), gestaltete er den deutschen Morgen- und Abendsegen unter Verwendung traditioneller Motive mit gleichlautendem festem Rahmen und kunstvoller Verschränkung der speziellen Bitten. Luthers Gebete haben sich mit seinem Katechismus bis in die Gegenwart als evangelische Grundgebete gehalten. Tageszeit- und Tischgebete finden sich auch in anderen Katechismen des 16. Jh., so im Büchlein für die Laien 1525 ( M G P 2 0 , 216) und 1528 (MGP 2 0 , 1 9 6 f), bei Gräter 1527 ( M G P 2 1 , 356 ff) und Pinician 1529 (MGP 22, 438 ff); lediglich Tischgebete bei Toltz 1526 (MGP 23, 29), Otho 1527 (MGP 23, 181), Capito (MGP 21, 187 ff) und Braunfels 1529 (MGP 22, 217). Unabhängig von Luther erschienen Tageszeit- und Tischgebete im Katechismus von Otter 1532 (Reu 1/1, 378), Bucer 1537 (Reu 1/1, 88 ff; EKO 8, 141), Calvin 1542/1545 (CR 34, 146) und zum —»Heidelberger Katechismus, lat. Ausg. 1563 (Precationes aliquot privatae et publicae 3.9.10.11; BSKORK 203 f, jedoch ohne die Tischgebete).
In der durch Luthers Wirken bestimmten Frühzeit evangelischer Gebetsliteratur sind bereits Ansätze späterer Entwicklungen zu erkennen: einerseits die Nähe zu der das Gebet begründenden Schriftauslegung und Predigt, andererseits die Offenheit zur bündigen Stilform der Reimstrophen des Gesangbuchs; sodann der katechetische Aspekt einer Einübung in den Christenglauben durch das Gebet und die Berücksichtigung der Vielfalt pastoraler Situationen; schließlich die enge Verknüpfung des privaten Betens mit dem durch das Kirchenjahr geprägten gottesdienstlichen Beten ebenso wie die innige Herzlichkeit einer sehr persönlichen Gebetssprache. Ohne den Buchdruck freilich wäre die Erweckung und Einübung einer evangelischen Frömmigkeit aus reformatorischem Ansatz nicht möglich gewesen (s. T R E 7, 285 ff). Als Gebrauchsbücher waren die Gebetbücher dem Verschleiß ausgesetzt und kein Sammelgut für Bibliotheken, weshalb eine vollständige bibliographische Erfassung aller Ausgaben nicht möglich ist.
G e b e t b ü c h e r III 2 . Neue
Frömmigkeit
aus älteren
113
Traditionen
In seinen bahnbrechenden Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur hat Paul Althaus d. Ä. im einzelnen nachgewiesen, daß in der 2 . Hälfte des 16. J h . ein bemerkenswerter Umbruch eingetreten ist: Die evangelischen G e b e t b ü c h e r öffnen sich der katholischen, vor allem unter dem N a m e n Augustins überlieferten spätmittelalterlichen T r a d i t i o n . Daneben wurden Gebetstexte des frommen —>Humanismus und Reformkatholizismus ü b e r n o m m e n , der seinerseits auch unbefangen evangelischen T e x t e n in katholischen Gebetbüchern R a u m gab. Schließlich kam es sogar zur Rezeption ausgesprochen jesuitischer T e x t e , die offenbar dem Bedürfnis einer neuen Epoche nach Selbsterkenntnis, Glaubenserfahrung und emotionalem Ausdruck von Frömmigkeit besser R e c h n u n g trugen als das ganz von der biblischen Heilsbotschaft geprägte, lapidare, und „ s a c h l i c h e " , oft zu trockener Belehrung und polemischer Einseitigkeit degenerierte Beten der Lutherepigonen. Aus verständlichen Gründen wurden die katholischen, zeitgemäß auch deutschsprachigen Quellen in den evangelischen Gebetbüchern nicht angegeben. N a c h den Forschungen von Althaus handelt es sich um folgende: Desiderius Erasmus,Precationesaliquot, Basel 1535 u. ö.;vgl. LThK 2 3, 955; RGG 1 2, 5 3 4 . - J u a n Luis Vives,Excitationes animiin Deum, Brügge 1535 u. ö.; vgl. LThK 2 10,829; RGG 1 6 , 1 4 1 6 . - F r i e d rich Nausea, Christlich Betbüchlein, Leipzig 1538; vgl. LThK 2 7, 847; RGG 1 4, 1384. - Johannes Timann, Enchiridion precationum illustrium virorum, Wesel 1551; vgl. LThK 2 10, 197. Ein noch stärkerer Rückgriff auf mittelalterliche und (vermeintlich) altkirchliche Traditionen findet sich bei: Johann Landsberg, Pharetra divini amoris . . . Köln 1533 u. ö.; vgl. LThK 2 6, 779; ADB 1 7 , 5 9 4 . Georg Witzel, Ein Betebüchlein, Eisleben 1534 u. ö.; vgl. LThK 2 10, 1205; RGG 1 6, 1787. - Johann Fabri, Viel schöner andächtiger und christlicher Gebete . . ., Köln 1558; vgl. LThK 2 3, 133; RGG 1 2, 856. Besonders bemerkenswert ist ein katholisches G e b e t b u c h , das mehr als die Hälfte seines Bestandes evangelischen Quellen e n t n o m m e n hat: Johann Wild, Christliches und sonder schöns Betbüchlein, Mainz 1551; später: Christiichs, sonder schönes und katholisches Betbüchlein, Mainz 1554 u. ö.; vgl. LThK 2 10, 1123; ADB 6, 721. V o n den jesuitischen Schriften, aus denen evangelische Autoren geschöpft haben, sind zu nennen: Petrus Michaelis (Brillmacher),Serta honoris et exultationis . . ., Köln 1561 u. ö. (systematisch und methodisch geordnete Gebetsübung; reich differenzierte Standesgebete); vgl. LThK 2 2, 695. - Petrus Canisius, Kurze Erklärung . . . des wahren katholischen Glaubens; auch rechte und katholische Form zu beten, Dillingen 1563 u. ö. (ohne Quellenangabe, sprachlich einheitlich bearbeitete Vorlagen), vgl. LThK 2 2, 915; RGG 1 1, 1608. - Simon Ver(r)ept (Verepaeus), Precationum piarum Enchiridion, Antwerpen 1565 u. ö.; vgl. National Biografisch Woordenboek, Brüssel, VI 1974, 961. Soweit von den katholischen Autoren T e x t e der „ A l t - V ä t e r " ausgewählt und benannt waren (Augustin, Ambrosius, Origenes, Cyprian, H i e r o n y m u s , Dionysius, Bernhard), konnten sie auf evangelischer Seite unbefangen und mit Nennung des N a m e n s ü b e r n o m m e n werden. Freilich gerieten damit die (dem auch auf evangelischer Seite geschätzten Kirchenvater Augustin fälschlich zugeschriebenen) spätmittelalterlichen T e x t e aus den Meditationes (PL 4 0 , 9 0 1 - 9 4 2 ) , S o l i l o q u i a ( 8 6 3 - 8 9 8 ) und dem Manuale Augustini ( 9 5 1 - 9 6 7 ) in die weitergeführte evangelische Gebetstradition. B a h n b r e c h e n d für die Ü b e r n a h m e von G e b e ten „der lieben alten Lehrern und Merterern / da die weit n o c h nicht so sehr mit B o ß h e i t vnd Sicherheit vberfallen / als leider jetzunder / ein brünstiger / ernster vnd hefftiger geist gewesen / als eben jetzund in v n s " (A. Musculus, Betbüchlein [s. u.], Leipzig 1 5 6 9 , Bl. A 5 a ) waren: Andreas Musculus, Precandi formulae piae et selectae ex veterum Ecclesiae sanctorum doctorum scriptis . . . Frankfurt/O. 1553; spätere Ausg.: Precationes ex veteribus orthodoxis doctoribus . . ., Frankfurt/O. 1559; über 2 0 Ausg. bis 1624. - Ders. Betbüchlein, Frankfurt/O. 1559; 10 Ausg. bis 1605 (starke sprachliche und inhaltliche Bearbeitung der lateinischen Vorlagen sowie erstmals systema-
114
G e b e t b ü c h e r III
tisch klare Ordnung der Gebete); vgl. R G G ! 4, 1194. - Martin Moller, Meditationes sanctorum patrum. Schöne andächtige Gebete . . . aus den heiligen Altvätern . . ., Görlitz 1584/1591 (2 Teile); 4 Ausg. bis 1719 (mit Angabe der alten Autoren); vgl. o. S. 110. - Philipp Kegel, Em neu christlich und gar nützlich Betbuch . . . Hamburg 1592; Neue Ausg.: Zwölf geistliche Andachten . . ., Leipzig 1596; 15 Ausg. bis 1695 (aus vorwiegend jesuitischen Quellen genommene, aber sie verschweigende Kompilation); vgl. AGL 2, 2055. — „Altvätergebete" brachte auch: Ein neu christliches, nutzes und schönes Büchlein, Magdeburg 1561 (niederdeutsch); 31 niederdeutsche Ausg. bis 1625; hochdeutsch 1587 u. 1589. Die in der 2 . Hälfte des 16. J h . erschienenen evangelischen Gebetsammlungen waren Stationen auf dem W e g e zu einem K a n o n evangelischer Gebete, der die inzwischen rezipierte mittelalterliche Überlieferung mit dem reichen Erbe der R e f o r m a t i o n s e p o c h e vereinigen sollte. Z u n ä c h s t k a m es zu kompilatorischen Arbeiten ohne Nennung der zahlreichen evangelischen und katholischen Quellen: Ludwig Rabe, Christlich Betbüchleins erster bzw. zweiter Teil. . ., Frankfurt 1565/1568; 9 Ausg. bis 1606 (weitgehende Identifizierung der Quellen bei Althaus, Forschungen 1 1 2 - 1 1 6 ) ; vgl. ADB 27, 97. - Joachim Minsinger (Mynsinger) von Frundeck, Ein christlichs und gar schönes Betbüchlein . . ., Magdeburg 1582; 9 Ausg. bis 1614 (Quellen bei Althaus, Forschungen 1 1 8 - 1 1 9 ) ; vgl. ADB 23, 22. Eine noch weitergehende Integration der evangelischen und katholischen Gebetsüberlieferung gelang dem beispiellos weit verbreiteten H a b e r m a n n ' s c h e n G e b e t b u c h . Einerseits hat dieser Autor zwar etwas weitschweifige und lehrhafte, aber durchweg schlicht und biblisch geprägte T e x t e aus einem G u ß geschaffen und mit diesem Rückgriff auf biblische Sprache und biblische K e r n w o r t e Luthers Ansatz fortentwickelt, w o n a c h sich alles evangelische Beten an der Bibel entzünden muß. Andererseits hat H a b e r m a n n in der Strukturierung des Stoffes sich ganz an das jesuitische G e b e t b u c h des Petrus Michaelis (s. o.) gehalten und damit vor allem einer regelmäßigen G e b e t s p r a x i s den W e g geebnet. Folgenreich für die evangelische Frömmigkeit w a r vor allem die von Michaelis ü b e r n o m m e n e Thematisierung der W o chentage. Den formalen, für den praktischen G e b r a u c h eines Gebetbuchs so wichtigen Anschluß an Michaelis hat Althaus 1 2 2 — 1 2 6 im einzelnen nachgewiesen: Johann Habermann (Avenarius), Christliche Gebet. . . ausgeteilet auf alle Tage in der Wochen zu sprechen . . ., Wittenberg 1567; unzählige Ausgaben und Abdruckein Gebetbüchern; lateinische, französische, englische, griechische u. a. Übersetzungen, Übertragungen im Reime; Abdruck in Gesangbüchern: Württembergisches Gesangbuch ab 1657; 9 Ausg. bis 1705. — Praxis Pietatis Melica ab 8. Ausgabe 1660; 27 Ausg. bis 1737; zu Habermann vgl. RGG 1 3, 7. 3. Enzyklopädische
Sammlung
und
Rezeption
Neben der allmählichen Konsolidierung eines W o c h e n - und Kasusgebete-Kanons ist in der 2 . Hälfte des 16. J h . die Weiterentwicklung der Sonntagsfrömmigkeit zu beobachten. Die den Gottesdienst und die Predigt beherrschenden Perikopen begründeten die Publikation von Evangelienkollekten nach dem Vorbild von Dietrich und Mathesius (s. o.). Sie förderten eine bibel- und verkündigungsbezogene typisch evangelische Kirchenjahr-Frömmigkeit, die bis in die Gegenwart nachgewirkt hat. Simon Musäus,Ein trostreich Betbüchlein . . ., Erfurt 1567; 2 Ausg. bis 1573 (Zyklus von Evangelienkollekten), vgl. RGG ' 4 , 1 1 9 4 . - Andreas Pangratius, Hausbuch oder kurze Summarien oder Gebetlein, über der Sonntäg und Fest Epistel und Evangelien, Nürnberg 1572; 7 Ausg. bis 1771 (Zyklus der Evangelienkollekten von Dietrich und der Epistelkollekten von Georg Major, ergänzt durch Pangratius, dazu Gebetssammlung für allerlei Anliegen); vgl. ADB 25, 119. - Esaias Heidenreich, Betbüchlein, Breslau 1572 (Zyklus von Evangelien-Kollekten), vgl. o. - Joachim Cureus,Formulaeprecum sumptarum ex lectionibus, quae usitato morein ecclesia leguntur, Leipzig 1573; 3 Ausg. bis 1581; vgl. RGG 3 1, 1890. - Martin Thabor, Formulaepiarum precatiorum,o. O. 1587 (lateinische Gebete zu den Evangelienperikopen für Schulandachten); vgl. G V U L 4 3 , 3 3 1 . - M a r t i n Moller,Thesaurus precationum. Andächtige Gebet und tröstliche Seufzer aus den ordentlichen Sonntags- und Festtagsevangelien, Görlitz 1603 u. 1612 (längere Gebete; z. T. im Stil mittelalterlicher Meditationen). D a die Perikopengebete ihren Sitz primär im Gemeindegottesdienst h a t t e n , führte die Entwicklung im Laufe der Zeit dahin, d a ß die ursprünglich für den privaten Gebrauch ge-
G e b e t b ü c h e r III
115
dachten Gebete mitsamt den Perikopen ständige Beigaben des Gesangbuchs als des Liturgiebuchs der Gemeinde wurden. Das Hausbuch des Pangratius wurde seit der Neubearbeitung 1 6 6 2 zum Haus- und Kirchenbuch, also zur Agende „ s o w o h l für christliche Hausväter als für G e i s t l i c h e " . Im 17. J h . fand die Bildung eines evangelischen G e b e t s k a n o n s ihren vorläufigen Abschluß. Die Tendenz zur Herausgabe von Sammelgebetbüchern, die ihren Stoff den Gebetbüchern der vorausgehenden E p o c h e entnahmen und die Gesamtheit möglicher Gebetszeiten, Anlässe und Anliegen in systematischer Anordnung zu erfassen suchten, verstärkte sich: Gebet, Gesang und Kotierten auf alle Tag in der Wochen, in allerlei Not und Anliegen tröstlich, hg. v. Samuel Reinhart („Dresdener" = eigentlich: Brandenburgisches Gebetbuch), Dresden 1595; 6 Ausg. bis 1633; Neuausg. 1679 durch Johann Gottfried Olearius; vgl. A D B 2 4 , 2 8 0 . - L ü n e b u r g i s c h e s Handbuch zu Land und zu Wasser, Lüneburg 1612; 5 laufend vermehrte Ausg. bis 1658. —Em neues schönes, sehr nützliches Betbüchlein . . ., hg. v. Johann Deucer (Vorrede 1612), Leipzig 1613 (Einteilung: Hausgebetbuch; Büß- und Beichtbüchlein; Trostbüchlein; Kirchenbetbuch; Selige Sterbekunst); zu Deucer vgl. ADB 47, 667. — Geistreiche Rüst- und Schatzkammer, hg. v. Johann Eichom, Frankfurt/Oder 1638; vgl. ADB 15, 588. - Rigisches Gebetbuch, Riga 1641; 7 Ausg. bis 1732. Neben diesen Sammelbüchern erschienen auch G e b e t b ü c h e r , in denen die Vorlagen stärker bearbeitet waren: Geistliche Wasserquelle . . ., hg. v. Basilius Förtsch, Weimar 1609; 15 Ausg. bis 1738 (Aufnahme von Reimgebeten); vgl. ADB 7 , 1 9 4 . - B e r n h a r d Albrecht,Haus- und Kirchenschatz, Ulm 1618; 6 Ausg. bis 1753; vgl. AGL 1, 2 2 1 . - Georg Zeämann, Biblische Betquell und Ehren Krön,.. . Nürnberg 1632; vgl. AGL 4, 2161. M i t eigengeprägten Gebeten in selbständiger Fortführung der J e s u s - M y s t i k des Mittelalters und der jesuitischen Spiritualität haben in dieser Epoche vor allem 2 Autoren eine Habermann n a h e k o m m e n d e W i r k u n g gehabt: Johann Gerhard, Meditationes sacrae ad veram pietatem excitandam, Jena 1606; 11 Ausg. (lat.) bis 1737; 7 Ausg. (deutsche Ubers.) bis 1776, vgl. RGG 1 1 , 6 2 9 . - J o h a n n Arndt,Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden, wie solche zur Übung des wahren Christentums durch geistreiche Gebete in die Seele zu pflanzen, Magdeburg 1612; unzählige Ausg. (dem „Wahren Christentum" beigegeben) bis ins 19. Jh.; vgl. R G G ' 2, 1412. - Eigene Gebete in biblischer Sprache mit kasuistischer Spezialisierung der Anliegen enthielt: Johannes Hermann, Ein neu Gebetbuch desgleichen vormals im Druck nie ausgegangen, Leipzig 1602; 8 Ausg. bis 1620; vgl. AGL ErgBd 2, 1948. Einen Abschluß der Entwicklung, sowohl was die Vollständigkeit und Anordnung des Inhalts wie die exemplarische Auswahl aus den bis dahin veröffentlichten Gebetbüchern betrifft, stellte dann das von einem Laien, dem Lüneburger Buchhändler Michael C u b a c h , zusammengestellte Gebetbuch d a r (vgl. C o s a c k 2 4 5 — 2 7 6 ) : Einer gläubigen und andächtigen Seelen täglicher Bet-, Büß-, Lob- und Dankopfer, d. i. ein großes Gebetbuch, Leipzig 1654; neue Ausg. durch Christian Scriver, Leipzig 1689; insgesamt 23 Ausg. bis 1791; zu Scriver vgl. R G G ' 5, 1627. Das Buch enthielt seit Scrivers Bearbeitung etwa 1 3 0 0 meist längere Gebete auf 1 2 0 0 bis 1 4 0 0 Seiten und w a r mit einem Autorenverzeichnis versehen, das anfangs 6 5 , schließlich 1 0 0 Namen aufwies (darunter auch 7 vorreformatorische). Die Ausgaben wurden laufend auf den neuesten Stand g e b r a c h t , indem ältere T e x t e durch „ m o d e r n e r e " ersetzt wurden. Eingeteilt w a r das Gebetbuch in folgende „ B ü c h e r " : T a g - oder W o c h e n b u c h ; Standbuch; Beicht- und K o m m u n i o n b u c h ; Festbuch; „ S o n d e r b a r e s " Buch (besondere Anlässe); Kreuzbuch; Krieg-, Teuerung- und Pestilenzbuch; J a h r - und W e t t e r b u c h ; Reisebüchlein; Kranken- und Sterbensbuch. Bei weitem der umfangreichste Abschnitt w a r das Standbuch, das so gut wie jeden in der damaligen Gesellschaft v o r k o m m e n d e n Beruf (vom armen T a g l ö h n e r bis zum Kaiser und König, vom Barbier bis zum königlichen M a r s c h a l l , vom G ä r t n e r bis zum Universitäts-Rektor, von der Kinderwärterin bis zur Hofmeisterin) mit einem G e b e t bedachte; das G e b e t b u c h wurde so zu einer speziellen Ethik in G e b e t s f o r m . Ähnlich reichhaltig war der Abschnitt der Kasusgebete, w o für alle möglichen Anlässe etwas zu finden w a r (bei M o n d s c h e i n , beim G a n g durch den G a r t e n , v o r einem G a s t m a h l u. ä.). Kollekten-
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Gebetbücher III
gebete und (die meisten knapp formulierten) Gebete Luthers (bis auf drei) fehlten gänzlich. Daß Luthers Gebete und Gebetslehre nicht aus dem Gesichtsfeld der so anders gestimmten Epoche verschwanden, dafür sorgten neben den zahlreichen Auswahlausgaben aus seinen Werken, die nach dem —»Dreißigjährigen Krieg herauskamen, Auswahl- und Neudrucke aus Treuers Sammlung. Johann Jakob Beck, Himmelsleiter, Tübingen 1648 (mit Gebeten der mittelalterlichen Tradition; als einzige umfassende Gebetssammlung des 17. Jh. mit 133 Luthergebeten aus Treuer); vgl. Schulz 45. - Erasmus Gruber,Lutherus redivivus, 8 Bde. u. 6 Erg.-Bde; Frankfurt 1665 ff (123 Luthergebete); vgl. Schulz 46. - Elias Veiel, Ein gülden Kleinod, Ulm 1669 (117 Luthergebete); vgl. Schulz 51. - Lukas Heinrich Thering, Der verborgene und wiedergefundene Schatz. . ., Wittenberg 1683 (33 Luthergebete zur Kommunion); vgl. Schulz 50. — Johann Christians Reuchel, Der andächtig betende Lutherus . .. Alle und jede Gebete und Seufzer, die in des Sei. P. Martin Luthers geistreichen Schriften zu finden, Chemnitz 1704; 3 Ausg. bis 1738 (die Gebete aus Treuers Sammlung sind weithin zu längeren, dem Zeitgeschmack entsprechenden Gebeten zusammengefügt, so daß sich die Zahl der Luthergebete auf 338 reduziert hat); vgl. Schulz 49. - In diesen Zusammenhang gehören der Nachdruck von Treuers Betglöcklein von 1591 durch Johann Christoph Schwedler in seiner Ausgabe der Bet- und Lehrschriften Luthers von 1704 und der geringfügig gekürzte Nachdruck durch Georg Friedrich Stieber, Güstrow 1710; zu Schwedler vgl. Schulz 49; zu Stieber ebd. 50. Manche Gebete von Cubachs bisher nicht genannten Zeitgenossen, die sonst vergessen wären, sind durch die Aufnahme in sein Gebetbuch in die neuere evangelische Gebetstradition übergegangen; hier sind zu nennen: Johann Michael Dilherr (vgl. RGG 1 2 , 1 9 6 ) , Joachim Embden (vgl. A G L 2 , 3 3 6 ) , Sebastian Göbel (vgl. AGL 2, 1041), Adam Helms (vgl. AGL 2, 1475), Andreas Kessler (vgl.ADB 15, 655), Johann Lassenius (vgl. ADB 17,788), Johann Gottfried Olearius (vgl. R G G 1 4 , 1 6 2 5 ) , Georg Rost (vgl. AGL 3, 2240), Sigmund Scherertz (vgl. AGL 4, 255), Josua Stegmann (vgl. ADB 35, 563), Bonifatius Stölzlin (vgl. AGL 4, 853), Josua Wegelin (vgl. RGG 1 6 , 1 6 5 5 ) . Von Stegmann und Wegelin sind Reimgebete, die ihren Gebeten beigegeben waren, als Kirchenlieder in die Gesangbücher aufgenommen worden. Zwei eigengeprägte Stimmen aus Schlesien haben neben Cubach weithin als lutherische Vorbeter Beachtung gefunden: Neumann und Schmolck. Während Neumann abgesehen von Standesgebeten in einem zwölfteiligen Aufriß alle geistlichen Anlässe zur Übung des Gebets erfaßte, meist in der Einteilung nach Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung, hat Schmolck Reimgebete und Lieder verfaßt und damit eine schon früher zu beobachtende Tendenz zur Regel gemacht; aber auch längere Gebete in Prosa für Wochentage, Festzeiten, Kirchgang, Kommunion sowie für Stände und N ö t e hat er herausgegeben. Kaspar Neumann, Kern aller Gebete, Breslau 1680; 22 Ausg. bis 1715; Ubers, in fast alle europäischen Sprachen; poetische Bearbeitung von Schmolck, Nürnberg 1697; vgl. R G G ' 4, 1425. —Benjamin Schmolck, Andächtiger Herzen Betaltar, Breslau 1720; viele Aufl. (100 Prosagebete), vgl. RGG 3 5, 1462. 4. Entschiedene
und nachdenkende
Frömmigkeit
Die—»Erbauungsliteratur des orthodoxen Luthertums stand noch in voller Blüte, als die ersten Schriften aus pietistischem Geist erschienen. Beide geistigen Strömungen liefen längere Zeit nebeneinander her und beeinflußten sich gegenseitig. So erschienen im Verfasserverzeichnis der letzten Ausgaben von Cubachs Gebetbuch neben Spener bereits die N a m e n englischer Autoren, deren Werke gegen Ende des 17. Jh. in den Erneuerungsbestrebungen des Luthertums eine zunehmende Rolle spielten. Freilich handelte es sich um einzelne Gebete aus Erbauungsschriften, nicht um Gebetbücher. Lewis Bayly, Praxis Pietatis: Übung der Gottseligkeit, dt. zuerst Zürich 1629; 7 deutsche Ausg. bis 1724; vgl. RGG 3 1, 947. - Güldenes Kleinod der Kinder Gottes, das ist: der wahre Wegzum Christentum, zuerst aus dem Englischen ins Deutsche übers, durch Emanuel Sonthomb . . ., Lüneburg 1620; 17 deutsche Ausg. bis 1742. Daß überhaupt pietistische Gebetbücher erschienen, w a r eigentlich nicht selbstverständlich, da es dem —»Pietismus im Grunde um das Herzensgebet der gläubigen Seele ging. Doch begann gerade im beginnenden 18. Jh. eine neue Phase der Luther-Rezeption (Walch; Luthergebetbücher von Reuchel und Schwedler); auch hatten die bedeutendsten Stimmführer
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des Pietismus die Erneuerung der Kirche, nicht die Auswanderung aus der Kirche im Sinn. Diese Einstellung war auch dadurch gefördert, d a ß die lutherische Gebetsliteratur sich schon früher der spätmittelalterlichen Jesus-Frömmigkeit geöffnet hatte und daß die zahllosen Standesgebete Wegbereiter für die ernste Heiligung des Alltags sein konnten. Freilich lag der Schwerpunkt der pietistischen Erbauungsliteratur mehr auf Andacht und Schriftbetrachtung sowie auf dem R u f zu entschiedenem G l a u b e n . Als exemplarisch und in ihrem Fortwirken bedeutsam sind folgende G e b e t b ü c h e r dieser Epoche zu nennen: Johann Friedrich Starck, Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen, enthaltend Aufmunterungen, Gebete und Gesänge für Gesunde, Betrübte, Kranke und Sterbende . . ., Frankfurt 1728, seit 1731 mit Gebetbüchlein für Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen; 11 Ausg. bis 1756; 3 von Starcks Sohn herausgegebene vermehrte Ausg. 1757 bis 1776; viele Nachdrucke im 19. Jh.; vgl. R G G ' 6 , 3 3 6 . - Johann Philipp Fresenius, Beicht- und Kommunionbuch, Frankfurt und Leipzig 1746; 3 Ausg. bis 1770; verschiedene Ausg. im 19. Jh.; vgl. RGG 1 2, 1126. Eine der kirchenkritischen und eigen wüchsigen Rolle Schwenckfelds im Reformationszeitalter entsprechende Bedeutung hatte der an die Frühzeit der Christenheit erinnernde, zeitweilig in der Separation lebende, geschichtskundige Pietist —»Arnold mit seinen innigen Gebeten: Gottfried Arnold, Paradiesischer Lustgarten voller andächtiger Gebete, bei allen Zeiten, und Zuständen, Stendal 1709; 8 Ausg. bis 1758; Nachdr. im 19. Jh.; vgl. RGG 1 1, 633.
Personen
Beispiel für eine Entwicklung, in der G e b e t e aus verschiedenen Epochen der Frömmigkeitsgeschichte immer mehr zu einem gemeinsamen Bestand evangelischer Gebete zusammengewachsen sind, wie in der Gesangbuchgeschichte (—»Gesangbuch) die—»Kirchenlieder verschiedener Prägung einen weithin rezipierten gemeinsamen K a n o n gebildet h a b e n , ist das Gebetbuch Storrs (s. Lit.), dessen Titel ausdrücklich vermerkt hat, daß alle Gebete von Habermann, Musculus, Arndt, N e u m a n n und Arnold a u f g e n o m m e n wurden. Im württembergischen Pietismus spielte die gläubige Schriftbetrachtung eine besondere Rolle. Die aus der Bibel genährten Gebete aus diesem R a u m sind daher vielfach nicht in eigenen Gebetbüchern, sondern in bibelauslegenden Schriften zu finden. Z u m Teil wurden sie erst in neuerer Zeit besonders gesammelt. H i e r sind zu nennen: Johann Albrecht Bengel, Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi, Tübingen 1747 (mit eingestreuten Gebeten; diese gesondert: ders.,Sechzig Gebete über die Offenbarung Johannis, Tübingen 1831). - Ders., Das Neue Testament, Stuttgart 1753 (mit eingestreuten Gebeten; diese auch: ders., Gnomon oder Zeiger des Neuen Testaments, übers, u. hg. v. Carl Friedrich Werner, 2 Bde., Stuttgart 1853/54; vom Hg. eingefügt); zu Bengel vgl. NDB 2 , 4 7 ; R G G 1 1 , 1 0 3 7 . Friedrich Christoph Oetinger, Sämmtliche Predigten, zum ersten Mal vollständig gesammelt u. unverändert hg. v. Karl Christian Eberhard Ehmann, Reutlingen, II-IV 1853/57; (Anh.) Oetingers Gebete, Stuttgart, V 1858; neue Auswahl: Mit Gott wirken. Oetingers Gebete, hg. v. Otto Riethmüller, Berlin 1934; zu Oetinger vgl. R G G ' 4, 1596. Eine eigenartige Ausprägung des Betens mit der Bibel entwickelte sich bei den Herrnhutern (—»Brüderunität). Die Bindung des Betens an das biblische W o r t w a r schon Luthers Anliegen in seinem Betbüchlein. In einer Predigt konnte er sogar sagen: „ U n t e r G e b e t wird nicht allein das mündliche G e b e t , sondern alles verstanden, was die Seele in Gottes W o r t schafft: zu hören, zu reden, zu dichten, zu b e t r a c h t e n " ( W A 1 0 / 1 / 1 , 4 3 5 , 8 - 1 0 ) . Diesem Ansatz entsprachen die Losungen der Brüdergemeine, in denen seit 1 7 3 1 für jeden T a g Bibelsprüche und Liedstrophen zusammengestellt waren, als handliches und faßliches Andachts- und G e b e t b u c h . Diese originelle F o r m biblischen Betens hatte Vorgänger, aber erst Zinzendorfs Ausgestaltung verhalf den Losungen zu einer weltweiten Verbreitung bis in die Gegenwart. So haben sie zur Ausprägung einer evangelischen „ B i b e l s p r u c h - F r ö m m i g k e i t " beigetragen. Ahasverus Fritsch, Biblischer Spruch-Kalender, 1095 Haupt-Sprüche auf alle Monate, Wochen und Tage des Jahres begreifend, Leipzig 1677; vgl. RGG 3 2 , 1 1 5 5 . - Karl Heinrich von Bogatzky, Güldenes Schatzkästlein der Kinder Gottes, Breslau 1718 (Bibelworte mit kurzen Gebeten und Reimen, seit 1748 für jeden Tag des Jahres); vgl. R G G ' 1, 1345. - Ein guter Muth, als das tägliche Wohl-Leben der
G e b e t b ü c h e r III
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Creutz-Cemeine Christi zu Herrnshuth, im Jahr 1731 (erstes gedrucktes Losungsbuch); zu Zinzendorf vgl. RGG 1 6, 1913; zur Geschichte der Losungen R G G ' 4, 451. M i t der pietistischen Erbauungsliteratur hatte die von —»Aufklärung und —»Rationalismus geprägte vieles gemeinsam: Das Interesse am Einzelnen und an seiner Aktivierung, die wortreiche, oft modische Sprache, die Betonung der ethischen Aspekte und eine gewisse elitäre Tendenz. Die Abneigung gegen Konventionen und Formeln führte dazu, daß nicht so sehr G e b e t b ü c h e r , als vielmehr Betrachtungen, Andachten und „christliche Unterhaltungen zur Förderung der menschlichen Glückseligkeit" herauskamen. Vorsehungsglaube, Naturfrömmigkeit, menschenfreundliches Tugendstreben und die Fortschrittlichkeit einer denkenden optimistischen Religiosität, die sich in „ m o d e r n e r " , oft auch empfindsamer Sprache äußerte, kamen betont zur Geltung. Als beispielhaft sei aus den vielen, inzwischen vergessenen Veröffentlichungen genannt: Georg Joachim Zollikofer, Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen,IT., Frankfurt/Leipzig 1785 2 1 7 9 1 ; erw. Ausg. Leipzig 1792/93, 1802/05 (mit einer Einführung über das Nachdenken und Übungen des Nachdenkens). - Ders., Anreden und Gebete zum Gebrauche bei dem gemeinschaftlichen und auch häuslichen Gottesdienst, Leipzig 1777 - 1 7 9 5 ; vgl. R G G ' 6, 1928. Den Übergang zu einer neuen Epoche, die nicht mehr von der Vernunft alles erwartete, bezeichnet bereits: Johann Caspar Lavater, Sammlung christlicher Gebete, Bregenz 1802, Nürnberg 1822, Blaubeuren 1834. - Ders., Morgen- und Abendgebete auf alle Tage der Woche nebst einer Sammlung von Gebeten, Leipzig 1788, Zürich 1817; vgl. R G G ' 4, 243. 5. Rückgriff
auf das Erbe und
Ausweitung
M i t den dreißiger J a h r e n des 1 9 . J h . setzte, in bewußter Frontstellung gegen den an sein Ende gelangten „glaubensleeren" Rationalismus, eine Wiederentdeckung der älteren evangelischen Erbauungsliteratur ein. In erstaunlichem Umfang wurden auch die alten, bewährten G e b e t b ü c h e r neu aufgelegt, und zwar nicht nur Arndt, Gerhard und H a b e r m a n n , sondern auch Bogatzky, Dilherr, Förtsch, Fresenius, Lassenius, N e u m a n n , S c h m o l c k , Scriver, Starck u. a. V o n der M i t t e des 19. J h . an betrieben eigene Verlage (Rauhes Haus in H a m b u r g ; Evangelischer Bücher-Verein in Berlin, Steinkopf und C a l w e r Verein in Stuttgart u. a.) die Herausgabe von Erbauungsschriften und G e b e t b ü c h e r n . Dabei wirkte ein volksmissionarischer Impuls: es ging um die Verbreitung „gesunder V o l k s l i t e r a t u r " , um gemeindemäßige und volkstümliche religiöse Schriften zur Wiedergewinnung des Glaubens der V ä t e r . Ziel w a r die W e c k u n g persönlicher F r ö m m i g k e i t und die Stärkung des kirchlichen Bewußtseins. Dazu wurden „ a l l g e m e i n e " G e b e t b ü c h e r herausgebracht, in denen reformatorische und pietistische Frömmigkeit, persönliche F r ö m m i g k e i t in den Situationen des Alltags und kirchenjahrgeprägte G l a u b e n s ü b u n g im H o r i z o n t des sonntäglichen Gottesdienstes nebeneinander zur Geltung k a m e n . N a c h w i r k u n g e n des großen C u b a c h ' s c h e n Gebetbuchs waren unverkennbar. Das Allgemeine evangelische Gesang- und Gebetbuch von Bunsen (s. Lit.) war (nach dem Vorbild des —»Book of Common Prayer) für den Kirchen- und Hausgebrauch bestimmt und erschien im Verlag des Rauhen Hauses. Es enthielt einen Psalter, ein Gesangbuch mit 440 Liedern und ein Gebetbuch („Kirchenbuch" mit Lektionar und „Andachtsbuch" mit 253 Gebeten", erstmals auch Gebete der „Griechischen Kirche"); zu Bunsen vgl. T R E 7, 415 f. - Das Uhden'sche Gebetbuch (s. Lit.) folgte Cubach, besonders in der Einteilung und bot daneben hauptsächlich die Luthergebete in der Fassung des Luthergebetbuchs von Reuchel. Insgesamt waren 862 Gebete abgedruckt. - Der in den USA erschienene, noch deutschsprachige Evangelisch-lutherische Gebetsschatz (s. Lit.) erreichte 19 Auflagen und wurde auch in Deutschland vertrieben. Das Buch war ausdrücklich für den Hausgebrauch bestimmt und enthielt 503 Gebete meist aus Treuer und Cubach sowie ein Hausgesangbuch mit 106 Liedern. Gebete von Arnold, Starck, Fresenius und Schmolck fehlten. - Das für lutherische Christen bestimmte Allgemeine Gebetbuch (s. Lit.) bot im „Hausbuch" Gebete für die Wochentage und für besondere Situationen sowie ein Lektionar mit Kollektenzyklus. Im „Kirchenbuch" wurden die Ordnungen der Gemeindegottesdienste und der kirchlichen Handlungen mit Einführungen abgedruckt. Als 3. Teil folgte ein Gesangbuch für Haus und Kirche mit 2 0 8 Nummern. Die 286 Gebete (ohne Kollekten) stammten aus Cubach, Uhden und —»Löhe.
119
Gebetbücher III
Die Erweckung einer „Hauskirchenfrömmigkeit" hatte auch Dieffenbachs Hausagende zum Ziel, worin er eine von den Sonntagsperikopen bestimmte Leseordnung für die W o chentage (lectio selecta) mit Auslegungen sowie einem ausführlichen Gebetsteil ( 2 8 5 Gebete) versah. Bei Dieffenbach w a r erstmals für jede W o c h e ein vom Sonntagsevangelium bestimmter Wochenspruch vorgesehen. Georg Christian Dieffenbach, Evangelische
Haus-Agende,
Mainz 1 8 5 3 / 1 8 7 8 . Vgl. R G G ' 2, 191.
Verbreitetstes „vollständiges" Gebetbuch eines einzelnen in der Tradition des württembergischen Pietismus war: Sixt Karl Kapff, Gebetbuch,
2 Teile, Stuttgart 1835,
20
1 8 9 4 . Vgl. RGG' 3, 1134.
Die ältere lutherische Tradition wurde von den Gebetbüchern des eifrigen Sammlers und Kenners Löhe fortgeführt, auch in dem Bestreben, eine kirchlich geprägte Hausfrömmigkeit zu wecken und einzuüben. Wilhelm Löhe, Samenkörner (s. Lit.), wohl das wichtigste Gebetbuch des 19. Jh.: bis 1938 erschienen 48 Aufl. - Ders., Hausbedarf christlicher Gebete, Nürnberg 1859 2 1863/64. - Ders., Beicht- und Kommunionbuch für evangelische Christen, Nürnberg 1837 5 1 8 7 0 (endgültige Fassung) 7 1 8 9 4 . Ders., Rauchopfer für Kranke und Sterbende, Neuendettelsau 1 8 4 0 ' 1 8 6 3 (endgültige Fassung) 7 1 9 2 8 . Neuere Textsammlungen
(chronologisch)
M. Johann Christian Storr, . . . Christi. Hauß-Buch zur Übung des Gebets, in welchem Musculi, Habermanns, Arnds, Neumanns u. Arnolds Gebetbücher allesammt ganz eingetragen . . ., Stuttgart 1756 "1846. - Allg. ev. Gesang- u. Gebetbuch zum Kirchen- u. Hausgebrauch [hg. v. Christian Carl Josias Bunsen], Hamburg 1833 (mit dem Titel: Versuch eines allgemeinen . .), "1846 ' 1 8 7 1 (Verfasserangabe; vollständiger Zyklus der Text-Kollekten).-Samenkörner des Gebetes. Ein Taschenbüchlein f. ev. Christen, hg. v. Wilhelm Löhe, Neuendettelsau 1840 6 1 8 5 4 (endgültige Fassung), München 4 4 1 903, Neuendettelsau 4 8 1 9 3 8 = ders., GW, Neuendettelsau, VII/2 1960, 3 1 8 - 4 0 5 (Quellennachweis dazu bei Althaus 2 5 0 - 2 7 3 ) . - Gebetbuch, enthaltend diesämmtlichen Gebete u. Seufzer Dr. Martin Luther's wie auch Gebete v. Melanchthon, Bugenhagen, Matthesius, Habermann, Aind u. anderen Gott-erleuchteten Männern, hg. v. ev. Bücherverein [Ferdinand Uhden], Berlin 1849 2 1 8 5 2 '1866. (Mit den Luthergebeten aus Reuchel und Treuer; Verfasserangabe). - Ev.-Luth. Gebets-Schatz. Vollst. Sammlung v. Gebeten Dr. Martin Luthers u. anderer . . ., St. Louis (Mo.) 1864 '''1887 (Verfasserangabe). Allg. Gebetbuch. Ein Haus- u. Kirchenbuch f. ev.-luth. Christen, hg. im Auftrag der Allg. luth. Konferenz [Gustav Theodor Kittan], Leipzig 1883 "1886 5 1 8 8 7 (Verfasserangabe; vollständiger Zyklus der Text-Kollekten). - Luther-Agende. Ein Kirchenbuch aus Luthers Schrifttum, hg. v. Otto Dietz, Kassel 1928 (44 Luthergebete). - Luth. Gebetbuch, hg. v. Gerhard Molwitz, Chemnitz/Leipzig [1938] (Vorwiegend Texte aus dem 16./17. Jh. mit Quellen). - Allg. Ev. Gebetbuch, hg. v. Hermann Greifenstein/Hans Hartog/Frieder Schulz, Hamburg 1955 2 1965 (gänzlich neubearbeitet), 1 1971 (mit ökum. Gebetssammlung u. Quellennachweis). - Frieder Schulz (Hg.), Die Gebete Luthers. Ed. Bibliogr. u. Wirkungsgesch., 1976 (QFRG 44). Literatur Paul Althaus d. Ä., Zur Charakteristik der ev. Gebetsliteratur im Reformationsjahrhundert: Leipziger Dekanatsprogramm 1914. - Ders., Forschungen zur Ev. Gebetsliteratur, Gütersloh 1 9 2 7 , 1 - 1 4 2 (ergänzte Neuausgabe = Hildesheim 1966). - Ders., Übersicht über die weitere Gebetsliteratur bis ins 18. Jh.: ebd. 1 4 5 - 1 6 2 . - Ders., Quellennachweis zu Löhes „Samenkörnern des Gebets": ebd. 2 5 0 - 2 7 3 . - Hermann Beck, Die Erbauungsliteratur der ev. Kirche Deutschlands v. Dr. M. Luther bis Martin Moller, Erlangen 1883 (mit Textproben). - Ders., Die rel. Volkslitteratur der ev. Kirche Deutschlands in einem Abriß ihrer Gesch., 1891 (ZHPT 1 0 c ) . - Karl Johann Cosack, Zur Gesch. derev. ascetischen Literatur in Deutschland, Basel/Ludwigsburg 1871. - Constantin Grosse, Die alten Tröster. Ein Wegweiser in die Erbauungsliteratur der ev.-luth. Kirche des 16. bis 18. Jh., Hermannsburg 1 9 0 0 . Hans-Ludwig Kulp, Art. Gebetbücher: R G G ' 2 (1958) 1 2 3 4 - 1 2 3 5 . - Hans Leube, Die Reformideen in der dt. luth. Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924. - Winfried Zeller, Prot. Frömmigkeit im 17. Jh.: Der Protestantismus des 17. Jh., 1962, (KIProt 5) XIII - LXVI. - Ders., Theol. u. Frömmigkeit, 1971, (MThSt 8) 8 5 - 1 1 6 . - D e r s . , Drucktätigkeit u. Forschung des 19. Jh. auf dem Gebiet der prot. Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jh.: ebd. 2 1 9 - 2 2 3 . Frieder Schulz
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Gebetbücher IV
IV. Praktisch-theologisch 1. Gebetbücher als Spiegel des Gebetsproblems 2. Sprachgestalt, Bildgebrauch und Beterorientierung 3. Verwendungsfunktionen (Literatur S. 1 2 2 )
1. Gebetbücher
als Spiegel des
Gebetsproblems
Mit dem Allgemeinen Evangelischen Gebetbuch (1955 2 1965 M971) liegt der vorerst letzte und in besonderer Weise gültige Versuch vor, diese vor allem seit dem 19. Jh. verbreitete Gattung der Gebetsliteratur für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts zeitgemäß fortzuführen. Das Buch, „das in seiner ersten Auflage aus dem Aufbruch des kirchlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg erwachsen war, [will] ein Gebetbuch für die Christen sein, die das Frömmigkeitserbe dankbar bewahren, aber ebenso entschlossen nach vorn sehen, ohne der Versuchung zu einer krampfhaften Modernität zu verfallen" ( 2 1965, VII). Bereits seine Gliederung läßt erkennen, welche Schwerpunkte aufgrund solcher Herkunft und Zielsetzung in den Vordergrund treten. Das „Gebet in der Gemeinschaft" nimmt den weitaus größten Raum ein. Die „Hausandacht" und das „Gebet des Einzelnen", wiewohl auch und gerade sie mit „Einführung" und „Anleitung" versehen, stehen deutlich am Rande; vor allem ihnen ist jedoch eine stattliche und reiche „Gebetssammlung" zugedacht, in der Schätze des überlieferten Gebetes ebenso begegnen wie „Gebete unserer Zeit", „die vor dem vom Herrn der Kirche selber aufgerichteten Maßstab bestehen können" (ebd. 627). In diesen Worten und dem Aufbau des Buches spiegelt sich prägnant eine theologische Linie, die das Gebetsproblem seit dem Ersten Weltkrieg bestimmt hat (—»Gebet IX). Noch klarer jedoch tritt, speziell in der 3. Auflage, die insgesamt neuartige ökumenische Ausrichtung hervor, die offenbar das Beten der Christen seit dem Zweiten Weltkrieg viel nachhaltiger als in den früheren Jahrzehnten beeinflußt, freilich in der theologischen Erörterung des Gebetsproblems entsprechend eindringlich bisher kaum durchdacht wird. Allerdings ist heute angesichts sowohl der im weitesten Sinne ökumenischen Öffnung des Gebets als auch hinsichtlich der Zentrierung auf das gottesdienstliche Beten „in der Gemeinschaft" mit allen seinen Formen zu fragen, ob nicht die Gebetbücher seither eben um des „Maßstabes" beider willen bezeichnend andersartige Wege gegangen sind, ohne dabei alsbald „krampfhafter Modernität zu verfallen". Blickt man mit dieser Frage auf die unten (Lit.) zusammengestellte heutige deutschsprachige Produktion von Gebetbüchern und läßt man dabei einmal die noch immer erhältlichen klassischen „alten Tröster" (C. Grosse, vgl. o. Abschn. III [Lit.]) unberücksichtigt, so stellt sich die ökumenizität und die Gemeinschaftlichkeit des Gebetes in der Tat auf sehr charakteristische Weise dar. Der erstaunliche Erfolg z. B. solcher Bücher wie von Michel Quoist oder Felicitas Betz, Ernesto Cardenal oder Gebete für junge Menschen, Klara (Mutter Basilea) Schlink, M. A. Thomas oder Fritz Pawelzik deutet darauf hin, daß evangelisches und römisch-katholisches Beten sich immer mehr in eine verstärkte Wahrnehmung von oixovfiEVTj als bewohnter Erdkreis entschränkt und dabei wie das eigene so das gemeinsame Leben in dieser seiner Welt neu entdeckt und annimmt. Mit solcher Weltwahrnehmung und Selbstannahme, die sicherlich die Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität««^,Weltlichkeit' sowie ihre Auswirkung geistlich widerspiegelt, scheinen sich neue Dimensionen von Kommunität zu erschließen; sie konstituieren, ja stiften von der Familie über die Gruppe bis zur Gemeinde menschliche und sogar menschheitliche Lebensräume, in denen der „Maßstab" Gottes nach dem Verständnis der Beter seine Geltung sucht. Die wohl keineswegs nur aus den unvergleichbar günstigen Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten oder gar aus der sog.,ökumenischen Mobilität' der letzten dreißig Jahre zu erklärende Verbreitung von Gebetbüchern solcher und anderer Art (vgl. im Unterschied dazu —»Erbauungsliteratur IV) zeigt an, daß für das Gebetsproblem selbst die Wandlungen des Betens bis hin zum,säkularen Beten' viel stärker als bisher bedacht werden müssen. Es ist nicht ganz einfach, hier „Maßstabs"-genaue Kriterien für Qualität und „Gebührlichkeit" (Rom 8,26) zu entwickeln und auf Gebetbücher anzuwenden. Daß das in solchen Büchern sich aussprechende „religiöse Leben" der Christen im Beten einen neuen Zugang zur Profa-
Gebetbücher IV
121
nität auch seiner eigenen Gestalt und der daraus folgenden Gestaltung gewinnt, spricht aber nicht gegen, sondern eher für seine Lebendigkeit. 2. Sprachgestalt,
Bildgebrauch
und
Beterorientierung
In vielen wichtigen neueren Gebetbüchern schlägt sich die skizzierte Ausrichtung auch im Blick auf die Sprachgestalt und das immer weniger entbehrliche Bildmaterial nieder. Natur und Landschaft, nahe und ferne Lebenswelt werden meditativ oder provokativ, versöhnend oder herausfordernd, oft auch in didaktischer Absicht dem Leser als Beter vor die Augen gestellt. Daß damit zugleich bestimmte Gebetsverständnisse f ü r bestimmte Lebensalter und Sozialverhältnisse verbunden sind, bleibt keiner intensiveren Analyse des Zusammenhangs von Bild und Wort verborgen. Z w a r läßt schon die Sprachgestalt in dieser Hinsicht Schlüsse zu; daß es sich jedoch auch bei ihr oft um wirkliche und wirksame Beterorientierung handelt, tritt augenfällig erst an der Korrespondenz von Wort und Bild hervor. Etwa das Zurücktreten von Elementen herkömmlicher christlicher Ikonographie und Symbolik zugunsten naturalistisch-realistischer Darstellung von Lebens- und Weltphänomenen bei gleichzeitigem alltagsnah-schmucklosem Sprachgestus orientiert sich klar an der Zielgruppe des Buches, also am jeweiligen Beter; ebenso wird jedoch durch solche Verfahren der Beter selbst orientiert. Natürlich ist dieser doppelte Vorgang weder neu noch als solcher zu kritisieren, aber er verdient gerade in einer für viele Beobachter spracharmen und bildüberfluteten Zeit im Blick auf Absicht und Effekt aufmerksame Beachtung. Die nach Methode und Ertrag noch weitgehend unentwickelte Analyse von Gebetbüchern (vgl. F . W . Bargheer, Gebet u. beten lernen, Gütersloh 1973 [Lit.]) kann sich bei diesem Stand der Dinge nicht mit der Untersuchung der Sprachgestalt allein begnügen. Vielmehr m u ß deren Verbindung mit Bildwahl und -Verwendung als Träger und Inhalt der Gebetsaussage und ihrer Beterorientierung geweitet werden (—»Bilder VII, bes. S. 562—568). 3.
Verwendungsfunktionen
Das auffälligste Kennzeichen heutiger Gebetbücher dürfte aber wohl ihre weitgefächerte Differenzierung sein; das folgende Verzeichnis will sie exemplarisch veranschaulichen. M a n möchte in der noch wachsenden Vielfalt (vgl. z.B. die unten nicht aufgenommenen Gebete für Frauen von Jo Carr u.a., Bleib mein Gott im Alltagstrott, Stuttgart ' 1 9 8 0 ; Rita Snowden, Herr, du w e i ß t . . ., Gießen 1980) einen Ausdruck der im obigen Sinne ,ökumenischen' Beterorientierung sehen. Eben sie macht aber auch die zunehmende Distanz zum allerdings selbst im Wandel begriffenen gottesdienstlichen Gebet erklärlich — f ü r —»Liturgik, Religionsdidaktik und —»Seelsorge der großen christlichen Konfessionen eine zweiseitig kritische Anfrage. Viele Gebetbücher (s. etwa Meyer zu Uptrup [S. 402, Z. 42]; Zink [S. 403, Z. 27]; vgl. aber auch religionsdidaktische Beispiele, z. B. Leben entdecken. Ein Buch f ü r Konfirmanden, Gütersloh 1981, 138 ff) nehmen in den letzten Jahren Anleitungen oder Hilfen zum Beten auf, aus denen sich ihre Verwendungsmöglichkeiten erheben lassen. Diese Funktionalisierung des Gebets erinnert z w a r an manches historische Beispiel (vgl. o. Abschn. III zu Christian Scriver); trotz kräftiger ethischer Impulse führen die heutigen Bücher indes nicht mehr zu einer „speziellen Ethik in G e b e t s f o r m " (F. Schulz). Dazu ist ihre Differenzierung im generellen Grundton zu personal u n d im Ausdrucksgestus nach Sprache und Bild zu sehr generations- und zeitspezifisch. M a n wird, von hier aus betrachtet, den Schluß wagen können, daß die Beterorientierung mitsamt der Funktionalisierung den modernen Gebetbüchern wohl viel Bejahung sichert, daß beides ihnen aber auch — und das sollte man f ü r die Arbeit am Gebet positiv einschätzen - eine relativ rasche Vergänglichkeit garantiert. In diesem allen sind Gebetbücher Medien für das „religiöse Leben" der Christen, die dessen geschichtlich-menschliche Wandelbarkeit, ja diesseitige Zeitlichkeit gerade dem Glück des auch mit ihrer Hilfe gelingenden Betens bewußt machen.
122
Gebetbücher IV
Literatur Gottesdienstgebete Kristlieb Adloff, Erhebungen, Göttingen 1 9 7 8 . - Klaus Bannach, Gottesdienstgebete, Gütersloh 1 9 7 7 . - T h e o Brüggemann, 4 0 Gebete, L a h r 1 9 6 4 . - J ö r g Buchna, Dich rufen wir an, Gütersloh 1 9 8 2 . O t t o Dietz, Fürbittengebete, H a m b u r g 1 9 7 9 (reihe gottesdienst 12). - Eröffnung u. Anrufung, hg. v. Albert Mauder, H a m b u r g 1 9 7 8 (Feiernde Gemeinde 3). - Gebete. Revidierte Gebetstexte zu Agende I, hg. v. Herwarth v. Schade, H a m b u r g 2 1 9 8 1 (reihe gottesdienst 8 / 9 ) . - Gebete unserer Zeit, hg. v. Peter Cornehl, Gütersloh 1 9 7 3 . - Burkhard Heim, Beten im Gottesdienst, Neuffen 1 9 7 3 . - Peter Heibich, Im Fluge unserer Zeiten. Kollektengebete, Konstanz 1 9 8 1 . - M a r t h a Hintze, Kollektengebete (lat. u. dt.), Berlin 1 9 7 7 . - H ö r e uns, Herr!, hg. v. Hans Christian Knuth u . a . , Gütersloh 1 9 8 2 . - N e u e T e x t e für den Gottesdienst, hg. v. der Liturg. Konferenz Niedersachsens, Hannover 2 1 1 9 7 9 . - Psalmgebete, hg. v. Wilhelm Stählin, Kassel ' 1 9 6 9 . - Rogate, hg. v. T h e o Sorg, M ü n c h e n 2 1 9 7 0 . - J o s e f Seuffert, Fürbitten, München 1 9 7 1 . - Christian Zippert, Neue Gottesdienstgebete, Gütersloh 1 9 8 1 .
ökumenische
Gebete
Christen beten gemeinsam, hg. vom Arbeitskreis gemeinsames Beten, Witten 1 9 6 8 . - Er ist wahrhaft auferstanden. Gebete der Ostkirche, hg. v. Johannes Madey, Salzburg o. J . - Für Gottes Volk auf Erden, ö k u m . Fürbittkalender, hg. v. der Kommission f. Glauben u. Kirchenverfassung des Ö R K , Frankfurt a . M . ' 1 9 8 0 . - Gebete der Christenheit, hg. v. Walter Nigg, M ü n c h e n / H a m b u r g 1 9 6 5 (Siebenstern T B 4 6 ) . - Reinhard M u m m , ö k u m . Gebete, Gladbeck 1 9 6 9 . - Sammle dein V o l k zur Einheit, Freiburg 1 9 7 1 . - Lukas Vischer, Fürbitte, Frankfurt a . M . 1 9 7 9 .
Breviere u. ä. Amelungsborner Brevier, hg. v. Christhard Mahrenholz, 4 T . , Amelungsborn 1 9 7 9 / 8 0 . - August Berz, Als Christ in den T a g , 3 Bde., Zürich 2 1 9 7 5 . - Klara Bühler, Minuten der Sammlung, München i 8 1 9 7 6 . - Ev. Tagzeitenbuch, hg. v. Albert Mauder, Kassel ' 1 9 7 9 . - Heinrich Giesen, Minutengebete, Stuttgart 1 9 7 4 . - Gottfried Hänisch, Jeder T a g ist Gottes T a g , Konstanz 6 1 9 6 9 . - Johannes Hanselmann u . a . , M i t Ihm reden, 4 Bde., Berlin 1 2 1 9 7 7 . - J o h a n n e s Heber, Was wir beten sollen, Berlin 2 1 9 6 4 . - Herr, bleibe bei uns. Abendgebete, hg. v. Heinrich Riedel, München 5 1 9 6 4 . - Herr, lehre uns beten. Morgengebete, hg. v. d e m s . , 6 1 9 6 3 . - H ö r mi du fromme G o t t . Plattdüütsch G e b e d b o o k , hg. v. J o h a n n Bellmann u . a . , Göttingen 1 9 8 1 . - Neues Ev. Gebetbuch, hg. v. Hans Wulf, N e u k i r c h e n 2 1 9 7 9 . - Orate Fratres. Gebetsordnung, hg. v. H a n s - J o a c h i m Dröge u. a., Göttingen ' 1 9 7 0 . - Heinrich Riedel, Stille vor Gott, München ' ' 1 9 7 9 . - Karl Bernhard Ritter, Pfarrgebete, K a s s e l 6 1 9 6 8 . - Ders., Das tägliche Gebet, e b d . ' 1 9 6 4 . - R u f mich bei meinem Namen. Gebete f. jeden T a g , hg. v. Heinz Kühne, Gütersloh 1 9 8 1 ( G T B Siebenstern 3 5 1 ) . - Wachet u. betet, hg. v. Günter Bezzenberger u . a . , Kassel l 7 1 9 7 8 .
Familiengebete Veronika u. Paul Becker, . . . daß die Brücke nicht abbricht, Düsseldorf 1 9 8 0 . - Adri van den Beemt, Nicht nur sonntags, Würzburg 1 9 8 1 . - Georg Bienemann, Hand in Hand, Kevelaer 1 9 8 2 .
Tischgebete Lini Bodmer, Der selbst den Spatzen gibt zu essen, Wuppertal 2 1 9 8 0 . - Johannes Bours, Tischgebete für Gemeinschaft u. Familie, K e v e l a e r 2 1 9 7 8 . - Käte K o l k m a n n , Tischgebete, Gütersloh 2 1 9 6 3 . Werner Schaube, Neue Tischgebete, Donauwörth 2 1 9 8 0 . - Basilius Senger, 7 5 Tischgebete f. die Familie, Kevelaer 1 0 1 9 8 1 . - Wir danken, G o t t , f. deine G a b e n , hg. v. Hans Schönweiss, Stuttgart 6 1 9 8 2 .
Kindergebete Konrad Albrecht, Kinder reden mit Jesus, Konstanz ( 6 5 . Tsd.) 1 9 7 8 . - Eleonore Beck, Danke, daß du bei mir bist, Wuppertal/Kevelaer ' 1 9 7 8 . - Felicitas Betz, Schau her, lieber Gott, München 1 0 1 9 7 8 . Dies., Wir in unserer Stadt, ebd. 1 9 7 0 . - Detlev Block, Gut, daß du da bist, Z ü r i c h / L a h r 2 1 9 8 0 . - Annelies Dietl, G o t t hat mich lieb, Regensburg 5 1 9 8 1 . - Wilhelm F ä h r m a n n , M i t Kindern Psalmen beten, Würzburg 4 1 9 8 0 . - Engelbert Gross, Mein Drei-Zeiten-Buch, Kevelaer 2 1 9 7 9 . - J e a n n e Hoeberechts, G o t t , ich habe eine Überraschung für dich. Gebete v. Kindern f. Kinder, Kevelaer 1 9 8 0 . - Kindergebetbüchlein, hg. v. Heinz V o n h o f f , Konstanz ( 6 5 8 . T s d . ) 1 9 8 0 . - Marielene Leist, Gebetbuch f. Kinder u. ihre Eltern, Freiburg 1 9 7 2 . - Wolfgang Longardt, Alles G o t t erzählen, Gütersloh 1 9 8 2 . - Mein kleines Gebetbuch, hg. v. der Schwesternschaft v. Pomeyrol, München " 1 9 6 6 . - Josef Osterwalder, Das Bethaus, Mainz 2 1 9 7 9 . - Klaus Recker, Wenn ich krank bin, Kevelaer 1 9 8 1 . - Sehen - Erleben - Beten. Fotos u. Texte v. Kindern, hg. v. Gregor Heussen, Mainz o. J . - Heidi u. J ö r g Zink, Dies Kind soll unverletzet sein, Stuttgart ' 1 9 6 7 .
Kindergottesdienstgebete Eleonore Beck/Henri Delhougne, M e ß b u c h der Kinder. Z u m Mitbeten, Kevelaer 2 1 9 7 9 . - Burkhard Heim, Beten im Kindergottesdienst, Konstanz 2 1 9 7 8 .
Gebetbücher IV
123
Jugendgebete Antennen, hg. v. Maria A. Behnke u. a., Kevelaer 1 1 1 9 8 0 . - Knut Backe, Morgens um acht, Hamburg 1980. - Anke Dinsing, Ich wage einen Schritt. Manchmal stürm ich auch, Kassel 1980. - Gebete f. junge Menschen, Gelnhausen ' ' 1 9 6 7 . - Hoffnung geben - Frieden stiften, hg. v. Peter Göpfert u.a., München 1979. - Hartwig Lohmann, Laß du mich nicht allein, G ü t e r s l o h 5 1 9 6 6 . - Klaus Meyer zu Uptrup, Tag mit Gott, Stuttgart 1 9 7 9 . - Werner Schaube, Junge Leute beten, München 2 1 9 7 9 . - Unterwegs, hg. v. Dietmar Rost u. a., Gütersloh 4 1 9 8 0 . - Norbert Weidinger, Startbereit. Texte u. Gebete nicht nur f. Ministranten, Regensburg 1980. - Zukunft wagen, hg. v. Dietmar Rost u.a., Gütersloh 21980. Schulgebete Theodor Burzer, In der Schule mit Gott auf du, Donauwörth 2 1 9 7 9 . - Christ sein in der Schule. Gedanken u. Gebete f. Gottesdienste, hg. v. Peter Göpfert, München 1 9 8 0 . - Gemeinsam beten, hg. vom Kath. Schulkommissariat u. Landeskirchenrat der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Regensburg/München ' 1 9 7 6 . - H e i n z Großmann u.a., 9 9 Schulgebete, Kevelaer/Hildesheim 1 9 7 8 . - Franz Spichtinger, Neue Schulgebete, Regensburg 1981. Gebete
für alte
Menschen
Josef Gülden, In den Tagen des Alters, Regensburg 4 1 9 8 0 . — Josephine Robertson, Herr, es will Abend werden, Stuttgart (16.Tsd.) 1 9 7 9 . - Josef Seuffert, Herr, bleibe bei uns, München 4 1 9 8 2 . Gebete
für Kasualien
und andere
Anlässe
Am Grabe, hg. v. Horst Nitschke u. a., Gütersloh ' 1 9 7 6 . - Klaus Bannach, Gebete gegen die Angst, Stuttgart 1982. — Subir Biswas, Herr, lehre mich teilen. 3 0 Gebete vom Krankenbett aus Kalkutta, Erlangen 1981. — Malcolm Boyd, Gehst du mit mir, Jesus?, Bekenntnisse u. Gebete eines Seelsorgers, Konstanz 1967. - Jörg Buchna, Kasualgebete, Gütersloh 1 9 8 2 . - Petrus Ceelen, Hinter Gittern beten. Gebete f. Strafgefangene, Freiburg 1 9 7 8 . - E v . Pastorale. Gebete u. Lesungen zur Seelsorge, hg. v. der Luth. Liturg. Konferenz, Gütersloh 1 9 8 1 . - Gib Leben. Neue ev. Gebete zu Leben u. Tod, hg. v. Hans Wulf, Neukirchen ' 1 9 7 4 . - Gib Geduld. Persönliche Fürbittengebete, hg. v. dems., ebd. 1 9 7 5 . - Lennart Karstorp, Du nimmst mich an. Gebete f. Kranke, Freiburg 1979. - Kasualgebete, hg. v. Burkhard Heim, Göttingen 2 1 9 7 0 (Dienst am Wort 22). - Artur Schlosser, Gott am Straßenrand. Stoßgebete u. Anrufe, Würzburg 1979. - Trauung, hg. v. Horst Nitschke, 2 Bde., Gütersloh 1 9 7 5 / 7 9 . - Wohin, Herr? Gebete in die Zukunft, hg. v. Drutmar Cremer, Gütersloh 1 9 8 0 . - Kurt W o l f f , . . . es ist nicht zu fassen, Neukirchen 2 1 9 8 0 . - Hans Wulf, Taschengebetbuch, Neukirchen 1980. Besondere
Gebete
und meditative
Texte
Karl Barth, Gebete, München 1 1 9 6 7 . - Carmen Bernos des Gasztold, Gebete aus der Arche, Mainz 1 ' 1 9 8 0 . — Beten nach Auschwitz. Zum Gedenken an Holocaust, hg. v. Brigitte Hiddemann u.a., Stuttgart 1 9 8 0 . - Otto u. Felicitas Betz, Tastende Gebete. Texte zur Ortsbestimmung, München 1 9 7 1 . Otto Bischofberger u.a., Mit afrikanischen Christen beten, Luzern 1978. - Rudolf Bohren, Texte zum Weiterbeten, Neukirchen 1 9 7 6 . - Ernesto Cardenal, Psalmen, W u p p e r t a l 1 0 1 9 8 0 . - Johnson Gnanabaranam, Heute, mein Jesus, Erlangen '' 1978. - Peter Heibich, Gott wohnt nicht im blauen Himmel, Gütersloh 2 1 9 7 8 . — M . J. Joseph, Geben u. Empfangen. 6 2 Gebete aus dem Indischen, Erlangen 1 9 7 8 . — Kurtmartin Magiera, Gebete aus der Zeitung, 2 Bde., Frankfurt a . M . ' 1 9 7 1 . - Mit Gedichten beten, H a m b u r g 1 1 9 7 2 (Stundenbücher 1 1 0 ) . - A l f r e d Müller-Felsenburg, Gott u. Co. Gebete eines renitenten Laien, Friedberg b. Augsburg 1 9 6 6 . — Huub Oosterhuis, Weiter sehen als wir sind, Wien/Freiburg 1 9 7 3 . - Fritz Pawelzik, Ich liege auf meiner Matte u. bete, Wuppertal 5 1 9 6 7 . - Ders., Ich werfe meine Freude an den Himmel, ebd. 1 9 7 7 . - P o e t e n beten. Anrufe, hg. v. Wolfgang Fietkau, Wuppertal 1 9 6 9 . Michel Quoist, Herr, da bin ich, Graz 5 8 1 9 7 3 , Gütersloh 1 9 8 2 ( G T B Siebenstern 1052). - Hugo u. Karl Rahner, Worte ins Schweigen, Freiburg 5 1 9 8 0 . - Kurt Rommel, Gebet über der Zeitung, Stuttgart 1 9 6 7 . - Hans Roser, Politische Gebete, München 1 9 7 7 . - Dorothee Solle, Meditationen u. Gebrauchstexte, Berlin 2 1 9 7 0 . - M. A. Thomas, Fülle mein Herz, Erlangen ' ' 1 9 7 7 . - Ders., Weise den Weg. Indische Gebete, ebd. 1 9 7 5 . - Christian Troebst, Gebete aus der Provinz, München 1 9 7 6 . - Michael Zielonka, Nichts als Liebeskummer. Ins Gebet genommene Zwiespältigkeiten, Kevelaer 1 9 7 6 . Anleitungen
und Handreichungen
zum
Gebet
Charles L. Allen, Wag es, Gott zu fragen, Bern 1 9 6 7 . - Roland Brown, Beten lernen, Wuppertal 4 1 9 7 6 . - David Head, Beten f. Anfänger, München 1 9 6 2 . - Siegfried Heinzelmann, Beten u. Glauben, Neuffen 1963. - Ich kann nicht beten, hg. v. Friedrich Spiegel-Schmidt, Gladbeck 1 9 6 8 . - Paul Möns, Gott du. Beten im Rhythmus des Atems, Kevelaer 1 9 8 2 . - Klara (Mutter Basilea) Schlink, Gebetsleben, D a r m s t a d t 7 1 9 7 7 . - Hans Schönweiss, Beten? J a , aber wie?, Metzingen 2 1 9 6 8 . - Klaus Steinweg, Beten mit der Gemeinde, Neuffen 1 9 7 9 . - Reinmar Tschirch, Mit Kindern reden - mit Kindern beten, Gütersloh 1980. - Jörg Zink, Wie wir beten können, Stuttgart 5 1 9 7 2 .
124
Gebot I Gebete
aus anderen
Religionen
Denn dein ist das Reich. Gebete aus dem Islam, Freiburg 1978. - Du unser Vater. Jüd. Gebete für Christen, Freiburg 1975. - Endlos ist die Zeit in deinen Händen. Mit den Hindus beten, hg. v. Ignatius Puthiadam/Martin Kämpchen, Kevelaer 1978. - Alfonso M. di Nola, Gebete der Menschheit, Düsseldorf 1963. — Jakob Josef Petuchowski, Gottesdienst des Herzens. Eine Ausw. aus dem Gebetsschatz des Judentums, Freiburg 1981. — Die schönsten Gebete der Welt, hg. v. Christoph Eininger, München 5 1973. Peter Constantin Bloth
Gebot I. Neues Testament II. Systematisch-Theologisch
130
I. Neues Testament 1. Zum Verhältnis von Gesetz und Gebot 2. Gebot im johanneischen Schrifttum 3. Die Gebote der paulinischen und deuteropaulinischen Paränese 4. Adiaphora (Literatur S. 128) Im Neuen Testament wirdcvrokrj nicht nur für die alttestamentlichen Gebote (—»Dekalog, —»Gesetz I) verwendet, sondern auch für andere autoritative Weisungen. Von daher stellt sich notwendig das Problem ihrer Verbindlichkeit als leitender Gesichtspunkt dieser Untersuchung. 1. Zum
Verhältnis
von Gesetz und
Gebot
Eine Unterscheidung zwischen Gesetz und Gebot läßt sich für das Alte Testament weder terminologisch noch inhaltlich begründen (vgl. jedoch Hesse). Die im Neuen Testament durchgängige Kritik an den kultischen Geboten impliziert nicht unbedingt ein neues, spezifisch christliches Gesetzesverständnis, sondern hat ihren Hintergrund auch in einem jüdisch-hellenistischen Gesetzesbegriff (—»Gesetz II), der den Inhalt der —»Tora auf wenige Dekaloggebote und die beiden Hauptgebote reduziert hat: So kann es als ein Kennzeichen der jüdisch-hellenistischen (Weisheits-)Literatur angesehen werden, die Gebote als Inhalt des Gesetzes neben der Forderung nach Gottesliebe auf wenige humanitäre Weisungen zu beschränken, wobei diese Gebotsauffassung im Alten Testament meist nur in den Dekaloggeboten einen Rückhalt findet: Bestimmend für dieses Gebotsverständnis ist so in III Sib die Forderung des Einhaltens weniger Sozialgebote und der Verehrung des einen Gottes (234. 246. 2 7 5 - 2 7 9 ) . Auch der Gesetzes-Begriff der —»Testamente der 12 Patriarchen ist inhaltlich überwiegend durch Gebote sozialen Charakters und eine merkliche Hervorhebung der beiden — hier bereits miteinander verbundenen - Hauptgebote gefüllt (Testlss 4,6; 5,1; TestDan 5,6.10; TestGad 4,2 u. ö.). Die Nächstenliebe kann nach Sir 19,17; 28,6.7; 29,1 das Gesetz vollständig erfüllen. Der Versuch der Diasporajuden, ihren Mitbürgern das Gesetz werbend verständlich zu machen, führte einerseits zu echten Zusammenfassungen der Gesetzesforderungen (Weish 6,18; Sir 35 [32],23) und andererseits zu dem Versuch, das Wichtigste des Gesetzes entweder unter die Dekaloggebote (so —»Philo in seiner Schrift De Decalogo; vgl. Philo, Aet 124; SpecLeg 11,223; IV,41; Congr 120; Praem 2) oder unter zwei .oberste' Gebote zu subsumieren (Philo, SpecLeg II 6 1 - 6 3 ; Arist 228.234; vgl. SpecLeg IV,186f). Ähnliche Zusammenfassungen der Gesetzesforderungen liegen auch überall dort vor, wo die -^»Goldene Regel die Summe der Einzelgebote umfaßt. Mit dieser Tendenz zu einer Reduzierung der Gesetzesforderungen auf wenige soziale Gebote, insbesondere auf das Liebesgebot (Test XII!) geht im hellenistischen Judentum eine kritische Umwertung und Ethisierung der Kultgebote einher (vgl. Weish 3,5 ff), auf die sich dann auch das Neue Testament beziehen konnte. Während Paulus ( R o m 1 3 , 9 ; Gal 5 , 1 4 ; vgl. I Tim 1,5) und das johanneische Schrifttum (s. u. Abschn. 2) in der Tradition jener friihjüdischen Kreise stehen, die den Inhalt des Gesetzes in dem Gebot der Nächstenliebe zusammenfassen können (vgl. auch J a k 2 , 8 ) , haben die Synoptiker die Summe der Gesetzesforderungen mit dem doppelten Liebesgebot beschrieben, wobei dieses durchaus unterschiedlich aufgenommen werden konnte:
124
Gebot I Gebete
aus anderen
Religionen
Denn dein ist das Reich. Gebete aus dem Islam, Freiburg 1978. - Du unser Vater. Jüd. Gebete für Christen, Freiburg 1975. - Endlos ist die Zeit in deinen Händen. Mit den Hindus beten, hg. v. Ignatius Puthiadam/Martin Kämpchen, Kevelaer 1978. - Alfonso M. di Nola, Gebete der Menschheit, Düsseldorf 1963. — Jakob Josef Petuchowski, Gottesdienst des Herzens. Eine Ausw. aus dem Gebetsschatz des Judentums, Freiburg 1981. — Die schönsten Gebete der Welt, hg. v. Christoph Eininger, München 5 1973. Peter Constantin Bloth
Gebot I. Neues Testament II. Systematisch-Theologisch
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I. Neues Testament 1. Zum Verhältnis von Gesetz und Gebot 2. Gebot im johanneischen Schrifttum 3. Die Gebote der paulinischen und deuteropaulinischen Paränese 4. Adiaphora (Literatur S. 128) Im Neuen Testament wirdcvrokrj nicht nur für die alttestamentlichen Gebote (—»Dekalog, —»Gesetz I) verwendet, sondern auch für andere autoritative Weisungen. Von daher stellt sich notwendig das Problem ihrer Verbindlichkeit als leitender Gesichtspunkt dieser Untersuchung. 1. Zum
Verhältnis
von Gesetz und
Gebot
Eine Unterscheidung zwischen Gesetz und Gebot läßt sich für das Alte Testament weder terminologisch noch inhaltlich begründen (vgl. jedoch Hesse). Die im Neuen Testament durchgängige Kritik an den kultischen Geboten impliziert nicht unbedingt ein neues, spezifisch christliches Gesetzesverständnis, sondern hat ihren Hintergrund auch in einem jüdisch-hellenistischen Gesetzesbegriff (—»Gesetz II), der den Inhalt der —»Tora auf wenige Dekaloggebote und die beiden Hauptgebote reduziert hat: So kann es als ein Kennzeichen der jüdisch-hellenistischen (Weisheits-)Literatur angesehen werden, die Gebote als Inhalt des Gesetzes neben der Forderung nach Gottesliebe auf wenige humanitäre Weisungen zu beschränken, wobei diese Gebotsauffassung im Alten Testament meist nur in den Dekaloggeboten einen Rückhalt findet: Bestimmend für dieses Gebotsverständnis ist so in III Sib die Forderung des Einhaltens weniger Sozialgebote und der Verehrung des einen Gottes (234. 246. 2 7 5 - 2 7 9 ) . Auch der Gesetzes-Begriff der —»Testamente der 12 Patriarchen ist inhaltlich überwiegend durch Gebote sozialen Charakters und eine merkliche Hervorhebung der beiden — hier bereits miteinander verbundenen - Hauptgebote gefüllt (Testlss 4,6; 5,1; TestDan 5,6.10; TestGad 4,2 u. ö.). Die Nächstenliebe kann nach Sir 19,17; 28,6.7; 29,1 das Gesetz vollständig erfüllen. Der Versuch der Diasporajuden, ihren Mitbürgern das Gesetz werbend verständlich zu machen, führte einerseits zu echten Zusammenfassungen der Gesetzesforderungen (Weish 6,18; Sir 35 [32],23) und andererseits zu dem Versuch, das Wichtigste des Gesetzes entweder unter die Dekaloggebote (so —»Philo in seiner Schrift De Decalogo; vgl. Philo, Aet 124; SpecLeg 11,223; IV,41; Congr 120; Praem 2) oder unter zwei .oberste' Gebote zu subsumieren (Philo, SpecLeg II 6 1 - 6 3 ; Arist 228.234; vgl. SpecLeg IV,186f). Ähnliche Zusammenfassungen der Gesetzesforderungen liegen auch überall dort vor, wo die -^»Goldene Regel die Summe der Einzelgebote umfaßt. Mit dieser Tendenz zu einer Reduzierung der Gesetzesforderungen auf wenige soziale Gebote, insbesondere auf das Liebesgebot (Test XII!) geht im hellenistischen Judentum eine kritische Umwertung und Ethisierung der Kultgebote einher (vgl. Weish 3,5 ff), auf die sich dann auch das Neue Testament beziehen konnte. Während Paulus ( R o m 1 3 , 9 ; Gal 5 , 1 4 ; vgl. I Tim 1,5) und das johanneische Schrifttum (s. u. Abschn. 2) in der Tradition jener friihjüdischen Kreise stehen, die den Inhalt des Gesetzes in dem Gebot der Nächstenliebe zusammenfassen können (vgl. auch J a k 2 , 8 ) , haben die Synoptiker die Summe der Gesetzesforderungen mit dem doppelten Liebesgebot beschrieben, wobei dieses durchaus unterschiedlich aufgenommen werden konnte:
Gebot I
125
Die hellenistisch-judenchristliche Gemeinde des Mk bringt die beiden Hauptgebote in eine hierarchische Stufenfolge, wobei das erste Hauptgebot in Anlehnung an die geprägte Form des israelitischen S'ma (Dtn 6,4 f) formuliert ist (Mk 1 2 , 2 9 - 3 1 ) . Dabei greift Mk auf eine katechetische Tradition zur Bekehrung von Heidenchristen zurück, die besonders betont, daß die Gottesliebe als das erste Gebot auch das wichtigste sei (vgl. Josephus, Ant 111,91; Arist 132; Philo Virt 34; Gig 64; LibAnt 6,4). Diese von Mk vorausgesetzte differenzierte Sicht der Gebote ermöglicht in der folgenden Schriftauslegung (Mk 12,32 f) eine Kritik an den kultischen Geboten. Charakteristisch ist die Verbindung des doppelten Liebesgebotes mit der Botschaft Jesu vom Anbruch des Gottesreiches (Mk 12,34 b). Mt hingegen faßt ebenso wie Lk die beiden Hauptgebote als gleichrangig auf und formt das markinische Schulgespräch in ein Streitgespräch um (Mt 2 2 , 3 4 - 4 0 ) . Dies ist wie der Wegfall des S€ma in der Formulierung des doppelten Liebesgebotes und die Eintragung des Stichwortes „Gesetz" ein Indiz für die größer gewordene Kluft zwischen Kirche und einem Judentum, das sich durch eine Höherschätzung der mosaischen Tora und eine Betonung der Reinheits- und Kultgebote auszeichnet. Das doppelte Liebesgebot als Summe des —> Gesetzes dient Mt stärker als Mk der Auseinandersetzung mit einem jüdisch-pharisäischen Gesetzesbegriff. Zu unterscheiden ist hiervon jedoch M t 5 , 1 8 f, wo sich das Verhältnis von Gesetz und Geboten nicht unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit dem pharisäischen Nomos-Verständnis bestimmt: M t 5 , 1 8 setzt eine apokalyptische Gesetzesauffassung voraus; das Gesetz ist hier verbindliche N o r m des kommenden Gerichtes. 5 , 1 9 schwächt die absolute Gültigkeit des Gesetzes nicht ab, sondern stellt das zukünftige Ergehen der Gesetzestreuen in einem apokalyptischen Umkehrschema dar (—»Bergpredigt).
Lk, der das Doppelgebot als Einleitung zur Samaritererzählung verwendet und dem Reisebericht eingliedert, betont stärker den praktischen Weg, das Heil zu erlangen (Lk 10,25—37). Ihm liegt nicht so sehr'an einer theoretischen Erörterung der Gesetzesfrage, als vielmehr an der in der Lehre Jesu praktisch aufgezeigten Verwirklichung der beiden Hauptgebote. Damit wird Lk 10,25 ff auch zu einem Zeugnis für die zunehmende Gleichrangigkeit der Nächsten- gegenüber der Gottesliebe (vgl. Abschn. 2). Neben den beiden Hauptgeboten haben im Neuen Testament einige Dekaloggebote weiterhin prinzipielle Gültigkeit, wodurch sich die frühen christlichen Gemeinden in eine traditionsgeschichtliche Kontinuität mit einer Gesetzesauslegung stellen, die im hellenistisch beeinflußten Judentum weithin Geltung hatte (vgl. Berger, Gesetzesauslegung 3 6 7 - 3 8 1 ) . Dabei können Dekaloggebote der 2. Tafel sowohl das Liebesgebot exemplifizieren (Rom 13,9ff) als auch im Dienste der Heidenmission bewußt gegen die als Menschensatzungen disqualifizierten Kultgebote gestellt werden (Mk 7,8.9f; Mt 15,3; vgl. Act 10,15; Kol 2,8.21; Tit 1,14. Im apokalyptischen Judentum wird der Vorwurf der Menschensatzungen auf die Endzeit bezogen. Er signalisiert den großen Abfall, der dem Endgericht vorausgeht: s. Berger, ebd. 489), oder aber sie werden in ethischer Radikalisierung mit der im Besitzverzicht begründeten Nachfolgeforderung Jesu verbunden (Mk 10,19par). Auch Paulus, der in einer paränetisch-moralischen Identifikation mit —»Adam (Rom 7 , 7 - 1 3 ) das 10. Dekaloggebot mit dem Verbot aus Gen 2,16 f verbindet (Rom 7,7) und die Geltung dieses umfassenden Gebotes bis in die Paradiessituation Gen 2 f verlegt (Rom 7,9; vgl. TJer. Neofiti I zu Gen 2,15: „Und Gott, der Herr nahm den Menschen und ließ ihn wohnen im Garten Eden, um das Gesetz zu bewahren und seine Gebote zu erfüllen"; vgl. Theophilus, Autol. 2,24; Ambrosius, parad. 4), stehtin dieser jüdisch-hellenistischen Rezeption des Dekaloges (vgl. IV Makk 2,6; VitAd 19; Philo, Decal 173; SpecLeg IV,84). Das Verhältnis von Toragebot und Gesetz bestimmt Paulus in Rom 7,7—13 nicht als gleichrangig, sondern er sieht in dem Gebot die konkrete nach außen tretende Äußerung des letzteren (vgl. Rom 7,7c mit 7 , 8 - 1 3 ) . Das konkrete Gebot ermöglicht nach Rom 7,7 ff das Eintreten der —»Sünde in die Welt. Dabei sieht Paulus die Sünde nicht in dem menschlichen Versuch, durch das Erfüllen des Gebotes eine eigene —»Gerechtigkeit aufzurichten, sondern in der tatsächlichen Übertretung
126
Gebot I
des Gebotes. Gesetz und Gebot selbst sind heilig, gerecht und gut (Rom 7,13), doch durch das Ubertreten ihrer Forderungen unterwirft sich der Mensch der Sünde. Gleiches trifft auch auf die paulinische Wendung „ G e s e t z e s w e r k e " (Rom 3,20.28; Gal 2,16; 3,2.5.10) zu, unter denen Paulus inhaltlich die Erfüllung der von der Tora geforderten Gebote versteht (vgl. syrBar 57,2; 4 Q F l o r l , 7 ; PsClem Ree V,34,5: opera mandatorum). Ähnlich werden die Gebote als konkrete Äußerungen der Tora der neuen heilsmächtigen Christusoffenbarung in Eph 2,15 unter dem besonderen Gesichtspunkt des Verhältnisses von Juden und Heiden nach der Erlösungstat Jesu Christi gegenübergestellt. Die kultischem Denken entstammende Auffassung, daß das Übertreten eines Gebotes die Verletzung sämtlicher Gebote bedeutet, wird von Paulus in Gal 3,10 im Rahmen eines Schriftbeweises aufgenommen: Das Gesetz führt deshalb zum Fluch, weil der Mensch die von ihm geforderten Gebote nicht ganz tun kann (Gal 3,10—12; vgl. Lk 1,6; 15,29: Dort dient dieses Prinzip positiv der Beschreibung gottgefälligen Wandels). Für das Gesamtverständnis der Gebotsauffassung bei Paulus ist die Beobachtung von Bedeutung, daß der Apostel von Geboten unter unterschiedlichen Aspekten reden kann: Die Toragebote geraten erst in der Entfaltung der Rechtfertigungslehre der späteren paulinischen Briefe in den Blick (Gal 3; Rom 3 - 4 . 7 ) und sind innerhalb dieser speziellen soteriologischen Diskussion ganz dem durch Christus überholten Heilsweg „Gesetz" zugeordnet (—> Rechtfertigung). Daneben steht in der frühen paulinischen Theologie eine positive Bewertung der Gebote als göttlicher Willensoffenbarung (I Kor 7,19), wobei das Gebot der Bruderliebe keine hervorgehobene Stellung innehat (I Thess 4,2.9). Diese positive Bewertung der für den Christen maßgebenden Gebote behält für die gesamte paulinische Theologie Gültigkeit und wird zur Grundlage derParänese (s. u. Abschn. 3). In den paränetischen Passagen schließt sich Paulus ohne weiteres an die populäre Tradition des hellenistischen Judentums an, nach der - unter weitgehender Außerachtlassung des kultischen Komplexes — „Liebe" wie in der synoptischen Tradition und anderswo als Zusammenfassung des Gesetzes gelten konnte. Wo Paulus dagegen streng systematisch-theologisch argumentiert, geht es um das ganze Gesetz, auch um dessen kultische Teile (so Gal 3). Hier ist der Christ von der Verpflichtung, für Reinheit und Sündenvergebung zu sorgen, durch den Sühnetod Christi und die Gabe des Geistes frei geworden. Im Unterschied zu paränetischen Kontexten ist daher hier die Befreiung von kultischen Geboten nicht mehr nur einfach naiv-selbstverständlich mitübernommen (I Kor 7,19), sondern strikt theologisch begründet. In den späteren paulinischen Paränesen gewinnt die jüdisch-hellenistische Auffassung, daß das Liebesgebot das ganze Gesetz umfaßt (Gal 5,15; 6,2; Rom 13,9f), an Bedeutung. Doch bleibt dessen konkrete Funktion zu beachten: Das Liebesgebot als Summe des Gesetzes dient in paränetischen Kontexten der Begründung des Einzelgebotes der Bruderliebe (Rom 13,8; Gal 5,13 b; vgl. Gal 6). Damit steht die Begründung eines Gebotes aus dem Gesetz in einer Reihe mit anderen Gebotsbegründungen (s. u. Abschn. 3) und kann nicht als die alleinige Grundlage der paulinischen Einzelgebote angesehen werden (gegen Hahn; Lohse u. a.). Deutlich kritisch ist die Beurteilung der Gebote im —»Hebräerbrief: Das alttestamentliche Gesetz, als Kult- und Heilsordnung verstanden, ist nur noch Schatten des neuen und himmlischen Priesterdienstes (Hebr 8,5; 10,1). Durch das Priestertum Christi sind die an Kult- und Priesterordnung orientierten Gebote rechtskräftig annulliert (Hebr 7,5.16.18; 9,9.19). 2. Gebot
im johanneischen
Schrifttum
Im johanneischen Schrifttum bezieht sich die Rede vom Gebot und den Geboten nie auf die mosaische Tora. Vielmehr bezeichnet Gebot im Rahmen der johanneischen Sendungschristologie den Auftrag des Vaters an den Sohn (Joh 10,18; 12,49.50; 15,10) bzw. das Gebot Christi an seine Jünger (13,34; 14,15.21; 15,10.12). Damit kommen dem Gebot im wesentlichen zwei Funktionen zu: Der im Gebot ergangene Auftrag des Vaters an den Sohn un-
127
Gebot I
terstreicht die legitime Sendung Christi in diese Welt. Nach Joh 1 0 , 1 8 zeichnet sich Jesus durch den Empfang des göttlichen Auftragswillens als legitimierter Gesandter Gottes aus; inhaltlich besteht die Erfüllung des Gebotes Gottes in der vollmächtigen Lebenshingabe Jesu (Joh 1 0 , 1 8 ) . Damit ist ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Sohn entstanden: Wegen der Erfüllung seines Gebotes liebt der Vater den Sohn und gibt ihm sein Leben wieder (Joh 1 0 , 1 7 ) , und Jesus gibt sein Leben freiwillig, aus Vollmacht, aber aufgrund des Gebotes Gottes (Joh 1 0 , 1 8 ; vgl. 1 2 , 4 9 f ) . Die nachösterliche Gemeinde findet in dem Gebot Christi das Kriterium für das Bleiben in der Jüngerschaft (Joh 1 4 , 1 5 ff). Das neue Gebot Jesu an seine Jünger ist das Liebesgebot, das Jesus in testamentarischer Rede seinen Jüngern hinterläßt (Joh 1 3 , 3 4 ) . Indem das Liebesgebot auf die christliche Gemeinde eingeschränkt ist, wird es zum charakteristischen M e r k m a l der Nachfolge Christi und zum Erkennungszeichen der Gemeinde für die anderen (Joh 1 3 , 3 5 ) . In Aufnahme eines Topos aus der hellenistischen Freundschaftsethik gilt das Halten der Gebote als Bedingung für das Bleiben in der Liebe (Joh 1 4 , 1 5 f f ; 1 5 , 1 0 a ) . Der I. Johannesbrief nimmt die Ausprägung des Liebesgebotes im Joh modifiziert auf und stellt sie in die Auseinandersetzung mit Gegnern. Auf diesem Hintergrund geht es um die grundsätzliche Verortung der Gottesliebe in der Bruderliebe (I Joh 4 , 1 9 ) . Mit diesem Interesse ist die Tradition des synoptischen doppelten Liebesgebotes mit dem neuen Gebot des Joh (s. o.) in Einklang gebracht worden (1 Joh 4 , 1 9 ) . Das Halten der Gebote wird zum M a ß stab dafür, ob das Erkannthaben wirklich Erkenntnis Gottes ist (I Joh 2 , 3 - 1 1 ) . Weil das Liebesgebot in die neue Situation der Auseinandersetzung mit Irrlehrern gesprochen wird (—»Häresie), zugleich aber der Gemeinde aus der Tradition bereits überliefert ist, gilt es als das alte und neue Gebot der Bruderliebe (I Joh 2 , 7 ) . Indem das eine Gebot Jesu als doppeltes (Glaube und Liebe) entfaltet wird, sind Glaube und Liebe gegen Irrmeinungen an den konkreten Lebensvollzug der Gemeindeglieder gebunden (I Joh 3 , 2 2 f). 3. Die Gebote
der paulinischen
und deuteropauliniseben
Paränese
Als Grundlage der paulinischen Paränese kann weder eine Gebotsauffassung zugrunde gelegt werden, die sich aus der Auseinandersetzung mit den jüdisch-rabbinischen Torageboten erklärt oder ein apokalyptisches Gesetzesverständnis voraussetzt (vgl. Rößler), noch kann das Liebesgebot als Kristallisationskern (so Hahn) der Einzelgebote angesehen werden (s. o. Abschn. 1). Im Gegensatz zu den Adiaphora (s. u. Abschn. 4) gilt Paulus jedes der Einzelgebote als direkter Ausdruck göttlicher Willensoffenbarung (I Kor 7 , 1 9 ) , woraus sich zum einen die Verbindlichkeit der Gebote erklärt und sich zum anderen die Notwendigkeit einer jeweils gesonderten Begründung/Motivation der Gebotsforderung herleitet. Wichtig ist Paulus dabei nicht so sehr das material Neue seiner Mahnungen, sondern die Begründung, mit der er das Handeln des Christen in den Horizont der Verantwortung vor Gott stellt. Das Gebot als normative göttliche Willensoffenbarung findet sich bereits im paganen Griechentum (Aischylos, Prom. 12) und wurde ein wichtiger Terminus hellenistischer Schultradition (Epictet, Diss. 1 , 2 5 , 3 - 5 ; 111,5,8; 2 4 , 1 1 4 ; I V , 3 , 1 0 f ) . Es konnte in diesem Sinne ohne Verbindung zu den Torageboten auch im hellenistischen Judentum rezipiert werden (Josephus, Ant 11,274; V I , 1 0 1 ; X , 2 8 ) . Dabei bedeutet die Kenntnis der göttlichen Gebote nicht Sklaverei, sondern Befreiung des Menschen durch Gott (Epictet, Diss. I V , 7 , 1 7 ; vgl. Gal 5 , 1 . 1 3 - 1 8 ) . Die Verbindlichkeit der paulinischen Einzelgebote resultiert weniger aus ihrem materialen Gehalt als aus den Begründungs- und Motivationszusammenhängen, in die sie eingebettet sind (s. o.): Vorherrschend sind dabei neben den bereits erwähnten Begründungen aus dem Gesetz (s. o. Abschn. 1) christologische Begründungen, wobei besonders auf Christus als Handlungsvorbild abgehoben werden kann (Rom 15,3; Phil 2 , 5 ; 3,17). Daneben werden die Gebote aber auch mit Verweisen auf die Reich-Gottes-Botschaft Jesu (Gal 5 , 2 1 ; I Kor 6 , 9 f ; Eph 5,5), durch Herrenworte innerhalb der Paränese (Rom 1 2 , 1 4 . 1 7 ; vgl. Jak 1,5 f . 2 2 f ; 4 , 9 f) und durch die Wendungen „ i m Herrn" bzw. „in Christus" (I Thess 4 , 1 ; 5 , 1 8 ; Phil 3,1; 4,1 f.4; Kol 3 , 1 8 . 2 0 u. ö.; vgl. I Petr 3 , 1 6 ) begründet. Theologische Motivationen finden sich in dem Hinweis auf die Gottesherrschaft (Rom 1 4 , 1 7 ; I Kor 4 , 2 0 ) , auf denVorbildcharakter des göttlichen Handelns (Eph 5,1) und auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (I Kor l l , 7 f f ) . Aufgrund der auch für Paulus weiterhin geltenden Autorität der alttestamentlichen Heilsgeschichte gewinnen auch typologische Begründungszusammenhänge eine gewisse Bedeutung (I Kor 1 0 , 1 - 1 3 ; 1 0 , 1 8 ) . Die Verbindlichkeit der Einzelgebote kann besonders durch den Verweis auf das Richteramt Gottes bzw. Christi betont werden (Rom 1 4 , 1 0 b - 1 2 ; I Kor 1,8; 4 , 5 ; 5 , 1 3 ; vgl. die eschatologischen Motivationen I Kor 1 1 , 2 9 . 3 4 ; 1 5 , 5 8 ; Gal 6 , 7 f ; Phil 4 , 4 - 9 ; ^ G e r i c h t ) .
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Gebot I
In außerkanonischen Texten k a n n dann die Gebotsobservanz Gegenstand der Urteilsfindung in apokalyptischen Gerichtsszenarien werden (äth. Schenute-Apk, ed. G r o h m a n n , 2 2 1 ; Griech. Ephracm III,146a; kopt. A n o n y m . I , ed. Steindorff, 150) bzw. die göttliche Vergeltung bewirken (äth. GorgiosApk, ed. Leslau, 83; C o n s t A p o s t VIII, 12). Beruft sich Paulus in der M o t i v a t i o n der Einzelgebote auf seine Apostolizität, so ist diese Autorität jeweils n u r eine von der göttlichen abgeleitete (I Kor 11,1; 14,37; II Kor 5,20; 13,10; Phil 1,29 f). D a ß bereits die paulinischen M a h n u n g e n innerhalb christlicher Tradition stehen, verdeutlichen Erinnerungen an spezifisch christliche Unterweisungen (I Thess 4,1 f; I Kor 4 , 1 6 f ; Phil 4,9).
Adressaten der Einzelgebote sind ausschließlich getaufte Gemeindeglieder, von daher sind durch das Wandeln im Geist Taufe und Paränese verbunden (Rom 6,4; 7,6; 8 , 4 - 1 1 ; vgl. I Thess 4,8; 5,19; Gal 5,17a.22f.25; Rom 12,11; Eph 4,3.23.30; 5,18; Jak 4,5). Die Aufnahme traditioneller paränetischer Teilschemata (Haustafeln: Kol 3,18—4,1; Eph 5 , 2 2 - 6 , 9 ; I Tim 2 , 8 - 1 5 ; Tit 2 , 1 - 1 0 ; I Petr 2 , 1 8 - 3 , 1 2 ; Tugend- und Lasterkataloge: Gal 5 , 1 9 - 2 3 ; Kol 3 , 5 - 8 . 1 2 - 1 4 ; Tugendkataloge: Eph 4,2f; Phil 4,8; I Tim 4,12; II Tim 2,22; 3,10; I Petr 3,8; II Petr 1 , 5 - 7 ; Lasterkataloge: Rom 13,13; I Kor 5,10f; 6,9f; II Kor 12,20f; Eph 4,31; 5 , 3 - 5 ; I Tim 1,9f; 6,4; II Tim 3 , 2 - 4 ) signalisiert deutlich die material unterschiedliche Herkunft der Einzelgebote; paganes, jüdisches und christliches Traditionsgut sind miteinander verbunden. Die konkreten Lebensverhältnisse der frühen hellenistischen Ortsgemeinden werden dabei zu einem bestimmenden Auswahlprinzip der Einzelgebote: Vorherrschend sind Mahnungen, die auf den individuellen Lebenswandel des Gemeindeglieds gerichtet sind (Unzuchtsünden: I Kor 5 , 1 - 5 ; 5 , 9 - 1 2 ; 6 , 1 3 - 2 0 ; 1 0 , 1 - 1 3 ; II Kor 12,21 u. ö.), wobei bei einer Verletzung dieser Gebote auch an innergemeindliche Sanktionen gedacht werden kann (I Kor 5,1—5; 5,9—12; II Kor 2,5—11; 12,21). Daneben zielen die verbindlichen Gebote auf die Regelung des innergemeindlichen Zusammenlebens (Verhalten bei Rechtsstreitigkeiten: I Kor 6,1 — 11; Gebot der Bruderliebe: Rom 12,10; 13,8; 14,10.13; I Kor 4,5; Gal 5,13; Gebot der Gastfreundschaft: Rom 12,13; Warnungen vor Gemeindespaltungen und Irrlehrern: Rom 16,17f; I Kor 1,10 u. ö.; Gebote, den Gottesdienstvollzug betreffend: I Kor 11,17—34) und auf das Verhalten der christlichen Gemeinden gegenüber ihrer paganen Umwelt (I Thess 4,5; Rom 12,17—20; 13,1—7; Phil 2 , 1 4 - 1 8 ; 4,5; Tit 3 , 1 - 7 u.ö.). Damit sind die konkreten Gebote durch ihren usuellen Charakter (Dibelius) auch ein Spiegelbild der Wirklichkeit, der Probleme und Spannungen in den Missionsgemeinden. Es läßt sich hierbei die Tendenz erkennen, daß die Gebote auf ethische Konformität mit den Normen der paganen Umwelt abzielen (Aufnahme von Tugend- und Lasterkatalogen; Verhalten gegenüber der Obrigkeit; Haustafeln; Mahnungen zum Verbleiben im jeweiligen Stand). Durch diese Konformität nach außen lassen sich durch die Minderheitensituation bedingte Vorurteile der paganen Umwelt abbauen (Phil 4,5), und daneben schafft sie Freiraum für kultische Eigenständigkeit und Besonderheiten. 4.
Adiaphora
Unter A d i a p h o r a sind H a n d l u n g e n und Verhaltensweisen zu verstehen, über die verschiedene sittliche Urteile möglich sind und die deshalb nicht allgemein verbindlich sein können. Diese unterschiedliche Applizierung einer M e h r z a h l von M a h n u n g e n kann in der Verschiedenheit schöpfungsmäßiger o d e r innerweltlicher Gegebenheiten (Haustafeln), in der jeweiligen Situation der H ö r e r (Spruchweisheit R o m 12,15) oder im charismatischen C h a r a k t e r einzelner sittlicher Entscheidungen u n d Verhaltensweisen (z. B. M a h n u n g zur Ehelosigkeit: I Kor 7,1.26.32 ff.38.40) begründet sein. A d i a p h o r a k ö n n e n auch durch den Begriindungszusammenhang, in dem sie stehen, besonders gekennzeichnet sein: So k a n n Paulus M a h n u n g e n explizit nicht als G e b o t qualifizieren (I Kor 7,6; I Kor 7 , 2 5 - 4 0 ; II Kor 8,10) oder darauf verweisen, d a ß ihre Erfüllung nicht aus Z w a n g geschehen soll (II Kor 9,7; Phlm 14). Ihre Grenze findet christliche—»Freiheit u n d Vollmacht (I Kor 6,12) immer dort, w o diese libertinistisch mißverstanden wird (Unzuchtsünden: s. o. Abschn. 3), die autoritativen Begründungen ein Abweichen ausschließen (vgl. ebd.) oder eine Grenzziehung durch Gemeindezucht signalisiert ist (s. ebd.). Literatur Victor Aptowitzer, L'usage de la lecture quotidienne du Decalogue ä la Synagogue et l'explication de M t 1 9 , 1 6 - 1 9 et 2 2 , 3 5 - 4 0 : REJ 99 (1929) 1 6 7 - 1 7 0 . - H a r t m u t Aschermann, Die paränetischen
Gebot I
129
F o r m e n der „ T e s t a m e n t e der 12 P a t r i a r c h e n " u. ihr N a c h w i r k e n in der frühkirchl. M a h n u n g , Diss. Berlin 1 9 5 5 . - Allan Barr, L o v e in the C h u r c h . A Study of First C o r i n t h i a n s . C h a p t e r XIII: S J T h 3 ( 1 9 5 0 ) 4 1 6 — 4 2 5 . — G e r h a r d Barth, Unters, z u m G e s e t z e s v e r s t ä n d n i s des Evangelisten M a t t h ä u s : G ü n t h e r B o r n k a m m / G e r h a r d B a r t h / H e i n z - J o a c h i m H e l d , Ü b e r l i e f e r u n g u. A u s l e g u n g im M a t t h ä u s e v a n g e l i u m , 7 1 9 7 5 ( W M A N T 1) 8 9 - 9 6 . - Walter B a u e r , D a s G e b o t der Feindesliebe u. die alten Christen: Z T h K 2 7 ( 1 9 1 7 ) 3 7 - 5 4 . - J ü r g e n Becker, Unters, zur E n t s t e h u n g s g e s c h . der T e s t a m e n t e der Z w ö l f Patriarchen, Leiden 1 9 7 0 , 3 7 7 - 4 0 1 . - J o s e p h B e e k i n g , Die N ä c h s t e n l i e b e n a c h der Lehre der H l . Schrift, 1 9 3 0 ( R Q S 65). — K l a u s Berger, Die A m e n - W o r t e J e s u . Eine Unters, z u m P r o b l e m der L e g i t i m a t i o n in a p o k a l y p t i scher R e d e , 1 9 7 0 ( B Z N W 3 9 ) . - Ders., Die G e s e t z e s a u s l e g u n g J e s u . Ihr hist. H i n t e r g r u n d im J u d e n t u m u. im A T . I. M k u. Parallelen, 1 9 7 2 ( W M A N T 4 0 ) . - D e r s . , H a r t h e r z i g k e i t u. G o t t e s Gesetz. Die Vorgesch. des antijüdischen V o r w u r f s in M c 1 0 , 5 : Z N W 6 1 ( 1 9 7 0 ) 1 - 4 7 . - D e r s . , Z u den s o g . Sätzen Heiligen Rechts: N T S 17 ( 1 9 7 0 ) 1 0 - 4 0 . - Paul van den Berghe, D e d e c a l o o g in het licht van de jongste studies: C o l l . B r u g . e t G a n d . 8 ( 1 9 6 2 ) 3 2 - 4 8 . - J o s e f B l a n k , D e r g e s p a l t e n e M e n s c h . Z u r E x e g e s e v. R o m 7 , 7 - 2 5 : BiLe 9 ( 1 9 6 8 ) 1 0 - 2 0 . - D e r s . , W a r u m s a g t P a u l u s : „ A u s Werken des Gesetzes wird n i e m a n d g e r e c h t ? " : E K K . V 1 ( 1 9 6 9 ) 7 9 - 1 0 7 . - G ü n t h e r B o r n k a m m , D a s D o p p e l g e b o t der Liebe: ders., G e s c h . u. G l a u b e , 1 9 6 8 ( B E v T h 4 8 ) 3 7 - 4 5 . - Ders., S ü n d e , G e s e t z u. T o d : ders., D a s E n d e des Gesetzes. Paul u s s t u d . , ä 1 9 6 6 ( B E v T h 16) 5 1 - 6 9 . - Wilhelm B r a n d t , J ü d . Reinheitslehre u. ihre B e d e u t u n g in den Evangelien, 1 9 1 0 ( B Z A W 19). - H e r b e r t B r a u n , S p ä t j ü d . - h ä r e t i s c h e r u. frühchristl. R a d i k a l i s m u s . Jesus v. N a z a r e t h u. die essenische Q u m r a n s e k t e , 2 Bde., 1 9 5 7 ( B H T h 2 4 ) . - N e h e m i a s Brüll, Origine et d é v e l o p p e m e n t d e l à législation relative à la p u r i f i c a t i o n des m a i n s : Beth T a l m u d 3 ( 1 8 8 3 ) . - G e o r g e W. B u c h a n a n , T h e R o l e o f Purity in the Structure o f the E s s e n e Sect: R Q 4 ( 1 9 6 3 ) 3 9 7 - 4 0 6 . - R u d o l f B u l t m a n n , D a s P r o b l e m der Ethik bei P a u l u s : ders., E x e g e t i c a , T ü b i n g e n 1 9 6 7 , 3 6 - 5 4 . - D e r s . , R o m 7 u. die A n t h r o p o l o g i e des P a u l u s : e b d . 1 9 8 - 2 0 9 . - C h r i s t o p h B u r c h a r d , D a s d o p p e l t e L i e b e s g e b o t in der frühen christl. U b e r l i e f e r u n g : FS J o a c h i m J e r e m i a s , G ö t t i n g e n 1 9 7 0 , 3 9 - 6 2 . - William D. D a v i e s , T h e Setting o f the S e r m o n on the M o u n t , C a m b r i d g e 1 9 6 4 . — H a n s - J o a c h i m D e g e n h a r d t , Besitz u. Besitzverzicht in den lk Schriften, S t u t t g a r t 1 9 6 6 . - J . D u n c a n M . Derrett, L a w in the N T . Fresh Light on the Parable of the G o o d S a m a r i t a n : N T S 1 1 ( 1 9 6 4 / 6 5 ) 2 2 - 3 8 . - Erich Dinkier, Z u m P r o b l e m der Ethik bei Paulus. R e c h t s n a h m e und Rechtsverzicht (I K o r 6 , 1 - 1 1 ) : Z T h K 4 9 ( 1 9 5 2 ) 1 6 7 - 2 0 0 . - J o s e p h H . Fichtner, D e r Begriff des N ä c h s t e n im A T mit einem A u s b l i c k auf S p ä t j u d e n t u m u. N T : K u D 4 ( 1 9 5 5 ) 2 3 - 5 2 . - J o s e p h A. Fitzmyer, T h e A r a m a i c Q o r b a n inscription f r o m Jebel H a l l e t et T û r i a n d M k 7 , 1 1 p a r M t 15,5: J B L 7 8 ( 1 9 5 9 ) 6 0 - 6 5 . - H u b e r t F r a n k e m ö l l e , J a h w e b u n d u. Kirche Christi. S t u d , zur F o r m - und T r a d i t i o n s g e s c h . des „ E v a n g e l i u m s " nach M t , M ü n s t e r 1 9 7 3 , 1 8 4 f . , 2 7 1 - 3 0 7 . - Ernst Fuchs, W a s heißt: „ D u sollst deinen N ä c h s t e n lieben wie dich s e l b s t ? " : T h B l 11 ( 1 9 3 2 ) 1 2 9 - 1 4 0 . - Reginald H . Fuller, D a s D o p p e l g e b o t der Liebe. Ein Testfall für die Echtheitskriterien der W o r t e J e s u : FS H a n s C o n z e l m a n n , T ü b i n g e n 1 9 7 5 , 3 1 7 - 3 3 0 . - R o b e r t M . G r a n t , T h e D e c a l o g u e in Early Christianity: H T h R 4 0 ( 1 9 4 7 ) 1 - 1 7 . - F e r d i n a n d H a h n , Die c h r i s t o l o g i s c h e B e g r ü n d u n g urchristl. P a r ä n e s e : Z N W 7 2 ( 1 9 8 1 ) 8 8 - 9 9 . - Ders., Ntl. G r u n d l a g e n einer christl. Ethik: T T h Z 86 ( 1 9 7 7 ) 3 1 - 4 1 . - G ü n t h e r H a u f e , Die Stellung des Paulus z u m Gesetz: T h L Z 91 ( 1 9 6 6 ) 1 7 1 - 1 7 8 . - R o m a n Heiligenthal, Werke als Zeichen. Unters, zur B e d e u t u n g der menschlichen T a t e n im F r ü h j u d e n t u m , N T u. F r ü h c h r i s t e n t u m , Diss. T h e o l . H e i d e l b e r g 1 9 8 2 . - Ingo H e r m a n n , Wenn ich der N ä c h s t e bin. A u s l e g u n g v. L k 1 0 , 2 5 - 3 7 : BiLe 2 ( 1 9 6 1 ) 1 7 - 2 4 . - F r a n z H e s s e , G e b o t u. G e s e t z im A T : E L K Z 2 1 3 ( 1 9 5 9 ) 1 1 7 - 1 2 4 . - H i l d e b r e c h t H o m m e l , D a s W o r t K a r b a n u. seine V e r w a n d t e n : Phil 9 8 ( 1 9 5 4 ) 1 3 2 - 1 4 9 . - H a n s H ü b n e r , D a s g a n z e Gesetz u. d a s eine Gesetz. Z u m P r o b l e m k r e i s P a u l u s und die S t o a : K u D 16 ( 1 9 7 5 ) 2 3 9 - 2 5 6 . - D e r s . , D a s Gesetz in der s y n o p t . T r a d i t i o n . S t u d , zur T h e s e einer p r o g r e s s i v e n Q u m r a n i s i e r u n g u. J u d a i s i e rung innerhalb der s y n o p t . T r a d i t i o n , Witten 1 9 7 3 . - Ders., D a s G e s e t z bei Paulus, 1 9 7 8 ( F R L A N T 1 1 9 ) . - Reinhart H u m m e l , Die A u s e i n a n d e r s e t z u n g z w . Kirche u. J u d e n t u m im M t , 2 1 9 6 6 ( B E v T h 3 3 ) . - Alfred J e p s e n , Beitr. zur A u s l e g u n g u. 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130
Gebot II
Freiburg 1956, 7 4 - 8 9 . - Rudolf Schnackenburg, Römer 7 im Z u s a m m e n h a n g des R o m : FS Werner Georg Kümmel, Göttingen 1 9 7 5 , 2 8 3 - 3 0 0 . - W o l f g a n g Schräge, Z u r Ethik der ntl. H a u s t a f e l n : NTS 21 (1974/75) 1 - 2 2 . - Ders., Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961. Ders., Ethik des N T , 1982 ( G N T 4). - G o t t l o b Schrenk, Art. kvxoXiy. T h W N T 2 (1935) 5 4 2 - 5 5 3 . D. Schroeder, Die H a u s t a f e l n des N T . Ihre H e r k u n f t und i h r t h e o l . Sinn, Diss. Theol. H a m b u r g 1 9 5 9 . Heinz Schürmann, „ W e r d a h e r eines dieser geringsten Gebote a u f l ö s t . . .". W o fand M t das Logion M t 5,19?: ders., Traditionsgesch. Unters, zu den synopt. Evangelien, Düsseldorf 1968, 1 2 6 - 1 3 6 . - Wolfgang Trilling, Das w a h r e Israel, 1964 (StANT 10) 1 6 5 - 2 1 9 . - Willem C. van Unnik, Die Rücksicht auf die Reaktion der Nicht-Christen als Motiv in der altchristl. Paränese: FS Joachim Jeremias, : 1 9 6 4 ( B Z N W 26) 2 2 1 - 2 3 4 . - Anton Vögtle, Die Tugend- u. Lasterkataloge im N T , 1936 (NTA 16). - Karl Weidinger, Die Haustafeln. Ein Stück urchristl. Paränese, 1928 ( U N T 1 4 ) . - Heinz-Dietrich W e n d l a n d , Ethik des N T , 1975 ( G N T 4 ) . - S i e g f r i e d Wibbing, Die Tugend- u. Lasterkataloge im N T u . ihre Traditionsgesch. unter bes. Berücksichtigung der Q u m r a n t e x t e , 1959 ( B Z N W 25).
Roman Heiligenthal II. Systematisch-Theologisch 1. Z u m Begriff
J. Zum
2. Theologische Probleme
(Literatur S. 138)
Begriff
Der Begriff „ G e b o t " ist im theologischen Gebrauch dem des —»„Gesetzes" benachbart. Beides meint, ganz allgemein gesagt, den Willen Gottes für das Lebensverhalten des Menschen. Eine genaue Abgrenzung der Bedeutungen beider Begriffe ist schwer zu vollziehen, wurde und wird in der theologischen Diskussion z. T. auch gar nicht oder mindestens nicht ausdrücklich vollzogen. Doch wird man sagen können, daß bei „Gesetz" mehr die Tatsache, daß der Mensch von dem Anspruch des Gotteswillens betroffen wird, bei „ G e b o t " dagegen der konkrete Inhalt bzw. die Inhalte dessen, was dieser Gotteswille fordert, im Blickfeld stehen. Dazu kommt, daß besonders in der Tradition lutherischer Theologie „Gesetz" vornehmlich in Gegenüberstellung zu „Evangelium" Gesetz und Evangelium) und dann unter dem besonderen Aspekt der die Sünde anklagenden und richtenden Kraft der göttlichen Forderung zur Sprache kam; einem Gericht, das im Freispruch des Evangeliums für den Glauben aufgehoben wird. „ G e b o t " dagegen meint auch hier den Inhalt des Gotteswillens als solchen, wie er auch für den Glaubenden bestehen bleibt; soll er doch im Glauben an das Evangelium, bewegt durch den Heiligen Geist (und gerade nicht mehr „unter dem Gesetz") zum wirklichen Täter dieses Willens werden. P. —•Althaus machte sogar den terminologischen Vorschlag, den Begriff „Gesetz" auf die Bezeichnung jener die Sünde richtenden Funktion zu beschränken, hingegen in bezug auf Inhalt und Begegnung des Gotteswillens abgesehen von dieser besonderen Funktion nur von „ G e b o t " zu sprechen. Wir behandeln im folgenden die zu diesem Begriff anstehenden theologischen Fragen, ohne in extenso auf die besondere Problematik des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium einzugehen. An einigen Stellen wird allerdings auf sie zu verweisen sein. 2. Theologische
Probleme
2.1. Geistliche Freiheit und Gebotsgehorsam. Die Frage nach dem Verhältnis von pneumatischer Spontaneität und Gebotsgehorsam im Leben des Christen wurde bereits im Reformationsjahrhundert Gegenstand von Auseinandersetzungen. M . -^»Luther konnte in starken Worten von der Freiheit und Freudigkeit reden, mit der die Werke der Liebe als „selbstwachsende Frucht" aus dem Glauben hervorgehen. Wo der Geist Gottes den Glauben wirkt, da muß das rechte Tun nicht erst als Pflicht geboten werden. Es kommt dem Gebot zuvor und geschieht aus dem inneren Trieb der Liebe, die die Gottesliebe in uns entzündet. Ja der Glaube, der in solcher Liebe lebt, könnte sich, wie Luther gelegentlich sagt, „selbst Dekaloge machen besser als der des Mose." Umgekehrt: Alles Tun, das nur unter dem Druck des Gesetzes geschieht, und dann immer auch mit heimlichem Unwillen und in der Motivation, sich selbst vor Gott Sicherheit verschaffen zu wollen, kann gar nicht das wahrhaft gute Werk sein. Ph. —»Melanchthon und Joh. —»Calvin betonten stärker die Ge-
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G e b o t II
bundenheit der Christen an die W e i s u n g e n der G e b o t e , durchaus auch unter dem Gesichtspunkt der Pflicht, in die der G o t t e s w i l l e n i m m t ( C A V I : quod
fides
parere,
allerdings unter klarer Abwei-
et quod
oporteat
bona
opera
mandata
a Deo facere)-,
illa debeat
bortos
fructus
sung der M o t i v a t i o n , durch solchen G e h o r s a m R e c h t f e r t i g u n g v o r G o t t verdienen zu wollen (ebd.: non ut confidamus
per ea opera
iustificationem
coram
Deo
mereri).
Eine erste Aus-
einandersetzung ü b e r diese Frage e n t b r a n n t e durch J o h . —>Agricola, der, Schüler Luthers und b e e i n d r u c k t durch dessen R e d e von den s e l b s t w a c h s e n d e n F r ü c h t e n des G l a u b e n s , mit der T h e s e h e r v o r t r a t , nicht den G l a u b e n d e n seien die G e b o t e des Gesetzes zu predigen, sondern den G o t t l o s e n durch die R e c h t s o r d n u n g einzuschärfen ( „ D e c a l o g u s g e h ö r t aufs R a t haus, nicht auf den P r e d i g t s t u h l " ) . Gegen diesen „ A n t i n o m i s m u s " h a t nun allerdings auch Luther leidenschaftlichen Protest eingelegt: Sind denn die Christen je in diesem Leben in G l a u b e n und Liebe s c h o n so vollendet, daß sie beständig die F r ü c h t e des G l a u b e n s erbringen? Bedürfen nicht auch sie, „ G e r e c h t e und S ü n d e r z u g l e i c h " , der Predigt des Gesetzes und seiner G e b o t e jedenfalls zur E r k e n n t n i s ihrer S ü n d e ? Im übrigen h a t L u t h e r es ja nicht unterlassen, in zahlreichen Schriften Auslegungen der G e b o t e und W e i s u n g e n zu guten W e r k e n zu geben, nicht nur um Sünde a n z u k l a g e n , s o n d e r n d u r c h a u s a u c h , um G l a u b e n d e n den W e g zum rechten T u n zu weisen. Die Auseinandersetzung lebte n a c h Luthers T o d wieder auf im sog. zweiten Antinomismusstreit,
diesmal a u f d e m H i n t e r g r u n d der von M e l a n c h t h o n und
Calvin entwickelten Lehre v o m dreifachen B r a u c h dFlacius und andere —»Gnesiolutheraner widersprachen dem;'sie sahen darin ein grundsätzliches Nachgeben gegenüber dem Anspruch der Papstkirche, das um der Klarheit des Bekenntnisses zu der evangelischen Wahrheit willen nicht erlaubt sei. Der Streit wurde (nachdem sein konkreter Anlaß längst überholt war) durch FC X dahingehend entschieden, daß in der Auseinandersetzung mit einem Gegner, der das Bekenntnis als solches anficht {in statu confessionis), dessen Forderungen auch in Dingen, die an sich für den Glauben irrelevant sind, nicht nachgegeben werden dürfe. Ein zweiter „adiaphoristischer Streit" entstand 1681 im Zusammenhang eines Theaterbaus in Hamburg. Hier stand auf der einen Seite ein puritanischer —»Pietismus, der die Teilnahme des Christen an jeder Art „weltlicher" Vergnügungen und Zerstreuungen verwarf, auf der anderen Seite Theologen der lutherischen
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—•Orthodoxie, die solche Vergnügungen, sofern dabei die Grenze zu sündhafter Ausschweifung nicht überschritten wird, zu den Adiaphora rechneten, die Gott dem Menschen als Freiraum der Erholung zugestehe. Die rigorose Pflichtethik I. —»Kants lehnte den Gedanken sittlich wertneutraler Handlungen ab (so in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft)-, unter ihrem Einfluß kam er auch in der neueren protestantischen Ethik weithin in Mißkredit. Damit war nun freilich in der Regel nicht mehr ein puritanisches Verbot der Teilnahme an Vergnügungen gemeint; es sollte eher bestritten werden, daß es für die innere Haltung und Gesinnung, in der der Christ dies oder jenes tut bzw. läßt, einen sittlich neutralen R a u m gibt. Die Frage nach dem, was erlaubt ist, weil G o t t es weder geboten noch verboten hat, hat ihren Sitz im Leben im Grunde in einer atomistischen Ethik, für die Gottes Gebot in ein vielfaches Nebeneinander einzelner je an sich gebotener oder verbotener Handlungen sich zerlegt. Unter der Voraussetzung dieses Gebotsverständnisses wäre die Frage nach Adiaphora unbedingt zu bejahen; es gibt ja in der T a t unzählige Möglichkeiten menschlicher Handlungen, für die, wenn sie als Vorgang an sich und losgelöst aus dem Kontext ihrer Motivation und ihrer Auswirkung auf andere Menschen betrachtet werden, weder Gebotensein noch Verbotensein durch Gott behauptet werden kann. Aber ein solches atomistisches Verständnis des Gotteswillens würde sein Abzielen auf das „ H e r z " des Menschen, die Wurzel seines gesamten Lebensverhaltens, verfehlen. Sollen alle unsere Dinge „in der Liebe geschehen" (I Kor 16,14) und ist, „was nicht aus dem Glauben geht, Sünde" (Rom 14,23), dann kann es jedenfalls in dem Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen, in dem unsere Handlungen geschehen und durch das sie in der konkreten Situation, in der sie geschehen, immer auch qualifiziert werden, keine von dem Gotteswillen unbetroffene Neutralität geben. Das heißt freilich nicht, daß es in jeder Lage nur eine Verhaltenswahl geben könne, mit der wir diesem Gotteswillen entsprechen, so gewiß es auch Situationen geben wird, in denen dies tatsächlich der Fall ist. 2.3. Christliches und „humanes" Verständnis des Gebotenen. Eine erst in neuerer Zeit diskutierte Frage betrifft das Verhältnis dessen, was Christen als Gebote Gottes erkennen, zu den Einsichten eines nicht an Glaubensvoraussetzungen gebundenen humanen Ethos in das menschlich Gebotene. Besteht im Blick auf die das Verhalten des Menschen zum Menschen betreffenden Inhalte zwischen christlicher Erkenntnis des Gotteswillens und ethischen Einsichten, die sich nicht auf den in Christus offenbaren Gott, vielleicht ü b e r h a u p t nicht auf Gott berufen, notwendig ein grundsätzlicher Unterschied? Ist da nicht auch weitgehende Konvergenz zu beobachten, auch wenn die Quelle der Erkenntnis des gemeinsam als geboten Erkannten verschieden bestimmt wird? In einer Gesellschaft, die als ganze kirchlich gebunden und biblisch unterwiesen war, k o n n t e diese Frage noch k a u m a u f k o m m e n . Daß das biblisch geoffenbarte Gesetz Gottes die Quelle ethischer Erkenntnis ist, war da unbestritten, und soweit man Elemente solcher Erkenntnis auch in der Vernunft gegeben sah, war eine Vernunft gemeint, die bereits als solche um Gott als Gesetzgeber wußte. Die Frage mußte aber virulent werden in einer religiös und weltanschaulich pluralistisch gewordenen Gesellschaft, die gleichwohl eines ethischen Fundamentalkonsenses bedarf: Wieweit können sich Christen mit Agnostikern oder auch Atheisten verständigen über das, was für die einen das göttlich, für die andern das menschlich Gebotene ist? Darf die Möglichkeit solcher Verständigung blockiert werden durch die Behauptung einer prinzipiellen Diastase: N u r der Christ erkennt, indem er im Glauben Gott erkennt, auch das, was in Wahrheit das ethisch Gebotene ist? Darf sie andererseits erkauft werden um den Preis einer völligen Nivellierung des Unterschieds zwischen Glauben und Nichtglauben in bezug auf das Ethos? Innerhalb der neueren protestantischen Theologie w u r d e in der T a t die These vertreten: Inhaltliche Erkenntnis dessen, was wir tun sollen - so gewiß das f ü r den Christen bedeuten wird: was wir nach Gottes Willen tun sollen — k o m m t uns nicht erst aus der biblischen Offenbarung zu. Sie k o m m t jedem Menschen zu aus den Beziehungen und Anforderungen des menschlichen Zusammenlebens und den Bedürfnissen des bzw. der Nächsten, mit denen er
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darin konfrontiert ist. Das Ermessen dessen, wie dem in einer konkreten Situation zu entsprechen ist, ist Sache vernünftiger Einsicht, m u ß nicht erst am Wortlaut biblischer Gebote abgelesen werden. Diese sollten viel eher als exemplarische Anleitung zur situationsgemäßen Betätigung solcher Einsicht verstanden werden. Es gibt nicht eigentlich ein spezifisch christliches, sondern nur ein menschlich-vernünftiges Ethos. Das Proprium der christlichen, in Gottes in Jesus Christus gesprochenem Wort begründeten Botschaft betrifft nicht die Inhalte dessen, was wir tun sollen, sondern über allem unserem T u n und Verfehlen unser Person-verhältnis zu Gott: d a ß wir aus seiner Gnade und nicht durch unser T u n die Rechtfertigung unseres Lebens haben. Gedanken dieser Art wurden u. a. vertreten von F. -n>Gogarten, ähnlich auch von K. E. —»Logstrup. Sie können sich darauf berufen, daß Entsprechungen zu den Geboten der zweiten Tafel sich im Rechtsbewußtsein auch außerhalb des durch die biblische O f f e n b a r u n g bestimmten Bereichs finden; daß es zur —»Goldenen Regel und selbst zum Liebesgebot Entsprechungen auch außerhalb der überlieferten Worte Jesu gibt; daß Jesus gerade den vom jüdischen Standpunkt aus glaubensfremden Samariter zum Beispiel eines wirklichen T u n s der Nächstenliebe gewählt hat; daß Paulus Rom 2,14 mit einem Geschriebensein der durch das Gesetz gebotenen Werke auch in den Herzen der Heiden rechnet. Dem steht gegenüber eine exklusiv christozentrisch begründete Theologie im Gefolge K. Barths. Eine allgemeine Erkennbarkeit des Gesetzes Gottes unabhängig von der Christusoffenbarung wird hier ebenso wie überhaupt eine allgemeine Gotteserkenntnis verneint. Es ist das Evangelium, in dem mit dem, was Gott in Christus an uns getan hat, nun auch das Gebot aufleuchtet, das uns, getragen von Gottes T u n , zu unserm T u n ruft. Heißt das: Es kann in Wahrheit keine Konvergenz geben zwischen christlicher und „ h u m a n e r " Einsicht in das menschlich Gebotene — was außerhalb des Glaubens als solches erkannt und vielleicht auch getan wird, kann bei aller äußerlichen Ähnlichkeit nur etwas anderes sein als was in Christus geboten ist? Barth selbst hat diese Konsequenz nicht gezogen, er konnte schreiben: „ D e r Wille Gottes ist zu allen Zeiten auch außerhalb der Kirche erfüllt worden und zu deren Beschämung außerhalb der Kirche oft besser als innerhalb" (KD II/2, 632). Er setzte allerdings hinzu: „nicht auf G r u n d einer natürlichen Güte des Menschen, sondern weil Jesus als der von den Toten Auferstandene . . . der Herr der ganzen Welt ist, der auch da seine Diener hat, w o sein N a m e noch nicht oder nicht mehr erkannt und gepriesen ist" (ebd.). In der T a t sollten schon die vorhin angeführten biblischen Hinweise davor warnen, die Möglichkeit jeder Konvergenz in Abrede zu stellen. F.s kann Einsicht und Tun des mitmenschlich Gebotenen geben, das für den Christen als das in Christus von G o t t Gebotene erkennbar ist, auch da, w o Gott selbst und seine Z u w e n d u n g zum Menschen in Christus nicht erkannt und bekannt wird. Es wäre christliche A n m a ß u n g zu behaupten, der innere G r u n d solchen T u n s könne dort dann immer n u r verborgene Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit des Täters sein. D a ß es solches Erkennen und T u n des Guten auch ohne Erkenntnis Gottes geben kann, werden wir freilich nicht einer Potenz des Menschen zuschreiben, die von seinem Sünder-sein gewissermaßen in Abzug zu bringen wäre, sondern der erhaltenden Gnade, mit der der in Christus offenbare G o t t seiner Schöpfung auch da wirksam gegenwärtig bleibt, wo sein W o r t noch nicht oder nicht mehr gehört wird. Kraft dessen wird auch eine Verständigung zwischen Christen und Menschen ohne religiöse Bindung über Fragen des mitmenschlich Gebotenen partiell immer wieder möglich sein. Aber einer generellen Gleichsetzung dessen, was im Glauben an den in Christus offenbaren Gott als sein Gebot e r k a n n t wird, mit dem, was vernünftige Einsicht als das Gebotene erkennt, muß widersprochen werden. Dies schon d a r u m , weil christliches Verständnis des Gebotenen von der Liebe zu Gott, d. h. von dem seiner Liebeszuwendung antwortenden Grundvertrauen des Glaubens als dem das ganze Lebensverhalten bestimmenden ZuerstGebotenen, nicht abstrahieren kann. Aber auch im Blick auf die Einsicht in das mitmenschlich Gebotene wäre eine solche generelle Gleichsetzung problematisch. Neben Konvergenzen außerchristlicher und christlicher Erkenntnis dessen, was der Mensch dem Menschen tun bzw. nicht tun soll, gab und gibt es eben auch Divergenzen. Überhaupt ist hier Vernunft
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nicht gleich Vernunft. Was als „vernünftig" verstanden wird, ist geschichtlich bedingt: Konvergenzen der Einsicht in menschlich Gebotenes bei differenter Einstellung zum Glauben dürften zumindest auch darum möglich sein, weil eine sich heute atheistisch verstehende Vernunft in unserem Kulturbereich gleichwohl durch eine lange Geschichte christlicher Tradition geprägt bleibt. Aber es kann in unserem wie in ganz anderen Kulturbereichen auch Ethos geben, das sich selbst durchaus als „vernünftig" begründet versteht, aber von seiner weltanschaulichen Grundposition her in konkreten Fragen zu Konsequenzen kommen kann, die dem, was uns in Christus als Tun der Liebe gewiesen ist, durchaus widerstreiten. Es konnte mit ansehnlicher rationaler Begründung dafür plädiert werden, die Gebote Jesu seien für ein zu praktizierendes Ethos geradezu gefährlich, weil sie in ihrer Radikalität den Menschen überfordern und ihn so, anstatt ihm Wege zum Tun des ihm möglichen Guten zu weisen, in ethische Resignation zurückwerfen (so z. B. G. Szczesny, Z u k u n f t des Unglaubens, München 1965). Auch ist Liebe selbst da, w o sie als das menschlich Gebotene anerkannt und benannt wird, nicht überall gleich Liebe. Für christliches Verständnis dieses Wortes ist, was das Liebesgebot im Munde Jesu meint, definiert durch ihn selbst in seiner Lebenshingabe. Entspricht dem ohne weiteres ein allgemeines Verständnis mitmenschlicher Zuwendung? Wenn wir nicht in Abrede stellen dürfen, daß es Erkennen und Tun des Gotteswillens geben kann, auch wo Gott selbst nicht erkannt und bekannt wird, so bleibt doch die Selbstbekundung dieses Gottes und seines Willens in Jesus Christus das Kriterium, an dem zu ermessen ist, was - wo und durch wen immer es geschehen mag - in Wahrheit seinem Gebot entspricht. 2.4. Das Problem der situationsbezogenen Aktualisierung.Eine weitere, erst in neuerer Zeit verschärft aufgetretene Problematik betrifft die Frage, wie biblische Gebote in ein der jeweiligen Situation entsprechendes Handeln umzusetzen sind. Daß die Verschiedenheit persönlicher Situationen das Verständnis dessen, was das allen geltende Gebot gerade jetzt und von mir fordert, modifizieren kann, war wohl immer schon gesehen worden. Das bedeutete aber zunächst und für lange Zeit noch keine Problematisierung der zeitlosen und allgemeinen Geltung biblischer Gebote überhaupt — abgesehen davon, daß die alttestamentliche Kultgesetzgebung schon immer als in Christus aufgehoben galt. Infragegestellt wurde diese zeitlose Geltung erst durch die in der Neuzeit eingetretene und seit dem vorigen Jahrhundert enorm beschleunigte Veränderung der allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Nun trat die geschichtliche Bedingtheit mancher biblischer Gebote, die Beziehung ihrer konkreten Formulierung auf Verhältnisse, die der Vergangenheit angehören, stärker ins Blickfeld. Das betraf vor allem solche Gebote, die das Verhalten der Christen im gesellschaftlichen Gefüge und seinen Ordnungen (—>Ehe, —»Staat, —»Eigentum usw.) betreffen, besonders die „Haustafeln". M u ß etwa aus biblischen Gebotsformulierungen dogmatisch gefolgert werden, daß der „Obrigkeitsstaat" und der ihm entsprechende Untertanengehorsam grundsätzlich die dem Willen Gottes gemäße politische Ordnung ist und bleibt; daß die Ahndung des Kapitalverbrechens durch die Todesstrafe für alle Zeiten von Gott geboten bleibt; daß die Unterordnung der —»Frau unter den M a n n zeitlos gültige göttliche Ordnung ist? Entsprechende Fragen entstanden übrigens nicht nur durch die geschichtlichen Veränderungen in unserem eigenen Kulturbereich, sondern auch für die aus der Mission entstandenen —»jungen Kirchen in völlig anderen Kulturgebieten mit anderen gesellschaftlichen Ordnungen und Traditionen - muß z. B. in einem Volk, in dessen Sozial- und Wirtschaftsgefüge die Mehrehe verankert ist, von dem, der Christ wird, der Ubergang zur Einehe gefordert werden? Solche Fragen rufen die Überlegung hervor, ob und wie innerhalb biblischer Gebotsformulierungen zwischen zeitbedingten Konkretionen und zeitübergreifender Intention des Gotteswillens unterschieden werden kann. Hinsichtlich zeitbedingter Gebotsinhalte entsteht die Frage, um welcher tieferliegenden Intention willen sie etwa, bezogen auf damals gegebene konkrete Verhältnisse, gerade so formuliert werden konnten oder mußten, wie wir sie biblisch vorfinden. Und es kann dann weiter gefragt werden, wie jener Tiefenintention in
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„Übersetzung" auf veränderte Verhältnisse anders als in formaler Befolgung des biblischen Wortlauts zu entsprechen ist. Es geht dann also um eine „Hermeneutik" der biblischen Gebote, die nach dem Gebotenen in der Mannigfaltigkeit der Gebote fragt. Im biblischen Bereich selbst kommt einer solchen Überlegung die hervorgehobene Stellung des Liebesgebots entgegen, von dem Jesus sagt, in ihm „hänge das ganze Gesetz und die Propheten". Seine zentrale Bedeutung wird grundsätzlich von niemand bestritten; aber ob und wie weit unter Berufung auf die Liebe konkrete Inhalte anderer biblischer Gebote relativiert oder gar aufgehoben werden können, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Mit großer Entschiedenheit wird die Relativierung aller anderen auf dieses eine Gebot vertreten von dem Konzept einer „Situationsethik", wie sie in USA vor allem durch J. Fletcher entwickelt wurde (—»Situation). Eine legalistische Ethik, die das christliche Handeln am Gefüge einer Vielheit ein für allemal feststehender Gebote und Verbote orientieren will, wird hier verworfen; ethische Entscheidungen sind nicht aus dem „System", sondern aus der jeweiligen Situation heraus zu treffen. Sie können material so verschieden sein, wie es die Situationen sind. Als unbedingtes Gebot, nach dem sich das Handeln des Christen in jeder nur denkbaren Situation auszurichten hat, läßt Fletcher allein das Gebot der Liebe gelten. „Alle Gesetze, Gebote, Vorschriften und Grundsätze haben nur insoweit Geltung, als sie unter den jeweils herrschenden Umständen der Liebe dienen" (a.a.O. 24). Dabei verwirft er nicht schlechthin die Beachtung überlieferter ethischer Richtlinien und ihren Erfahrungswert; sie sollen aber nicht als unverbrüchliche Normen gelten, und wenn im konkreten Fall ihre Befolgung der Liebe widerstreiten würde, ist ihre Übertretung nicht nur erlaubt, sondern geboten. Sie sind als „Ratgeber ohne Einspruchsrecht" (a.a.O. 46) zu behandeln. Fletcher geht bis zu der These, daß solcher Fall nicht als Pflichtenkonflikt zu beurteilen ist (um nicht größeres Übel geschehen zu lassen, muß ich Unrecht tun, Sünde auf mich nehmen); sondern was dann um der Liebe willen gegen sonstige Norm geschehen muß (etwa eine Lüge, ja bis hin zu einer Tötung oder Selbsttötung), das ist in dieser Situation die eindeutig rechte Tat. Eine Relativierung aller übrigen Gebote auf das Liebesgebot wird ähnlich, wenn auch nicht in so schroffer Konsequenz wie von Fletcher, auch von anderen Theologen (z.B. E. -n>Brunner, H. R. —>Niebuhr, P. —»Tillich) vertreten. Eine entgegenstehende Auffassung wird die zentrale Bedeutung des Liebesgebots zwar nicht bestreiten, aber auf der unverbrüchlichen Geltung auch der anderen Gebote beharren: Was „Liebe" im Sinne der Bibel heißt, dürfe nicht einem unverbindlichen Dafürhalten des Subjekts in der jeweiligen Situation überlassen sein, sondern sei gerade in der Vielheit der Gebote konkret definiert. Diese stehen also in gleicher Verbindlichkeit neben dem Liebesgebot in ihrer Mitte - nicht als unverbindliche Richtlinien, die um der Liebe willen u. U. außer Kraft treten, sondern gleichsam als deren verbindliche Ausführungsbestimmungen. Ein fundamentalistischer Biblizismus wird sich hierbei am integralen Wortlaut biblischer Gebote orientieren. Aber auch wo man in katholischer und protestantischer Theologie der Einsicht Rechnung trägt, daß nicht alles biblisch Gebotene wörtlich in die heutige Zeit und jede beliebige Situation übertragen werden kann, hält man weithin doch an der zeitüberlegenen Gültigkeit fundamentaler biblischer Gebote fest (wobei die Grenzziehung zwischen Fundamentalem und Variablem natürlich verschieden sein oder überhaupt unbestimmt bleiben kann). In der katholischen Theologie vor allem traditionellerer Richtung wird hier neben der Bindung an die Schrift das —»Naturrecht geltend gemacht als der Ausdruck von Grundgeboten des göttlichen Schöpferwillens, für die eine allgemeine Evidenz in Vernunft und Gewissen des Menschen beansprucht wird. Auch protestantischer, vor allem lutherischer Theologie ist dieser Gedanke nicht fremd; er wird hier weniger in den Begriff des Naturrechts als in den der Schöpfungsordnungen gefaßt und vor allem auf die sozialen Grundinstitutionen (Ehe, Familie, Staat, Recht, Eigentum) bezogen. Diese werden — bei Unterschieden im einzelnen in weitgehender Übereinstimmung mit traditioneller katholischer Theologie — als Stiftung Gottes verstanden, für deren Grundstruktur unverrückbares, durch geschichtliche Veränderungen und individuelle Situationen nicht relativierbares göttliches Gebot maßgebend ist.
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Es sollte u.E. erkannt werden, daß das Problem situationsbezogener „Übersetzung" biblischer Gebote nicht nur die Verschiedenheit individueller Beziehungen und Lagen angeht. Auch die Bedingungen, die das Zusammenleben insgesamt bestimmen, unterliegen geschichtlichem Wandel. Er mag über lange Zeitstrecken sehr langsam, fast unmerklich vor sich gehen, kann dann aber auch rapide Beschleunigung erfahren, wie sie in der abendländischen Gesellschaft seit dem 19. Jh. zweifellos im Gang ist. Solches, was unter früheren Verhältnissen geboten war und dort auch als um der Liebe willen geboten erkannt werden konnte, kann unter späteren Verhältnissen u. U. nicht mehr geboten sein, weil es in ihnen seine Relevanz verloren hat oder sogar eine Auswirkung haben würde, in der es jenem Gotteswillen, um dessentwillen es einst geboten war, gerade nicht mehr entspricht. Das kann nicht nur für Gebote kirchlicher Sitte, sondern auch für biblische Gebote gelten (extremes, aber nicht einziges Beispiel: das Kopftuch der Frauen im Gottesdienst I Kor 11,5). Dem geschichtlichen Wandel ist auch die Struktur sozialer Institutionen wie Ehe, Familie, Staat usw. nicht entnommen. Institutionelle Strukturen, die in einer bestimmten geschichtlichen Phase entwikkelt und unter deren Verhältnissen für das menschliche Zusammenleben hilfreich und notwendig waren, können sich in einer späteren Phase als neuen Anforderungen und Bedürfnissen nicht mehr entsprechend und, wenn sie gewaltsam aufrecht erhalten werden, als bedrükkend erweisen. Die Vorstellung einer naturrechtlich oder biblizistisch zu definierenden Schöpfungsordnung, in der solche Strukturen durch göttliches Gebot unbedingt festgelegt wären, ist zumindest für vieles, was einst darin einbezogen wurde, fragwürdig geworden, so z. B. im Blick auf die Rollenverteilung von Mann und Frau, auf Herrschaftsstrukturen im familiären und staatlichen Bereich u. a. m. Damit soll nicht gesagt sein, daß diese Institutionen dem Gebot Gottes überhaupt entnommen und einer „Eigengesetzlichkeit" ihrer faktischen Entwicklung zu überlassen wären. Daß menschliches Leben sich unverzichtbar in institutionellen Grundbindungen vollzieht, ohne sie nicht bestehen kann, ist durchaus in dem Schöpferwillen desselben Gottes begründet zu sehen, der dieses Leben überhaupt will und wirkt. Auch für das Wie ihrer Gestaltung ist nach dem Willen dieses Gottes zu fragen. Aber es sollte erkannt werden, daß uns durch ihn die konkrete Gestaltung institutioneller Ordnungen nicht in starrer Festlegung vorgeschrieben, sondern zu verantwortlicher Abwandlung aufgegeben ist. Theologische Ethik wie christliche Praxis steht vor der Aufgabe der „Ubersetzung" des Gebotenen in die Situation - in den Fragen der „ O r d n u n g e n " ebenso wie in denen des persönlichen Verhaltens. Damit stellt sich die Frage nach dem G r u n d m a ß , an dem sich ein vor dem Gotteswillen verantwortetes „Ubersetzen" ausrichten kann. Das kann in der Tat nur das Liebesgebot Jesu sein, wobei das, was „Liebe" im Sinn dieses Gebotes heißt, durch ihn selbst in seiner Verkündigung und seinem Verhalten bestimmt ist. Es will nicht nur als das wichtigste Gebot neben anderen, sondern wirklich als das eine Gebot!« allen Geboten verstanden sein. Andere Gebote werden damit nicht unverbindlich - das Tun der Liebe muß sich ja um der Vielfalt des Lebens willen in eine Vielheit von konkret Gebotenem besondern - , aber sie haben dem einen Gebot gegenüber keine selbständige Verbindlichkeit. Wo sie verbindlich werden, werden sie es um der Verbindlichkeit des einen willen. Sie wollen nicht statutarisch befolgt sein, weil es so „geschrieben steht", sondern in der Einsicht, die ermißt, warum in einer bestimmten menschlichen Beziehung oder einer konkreten Situation um der Liebe willen gerade dies geboten ist; und dann u. U. auch, w a r u m unter gegebenen Verhältnissen um derselben Liebe willen einst Gebotenes nicht mehr geboten oder in eine andere Gestalt zu übersetzen ist. Wird damit einem Grundgedanken der „Situationsethik" Recht gegeben, so wäre es doch eine abstrakte Überspitzung dieses Gedankens, zu behaupten, alles, was um der Liebe willen zu tun geboten ist, könne je nach der Situation bis zur Gegensätzlichkeit variabel sein. Liebe im Sinne des Neuen Testaments ist ja nicht nur eine im Innerlichen bleibende Motivation freundlicher Gesinnung, die mit allem möglichen Tun vereinbar wäre, sondern konkretes Tun der Hilfe. Die Hilfe, deren der Mensch vom Menschen bedarf, kann gewiß in vielen Bezügen sehr verschieden sein. Es gibt aber nicht nur individuell, kulturell oder wie immer sonst bedingte Verschiedenheit menschlicher Nöte und Bedürfnisse, sondern auch elemen-
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tare Grundbedürftigkeit, die dem Menschen mit dem Menschen durch alle Zeiten und Kulturen hindurch gemeinsam ist. So wird es in der Mannigfaltigkeit der Gebote, in denen das Liebesgebot Jesu konkret getan sein will, neben allem Veränderlichen (das vielleicht die institutionellen „ O r d n u n g e n " mehr als die elementaren mitmenschlichen Verhaltensweisen betreffen wird) auch Inhalte geben, die nie veralten, weil in ihnen geboten ist, was der Mensch dem Menschen um der Liebe willen unter allen Umständen gewähren sollte; oder weil in ihnen verwehrt wird, w o m i t der Mensch den Menschen immer beschädigen und mißachten wird und was er ihm also unter keinen Umständen aus jener Liebe antun wollen kann, die immer geboten bleibt. Literatur Paul Althaus, Gebot u. Gesetz, 1946 (BFChTh. M 46). - Karl Barth, Evangelium u. Gesetz, 1935 1 9 6 1 (TEH N F 50). - Emil Brunner, Das Gebot u. die O r d n u n g e n , Zürich 1932 4 1 9 3 9 . - G e r h a r d Ebeling, Die Evidenz des Ethischen u. dieTheol.: ders., W o r t u. Glaube, Tübingen, II 1 9 6 9 , 1 - 4 1 . - W e r n e r Eiert, Regnum Christi: ders., Z w . G n a d e u. Ungnade, M ü n c h e n 1948, 7 2 - 9 1 . - Ders., Gesetz u. Evangelium: ebd. 1 3 2 - 1 6 9 . - J o s e p h Fletcher, Moral o h n e N o r m e n ? , Gütersloh 1 9 6 7 . - F r i e d r i c h G o g a r t e n , Der Mensch zw. G o t t u. Welt, Stuttgart 1952. - H a n s Joachim Iwand, Das Gebot Gottes u. das Leben: ders., Nachgelassene Werke, M ü n c h e n , II 1966, 4 6 - 7 3 . - Wilfried Joest, Das G e b o t u. die Gebote: ders.,Gott will zum Menschen k o m m e n . GAufs., Göttingen 1 9 7 7 , 8 2 - 9 6 . - Knud E. Logstrup, Die ethische Forderung, Tübingen 1959. - Karl Rahner, Z u r „Situationsethik" aus ö k u m . Sicht: ders., Sehr, zur Theol., Einsiedeln, VI 1965, 2 6 2 - 2 7 6 . - Zu vergleichen sind auch die Gesamtdarstellungen theologischer —»Ethik und die Literatur zu „Gesetz". 1
Wilfried Joest Geburtenkontrolle/Geburtenregelung —»Leben, —»Schwangerschaftsabbruch Gedalja Gedalja, Sohn Achikams, Sohn Schafans, der als Abkömmling einer alten Jerusalemer Beamtenfamilie von N e b u k a d n e z a r nach dem Fall Jerusalems 5 8 6 eingesetzte „Statthalter" von Juda mit Amtssitz in —»Mizpa im Grenzbereich zum ehemaligen Nordreich Israel (Jer 39,14; 40;41; 43,6; II Reg 2 5 , 2 2 - 2 6 ) . Seine Rechtsstellung und Amtsbefugnis sind im einzelnen schwer zu definieren. Ein Amtstitel k o m m t nirgends vor; Benennungen wie „Statthalter", „Kommissar" u.dgl. beruhen auf späteren wissenschaftlichen Konventionen. Nach seiner Amtseinsetzung unterstellen sich ihm judäische T r u p p e n f ü h r e r (sare häh"jalim) mit ihren Leuten (II Reg 25,23; Jer 40,8), möglicherweise Teile des versprengten judäischen Heerbannes (vgl. Jer 52,8), soweit er nicht von den Babyloniern exiliert w a r . Gedalja schickt sie auf ihre Landgüter oder sie wählen sich neue Wohnsitze, damit sie die Ernte einbringen und eine systematische Rekultivierung des Landes einleiten. Wachsende Stabilität in J u d ä a läßt auch nach A m m o n und Edom versprengte oder geflohene Israeliten nach Hause zurückkehren. Nach einer aus Jer 52,12 und 41,1 erschlossenen Regierungsdauer von zwei M o n a t e n wird Gedalja von Ismael, Sohn des N e t a n j a , Sohn des Elischama, einem der ihm anfänglich ergebenen T r u p p e n f ü h r e r , nicht ohne V o r w a r n u n g in Mizpa ermordet samt den in seiner Umgebung lebenden Judäern und Babyloniern. Das Motiv des M o r d e s k a n n nur hypothetisch erschlossen werden. Ismael, ein M a n n „königlicher A b k u n f t " (II Reg 25,25), vielleicht aus einer Seitenlinie der Davididen, pflegte Kontakte zu Baalis, dem König der Ammoniter, und handelte nach Jer 40,14 in dessen Auftrag. Auf G r u n d seiner H e r k u n f t mochte Ismael selbst eine führende Position in J u d a erhofft oder beansprucht haben, die er durch die Beseitigung Gedaljas unter Billigung und Schutz des Ammoniterkönigs doch noch zu erringen versuchte. Die relativ ausführliche Darstellung der Vorgänge im Buche Jeremia ist dadurch veranlaßt, daß der Prophet Jeremia (—»Jeremia/Jeremiabuch) nach dem Fall Jerusalems in R a m a von den Babyloniern freigelassen wurde und in die Umgebung Gedaljas ging, weil Mitglieder aus dessen Familie bereits früher den Propheten geschützt hatten (vgl. Jer 2 6 , 2 4 ; 36,10.25). Nach dem Tode des Gedalja hielt sich Jeremia an J o h a n a n , Sohn des Kareach,
Gedalja
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tare Grundbedürftigkeit, die dem Menschen mit dem Menschen durch alle Zeiten und Kulturen hindurch gemeinsam ist. So wird es in der Mannigfaltigkeit der Gebote, in denen das Liebesgebot Jesu konkret getan sein will, neben allem Veränderlichen (das vielleicht die institutionellen „ O r d n u n g e n " mehr als die elementaren mitmenschlichen Verhaltensweisen betreffen wird) auch Inhalte geben, die nie veralten, weil in ihnen geboten ist, was der Mensch dem Menschen um der Liebe willen unter allen Umständen gewähren sollte; oder weil in ihnen verwehrt wird, w o m i t der Mensch den Menschen immer beschädigen und mißachten wird und was er ihm also unter keinen Umständen aus jener Liebe antun wollen kann, die immer geboten bleibt. Literatur Paul Althaus, Gebot u. Gesetz, 1946 (BFChTh. M 46). - Karl Barth, Evangelium u. Gesetz, 1935 1 9 6 1 (TEH N F 50). - Emil Brunner, Das Gebot u. die O r d n u n g e n , Zürich 1932 4 1 9 3 9 . - G e r h a r d Ebeling, Die Evidenz des Ethischen u. dieTheol.: ders., W o r t u. Glaube, Tübingen, II 1 9 6 9 , 1 - 4 1 . - W e r n e r Eiert, Regnum Christi: ders., Z w . G n a d e u. Ungnade, M ü n c h e n 1948, 7 2 - 9 1 . - Ders., Gesetz u. Evangelium: ebd. 1 3 2 - 1 6 9 . - J o s e p h Fletcher, Moral o h n e N o r m e n ? , Gütersloh 1 9 6 7 . - F r i e d r i c h G o g a r t e n , Der Mensch zw. G o t t u. Welt, Stuttgart 1952. - H a n s Joachim Iwand, Das Gebot Gottes u. das Leben: ders., Nachgelassene Werke, M ü n c h e n , II 1966, 4 6 - 7 3 . - Wilfried Joest, Das G e b o t u. die Gebote: ders.,Gott will zum Menschen k o m m e n . GAufs., Göttingen 1 9 7 7 , 8 2 - 9 6 . - Knud E. Logstrup, Die ethische Forderung, Tübingen 1959. - Karl Rahner, Z u r „Situationsethik" aus ö k u m . Sicht: ders., Sehr, zur Theol., Einsiedeln, VI 1965, 2 6 2 - 2 7 6 . - Zu vergleichen sind auch die Gesamtdarstellungen theologischer —»Ethik und die Literatur zu „Gesetz". 1
Wilfried Joest Geburtenkontrolle/Geburtenregelung —»Leben, —»Schwangerschaftsabbruch Gedalja Gedalja, Sohn Achikams, Sohn Schafans, der als Abkömmling einer alten Jerusalemer Beamtenfamilie von N e b u k a d n e z a r nach dem Fall Jerusalems 5 8 6 eingesetzte „Statthalter" von Juda mit Amtssitz in —»Mizpa im Grenzbereich zum ehemaligen Nordreich Israel (Jer 39,14; 40;41; 43,6; II Reg 2 5 , 2 2 - 2 6 ) . Seine Rechtsstellung und Amtsbefugnis sind im einzelnen schwer zu definieren. Ein Amtstitel k o m m t nirgends vor; Benennungen wie „Statthalter", „Kommissar" u.dgl. beruhen auf späteren wissenschaftlichen Konventionen. Nach seiner Amtseinsetzung unterstellen sich ihm judäische T r u p p e n f ü h r e r (sare häh"jalim) mit ihren Leuten (II Reg 25,23; Jer 40,8), möglicherweise Teile des versprengten judäischen Heerbannes (vgl. Jer 52,8), soweit er nicht von den Babyloniern exiliert w a r . Gedalja schickt sie auf ihre Landgüter oder sie wählen sich neue Wohnsitze, damit sie die Ernte einbringen und eine systematische Rekultivierung des Landes einleiten. Wachsende Stabilität in J u d ä a läßt auch nach A m m o n und Edom versprengte oder geflohene Israeliten nach Hause zurückkehren. Nach einer aus Jer 52,12 und 41,1 erschlossenen Regierungsdauer von zwei M o n a t e n wird Gedalja von Ismael, Sohn des N e t a n j a , Sohn des Elischama, einem der ihm anfänglich ergebenen T r u p p e n f ü h r e r , nicht ohne V o r w a r n u n g in Mizpa ermordet samt den in seiner Umgebung lebenden Judäern und Babyloniern. Das Motiv des M o r d e s k a n n nur hypothetisch erschlossen werden. Ismael, ein M a n n „königlicher A b k u n f t " (II Reg 25,25), vielleicht aus einer Seitenlinie der Davididen, pflegte Kontakte zu Baalis, dem König der Ammoniter, und handelte nach Jer 40,14 in dessen Auftrag. Auf G r u n d seiner H e r k u n f t mochte Ismael selbst eine führende Position in J u d a erhofft oder beansprucht haben, die er durch die Beseitigung Gedaljas unter Billigung und Schutz des Ammoniterkönigs doch noch zu erringen versuchte. Die relativ ausführliche Darstellung der Vorgänge im Buche Jeremia ist dadurch veranlaßt, daß der Prophet Jeremia (—»Jeremia/Jeremiabuch) nach dem Fall Jerusalems in R a m a von den Babyloniern freigelassen wurde und in die Umgebung Gedaljas ging, weil Mitglieder aus dessen Familie bereits früher den Propheten geschützt hatten (vgl. Jer 2 6 , 2 4 ; 36,10.25). Nach dem Tode des Gedalja hielt sich Jeremia an J o h a n a n , Sohn des Kareach,
139
Geduld
der T r u p p e n gegen den M ö r d e r Ismael sammelte; bei Gibeon trafen Ismael und J o h a n a n aufeinander, jedoch liefen die Leute um Ismael zu J o h a n a n über. Ismael gelang die Flucht in ammonitisches Gebiet, w ä h r e n d J o h a n a n mit seinen Leuten in die Gegend von Betlehem zog und beschloß, nach Ägypten a u s z u w a n d e r n aus Furcht vor den Babyloniern, nachdem Gedalja ermordet w a r . Jeremia w a r n t e J o h a n a n , das Land zu verlassen, w u r d e aber gegen seinen Willen nach Ägypten mitgenommen. Das Andenken an Gedalja b e w a h r t das J u d e n t u m im „Fasten für G e d a l j a " auf, das am з . T i s c h r i begangen und mit Sach 7,5; 8,19 in Z u s a m m e n h a n g gebracht wird. Literatur Zu den zitierten Stellen und ihren Problemen vgl. hauptsächlich die Kommentare und die Darstellungen der Geschichte Israels, insbesondere: John H. Hayes/J. Maxwell Miller (ed.), Israelite and Judaean History, London 1977, 4 7 6 - 4 8 0 . Peter R. Ackroyd, Exile and Restoration, London 1 9 6 8 , 6 5 - 73. - Albrecht Alt, Die Rolle Samarias bei der Entstehung des Judentums: ders., KS, München, II 1953, 3 1 6 - 3 3 7 , bes. 329 Anm. 2. - Klaus Baltzer, Das Ende des Staates Juda u. die Messias-Frage: Stud. zur Theol. der atl. Überlieferungen. FS G. v. Rad, Neukirchen 1961, 3 3 - 4 3 . - Wilhelm Erbt, Jeremia u. seine Zeit, Göttingen 1902, 5 9 - 6 6 . Enno Janssen, Juda in der Exilszeit, 1956 (FRLANT69) 4 7 f . - Erhard Junge, Der Wiederaufbau des Heerwesens des Reiches Juda unter Josia, 1937 (BWANT75) 3 2 - 3 5 . 5 2 - 5 9 . 6 9 - 7 3 . - T i m o Veijola, Verheißung in der Krise, Helsinki 1982, 1 9 0 - 2 1 0 .
Siegfried H e r r m a n n Gedenktage —»Feste und Feiertage Geduld 1. Geduld in der griechisch-römischen Antike 2. Geduld als göttliche Vollkommenheit im biblischen Kontext 3. Geduld als menschliche Haltung 4. Geduld in der Alten Kirche und im Mittelalter 5. Geduld in der Emblematik 6. Geduld in der neueren Theologie und Philosophie (Quellen/Literatur S.143) Der Begriff „ G e d u l d " ist die Mitte eines Wortfeldes, zu dem vom antiken Ursprung her Worte wie
anadeia, axaga^ia, avraQxeia, aber auch Tapferkeit, Beständigkeit (xagregia, constantia), Großmut ()i(yaXoipvxia, /lanQoQvfxia, magnanimitas), Langmut (longanimitas), Ausdauer im —»Leiden {vno/xovfj, patientia), vom christlichen Ursprung her Begriffe wie Nachsicht {ävoxy), Langmut (uaXQoövptia) und Ausharren (ino^oviij) gehören. Vgl. dazu die lexikographische Bemerkung in Augustins
Sermo babitus Tuneba de patientia (PL. S 2,759): Mag man die Ausdrücke patientia oder sustinentia oder tolerantia
1. Geduld
gebrauchen, mit allen drei Worten bezeichnet man die gleiche Sache.
in der griechich-römischen
Antike
Welch zentrale Rolle die Tugend der Geduld bei den Griechen spielte, zeigt die Tatsache, d a ß zwei der beliebtesten Sagengestalten, Herakles und Odysseus, als Helden der Geduld gepriesen werden. H o m e r nennt Odysseus den „vielduldenden" (jioXvrXag; O d . V , 1 7 1 . 3 5 4 и. ö.; ähnlich Sophokles, Aj. 956). Herakles, der griechische Nationalheld, erlangte d a d u r c h unsterblichen R u h m , d a ß er so viele Leiden und Prüfungen bestand (Sophokles, Phil. 1 4 1 9 f ) . Geduld ist hier die D u r c h h a l t e k r a f t gegenüber den Schlägen der Götter (Euripides, Herc. 1227f), die Selbstbehauptung innerhalb einer heillosen Welt. - In R o m ü b e r n a h m e n Cicero, Seneca und Epiktet diese H a l t u n g des tragischen Helden, wobei etwa bei Cicero die Beziehung der Geduld zur Geschichtsmächtigkeit sichtbar wird, w e n n er feststellt: das Ideal ist, die größten Aufgaben und die größten Leiden auf sich zu nehmen, um alle Völker zu retten, nach dem M u s t e r des Herkules (off. 111,5,25). Cicero definiert die Geduld als honestatis aut utilitatis causa rerum arduarum ac difficilium voluntaria ac diuturna perpessio (inv. 11,54,163). In der griechischen Philosophie wird eine begriffliche Klärung versucht. —»Piaton empfiehlt, im Mißgeschick möglichst ruhig zu bleiben (rep. X , 6 0 4 b ) und durch die Kraft der vernünftigen Seele einem stärkeren Feind zu widerstehen (Lach. 1 9 0 e - 1 9 3 e ) . Geduld (vnofiovtj) ist hier gleichbedeutend mit Standhaftigkeit ( x a g r e g i a ) und bekundet die See-
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Geduld
der T r u p p e n gegen den M ö r d e r Ismael sammelte; bei Gibeon trafen Ismael und J o h a n a n aufeinander, jedoch liefen die Leute um Ismael zu J o h a n a n über. Ismael gelang die Flucht in ammonitisches Gebiet, w ä h r e n d J o h a n a n mit seinen Leuten in die Gegend von Betlehem zog und beschloß, nach Ägypten a u s z u w a n d e r n aus Furcht vor den Babyloniern, nachdem Gedalja ermordet w a r . Jeremia w a r n t e J o h a n a n , das Land zu verlassen, w u r d e aber gegen seinen Willen nach Ägypten mitgenommen. Das Andenken an Gedalja b e w a h r t das J u d e n t u m im „Fasten für G e d a l j a " auf, das am з . T i s c h r i begangen und mit Sach 7,5; 8,19 in Z u s a m m e n h a n g gebracht wird. Literatur Zu den zitierten Stellen und ihren Problemen vgl. hauptsächlich die Kommentare und die Darstellungen der Geschichte Israels, insbesondere: John H. Hayes/J. Maxwell Miller (ed.), Israelite and Judaean History, London 1977, 4 7 6 - 4 8 0 . Peter R. Ackroyd, Exile and Restoration, London 1 9 6 8 , 6 5 - 73. - Albrecht Alt, Die Rolle Samarias bei der Entstehung des Judentums: ders., KS, München, II 1953, 3 1 6 - 3 3 7 , bes. 329 Anm. 2. - Klaus Baltzer, Das Ende des Staates Juda u. die Messias-Frage: Stud. zur Theol. der atl. Überlieferungen. FS G. v. Rad, Neukirchen 1961, 3 3 - 4 3 . - Wilhelm Erbt, Jeremia u. seine Zeit, Göttingen 1902, 5 9 - 6 6 . Enno Janssen, Juda in der Exilszeit, 1956 (FRLANT69) 4 7 f . - Erhard Junge, Der Wiederaufbau des Heerwesens des Reiches Juda unter Josia, 1937 (BWANT75) 3 2 - 3 5 . 5 2 - 5 9 . 6 9 - 7 3 . - T i m o Veijola, Verheißung in der Krise, Helsinki 1982, 1 9 0 - 2 1 0 .
Siegfried H e r r m a n n Gedenktage —»Feste und Feiertage Geduld 1. Geduld in der griechisch-römischen Antike 2. Geduld als göttliche Vollkommenheit im biblischen Kontext 3. Geduld als menschliche Haltung 4. Geduld in der Alten Kirche und im Mittelalter 5. Geduld in der Emblematik 6. Geduld in der neueren Theologie und Philosophie (Quellen/Literatur S.143) Der Begriff „ G e d u l d " ist die Mitte eines Wortfeldes, zu dem vom antiken Ursprung her Worte wie
anadeia, axaga^ia, avraQxeia, aber auch Tapferkeit, Beständigkeit (xagregia, constantia), Großmut ()i(yaXoipvxia, /lanQoQvfxia, magnanimitas), Langmut (longanimitas), Ausdauer im —»Leiden {vno/xovfj, patientia), vom christlichen Ursprung her Begriffe wie Nachsicht {ävoxy), Langmut (uaXQoövptia) und Ausharren (ino^oviij) gehören. Vgl. dazu die lexikographische Bemerkung in Augustins
Sermo babitus Tuneba de patientia (PL. S 2,759): Mag man die Ausdrücke patientia oder sustinentia oder tolerantia
1. Geduld
gebrauchen, mit allen drei Worten bezeichnet man die gleiche Sache.
in der griechich-römischen
Antike
Welch zentrale Rolle die Tugend der Geduld bei den Griechen spielte, zeigt die Tatsache, d a ß zwei der beliebtesten Sagengestalten, Herakles und Odysseus, als Helden der Geduld gepriesen werden. H o m e r nennt Odysseus den „vielduldenden" (jioXvrXag; O d . V , 1 7 1 . 3 5 4 и. ö.; ähnlich Sophokles, Aj. 956). Herakles, der griechische Nationalheld, erlangte d a d u r c h unsterblichen R u h m , d a ß er so viele Leiden und Prüfungen bestand (Sophokles, Phil. 1 4 1 9 f ) . Geduld ist hier die D u r c h h a l t e k r a f t gegenüber den Schlägen der Götter (Euripides, Herc. 1227f), die Selbstbehauptung innerhalb einer heillosen Welt. - In R o m ü b e r n a h m e n Cicero, Seneca und Epiktet diese H a l t u n g des tragischen Helden, wobei etwa bei Cicero die Beziehung der Geduld zur Geschichtsmächtigkeit sichtbar wird, w e n n er feststellt: das Ideal ist, die größten Aufgaben und die größten Leiden auf sich zu nehmen, um alle Völker zu retten, nach dem M u s t e r des Herkules (off. 111,5,25). Cicero definiert die Geduld als honestatis aut utilitatis causa rerum arduarum ac difficilium voluntaria ac diuturna perpessio (inv. 11,54,163). In der griechischen Philosophie wird eine begriffliche Klärung versucht. —»Piaton empfiehlt, im Mißgeschick möglichst ruhig zu bleiben (rep. X , 6 0 4 b ) und durch die Kraft der vernünftigen Seele einem stärkeren Feind zu widerstehen (Lach. 1 9 0 e - 1 9 3 e ) . Geduld (vnofiovtj) ist hier gleichbedeutend mit Standhaftigkeit ( x a g r e g i a ) und bekundet die See-
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Geduld
lenstärke im Ertragen von Übeln. - Obwohl Geduld nicht zu den vier Haupttugenden bei -^»Aristoteles gehört, betont er doch deren Zusammenhang mit der Tapferkeit und dem sittlich Schönen (oder Guten), denn dem Beschwerlichen Widerstand zu leisten, setzt Tapferkeit und Geduld zugleich voraus (eth. Nie. III,12,1117a 3 2 - 3 5 ) . - In der—»Stoa wird Geduld eine der meistgenannten Nebentugenden der Tapferkeit; sie ist das Wissen, welche Dinge man ertragen und welche man nicht ertragen muß, oder die Tugend, die uns Herr werden läßt über Dinge, die uns als schwer erträglich erscheinen (SVF 111,67, Nr. 274). — In der jüngeren Stoa kann Geduld mit Resignation gleichgesetzt werden (ave^ixaxia) als Frustrationstoleranz, die sich in das Unausweichliche zu schicken weiß und darüber die Selbstbeherrschung nicht verliert. Sie ist die Tugend des Weisen, der „nichts erwartet, auf nichts hofft, sich selbst genügt" (Festugiere: RSR 21,484). Im Unterschied zum biblischen Denken gibt es hier weder Hoffnung noch Aussicht auf fremde Hilfe. 2. Geduld als göttliche
Vollkommenheit
im biblischen
Kontext
Während in der außerbiblischen Antike Geduld eine menschliche Tugend ist, ist sie in der Bibel primär eine der Vollkommenheiten Gottes, der „der in Freiheit Liebende" ist. „Geduld ist da, wo Einer einem Anderen in bestimmter Absicht Raum und Zeit gibt, wo Einer einen Anderen auf ihn wartend gewähren läßt" (K. Barth, KD II/l, § 30). Das Alte Testament sagt von Gott, er sei ,lang hinsichtlich des Zorns' ('äräk' apajim):Gott nimmt sich die Freiheit, langsam zu Zorneserweisungen zu sein, als der Herr der Zeit die Sünde der Menschen zu ertragen und ihre Umkehr abzuwarten (Ex 34,6f; Num 14,18; Neh 9,17; Joel 2,13; Jona 4,2; Nah 1,3; Ps 145,8). Gottes Langmut (fiaxQoGvfiia) ist das geheime Leitmotiv der Geschichte Israels und der innere Grund dafür, daß die gefallene Schöpfung dennoch im Dasein gehalten wird. Im nachexilischen Judentum wird die Langmut Gottes in Verbindung gebracht mit der Kurzlebigkeit und Schwäche der Menschen (Sir 18,9—11). Geduld wird zusammen genannt mit -H> Barmherzigkeit und —»Gnade, hat also mit Gottes Vergebung zu tun, die den sündigen Menschen die Chance eines Neuanfangs einräumt (Ps 86,15; 103,8; 145,8; Joel 2,13; Neh 9,17). Tritt keine Verhaltensänderung ein, ergeht das Gericht am Sünder (Ps. 7,12 f). Was sich allerdings in der Geschichte Israels an Strafen und Gerichten vollzieht, sind zeitliche und als solche zeichenhafte Ereignisse, aber noch nicht der Ausbruch des wirklichen Zornes und des endgültigen —»Gerichtes Gottes. In der pharisäischen Lehre von den ,zwei Maßen' Gottes, dem Maß der Barmherzigkeit (middat harahamin) und dem Maß des Gerichts {middathaddin), wirdüberdas Verhältnis von Zorn und Liebein Gott reflektiert, wobei es auf eine kasuistische Kompensation von Schuld und Sühne hinauslief. Diese Kompensationstheorie wird im Neuen Testament sowohl in der synoptischen wie in der paulinischen Tradition überwunden. Wenn Gott dem Sünder gegenüber Langmut übt (Lk 18,7; Rom 9,22; I Petr 3,20; II Petr 3 , 9 - 1 5 ) und Aufschub gewährt (Rom 3,26), so ist das kein verrechenbarer Ausgleich zwischen menschlichem und göttlichem Tun, sondern die menschliche Verfehlung ist so unermeßlich tief, daß es dafür vom Menschen her keinen Ausgleich gibt, wie seinerseits die göttliche Gnade reines Geschenk ist (Mt 1 8 , 2 3 - 3 5 ) . Bei —»Paulus wird die Beziehung von Geduld {^axgodvnia) und Gottesgerechtigkeit christologisch und eschatologisch vertieft, indem im Kreuz Christi sich Gottes Liebe und Zorn vollenden (Gal 3,13; Rom 8,3; I Kor 5,21) und zugleich Gottes Herrlichkeit offenbar wird (II Kor 5,17ff.). In der mystischen Tradition der jüdischen —»Kabbala ist die Geduld eines der 12 Attribute Gottes (longanimis), dem Omael, der 30. Genius oder Thronengel, zugeordnet ist. Dieser ist nach Ps 71,5 gegen Kummer und Verzweiflung anzurufen. 3. Geduld als menschliche
Haltung
Mit Recht unterscheidet Hauck (ThWNT 4,585 ff) zwischen Geduld in der Gottesrichtung und in der Weltrichtung. Geduld in der Gottesrichtung (vjioßovij) ist fast gleichbedeutend mit —> Hoffnung (Thr 3 , 2 2 - 2 6 ) . Diese ist im Alten Testament ein Kennzeichen des Frommen, der harrend und hoffend an Gott festhält, auch wenn innere und äußere Not ihn
Geduld
141
bedrängen (Ps 37,7). Geduld ist begründet einmal im Bundesgedanken (—»Bund), weil Gott seinen Verheißungen treu bleibt (Zeph 3,8), sodann in der eschatologischen Vision, an deren Erfüllung die Frommen teilhaben werden (Jes 25,9; H a b 2,3). Diese ,messianische Tugend' (Spanneut) findet sich auch im Neuen Testament als G r u n d h a l t u n g der Christen. Dabei ist Geduld nicht nur Nachfolge des im Leiden sich bewährenden Jesus, sondern Christus als der Wiederkommende ist selbst Gegenstand geduldiger Erwartung (II Thess 3,5; Apk 1,9). Die Bewährung in den Wehen der Endzeit wird von Lk (21,19) als ,Geduld' (vjiofiovri) bezeichnet (—»Perseveranz). Die ,Weltrichtung' der Geduld hat eine doppelte Richtung: Einmal bezieht sie sich auf Menschen, die schuldverfallen sind, sodann auf das Leiden, das die Frommen in dieser Weltzeit zu tragen haben. Die Aussagen der Bergpredigt über die —»Gewaltlosigkeit M t 5,38 f scheinen eine Auseinandersetzung mit der Einrede des Josephus zu sein, die Geduld züchte das Unrecht (Ant 6,284; vgl. Schlatter, M a t t h ä u s 187).Das Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 1 8 , 2 3 - 3 5 ) verdeutlicht, d a ß Geduld mit den Mitmenschen begründet ist in der Geduld, die G o t t mit uns hat, sich also als analoges Verhalten zum göttlichen bewähren soll. In diesem Sinn erscheint Geduld dann auch in den paulinischen Tugendkatalogen (I Kor 13,4; II Kor 6,6; Gal 5,22; Eph 4,2; Kol 3,12). In Tit 2,2 wird sie neben Glaube und Liebe als Zeichen des vorbildlichen Christen genannt. Die mystische Glaubensgemeinschaft mit dem Erlöser ermöglicht sowohl das Durchhalten in den gegenwärtigen Leiden wie die Teilhabe an der künftigen Gottesherrschaft (II Tim 2,12). D a ß sich die Gottes- und die Weltrichtung der Geduld wohl unterscheiden, aber nicht voneinander trennen lassen, zeigt im Alten Testament die Gestalt des —»Hiob, im Neuen Testament die Bereitschaft zum —»Martyrium. Seine Erwartung des göttlichen Eingreifens gibt H i o b die Kraft zum Durchhalten im Leiden (Hi 14,14; 19,25 ff; Jak 5,11). Im nachexilischen J u d e n t u m wird Geduld zum terminus technicus für die Standhaftigkeit des Märtyrers (bes. IV M a k k ) . Im Unterschied zur Stoa beruht solche Standhaftigkeit nicht auf innerseelischen Faktoren, sondern ist Ausdruck der Gottesfurcht und der Glaubenstreue der Frommen (vgl. II Petr 1,6), die Paulus auf Gott selbst zurückführt (Rom 15,5: Gott der Geduld = Gott, der Geduld verleiht). Im Hebr geht der Blick der verfolgten Gemeinde auf den Vorbild-Märtyrer Christus (12,2 f), im Jak auf die Propheten-Märtyrer (5,10), bis schließlich die Apk in 7facher Wiederholung die Geduld ( v n o ß o v r j ) als die notwendige Haltung der Gläubigen in den letzten Zeiten hervorhebt (13,10; 14,12). 4. Geduld in der Alten Kirche und im
Mittelalter
In der asketischen Literatur der Alten Kirche n i m m t die Geduld die Stelle einer H a u p t t u gend ein (Cyprian, bon. pat. 3.15.20; Tertullian, pat. 1 5 , 2 - 6 ; Gregor d. Gr., h o m . ev. 2,35: radix omnium custosque virtutum-, Nilus: Geduld ist die Königin der Tugenden; so noch bei —»Goethe, der sie „ein liebliches Gebild [von Glaube, Liebe, H o f f n u n g ] , eine Pandora im höheren Sinne" nennt, Maximen u. Refl., WA 2 1/42,219). Sie bringt himmlischen Lohn (Cyprian, ad.Fort. 13) und bedeutet Standfestigkeit in Trübsalen (Johannes Chrysostomus, h o m . de gloria in trib. 4, PG 5 1 , 1 6 2 ff), von denen —»Gregor d. Gr. drei Arten unterscheidet: solche, die von Gott k o m m e n , vom alten Widersacher und vom Nächsten (hom. ev. 35,9). Immer wieder wird betont, daß sie ein Stück der —»Nachfolge des geduldigen Jesus ist (Tertullian, pat. 3; Ambrosius, Luc. 10,97; Augustin, serm. 284,6; Ps.-Macarius, hom. 12,4; pat. 15; Zosimos, Alloquia 5; Gregor d. Gr., h o m . ev. 16,3). Wenn Ungeduld das Zeichen der Sünde ist, dann Geduld ein Zeichen des Guten (Tertullian, pat. 1 5 ) . - I n den Märtyrerakten ist Geduld vor allem Tapferkeit im Ertragen des Martyriums, die schließlich die Tyrannen entwaffnet (Eusebius v. Cäsarea, h. e. 5,1,27.39), wobei im späteren -H>Mönchtum die Versuchungen und — oft selbstgewählten - H ä r t e n der monastischen Existenz die Stelle der früheren Martyrien einnehmen (vgl. Pachomius, C S C O 160; Gregor d. Gr., h o m . ev. 32,5). Dazu gehört auch das Ertragen der Bösen, die, wie Dornen unter Rosen, sich unter den Guten finden (Gregor d. Gr., h o m . ev. 38,7), des Verlustes lieber Angehöriger (Tertullian, pat.
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Geduld
9), Statthaftigkeit in Krankheiten (Gregor v. Nazianz, ep. 36) und irdisches Leiden (Hieronymus, ep. ad Julianum, 118), in denen ein Christ Strafe für die Sünden erkennt (Gregor d.Gr., mor. 13,32). In der Seelsorge wird betont, daß es unmöglich sei, ohne Geduld Frucht zu bringen (Gregor d. Gr., hom. ev. 15,4). Ausharren in zeitlicher Trübsal erspart uns die ewige Pein (Johannes Moschus, prat. 141). Geduld ist mit der ^»Demut verwandt (Gregor d. Gr., mor. 2 3 , 1 8 , 3 3 ) und schafft Buße (Tertullian, pat. 1 3 , 1 - 4 ) . Es ist zu beobachten, wie sich genuin christliche Motive, wie Hoffnung auf die himmlische Herrlichkeit und Kreuzesnachfolge, mit antiken mischen. So charakterisiert der .erste christliche Theoretiker der Geduld' (Spanneut), —»Hermas, diese als ,heiter, fröhlich und sorglos' und stellt sie dem Jähzorn (ö^vxolia) gegenüber (Herrn, mand. 5,1,2). Bei —»Tertullian gehört zur Geduld Gleichmut, Gelassenheit (aequanimitas) und Schmerzfreiheit (pat. 3 , 1 0 ; 14,5; 15,6; vgl. cuiädeia bei ^ E v a g r i u s [Ps.-Nilus] mal. cog. 12 usw.). -h» Thomas von Aquino modifiziert die Aussage Gregors (patientia = radix et custos omnium virtutum) dahin, daß Geduld Tugend zwar nicht verursache oder bewahre, wohl aber Hindernisse beseitige (S. th. 2 / 2 , q. 136, a.2.3). Obwohl siezwar nicht zu den vier Haupttugenden zählt, schafft sie doch die Bedingung der Möglichkeit für diese, etwa indem sie die Traurigkeit und Resignation beseitigt und so Raum schafft für das Gute. Wenn es auch heidnische Beispiele gibt für Geduld, so kann es doch echte Geduld, die sich nicht nur auf zeitliche Güter bezieht, sondern auf die zukünftigen und ewigen, nicht ohne Gnade geben. Geduld gilt Thomas als potentieller Teil der Tapferkeit (a. 4), unterscheidet sich aber von der Langmut (longanimitas) dadurch, daß letztere diejenigen Sünder erträgt, die nicht aus Vorsatz, sondern aus Unwissenheit gesündigt haben, während die Geduld (patientia) den Sündern gilt, die aus Ubermut (superbia) gesündigt haben (a. 5). Die politische Bedeutung der Geduld sieht Thomas, wie vor ihm schon —»Augustin und nach ihm -H. Luther, darin, daß sie das Geheimnis des christlichen Sieges über die Ungläubigen ist, denn nicht der aktive Widerstand oder äußere Gewaltanwendung haben das römische Volk zum Glauben bekehrt, sondern weil die Christen den Tod geduldig und mutig auf sich nahmen (De reg. princ. 1,7). Nicht zu Unrecht behauptet Karl Holl (Die Bedeutung der großen Kriege für das rel. u. kirchl. Leben innerhalb des dt. Protestantismus: ders., GAufs. zur KG, Tübingen, III ' 1 9 2 8 , 3 0 2 - 3 8 4 ) , daß es zu den Großtaten Luthers gehört, den echten Sinn der christlichen Geduld wieder ans Licht gebracht zu haben. Im Gegensatz zur stoischen Abflachung ist ihm Geduld mehr als bloßes Aushalten. „Christliche Geduld bedeutet: an die Liebe Gottes glauben trotz des schreienden Widerspruchs der Erfahrung, ja das grausam erscheinende Leiden selbst als einen Erweis der göttlichen Liebe freudig bejahen" (313). Es gehört zu den Verdiensten der lutherischen —»Orthodoxie, dies dem Volk einleuchtend gemacht und ihm damit das Durchhalten in den Greueln des —»Dreißigjährigen Krieges ermöglicht zu haben.
5. Geduld in der —>Emblematik Als Symboltier der Geduld gilt das Schaf (vgl. A. Comenius, Orbis pictus, 1658, Abb. 114). Der Widder dagegen zeigt deren Grenzen auf; wenn er einen Knaben angreift, der ihn gereizt hat, steht das für die Maxime: Allzu sehr verletzte Geduld wird oft zur Wut, daher kränke die Gutmütigen, die auch dich nicht kränken, nicht allzuoft. Als Rat an die Fürsten gilt: Wie der dornige Rosenbusch zeigt, muß man warten können und Geduld haben, bis der Erfolg sich zeigt. Das Bild vom Manne, der Disteln durchschreitet, zeigt, daß „im Unglück die Geduld sich der Mühsal freut und sie gewinnt angemessenen Trost selbst aus dem Unheil". Wie der Schwamm geduldig das Wasser aufsaugt und das Wasser ihn ganz füllt, so sollen die Guten das unverschuldete Leid ertragen: „Geduld alles überwindt/Und endlich auch zum Siegen dient". Die Palme ist Symbol für Geduld, weil sie dank ihrer Elastizität und Festigkeit auch in Stürmen nicht zerbricht (vgl. Ovid, ars 11,178). Diese Beispiele zeigen, wie sich in der Emblematik antike Lebensweisheit mit christlichem Hoffnungspotential verbündet hat.
Geduld 6. Geduld
in der neueren
Theologie
und
143
Philosophie
Mitten im Vordringen der Diesseitigkeit entdeckt S. A. —> Kierkegaard die Bedeutung der Geduld als des Mittels, seine Seele zu bewahren (nach Lk 21,19) und die Ewigkeit zu gewinnen. — Der katholische Denker von Hildebrand unterscheidet verschiedene Formen von Geduld — die phlegmatische Anlage, den stoischen Gleichmut, der sich durch nichts aus der Fassung bringen läßt, die ergebene Hinnahme alles Geschehens im —»Buddhismus und die heilige Geduld, die Übergabe seiner selbst an Gott und ein Wartenkönnen hinsichtlich der Früchte der Reich-Gottesarbeit ist. „Nur der Geduldige, der aus Christus lebt, kann ausharren bis ans Ende" (232). In der neueren Philosophie kennen sowohl M. —>Heidegger wie K. -h. Jaspers den Begriff der Gelassenheit. Sie ist „die Ruhe der Seinsgewissheit" (Jaspers, Phil. 544), wobei das Dulden das Sein trotz des Scheiterns erträglich macht. Ähnlich sieht O. F. Bollnow in seinem Versuch einer Uberwindung des —» Existentialismus Sartrescher Prägung die positive Bedeutung der Geduld als einer Haltung, die letztlich nicht nur in der christlichen Hoffnung begründet ist, sondern in einer vom Seinsvertrauen getragenen „Weltfrömmigkeit". Sie ist ihm mit ^ G o e t h e nicht reine Passivität oder Lethargie, sondern „die höchste Kraft, nur nach innen gewandt". Im Gegensatz zu den erwähnten Strömungen stehen die vom Marxismus beeinflußten modernen Philosophien der Geduld ausgesprochen negativ gegenüber. E. —»Bloch (Atheismus im Christentum, 1968) perhorresziert das lutherische ,Kreuz, Kreuz, Leiden, Leiden', also die passive Dulderhaltung, die alles mit sich machen läßt, während doch der Mensch dazu bestimmt sei, sich durch eigene Aktion aus dem Objekt der Geschichte zu deren Subjekt emporzuarbeiten. Hier wird richtig gesehen, daß Geduld in der Tat nur eine ,Teiltugend' ist und nicht das Ganze des menschlichen Weltverhältnisses umgreift. Diese Einsicht wird geschichtlich erst möglich, da die Menschen ihr Verhältnis zur Natur und zur Mitwelt nicht mehr nur durch Schicksal oder göttliche Vorsehung unveränderlich festgelegt begreifen, sondern mittels der Vernunft und dem damit verbundenen Fortschritt sich imstande sehen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Hierzu bedarf es aber der Ungeduld, die sich nicht mit den gegebenen Verhältnissen abfindet, sondern nach Innovation drängt. Diese für die europäisch-amerikanische Gesellschaft seit der —> Aufklärung typische Einstellung hat allerdings die Tendenz, dieses neue Weltverhältnis auch auf das Gottesverhältnis zu übertragen oder dieses ganz zu übersehen ( —»Säkularisierung), was zu der Hybris führt, alles für machbar und beherrschbar zu halten. In dieser Situation gewinnt Geduld als Einsicht in die Grenzen menschlicher Weltveränderung und als gelassene Hinnahme des Unerforschlichen und Unveränderbaren einen neuen Stellenwert. Quellen A m b r o s i u s , D e offieiis m i n i s t r o r u m 1 , 3 6 : P L 1 6 , 8 1 - 8 4 . - (Ps. - ) A t h a n a s i u s , S e r m o de p a t i e n t i a : P G 2 6 , 1 2 9 7 - 1 3 0 9 . - A u g u s t i n , D e p a t i e n t i a , h g . u. ü b e r s , v. G . C o m b è s , P a r i s , II 1 9 4 8 , 5 2 5 - 5 7 7 ; dt.: W ü r z b u r g 1 9 5 6 . - D e r s . , S e r m o h a b i t u s T u n e b a de p a t i e n t i a : P L . S 2 , 7 5 7 - 7 6 9 . - D e r s . , S e r m o 2 8 4 , 6 : P L 3 8 , 1 2 9 2 . - C l e m e n s von A l e x a n d r i e n , M a h n r e d e zur G e d u l d : G C S 1 7 , 2 2 1 - 2 2 3 . - C y p r i a n von K a r t h a g o , D e b o n o p a t i e n t i a e : C C h r . S L 3 , 1 1 5 - 1 3 3 . - E n c h i r i d i o n A s c e t i c u m , hg. v. M . J . R o u e t / J . D u t i l l e u l , F r e i b u r g 1 9 3 6 5 1 9 5 8 . - G r e g o r d. 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L e h r e r der K i r c h e . . . d a ß ein C h r i s t das K r e u z , so i h m v o n G o t t aufgelegt ist, m i t G e d u l d t r a g e n soll ( 1 5 3 0 ) W A 3 2 , 5 4 7 f . - D e r s . , Predigt a m S o n n t a g C a n t a t e ( 1 5 3 6 ) : W A 4 1 , 5 7 8 - 5 9 0 . - D e r s . , E i n e Predigt v o m Z o r n ( 1 5 3 4 ) : e b d . 7 4 3 - 7 5 2 . - P r u d e n t i u s , P s y c h o m a c h i a , hg. u. ü b e r s , v. U. E n g e l m a n n , F r e i b u r g 1 9 5 9 . - F r a n z v. S a l e s , I n t r . à la vie d é v o t e , A n n e c y 1 6 0 8 : d e r s . , O e u v r e s c o m p l è t e s , Paris, III 1 8 8 4 , 3 7 5 - 5 5 8 ; dt. v. O t t o K a r r e r , M ü n c h e n 1 9 6 1 . T e r t u l l i a n , D e p a t i e n t i a : C C h r . S L 1 / 1 , 2 9 7 - 3 4 0 . - Z e n o v. V e r o n a , 6 . T r a k t a t : P L 1 1 , 3 1 1 B - 3 1 8 B . Zosimos, Alloquia 5: PG 7 8 , 1 6 8 8 C.
Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge
144 Literatur
Karl Barth, KD I I / l , §§ 2 9 / 3 0 . - H e r m a n n Bezzel, Vom großen stillen Gesetz der Geduld: N e u b a u 7 (1952) 2 - 7 . - Ambrosius de Boissieu, La patience enseignée p a r les saints, Paris 1926. - O t t o Friedrich Bollnow, Die T u g e n d der Geduld: Die Sammlung 7 (1952) 2 9 6 - 3 0 4 . - Ders., Neue Geborgenheit, Stuttgart 1955, 6 5 - 8 0 . - A r t h u r Carr, T h e patience of Job: Exp. 8 / 6 (1913) 5 1 1 - 5 1 7 . - L u d e n Cerf a u x , Fructifier en s u p p o r t a n t (l'épreuve). A p r o p o s de Luc VIII, 15: RB 64 (1957) 4 8 1 - 4 9 1 . - Célestin Charlier, Le livre de la patience: BVC 8 (1954/55) 3 / 5 4 . - T h o m a s D e m a n , La théologie de l ' v j t o f i o v r j biblique: D T 3 5 (1932) 3 0 - 4 8 . - A n d r é M a r i e - J e a n Festugière, La sainteté, Paris 1942 "1949. - D e r s . , 'Ynofiovtj dans la tradition grècque: R S R 2 1 (1931) 4 7 7 - 4 8 6 . - J e a n Claude Fredouille,Tertullien et la conversion de la culture antique, Paris 1972, 3 6 3 - 4 1 0 . - R e n é - A n t o n i n Gauthier, Magnanimité; l'idéal de la grandeur dans la philosophie païenne et dans la théologie chrétienne, 1951 (BiblThom 28). - Gerbert Geyer, Die Geduld. Vergleichende Unters, der Patientia-Schriften v. Tertullian, Cyprian u. Augustinus. Ungedr. Magisterarbeit W ü r z b u r g 1963. - Etienne Gilson, La vertu de patience selon St. T h o m a s et St. Augustin: A H D L 15 (1946) 9 3 - 1 0 4 . - Friedrich H a u c k , Art. îmofiovjj: T h W N T 4 (1942) 5 8 5 - 5 9 3 . - M a r t i n Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1 9 5 9 . - J o h n Hennig, Das Wesen der Geduld im Licht der Liturgie: G u L 3 7 (1964) 2 4 4 - 2 5 0 . - Dietrich v. Hildebrand, Die Umgestaltung in Christus: ders., G W , Regensburg, X 5 1 9 7 1 , Die heilige Geduld ( 2 1 9 - 2 3 2 ) . - H e r m a n n H o r n , Uber die Geduld: Päd. Rdsch. 2 2 (1968) 6 8 9 - 6 9 6 . - J o h a n n e s H o r s t , kn.iia.XQo6vnia usw.: T h W N T 4 (1942) 3 7 7 - 3 9 0 . - Ulrich Knoche, M a g n i t u d o animi. Unters, zur Entstehung eines röm. Wertgedankens, 1935 (Ph.S 27/3). - H a n s Jürgen Kunick, Der lat. Begriff patientia bei Laktanz, Diss. Freiburg 1955. E d u a r d Landolt, Gelassenheit di M a r t i n Heidegger, M a i l a n d 1967. - Dietrich L a n g - H i n r i c h s e n , Die Lehre v. der Geduld in der Patristik u. bei T h o m a s v. Aquin: G u L 24 (1951) 2 0 9 - 2 2 2 . - Marie-Joseph Le Guillou, Lesens du temps et de la patience: VS 88 (1953) 3 0 - 3 7 . - J o h a n n e s Baptista Lötz, Von der Geduld: GuL 31 (1958) 1 6 1 - 1 6 5 . - Ulrich Luck, Weisheit u. Leiden: T h L Z 92 (1967) 2 5 4 - 2 5 8 . T. W. Meikle, The Vocabulary of Patience in the O T : Exp. 8 / 1 9 (1920) 2 1 9 - 2 2 5 . - D e r s . , Patience in the N T : ebd. 3 0 4 - 3 1 5 . - Wilhelm Pesch/Robert Schlund/Josef Kürzinger, Art. Geduld: LThK" 4 (1960) 5 7 4 - 5 7 7 . - Josef Pieper, V o m Sinn der Tapferkeit, M ü n c h e n M954. - M . Alain Piot, Hercule chez les poètes du I e r siècle après Jésus-Christ: REL 4 3 (1965) 3 4 2 - 3 5 8 . - Johannes van der Ploeg, L'espérance dans l'AT: RB 61 (1954) 4 8 0 - 5 0 7 . - M a r t i n Pörksen, Geduld, Breklum ' M 9 7 9 . - Erich Przywara, Vom Sinn der Geduld: Z A M 15 (1940) 1 1 4 - 1 2 3 . - Karl Rahner, Bewährung in der Zeit der Krankheit: Sehr, zur Theol., Einsiedeln, VII 1966, 2 6 5 - 2 7 2 ; ders., Selbstverwirklichung u. A n n a h m e des Kreuzes: ebd., VIII 1967, 3 2 2 - 3 2 6 . — Lorenzo Alcina Rossello, Dinámica de la paciencia: REspir 2 4 (1965) 5 1 9 - 5 5 0 . - M a r t i n Skibbe, Die ethische Forderung der patientia in der patristischen Literatur v. Tertullian bis Pelagius, Diss. M ü n s t e r 1965. - Michel Spanneut, Patience et temps chez S. Cyprien de Carthage: M S R 2 3 (1966) Suppl. Bd. 7 / 1 1 . - Ders., Tertullien et les premiers moralistes africains, Paris 1969. — Ders., Le stoicisme des pères de l'église. De Clément de R o m e à Clément d'Alexandrie, 1969 (PatSor 1). - Ders., Art. Geduld: R A C 9 (1973) 2 4 3 - 2 9 4 (Lit.). - Bernard Spicq, Patientia: RSPhTh 19 (1930) 9 5 - 1 0 6 . - J o h a n n e s Stelzenberger, Die Beziehungen der frühchristl. Sittenlehre zur Ethik der Stoa, M ü n c h e n 1933. - Marcel Viller/Karl R a h n e r , Aszese u. Mystik in der Väterzeit, Freiburg 1939. - Karl W e n n e m e r , Die Geduld in ntl. Sicht: G u L 3 6 (1963) 3 6 - 4 1 . H e i n z - H o r s t Schrey
Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge 1. Geschichte 1.
2. Neuere Fragestellungen
3. Institutionen
(Literatur S. 147)
Geschichte
D i e T a t s a c h e , d a ß d i e ersten C h r i s t e n g e m e i n d e n in S a c h e n G e f a n g e n e n s e e l s o r g e e i n e n für u n s e r V e r s t ä n d n i s u n e i n d e u t i g e n S t a n d p u n k t vertreten h a b e n , ist n i c h t a u f e i n e U n k l a r heit d e s Neuen
Testaments
z u r ü c k z u f ü h r e n . D i e s e s s p r i c h t i m Blick auf d e n U m g a n g m i t
Straftätern eine v e r g l e i c h s w e i s e e i n d e u t i g e S p r a c h e . — N e b e n Jesu G e b o t d e r
Feindesliebe
( M t 5 , 4 3 - 4 8 ) ist der „ k l a s s i s c h e T e x t " der G e f a n g e n e n s e e l s o r g e M t 2 5 , 3 7 - 3 9 . A u c h M t 1 8 , 2 1 par. ( Z u s a m m e n h a n g v o n V e r g e b u n g s b e d ü r f t i g k e i t u n d V e r g e b u n g s b e r e i t s c h a f t ) g e h ö r t hierher. D a s N e u e T e s t a m e n t w e i s t a u c h T e x t e a u f , die m a n als „ R e s o z i a l i s i e r u n g s b e richte" b e z e i c h n e n k ö n n t e . D a z u g e h ö r e n der -H>Philemonbrief, in d e m der V o r g a n g d e r V e r m i t t l u n g i m V o r d e r g r u n d s t e h t , J o h 8 , 1 — 1 1 , w o der s e e l s o r g e r l i c h e U m g a n g Jesu m i t d e m g e s e l l s c h a f t l i c h e n S t r a f v e r l a n g e n d e u t l i c h w i r d , s o w i e Lk 1 9 , 1 - 1 0 als ein Beispiel f ü r die W i r k w e i s e der b e d i n g u n g s l o s e n , d i r e k t e n A n s p r a c h e des A s o z i a l e n . - Im G e g e n s a t z
Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge
144 Literatur
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2. Neuere Fragestellungen
3. Institutionen
(Literatur S. 147)
Geschichte
D i e T a t s a c h e , d a ß d i e ersten C h r i s t e n g e m e i n d e n in S a c h e n G e f a n g e n e n s e e l s o r g e e i n e n für u n s e r V e r s t ä n d n i s u n e i n d e u t i g e n S t a n d p u n k t vertreten h a b e n , ist n i c h t a u f e i n e U n k l a r heit d e s Neuen
Testaments
z u r ü c k z u f ü h r e n . D i e s e s s p r i c h t i m Blick auf d e n U m g a n g m i t
Straftätern eine v e r g l e i c h s w e i s e e i n d e u t i g e S p r a c h e . — N e b e n Jesu G e b o t d e r
Feindesliebe
( M t 5 , 4 3 - 4 8 ) ist der „ k l a s s i s c h e T e x t " der G e f a n g e n e n s e e l s o r g e M t 2 5 , 3 7 - 3 9 . A u c h M t 1 8 , 2 1 par. ( Z u s a m m e n h a n g v o n V e r g e b u n g s b e d ü r f t i g k e i t u n d V e r g e b u n g s b e r e i t s c h a f t ) g e h ö r t hierher. D a s N e u e T e s t a m e n t w e i s t a u c h T e x t e a u f , die m a n als „ R e s o z i a l i s i e r u n g s b e richte" b e z e i c h n e n k ö n n t e . D a z u g e h ö r e n der -H>Philemonbrief, in d e m der V o r g a n g d e r V e r m i t t l u n g i m V o r d e r g r u n d s t e h t , J o h 8 , 1 — 1 1 , w o der s e e l s o r g e r l i c h e U m g a n g Jesu m i t d e m g e s e l l s c h a f t l i c h e n S t r a f v e r l a n g e n d e u t l i c h w i r d , s o w i e Lk 1 9 , 1 - 1 0 als ein Beispiel f ü r die W i r k w e i s e der b e d i n g u n g s l o s e n , d i r e k t e n A n s p r a c h e des A s o z i a l e n . - Im G e g e n s a t z
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hierzu m u ß t e sich di e Alte Kirche erst über J a h r h u n d e r t e zu dieser Eindeutigkeit im U m g a n g mit Straftätern d u r c h r i n g e n . Das hatte G r ü n d e . Die —> Christen Verfolgungen in den ersten J a h r h u n d e r t e n h a b e n die christlichen G e m e i n d e n d u r c h die G e f a n g e n s c h a f t vieler Schwestern und Brüder frühzeitig mit d e m d a m a l i g e n H a f t w e s e n in B e r ü h r u n g g e b r a c h t . So d ü r f t e die erste christliche G e f a n g e n e n s e e l s o r g e / - f ü r s o r g e (Loskauf, materielle Hilfe, geistlicher Trost) im wesentlichen den aus G l a u b e n s g r ü n d e n verfolgten u n d eingekerkerten Gemeindegliedern gegolten h a b e n . W ä h r e n d materielle Hilfen auch die ersten Ansätze einer allgemeinen Gefangenenseelsorge darstellten (soweit das vorliegende Q u e l l e n m a t e r i a l hier überh a u p t A u s k u n f t gibt), scheint der geistliche T r o s t z u n ä c h s t eine spezifische Art der Hilfe f ü r gefangene G l a u b e n s b r ü d e r gewesen zu sein. Erst in späteren J a h r h u n d e r t e n diente er zun e h m e n d als Vorbild f ü r die allgemeine Gefangenenseelsorge. Beispiele f ü r geistlichen T r o s t finden wir bei —»Tertullian u n d —»Cyprian. N o c h im Kampf gegen die ungerechte Kriminalisierung der Christen vermitteln sie den eingekerkerten Brüdern eine feste U b e r z e u g u n g von innerer Freiheit. Der Kerker, exemplarisch f ü r die Welt, ist eine „ S c h u l e " . H i m m l i s c h e r L o h n steht in Aussicht. Ein J a h r h u n d e r t s p ä t e r finden wir bei —»Ambrosius bereits ausgesprochen p r a x i s n a h e Ä u ß e r u n g e n zum G e f a n g e n e n p r o b l e m ( G e f a n g e n s c h a f t als ö k o n o m i sches bzw. als M a c h t p r o b l e m ; Fragen n a c h einer effektiven, möglichst s a n f t e n B e h a n d l u n g d e r T ä t e r ; Blick auf die allein h a f t b e d i n g t e N o t ) . N o c h u m einiges a u s f ü h r l i c h e r werden die Überlegungen —»Augustins, der die bischöfliche F ü r s p r a c h e (s.u.) b e g r ü n d e t (Die Bischöfe legen Fürsprache ein „als Sünder f ü r Sünder . . . b e i . . . S ü n d e r n " ) . Der Begriff des Verbrechens wird von i h m zum erstenmal in Analogie z u m Krankheitsbegriff (—»Krankheit) gebracht. Da Verbrechen u n d —> Rache auf einer Stufe stehen, m u ß er die T o d e s s t r a f e ablehnen. Augustin h a t auch z u m erstenmal das Verhältnis zwischen —»Kirche u n d Staat im Strafvollzug ausführlich d u r c h d a c h t (eine Art Ergänzungsverhältnis; gegenseitige K o r r e k t u r ; —»Strafe, —»Strafrecht). - N a c h der Konstantinischen W e n d e ist eine z u n e h m e n d e Institutionalisierung der Gefangenenseelsorge zu b e o b a c h t e n . Inhaltlich bedeutete das aber einen Rückschritt von der Seelsorge zur Fürsorge, die soeben gelungene „ I d e n t i f i k a t i o n " mit allen G e f a n g e n e n findet hier erste E i n s c h r ä n k u n g e n . D e n n o c h zeigt die kaiserliche Gesetzgebung im 4. u. 5. Jh. einen deutlich mildernden Einfluß des C h r i s t e n t u m s auf das Strafwesen. Bes o n d e r e kirchliche Möglichkeiten, in den Strafvollzug einzugreifen, w a r e n in d e r Zeit der Alten Kirche: Kirchliches —>Asylrecht, österliche G n a d e n b e z e i g u n g (Indulgenz), bischöfliches Interzessionsrecht. Der H a u p t s i n n der Interzession lag in der Besserung des Straftäters auf d e m Wege der—»Buße; d a h e r galt die F ü r s p r a c h e v o r allem der A b w e n d u n g von Todesstrafen. — Die kirchliche Bußdisziplin f ü h r t e im Mittelalter z u m Teil zu einem alternativen Verhältnis von Staat u n d Kirche im Strafwesen. Dies f ü h r t e im R a h m e n der Kirche d a n n wieder m e h r zu einem s t r a f e n d e n als einem heilenden U m g a n g mit S t r a f t ä t e r n . Es g a b kirchliche Gerichte (—»Gerichtsbarkeit, kirchliche), die B u ß s t r a f e n u n d Klosterhaft v e r h ä n g t e n . Im Mittelalter t r a t die amtliche Seelsorge im S t r a f w e s e n fast ganz in den H i n t e r g r u n d , umsom e h r entfalteten sich freiwillige christliche Initiativen. Es e n t s t a n d e n religiöse O r d e n u n d - ^ B r u d e r s c h a f t e n , die sich u m den Loskauf (Kriegs-)Gefangener u n d deren materielle Unterstützung verdient m a c h t e n (Trinitarier, N o l a s k e r u.a.). Vereinzelt (z.B. in -^»Nürnberg) g a b es „ L o c h k a p l ä n e " , die die V o r b e r e i t u n g der H i n z u r i c h t e n d e n auf den T o d ü b e r n a h m e n . Erst gegen Ende des 17. Jh. g a b es in den meisten deutschen Z u c h t - u. Arbeitshäusern Einrichtungen f ü r Seelsorge, Gottesdienst u. Unterricht. Einzelpersonen m a c h t e n sich in i h r e m Einsatz f ü r G e f a n g e n e verdient: C. —»Borromeo d u r c h die kirchliche R e f o r m des M a i l ä n d e r Strafvollzugs, F. v. Spee (gest. 1635) d u r c h seinen K a m p f gegen den H e x e n w a h n , -H> Vinzenz v. Paul, der im 17. J h . eine u m f a s s e n d e kirchliche Betreuung f ü r die Galeerensträflinge in Frankreich a u f b a u t e . - In den -H>Kirchenordnungen der Reformationszeit g a b es Ansätze zu einer kirchlich g e o r d n e t e n Gefangenenseelsorge. Der A n s p r u c h der T o d e s k a n d i d a t e n auf R e i c h u n g des A b e n d m a h l s w u r d e festgelegt. — Im modernen Sinne w u r d e die Gefängnisseelsorge erst zu einer a k u t e n A u f g a b e , als die Freiheitsstrafe als Mittel der Rechtspflege ihre h e u t e noch bestehende Stellung e i n n a h m . Seit d e m 17. J h . w u r d e „ E r z i e h u n g d u r c h A r b e i t " z u m neuen Ziel des Strafvollzugs. Dabei g e w a n n die religiöse Betreuung g r o ß e Bedeutung.
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Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge
John H o w a r d (1726—1790) bewirkte die Konkretisierung eines von seelsorgerlichen Überlegungen getragenen Erziehungsvollzugs im sog. „pennsylvanischen System". Heinrich Balthasar Wagnitz ( 1 7 5 5 - 1 8 3 8 ) , Zuchthausprediger in Halle, forderte zum ersten Mal eine systematische Ausbildung der Beamtenschaft. Der katholische Seelsorger Vinzenz Eduard Milde (1777—1853) schrieb im Jahr 1818 seine Anleitung zur Seelsorge in Strafhäusern, in der er von dem Geistlichen gründliche psychologische Kenntnisse und die Erforschung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers fordert. Währenddessen begründete Elisabeth Fry ( 1 7 8 0 - 1 8 4 5 ) in England die religiös-pädagogisch ausgerichtete Gefangenenfürsorge. Sie übte einen wesentlichen Einfluß auf Th. —»Fliedner und Joh. H . —»Wichern aus. Th. Fliedner war Mitbegründer der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft (1826), die für jede christliche Konfession einen eigenen Anstaltsgeistlichen sowie einen Lehrer auf Kosten der Gesellschaft einstellte. J . H . Wichern bildete Brüder des Rauhen Hauses zum Gefängnisdienst aus. Sein groß angelegter Versuch, das Zellengefängnis M o a b i t ganz in die Hände christlich geschulten Personals zu legen, scheiterte schließlich. Dennoch sind seine Schriften zur Gefängnisreform bis heute in vielem grundlegend. Einen anderen Weg als Wichern schlug Carl Krohne ( 1 8 3 6 - 1 9 1 3 ) ein, der, ehemals Seelsorger der Strafanstalt Vechta, dort die Rolle des Anstaltsleiters ü b e r n a h m (1873). Er nutzte den Einfluß seiner Stellung, um die Einzelhaft nach und nach in allen preußischen Gefängnissen einzuführen. 2. Neuere
Fragestellungen
Z u Beginn des 20. Jh. gab es wenig klare Prinzipien f ü r die Praxis des Strafvollzugs und auch nicht f ü r die Seelsorge. W ä h r e n d es bis zum Ende des 19. Jh. der Gefängnisseelsorge fast ausschließlich um grundlegende Veränderungen in Richtung auf einen humaneren Strafvollzug ging, traten im 20. Jh. Einzelprobleme in den Vordergrund. So wurden bis zum Beginn des 2. Weltkriegs Fragen der Z u o r d n u n g von —»Kirche und Staat im Strafvollzug oder die Frage der Willensfreiheit heftig diskutiert. Auf juristischer Seite gab es bisweilen Ängste vor einem zu starken kirchlichen Einfluß auf das Strafwesen. — Im Dritten Reich wurde die Entwicklung des Strafwesens sehr verzögert bzw. erlebte die bekannten Rückschläge von Inhumanität. Die Vorbereitung auf Hinrichtungen wurde wieder zu einem regulären Dienstauftrag f ü r Gefängnisseelsorger. Seelsorge als eine wesentliche Möglichkeit des Heilens trat in den Hintergrund. - In der Gefangenenseelsorge der Gegenwart spielen neue Fragen eine Rolle, d . h . neu zurückgekehrte. Die allgemeine Seelsorgebewegung, hervorgerufen durch den neuen Zweig der Pastoralpsychologie, hat die Frage nach dem Seelsorger wieder in den Vordergrund gestellt. Die Frage nach der individuellen Motivation zur Arbeit im Strafvollzug gewinnt mehr Bedeutung, auch die Frage nach der inneren Affinität von Gefangenen und Seelsorgern. Die Frage der Z u o r d n u n g von Fürsorge und Seelsorge tritt immer wieder in den Vordergrund. Die Praxis lehrt, d a ß neuere Seelsorgekonzepte, die sprachlich mittelschichtsorientiert sind, im Strafvollzug seltener als in der sonstigen kirchlichen Beratungsarbeit (—»Beratung) als Angebot vermittelt werden k ö n n e n . Seelsorger im Strafvollzug können sich den sozialen Problemen der Insassen ebensowenig entziehen wie den institutionsbedingten Z w ä n g e n , unter denen nicht n u r die Insassen, sondern alle im Strafvollzug Tätigen leiden. Alle diese neu aufgetretenen Probleme haben in den letzten Jahren eine rege Diskussion über Möglichkeit und Notwendigkeit einer speziellen Fortbildung für Seelsorger im Strafvollzug in Gang gesetzt (vgl. Richtlinien der EKD: Seelsorge in Justizvollzugsanstalten). 3.
Institutionen
Haupt- und nebenamtliche Gefängnisseelsorger in der Bundesrepublik und West-Berlin sind organisiert in ihrer Bundeskonferenz und ihren Regionalkonferenzen (Zs.: Mitteilungsblätter). Z . Z t . gibt es einen EKD-Beauftragten für Fragen der Seelsorge im Strafvollzug. Die römisch-katholischen Gefängnisseelsorger haben sich in der „Konferenz der katholischen Strafanstaltsgeistlichen" (Zs.: Mitteilungen) zusammengeschlossen. — N a c h den Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen muß,
Gefangenenfiirsorge/Gefangenenseelsorge
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wenn sich in einer Anstalt eine a u s r e i c h e n d e Z a h l v o n G e f a n g e n e n derselben Religionsgemeinschaft befindet, ein o r d i n i e r t e r Geistlicher dieser R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t bestellt o d e r zugelassen w e r d e n . Keinem G e f a n g e n e n d a r f es v e r w e i g e r t w e r d e n , an einen ordinierten Geistlichen irgendeiner R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t h e r a n z u t r e t e n . Literatur Günter Altner/Erich Anders (Hg.), Die S ü n d e - d a s Böse - die Schuld aus theol., ärztlicher u. soziologischer Sicht, Stuttgart 1971. - W. J . Berger, Was kann die allg. Seelsorge v. der Gefängnisseelsorge lernen?: W z M 28 ( 1 9 7 6 ) 2 3 6 - 2 4 0 . - Hermann Bianchi, Ethik des Strafens, Neuwied/Berlin 1 9 6 6 . Ders., Das Tsedeka-Modell als Alternative zum traditionellen Strafrecht: Z E E 18 (1974) 8 9 - 1 1 0 . Wilhelm Bitter (Hg.), Heilen statt Strafen. Tagungsbericht der Gemeinschaft „Arzt u. Seelsorger" 1 9 5 6 , Göttingen 1957. - Ders. (Hg.), Verbrechen - Schuld oder Schicksal? Zur Reform des Strafwesens. Tagungsbericht der Gemeinschaft „Arzt u. Seelsorger" 1 9 6 8 , Stuttgart 1 9 6 9 . - Donald Clemmer, The Prison Community, New York 1958 ' 1 9 6 5 . - G u d r u n Diestel u.a., Kirche für Gefangene, München 1 9 8 0 (Lit.). - Hans Dombois, Mensch u. Strafe, Witten 1 9 5 7 . - Ders., Die weltliche Strafe in der ev. Theol., Witten 195 9. - Horst Fichtner, Grundprobleme der Gefangenendiakonie, Berlin 1948 2 1 9 5 0 . - Dieter Frettlöh, Pfarrer im Strafvollzug: Pfarrer ohne Ortsgemeinde, hg. v. Yorick Spiegel, München 1 9 7 0 , 1 5 0 - 161. - Balthasar Gareis/Eugen Wiesnet (Hg.), Hat Strafe Sinn?, Freiburg i. Br. 1 9 7 4 . - Balthasar Gareis, Psychagogik im Strafvollzug, München 1 9 7 1 . - Die Gefängnisseelsorge. Der Strafvollzug in der Schweiz 4 ( 1 9 8 1 ) . - Anton Gundlach, Anwalt der Menschenwürde. Die Gefängnisseelsorge: Hans-Dieter Bastian (Hg.), Kirchl. 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Gehorsam
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zehnte „Konferenz der ev. Pfarrer an den Justizvollzugsanstalten in der B R D u. in Berlin (West)" nach der Neugründung im Jahre 1 9 5 0 , Selbstverlag, Celle 1 9 8 0 . - D e r s . , Seelsorgerliche Verschwiegenheit Chance u. Last des Gefängnispastors, Selbstverlag, Hannover 1 9 8 2 . - Günther Rehborn, Kath. Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, Hamm 1978. - Hans Rieger, „Das Urteil wird jetzt vollstreckt", Wien 1 9 7 7 . - J o a c h i m - F r i e d r i c h Ritter, Friedrich v. Spee 1 5 9 1 - 1 6 3 5 , Trier 1977. - Gustav v. Rohden, Probleme der Gefangenenseelsorge u. Entlassenenfürsorge, Gießen 1908. - Hermann Rolfes, Lit. zur Straffälligenfürsorge, Freiburg 1 9 5 6 . - Otto Schäfer, Der Dienst der Versöhnung im Gefängnis: Kirche im Strafvollzug. Referate u. Ergebnisse der 2. Studientagung in Würzburg vom 3 . - 7 . 3 . 1 9 7 5 , hg. v. der Konferenz der kath. Strafanstaltsgeistl. Deutschlands, Landsberg, 6 3 - 7 1 . - Marianne Schulte-Kemna, Wer von euch keinen Dreck am Stecken h a t . . . Doktoralskriptie Nijmegen 1 9 8 2 . - Martin Schwarz, Karl Barths Predigten vor Strafgefangenen: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug, hg. v. Albert Krebs, Darmstadt 1 9 6 9 , 5 5 - 5 8 . - Seelsorge in Justizvollzugsanstalten. Empfehlungen des Rates der EKD, Gütersloh 1 9 7 9 . — Martin Skambraks, Seelsorge im Jugendstrafvollzug: PTh 5 5 ( 1 9 6 6 ) 3 0 7 - 3 1 2 . - D e r s . , Einige Probleme unseres Strafvollzuges: W z M 1 9 ( 1 9 6 7 ) 1 0 5 - 1 0 9 . - Ders., Strafvollzugaus der Sicht eines tiefenpsychologisch orientierten Gefängnispfarrers: Bitter 122—137. — Ders., Einige theol. Aspekte zur Sozialtherapie im Strafvollzug: W z M 2 3 ( 1 9 7 1 ) 2 0 6 - 2 1 1 . - Yorick Spiegel, Jesus und die Minoritäten: Otto Seeber/Yorick Spiegel (Hg.), Behindert - süchtig - obdachlos, München 1 9 7 3 , 1 3 - 3 1 . - Eberhard Stromberg, Beitr. zur Gesch. der Seelsorge in der Strafrechtspflege, Diss. Jur. Hamburg 1 9 5 3 . - Ellen Stubbe, Seelsorge im Strafvollzug. Hist., psychoanalytische u. theol. Ansätze zu einer Theoriebildung, Göttingen 1978 (Lit.). - Heinrich Balthasar Wagnitz, Hist. Nachrichten u. Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland, 2 Bde., Halle 1 7 9 1 - 1 7 9 4 . - Reinhard Wetter, Frank Böckelmann, Knast-Report, Frankfurt a . M . 1972. - Johann Hinrich Wichern, SW. VI. Sehr, zur Gefängnisreform, hg. v. Peter Meinhold, Hamburg 1 9 7 3 . - Eugen Wiesnet, Die verratene Versöhnung. Zum Verhältnis v. Christentum und Strafe, Düsseldorf 1980. - Otto Wullschläger, Rel. Erziehung u. Jugendkriminalität, Aarau 1 9 7 4 . Ellen Stubbe G e g e n r e f o r m a t i o n —»Katholische R e f o r m u n d G e g e n r e f o r m a t i o n
Gehorsam 1. Zur Bedeutung und Problematik 2. Zur Geschichte des Begriffs 3. Glaube als Gehorsam in der Theologiegeschichte des 2 0 . Jh. 4 . Zur Ethik des Gehorsams (Literatur S. 157) 1. Zur
Bedeutung
und
Problematik
1.1. D e r G e h o r s a m s b e g r i f f besitzt in der T h e o l o g i e z e n t r a l e B e d e u t u n g . Sie e r s t r e c k t sich a u f w i c h t i g e L e h r g e b i e t e . So wird d e m Begriff eine erkenntnistheoretische
R e l e v a n z zuer-
k a n n t , in deren M i t t e l p u n k t die E r k e n n t n i s G o t t e s g e r a d e a u f g r u n d des bedingungslosen T u n s des v o n ihm G e b o t e n e n steht. In der Christologie
dient d e r Begriff d e m vertieften V e r -
ständnis der S o h n - V a t e r - B e z i e h u n g u n d d e m L e i d e n s g e s c h e h e n Christi. Ekklesiologisch
be-
zeichnet er das Verhältnis der —> K i r c h e zu i h r e m H e r r n u n d d a s Verhältnis d e r Mitglieder zu der Kirche. Ethisch
g e h t es schließlich u m die B e w ä h r u n g der —»Freiheit des —»Glaubens in
den historischen B e d i n g u n g e n der —»Welt. Seit d e m Beginn des 2 0 . J h . spielt in der T h e o l o g i e der G e d a n k e eine h e r v o r r a g e n d e R o l le, d a ß der M e n s c h „ a l s w o r t h a f t e s W e s e n " z u m G e h o r s a m g e g e n ü b e r G o t t e s W o r t bes t i m m t sei (Friedrich K. S c h u m a n n , A r t . G e h o r s a m : R G G 1 2 [ 1 9 5 8 ] 1 2 6 5 ) . Z w e i M o m e n t e t r e t e n d a m i t deutlich in den V o r d e r g r u n d : E i n m a l , d a ß G e h o r s a m nicht eine bloße Eigens c h a f t des M e n s c h e n ist. Dieser g r ü n d e t v i e l m e h r im H ö r e n a u f d a s W o r t G o t t e s u n d im verstehenden V e r n e h m e n des den H ö r e n d e n darin treffenden A n s p r u c h s . S o d a n n ist G e h o r s a m zielbezogen. D e r T e l o s - C h a r a k t e r des G e h o r s a m s zeigt a n , d a ß es u m die E r r e i c h u n g v o n e t w a s geht, das o h n e ihn nicht e r r e i c h b a r w ä r e . So ist „ G e h o r s a m gegen G o t t also der fund a m e n t a l s t e A k t des M e n s c h e n zur E r r e i c h u n g u n d E r f ü l l u n g seines Daseinssinnes, seiner , n a t u r g e m ä ß e n ' Seinserfüllung" ( M ü l l e r 1 2 8 ) . Allerdings ist n i c h t zu ü b e r s e h e n , daß zwischen d e m G e h o r s a m als F o l g e des R e c h t f e r t i g u n g s g l a u b e n s u n d dem ethischen G e h o r s a m als Leistung des M e n s c h e n eine S p a n n u n g besteht, so d a ß es fraglich w i r d , o b beide unterschiedlichen A s p e k t e ü b e r h a u p t zutreffend u n d a n g e m e s s e n m i t ein und demselben Begriff erfaßt werden können.
Gehorsam
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zehnte „Konferenz der ev. Pfarrer an den Justizvollzugsanstalten in der B R D u. in Berlin (West)" nach der Neugründung im Jahre 1 9 5 0 , Selbstverlag, Celle 1 9 8 0 . - D e r s . , Seelsorgerliche Verschwiegenheit Chance u. Last des Gefängnispastors, Selbstverlag, Hannover 1 9 8 2 . - Günther Rehborn, Kath. Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, Hamm 1978. - Hans Rieger, „Das Urteil wird jetzt vollstreckt", Wien 1 9 7 7 . - J o a c h i m - F r i e d r i c h Ritter, Friedrich v. Spee 1 5 9 1 - 1 6 3 5 , Trier 1977. - Gustav v. Rohden, Probleme der Gefangenenseelsorge u. Entlassenenfürsorge, Gießen 1908. - Hermann Rolfes, Lit. zur Straffälligenfürsorge, Freiburg 1 9 5 6 . - Otto Schäfer, Der Dienst der Versöhnung im Gefängnis: Kirche im Strafvollzug. Referate u. Ergebnisse der 2. Studientagung in Würzburg vom 3 . - 7 . 3 . 1 9 7 5 , hg. v. der Konferenz der kath. Strafanstaltsgeistl. Deutschlands, Landsberg, 6 3 - 7 1 . - Marianne Schulte-Kemna, Wer von euch keinen Dreck am Stecken h a t . . . Doktoralskriptie Nijmegen 1 9 8 2 . - Martin Schwarz, Karl Barths Predigten vor Strafgefangenen: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug, hg. v. Albert Krebs, Darmstadt 1 9 6 9 , 5 5 - 5 8 . - Seelsorge in Justizvollzugsanstalten. Empfehlungen des Rates der EKD, Gütersloh 1 9 7 9 . — Martin Skambraks, Seelsorge im Jugendstrafvollzug: PTh 5 5 ( 1 9 6 6 ) 3 0 7 - 3 1 2 . - D e r s . , Einige Probleme unseres Strafvollzuges: W z M 1 9 ( 1 9 6 7 ) 1 0 5 - 1 0 9 . - Ders., Strafvollzugaus der Sicht eines tiefenpsychologisch orientierten Gefängnispfarrers: Bitter 122—137. — Ders., Einige theol. Aspekte zur Sozialtherapie im Strafvollzug: W z M 2 3 ( 1 9 7 1 ) 2 0 6 - 2 1 1 . - Yorick Spiegel, Jesus und die Minoritäten: Otto Seeber/Yorick Spiegel (Hg.), Behindert - süchtig - obdachlos, München 1 9 7 3 , 1 3 - 3 1 . - Eberhard Stromberg, Beitr. zur Gesch. der Seelsorge in der Strafrechtspflege, Diss. Jur. Hamburg 1 9 5 3 . - Ellen Stubbe, Seelsorge im Strafvollzug. Hist., psychoanalytische u. theol. Ansätze zu einer Theoriebildung, Göttingen 1978 (Lit.). - Heinrich Balthasar Wagnitz, Hist. Nachrichten u. Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland, 2 Bde., Halle 1 7 9 1 - 1 7 9 4 . - Reinhard Wetter, Frank Böckelmann, Knast-Report, Frankfurt a . M . 1972. - Johann Hinrich Wichern, SW. VI. Sehr, zur Gefängnisreform, hg. v. Peter Meinhold, Hamburg 1 9 7 3 . - Eugen Wiesnet, Die verratene Versöhnung. Zum Verhältnis v. Christentum und Strafe, Düsseldorf 1980. - Otto Wullschläger, Rel. Erziehung u. Jugendkriminalität, Aarau 1 9 7 4 . Ellen Stubbe G e g e n r e f o r m a t i o n —»Katholische R e f o r m u n d G e g e n r e f o r m a t i o n
Gehorsam 1. Zur Bedeutung und Problematik 2. Zur Geschichte des Begriffs 3. Glaube als Gehorsam in der Theologiegeschichte des 2 0 . Jh. 4 . Zur Ethik des Gehorsams (Literatur S. 157) 1. Zur
Bedeutung
und
Problematik
1.1. D e r G e h o r s a m s b e g r i f f besitzt in der T h e o l o g i e z e n t r a l e B e d e u t u n g . Sie e r s t r e c k t sich a u f w i c h t i g e L e h r g e b i e t e . So wird d e m Begriff eine erkenntnistheoretische
R e l e v a n z zuer-
k a n n t , in deren M i t t e l p u n k t die E r k e n n t n i s G o t t e s g e r a d e a u f g r u n d des bedingungslosen T u n s des v o n ihm G e b o t e n e n steht. In der Christologie
dient d e r Begriff d e m vertieften V e r -
ständnis der S o h n - V a t e r - B e z i e h u n g u n d d e m L e i d e n s g e s c h e h e n Christi. Ekklesiologisch
be-
zeichnet er das Verhältnis der —> K i r c h e zu i h r e m H e r r n u n d d a s Verhältnis d e r Mitglieder zu der Kirche. Ethisch
g e h t es schließlich u m die B e w ä h r u n g der —»Freiheit des —»Glaubens in
den historischen B e d i n g u n g e n der —»Welt. Seit d e m Beginn des 2 0 . J h . spielt in der T h e o l o g i e der G e d a n k e eine h e r v o r r a g e n d e R o l le, d a ß der M e n s c h „ a l s w o r t h a f t e s W e s e n " z u m G e h o r s a m g e g e n ü b e r G o t t e s W o r t bes t i m m t sei (Friedrich K. S c h u m a n n , A r t . G e h o r s a m : R G G 1 2 [ 1 9 5 8 ] 1 2 6 5 ) . Z w e i M o m e n t e t r e t e n d a m i t deutlich in den V o r d e r g r u n d : E i n m a l , d a ß G e h o r s a m nicht eine bloße Eigens c h a f t des M e n s c h e n ist. Dieser g r ü n d e t v i e l m e h r im H ö r e n a u f d a s W o r t G o t t e s u n d im verstehenden V e r n e h m e n des den H ö r e n d e n darin treffenden A n s p r u c h s . S o d a n n ist G e h o r s a m zielbezogen. D e r T e l o s - C h a r a k t e r des G e h o r s a m s zeigt a n , d a ß es u m die E r r e i c h u n g v o n e t w a s geht, das o h n e ihn nicht e r r e i c h b a r w ä r e . So ist „ G e h o r s a m gegen G o t t also der fund a m e n t a l s t e A k t des M e n s c h e n zur E r r e i c h u n g u n d E r f ü l l u n g seines Daseinssinnes, seiner , n a t u r g e m ä ß e n ' Seinserfüllung" ( M ü l l e r 1 2 8 ) . Allerdings ist n i c h t zu ü b e r s e h e n , daß zwischen d e m G e h o r s a m als F o l g e des R e c h t f e r t i g u n g s g l a u b e n s u n d dem ethischen G e h o r s a m als Leistung des M e n s c h e n eine S p a n n u n g besteht, so d a ß es fraglich w i r d , o b beide unterschiedlichen A s p e k t e ü b e r h a u p t zutreffend u n d a n g e m e s s e n m i t ein und demselben Begriff erfaßt werden können.
Gehorsam
149
1.2. Gehorsam als Unterordnung unter einen Anspruch, der in einem vom Handelnden übernommenen Zusammenhang gegeben ist, stellt indessen auch etwas nicht fraglos Hingenommenes dar. Mit den großen Bewegungen der—»Autonomie und ^-Emanzipation hat der Gehorsamsbegriff vielmehr seit dem 18. Jh. seine spezifische Problematik erhalten. Bedarf es überhaupt noch eines Gehorsams — und dann wem gegenüber —, um zum eigentlichen Sein zu gelangen? Mit dem Aufkommen des -^»Atheismus im 19. Jh. gerät zudem der theologische Gehorsamsbegriff in eine schwere Legitimationskrise. Aber auch historische Entartungsformen — wie im —»Faschismus oder in totalitären Gesellschaften — haben den Gehorsam, vor allem als „blinden" Gehorsam, problematisch werden lassen. Gerade Erfahrungen mit solchen Entartungsformen förderten die Einsicht in den ambivalenten Charakter des Gehorsams, der in „seiner eigenen innersten Wesensstruktur zugleich immer widersprüchliche Ausdrucksformen" in sich einschließt (Goffi 6 0 8 ) . Auf diesem Hintergrund wird die Frage nach der Beziehung des Gehorsams zu Freiheit und —»Autorität heute wieder ausdrücklich. 1.3. Von besonderem Rang ist dabei die Frage, auf welche Weise sich die Ethik sinnvoll mit dem Gehorsam und seiner Problematik auseinandersetzt. Für eine Antwort darauf ist es wesentlich, welche Referenzgrößen zur näheren Bestimmung des Gehorsams herangezogen werden. In der Begründung des Gehorsams wird oft Autorität - als Autorität des Staates oder des Gesetzes oder der Eltern — für eine solche Größe genommen. Gehorsam meint dann die Unterstellung unter eine Autorität und die Befolgung von deren Anordnungen. Vor allem psychologische Untersuchungen zeigen jedoch, daß ein solcher Ansatz nicht unproblematisch ist. Denn die bloße Unterstellung erhöht, zumal wenn an die Autorität durch Vertrauen noch eine besonders starke Bindung besteht, die potentielle Gefahr der Ausbildung eines „blinden Gehorsams". Autorität wird als derart bindend empfunden, daß Individuen sich „zu Verhaltensweisen und Interaktionen gezwungen fühlen und sie ausführen, unabhängig davon, was sie selbst als richtig oder gerecht empfinden." (F. L. Ruch/P. G. Zinnbardo, Lehrbuch der Psychologie, Berlin/Heidelberg/New York 1974, 351). Obwohl Gehorsam zu Autorität in einem spezifischen Verhältnis steht, scheint sie als alleinige Referenzgröße nicht zu genügen. Dem darin erkennbaren Mangel wird dadurch zu begegnen versucht, daß Freiheit jetzt zu der Referenzgröße wird, von der her Gehorsam bestimmbar werden soll. Gehorsam als Gestalt der Freiheit ist jedoch auch eine nicht unproblematische Konzeption. Zwar schlägt sich in ihr die klassische abendländische Tradition nieder, die jede Form blinden Gehorsams durch einen vernünftig aufgeklärten Gehorsam ersetzen will, ihn also dadurch zur Gestalt der Freiheit werden läßt. Aber es entsteht nun auch die Gefahr, darüber sozialisationsbedingtes Rollenverhalten als Grund für die Erfüllung von Ansprüchen zu vergessen. Es gibt eben nicht nur die reine Form freien individuellen Gehorsams, sondern in ihn mischen sich auch immer aus Angepaßtheit hervorgehende Bestimmungsgründe. Um den Gehorsam daher für die Ethik noch bestimmbarer zu machen, legt es sich nahe, einerseits stärker auf seinen Telos-Charakter zu achten, andererseits aber auch als weitere Referenzgröße den Begriff der -^Verantwortung einzuführen. Gehorsam stellt unter teleologischem Vorzeichen die Konzentration von Energien dar, mit denen ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll. Unter dem Vorzeichen der Verantwortung ist Gehorsam kontrollierter Einsatz von Energien zur Erreichung reflektierter Ziele. Im Unterschied zum Gehorsam aus Autoritätsbindung wird so das, wofür Gehorsam gefordert wird, zum Gegenstand der Prüfung. Es wird damit dem Bereich persönlicher Verantwortung zugeordnet. Daran erweist sich auch die Freiheit, daß sie zu solcher Kritik befähigt. Trotzdem werden beim Gehorsam als Gestalt der Freiheit transindividuelle, vorgegebene Ziele anzuerkennen sein, die Gehorsam fordern können, ohne dabei individueller Beliebigkeit hinsichtlich der Weise ihrer Ermittlung zu unterliegen. Die theologische Ethik erhält auf diesem Hintergrund die Möglichkeit, Gehorsam an Zielen zu messen und solche Ziele selbst wieder kritisch zu prüfen, indem sie sie auf ihre Angemessenheit an allgemeine Grundziele befragt, wie sie in der evangeli-
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Gehorsam
sehen Tradition vermittelt werden (—»Bergpredigt). Inanspruchnehmende Autorität und gestaltfordernde Freiheit werden so unter dem Vorzeichen der Verantwortung auf die Erreichung lebensfördernder und -bewahrender Ziele hin relativiert. Der Gehorsam selbst wird auf diese Weise von der einseitigen Eingrenzung auf die bloße Subjektivität entschränkt und erhält dadurch vor allem einen Sozialbezug, der seinen Ausdruck in kooperativen Vollzugsformen findet. 2. 7.ur Geschichte 2.1.
des
Begriffs
Eine D a r s t e l l u n g der G e s c h i c h t e des G e h o r s a m s - B e g r i f f s und seiner W a n d l u n g e n fehlt bisher.
Er wird nur im Kontext anderer historischer oder systematischer Themenstellungen jeweils mitthematis i e r t . I n s o f e r n s i n d a u c h die n a c h f o l g e n d e n B e m e r k u n g e n n u r s c h w e r p u n k t m ä ß i g e
Hervorhebungen
m a r k a n t e r G e h o r s a m s k o n z e p t i o n e n , die a u f je ihre W e i s e die t h e o l o g i s c h e und p h i l o s o p h i s c h e T r a d i tion beeinflußt h a b e n .
2.2. Im Alten Testament treten drei charakteristische Momente am Gehorsamsbegriff hervor: Erstens ist es das Hören auf Jahwe, das beim Hörenden Gehorsam in der Weise hervorruft, daß er die im Hören vernommene Aufforderung zum Tun eines Gebotenen auch befolgt. „Auf Jahwe oder seinen Repräsentanten (z. B. Mose, Josua, einen Propheten [Ez 3,7]) hören" heißt, „tun was Jahwe sagt und will" (H. Schult: T H A T 2, 980). Zweitens erstreckt sich der Gehorsam auf die ganze menschliche Existenz . Er verlangt die bewußte und willentliche Hingabe ohne irgendeinen Rückhalt. Drittens zeigt der alttestamentliche Gehorsamsbegriff die teleologische Erstreckung und die Dimension der Verantwortung. Der Gehorsam gegen die Gebote ist auf den —>Bund Gottes und seine Verheißung bezogen. Innerhalb dieses Horizonts liegt Leben und Heil für Israel. Wenn auch Jahwe beides gewährt und garantiert, so macht dieser Umstand menschliche Verantwortung gerade nicht überflüssig. Sie äußert sich „in Taten der Heiligung" (Hendrik van Oyen, Ethik des AT, Gütersloh 1967, 174). D. h. der Glaubende hält aus gehorsamer Verantwortung seinerseits den Bund heilig, mit dem Gott Israel befreit hat. 2.3. Das für eine Erörterung im Rahmen der Ethik wichtige Verständnis des Gehorsams im Neuen Testament läßt sich nach zwei Seiten hin entfalten: Erstens ist der Gehorsam nicht bloße Leistung des Menschen, sondern Folge der erlösenden und rechtfertigenden Tat Gottes. Er ist Ausdruck des Befreitseins zum Leben. Als dieser ist er radikal, d. h. vorbehaltlos und nicht bestimmten Bedingungen unterworfen, sei es den aus einem vermeintlichen Rechtsverhältnis zwischen Mensch und Gott hervorgehenden wie im Judentum, gegen die Jesus protestierte; sei es den aus dem Nomos stammenden wie im antiken Gehorsamsverständnis. Zweitens weist der Gehorsam des Glaubens den Christen an, für die Welt als Schöpfung Gottes Verantwortung zu übernehmen. Der Gehorsam wird so zur Grundform menschlicher Existenz in der Welt. Er ist Ausdruck des Berufenseins zum C o o p e r a t o r Dei. In dieser Bestimmtheit soll sichtbar werden, daß Gott mit der Schöpfung ein Geordnetes (r&y\ia) schuf, dem sich der Mensch ein- und unterzuordnen hat (VJI OTCtyij). Darüberhinaus soll der Gehorsam auch in seiner eschatologischen Beziehung deutlich werden lassen, daß „Gottes Herrenrecht auf dieser Erde" auch und gerade angesichts des Anbruchs des neuen Äons bestehen bleibt (Ernst Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen Tübingen, II 2 1 9 6 5 , 2 1 4 f f ) . Konkret äußert sich der Gehorsam des Glaubens als Dienst der Gerechtigkeit in der vergehenden Welt (Rom 6,16ff). Durch ihn erfährt so das Gebot der Nächstenliebe seine Erfüllung. 2.4. Eine für die Entwicklung des abendländischen Gehorsamsverständnisses wichtige Variante findet sich bei —>Augustin. Bei ihm stellt Gehorsam in der Hierarchie der Tugenden die Spitze dar. Er ist „Mutter und Wächterin aller Tugenden" (De civ. Dei 14,12). Der Mensch schuldet Gott den Gehorsam. Denn er ist das Kennzeichen der Demütigen. Demut aber ist Unterwerfung unter ein Höheres; nichts jedoch ist höher als Gott (ebd. 14,13). Diese Unterscheidung zwischen Höherem und Niederem führt Augustin auch beim Menschen durch, indem er die Seele deutlich höher bewertet als den Leib. So steht dann das Ll,bliche im Gehorsamsverhältnis, in Dienst- und Sklavenbeziehung zur Seele: Caro bene oboediens
Gehorsam
151
famula est animae; illa regit, haec regitur; illa imperat, ista famulatur (En. in Ps. C X L V , 5 ) . Aber nur die durch den christlichen Glauben gerettete Seele vermag Gott anzuhängen, seine Ordnung in der Schöpfung zu vernehmen und das Niedere zu beherrschen. Auf diesem Hintergrund heißt Gehorsam dann: Anteilhaben an der Fülle des Seins. Nach Augustin ist der christliche Gehorsam der umfassendste Ausdruck für beides: die Errettung vom Nicht-sein und für die Wanderschaft zum himmlischen Vaterland in den Anfechtungen und Versuchungen dieses Lebens. Eine Zuspitzung erfährt der Gehorsamsbegriff im 5. Jh. durch die—>Benediktusregel. Im 5. Kapitel wird der Gehorsam als Verzicht auf jeden eigenen Willen beschrieben. Danach leben Mönche „nicht nach eigenem Urteil, gehorchen nicht ihren eigenen Wünschen, nicht ihrem eigenen Verlangen. Sie schreiten voran nach Ermessen und Befehl anderer". Das ^ G e lübde, sich solcher Gehorsamsforderung zu unterwerfen, stellt damit eine Konkretisierung der durch Augustinus geförderten Gehorsamstradition dar. In ihrem Kern steht der neuplatonische Gedanke von der Vollendung des Menschen durch die vollständige gehorsame Unterwerfung unter einen höchsten Willen. D i e s e T r a d i t i o n setzt sich ü b r i g e n s im 1 6 . J h . in den R e g e l n der „ G e s e l l s c h a f t J e s u " (—»Jesuiten) fort. Z u m G e h o r s a m heißt es d o r t , d a ß er alles B e f o h l e n e s o f o r t zur T a t w e r d e n l ä ß t ; „ u n d j e d e e i g e n e A n s i c h t lind eigenes Urteil, die sich d e m w i d e r s e t z e n " , sind „ i n b l i n d e m G e h o r s a m " zu v e r l e u g n e n ; „ d e n n s o m u ß der G e h o r c h e n d e j e d e S a c h e , zu der der O b e r e ihn z u m B e s t e n d e r g a n z e n G e s e l l s c h a f t einsetzen will, f r ö h l i c h e n G e i s t e s u n t e r n e h m e n " ( H a n s Urs v. B a l t h a s a r , D i e g r o ß e n O r d e n s r e g e l n , Einsiedeln 1 9 7 4 , 3 7 5 f).
2.5. Auf das Verständnis des Gehorsams im Rahmen der Ethik hat —»Thomas v. Aquin nachhaltigen Einfluß genommen. Der Gehorsam ist danach in der natürlichen und göttlichen Rechtsordnung begründet, so daß es ein Leben ohne Gehorsam nicht geben kann (S. th. X X , q. 104, a. 1). Auch für Thomas steht er an der Spitze der Hierarchie der Tugenden (ebd. q. 104, a. 2f). Entscheidend ist aber vor allem, daß die Grundform des Gehorsams die der völligen Unterwerfung des Menschen unter den göttlichen Willen ist (ebd. q. 104, a. 4; vgl. aber auch S. th. X X X V I , q. 96, a. 11 ad 3). Daraus leitet Thomas dann Kriterien für den Gehorsam ab, der Vorgesetzten geschuldet wird (ebd. q. 104, a. 5). Wichtig daran ist indessen, daß dieser Gehorsam einschränkenden Bedingungen insofern unterliegt, als der unmittelbare und völlige Gehorsam gegen Gott dadurch keine Einschränkung erfahren darf: „Der Mensch ist Gott schlechthin in allem, sei es Inneres oder Äußeres unterworfen. Ihm muß er daher auch in allem gehorchen. Die Untergebenen sind ihren Vorgesetzten aber nicht in allem unterworfen, sondern nur in einigem, was genau bestimmt ist" (ebd. ad 2). Diese prinzipielle Einschränkung gilt auch gegenüber den Inhabern staatlich-politischer Macht, denen nur insoweit zu folgen ist, „in quantum ordo justitiae requirit" (ebd. q. 104, a. 6 ad 3). Im übrigen aber hält Thomas im Blick auf den Gehorsam gegen die weltliche Gewalt fest, daß ihr dieser um der geordneten Beziehungen unter den Menschen willen geschuldet wird (ebd.). 2.6. Mit der —>Reformation tritt eine besondere Spannung in das Gehorsamsverständnis ein. Es bricht die Frage auf, ob der Gehorsam des Glaubens gegen das Wort Gottes auch des Christen Gehorsam gegen gesellschaftliche Institutionen mit Einschluß der Kirche impliziert, oder ob nicht vielmehr in der Welt nur die Freiheit des Glaubens gilt, mithin weltliche Institutionen prinzipiell vom Christen keinen besonderen Gehorsam fordern dürfen, sondern ihrerseits dem Willen Gottes unterstellt sind. M. —>Luther hat diese, im Grunde bis in die Gegenwart hinein kontrovers gebliebene Frage (—»Zweireichelehre, Lehre von der —»Königsherrschaft Christi) so zu beantworten versucht, daß dabei auch das simul iustus ac peccator der —>Rechtfertigungslehre volle Berücksichtigung fand. Danach ist der Christ nach seiner geistlichen Seite hin nur dem Wort Gottes gehorsam, das ihn regiert. Damit hat er alles, was er braucht (WA 11,271). Aber der Christ lebt nicht für sich in reiner geistlicher Esoterik. Vielmehr bleibt er in der Welt und hier mit Nächsten verbunden. Um ihretwillen tut er das, was zu ihrem Nutzen notwendig ist.
152
Gehorsam
D. h. er unterstellt sich dem weltlichen Regiment, damit vor allem dem Bösen gewehrt und Frieden erhalten wird (a.a.O. 253). „Der Mensch ist dazu frei, um nach Gottes Willen zu leben als ein Mitarbeiter Gottes im Beruf, eingestellt auf den Dienst am Nächsten" (Wingren 138). In dieser Sicht bleiben Rechtfertigung und Befolgung des Liebesgebotes bestimmende, wiewohl trotz ihres Zugleichs auch deutlich zu unterscheidende Faktoren christlicher Existenz in der vergehenden Welt. Aber die bereits im Alten Testament hervortretende Grundstruktur des Gehorsams, seine Begründung in der den Menschen anrufenden Gnade Gottes, sein Telos-Charakter und die darin implizierte personale Verantwortung, erfährt hier eine für die neuzeitliche Entwicklung neue Präzisierung. 2.6.2. Eine entscheidende Rolle spielt der Gehorsam in der Theologie J. —»Calvins: Hier hat er eine doppelte Funktion: einmal ist der Gehorsam auf Seiten des Menschen die Voraussetzung für die Erkenntnis Gottes als des Schöpfers, „der uns mit seiner Macht trägt, mit seiner Vorsehung leitet, seiner Güte pflegt, mit der Fülle seiner Segnungen begleitet" (Inst. I, 2,1). Als Geschöpf inmitten der Schöpfung muß der Mensch von Natur aus gegen den Schöpfer gehorsam sein. Dies ist die Bedingung für die Erkenntnis der „Macht und Güte Gottes" und zugleich die Voraussetzung für die Ausbildung von Frömmigkeit, aus der die Religion entsteht" (ebd.). So soll das ganze Leben Gehorsam gegen Gott sein, damit wir nicht „durch ein Lasterleben seinen Zorn . . . hervorrufen" (ebd. III, 2,26). Der rechte Gehorsam lehrt Gott erkennen, wie er sich offenbart (ebd. I, 4,1). Die andere Funktion des Gehorsams erstreckt sich auf das rechte Leben aus und vor Gott. Die Regeln für ein solches Leben „hat der Herr voll und ganz in seinem Gesetz zusammengefaßt" (ebd. IV, 10,7). Damit werden zwei Ziele verfolgt: einmal soll alles menschliche Tun am Willen Gottes — und nur daran allein — ausgerichtet werden. Zum anderen hat nach Calvin das göttliche Gesetz den Zweck zu bezeugen, „daß er von uns nichts dringlicher verlangt als Gehorsam" (ebd.). Darin eingeschlossen ist auch der bürgerliche Gehorsam, den der Christ jenen schuldet, die Gott in ein regierendes weltliches Amt berufen hat (ebd. IV, 20,8). 2 . 7 . Infolge der —»Aufklärung und der Entfaltung der neuzeitlichen Rationalität erfährt der Gehorsamsbegriff eine grundlegende Wandlung. Insbesondere durch die Ethik 1. ~^>Kants, der das Verhältnis von Autonomie und Gehorsam derart bestimmt, daß der Gehorsam zur selbstverständlichen Ausdrucksform sittlicher Freiheit wird, ist die Gehorsamsproblematik bis in die Gegenwart nachhaltig bestimmt worden. 2.7.1. Bei Kant stehen im Mittelpunkt seines Gehorsamsverständnisses die Begriffe: Gesetz und Pflicht. Das Gesetz als Sittengesetz ist der objektive Bestimmungsgrund des Willens. Ihm zu folgen und sich zu unterstellen, ist ein Gebot der praktischen Vernunft. Es subjektiv zu befolgen, wird so zur sittlichen Pflicht (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [Akad. Ausg.] IV, 3 9 2 ff). Ein Gegensatz zur Autonomie besteht nicht. Denn diese kann nichts anderes darstellen wollen, als die Ubereinstimmung des subjektiven Willens mit dem objektiven allgemeinen Sittengesetz, wie es von Kant als kategorischer Imperativ formuliert worden ist (ebd. 4 2 9 ff). Der aus der Achtung gegen das Sittengesetz hervorgehende Gehorsam ist dann die praktische Gestalt der Autonomie. „Denn nur das Gesetz führt den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich, und Gebote sind Gesetze, denen gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge geleistet werden muß" (ebd. 4 1 6 ) . 2.7.2. Die Beziehung von Autonomie und Gehorsam im Horizont des transzendentalen Idealismus wird durch J. G. —»Fichte einer weiteren Ausgestaltung unterzogen, indem von ihm - wie schon bei Kant - Bedeutung und Funktion der —»Religion rationaler Kritik ausgesetzt und zur Klärung jener Beziehung herangezogen werden. Die Funktion der Religion wird danach auch im Bereich der praktischen Vernunft angesiedelt und mit der Förderung der Sittlichkeit so verbunden, daß auch der Gehorsam gegen das Moralgesetz gefördert und verstärkt wird. Der bestimmende Grund des Gehorsams ist aber die Vernunft, die die Gesetze des sittlichen Handelns entdeckt und formuliert. Insofern ist dann auch bei Fichte der
Gehorsam
153
G e h o r s a m die praktische Gestalt der sittlichen A u t o n o m i e . Religion — u n d mit ihr die Autorität göttlicher Gebote — k ö n n e n n u r insoweit zu ihr in Beziehung stehen, als durch ihren rationalisierenden und disziplinierenden Einfluß die Z u r ü c k w e i s u n g anderer als vernünftiger sittlicher Gesetze erleichtert u n d so die F ö r d e r u n g der praktischen V e r n u n f t betrieben wird. Dieser Sichtweise liegt die A n n a h m e zugrunde, d a ß in letzter, ideeller Hinsicht die Gesetze der V e r n u n f t und der Wille Gottes identisch sind (vgl. GA, W e r k e b a n d 1,27 ff; N a c h l a ß b a n d II, 8 2 f f ) . Besonders deutlich wird dabei die Bindung des G e h o r s a m s an die Autorität der V e r n u n f t u n d der durch sie ermittelten M o r a l i t ä t sichtbar, so d a ß in dieser Hinsicht der Geh o r s a m „die N a c h b i l d u n g der ganzen moralischen D e n k a r t " ist (GA, Kollegnachschriften I, 146; vgl. auch W e r k e b a n d 1/5, 2 9 6 f f ) . 2.7.3. Der Aspekt der Bindung des G e h o r s a m s an die V e r n u n f t tritt auch bei G. W. F. —>Hegel ungemindert in Erscheinung. Es ist f ü r ihn keine Frage, „ d a ß der Gehorsam auf das Sittliche und Vernünftige gerichtet sey, als der G e h o r s a m gegen die Gesetze, die ich als die rechten weiß, nicht aber der blinde und unbedingte, der nicht weiß, was er thut, und o h n e Bewußtseyn u n d Kenntniß in seinem H a n d e l n h e r u m t a p p t " (SW 2. Aufl. Jubiläumsausg., hg. v. H . Glockner, XI, 4 8 3 f). D a m i t verbindet sich zugleich auch der G e d a n k e der geschichtlichen Entwicklung: Z u diesem vernünftigen G e h o r s a m findet ein Aufstieg aus niederen F o r m e n der Sittlichkeit statt, die durch die „ H e r r s c h a f t der Sinnlichkeit" gekennzeichnet sind (ebd. III, 5 1 f . 2 9 f ; X , 2 8 8 ) . Konkret wird der G e h o r s a m im -H.Beruf u n d in der Unterstellung unter die „ h ö c h s t e Sittlichkeit im Staate" als einsichtiges Befolgen des darin z u m Ausdruck gelangenden „vernünftige(n) allgemeine(n) Willen(s)" (ebd. III, 87; XV, 2 6 1 f; vgl. auch X, 4 3 8 ff). 3. Glaube als Gehorsam
in der Theologiegeschichte
des 20. Jh.
3.1. Gegen die in der philosophiegeschichtlichen Entwicklung seit dem Ausgang des 18. Jh. w i r k s a m g e w o r d e n e T r a d i t i o n , den G e h o r s a m an die Autorität der V e r n u n f t allein zu binden und religiöse G e h o r s a m s f o r d e r u n g e n allenfalls als historische Vorstufen zur Erreichung des Ideals eines a u t o n o m e n G e h o r s a m s noch gelten zu lassen, versucht die Theologie, nach dem 1. Weltkrieg wieder die Autorität des Wortes Gottes als G r u n d des Glaubens u n d seines G e h o r s a m s zu setzen. 3.2. Von besonderer Eindrücklichkeit sind in dieser Hinsicht Einsichten, wie sie von K. —>Barth vermittelt w o r d e n sind. Bei ihm treten zwei Aspekte in den V o r d e r g r u n d : einerseits ist der G e h o r s a m entscheidende Voraussetzung f ü r die rechte Erkenntnis Gottes. In dieser Hinsicht besitzt er eine zweifache F u n k t i o n . Er ist „Bereitschaft zur Entgegennahme des von G o t t gesprochenen W o r t e s " u n d zugleich die besonders intensive Weise des H ö r e n s dieses Wortes (KD I I / 2 , 2 5 6 f ) . Andererseits umgreift der Begriff des G e h o r s a m s den ganzen Bereich des tätigen Glaubens. In dieser Hinsicht hat er die doppelte Aufgabe, die theologische Ethik bei ihrer Sache u n d den G l a u b e n beim T u n des v o m W o r t Gottes Gebotenen zu halten (ebd. 5 9 8 . 7 4 6 f). Im Blick auf die Praxis des G l a u b e n s geht es d a n n vor allem u m die „Teiln a h m e an der Gerechtigkeit" Christi, der so als das eigentliche Subjekt jener Praxis erscheint (ebd. 599). D a m i t soll ausgeschlossen werden, d a ß der christliche G l a u b e anderen Zielen dient als denjenigen, die Christus als das lebendige W o r t Gottes gesetzt h a t . Zugleich leitet sich aus dieser Sicht auch ein spezifisches Verständnis von Freiheit ab: sie ist allein als Freiheit zur Entscheidung f ü r eine K o n f o r m i t ä t des T u n s mit dem, im H ö r e n des Wortes Gottes v e r n o m m e n e n G e b o t e n e n zu begreifen (KD IV/4, 38 ff). W a s so „ o f f e n bleibt, ist n u r der W e g eines von G o t t umschlossenen M e n s c h e n : die in der ihm d u r c h die T a t der allmächtigen G n a d e Gottes geschenkten Freiheit zu vollziehende Entscheidung z u m G e h o r s a m " (ebd. 40). 3.3. In der Theologiegeschichte des 20. Jh. ist dies freilich nicht der einzige Versuch gewesen, die Bedeutung des uneingeschränkten G l a u b e n s g e h o r s a m s gegen die bloße Einordn u n g des Glaubens in den H o r i z o n t neuzeitlicher V e r n u n f t u n d Sittlichkeit wieder zur Gelt u n g k o m m e n zu lassen. Die von Barth u n d seinen A n h ä n g e r n vorgetragene Konzeption
Gehorsam
154
wurde ihrerseits als zu einseitig empfunden. Insbesondere stellte sich die Frage, o b die darin erfolgte Bestimmung des Gehorsams nicht über die Gebühr normative G r u n d f a k t o r e n menschlicher Existenz in der Welt unberücksichtigt lassen mußte. Es ergibt sich folglich erneut das Problem einer Vermittlung des als Gehorsam definierten Glaubens an die aus den situativen Bedingungen der historischen Situation hervorgehenden Handlungsforderungen und umgekehrt. Auf diesem Hintergrund formuliert W. —>Elert das prinzipielle Bedenken, ob nicht bei einer „Konstruktion aus Gebot und G e h o r s a m " die falsche Vorstellung erweckt werden muß, „als k o m m e es nur darauf an, daß Gott überhaupt etwas gebietet, dem der Mensch zu gehorchen hat, aber nicht auf das, was er gebietet". Gegen ein solchermaßen abstraktes Verständnis des Gehorsams stellt Eiert dann den Gehorsam, der „ i m m e r Vollzug eines bestimmten Auftrages, also immer konkreter Akt, niemals nur H a l t u n g " ist (28). Aufs Ganze gesehen wurden zwei Wege beschritten, um jenes Problem einer Lösung zuzuführen: Einmal bot es sich an, auf jede ausgeführte Ethik des Gehorsams im Sinne einer Handlungsanweisung zu verzichten. Der Gehorsam des Glaubens ließ sich dann als ein Sich-Gott-Schuldig-Wissen begreifen, dem auf der anderen Seite die Freiheit korrespondiert, „aus der verantwortlichen Gebundenheit an den anderen M e n s c h e n " heraus das zu tun und zu verantworten, was zum Wohl aller als notwendig erscheint. Hier geht es dann vornehmlich d a r u m , den Gehorsam und das ihm folgende T u n in ihrer irdisch-welthaften Bedeutung zu bewahren und zurückzuhalten. Diese Sicht hat vor allem Fr. —>Gogarten nachdrücklich vertreten (Politische Ethik, Jena 1932,70.184; ders., Verkündigung 16f; ders., Verhängnis u. H o f f n u n g 189ff). Zum anderen zeigt sich aber auch, d a ß die Vermittlung von Glaubensgehorsam und innerweltlichen N o r m e n wieder auf die Weise versucht wurde, daß der Gehorsam des Glaubens auch den Gehorsam gegen die weltliche O r d n u n g implizierte. „Such obedience is n o t obedience to man, but ultimately obedience to G o d " (Forell 130). Die Rückfrage, ob dabei nicht das Wort Gottes entwertet zu werden drohe, stellte sich insofern nicht, als unabhängig vom Wort Gottes die weltliche O r d n u n g bedeutungslos ist; es folglich allein dieses Wort und der in ihm gründende Glaube ist, durch welche die weltliche O r d n u n g in ihrer Gottgewolltheit vernehmbar wird (ebd. 131 f). Eine gewisse Mittelposition zwischen den beiden skizzierten nimmt E. —>Brunner ein. Er definiert in Übereinstimmung mit der —»Dialektischen Theologie den Gehorsam als die einzig mögliche A n t w o r t des Menschen auf den Anruf des Wortes Gottes (Dogmatik, Zürich, II 1960, 70ff). Im Hinblick auf die Ethik findet dieser Gehorsam aber seinen Ausdruck im konkreten „Dienst an der Gesamtheit" (Das Gebot u. die Ordnungen 181). Die Vermittlung von Glaube und Welt im „Ethos des Glaubensgehorsams" erweist sich so darin, d a ß die —»Kultur als „ a u t o n o m e s Lebensgebiet" a n g e n o m m e n , dieses zugleich aber als von Christen zu durchdringendes „vom Glauben aus in seiner (relativen) A u t o n o m i e " aber auch zu verstehendes und zu begrenzendes verstanden wird (ebd. 471). 4. Zur Ethik des
Gehorsams
4.1. Die Geschichte des Begriffs läßt erkennen, welche zentrale Stellung dem Gehorsam in der Ethik zuerkannt worden ist. Aber zugleich zeigt sich daran auch, daß Gehorsam eine relationale Größe ist. — Es ist immer die Bezogenheit auf ein anderes, w o d u r c h er seinen sittlichen Wert erhält. Dieses Andere hat im Laufe der Geschichte verschiedene Gesichter angen o m m e n , dadurch aber gerade auch für eine eigentümliche Spannung in der Ethik des Gehorsams gesorgt. So m u ß die Ethik den Gehorsam immer schon als Handlungsenergien bereitstellendes und konzentrierendes Gerichtetsein auf bestimmte Ziele voraussetzen. Gleichzeitig wird er jedoch auch zum Gegenstand der Ethik, die ihn kritisch auf sein Zustandekommen sowie auf seinen Einfluß und seine Wirkungen auf die individuelle Selbstgestaltung im Kontext sozialer Interaktionen p r ü f t . 4.2. Die theologische Ethik sieht sich hinsichtlich ihrer Stellung zum Gehorsam einem doppelten Sachverhalt ausgesetzt: Einmal ist der Referenzpunkt für den Gehorsam das H ö -
155
Gehorsam
ren des W o r t e s G o t t e s und die Befolgung des darin v e r n o m m e n e n Anspruchs (vgl. hierzu B o f f 6 4 8 ) . Zum anderen
kann aber nicht d a v o n abgesehen werden, d a ß auch ein solcher Ge-
h o r s a m in A b h ä n g i g k e i t „ v o n den eigentümlichen gesellschaftlich-kulturellen
Vorbedin-
gungen einer bestimmten Z e i t " steht „ u n d diesen zugleich zum A u s d r u c k " verhilft (Goffi 606). Die Aufgabe der theologischen Ethik präzisiert sich im Lichte dieser D i a l e k t i k : der Geh o r s a m des christlichen G l a u b e n s stellt sich ihr nicht in „ r e i n e r " F o r m dar, noch hätte sie die A u f g a b e , diese „ r e i n e " F o r m herzustellen. Es ist vielmehr ihre A u f g a b e , auf die eigentümlichen F o r m e n zu a c h t e n , mittels derer sich der G e h o r s a m des G l a u b e n s an den gesellschaftlichen L e b e n s z u s a m m e n h a n g vermittelt und vor allem daran die Frage zu knüpfen, w o f ü r G e h o r s a m gefordert wird. 4.3.
D a s d a m i t implizierte kritische E l e m e n t in der Ethik des G e h o r s a m s unterscheidet
diesen von dem reinen G l a u b e n s g e h o r s a m und entkleidet ihn seines U n b e d i n g t h e i t s c h a r a k ters, der ihm in der G e s c h i c h t e i m m e r wieder beigelegt w o r d e n ist. D e r mit der g e h o r s a m e n Unterstellung unter Forderungen bislang weitgehend verbundene V e r z i c h t a u f individuelle Willensbekundungen wird so nach der Seite hin d u r c h b r o c h e n , d a ß das M o m e n t persönlicher V e r a n t w o r t u n g a u f die geforderte G e h o r s a m s l e i s t u n g Einfluß erhält. Solcher V e r a n t w o r t u n g indessen sich zu stellen, m a c h t die Analyse derjenigen Ziele, für deren Verwirklichung G e h o r s a m gefordert w i r d , geradezu unerläßlich. H i e r b e i geht es insbesondere d a r u m , mittel- und langfristige Folgen einer solchen V e r w i r k l i c h u n g s b e m ü h u n g in bezug auf die individuelle Lebensgestaltung e b e n s o wie auf die Gesellschaft als ganze aufzudecken. Gegen die V e r w i r k l i c h u n g von Zielen W i d e r s t a n d zu leisten, deren e r k e n n b a r e Folgen sich negativ a u f den L e b e n s z u s a m m e n h a n g auswirken müssen trotz z u n ä c h s t m ö g l i c h e r positiver Wirkungen - der offene U n g e h o r s a m folglich —, k a n n dann in einem anderen Sinn die dem —»Gewissen folgende G e h o r s a m s l e i s t u n g sein (—>Widerstandsrecht). Die K r i t i k - K o m p o n e n t e im G e h o r s a m s b e g r i f f bezeichnet allerdings nur eine Seite. Ihre H e r v o r h e b u n g ist a b e r deswegen erforderlich, weil i m m e r wieder der G e h o r s a m zum Entschuldigungsgrund für nicht praktizierte V e r a n t w o r t u n g g e m a c h t wird. Diese T e n d e n z h a t mit der E n t w i c k l u n g der wissenschaftlich-technischen R a t i o n a l i t ä t noch eine neue Q u a l i t ä t b e k o m m e n , insofern dadurch auch die H a l t u n g ausgebildet worden ist, im Vertrauen a u f eben diese R a t i o n a l i t ä t ihren Regeln bedingungslos zu g e h o r c h e n und die n o t w e n d i g e V e r a n t w o r t u n g hinter das Ausschöpfen der durch sie eröffneten technischen M ö g l i c h k e i t e n im weitesten Sinne zurücktreten zu lassen. 4.4.
Die andere Seite des G e h o r s a m s b e g r i f f s wird durch den Begriff Dienst
bezeichnet.
D a m i t wird zugleich die p r o d u k t i v e K o m p o n e n t e des G e h o r s a m s kenntlich g e m a c h t . Er findet - zumal in der —»Nachfolge Christi - seinen Sinn in einem selbstlosen D i e n e n , mit dem das von G o t t in der S c h ö p f u n g g e w ä h r t e und durch J e s u s Christus bestätigte sowie in Geltung gehaltene L e b e n s r e c h t des M e n s c h e n befördert werden soll. D a m i t eröffnet sich der H o r i z o n t , in w e l c h e m die heute so n a c h h a l t i g geforderte nichtegoistische und nichtprivatistische Ethik ihren Sitz hat. K o n k r e t bedeutet dies, daß der G e h o r s a m sich keineswegs in ein e r bloßen Unterstellung unter G e b o t e und Anforderungen s o w i e in deren Befolgung ers c h ö p f t . Die d a m i t verbundenen K o n n o t a t i o n e n haben dann auch den G e h o r s a m , vor allem a u f dem Hintergrund der A u t o n o m i e b e s t r e b u n g e n der Neuzeit, in einem meist negativen L i c h t erscheinen lassen. Seine positive Bedeutung liegt a b e r gerade in dem bewußten Uberschritt aus der S p h ä r e der Privatheit in den der Ö f f e n t l i c h k e i t , in der sich der G e h o r s a m als Dienst
am Lebensrecbt
der Menschen
seinen politisch und gesellschaftlich k o n k r e t e n Aus-
d r u c k verschafft. Die vielzitierte politische
Verantwortung
des Christen gründet in diesem
dienenden G e h o r s a m , der sie auch d a v o r b e w a h r t , als b l o ß e A n m a ß u n g verstanden zu werden. Ekklesiologisch stellt der G e h o r s a m als Dienst an dem L e b e n s r e c h t des M e n s c h e n geradezu jenes M e d i u m dar, durch welches sich —»Kirche an die spätneuzeitliche Gesellschaft vermittelt. D a m i t bringt sie vor allem jene k o n s t r u k t i v e Bündelung von Handlungsenergien
156
Gehorsam
ein, um eine ebenso geordnete wie gerechte Entfaltung des Menschen in sozietärer Mitmenschlichkeit zu fördern. 4.5. Von hier aus läßt sich dann auch das Verhältnis von —>Autorität und Gehorsam zureichender bestimmen. Es w ü r d e der kritischen und produktiven Funktion des Gehorsams nicht gerecht, dieses Verhältnis nur als ein Gefälle von der anordnenden und gebietenden Autorität zur Gehorsamsleistung von Seiten dessen zu sehen, der Anordnungen und Gebote erhält. Die Probleme, die eine solche Sicht aufwirft, lassen gerade die unter Abschn. 2.4 angesprochenen —>Gelübde erkennen. Denn das M o m e n t der personalen Verantwortung bei bestehender Gehorsamspflicht wird stark zurückgedrängt, wenn nicht gar gänzlich beseitigt. Dies kann aber vermieden werden, wenn Autorität selbst als maßgeblich verantwortungsbewußter Einfluß verstanden wird. Eine anordnungsbefugte und gebietende Institution oder Person unterliegt damit ihrerseits ebenso einer Gehorsamspflicht nach der Seite hin, daß sie das Prinzip des Lebensrechts des Menschen beachten muß, auf dessen Förderung ihr Einfluß gerichtet zu sein hat, wenn sie nicht schuldig werden soll im Sinne von verantwortungslosem Handeln. Dort wo, wie im staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich, die Frage nach dem Verhältnis von Autorität und Gehorsam ständig ausdrücklich wird, kann sie folglich nicht mehr mit Hilfe eines starren Uber- und Unterordnungsschemas beantwortet werden. Vielmehr nötigt der in der für alle geltenden Verpflichtung gegenüber dem Lebensrecht des Menschen gründende Gehorsam dazu, an die Stelle eines starren Systems dynamische Formen der Kooperation zwischen Institutionen oder Personen treten zu lassen, unbeschadet bestehender unterschiedlicher Kompetenzen und Funktionen. Für die theologische Lehre vom —»Staat ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Ü b e r p r ü f u n g der in ihr implizit und explizit mitvertretenen Gehorsamskonzeptionen. Ziel einer solchen U b e r p r ü f u n g ist die Ablösung klassisch autoritärer Modelle zugunsten solcher, die Prozessen demokratischer M i t v e r a n t w o r t u n g und Mitentscheidung angemessen sind (—»Demokratie). 4.6. Z u r Ethik des Gehorsams gehört die mit besonderer Priorität versehene Klärung der Beziehung zwischen —»Freiheit und Gehorsam. Damit wird ein Problem berührt, daß in der Philosophie- und Geistesgeschichte der letzten 2 0 0 Jahre eine besondere Rolle spielt. Hier begegnet auch der großangelegte Versuch, Freiheit und Gehorsam, Autonomie und Heteronomie auf dem Boden der praktischen Vernunft zu vereinen. Das daraus entwickelte Denkmodell eines aus der Freiheit hervorwachsenden Gehorsams ist von der Theologie übern o m m e n und in ihren Glaubensbegriff integriert worden. Danach ist der Gehorsam des Glaubens zugleich die Verwirklichung der Glaubensfreiheit (vgl. z. B. Jüngel 208). Er kann so geradezu zu dem M e d i u m werden, das christliche Leben in seiner spezifischen Einheit von religiöser und bürgerlicher Existenz zur Geltung zu bringen (vgl. dazu Culliton 10ff). Dieses aus der praktischen Vernunft hervorgehende Konstrukt eines gleichsam autonomen Gehorsams hat unter dem Vorzeichen der neuzeitlichen Subjektivität zweifellos einen hohen Plausibilitätsgrad. Dennoch bleibt zu fragen, ob dies bereits das letzte Wort zur Sache ist, oder o b nicht auch der Unterschied zwischen Freiheit und Gehorsam wieder deutlicher markiert werden m u ß . Denn in der Geschichte der letzten 2 0 0 Jahre hat sich ebenfalls gezeigt, daß die konstruierte Einheit von Freiheit und Gehorsam praktisch nicht durchgehalten werden konnte, sondern stets zugunsten eines subjektivistischen oder autoritativen Freiheitsverständnisses aufgehoben zu werden drohte. Damit trat immer wieder die Gefahr hervor, das Zugleich von Freiheit und Gehorsam hinter ein Entweder-Oder zurücktreten zu lassen und die Milderung des schroffen Gegensatzes einer dialektischen Vermittlung zu überlassen, etwa der bekannten „Einsicht in die N o t w e n d i g k e i t " oder der „List der V e r n u n f t " . Die Beziehung zwischen beiden ist offensichtlich ungleich differenzierter und spannungsvoller, als sie durch ein Integrationsmodell zum Ausdruck gebracht werden k a n n . Dies läßt sich ebenfalls wieder am mönchischen G e h o r s a m verdeutlichen. Er gründet zweifellos in einem Akt der Freiheit. Indem diese aber in den Gehorsam aufgehoben wird, verliert der Gehorsam
Geiger
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selber in der ihn ausübenden Person an Richtung und Sinn. Er macht sie vielmehr zum Instrument für die Durchsetzung einer Sache, über die zu entscheiden, oder die zu verantworten ihr nicht mehr obliegt. Wird indessen davon ausgegangen, daß Freiheit die entscheidende Voraussetzung für eine dem gottgewährten Lebensrecht entsprechende Gestaltung des mitmenschlichen Lebenszusammenhangs ist, und besteht der konstruktive Charakter des Gehorsams darin, Dienst an diesem Lebensrecht zu sein, dann schließt das zugleich ein, daß Gehorsam auch Dienst an der Freiheit ist. Die Freiheit bedarf dieses Dienstes, um produktiv wirksam werden zu können (vgl. auch Culliton 17ff). In dieser Sicht ist dann auch die kritische Funktion des Gehorsams enthalten, insofern der Dienst an der Freiheit zum Kampf gegen die Unfreiheit in ihren vielen Spielarten werden muß. In der Struktur des Gehorsams als Dienst an der Freiheit ist so beides angelegt: die Bewahrung der Freiheit und ihrer politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Spieleben solcher Freiheit und der Felder für ihre Betätiräume; aber auch die Hervorbringung gung. Auch in dieser doppelten Perspektive ist Gehorsam in einem umgreifenden Sinne wahrgenommene Verpflichtung gegenüber der Ordnung der Freiheit. Umfang und Zielrichtung des von einzelnen politischen oder gesellschaftlichen Institutionen eingeforderten Gehorsams bestimmen sich nach dem Maß, wie eben solche Institutionen Einrichtungen der Ordnung der Freiheit sind. Literatur Paul Althaus, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1 9 6 5 . - Alfons Auer, Christianity's Dilemma. Freedom to be Autonomous or Freedom to Obey?: F. Böckle (Hg.), Moral Formation and Christianity, New York 1 9 7 8 , 4 7 - 5 5 . - Karl Barth, KD I I / 2 , 5 1 9 7 4 ; IV/4, 1967. - David C. Bock/Neil C. Warren, Religious Beliefs as a Factor in Obedience to Destructive Commands: RelRes 1 4 / 3 ( 1 9 7 2 ) 185 - 1 9 1 . Clodovis Boff, Für eine Ethik des christl.-sozialen Gehorsams: Conc (D) 1 6 / 2 ( 1 9 8 0 ) 6 4 5 - 6 4 9 . - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen, Zürich " 1 9 3 9 . - Rudolf Bultmann, Theol. des N T , Tübingen 6 1968. - Ders., GuV II, 4 1 9 5 3 ; IV - 1 9 6 7 . - Joseph Th. Culliton, Obedience - Gateway to Freedom, Plainfield N. J. 1 9 7 9 . - Werner Eiert, Morphologie des Luthertums, München, II - 1 9 5 8 . - George W. Forell, Faith active in Love, Philadelphia 4 1 9 6 4 . - Tullo Goffi, Umwege u. Irrwege des christl. Gehorsams: Conc (D) 1 6 / 2 ( 1 9 8 0 ) 6 0 3 - 6 1 1 . - Friedrich Gogarten, Die Verkündigung Jesu Christi, Heidelberg 1948. - Ders., Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit, Stuttgart 1953. - J . A. Heyms, Theology of Obedience: R T R 3 2 / 2 ( 1 9 7 3 ) 3 7 — 4 7 . — Karl Hörmann u. a., Verantwortung u. Gehorsam — Aspekte der heutigen Autoritäts- u. Gehorsamsproblematik, Innsbruck/Wien/München 1978. — Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1 9 7 7 . — Hermann Kunst, Ev. Glaube u. politische Verantwortung, Stuttgart 1 9 7 6 . - Waldemar Molinski, Art. Gehorsam: SM(D) 2, 1 9 6 - 2 0 5 . - Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, München 1 9 7 5 . - Ders., Trinität u. Reich Gottes, München 1 9 8 0 . - A l o i s Müller, Das Problem v. Befehl u. Gehorsam in der Kath. Kirche, Einsiedeln 1 9 6 4 . - P h i l i p L. Quinn, Religious Obedience and Moral Autonomy: Rel St 11 (1975) 2 6 5 - 2 8 1 . - Trutz Rendtorff, Ethik, Stuttgart, I 1980. - Edward Schillebeckx, Kritik des christl. Gehorsams u. christl. Antwort: Conc (D) 16/2 (1980) 6 1 2 - 6 2 2 . - Heinz-Dietrich Wendland, Einf. in die Sozialethik, Berlin/New York " 1 9 7 1 . - Ders., Ethik des N T , Göttingen ' 1 9 7 8 . - Gustaf Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, 1 9 5 2 (FGLP 10/3). - Ernst Wolf, Sozialethik, Göttingen 1 9 7 5 . - Charles M. Wood, The Knowledge Born of Obedience: A T h R 61 (1979) 3 3 1 - 3 4 1 .
Christian Walther Geiger, Abraham
(1810-1874)
Abraham Geiger wurde am 24. Mai 1 8 1 0 in einer gesetzestreuen jüdischen Familie in Frankfurt a. M . geboren. Als begabtes Kind erwarb er frühzeitige Kenntnisse in den traditionellen jüdischen Disziplinen. Während seiner Universitätsstudien, zuerst in Heidelberg, dann in Bonn, verschoben sich seine allgemeinen Interessen allmählich von der semitischen Philologie zur Philosophie und Geschichte. Er war insbesondere durch die Lektüre von J . G. —» Herder beeinflußt, dessen ausgreifender kulturgeschichtlicher Entwurf ihm besonders auf die jüdische Geistesgeschichte übertragbar schien. Da er als Jude keine akademische Position erreichen konnte, sich aber zu seinen Glaubensbrüdern hingezogen fühlte, entschied
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selber in der ihn ausübenden Person an Richtung und Sinn. Er macht sie vielmehr zum Instrument für die Durchsetzung einer Sache, über die zu entscheiden, oder die zu verantworten ihr nicht mehr obliegt. Wird indessen davon ausgegangen, daß Freiheit die entscheidende Voraussetzung für eine dem gottgewährten Lebensrecht entsprechende Gestaltung des mitmenschlichen Lebenszusammenhangs ist, und besteht der konstruktive Charakter des Gehorsams darin, Dienst an diesem Lebensrecht zu sein, dann schließt das zugleich ein, daß Gehorsam auch Dienst an der Freiheit ist. Die Freiheit bedarf dieses Dienstes, um produktiv wirksam werden zu können (vgl. auch Culliton 17ff). In dieser Sicht ist dann auch die kritische Funktion des Gehorsams enthalten, insofern der Dienst an der Freiheit zum Kampf gegen die Unfreiheit in ihren vielen Spielarten werden muß. In der Struktur des Gehorsams als Dienst an der Freiheit ist so beides angelegt: die Bewahrung der Freiheit und ihrer politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Spieleben solcher Freiheit und der Felder für ihre Betätiräume; aber auch die Hervorbringung gung. Auch in dieser doppelten Perspektive ist Gehorsam in einem umgreifenden Sinne wahrgenommene Verpflichtung gegenüber der Ordnung der Freiheit. Umfang und Zielrichtung des von einzelnen politischen oder gesellschaftlichen Institutionen eingeforderten Gehorsams bestimmen sich nach dem Maß, wie eben solche Institutionen Einrichtungen der Ordnung der Freiheit sind. Literatur Paul Althaus, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1 9 6 5 . - Alfons Auer, Christianity's Dilemma. Freedom to be Autonomous or Freedom to Obey?: F. Böckle (Hg.), Moral Formation and Christianity, New York 1 9 7 8 , 4 7 - 5 5 . - Karl Barth, KD I I / 2 , 5 1 9 7 4 ; IV/4, 1967. - David C. Bock/Neil C. Warren, Religious Beliefs as a Factor in Obedience to Destructive Commands: RelRes 1 4 / 3 ( 1 9 7 2 ) 185 - 1 9 1 . Clodovis Boff, Für eine Ethik des christl.-sozialen Gehorsams: Conc (D) 1 6 / 2 ( 1 9 8 0 ) 6 4 5 - 6 4 9 . - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen, Zürich " 1 9 3 9 . - Rudolf Bultmann, Theol. des N T , Tübingen 6 1968. - Ders., GuV II, 4 1 9 5 3 ; IV - 1 9 6 7 . - Joseph Th. Culliton, Obedience - Gateway to Freedom, Plainfield N. J. 1 9 7 9 . - Werner Eiert, Morphologie des Luthertums, München, II - 1 9 5 8 . - George W. Forell, Faith active in Love, Philadelphia 4 1 9 6 4 . - Tullo Goffi, Umwege u. Irrwege des christl. Gehorsams: Conc (D) 1 6 / 2 ( 1 9 8 0 ) 6 0 3 - 6 1 1 . - Friedrich Gogarten, Die Verkündigung Jesu Christi, Heidelberg 1948. - Ders., Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit, Stuttgart 1953. - J . A. Heyms, Theology of Obedience: R T R 3 2 / 2 ( 1 9 7 3 ) 3 7 — 4 7 . — Karl Hörmann u. a., Verantwortung u. Gehorsam — Aspekte der heutigen Autoritäts- u. Gehorsamsproblematik, Innsbruck/Wien/München 1978. — Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1 9 7 7 . — Hermann Kunst, Ev. Glaube u. politische Verantwortung, Stuttgart 1 9 7 6 . - Waldemar Molinski, Art. Gehorsam: SM(D) 2, 1 9 6 - 2 0 5 . - Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, München 1 9 7 5 . - Ders., Trinität u. Reich Gottes, München 1 9 8 0 . - A l o i s Müller, Das Problem v. Befehl u. Gehorsam in der Kath. Kirche, Einsiedeln 1 9 6 4 . - P h i l i p L. Quinn, Religious Obedience and Moral Autonomy: Rel St 11 (1975) 2 6 5 - 2 8 1 . - Trutz Rendtorff, Ethik, Stuttgart, I 1980. - Edward Schillebeckx, Kritik des christl. Gehorsams u. christl. Antwort: Conc (D) 16/2 (1980) 6 1 2 - 6 2 2 . - Heinz-Dietrich Wendland, Einf. in die Sozialethik, Berlin/New York " 1 9 7 1 . - Ders., Ethik des N T , Göttingen ' 1 9 7 8 . - Gustaf Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, 1 9 5 2 (FGLP 10/3). - Ernst Wolf, Sozialethik, Göttingen 1 9 7 5 . - Charles M. Wood, The Knowledge Born of Obedience: A T h R 61 (1979) 3 3 1 - 3 4 1 .
Christian Walther Geiger, Abraham
(1810-1874)
Abraham Geiger wurde am 24. Mai 1 8 1 0 in einer gesetzestreuen jüdischen Familie in Frankfurt a. M . geboren. Als begabtes Kind erwarb er frühzeitige Kenntnisse in den traditionellen jüdischen Disziplinen. Während seiner Universitätsstudien, zuerst in Heidelberg, dann in Bonn, verschoben sich seine allgemeinen Interessen allmählich von der semitischen Philologie zur Philosophie und Geschichte. Er war insbesondere durch die Lektüre von J . G. —» Herder beeinflußt, dessen ausgreifender kulturgeschichtlicher Entwurf ihm besonders auf die jüdische Geistesgeschichte übertragbar schien. Da er als Jude keine akademische Position erreichen konnte, sich aber zu seinen Glaubensbrüdern hingezogen fühlte, entschied
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Geiger
er sich für das Rabbinat. Er diente Gemeinden in Wiesbaden, Breslau, Frankfurt und Berlin. Als aktiver Reformer des jüdischen Glaubens und Lebens rief Geiger 1837 in Wiesbaden eine Versammlung gleichgesinnter Rabbiner zusammen und spielte später eine wichtige Rolle in den Konferenzen von Rabbinern des liberalen Judentums zwischen 1844 und 1846 in Braunschweig, Frankfurt und Breslau. Gegen Ende seines Lebens trat Geiger 1872 der Fakultät der neugegründeten „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" bei, wo er die Methodologie judaistischer Arbeit sowie die hebräische Bibel und die rabbinische Literatur lehrte. Er starb am 22. Oktober 1874 in Berlin. Geigers Bedeutung liegt in seinen wissenschaftlichen Beiträgen und in seiner geistigen und praktischen Führungsrolle im deutschen Judentum. Er war Herausgeber von Zeitschriften, die sowohl die jüdische Gelehrsamkeit förderten als auch das religiöse Leben des deutschen Judentums anregten: die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie ( 1 8 3 5 - 1 8 4 7 ) und die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben ( 1 8 6 2 - 1 8 7 5 ) , für die er auch die wichtigsten Artikel selbst schrieb. Als Gelehrter wurde Geiger zuerst bekannt durch sein Buch Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833), ein wegweisendes Werk, das von Orientalisten auch noch heute mit Interesse benutzt wird. Hier versucht Geiger zu zeigen, daß bestimmte, aus dem Judentum stammende Vorstellungen wie z. B. die -^Auferstehung, dem —»Islam durch das Christentum vermittelt sein könnten; biblische Erzählungen, die im Koran mit ausgeführter midraschischer Ausschmückung erscheinen, müssen dagegen auf direkten jüdischen Einfluß zurückgehen. Geigers wissenschaftliches Hauptwerk ist Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judenthums (1857). Hier setzte er die Ergebnisse philologischer Analyse in Beziehung zur Entwicklung des Judentums in der Zeit vor der Fixierung des masoretischen Textes und sieht die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden jüdischen Gruppen sich in Textvarianten spiegeln. Geiger suchte den historischen Prozeß darzustellen, in dem das biblische zum rabbinischen Judentum wurde. Obwohl Geigers Bibelkritik und seine Annahme einer historischen Entwicklung des Judentums von traditionell eingestellten jüdischen Gelehrten abgelehnt wurden, fand sein Werk bis in die Gegenwart hinein zunehmende Resonanz. Es wurde 1928 neu gedruckt und erschien 1949 in hebräischer Übersetzung. Geigers umfassendstes Werk sind die Vorlesungen Das Judentum und seine Geschichte (3 Bde., 1 8 6 5 - 1 8 7 1 ) . Hier ist die apologetische Tendenz, die ohnehin in Geigers gelehrtem Werk zu finden ist, besonders offensichtlich. Da er zwischen dem von ihm untersuchten historischen Judentum und seiner eigenen selektiven Lektüre desselben nicht genügend differenziert, betont Geiger zu stark die universalistischen Elemente, von denen er glaubte, daß sie in seiner Zeit die lebensfähigsten seien. Unter seinen weiteren gelehrten Werken sind kürzere Studien über Pharisäer und Sadduzäer, über —»Salomon ibn Gabirol und —>Jehuda Hallevi, über mittelalterliche jüdische Bibelexegese in Nordfrankreich und über den venezianischen Rabbiner Leon da Modena aus dem 17. Jh. Es gibt wenig Themen im Umkreis der Judaistik des 19. Jh., mit denen sich Geiger nicht befaßte. Teile seines Werkes erschienen in Hebräisch und richteten sich vornehmlich an jüdische Gelehrte, während er gleichzeitig eine im wesentlichen nichtjüdische Leserschaft durch seine Beiträge zur Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft ansprach. Als religiöser Denker und praktischer Reformer ist Geiger als zentrale Figur der frühen Geschichte des Reformjudentums anerkannt, einer Bewegung, der heute etwa 1,5 Mio. Juden angehören. Es waren Geiger und sein Kreis, die auf einem freien Studium der jüdischen Vergangenheit bestanden, einer Konzeption jüdischen Glaubens als sich entwickelnder Wesenheit, der Idee fortschreitend sich enthüllender Offenbarung und der Verpflichtung zu weiterer religiöser Entwicklung im Rahmen eines historisch anpassungsfähigen Judentums. Trotz heftiger Opposition von Seiten der orthodoxen Juden und vieler Kontroversen innerhalb der Gemeinde während seiner Zeit in Breslau, kämpfte Geiger für Reformen, die traditionelle Konzeptionen beseitigen oder verändern würden, welche ohnehin von Teilen des sich schnell modernisierenden deutschen Judentums nicht länger als verbindlich erachtet wurden. Insbesondere stritt er für das Unterlassen von Gebeten und Handlungen, die auf
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„Aberglauben" basierten, sonst mit der Vernunft unvereinbar seien, bzw. auch gegen solche, die die nicht meh r gehegte H o f f n u n g auf die Rückkehr nach Zion oder die die ästhetisch und kulturell isolierten Bedingungen des alten —»Gettos zum Ausgangspunkt hatten. Unter seinen Mitreformern galt Geiger als einer der Radikalen, o b w o h l er gegen separate Gemeinden und die erwogene Verlegung des —»Sabbat auf den —»Sonntag opponierte. Im Laufe seines Lebens mäßigte Geiger seinen Standpunkt. Er war ein ernster Kritiker des Christentums, von dem er glaubte, d a ß es versäumt habe, die H e r a u s f o r d e r u n g der M o d e r n e anzunehmen. O b w o h l er ursprünglich vom Werk kritischer Gelehrter wie D. F. —»Strauß angezogen war, ließ ihn sein Gefühl, d a ß das Christentum nach 1848 viel konservativer geworden sei, in seinen späteren Jahren die Unterschiedlichkeit des J u d e n t u m s hervorheben und seine relativ größere Fähigkeit, sich der modernen Kultur anzupassen. Er richtete seinen Blick besonders auf das, was er die besondere „Genialität" des jüdischen Volkes nannte, die, erleuchtet von der O f f e n b a r u n g , vielfältigen Ausdruck in der jüdischen Geschichte gefunden habe. Gleichwohl blieb Geigers Theologie immer universalistisch, wobei in seinen Augen der universalistische Messianismus der jüdischen Propheten die besondere Botschaft des Judentums war. Quellen Bibliographie:
Ludwig Geiger, A b r a h a m Geiger - Leben u. Lebenswerk, Berlin 1910, 4 1 5 - 4 7 0 .
Literatur Bibliographie: Michael A. Meyer, A Bibliography of Secondary Literature, in N e w Perspectives on A b r a h a m Geiger, hg. v. J a k o b J. Petuchowski, Cincinnati 1 9 7 5 , 5 5 - 5 8 . - S e i t d e m ist erschienen: J a k o b J. Petuchowski, A b r a h a m Geiger and Samuel H o l d h e i m : YLBI 22 (1977) 1 3 9 - 1 5 9 .
Michael A. Meyer
Geiler von Kaysersberg, Johannes
(1445-1510)
Am 16. März 1445 in Schaffhausen geboren, w a r Geiler noch ein kleines Kind, als sein Vater, der 1446 in Ammerschweier bei Colmar eine Stadtschreiberstelle angenommen hatte, im Jahr darauf während einer Bärenjagd ums Leben k a m . Geilers Großvater, ein wohlhabender Bürger des nahe gelegenen Kaysersberg, wurde der V o r m u n d des Knaben und legte großen Wert auf dessen Erziehung. 1460 wurde Geilers N a m e in die Matrikel der Universität—»Freiburg i. Br. eingetragen. Für Prunk und auffallende Kleidung hatte der Jüngling eine gewisse Vorliebe, mußte er doch, bevor ihm 1463 die Magisterwürde verliehen wurde, versprechen, in Z u k u n f t auf Schnabelschuhe, Armringe und Halsketten zu verzichten. W a n n und unter wessen Einfluß Geiler sich zum ernsten Leben bekehrte, ist nicht bekannt. Jedenfalls faßte er den Entschluß, Theologie zu studieren. Zugleich dozierte er die freien Künste, wie es ihm der Titel eines magister artium ermöglichte; Dekan der Artistenfakultät wurde er 1469. Damals wurde er wohl mit Friedrich von Zollern, dem späteren Straßburger D o m d e k a n , und mit dem Schlettstädter Humanisten J a k o b Wimpfeling bekannt, die 1464 bzw. 1468 immatrikuliert worden waren. Geiler betrachtete sie zeitlebens als seine Freunde. Nachdem er 1470 zum Priester geweiht worden war, siedelte Geiler 1471 nach Basel über, w o er sich schon vorher zeitweise aufgehalten hatte; 1468 hörte er der ersten Predigt zu, die der frühere D o m h e r r und inzwischen in den Dominikanerorden eingetretene J o h a n n Kreutzer im Basler D o m gehalten hatte. W ä h r e n d seines fünfjährigen Aufenthalts in Basel widmete sich Geiler hauptsächlich dem Studium der Theologie; seine Promotion fand 1475 statt und bereits 1476 folgte der D o k t o r einem Ruf nach Freiburg. Noch im selben Jahr wurde er zum Rektor gewählt. Doch bereits 1477 gab er seine Professur auf. Die Gründe f ü r diese plötzliche Wende sind wohl in seinen philosophisch-theologischen Überzeugungen zu suchen. Als Student und wohl später auch als Professor gehörte Geiler der nominalistischen Schule an (—»Nominalismus). Allerdings scheint er die gemäßigte Richtung der via moderna
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„Aberglauben" basierten, sonst mit der Vernunft unvereinbar seien, bzw. auch gegen solche, die die nicht meh r gehegte H o f f n u n g auf die Rückkehr nach Zion oder die die ästhetisch und kulturell isolierten Bedingungen des alten —»Gettos zum Ausgangspunkt hatten. Unter seinen Mitreformern galt Geiger als einer der Radikalen, o b w o h l er gegen separate Gemeinden und die erwogene Verlegung des —»Sabbat auf den —»Sonntag opponierte. Im Laufe seines Lebens mäßigte Geiger seinen Standpunkt. Er war ein ernster Kritiker des Christentums, von dem er glaubte, d a ß es versäumt habe, die H e r a u s f o r d e r u n g der M o d e r n e anzunehmen. O b w o h l er ursprünglich vom Werk kritischer Gelehrter wie D. F. —»Strauß angezogen war, ließ ihn sein Gefühl, d a ß das Christentum nach 1848 viel konservativer geworden sei, in seinen späteren Jahren die Unterschiedlichkeit des J u d e n t u m s hervorheben und seine relativ größere Fähigkeit, sich der modernen Kultur anzupassen. Er richtete seinen Blick besonders auf das, was er die besondere „Genialität" des jüdischen Volkes nannte, die, erleuchtet von der O f f e n b a r u n g , vielfältigen Ausdruck in der jüdischen Geschichte gefunden habe. Gleichwohl blieb Geigers Theologie immer universalistisch, wobei in seinen Augen der universalistische Messianismus der jüdischen Propheten die besondere Botschaft des Judentums war. Quellen Bibliographie:
Ludwig Geiger, A b r a h a m Geiger - Leben u. Lebenswerk, Berlin 1910, 4 1 5 - 4 7 0 .
Literatur Bibliographie: Michael A. Meyer, A Bibliography of Secondary Literature, in N e w Perspectives on A b r a h a m Geiger, hg. v. J a k o b J. Petuchowski, Cincinnati 1 9 7 5 , 5 5 - 5 8 . - S e i t d e m ist erschienen: J a k o b J. Petuchowski, A b r a h a m Geiger and Samuel H o l d h e i m : YLBI 22 (1977) 1 3 9 - 1 5 9 .
Michael A. Meyer
Geiler von Kaysersberg, Johannes
(1445-1510)
Am 16. März 1445 in Schaffhausen geboren, w a r Geiler noch ein kleines Kind, als sein Vater, der 1446 in Ammerschweier bei Colmar eine Stadtschreiberstelle angenommen hatte, im Jahr darauf während einer Bärenjagd ums Leben k a m . Geilers Großvater, ein wohlhabender Bürger des nahe gelegenen Kaysersberg, wurde der V o r m u n d des Knaben und legte großen Wert auf dessen Erziehung. 1460 wurde Geilers N a m e in die Matrikel der Universität—»Freiburg i. Br. eingetragen. Für Prunk und auffallende Kleidung hatte der Jüngling eine gewisse Vorliebe, mußte er doch, bevor ihm 1463 die Magisterwürde verliehen wurde, versprechen, in Z u k u n f t auf Schnabelschuhe, Armringe und Halsketten zu verzichten. W a n n und unter wessen Einfluß Geiler sich zum ernsten Leben bekehrte, ist nicht bekannt. Jedenfalls faßte er den Entschluß, Theologie zu studieren. Zugleich dozierte er die freien Künste, wie es ihm der Titel eines magister artium ermöglichte; Dekan der Artistenfakultät wurde er 1469. Damals wurde er wohl mit Friedrich von Zollern, dem späteren Straßburger D o m d e k a n , und mit dem Schlettstädter Humanisten J a k o b Wimpfeling bekannt, die 1464 bzw. 1468 immatrikuliert worden waren. Geiler betrachtete sie zeitlebens als seine Freunde. Nachdem er 1470 zum Priester geweiht worden war, siedelte Geiler 1471 nach Basel über, w o er sich schon vorher zeitweise aufgehalten hatte; 1468 hörte er der ersten Predigt zu, die der frühere D o m h e r r und inzwischen in den Dominikanerorden eingetretene J o h a n n Kreutzer im Basler D o m gehalten hatte. W ä h r e n d seines fünfjährigen Aufenthalts in Basel widmete sich Geiler hauptsächlich dem Studium der Theologie; seine Promotion fand 1475 statt und bereits 1476 folgte der D o k t o r einem Ruf nach Freiburg. Noch im selben Jahr wurde er zum Rektor gewählt. Doch bereits 1477 gab er seine Professur auf. Die Gründe f ü r diese plötzliche Wende sind wohl in seinen philosophisch-theologischen Überzeugungen zu suchen. Als Student und wohl später auch als Professor gehörte Geiler der nominalistischen Schule an (—»Nominalismus). Allerdings scheint er die gemäßigte Richtung der via moderna
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befolgt zu haben. Sein Lehrer in Basel, Wilhelm Textoris, der ihm 1471 wahrscheinlich die Stelle eines Dompfarrers verschaffte, gab ihm das Beispiel des guten Einvernehmens mit andersdenkenden Kollegen. Mit Heynlin von Stein, der in Basel wie vorher in Paris den Realismus vertrat, verstand sich Textoris so gut, daß er ihn bat, während seiner Reise in das Heilige Land an seiner Stelle die Predigten im Dom zu halten. Beide Theologen betrachteten die Seelsorge als eine Pflicht, die alle anderen Erwägungen übertraf. Dieselbe Haltung hatte früher schon der Kanzler der Pariser Universität J. -n>Gerson eingenommen. Für diesen berühmten Lehrer begeisterte sich Geiler, als er noch Student war; seine Bewunderung blieb so stark, daß Wimpfeling in seiner Vita Geileri den Straßburger Kanzelredner als Gersonis illustrator bezeichnete. Auch Gerson hatte einst an den Streitigkeiten der theologischen Schulen Anstoß genommen und erstrebte ihre friedliche Zusammenarbeit. Aber er blieb dennoch den Grundprinzipien der via moderna treu, vor allem der persönlichen Verantwortung des Menschen, der die Pflicht hat, alles zu tun, was er vermag, um zum Heil zu gelangen. Dementsprechend haben die Geistlichen die Aufgabe, die Christen entsprechend zu belehren; Theologen dürfen die Praxis der Theorie zuliebe nicht verachten, und die Pastoraltheologie ist für sie kein Nebenfach. In Gersons Leben nahm die Seelsorge einen beträchtlichen Platz ein. Diesem Beispiel wollte Geiler folgen. Beziehungen, die er mit zeitgenössischen Vertretern des „pastoralen Nominalismus", Eggelin von Braunschweig und G. —»Biel, anknüpfte, bestärkten ihn in diesem Entschluß. Als Basler Dompfarrer hatte er festgestellt, daß seine Skrupel ihn zum Beichtvater nicht geeignet machten; dagegen hatte er Gelegenheit gehabt, die Wirkung seiner Rednergabe zu ermessen, besonders im Kurort Baden, wo er seine Zuhörer begeisterte. Obschon Würzburg ihm ein Angebot gemacht hatte, zog er es vor, der Einladung des Straßburger Ammeisters Schott Folge zu leisten. 1478 trat er das für ihn geschaffene Dompredigeramt an. Die Pflichten, die ihm auferlegt wurden, waren nicht leicht. Predigen mußte er während der Fastenzeit täglich, sonst an jedem Sonntag und an den gebotenen Feiertagen. Rasch wurde er als Redner so beliebt, daß er gebeten wurde, auch außerhalb des Münsters das Wort zu nehmen. Besonders in den Kirchen der Frauenklöster hielt er viele Ansprachen. Geiler pflegte nicht aus dem Stegreif zu reden. Fleißig bereitete der „doctor im münster" seine Predigten vor; dazu diente ihm seine reiche Bibliothek. Sorgfältig ordnete er das angesammelte Material, den Grundsätzen der ars praedicandi gemäß. Meistens wählte er den Stoff seiner Ansprachen aus seiner Lektüre und hielt sich dann an seine Vorlage. Für Gerson hatte er eine ausgesprochene Vorliebe, auch Niders Werke lieferten ihm viele Themen, und —»Brants Narrenschiff gab den Leitfaden eines ganzen Predigtenzyklus ab. Selbst aus einer spröden Grundlage wußte Geiler vieles herauszuziehen, was für seine Zuhörer ansprechend war. Er hatte die Gabe, Abstraktes in Konkretes umzuwandeln. Aus dem täglichen Leben schöpfte er, was er für seine bilderreiche Sprache brauchte. Sinnbilder nutzte er kräftig aus. Die emblematische Predigtweise (—>Emblem/Emblematik) war ihm geläufig; das bekannteste Beispiel dafür ist wohl der Hase im Pfeffer, aber auch Lebkuchen, Spinnrocken und anderes mehr war er in der Lage geistlich umzudeuten. Kräftiger Humor würzte seine Reden, die es auch an Derbheit nicht fehlen ließen. Der Schwerpunkt seiner Lehre lag in der Rechtfertigung. Immer wieder erinnerte er seine Zuhörer daran, daß Gottes Liebe grenzenlos sei und daß Christi Leiden sie vom ewigen Tod erlöst hatte. Doch darf diese Gnade nicht passiv hingenommen werden. Der nominalistischen Theologie entsprechend, fordert Geiler die Gläubigen auf, so zu handeln, als ob ihr Heil von ihrem eigenen Wirken abhänge. Alle von der Kirche gebotenen Mittel sollten die Christen benutzen, den Empfang der Sakramente, aber auch Andachten und private Gebete empfahl Geiler dringend. Daß das Leben im Kloster ein „Seelenparadies" sein konnte, bemühte sich Geiler oft zu beweisen. Doch machte er es sich zur Pflicht, seine Zuhörer vor dem trügerischen Vertrauen auf äußerliche Werke zu warnen. Mit ihrem persönlichen Erleben mußten sie Gebärden und Worte in Einklang bringen. Die Verinnerlichung des Gebetes war der sicherste Weg zum geistlichen Fortschritt. Auf diesem Gebiet schloß sich Geiler besonders eng an Gersons Lehre an. Aufbauen konnte man nur, wenn mit dem Laster aufgeräumt
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war. An kräftigen Warnungen ließ es der Prediger nicht fehlen. Die „helltönende Posaune des Münsters" sollte die Seelen wecken. Geiler verglich sich mit dem Wächter, der ins H o r n bläst, sobald er vom T u r m aus einen Brandherd gesichtet hat. Die Schäden der Kirche deckte er schonungslos auf; das Verhalten der Prälaten tadelte er mit beißender Ironie. Die weltliche Gesellschaft schonte er keineswegs und b r a n d m a r k t e die Sittenverderbnis vieler seiner Zeitgenossen. Auch vor dem Stadtregiment machte der mutige Kanzelredner nicht halt. Er sprach sich über die Miß- und Günstlingswirtschaft der Straßburger Regierung mit derartiger Offenheit aus, daß diese ihn bat, seine Beschwerden schriftlich niederzulegen, was er in 21 Artikeln tat. Für die Notwendigkeit von Sozialreformen hatte er einen scharfen Sinn. Arme und K r a n k e - besonders die verabscheuten Syphilitiker— wollte er unterstützt und gepflegt sehen. Die Handelsleute, welche M o n o p o l e aufrichten wollten, die reichen Bürger, die ihre Kornvorräte zu Wucherpreisen verkauften, rügte er scharf. Im engeren Sinne war Geiler kein Reformer, weil ihm Entscheidungsgewalt fehlte. Er hat jedoch keine Gelegenheit versäumt, im Sinne einer tiefgreifenden Erneuerung der Kirche zu wirken. Die Ordensleute, die für die Einführung der strengen Observanz k ä m p f t e n , konnten auf seine Unterstützung zählen. In den reformierten Klöstern machte er es sich zur Pflicht, durch seine Predigten den asketischen Geist aufrecht zu halten. Die Besserung des Diözesanklerus lag ihm ganz besonders am Herzen. Deswegen versuchte er, den Bischof Albrecht von Bayern ( 1 4 7 8 - 1 5 0 6 ) für seine Pläne zu gewinnen. 1482 wurde er beauftragt, die Eröffnungsansprache der Diözesansynode zu halten. Ein dauernder Widerhall war seinen M a h nungen jedoch nicht beschieden. 1486 wurde die Auflösung des Kanonissenstifts St. Stefan ins Auge gefaßt; an die Stelle dieses in Verruf gekommenen Klosters sollte eine für Theologen und Kanonisten reservierte Anstalt treten. Aus diesem Plan w u r d e aber nichts. Die 1491 in Angriff genommene Visitation der Diözese wurde wieder aufgegeben, weil sich das Domkapitel dagegen sträubte. Geiler war darüber bitter enttäuscht. Im Sinne Gersons hatte er auf eine Reform gehofft, in welcher der Bischof die entscheidende Rolle gespielt hätte, seinen Priestern mit dem guten Beispiel vorangeeilt wäre und diese als seine Mitarbeiter im Weinberg des Herren behandelt hätte. Dazu war der skeptisch veranlagte Albrecht von Bayern keineswegs geeignet. N u r der Genesung seiner Finanzen widmete er sich tatkräftig. Die 90er Jahre des 15. Jh. waren für Geiler moralisch erschöpfend. M a n c h e Freunde hatte der T o d weggerissen; andere waren Kartäuser geworden; Friedrich von Zollern hatte den Augsburger Bischofsstuhl bestiegen. Der „ d o c t o r im m ü n s t e r " , den das Einsiedlerleben von jeher angezogen hatte, entschloß sich, den Lebensabend mit M ä n n e r n , zu denen er Vertrauen hatte, darunter Christof von Utenheim, J. Wimpfeling und der Dominikaner T h . Lamparter, in einer Klause zu verbringen. Die Wahl Utenheims zum Bischof von Basel (1501) brachte jedoch auch dieses Projekt zum Scheitern. Geiler verlegte seine Tätigkeit auf die Bildung des einzelnen Christen, weil er an die Besserung der Strukturen k a u m noch glaubte. Mit den Humanisten, die ein ähnliches Ziel verfolgten, verband ihn eine enge Freundschaft. Seinem Einfluß verdankte es Straßburg, d a ß S. Brant die Stelle eines Stadtsyndikus annahm, daß Wimpfeling sich öfters in der N ä h e Geilers aufhielt und daß der in Schlettstadt erprobte Lehrer H . Gebwiller die Leitung der Domschule ü b e r n a h m . Als 1506 ein Gönner des Humanismus, der sittenstrenge Prälat Wilhelm von Honstein der Nachfolger Albrechts von Bayern wurde, schien die Zeit reif f ü r eine kräftige Reformpolitik. Geilers H o f f n u n g war nur von kurzer Dauer. Wilhelm w a r ein Zauderer; die Politik n a h m seine Kräfte bald vollständig in Anspruch. 1508 ging von dem Prediger ein Angstschrei aus: „Ich sprich nein, es est auch kein H o f f n u n g , dass es besser werd um die C h r i s t e n h e i t . . . D a r u m so stoss ein jeglicher sein H a u p t . . . in ein Loch, und sehe, dass er Gottes Gebot halte und tue, das recht sei, damit er selig werde". Als Geiler am 10. 3. 1 5 1 0 s t a r b , w u r d e e r v o r der Kanzel,die 1486 f ü r ihn errichtet worden war, bestattet. Unter dem Eindruck seines Todes verfaßte Wimpfeling eine Vita Geileri, die er zu einer „moralisch-kirchenpolitischen Programmschrift" gestaltete. Der junge Beatus Rhenanus schrieb eine mehr humanistisch gehaltene Darstellung seines Lebens. Des Dompredigers Ruf war weit über die Straßburger Stadtmauern hinausgedrungen. —>Maxi-
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Geißler
milian I. hatte des öfteren mit Geiler Unterredungen. — Um die N a c h w i r k u n g seiner persönlichen Lehre hat sich der berühmte Kanzelredner wenig gekümmert; nur seine Übersetzungen Gersons hat er selbst in Druck gegeben. Doch wurden viele seiner Predigten nach seinem Tode veröffentlicht. Sein Neffe und Nachfolger Peter Wickram benutzte dazu die lateinischen Notizen, die er in Geilers N a c h l a ß gefunden hatte. Der Barfüßer Pauli dagegen übergab dem Verleger die eigenen Aufzeichnungen in deutscher Sprache, die er als Zuhörer Geilers verfaßt hatte. Mit der Reformation brach das Nachwirken des Predigers jäh ab; die Anhänger der neuen Lehre betrachteten zwar Geiler als einen V o r k ä m p f e r , konnten aber mit seinen Ansprachen, die der mittelalterlichen Theologie treu geblieben waren, wenig anfangen. Katholischerseits war man, in R o m wenigstens, einer Meinung mit den Protestanten, und so wurden seine Bücher in den Index librorum prohibitorum aufgenommen. Quellen Eine kritische Edition der Geilerschen Predigten steht noch aus. Das Problem der handschriftlichen Überlieferung hat behandelt: Luzian Pfleger, Z u r hsl. Uberlieferung Geilerscher Predigttexte: AEKG 6 (1931) 1 9 5 - 2 0 5 . - D e r s . , Der Franziskaner Johannes Pauli u. seine Ausg. Geilerscher Predigten: AEKG 3 (1928) 4 7 - 9 6 . - J a k o b Wimpfeling/Beatus Rhenanus, Das Leben des J. Geiler v. Kaysersberg, hg. v. O. Herding, M ü n c h e n 1970. Literatur E. Breitenstein, Die Quellen der Geiler. . .zugeschriebenen Emeis: AEKG 13 (1938) 1 4 1 - 2 8 2 . - L . Dacheux, Un réformateur catholique à la fin du XVe siècle, J. Geiler de Kaysersberg, Paris 1876. Ders., Les plus anciens écrits de Geiler de Kaysersberg, Kolmar 1882. - E. Jane Dempsey Douglass, Justification in Late Médiéval Preaching. A Study of J o h n Geiler of Kaisersberg, Leiden 1966. - Herbert Kraume, Die Gerson-Übers. Geilers v. Kaysersberg. Stud. zur dt. sprachigen Gerson Rezeption, M ü n chen 1980. - H. L a n d m a n n , Z u r Gesch. der oberelsässischen Predigt in der Jugendzeit Geilers: AEA1 1 (1946) 1 3 3 - 1 6 1 ; 2 (1947/48) 2 0 5 - 2 3 4 . - Francis R a p p , L'Eglise et les pauvres à la fin du moyen âge, l'exemple de Geiler de Kaysersberg: R H E F 5 2 (1966) 3 9 - 4 6 . - Elvire Roeder v. Diersburg, Komik u. H u m o r bei Geiler, Berlin 1921. - Charles Schmidt, Histoire littéraire de l'Alsace à la fin du XVe et au commencement d u XVIe siècle, Paris, 118 79. - A. V o n l a n t h e n , Geilers Seelenparadies im Verhältnis zur Vorlage: AEKG 6 (1931) 2 2 9 - 3 2 8 .
Francis Rapp Geißler 1. Die Geißlerbewegung von 1 2 6 0 / 6 1 2. Die Geißlerbewegung von 1 3 4 8 / 4 9 lanten des 14. u n d 15. Jh. (Quellen/Literatur S.168)
1. Die Geißlerbewegung
von
3. Kryptoflagel-
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1.1. Raniero Fasani und die Ausbreitung der Geißelbuße in Italien. Das als Bußleistung und asketische Übung angewandte Geißeln w u r d e in dem von politischen Parteikämpfen, wirtschaftlicher Depression, joachimitischen Endzeiterwartungen (—»Joachim von Fiore) und einer verheerenden Epidemie im Jahre 1259 erschütterten Italien seit dem Herbst 1260 in Form der Selbstgeißelung erstmals zu einer religiösen Massenbewegung. Ausgangspunkt w a r Perugia in Umbrien, w o im Mai 1260 der einer Bußbruderschaft angehörende Laie Raniero Fasani mit Z u s t i m m u n g der städtischen Obrigkeit zusammen mit einigen Gleichgesinnten sich öffentlich selbst geißelte und seine Mitbürger mit Erfolg zur N a c h a h m u n g anspornte, wobei er gesagt haben soll, „eine Engelstimme habe ihm verkündet, die Stadt Perugia würde zu G r u n d e gehen, falls ihre Bewohner nicht Buße t ä t e n " (Annales lanuenses: MGH.SS XVIII, 241). N a c h einer den guelfischen Städten Perugia, Orvieto und Florenz von der mit dem Staufer M a n f r e d verbündeten Rivalin Siena am 4. September 1260 bei M o n t a perti beigebrachten Niederlage organisierten die Bewohner von Perugia eine zu —Buße und —Frieden auffordernde Prozession nach Bologna, deren Teilnehmer sich der durch Raniero Fasani propagierten disciplina der Geißelung unterzogen, w o d u r c h eine Friedensbewegung nach Art des „ G r o ß e n Alleluja" von 1233 ausgelöst wurde, die sich durch immer neue Geißelprozessionen von Stadt zu Stadt in Mittel- und Oberitalien rasch verbreitete, jedoch Süd-
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Geißler
milian I. hatte des öfteren mit Geiler Unterredungen. — Um die N a c h w i r k u n g seiner persönlichen Lehre hat sich der berühmte Kanzelredner wenig gekümmert; nur seine Übersetzungen Gersons hat er selbst in Druck gegeben. Doch wurden viele seiner Predigten nach seinem Tode veröffentlicht. Sein Neffe und Nachfolger Peter Wickram benutzte dazu die lateinischen Notizen, die er in Geilers N a c h l a ß gefunden hatte. Der Barfüßer Pauli dagegen übergab dem Verleger die eigenen Aufzeichnungen in deutscher Sprache, die er als Zuhörer Geilers verfaßt hatte. Mit der Reformation brach das Nachwirken des Predigers jäh ab; die Anhänger der neuen Lehre betrachteten zwar Geiler als einen V o r k ä m p f e r , konnten aber mit seinen Ansprachen, die der mittelalterlichen Theologie treu geblieben waren, wenig anfangen. Katholischerseits war man, in R o m wenigstens, einer Meinung mit den Protestanten, und so wurden seine Bücher in den Index librorum prohibitorum aufgenommen. Quellen Eine kritische Edition der Geilerschen Predigten steht noch aus. Das Problem der handschriftlichen Überlieferung hat behandelt: Luzian Pfleger, Z u r hsl. Uberlieferung Geilerscher Predigttexte: AEKG 6 (1931) 1 9 5 - 2 0 5 . - D e r s . , Der Franziskaner Johannes Pauli u. seine Ausg. Geilerscher Predigten: AEKG 3 (1928) 4 7 - 9 6 . - J a k o b Wimpfeling/Beatus Rhenanus, Das Leben des J. Geiler v. Kaysersberg, hg. v. O. Herding, M ü n c h e n 1970. Literatur E. Breitenstein, Die Quellen der Geiler. . .zugeschriebenen Emeis: AEKG 13 (1938) 1 4 1 - 2 8 2 . - L . Dacheux, Un réformateur catholique à la fin du XVe siècle, J. Geiler de Kaysersberg, Paris 1876. Ders., Les plus anciens écrits de Geiler de Kaysersberg, Kolmar 1882. - E. Jane Dempsey Douglass, Justification in Late Médiéval Preaching. A Study of J o h n Geiler of Kaisersberg, Leiden 1966. - Herbert Kraume, Die Gerson-Übers. Geilers v. Kaysersberg. Stud. zur dt. sprachigen Gerson Rezeption, M ü n chen 1980. - H. L a n d m a n n , Z u r Gesch. der oberelsässischen Predigt in der Jugendzeit Geilers: AEA1 1 (1946) 1 3 3 - 1 6 1 ; 2 (1947/48) 2 0 5 - 2 3 4 . - Francis R a p p , L'Eglise et les pauvres à la fin du moyen âge, l'exemple de Geiler de Kaysersberg: R H E F 5 2 (1966) 3 9 - 4 6 . - Elvire Roeder v. Diersburg, Komik u. H u m o r bei Geiler, Berlin 1921. - Charles Schmidt, Histoire littéraire de l'Alsace à la fin du XVe et au commencement d u XVIe siècle, Paris, 118 79. - A. V o n l a n t h e n , Geilers Seelenparadies im Verhältnis zur Vorlage: AEKG 6 (1931) 2 2 9 - 3 2 8 .
Francis Rapp Geißler 1. Die Geißlerbewegung von 1 2 6 0 / 6 1 2. Die Geißlerbewegung von 1 3 4 8 / 4 9 lanten des 14. u n d 15. Jh. (Quellen/Literatur S.168)
1. Die Geißlerbewegung
von
3. Kryptoflagel-
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1.1. Raniero Fasani und die Ausbreitung der Geißelbuße in Italien. Das als Bußleistung und asketische Übung angewandte Geißeln w u r d e in dem von politischen Parteikämpfen, wirtschaftlicher Depression, joachimitischen Endzeiterwartungen (—»Joachim von Fiore) und einer verheerenden Epidemie im Jahre 1259 erschütterten Italien seit dem Herbst 1260 in Form der Selbstgeißelung erstmals zu einer religiösen Massenbewegung. Ausgangspunkt w a r Perugia in Umbrien, w o im Mai 1260 der einer Bußbruderschaft angehörende Laie Raniero Fasani mit Z u s t i m m u n g der städtischen Obrigkeit zusammen mit einigen Gleichgesinnten sich öffentlich selbst geißelte und seine Mitbürger mit Erfolg zur N a c h a h m u n g anspornte, wobei er gesagt haben soll, „eine Engelstimme habe ihm verkündet, die Stadt Perugia würde zu G r u n d e gehen, falls ihre Bewohner nicht Buße t ä t e n " (Annales lanuenses: MGH.SS XVIII, 241). N a c h einer den guelfischen Städten Perugia, Orvieto und Florenz von der mit dem Staufer M a n f r e d verbündeten Rivalin Siena am 4. September 1260 bei M o n t a perti beigebrachten Niederlage organisierten die Bewohner von Perugia eine zu —Buße und —Frieden auffordernde Prozession nach Bologna, deren Teilnehmer sich der durch Raniero Fasani propagierten disciplina der Geißelung unterzogen, w o d u r c h eine Friedensbewegung nach Art des „ G r o ß e n Alleluja" von 1233 ausgelöst wurde, die sich durch immer neue Geißelprozessionen von Stadt zu Stadt in Mittel- und Oberitalien rasch verbreitete, jedoch Süd-
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italien und einzelne ghibellinische Städte der Lombardei nicht erfaßte, da König M a n f r e d von Sizilien ebenso wie die lombardischen Signori Umberto Pallavicini und M a r t i n o de la Torre die Geißler durch Strafandrohungen von ihrem Machtbereich fernhielten. Selbst der den Flagellanten ablehnend gegenüberstehende ghibellinische Chronist von Piacenza räumt jedoch ein, daß durch ihr Auftreten „viele Friedensschlüsse zwischen Streitenden und viele gute Taten bewirkt worden sind" (MGH.SS XVIII, 512). 1.2. Teilnehmer, Zeremonien, Motive. Einer der aufschlußreichsten Berichte über die italienischen Geißler stammt von dem sich persönlich an ihren Aktionen beteiligenden Minoriten Salimbene von Parma, der unter anderem erzählt, es hätten „Unbedeutende und Bedeutende, adelige Ritter und gewöhnliches Volk, in Prozessionen nackt durch die Städte ziehend, sich gegeißelt, wobei Bischöfe und M ö n c h e vorangingen. Und man schloß Frieden, und die Menschen gaben unrecht erworbenes Gut zurück und beichteten ihre Sünden so eifrig, daß die Priester k a u m Zeit zum Essen hatten . . . Und sie verfaßten H y m n e n zum Preise Gottes und der seligen Jungfrau, die sie sangen, während sie sich geißelnd einherschritten" (MGH.SS XXXII, 465). Auch Frauen und adelige Damen schlössen sich von dieser Frömmigkeitsübung nicht aus, doch vollzogen sie die Geißelung nicht in der Öffentlichkeit. Und die Menschen verrichteten alle diese Werke der Heiligkeit und des Erbarmens, so vermerkt der Annalist von Santa Giustina in Parma, „als ob sie fürchteten, die göttliche Allmacht wolle sie sonst durch Feuer vom Himmel verzehren oder durch eine Erdkluft plötzlich verschlingen beziehungsweise durch ein gewaltiges Erdbeben oder andere Plagen vernichten" (MGH.SS XIX, 179). 13. Verbreitung außerhalb Italiens. W ä h r e n d diese Bewegung zwar über Genua bis in die Provence vordrang, sich von dort anscheinend jedoch nicht weiter nach Norden ausbreitete, überstieg sie im Osten Italiens auch die Alpen. Von Friaul aus, w o im Dezember 1260 in Cividale und dann „in ganz Friaul in Städten, Burgflecken und D ö r f e r n " (Annales Foroiulienses: MGH.SS XIX, 196) Geißelprozessionen stattgefunden haben sollen, gelangte diese Art der Buße über Kärnten und die Steiermark auch nach Österreich, w o zwischen Lichtmeß (2. Februar) und Ende März 1261 zahlreiche Menschen aller Stände sich nach dem Bericht der Annalen von Heiligenkreuz f ü r jeweils 33 Tage an ihr beteiligten und durch ihr Beispiel viele andere ebenfalls erschütterten. Von Österreich griffen die Flagellantenzüge nicht n u r nach Ungarn, Böhmen, M ä h r e n , Schlesien und Polen über, sondern über das Salzburgische auch nach Bayern und von dort nach Franken und Schwaben, w o r ü b e r jedoch nur spärliche Nachrichten vorliegen. Etwas besser ist ihr Auftreten in Straßburg faßbar, w o in der Fastenzeit (9. März—16. April) 1261 mehr als zwölfhundert Geißler eintrafen, die dort weitere 1500 A n h ä n g e r g e w i n n e n konnten (Bellum Waltherianum: MGH.SS XVII, 105). Hier soll die Bewegung dann allerdings auch zum Stillstand gekommen sein. 1.4. Antiklerikale Tendenzen und deren Bekämpfung. Anders als in Italien, w o Bischöfe und vor allem Bettelmönche starken Einfluß auf die Flagellantengemeinschaften nahmen, läßt sich bei den Geißlerzügen nördlich der Alpen trotz gelegentlicher Beteiligung von Geistlichen nicht selten ein antiklerikaler Zug beobachten, den der zwischen 1268 und 1273 schreibende anonyme Verfasser des Chronicon rhythmicum Austriacum g e b r a n d m a r k t hat: Cerdo,pistor, carnifex euangelizatur/ Contra clerum clanculo scisma suscitatur/ Sutor penitenciam dans confessor datur/ Textor, faber predicat et sacrificatur [Es verkündet das Evangelium der Taglöhner, der Müller und der Metzger/ Heimlich wird gegen den Klerus ein Schisma erregt/ Die Buße legt als Beichtvater der Schuster a u f / Weber und Schmied predigen u n d feiern das Opfer] (MGH.SS XXV, 363). Das von den Geißlern in Österreich in Anspruch genommene Recht auf Laienpredigt und Laienbeichte, Kennzeichen fast aller damaligen Ketzergruppen, ließ sie als eine neue Sekte erscheinen, führte zu ihrer Bekämpfung und machte so ihrer weiteren Verbreitung rasch ein Ende, wobei Bischof Albrecht II. von Meißen u n d Bischof Dietrich II. von N a u m b u r g zu besonders harten M a ß n a h m e n griffen, w ä h r e n d sich in Süddeutschland, dem Bericht H e r m a n n s von Niederaltaich zufolge, der bayerische Herzog und die Bischöfe mit der Verachtung (MGH.SS XVII, 402) dieser exaltierten Büßer
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begnügten. Schon ein Jahr nach ihrem ersten Auftreten in Perugia war die öffentliche Geißelbuße nördlich der Alpen fast gänzlich wieder verschwunden, während sie in Italien in den zahlreichen —»Bruderschaften der Battuti, Disciplinati, Scopatori und Verberatori mit kirchlicher Duldung und Förderung weitergepflegt worden ist. 2. Die Geißlerbewegung
von
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2.1. Entstehung und Verbreitung. Für das erneute epidemische Auftreten der Geißelbuße in den Jahren 1348 und 1349 läßt sich der Ausgangspunkt nicht genau lokalisieren. In manchen Quellen werden Österreich und Ungarn als Ursprungsgebiete genannt; zuerst nachweisen kann man die neuerlichen Flagellantenzüge in der Steiermark (Sept. 1348), in Niederösterreich (Jan. 1349), in Oberösterreich (Febr. 1349) und im westlichen Ungarn (Anfang 1349). Von diesen Gebieten aus erfolgte im F r ü h j a h r 1349 die Ausbreitung der Bewegung nach Böhmen (März 1349), Polen, Meißen (Anfang April), Sachsen und Brandenburg (April). Etwa im März/April 1349 tauchen Geißler auch in Thüringen auf, am 2. Mai ziehen sie, von Norden k o m m e n d , in W ü r z b u r g ein; Ende Mai sind sie auch in Schwaben bezeugt. Mitte Juni und Anfang Juli treffen die ersten Kreuzbrüder (crucifratres bzw. cruciferi), wie sie sich selbst nannten, in Straßburg ein, rheinaufwärts erreichen einzelne Gruppen Basel, andere ziehen rheinabwärts nach Speyer, Mainz und Köln (Mitte Juli). Wahrscheinlich schon Ende Juni gelangten Vorläufer in die östlichen Teile der heutigen Niederlande, wo die Bewegung ab Mitte August ihre größte Intensität erreichte. Von den Niederlanden aus gingen einzelne Züge nach N o r d f r a n k r e i c h (Sept./Okt.) und England, fanden dort jedoch nur geringe Resonanz. Im Spätherbst 1349 w a r die Welle der Geißelbegeisterung, die binnen weniger M o n a t e alle Territorien des römischen Reiches erfaßt hatte, allgemein bereits im Abflauen, nur in den Niederlanden hielt sie bis in die ersten M o n a t e des Jahres 1350 an. In Italien scheint damals die Geißelpraxis den auch sonst üblichen Umfang nicht nennenswert überschritten zu haben, ähnliche Erscheinungen wie 1349 sind in Bergamo schon 1335 und in Cremona 1340 bezeugt. 2.2. Ursachen. Die Ursachen der Flagellantenbewegung von 1348 und 1349 lagen mehr noch als 1260 in der Angst der Menschen vor einem drohenden Strafgericht Gottes, das 1348 durch ein verheerendes Erdbeben in Kärnten sowie durch das unaufhaltsame Vordringen der Pest in ganz Europa sich anzukündigen schien. Die Quellen lassen keinen Zweifel daran, daß die Geißler durch ihre Selbstzüchtigung die Pest abzuwenden bzw. ihr Ende herbeizuflehen hofften, indem sie durch die Wiederholung der Geißelung Christi an ihrem eigenen Körper stellvertretend Sühne leisteten für die Sünden aller Menschen. Schnell griff diese rigorose Form der Buße vor allem in Laienkreisen um sich als Präventivmaßnahme gegen das Große Sterben, das sich durch die Teilnahme bereits infizierter Personen dann noch schneller ausbreitete. D a ß die feierlichen Bußprozessionen der Flagellanten von einem Landstrich zum anderen von der zentralen Oberleitung einer fest organisierten Sekte mit dem Ziel veranstaltet worden seien, „eine Art Laienkirche zu gründen, ohne Papst und kirchliche Hierarchie" (Pfannenschmid 214), oder daß „hier von einer radicalen Umsturzpartei ein erbitterter Kampf gegen Staat und Kirche, gegen alle Besitzenden ü b e r h a u p t " (Hoeniger 117) ins Werk gesetzt worden sei, trifft den Charakter dieser laikalen Bußbewegung ebensowenig wie ihre Etikettierung als „eine militante, blutdürstige Jagd nach dem Tausendjährigen Reich" (Cohn 123) oder als eine, wenn auch schwach entwickelte „ F o r m des Klassenkampfes" (Erbstößer 67). Soziale, wirtschaftliche und politische Komponenten haben bei der Entstehung und Verbreitung der Geißlerzüge von 1 3 4 8 / 4 9 zweifellos eine Rolle gespielt, entscheidend dürfte jedoch das existentiell e m p f u n d e n e Bedürfnis, sich der Gnade Gottes versichern zu müssen, gewesen sein, freilich begleitet von einer deutlich zu Tage tretenden antiklerikalen Tendenz, weshalb man eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der kirchlichen Sakramentsverwaltung und mit der geistlichen Betreuung der Bevölkerung mit zu den primären Ursachen dieser Bewegung rechnen m u ß . Kirchliche Wallfahrten und Prozessionen haben bei der Ausgestaltung der einzelnen Züge als Vorbilder gewirkt.
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23. Größe, soziale Schichtung und Dauer der Geißlerzüge. Uber die Größe von Geißlerzügen liegen verschiedene zeitgenössische Nachrichten vor, die auf jeden Fall eine unterschiedliche Beteiligung, offenbar auch ein allmähliches Anwachsen der Bewegung erkennen lassen. So erfährt man etwa, d a ß sich in Österreich 40, 60 oder auch 80 bis 100 und mehr Menschen an Geißlerprozessionen beteiligten, die Limburger Chronik weiß von 3 0 0 Personen, und nach Berichten aus Erfurt sollen sich vor dieser Stadt an die 3 0 0 0 Flagellanten beim Kirchweihfest im benachbarten Giinstadt sogar 6 0 0 0 versammelt h a b e n . In W ü r z b u r g kamen nach Michael von Leone mehr als 100 an, für Augsburg werden 4 0 0 genannt (Hector Mülich u. Erhard Wahraus), in Konstanz nur etwas über 40 (Heinrich von Diessenhofen), wogegen der gut informierte Fritsche Closener die erste in Straßburg einziehende G r u p p e auf 2 0 0 Köpfe beziffert, nach der dann m e h r als ein Vierteljahr lang jede Woche „etwie manig s c h a r " a n g e k o m m e n sei (Closener 119). Recht aufschlußreiche Zahlen liefertauch Abt Gilles le Muisit von St. Martin in T o u r n a i , demzufolge ein d o r t eintreffender Geißlerzug aus Dordrecht 400, einer aus Gent 4 5 0 Teilnehmer gezählt habe, und von T o u r n a i selbst 5 6 5 Personen zu einer Bußfahrt ausgezogen seien. Insgesamt sind, wenn man seine Z a h l e n a n g a b e n addiert, zwischen dem 15. August und dem 3. O k t o b e r 1349 in T o u r n a i 5 2 7 2 auswärtige Büßer in Erscheinung getreten. D a ß um Weihnachten 1349 in Flandern, Hennegau und Brabant mehr als 800 0 0 0 Geißler auf den Beinen gewesen sind, wie ein französischer Chronist wissen will (Corpus d o c u m e n t o r u m inquisitionis 2,118), erscheint übertrieben. Immerhin waren sie jedoch im Juni 1349 in Aachen so massenhaft aufgetreten, daß der zur Krönung anreisende Karl IV. die Stadt nicht zu betreten wagte und in Bonn wartete, bis sie wieder abgezogen waren.
Die soziale Zusammensetzung der Geißlerzüge beschreibt H u g o von Reutlingen so: Prespiter atque comes, miles, armiger hiis sociatur / Et monachi, ciues, rurenses atque scolares [Priester und Graf, Ritter und Knecht sind ihnen beigesellt / auch Mönche, Bürger, Bauern und Scholaren] (V. 252; 254; Runge 24). Gleichzeitig weist H u g o jedoch auch auf Schwindler, Verrückte und Gauner hin (V. 3 0 9 f; Runge 28), die die ganze Bewegung in Verruf brächten. Ähnlich äußerte sich auch Fritsche Closener, der noch ausdrücklich hinzufügte, daß kein studierter Kleriker („kein pfaffe der üt geleret w a s " , 118) an den Geißelungen teilgenommen habe. Insgesamt kann man wohl sagen, daß sich die Teilnehmer der Geißlerfahrten aus allen Ständen der Bevölkerung rekrutierten, die unteren Schichten jedoch zahlenmäßig am stärksten vertreten waren. Für die in der Forschung wiederholt vorgetragene Ansicht eines fortschreitenden sozialen Absinkens und einer d a m i t verbundenen Akzentverschiebung und Radikalisierung des Flagellantentums reichen die Quellen jedoch nicht aus. D a ß Frauen ursprünglich nicht an Geißelprozessionen teilnehmen konnten und ihre spätere Zulassung als Entartungserscheinung betrachtet w u r d e , scheint festzustehen.
Die Dauer der Teilnahme an einem Geißlerzug w a r in symbolischer Angleichung an die Zahl von Christi Erdenjahren auf 33 Vi Tage festgelegt, während welcher der einzelne Büßer keine sehr großen Strecken zurückzulegen vermochte. Doch da während der Prozessionen über Land und nach den öffentlichen Geißelungen meist neue Mitglieder sich anschlössen, die dann entsprechend später wieder ausschieden, wurde die Bewegung ständig vorwärtsgetrieben und weiterverbreitet. Mit immer neuen Mitgliedern legten einzelne Geißlergruppen Strecken von mehreren H u n d e r t Kilometern zurück. 2.4. Organisation und Ritual. Sieht man von gewissen regionalen Besonderheiten ab, so zeichnen sich folgende Gemeinsamkeiten der einzelnen Flagellantenzüge ab: Alle waren als Laienbruderschaften mit selbstgewählten Führern organisiert, jedes Mitglied mußte sich verpflichten, die Anweisungen der Meister gewissenhaft zu befolgen, genau festgelegte Bräuche einzuhalten, keine Waffen zu tragen und in keiner Herberge länger als eine N a c h t zu verweilen. Prozessionsartig zogen die einzelnen G r u p p e n b a r f u ß und Bußlieder singend (mehrere davon sind vollständig erhalten) durch das Land, den Kopf bis zu den Augen von einer Kapuze mit einem H u t darüber bedeckt, auf dem ein Kreuz aufgenäht war, das auch Brust- und Rückenpartie der Oberbekleidung bzw. der Mäntel zierte. Jeder Teilnehmer trug in der rechten H a n d eine Geißel, in deren Stränge eiserne Spitzen eingebunden waren. Kerzen, manchmal Fackeln und bunte, reichverzierte Fahnen wurden ihnen vorangetragen, und wenn sie in ein Dorf oder in eine Stadt einzogen, meist in Zweierreihen, dann läuteten die
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G l o c k e n u n d d a s V o l k s t r ö m t e ihnen entgegen. Die Selbstgeißelung, der sich jedes Mitglied der B r u d e r s c h a f t einmal n a c h t s o h n e Z e u g e n unterziehen m u ß t e , fand z w e i m a l t ä g l i c h öffentlich als effektvoll inszeniertes religiöses Schauspiel statt und b e g a n n mit einer Absolut i o n s z e r e m o n i e , bei der alle T e i l n e h m e r mit e n t b l ö ß t e m O b e r k ö r p e r k r e i s f ö r m i g a u f d e m B o d e n lagen u n d jeder d u r c h seine H a l t u n g o d e r d u r c h eine c h a r a k t e r i s t i s c h e G e b ä r d e zu erkennen g a b , für w e l c h e Sünde er büßen w o l l t e . D a n n schritt der M e i s t e r , der s t a t u t e n g e m ä ß i m m e r ein L a i e sein m u ß t e , ü b e r den ersten h i n w e g u n d s p r a c h ihn d u r c h die B e r ü h r u n g mit seiner Geißel u n d d u r c h einen A b s o l u t i o n s s p r u c h v o n seinen Sünden los, w o r a u f dieser aufs t a n d u n d z u s a m m e n mit d e m M e i s t e r ü b e r d e n z w e i t e n s c h r i t t . So ging es fort, bis alle losges p r o c h e n u n d a u f g e s t a n d e n w a r e n u n d nun m i t der Geißelung anfingen, die in drei prozessionsartigen U m g ä n g e n s t a t t f a n d u n d v o n G e b e t e n u n d G e s ä n g e n begleitet w a r , in denen V e r g e b u n g der Sünden u n d A b w e n d u n g der Pest erfleht w u r d e . N a c h d e m G e i ß e l a k t folgte r e g e l m ä ß i g eine Predigt, deren M i t t e l p u n k t die V e r l e s u n g eines angeblich in J e r u s a l e m gefundenen —»Himmelsbriefes bildete, in d e m C h r i s t u s a n k ü n d i g t e , er w o l l e sich a u f Bitten M a r i a s u n d der Engel v o n s e i n e m bereits gefaßten E n t s c h l u ß zur V e r n i c h t u n g der M e n s c h heit a b b r i n g e n lassen, w e n n diese d u r c h Selbstgeißelung ihre B u ß g e s i n n u n g u n t e r Beweis stellte u n d die S o n n t a g s h e i l i g u n g w i e d e r ernst n ä h m e . M ö g l i c h e r w e i s e ist solch ein H i m melsbrief a u c h s c h o n 1 2 6 0 zur L e g i t i m a t i o n u n d P r o p a g a n d a der Geißelbuße eingesetzt w o r d e n , seine T r a d i t i o n reicht a u f jeden Fall bis in d a s 6 . J h . z u r ü c k (Priebsch 3 9 ) . Schwierig zu beurteilen ist die Frage, welche Bedeutung im Ritual der Geißler dem Bußsakrament zukam. Zwar berichten Hugo von Reutlingen (Chronicon 3 8 1 ) und Mathias von Neuenburg (Chronica 2 7 2 ) , niemand habe sich einer Geißlerbruderschaft anschließen können, der nicht vorher gebeichtet habe, und auch in dem von Fritsche Closener überlieferten Geißlerlied wird von dem neu eintretenden Flagellanten verlangt, er solle „bihten und widerwegen" (Straßburger Chronik 108); doch daß damit der Empfang des kirchlichen Bußsakramentes gemeint sei, wie ein Teil der Forschung annimmt (Hübner 4 6 ; Koelliker 98 f), läßt sich diesen Nachrichten nicht entnehmen, da in keiner von ihnen gesagt wird, vor wem diese Beichte abgelegt werden sollte. Dagegen hören wir durch Heinrich Taube von Selbach, Konrad von Megenberg und andere Zeitgenossen von dem Anspruch der Anführer von Geißelprozessionen, den Mitgliedern ihrer Bruderschaften die Sünden vergeben zu können, wofür sie nach dem sachkundigen Bericht des westfälischen Dominikaners Heinrich von Herford die Formel benützten: Deus tribuat tibi remissionem peccatorum tuorum otnnium; surge [Gott gewähre Dir Nachlaß aller deiner Sünden; steh auf] (Liber de rebus memorabilioribus 2 8 1 ; ähnlich Magdeburger Schöppenchronik 2 0 6 ) . Im nordalpinen Bereich steht lediglich für die von Gilles le Muisit beschriebenen Flagellanten Flanderns, Brabants und des Hennegaus außer Zweifel, daß sie ihre Sünden den zum Beichtehören und zur Sakramentenspendung mitziehenden Priestern bekannten (Annalcs 2 3 7 ) . In den dem Domkapitel von Tournai zur kirchlichen Approbation vorgelegten Statuten der Geißler aus Brügge ist der Empfang des Bußsakramentes ausdrücklich als Eintrittsbedingung in die Bruderschaft vorgeschrieben (Corp. doc. inquisitionis 2 , 1 1 1 ) . Die Geißlerzüge dieser Region verliefen jedoch dank der Beteiligung des Klerus insgesamt sehr viel mehr als anderswo nördlich der Alpen in kirchlichen Bahnen und stehen den ebenfalls unter kirchlicher Aufsicht veranstalteten Bußprozessionen der Disciplinaten-Bruderschaften Italiens näher als die sonstigen Geißlergruppen Mitteleuropas, denen von kirchlicher Seite immer wieder der Vorwurf der Verachtung des Bußsakraments oder gar der aller Sakramente gemacht wurde: sacramenta ecclesie aspernabantur (Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium 4 3 7 ) . 2 . 5 . Verbot
und Bekämpfung.
V e r a c h t u n g der kirchlichen Schlüsselgewalt u n d die An-
m a ß u n g , sich selbst zu rechtfertigen, w a r es d a n n a u c h , w a s P a p s t C l e m e n s VI. in seiner Bulle Inter sollicitudines
v o m 2 0 . O k t o b e r 1 3 4 9 ( C o r p u s d o c . inquis. 1 , 1 9 9 - 2 0 1 ; im D r u c k bei
D e p r e z / M o l l a t I, N r . 2 0 9 0 sind die A b s c h n i t t e des T e x t e s d u r c h e i n a n d e r g e r a t e n ) den Geißlern b e s o n d e r s v o r w a r f , denen er die A u s ü b u n g ihrer P r a k t i k e n u n t e r s a g t e u n d die er neben a n d e r e n V e r b r e c h e n u n d I r r e g u l a r i t ä t e n v o r allem g r a u s a m e r J u d e n p o g r o m e beschuldigte (inwieweit zu R e c h t , ist in der F o r s c h u n g u m s t r i t t e n u n d e r f o r d e r t e eine Spezialuntersuc h u n g ) . A u s f e r t i g u n g e n dieser Bulle sind n u r für E m p f ä n g e r n ö r d l i c h der A l p e n b e k a n n t , für Italien o d e r a n d e r e M i t t e l m e e r l ä n d e r s c h e i n t eine s o l c h e M a ß n a h m e n i c h t n o t w e n d i g g e w e sen zu sein. Vorausgegangen waren dem päpstlichen Verbot der Geißlerumzüge entsprechende Bitten Karls IV., Philipps VI. von Frankreich und der Universität von Paris, die den Theologen Johannes Du Fayt nach Avignon entsandt hatte, wo dieser am 5 . 10. 1 3 4 9 vor Papst und Kardinälen eine Predigt gegen die
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nova sccla der Flagellanten hielt, deren Unrechtgläubigkeit und Gefährlichkeit er wissenschaftlich darlegte und deren Ausrottung er dringend anempfahl (Corp. doc. inquis. 3 , 2 8 - 3 7 ) . Clemens VI., der im März 1348 in Avignon selbst an Geißelprozessionen zur A b w e n d u n g der Pest teilgenommen haben soll (Brevechronicon clerici anonymi 17), im J a h r darauf jedoch einer aus Basel a n k o m m e n d e n Gruppe von Flagellanten die Ausübung ihrer blutigen Zeremonien bereits verbot (Mathias v. N e u e n b u r g , Chronica 429), ist den an ihn herangetragenen Anregungen zur Verurteilung der Geißler n a c h g e k o m m e n , obgleich einige Mitglieder des Kardinalskollegiums anscheinend mit der Bewegung sympathisierten.
Nachdem schon vorher einzelne Bischöfe (z. B. der Würzburger), Stadtmagistrate (z. B. Erfurt) und Fü rsten (z. B. Philipp VI. und Karl IV.) gegen die Geißler Stellung bezogen hatten und diese durch einen literarischen Propagandafeldzug mit Traktaten, Streitgedichten und dunklen Prophezeiungen zunehmend verketzert und zurgens Antichristi gestempelt worden waren (Hübner 27 f; Jenks 1 1 - 2 1 ) , kam es ab Herbst 1349 vor allem in Deutschland allenthalben zu M a ß n a h m e n gegen die Flagellanten, deren Resonanz bei der Bevölkerung ohnehin bereits im Abklingen war. Von einzelnen spektakulären Hinrichtungen abgesehen, scheinen größere Gewaltmaßnahmen nicht notwendig gewesen zu sein, da sich die Masse der Geißler offenbar binnen weniger Wochen verlief, wobei nach dem Zeugnis der Magdeburger Schöppenchronik nicht wenige einfach die Kreuze von ihren Kleidern rissen und sich heimlich aus dem Staub machten: „So plötzlich, wie sie gekommen waren, verschwanden sie alle auch wieder, wie nächtliche Gespenster und lächerliche Lemuren", schrieb Heinrich von Herford über das Ende der Geißlerbewegung (Liber de rebus memorabilioribus 282), eine Einschätzung, die sich als zu optimistisch erweisen sollte. 1353 und 1357 mußten Kölner Provinzialsynoden erneut gegen Flagellanten vorgehen, ähnlich 1355 der Bischof von Utrecht, und 1400 brach in den Niederlanden und im Rheinland für kurze Zeit nochmals eine Welle der Geißelbegeisterung auf, der um die gleiche Zeit in Spanien, Südfrankreich und Oberitalien der Dominikaner V. —»Ferrer durch seine Bußpredigten ebenfalls neuen Auftrieb gab. In der vor allem in Italien verbreiteten Wallfahrts- und Friedensbewegung der Bianchi (so benannt nach den weißen Bußgewändern der Teilnehmer) wurde der Flagellantismus erneut zu einem M a s s e n p h ä n o m e n , zwar ohne die fünfzig Jahre früher besonders in Deutschland damit verbundenen antiklerikalen Tendenzen, aber eben doch in den Augen der Kirche irregulär und deshalb verdächtig, so daß man auf dem Konzil von —»Konstanz sich damit beschäftigen zu müssen glaubte. J. -n>Gerson und —»Petrus v. Ailly ersuchen Ferrer im Juni 1417 brieflich, dem Geißlerunwesen nicht weiter Vorschub zu leisten, worauf dieser seinerseits das Konzil seines Gehorsams versicherte, was von Gerson in seinem am 18. Juli vorgelegten T r a k t a t Contra sectam se flagellantium mit besonderer Genugtuung herausgestellt wurde. Die öffentliche Selbstgeißelung ist in Konstanz erneut verboten worden, als private Bußübung blieb sie jedoch weiterhin erlaubt. Nicht wenigen kirchlichen Bruderschaften wurde sie später für gewisse Tage auch in der Öffentlichkeit zugestanden, wo sie vor allem in den romanischen Ländern vom 16. bis zum 18. Jh. in voller Blüte stand. 3. Kryptoflagellanten
des 14. und 15. Jb.
Wenn auch die öffentlichen Umzüge der Geißler in Deutschland mit wenigen Ausnahmen (1370 und 1392 bei bzw. in Würzburg; 1379 in der Umgebung Nürnbergs; 1 3 9 1 / 9 2 in Heidelberg) in der zweiten H ä l f t e des 14. Jh. fast ganz aufgehört hatten, so wurde doch in geheimen Konventikeln die Geißelbuße als Zeichen der Ablehnung des kirchlichen Heilsapparates bewußt weitergepflegt und entwickelte sich zum Kernstück einer geschlossenen Sektenideologie. Besonders zahlreich begegnen solche Kryptoflagellanten im thüringischen R a u m , w o 1369 in Nordhausen durch den päpstlichen Inquisitor Walter Kerlinger eine G r u p p e von Geißlern entdeckt und teilweise dem Scheiterhaufen überantwortet wurde, deren Anführer Konrad Schmid nach Ausweis seiner Prophetica (Stumpf 16—24) als Prophet der Endzeit aufgetreten war und das Weltgericht für 1369 angekündigt hatte. Neben eschatologisch-chiliastischen Vorstellungen und einem Konglomerat verschiedener häretischer Lehrsätze waldensischer (—»Waldenser) und freigeistiger ( ^ B r ü d e r des freien Geistes) Prägung propagierte Schmid, der als einziges Heilsmittel die Selbstgeißelung anerkannte, eine
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Geißler
r a d i k a l e A b l e h n u n g j e g l i c h e r w e l t l i c h e n u n d k i r c h l i c h e n O b r i g k e i t , a n d e r e n Stelle e r sich selbst als H a u p t d e r C h r i s t e n h e i t ( c a p u t Christianitatis,
S t u m p f 2 1 ) setzte. Seine A n h ä n g e r ,
die in i h m eine A r t M e s s i a s - K a i s e r s a h e n u n d seine W i e d e r k e h r z u m W e l t g e r i c h t e r w a r t e t e n , wurden im Z u s a m m e n w i r k e n von
Inquisition u n d T e r r i t o r i a l h e r r e n 1 4 1 4 in S a n g e r h a u -
sen, Q u e r f u r t u n d T h a m s b r ü c k , 1 4 2 0 in M ü h l h a u s e n , 1 4 4 6 in N o r d h a u s e n u n d 1 4 5 4 in Stolberg, Sangerhausen und Sondershausen aufgespürt und zu Dutzenden
hingerichtet.
1 4 8 1 w i r d a u f S c h l o ß H o y m in d e r D i ö z e s e H a l b e r s t a d t d e r letzte n a c h w e i s b a r e K r y p t o f l a g e l l a n t v e r h ö r t , d o c h die E r i n n e r u n g an diese Sekte ist n o c h j a h r z e h n t e l a n g s o lebendig geblieben, d a ß L u t h e r sich 1 5 2 1 in e i n e m S c h r e i b e n an d e n G r a f e n A l b r e c h t III. v o n M a n s f e l d a u f K o n r a d S c h m i d „ w i e a u f eine a l l g e m e i n b e k a n n t e G e s t a l t b e r u f e n k a n n " ( R i e m e c k 4 4 ) . M i t den Geißlern von 1 2 6 0 / 6 1 und 1 3 4 8 / 4 9 und ihrer ursprünglich keineswegs häretischen B u ß g e s i n n u n g h a b e n die als k i r c h e n f e i n d l i c h e , o r t s a n s ä s s i g e S e k t e o r g a n i s i e r t e n t h ü r i n g i schen Kryptoflagellanten des 1 4 . und 15. Jh. k a u m m e h r etwas gemein. Quellen Annales Argentinenses fratrum Praedicatorum, ed. H. Bloch: M G H . S R G I X , 1 9 0 7 , 1 2 4 - 1 3 1 . Annales Foroiulienses, ed. W . Arndt: M G H . S S X I X , 1 8 6 6 , 1 9 4 - 2 2 2 . - Annales Fossenses, ed. G. H. Pertz: M G H . S S I V , 1 8 4 1 , 3 0 - 3 5 . - Annales Frisacenses, ed. L. Weiland: M G H . S S X X I V , 1 8 7 9 , 6 5 - 6 7 . - Annales Grissowienses maiores, ed. G. H . Pertz: M G H . S S X I X , 1 8 6 6 , 5 4 1 - 5 4 2 . - Annales Ianuenses annorum 1 2 4 9 - 1 2 6 4 , ed. G. H . Pertz: M G H . S S X V I I I , 1 8 6 3 , 2 2 6 - 2 4 8 . - Annales Mechovienses, ed. R . Röpell/W. Arndt: M G H . S S X I X , 1 8 6 6 , 6 6 6 - 6 7 7 . - Annales Mellicenses, ed. W . Wattenbach: M G H . S S I X , 1 8 5 1 , 4 8 0 - 5 3 5 . - Annales Piacentini Gibellini, ed. G. H . Pertz: M G H . S S X V I I I , 1 8 6 3 , 4 5 7 - 5 8 1 . - Annales Sanctae Iustinae Patavini, ed. Ph. Jaffé: M G H . S S X I X , 1 8 6 6 , 1 4 8 - 1 9 3 . - Annales Veterocellenses, ed. G. H . Pertz: M G H . S S X V I , 1 8 5 9 , 4 1 - 4 7 . - Bellum Waltherianum, ed. Ph. Jaffé: M G H . S S X V I I , 1 8 6 1 , 1 0 5 - 1 1 4 . - B r e v e c h r o n i c o n clerici anonymi, ed. J . - J . de Smet: Recueil des chroniques de Flandre, Brüssel, III 1 8 5 6 , 1 - 3 0 . - Chronicon Elwacense, ed. O . Abel: M G H . S S X , 1 8 5 2 , 3 4 - 5 1 . - Chronicon rhythmicum Austriacum, ed. W. Wattenbach: M G H . S S X X V , 1 8 8 0 , 3 4 9 - 3 6 8 . - Chroniken der dt. Städte vom 14. bis ins 16. Jh., hg. durch die Hist. K o m m , bei der Bayer. Akademie der Wiss. IV. Augsburg, Leipzig, 1 1 8 6 5 = Göttingen 1 9 6 5 ; VII. Magdeburg, 1 1 8 6 9 = 1 9 6 2 ; VIII. Straßburg, I 1 8 7 0 = 1 9 6 1 ; XIII. Cöln, II 1 8 7 6 = 1 9 6 8 ; X I X . Lübeck, 1 8 8 4 = 1 9 6 7 . - C l é ment VI. ( 1 3 4 2 - 1 3 5 2 ) . Lettres se rapportant à la France, ed. E. Déprez/G. Mollat, III 1 9 5 9 ( B E F A R . L ) . — Clément VI. ( 1 3 4 2 — 1 3 5 2 ) . Lettres closes, patentes et curiales intéressant les pays autre que la France, ed. E. Déprez/G. Mollat, 1 9 6 0 ( B E F A R . L ) . - Continuatio Sancrucensis secunda, ed. W . Wattenbach: M G H . S S I X , 1 8 5 1 , 6 3 7 — 6 4 6 . - Corpus documentorum inquisitionishaereticae pravitatis neerlandicae, ed. P. Frédericq, 3 Bde., Gent/s'Gravenhage 1 8 8 9 - 1 9 0 6 . - Cronica Przibiconis dicti Pulkaua, ed. J . Emler/J. Gebauer: Fontes rerum Bohemicarum, Prag, V 1 8 9 3 , 1 — 2 0 7 . — Cronica fratris Salimbene de Adam ordinis M i n o r u m , ed. O . Holder-Egger: M G H . S S X X X I I , 1 9 0 5 - 1 9 1 3 ; ed. G. Scalia, Bari 1 9 6 6 (Scrittori d'Italia 2 3 2 ; 2 3 3 ) . - Documents sur les Flagellants, ed. A. Coville: H L F 3 7 ( 1 9 3 6 ) 3 9 0 - 4 1 1 . Jean Gerson, Oeuvres complètes. II. L'Oeuvre Epistolaire, ed. P. Glorieux, Paris 1 9 6 0 . - Ders., Contra sectam se flagellantium: ders., Op. omnia, ed. Ellies DuPin, Antwerpen, II 1 7 0 6 , 6 6 0 - 6 6 4 . - Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium, ed. W . Schum: M G H . S S X I V , 1 8 8 3 , 3 6 1 - 4 8 4 . - Gilles le Muisit, Chronique et Annales, ed. H. Lemaître, Paris 1 9 0 6 . - Heinrich v. Diessenhofen, Chronik, ed. A. Huber: Fontes rerum germanicarum, Stuttgart, IV 1 8 6 8 = Aalen 1 9 6 9 , 1 6 - 1 2 6 . - Heinrich v. Heimburg, Annales, ed. G. H. Pertz: M G H . S S X V I I , 7 1 1 - 7 1 8 . - Heinrich v. Herford, Liber de rebus memorabilioribus sive chronicon, ed. A. Potthast, Göttingen 1 8 5 9 . - Heinrich T a u b e v. Selbach, Chronik, ed. H . Bresslau, 1 9 2 2 ( M G H . S R G NS 1). - Hermann v. Niederaltaich, Annales, ed. Ph. Jaffé: M G H . S S X V I I , 3 8 1 - 4 1 6 . - H u g o v. Reutlingen,Chronicon ad a n n u m M C C C X L I X : Die Lieder u. Melodien der Geißler des Jahres 1 3 4 9 nach der Aufzeichnung Hugo's v. Reutlingen. Nebst einer Abh. über die ital. Geißlerlieder v. Heinrich Schneegans u. einem Beitr. zur Gesch. der dt. u. niederl. Geißler v. Heino Pfannenschmid, hg. v. Paul Runge, Leipzig 1 9 0 0 = Hildesheim 1 9 6 9 , 2 3 - 4 2 . - Konrad v. Megenberg, Buch der Natur, ed. F. Pfeiffer, Stuttgart 1 8 6 1 = Hildesheim 1 9 7 1 . - Mathias v. Neuenburg, Chronik, ed. A. Hofmeister, 1 9 2 4 - 1 9 4 0 ( M G H . S R G NS 4). - Michael de Leone, Annotata historica, ed. J . F. Boehmer: Fontes rerum germanicarum, Stuttgart, I 1 8 4 3 = Aalen 1 9 6 9 , 4 5 1 - 4 7 9 . - Monumenta Erphesfurtensia saec. X I I . X I I I . X I V , ed. O . Holder-Egger, 1 8 9 9 ( M G H . S R G 4 2 ) . - Otacher ouz der Geul, Steirische Reimchronik, ed. J . Seemüller, 1 8 9 0 ( M G H . D C 5/1). - Tilemann-Elhen v. Wolfhagen, Limburger Chronik, ed. A. Wyss, 1 8 8 3 ( M G H . D C 4/1). - Trois traités inédits sur les Flagellants de 1 3 4 9 , ed. U. Berlière: RBen 2 5 ( 1 9 0 8 ) 3 3 4 - 3 5 7 .
Geißler
169
Literatur G i o v a n n i A l b e r i g o , Art. F l a g e l l a n t s : D H G E 1 7 ( 1 9 7 1 ) 3 2 7 - 3 3 7 ( U t . ) . - R a d e g u n d e A m t m a n n , D i e B u ß b r u d e r s c h a f t e n in F r a n k r e i c h , W i e s b a d e n 1 9 7 7 ( A r b e i t e n a u s d e m S e m i n a r f. V ö l k e r k u n d e der J o h a n n W o l f g a n g G o e t h e - U n i v . F r a n k f u r t a . M . 7 ) . - E m i l i o A r d u , F r a t e r R a y n e r i u s F a x a n u s de P e r u s i o : Il m o v i m e n t o dei disciplinati nel s e t t i m o c e n t e n a r i o dal suo inizio, P e r u g i a 1 2 6 0 . C o n v e g n o i n t e r n a z i o n a l e , P e r u g i a 2 5 - 2 8 s e t t e m b r e 1 9 6 0 , P e r u g i a 1 9 6 2 , 8 4 - 9 8 . - Paul Bailly, A r t . F l a g e l l a n t s : D S p 5 ( 1 9 6 4 ) 3 9 2 - 4 0 8 ( U t . ) . - A r n o B o r s t , A r t . F l a g e l l a n t e n ( G e i ß l e r ) : R G G 5 2 ( 1 9 5 8 ) 9 7 1 f. - D e r s . , M a . S e k t e n u. M a s s e n w a h n : M a s s e n w a h n in G e s c h . u. G e g e n w a r t , h g . v. W i l h e l m B i t t e r , S t u t t g a r t 1 9 6 5 , 1 7 3 - 1 8 4 . - G i o v a n n i C e c c h i n i , A r t . F l a g e l l a n t i (o D i s c i p l i n a t i o B a t t u t i ) : D i z i o n a r i o degli istituti di p e r f e z i o n e 4 ( 1 9 7 7 ) 6 0 - 7 2 ( U t . ) . - N o r m a n C o h n , D a s R i n g e n um d a s T a u s e n d j ä h r i g e R e i c h . R e v o l u t i o n ä r e r M e s s i a n i s m u s im M A u. sein F o r t l e b e n in den m o d e r n e n t o t a l i t ä r e n B e w e g u n g e n , B e r n / M ü n c h e n 1 9 6 1 . - E t i e n n e D e l a r u e l l e , L e s g r a n d e s p r o c e s s i o n s d e p e n i t e n t s de 1 3 4 9 et 1 3 9 9 : II m o v i m e n t o dei disciplinati (s. o . Ardu) 1 0 9 - 1 4 5 . - D e r s . , P o u r q u o i n ' y eut-il p a s de F l a g e l l a n t s en F r a n c e en 1 3 4 9 ? : R i s u l t a t i e p r o s p e t t i v e della r i c e r c a sul M o v i m e n t o dei D i s c i p l i n a t i . C o n v e g n o intern a z i o n a l e di S t u d i o , Perugia 5 - 7 d i c e m b r e 1 9 6 9 , P e r u g i a 1 9 7 2 , 2 9 2 - 3 0 4 . - F r i d o l i n D r e s s l e r , Art. G e i ß l e r o d . F l a g e l l a n t e n : L T h K 2 4 ( 1 9 6 0 ) 6 1 0 f . - M a r t i n E r b s t ö s s e r , S o z i a l r e l . S t r ö m u n g e n im s p ä t e n M A . G e i ß l e r , F r e i g e i s t e r u. W a l d e n s e r i m 1 4 . J h . , 1 9 7 0 ( F M A G 1 6 ) . - M a r i o F a n t i , Gli inizi del M o v i m e n t o dei D i s c i p l i n a t i a B o l o g n a e la C o n f r a t e r n i t à di S a n t a M a r i a della V i t a , Perugia 1 9 6 9 ( Q u a d e r n i del C e n t r o di D o c u m e n t a z i o n e sul M o v i m e n t o dei D i s c i p l i n a t i 8 ) . — J a m e s F e a r n s , D i e G e i ß l e r b e w e g u n g 1 3 4 8 - 1 3 4 9 : A t l a s zur K G , hg. v. H u b e r t J e d i n u. a., F r e i b u r g 1 9 7 0 , 4 8 " ' . - E m s t G ü n t h e r F ö r s t e m a n n , D i e christl. G e i ß l e r g e s e l l s c h a f t e n , H a l l e 1 8 2 8 . - Paul F r é d e r i c q , D e S e c t e n der G e e s e l a a r s en der D a n s e r s in de N e d e r l a n d e n t i j d e n s de 1 4 d c e e u w , B r ü s s e l 1 8 9 6 ( M é m o i r e s de l ' A c a d e m i e R o y a l e des S c i e n c e s des L e t t r e s et des B e a u x - A r t s de B e l g i q u e 5 3 ) . - A r s e n i o F r u g o n i , Sui flagellanti del 1 2 6 0 : B o l l e t t i n o d e l l ' I s t i t u t o s t o r i c o i t a l i a n o p e r il m e d i o e v o e A r c h i v i o M u r a t o r i a n o 7 5 ( 1 9 6 3 ) 2 1 1 - 2 3 7 . - K a r l G ö l l , D i e G e i ß e l f a h r t e n im J a h r e 1 2 6 0 u. 1 2 6 1 , W i e n 1 9 1 3 ( 3 9 . J a h r e s b e r i c h t des k. k. S t a a t s g y m n a s i u m s im X V I I I . B e z i r k e W i e n s ) . - H e r m a n n H a u p t , Z u r G e s c h . der G e i ß l e r : Z K G 9 ( 1 8 8 8 ) 1 1 4 - 1 1 9 . D e r s . , A r t . G e i ß e l u n g , k i r c h l . u. G e i ß l e r b r u d e r s c h a f t e n : R E 1 6 ( 1 8 9 9 ) 4 3 2 - 4 4 4 ( L i t . ) . - R o b e r t H o e n i g e r , D e r s c h w a r z e T o d in D e u t s c h l a n d , Berlin 1 8 8 2 = W a l l u f bei W i e s b a d e n 1 9 7 3 . - Siegfried H o y e r , D i e t h ü r i n g i s c h e K r y p t o f l a g e l l a n t e n b e w e g u n g i m 1 5 . J h . : J b . f. R e g i o n a l g e s c h . 2 ( 1 9 6 7 ) 1 4 8 - 1 7 4 . - A r t h u r H ü b n e r , D i e dt. G e i ß l e r l i e d e r , B e r l i n / L e i p z i g 1 9 3 1 . - S t u a r t J e n k s , D i e P r o p h e z e i u n g v. P s . - H i l d e g a r d v. B i n g e n . E i n e v e r n a c h l ä s s i g t e Q u e l l e ü b e r die G e i ß l e r z ü g e v. 1 3 4 8 / 4 9 im L i c h t e des K a m p f e s der W ü r z b u r g e r K i r c h e gegen die F l a g e l l a n t e n : M a i n f r ä n k i s c h e s J b . f. G e s c h . u. K u n s t 1 9 7 7 , 9 - 3 8 . - L é o n K e r n , A p r o p o s du m o u v e m e n t des f l a g e l l a n t s de 1 2 6 0 . S. B e v i g n a t e de P é r o u s e : S t u d . a u s dem G e b i e t e v. K i r c h e u. K u l t u r . FS G u s t a v S c h n ü r e r , P a d e r b o r n 1 9 3 0 , 3 9 - 5 3 . - R i c h a r d K i e c k h e f e r , R a d i c a i t e n d e n c i e s in t h e f l a g e l l a n t m o v e m e n t o f t h e m i d - f o u r t e e n t h Century: J M R S 4 ( 1 9 7 4 ) 1 5 7 - 1 7 6 . - D e r s . , R e p r e s s i o n o f H e r e s y in M e d i e v a l G e r m a n y , P e n n s y l v a n i a 1 9 7 9 . - B e a t K o e l l i k e r , D a s G e i ß l e r l i e d >Nu tret h e r zu d e r b S s s e n welle« u. das G e i ß l e r r i t u a l : P h i l o l o g i e u. G e s c h i c h t s w i s s . , hg. v. H e i n z R u p p , H e i d e l b e r g 1 9 7 7 , 9 2 - 1 0 5 . - D a g m a r L a d i s c h - G r u b e , A r t . G e i ß l e r p r e d i g t : V e r L e x 2 2 ( 1 9 8 0 ) 1 1 5 6 f. - Karl L e c h n e r , D i e g r o ß e G e i ß e l f a h r t des J a h r e s 1 3 4 9 : H J 5 ( 1 8 8 4 ) 4 3 7 - 4 6 2 . - R a o u l M a n s e l l i , L ' a n n o 1 2 6 0 fu un a n n o g i o a c h i m i t i c o ? : Il m o v i m e n t o dei d i s c i p l i n a t i (s. o . A r d u ) 1 9 6 2 , 9 9 - 1 0 8 . - G i l l e s G e r a r d M e e r s s e m a n , O r d o F r a t e r n i t a t i s . C o n f r a t e r n i t e e Pietà dei Laici nel M e d i o e v o , I 1 9 7 7 (IS 2 4 ) . - P i e r L o r e n z o M e l o n i , T o p o g r a f i a , d i f f u s i o n e e aspetti delle C o n f r a t e r n i t e dei D i s c i p l i n a t i : R i s u l t a t i e p r o s p e t tive ( s . o . D e l a r n e l l e ) 1 5 - 9 8 . - E r i c h M e u t h e n , G e i ß e l b r ü d e r in B u r t s c h e i d ( 1 4 0 0 ) : ZAVG 7 4 / 7 5 ( 1 9 6 3 ) 4 4 0 - 4 4 4 . - R a f f a e l l o M o r g h e n , R a n i e r i F a s a n i e i l m o v i m e n t o dei disciplinati (s. o . A r d u ) 2 9 - 4 2 . - J o s e f M ü l l e r - B l a t t a u , D i e dt. G e i ß l e r l i e d e r : Z s . f. M u s i k w i s s . 1 7 ( 1 9 3 5 ) 6 - 1 8 . - U g o l i n o N i c o l i n i , N u o v e t e s t i m o n i a n z e su fra R a n i e r o F a s a n i e i suoi D i s c i p l i n a t i : B o l l e t t i n o della D e p u t a z i o n e di s t o r i a p a t r i a p e r l ' U m b r i a 6 0 ( 1 9 6 3 ) 3 3 1 - 3 4 6 . - D e r s . , R i c e r c h e sulla sede di F r a R a n i e r o F a s a n i f u o r i di P o r t a Sole a P e r u g i a : e b d . 6 3 ( 1 9 6 6 ) 1 8 9 - 2 0 4 . - R o b e r t P r i e b s c h , D i u v r ò n e b o t s c h a f t ze der Christenh e i t . Unters, u. T e x t , G r a z 1 8 9 5 ( G r a z e r S t u d . z u r dt. P h i l o l o g i e 2 ) . - R e n a t e R i e m e c k , D i e s p ä t m a . F l a g e l l a n t e n T h ü r i n g e n s u. die dt. G e i ß l e r b e w e g u n g e n , Diss. J e n a 1 9 4 3 ( L i t . ) . - R e i n h o l d R ö h r i c h t , Bib l i o g r . Beitr. zur G e s c h . der G e i ß l e r : Z K G 1 ( 1 8 7 7 ) 3 1 3 - 3 2 1 . - G e o r g S t e e r , Art. G e i ß l e r l i e d e r : V e r L e x 2 2 ( 1 9 8 0 ) 1 1 5 3 - 1 1 5 6 ( L i t . ) . - A u g u s t i n S t u m p f , H i s t o r i a F l a g e l l a n t i u m , p r a e c i p u e in T h u r i n g i a . U n a c u m a u t h e n t i c i s d o c u m e n t i s : N M H A F 2 ( 1 8 3 5 ) 1 - 3 7 . - G y ö r g y S z é k e l y , L e m o u v e m e n t des f l a g e l l a n t s a u 1 4 e siècle, son c a r a c t è r e et ses c a u s e s : H é r é s i e s et s o c i é t é s d a n s l ' E u r o p e p r é - i n d u s t r i e l l e , l l e - 1 8 e siècles. C o m m u n i c a t i o n s et d é b a t s du C o l l o q u e de R o y a u m o n t , hg. v. J a c q u e s Le G o f f , 1 9 6 8 ( C e S 1 0 ) 2 2 9 - 2 4 1 . - G i a m p a o l o T o g n e t t i , Sul m o t o dei b i a n c h i nel 1 3 9 9 : B o l l e t t i n o d e l l ' I s t i t u t o s t o r i c o ital i a n o p e r il m e d i o evo e A r c h i v i o M u r a t o r i a n o 7 8 ( 1 9 6 7 ) 2 0 5 - 3 4 3 . - E m i l W e r u n s k y , G e s c h . K a i s e r K a r l s I V . u. s e i n e r Z e i t , I n n s b r u c k , II 1 8 8 2 , bes. 2 8 3 - 3 0 5 . - J u l i u s Z a c h e r , G e i ß l e r : A E W K 5 6 ( 1 8 5 3 ) 2 4 2 - 2 5 8 ( L i t . ) . - Philip Z i e g l e r , T h e B l a c k D e a t h , N e w Y o r k 1 9 6 9 , bes. 8 4 - 1 0 9 .
Peter Segl
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I
170
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I. Altes Testament II. Judentum III. Neues Testament IV. Dogmengeschichtlich V. Dogmatisch und ethisch VI. Praktisch-theologisch VII. Der philosophische Geistbegriff
173 178 196 218 237 242
I. Altes Testament 1. Bedeutungsvielfalt 2. „ G e i s t " als Gemüt und Fähigkeit des Menschen 3. Ubergang von „ p r o f a n e n " zu „theologischen" Aussagen 4 . Wirksamkeit des Geistes in Richtern und Propheten 5 . Erschaffung des Geistes und der Geist als Schöpfer 6. Wende und Neuschöpfung durch den Geist (Anmerkungen/Literatur S. 1 7 3 )
2.
Bedeutungsvielfalt
Das hebräische Wort rüah, das am ehesten ein Äquivalent zu „Geist" darstellt, heißt sowohl „Wind" (vom leichten Luftzug Gen 3,8 bis zum Sturm Ex 10,19; Jes 7,2; Jon 1,4 u. a.) als auch „Atem", dann „Geist, Sinn" oder gar „Geistwesen" (I Reg 22,21) - ein Bedeutungsumfang, der Physisches und Psychisches, Körperliches und Seelisches, Materielles und Spirituelles, Außen und Innen vereint. Das Wort meint - ursprünglich lautmalend? — einen Akt der Bewegung „Hauchen, Wehen", der zugleich die Fähigkeit hat, in Bewegung zu bringen oder zu halten. Diese Kraft kann sowohl situationsbezogen-einmalig als auch stetig wirksam werden.
2. „Geist" als Gemüt und Fähigkeit des
Menseben
Der „Atem" (Hi 15,13; vgl. Jer 2,24) ist die Lebenskraft des Menschen (bzw. der Lebewesen Gen 6,17; 7,15; vgl. 7,22). Ist der Hunger gestillt oder der Durst gelöscht, „kehrt die rüah zurück" (Jdc 15,19; I Sam 3 0 , 1 2 ; vgl. Gen 4 5 , 2 7 ) , d. h.: man „kommt zu sich", „lebt wieder auf". Bei starkem Ärger „weicht" der Lebensmut (I Reg 21,5), man wird mißmutig. So ist der „Geist" zugleich Sitz der Stimmungen, Gefühle und Leidenschaften. Die Königin von Saba erstaunt so sehr, daß „kein Atem bzw. Geist mehr in ihr ist" (I Reg 10,5), sie „gerät außer sich, kommt außer Fassung". Gut ist es, sein „Gemüt" zu beherrschen (Prov 1 6 , 3 2 ; vgl. 2 9 , 1 1 ; Jdc 8,3). „Kurz an rüah" meint „kurzatmig, ungeduldig" (Ex 6,9; Hi 21,4; vgl. Prov 14,29 mit 14,17), „lang an rüah" umgekehrt „langmütig, geduldig" sein (Koh 7,8). Der Geist oder Sinn des Menschen vermag „bitter", d. h. unzufrieden, kummervoll (Gen 2 6 , 3 5 ) , „niedergeschlagen" (Prov 18,14) oder „hochmütig" (16,18) zu sein; es gibt einen „Geist der Eifersucht" (Num 5 , 1 4 . 3 0 ) oder der „Hurerei", der Abkehr von Gott (Hos 4 , 1 2 ; 5,4; vgl. Jes 29,14) u. a. Jedoch kann der Mensch auch „zuverlässigen Sinnes" (Prov 11,13) sein. Dabei wird zwischen emotionellen und intellektuellen Regungen, Empfindungen, Willen und Erkenntnis nicht scharf unterschieden: Was „in den Geist aufsteigt" (Ez 1 1 , 5 ; 2 0 , 3 2 ; üblicherweise: „ins Herz" Jer 3 , 1 6 u. a.), meint, was „in den Sinn kommt". Gott „prüft die Geister" (Prov 16,2) wie die Herzen (21,2), d. h.: auch das verborgene Innere Has den Menschen bestimmt (vgl. Ps 1 4 3 , 4 . 7 ; Sach 12,1). Denen, die „irrenden, verwirrten Geistes" sind, wird Einsicht verheißen (Jes 2 9 , 2 4 ) . Der „Geist der Weisheit" (Ex 28,3) ist der handwerklich-künstlerische Sachverstand (31,3; 35,31) wie die Bevollmächtigung (nach der Handauflegung Dtn 3 4 , 9 ; vgl. Jes 42,1). Entsprechend verleiht der Geist Gottes die Begabung zur Bewältigung der Situation (Gen 4 1 , 3 3 . 3 8 f) bis hin zur Traumdeutung (Dan 4,5 f. 15; 5,11 ff). Gott kann den Geist „erregen" (Jer 5 1 , 1 1 ; Esr 1,1.5 u. a.), zu einer Handlung treiben. So ist rüah nicht zuletzt der Ansporn zu einer Tat und die Fähigkeit, sie zu vollbringen.
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I
170
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I. Altes Testament II. Judentum III. Neues Testament IV. Dogmengeschichtlich V. Dogmatisch und ethisch VI. Praktisch-theologisch VII. Der philosophische Geistbegriff
173 178 196 218 237 242
I. Altes Testament 1. Bedeutungsvielfalt 2. „ G e i s t " als Gemüt und Fähigkeit des Menschen 3. Ubergang von „ p r o f a n e n " zu „theologischen" Aussagen 4 . Wirksamkeit des Geistes in Richtern und Propheten 5 . Erschaffung des Geistes und der Geist als Schöpfer 6. Wende und Neuschöpfung durch den Geist (Anmerkungen/Literatur S. 1 7 3 )
2.
Bedeutungsvielfalt
Das hebräische Wort rüah, das am ehesten ein Äquivalent zu „Geist" darstellt, heißt sowohl „Wind" (vom leichten Luftzug Gen 3,8 bis zum Sturm Ex 10,19; Jes 7,2; Jon 1,4 u. a.) als auch „Atem", dann „Geist, Sinn" oder gar „Geistwesen" (I Reg 22,21) - ein Bedeutungsumfang, der Physisches und Psychisches, Körperliches und Seelisches, Materielles und Spirituelles, Außen und Innen vereint. Das Wort meint - ursprünglich lautmalend? — einen Akt der Bewegung „Hauchen, Wehen", der zugleich die Fähigkeit hat, in Bewegung zu bringen oder zu halten. Diese Kraft kann sowohl situationsbezogen-einmalig als auch stetig wirksam werden.
2. „Geist" als Gemüt und Fähigkeit des
Menseben
Der „Atem" (Hi 15,13; vgl. Jer 2,24) ist die Lebenskraft des Menschen (bzw. der Lebewesen Gen 6,17; 7,15; vgl. 7,22). Ist der Hunger gestillt oder der Durst gelöscht, „kehrt die rüah zurück" (Jdc 15,19; I Sam 3 0 , 1 2 ; vgl. Gen 4 5 , 2 7 ) , d. h.: man „kommt zu sich", „lebt wieder auf". Bei starkem Ärger „weicht" der Lebensmut (I Reg 21,5), man wird mißmutig. So ist der „Geist" zugleich Sitz der Stimmungen, Gefühle und Leidenschaften. Die Königin von Saba erstaunt so sehr, daß „kein Atem bzw. Geist mehr in ihr ist" (I Reg 10,5), sie „gerät außer sich, kommt außer Fassung". Gut ist es, sein „Gemüt" zu beherrschen (Prov 1 6 , 3 2 ; vgl. 2 9 , 1 1 ; Jdc 8,3). „Kurz an rüah" meint „kurzatmig, ungeduldig" (Ex 6,9; Hi 21,4; vgl. Prov 14,29 mit 14,17), „lang an rüah" umgekehrt „langmütig, geduldig" sein (Koh 7,8). Der Geist oder Sinn des Menschen vermag „bitter", d. h. unzufrieden, kummervoll (Gen 2 6 , 3 5 ) , „niedergeschlagen" (Prov 18,14) oder „hochmütig" (16,18) zu sein; es gibt einen „Geist der Eifersucht" (Num 5 , 1 4 . 3 0 ) oder der „Hurerei", der Abkehr von Gott (Hos 4 , 1 2 ; 5,4; vgl. Jes 29,14) u. a. Jedoch kann der Mensch auch „zuverlässigen Sinnes" (Prov 11,13) sein. Dabei wird zwischen emotionellen und intellektuellen Regungen, Empfindungen, Willen und Erkenntnis nicht scharf unterschieden: Was „in den Geist aufsteigt" (Ez 1 1 , 5 ; 2 0 , 3 2 ; üblicherweise: „ins Herz" Jer 3 , 1 6 u. a.), meint, was „in den Sinn kommt". Gott „prüft die Geister" (Prov 16,2) wie die Herzen (21,2), d. h.: auch das verborgene Innere Has den Menschen bestimmt (vgl. Ps 1 4 3 , 4 . 7 ; Sach 12,1). Denen, die „irrenden, verwirrten Geistes" sind, wird Einsicht verheißen (Jes 2 9 , 2 4 ) . Der „Geist der Weisheit" (Ex 28,3) ist der handwerklich-künstlerische Sachverstand (31,3; 35,31) wie die Bevollmächtigung (nach der Handauflegung Dtn 3 4 , 9 ; vgl. Jes 42,1). Entsprechend verleiht der Geist Gottes die Begabung zur Bewältigung der Situation (Gen 4 1 , 3 3 . 3 8 f) bis hin zur Traumdeutung (Dan 4,5 f. 15; 5,11 ff). Gott kann den Geist „erregen" (Jer 5 1 , 1 1 ; Esr 1,1.5 u. a.), zu einer Handlung treiben. So ist rüah nicht zuletzt der Ansporn zu einer Tat und die Fähigkeit, sie zu vollbringen.
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I 3. Übergang von ,,profanen"
zu „theologischen"
171
Aussagen
Zwischen „ p r o f a n e n " und „theologischen" Aussagen, Phänomenen der N a t u r und Handeln Gottes, dem Sinn des Menschen und dem Geistwirken Gottes wird nicht immer streng unterschieden. Das „Schnauben (rüah) deiner N a s e " kann in poetisch-bildhafter Veranschaulichung (Ex 15,8) den Wind (14,21) meinen, der das Wasser zu bewegen vermag; denn diese N a t u r k r a f t wird von Gott selbst erregt oder gesandt (Gen 8,1; Ex 10,13.19; N u m 11,31; Am 4,13; Jon 1,4; Ez 37,8 ff u. a.), er verfügt über sie als sein Werkzeug (Ps 104,4; 148,8). Gras und Blume vertrocknen, wenn „Jahwes H a u c h darüber w e h t " (Jes 40,7). Ist dabei zunächst an den Glutwind gedacht, der das Frühlingsgrün im Nu versengt (Ps 103,15 f), so stellt dieser „ H a u c h " - im Parallelismus zu Jahwes „ W o r t " (vgl. Ps 147,18; 33,6) — doch zugleich Gottes Macht über N a t u r und Geschichte dar (vgl. Jes 51,12f). Ähnlich werden göttlicher und menschlicher Geist als die Lebenskraft im Menschen gelegentlich identifiziert (Hi 27,3 „Gottes Hauch in meiner N a s e " ; vgl. Ps 1 0 4 , 2 9 f ; Ez 3 6 , 2 6 f ) . Allerdings können Gottes Geist und „Fleisch" als menschliche Schwäche sich auch gegenüberstehen (Jes 31,3; vgl. 30,1; 4 0 , 6 f ; Gen 6,3), desgleichen Geist und M a c h t (Sach 4,6). O b w o h l das Alte Testament nicht sagt, daß Gott Geist ist (vgl. Jes 40,13), kann Gottes Geist synonym f ü r Gottes Gegenwart sein (Ps 139,7 u.a.). Götzen sind ohne Atem, Geist und Lebenskraft (Jer 10,14; 51,17; H a b 2,19; Ps 135,17; vgl. Jes 41,29). 4. Wirksamkeit
des Geistes in Richtern
und
Propheten
In der älteren Zeit wirkt der Geist Gottes vor allem auf zweierlei Weise, bei den sog. großen Richtern wie den —»Propheten (—»Charisma). Jahwes Geist überfällt einen Menschen, der in der N o t zum charismatischen Führer erweckt wird und die Rettung bringt (Jdc 3,10; 6,34; 11,29; I Sam 11,6). Da es sich um ein einmaliges, auf die jeweilige Situation bezogenes und begrenztes Geschehen handelt, wird man annehmen dürfen, d a ß dieser Geist nicht ständig auf dem Berufenen ruht (anders Schunck), sondern ihn „ n u r " zur jeweiligen T a t antreibt (vgl. f ü r Simsons Krafttaten Jdc 13,25; 14,6.19; 15,14). Einerseits wird zwar nirgends festgestellt, daß sich der Geist (wie von Saul I Sam 16,14) wieder zurückzieht, andererseits wird erst von David ausdrücklich bekannt: Der Geist Jahwes wirkte „von jenem Tag an und imm e r f o r t " (I Sam 16,13; vgl. II Sam 23,2; auch Jes 11,2). Dem Königtum als ständiger Institution tritt aber bald die Prophetie als kritische Instanz gegenüber. Wie jene Richter so ergreift der Geist auch die - frühen - Propheten, läßt Gruppen in Verzückung, Raserei geraten (I Sam 1 0 , 6 f f ; 1 9 , 2 0 f f ; vgl. vom Geist Moses N u m l l , 1 6 f . 2 4 f f ) . Der Zustand ist übertragbar: „ D u wirst in einen anderen Menschen verwandelt w e r d e n " (I Sam 10,6 von Saul). Ist das Phänomen ekstatischer Prophetie kanaanäischer H e r k u n f t ' und m u ß erst vom Jahweglauben durchdrungen werden? Jedoch wird es auf den „Geist J a h w e s " (10,6 gegenüber „Geist G o t t e s " 10,10 u. a.) zurückgeführt. Bald wird der Geist auch als die M a c h t erfahren, die das - verständliche, überlieferbare — Wort eingibt (Num 2 4 , 2 f f ; II Sam 23,2; I Reg 22,24). Allerdings berufen sich die sog. großen Propheten des 8. und 7. Jh. auffälligerweise nicht auf den „Geist" (in Mi 3,8 wohl Zusatz), obgleich Hosea (9,7) vorgeworfen wird: „Verrückt ist der M a n n des Geistes" (vgl. II Reg 9,11; Jer 29,26; auch M k 3,30; Joh 10,20). Möglicherweise meiden sie, in die Nachbarschaft zu ekstatischer Prophetie (vgl. Ez 13,3; Jer 5,13) zu geraten; jedenfalls erfahren sie Gottes M a c h t und O f f e n b a r u n g weit eher im Wort (Am 3,8; Jes 6,7ff; 9,7; Jer 2 0 , 7 f f ; 23,29 u. a.; vgl. Gottes H a n d Jes 8,11 u. a.). Eine Ausnahme bildet -^Ezechiel, der - in A n k n ü p f u n g an die ältere Prophetie (I Reg 18,12.46; II Reg 2,9.15 f u. a.) - das Ergriffensein durch den Geist bezeugt: „Der Geist h o b mich empor und entrückte m i c h " (Ez 3,14; vgl. 3,12; 8,3; 11,1.5.24; 37,1 u. a.). So wird in exilisch-nachexilischer Zeit die Vollmacht der Propheten wieder als Wirken des Geistes verstanden (Jes 61,1; Joel 3,1 f; Sach 7,12; vgl. 4,6; Jes 42,1; 48,16; II Chr 15,1; 24,20). Der von Gott gesandte Geist k a n n nicht nur Heil, sondern auch Unheilvolles, Böses bringen (Ri 9,23; I Sam 16,14ff.23; 18,10; 19,9; I Reg 22,21 ff; II Reg 19,7; Jes 29,10). Auf diese
172
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I
und andere Weise deutet das Alte Testament auch die zwiespältigen, dunklen Erfahrungen des Menschen vom Glauben her (^>Gott). 5. Erschaffung
des Geistes und der Geist als
Schöpfer
Der „Gott der Geister allen Fleisches" (Num 16,22; 27,16) gibt dem Volk auf der Erde „den Atem (nesämä) und den Geist den auf ihr Wandelnden" (Jes 42,5; vgl. 57,16). Nach Gen 2,7 bildete Gott den Menschen aus „Staub vom Erdboden" und hauchte den „Odem (;n'sämä) des Lebens" in seine Nase; diese doppelte Herkunft beschreibt (gegenüber den Tieren 2,19) die Zwischenstellung des Menschen zwischen Gott und Welt und verweist zugleich auf seine Zukunft, das Ende (3,19). Wie der Schöpfer „den Geist (rüah) des Menschen in seinem Inneren gestaltet" (Sach 12,1), so kann er den belebenden Hauch zurückziehen: „Nimmst du ihren Odem (rüah) hinweg, so verscheiden sie und werden wieder zu Staub, sendest du deinen Geist (rüah) aus, so werden sie geschaffen" (Ps 104,29f; vgl. 146,4; Hi 34,14f; Koh 12,7; Gen 6,3). Demnach bleibt die Kreatur ständig auf Gottes Schöpferkraft angewiesen, die sich in seinem „Hauch" oder „Geist" äußert: „Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Atem des Allmächtigen belebt mich" (Hi 33,4; vgl. Ps 33,6; 147,18; vom Wind: 104,4; 148,8). Die Beschreibung der Welt vor der Schöpfung Gen 1,2 spricht von der wüsten und leeren Erde, die noch nichts hervorbringen kann und unbewohnt ist, der Finsternis über dem Urwasser und der rüah Gottes, die sich über dem Wasser bewegt. Übersetzung und Deutung bleiben umstritten: Atem, Wind, Geist Gottes? 2 Diese rüah ist weder an den Schöpfungsakten (V.3 ff) beteiligt, noch kann sie selbst (anders als etwa Ps 33,6) eine schöpferische Macht sein, da Gen 1,2 einen vergangenen Zustand schildert. So mag man am ehesten an den (von Gott ausgesandten) Wind denken; jedenfalls ist auch die Welt vor der Schöpfung („im Anfang") nicht ohne die Anwesenheit Gottes. 6. Wende und Neuschöpfung
durch den
Geist
Die „Tugenden" des erwarteten Zukunftsherrschers mit der Fähigkeit, das Recht durchzusetzen, sind Gaben des Geistes: „Auf ihm wird ruhen der Geist Jahwes" (Jes 11,2; vgl. vom Gottesknecht 42,1; auch Sach 4,6; 12,10). Anders als dem ersten König Saul (I Sam 16,14) wird dem Messias der Geist nicht mehr entzogen werden (vgl. „ruhen" Num 11,25; II Reg 2,15). Der Messias gewinnt mit dem „Geist der Weisheit und Einsicht", was Israel vermissen läßt (Jes 1,3; 6,9; aber I Reg 3,12), besitzt mit dem „Geist des Rates und der Stärke" fast Gottes Macht (Jes 28,29; vgl. 9,5), bleibt mit dem „Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht" (vgl. II Sam 23,2f) aber Gott untergeordnet. In der Hoffnung wird der Geist nicht nur einzelnen Auserwählten, sondern dem — unwilligen, widerspenstigen (Ez 2,3 ff; 3,5 ff) - Volksganzen zuteil. Gegen die Niedergeschlagenheit der Exilsgemeinde „Verdorrt sind unsere Gebeine, verloren ist unsere Hoffnung" (Ez 37,11; vgl. 33,10) wendet sich die Vision Ezechiels. Der Prophet wird „im Geist" zum Feld der Totengebeine geführt und erhält den Auftrag, sie mit dem Wort des Schöpfers anzureden: „Ich bringe Geist in euch, damit ihr wieder lebendig werdet" (37,5). Ähnlich Gen 2,7 kommt in die zunächst noch unbelebten Körper erst durch den Geist, veranschaulicht in dem aus allen vier Himmelsrichtungen wehenden Wind, Lebenshauch und Bewegung; es entsteht ein neues Volk. Der Geist bewässert das Trockene, verleiht Wachstum (Jes 44,3), gibt in der Hoffnungslosigkeit Hoffnung. Moses Wunsch: „Bestände doch das ganze Haus Jahwes aus Propheten, weil Jahwe seinen Geist auf sie kommen ließe!" (Num 11,29) wird in der Verheißung Joel 3,1 f (vgl. Ez 39,29) erfüllt: Durch die Geistausgießung soll jedermann ohne Unterschied des Geschlechts, des Alters und der sozialen Stellung „unmittelbar zu Gott" werden (vgl. Jer 31,34 „vom Kleinsten bis zum Größten"). Das „neue Herz" und der „neue Geist" eröffnen durch eine tiefe innere Wandlung des Menschen eine neue Zukunft (Ez 36,26 f; vgl. 11,19; 18,31; Jes 29,24). Die Verheißung eines von Gott nicht mehr abgekehrten, sondern ihm zugewendeten Menschen nimmt der Beter von Ps 51 (V.7.12f; vgl. 143,2.10) auf; er verbindet die Einsicht in die tiefe Schuldverfallenheit mit der Bitte um Er-
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben II
173
neuerung, die Denken, Wollen und die Kraft zum Handeln erfaßt: „Schaffe mir Gott ein reines Herz und gib mir neu einen beständigen Geist!" In diesem Gebet findet sich auch die im Alten Testament höchst s e l t e n e - n u r noch Jes 6 3 , 1 0 f b e z e u g t e - Wendung „heiliger Geist": „Nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!" Der Hohe und Heilige will „bei den Zerschlagenen und Demütigen" ( = gebeugten Geistes) wohnen, um den Geist der Gebeugten zu beleben" (Jes 5 7 , 1 5 ; vgl. Ps 3 4 , 1 9 ; auch 3 1 , 6 ; 5 1 , 1 9 u.a.). Anmerkungen Vgl. im Anschluß an Gustav Hölscher (Die Profeten, 1 9 1 4 ) u. a. zuletzt Hans-Christoph Schmitt, Prophetie und Tradition: Z T h K 7 4 ( 1 9 7 7 ) 2 5 5 - 2 7 2 , bes. 2 7 0 f . " Vgl. jeweils mit Lit.: Werner H . Schmidt, Die Schöpfungsgesch. der Priesterschrift, ' 1 9 7 4 ( W M A N T 17), 83 f; Claus Westermann, Genesis 1 - 1 1 , ' 1 9 7 6 (BK 1/1), 1 4 7 f f ; Odil H. Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift, J 1 9 8 1 ( F R L A N T 115) 2 3 3 ff. 1
Literatur Vgl. außer den „ T h e o l o g i e n " und entsprechenden W e r k e n : RainerAlbertz/Claus Westermann, Art. rüah Geist: T H A T 2 ( 1 9 7 6 ) 7 2 6 - 7 5 3 (Lit.). - Friedrich Baumgärtel, Art. Geist im AT: T h W N T 6 ( 1 9 5 9 ) 3 5 7 - 3 6 6 . - Charles Augustus Briggs, T h e Use o f rüah in the O T : J B L 1 9 ( 1 9 0 0 ) 1 3 2 - 1 4 5 . Johannes Hehn, Zum Problem des Geistes im Alten Orient u. im AT: Z A W 4 3 ( 1 9 2 5 ) 2 1 0 - 2 2 5 . - Paul van Imschoot, L' action de l'esprit de Jahve dans 1' A T : R S P h T h 2 3 ( 1 9 3 4 ) 5 5 3 - 5 8 7 . - Ders., L' esprit de Jahve, source de vie dans I' A T : R B 4 4 ( 1 9 3 5 ) 4 8 1 - 5 0 1 . - Alfred Jepsen, N a b i , München 1 9 3 4 , 1 2 - 4 0 . - Aubrey R . J o h n s o n , T h e Vitality of the Individual in the Thought o f Ancient Israel, Cardiff ' 1 9 6 4 (Lit.). - Robert Koch, Geist und Messias, Wien 1 9 5 0 . - Justus Koeberle, Natur u. Geist nach der Auffassung des A T , München 1 9 0 1 . - Daniel Lys, Rüach. Le souffle dans T A T , 1 9 6 2 ( E H P h R 5 6 ) . Thierry Maertens, Le Souffle et 1' Esprit de Dieu, Brügge 1 9 5 9 . - Ders., Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis: Die Welt der Bibel 5 ( 1 9 5 9 ) 7 - 1 1 5 . - Sigmund M o w i n c k e l , „ T h e Spirit" and the „ W o r d " in the Pre-Exilic Reforming Prophets: J B L 5 3 ( 1 9 3 4 ) 1 9 9 - 2 2 7 ; 5 6 ( 1 9 3 7 ) 2 6 1 - 2 6 5 . - Gerhard Münderlein, Kriterien wahrer u. falscher Prophetie, ' 1 9 7 9 ( E H S . T 2 3 ) , 6 8 f f . - J o s e f Scharbert, Fleisch, Geist u. Seele im Pentateuch, 1 9 6 6 (SBS 19). - Johannes Hendrik Scheepers, Die gees van God en die gees van die mens in die O T , Kampen 1 9 6 0 . - Werner H. Schmidt, Anthropologische Begriffe im A T : EvTh 2 4 ( 1 9 6 4 ) 3 7 4 - 3 8 8 . - Klaus-Dietrich Schunck, Wesen u. Wirken des Geistes nach dem A T : Taufe u. Heiliger Geist. SLAG. A 1 8 ( 1 9 7 9 ) 7 - 3 0 . - Paul Volz, Der Geist Gottes u. die verwandten Erscheinungen im A T u. im anschließenden Judentum, Tübingen 1 9 1 0 . - Claus Westermann, Geist im AT: EvTh 4 1 ( 1 9 8 1 ) 2 2 3 - 2 3 0 . - Hans Walter Wolff, Anthropologie des A T , München ' 1 9 7 7 , 5 7 - 6 7 . - Walter Zimmerli, Ezechiel, " 1 9 7 9 (BK 1 3 / 1 - 2 ) , 6 4 P U 2 6 2 - 1 2 6 5 .
Werner H. Schmidt II. Judentum 1. Antike 1.
2 . Mittelalter
3. Neuzeit
(Literatur S. 1 7 7 )
Antike
1.1. —*Qumran. Die Vorstellung vom Geist bzw. heiligen Geist in der Gemeinde von Qumran ist nicht einheitlich und läßt sich auch nicht ohne weiteres systematisieren. Neben wenigen Hinweisen auf Bezüge zur Prophetie (1 QS 8 , 1 6 ; C D 2 , 1 2 f) und zum Amtscharisma des Hohenpriesters (1 QSb 2 , 2 4 ; vgl. dazu u. Abschn. 1.3.2.) ist vor allem für die Gemeinderegel der Gegensatz der „zwei Geister" („Geist der Wahrheit" und „Geist des Unrechts") charakteristisch, die im Menschen bis zum von Gott gesetzten Termin des Gerichtes um die Herrschaft kämpfen (1 QS 3 , 1 3 — 4 , 2 6 ) . Dagegen dominiert in denHodayot der heilige Geist als Geschenk Gottes an die Mitglieder der Gemeinde, das diese vor allen übrigen Menschen auszeichnet; er ist also eine Gabe, die bereits in der Gegenwart den Erwählten zuteil wird. Die im Zusammenhang damit verwendete Terminologie rückt den heiligen Geist in den Vorstellungskomplex von Rein und Unrein und hebt die Frommen der Qumrangemeinde, auf die Gott seinen heiligen Geist „gesprengt" (1 Q H 7 , 6 f ; 1 7 , 2 6 ; 1 Q H F r g . 2 , 9 ; 2 , 1 3 ) und die er durch seinen heiligen Geist „gereinigt" hat (1 Q H 1 6 , 1 1 f), von denen ab, die ihren heiligen Geist „verunreinigen" ( C D 5,11 f; 7,4). Die Wirkung des heiligen Geistes ist Einsicht (1 Q H 14,13) und Erkenntnis (1 Q H 1 3 , 1 9 ; 14,25) der Geheimnisse Gottes (1 Q H 1 2 , l l f ) ; sie befähigt den Frommen, „an deinem Bund in Wahrheit zu hangen, dir in Wahrheit und
174
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben II
mit ganzem Herzen zu dienen und deinen N a m e n zu lieben" (1 Q H 16,6 f). Die Gemeinderegel scheint in einem systematischen Entwurf die Zwei-Geister-Lehre und die Vorstellung vom heiligen Geist zusammenzufassen, wobei die Gabe des heiligen Geistes in die Endzeit verlegt wird: Z u r „Zeit der H e i m s u c h u n g " wird Gott den „frevelhaften Geist" endgültig aus dem Fleisch des Menschen vertilgen und ihn durch den heiligen Geist reinigen. „Er wird den Geist der Wahrheit über ihn sprengen wie Reinigungswasser, (das reinigt) von allen Greueln des Trugs und dem Wälzen im Geist der Unreinheit. Um Einsicht zu schenken den Rechtschaffenen im Wissen des Höchsten und die Weisheit der Söhne des Himmels die zu lehren, die vollkommen w a n d e l n " (1 Q H 4 , 2 0 - 2 2 ) . 1.2. ~^>Philo. Der heilige Geist (meist nvevfia detov [göttlicher Geist]) ist f ü r Philo in erster Linie die göttliche Kraft, die den Menschen zur Prophetie inspiriert. Seine Schilderung dieses Vorgangs ist eine Kombination biblischer und vor allem platonischer Vorstellungen über Inspiration und Prophetie (SpecLeg 1,65; 4,49). Als reales unkörperliches Wesen Philo unterscheidet die unkörperlichen Seelen, die im menschlichen Körper inkarniert werden, die zahlreichen unkörperlichen Seelen, die niemals körperliche Gestalt annehmen, nämlich die Engel, und die einzigartige unkörperliche Seele des heiligen Geistes — ist der heilige Geist als Hypostase verstanden, vergleichbar den Engeln, die als M e d i u m der göttlichen O f f e n b a r u n g fungiert. Der Terminus „göttlicher Geist" wird gleichbedeutend mit dem Terminus „Weisheit" verwendet, der seinerseits mit dem Terminus —»„Logos" synonym ist. Die besondere Eigenart der philonischen Geistlehre hat ihre Fortsetzung nicht so sehr im Judentum als vielmehr in der christlichen Theologie gefunden. 1.3. Rabbirtisches
Judentum
1.3.1. Geist der Offenbarung. Der am häufigsten belegte gedankliche Z u s a m m e n h a n g ist der zwischen dem heiligen Geist und der—»Prophetie. D a m i t führt das rabbinische Judentum eine Linie weiter, die bereits im Alten Testament (s. o. Abschn. I) angelegt ist. Terminologisch k o m m t dies darin zum Ausdruck, daß die Termini rüah ha-qodäs [heiliger Geist] und rüah nevü'ah[Geist der Prophetie] gleichbedeutend und gleichberechtigt nebeneinander verwendet werden. Entsprechend der extensiven Verwendung der Termini „heiliger Geist" u n d „Geist der Prophetie" ist der Kreis der Propheten in der rabbinischen Literatur sehr viel umfangreicher als im Alten Testament (vgl. b M e g 14a). Neben den klassischen Propheten des Alten Testaments gelten für die Rabbinen auch die Erzväter und -mütter (unter den Frauen sogar die Tochter des Pharao oder Rachab), —»Mose, —»Bileam, —»Aaron usw. und das ganze Volk Israel als Propheten. Wichtigstes Kennzeichen dieser Propheten im rabbinischen Sinne ist, daß sie bestimmte Dinge wissen bzw. genauer: vorauswissen, die ihren Mitmenschen nicht bekannt sind; dieses Wissen betrifft sowohl gleichzeitige als auch zukünftige Ereignisse und wird jeweils vom heiligen Geist mitgeteilt. Dabei ist von Bedeutung, daß dieses Vorauswissen des Propheten nicht irgendein beliebiges Vorauswissen ist, sondern sich fast immer im Rahmen einer historischen Perspektive bewegt, d. h. im Rahmen des Heilsplanes Gottes, in dem der Prophet eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat. Der heilige Geist vermittelt dem Propheten O f f e n b a r u n g , die dieser weitergeben muß, manchmal sogar, wie im Alten Testament, gegen seinen eigenen Willen. Weder ist der heilige Geist eine Qualität des Propheten, noch bedarf der Prophet besonderer Eigenschaften etwa moralischer Art, um als M e d i u m f ü r den heiligen Geist wirksam werden zu können. Für das Verhältnis zwischen Gott und dem heiligen Geist gilt, d a ß der heilige Geist weder mit Gott subjektsidentisch ist noch auch als Hypostase neben oder unter G o t t aufgefaßt wird. Die Termini „heiliger Geist" und „ G o t t " sind niemals austauschbare und beliebig verwendbare Begriffe; andererseits wird der heilige Geist, wenn er als Subjekt einer H a n d lung auftritt und zu einem Propheten spricht usw., nicht als selbständige Person verstanden - das in der rabbinischen Literatur häufige Stilmittel der Personifizierung und Dramatisierung ist nicht mit einer Hypostasierung im theologischen Sinne zu verwechseln —, sondern ausschließlich als Offenbarungsweise Gottes.
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben II
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1.3.2. Ort der Offenbarung. Der bevorzugte Ort des heiligen Geistes als des Mittlers der Offenbarung ist das Heiligtum. Seit der —»Erwählung Israels ist die Prophetie auf das Volk —»Israel als besonderes Volk Gottes und sogar lokal auf das zu diesem Volk gehörige Land Israel, die Stadt —»Jerusalem als Zentrum des Landes und den —»Tempel als Mittelpunkt der Stadt eingegrenzt (MekhY 2f). Träger des heiligen Geistes ist deswegen nicht nur der Prophet im üblichen Sinne, sondern auch der Hohepriester im Tempel; der heilige Geist ist hier also Amtscharisma (WaR 2 1 , 1 2 ; bYom 7 3 a f ; bBB 1 2 2 b ) . Der Hohepriester betritt als einziger das Allerheiligste und empfängt dort bisweilen bestimmte Offenbarungen (tSot 13,5 f)Das verbindende Glied zwischen dem (klassischen) Propheten und dem mit dem heiligen Geist begabten Hohenpriester war ursprünglich wahrscheinlich das Orakelschild {Urim und Tummim), das der Hohepriester in Ausübung seiner prophetischen Funktion benutzte. Dennoch galt der Hohepriester noch als geistbegabt, als das Orakelschild längst nicht mehr in Gebrauch war; die Verbindung zwischen dem heiligen Geist und dem Hohenpriester ist somit nicht nur ein Relikt, sondern wurzelt in dem ursprünglichen Zusammenhang zwischen dem heiligen Geist und dem Heiligtum (vgl. dazu im Neuen Testament Joh 11,51: die Gabe der Prophetie ist auch hier nicht an die Person des Hohenpriesters gebunden, sondern an das —»Amt). Die enge Beziehung zwischen dem heiligen Geist und dem Heiligtum kommt auch im hebräischen Terminus rüah ha-qodäs selbst zum Ausdruck. Das Substantiv qodäs in dieser Konstruktusverbindung bezeichnet primär wahrscheinlich konkret das „Heiligtum" bzw. den „Heiligen" (als Gottesbezeichnung), d. h. den im Heiligtum anwesenden und sich offenbarenden Gott; die ebenfalls mögliche Ubersetzung „Geist der Heiligkeit" ist nur in wenigen Texten nachweisbar (s. u. Abschn. 1.3.5). Der hebräische Terminus rüah ha-qodäs ist daher mit der (dem griechischen JIVEV/Xa äyiov entsprechenden) Übersetzung „heiliger Geist" nur ungenau wiedergegeben; adäquater ist die Umschreibung „Geist des im Heiligtum als Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch sich offenbarenden Gottes". 1.3.3. Heiliger Geist und Schekhinah. Da das Heiligtum nach jüdischer Auffassung nur kraft der Gegenwart Gottes (d. h. der Schekhinah) - und nicht kraft der Heiligkeit des Ortes oder der Gemeinde - Heiligtum ist, kann der heilige Geist auch nur im Heiligtum als Ort der Schekhinah gegenwärtig sein, d. h.: Der Zusammenhang zwischen dem heiligen Geist und dem Heiligtum ist in dem primären Zusammenhang zwischen dem heiligen Geist und der Schekhinah (der besonderen „Scinswcisc" Gottes als des unter den Menschen wohnenden und anwesenden Gottes) begründet (vgl. bYom 9 b ; 2 1 b ) . 1.3.4. Aufhören des heiligen Geistes. Die enge Verbindung zwischen der Wirksamkeit des heiligen Geistes und der Gegenwart Gottes = der Schekhinah im Heiligtum hat zur Folge, daß mit der Abkehr Gottes vom Heiligtum auch die durch den heiligen Geist vermittelte lebendige Offenbarung aufhört. Da für die Rabbinen nur der erste —»Tempel als Heiligtum im vollen Sinne des Wortes galt, war die Schekhinah nach Ansicht der meisten Rabbinen nur in diesem wirklich gegenwärtig (offenbar). Dies bedeutet, daß auch die Wirksamkeit des heiligen Geistes in Israel zeitlich limitiert sein mußte; die Zerstörung des ersten Tempels ist die entscheidende Zäsur nicht nur für die offenbare Gegenwart Gottes im Heiligtum, sondern auch für die Wirksamkeit des heiligen Geistes (bYom 21 b; tSot 13,2ff; bYom 9 b ; EkhaR Pet. 2 3 ; ShemR 32,1). Dem durch den Besitz des Landes, die Existenz des Heiligtums und die Gegenwart der Schekhinah im Heiligtum konstituierten „Goldenen Zeitalter" bis zur Zerstörung des ersten Tempels entspricht nach rabbinischer Theologie die Zeit der Erlösung, in der Gott sein Volk in seinem Land sammeln, seinen Tempel wieder erbauen und in diesem Tempel unter seinem Volk Wohnung nehmen wird. Für die Vorstellung vom heiligen Geist bedeutet dies, daß auch dieser in der Endzeit wieder zurückkehren wird (PesR S. 1 b; BamR 1 5 , 1 0 . 2 5 ; EkhaR 3 , 1 3 8 ; ShirR 1,1 § 11). Der heilige Geist ist hier als ein nationales —>Charisma verstanden, das nicht den einzelnen Propheten vor seinem Volk auszeichnet (und schon gar nicht vom
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Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben II
Einzelnen e r w o r b e n o d e r angestrebt werden k a n n ) , s o n d e r n den Einzelnen immer n u r m sein e m Volk u n d Israel v o r den anderen V ö l k e r n . Dieses K o n z e p t v o m heiligen Geist als nationales C h a r i s m a reicht zweifellos bis in die f r ü h j ü d i s c h e Zeit z u r ü c k (vgl. Ps 74,9; D a n 9,24; T h r 2,9; Esr 2 , 6 3 ; I M a k k 4 , 4 6 ; 14,41), erhielt aber seine volle A u s p r ä g u n g und F o r m u l i e r u n g erst im rabbinischen J u d e n t u m . Dabei m a g der Einfluß des C h r i s t e n t u m s eine Rolle gespielt h a b e n , doch w a r dieser sicher nicht m a ß g e b e n d f ü r die E n t s t e h u n g des Konzepts. Dagegen lassen sich auch nicht die p r o p h e t i schen Bewegungen des nachbiblischen J u d e n t u m s ins Feld f ü h r e n , wie sie bei —»Josephus u n d im N e u e n T e s t a m e n t bezeugt sind. Diese p r o p h e t i s c h e n Bewegungen u n d insbesondere der p r o p h e t i s c h e A n s p r u c h Jesu und seiner J ü n g e r f ü g e n sich als ursprünglich endzeitliche Bewegungen im Gegenteil n a h t l o s in das jüdische heilsgeschichtliche Schema v o m A u f h ö r e n des heiligen Geistes u n d seiner W i e d e r k e h r in der Endzeit (vgl. im N e u e n T e s t a m e n t M k 1 p a r . ; Act 2 , 1 4 f f ) ein. N i c h t die christliche A u f f a s s u n g v o m heiligen Geist (in den f r ü h e n Schichten des N e u e n T e s t a m e n t s ) m u ß t e den jüdischen W i d e r s p r u c h h e r v o r r u f e n , s o n d e r n die christliche B e h a u p t u n g , d a ß mit Jesus die Endzeit a n g e b r o c h e n u n d deswegen die allgemeine Ausgießung des heiligen Geistes möglich g e w o r d e n sei. Besteht v o n d a h e r kein G r u n d zu der V e r m u t u n g , d a ß das rabbinische T h e o l o g o u m e n o n v o m A u f h ö r e n des heiligen Geistes erst in der A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m C h r i s t e n t u m e n t s t a n d , sind die historischen Bedingungen f ü r die E n t s t e h u n g dieses heilsgeschichtlichen Konzepts weitgehend u n g e k l ä r t . O b es e t w a auf den Gegensatz zwischen —»Pharisäern u n d —>Sadduzäern z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n k a n n (die Pharisäer m ö g e n ein Interesse d a r a n g e h a b t h a b e n , den zunächst ganz von den S a d d u z ä e r n beherrschten zweiten T e m p e l in seiner B e d e u t u n g herabzusetzen), ist nicht m e h r als eine V e r m u t u n g u n d läßt sich aus den Quellen nicht erschließen. 1.3.5. Weiterwirken des heiligen Geistes. N e b e n der national-heilsgeschichtlichen Linie findet sich im rabbinischen J u d e n t u m aber a u c h die Vorstellung, d a ß die W i r k s a m k e i t des heiligen Geistes ü b e r die Z e r s t ö r u n g des T e m p e l s h i n a u s a n d a u e r t e . Einige T e x t e gehen davon aus, d a ß der heilige Geist v o n den P r o p h e t e n auf die R a b b i n e n übergegangen u n d d a h e r im Sinne eines A m t s c h a r i s m a s der R a b b i n e n als der T r ä g e r u n d K ü n d e r der autorisierten Lehre zu verstehen ist (yAZ 2 , 8 ; SER 30; bBB 1 2 a f ) . N o c h weiter reicht ein a n d e r e r T e x t k o m p l e x , in d e m jeder Bezug zur Prophetie u n d d a m i t z u r O f f e n b a r u n g fehlt. Hier w i r d der heilige Geist als L o h n (sakhar) f ü r persönliche Heiligkeit (mSot 9,15 par.), f ü r die E r f ü l l u n g der G e b o t e ( M e k h Y 113 ff), f ü r Lernen und T u n der T o r a h ( W a R 35,7), f ü r gute T a t e n (BamR 10,5; SER 10, S. 48) a u f g e f a ß t , d. h. er i s t - a l s L o h n f ü r bestimmte gute W e r k e , w o bei die Erfüllung der T o r a h im V o r d e r g r u n d steht — eine ethische Kategorie, ein S t a d i u m persönlicher Heiligkeit, das grundsätzlich von jedem erreicht w e r d e n k a n n . Die Initiative liegt dabei nicht m e h r bei G o t t , der einen Propheten e r w ä h l t , s o n d e r n beim M e n s c h e n , der eine b e s t i m m t e Stufe der „ V o l l k o m m e n h e i t " erreicht u n d d a f ü r mit d e m heiligen Geist b e l o h n t w i r d . Im Unterschied z u m national-heilsgeschichtlichen K o n z e p t ist der heilige Geist hier als individuelles Charisma v e r s t a n d e n : N i c h t m e h r das Volk Israel in seiner G e s a m t h e i t steht im M i t t e l p u n k t des Interesses, s o n d e r n der einzelne, der u n t e r bestimmten V o r a u s s e t z u n g e n der G a b e des heiligen Geistes teilhaftig w e r d e n k a n n . Wieweit dieses K o n z e p t auf das C h r i s t e n t u m eingewirkt h a t o d e r u m g e k e h r t hier der Einfluß des C h r i s t e n t u m s s p ü r b a r w i r d , w ä r e n o c h zu p r ü f e n . 2. Mittelalter In der mittelalterlichen jüdischen Philosophie u n d Theologie werden die beiden Linien des national-heilsgeschichtlichen u n d des individuellen C h a r i s m a s w e i t e r g e f ü h r t . 2.1. -H>Jehuda Hallevi. Als Vertreter einer b e t o n t traditionell orientierten Philosophie u n d Theologie ist J e h u d a Hallevi ein besonders charakteristisches Beispiel f ü r die A u f n a h m e des national-heilsgeschichtlichen Konzeptes. Wie im rabbinischen J u d e n t u m ist bei i h m die Prophetie = der heilige Geist (ha-'inyan ha-alohi = res divina) auf das Volk u n d das f ü r dieses Volk konstitutive L a n d Israel sowie auf das Heiligtum als den besonderen O r t der göttlichen O f f e n b a r u n g begrenzt (Kusari 11,12; 111,39; 111,65).
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben II
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2.1. —>Mose ben Maimon. Auch für Maimonides ist der heilige Geist im wesentlichen mit der prophetischen Begabung identisch, doch versucht er einen Ausgleich zwischen der philosophischen (die Gabe der Prophetie ist die höchste Stufe der menschlichen Vollkommenheit; jeder in seinen Vernunfterkenntnissen und Charaktereigenschaften vollkommene Mensch muß somit notwendig ein Prophet sein) und der traditionellen Auffassung von der Prophetie (Prophetie kommt nur durch den Akt der göttlichen Erwählung zustande): Z w a r kann, mit den Philosophen, nur ein wirklich vollkommener Mensch Prophet sein, doch ist die Gabe des heiligen Geistes letztlich immer eine Gabe Gottes (Moreh N c vükhim II, 32). Beim wahren Propheten (als dessen Prototyp Mose gilt) sind Denkvermögen und Einbildungskraft in gleicher Weise bis zur höchsten Vollkommenheit entwickelt und inspiriert, während sich beim Gelehrten und Forscher die Vernunftemanation nur auf das Denkvermögen und beim Staatsmann, Wahrsager oder Zauberer lediglich auf die Phantasie ergießt: „Das Wesen der Prophetie und ihr wahrer Begriff ist eine Emanation, welche von Gott durch die Vermittlung der aktiven Vernunft (intellectus agens) sich zuerst auf das Denkvermögen und dann auf die Einbildungskraft ergießt, und dies ist die höchste Stufe des Menschen und die äußerste Vollkommenheit, die bei seiner Art vorhanden sein k a n n " (ebd. 11,38). Die Prophetie ist somit nach Maimonides eine grundsätzlich erreichbare Möglichkeit, und zwar für jeden Menschen, der die angegebenen Bedingungen erfüllt (ebd. 11,36). Maimonides führt hier die im rabbinischen Judentum ansatzweise vorgegebene Linie vom heiligen Geist als dem individuellen Charisma weiter, doch hat er ohne Zweifel das traditionelle national-heilsgeschichtliche Konzept gekannt, wenn er es auch in den Möreh Nevükbim nur schwer integrieren konnte oder wollte. Dagegen bringt er in seinem Brief an die Juden Jemens ganz unbefangen und ohne jeden philosophischen Anspruch die klassische jüdische Erwartung von der endzeitlichen Wiederkehr des heiligen Geistes zum Ausdruck (Halkin/Cohen, Moses Maimonides' Epistle to Yemen, 82/83 — 84/85, XVf). Die Spannung dieser Glaubensaussage zur philosophischen Explikation des Themas im Möreh Ncvükhim und anderen Schriften sollte bestehen bleiben und nicht vorschnell aufgelöst werden. 3.
Neuzeit
In der Neuzeit hat - neben vereinzelten Versuchen, Elemente der idealistischen Philosophie —»Hegels aufzunehmen und das Judentum als „Religion des Geistes" zu definieren (N. Krochmal, S. Formstecher, S. —»Hirsch) - vor allem H. Cohen eine systematische Geistlehre entwickelt und in sein philosophisches (Spät-) Werk integriert. Cohen setzt sich betont von der traditionellen national-heilsgeschichtlichen Linie ab und führt ausschließlich die individuell-allgemein menschliche Sicht des heiligen Geistes weiter. Im Konzept des heiligen Geistes (der hebräische Terminus wird bezeichnenderweise mit „Geist der Heiligkeit" übersetzt) kommt die Korrelation zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck: „Der Geist ist nichts anderes als das Verbindungsglied der Korrelation, und die Heiligkeit i s t . . . nichts anderes als ihr Vollzugsmittel" (Religion der Vernunft 121). Das Volk Israel ist nur insofern angesprochen, als es die „ G r u n d f o r m der Korrelation von Gott und Mensch" darstellt, die aber (im Messianismus) auf alle anderen Völker ausgedehnt wird. Als „Geist der Heiligkeit" ist der heilige Geist auf die Sittlichkeit begrenzt und kann somit auch als „Geist der Ethik" bezeichnet werden: „ N u r allein den sittlichen Begriff des Menschen betrifft dieser Geist der H e i l i g k e i t . . . Auf dem Menschen ruht der heilige Geist, nicht auf dem Israeliten" (FS Guttmann 21). Cohen greift hier pointiert und selektiv die individualistische Linie des rabbinischen Judentums auf (er zitiert ausdrücklich Texte wie SER 10, S. 48; s. o. Abschn. 1.3.5) und deutet sie im Sinne der idealistischen Philosophie und in polemischer Abgrenzung gegenüber dem -^Pantheismus (insbesondere der Ausprägung ^ S p i n o z a s ) sowie der —>Mystik. Literatur Zu Abschn. 1: Vgl. die bibliographischen Angaben bei Peter Schäfer, Die Vorstellung vom hl. Geist in der rabbinischen Literatur, 1972 (StANT 28) und in T h W N T 10/2(1979) 1 2 3 8 - 1 2 4 4 .
178
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
Zu Abschn. 2: Moshe Edelman, Leverür mispar hävdelim b e törat ha-n e vu'ah ben R S " G , R Y H " L w e R M B " M : Niv Hamidrashia, Tel Aviv 1 9 6 5 , 8 4 - 88. - Abraham J. Heschel, Ha-hä'ämin ha-RMB"M säzakhah la-n e vü'ah?: Levi Ginzburg (Louis Ginzberg) Jubilee Vol., hebr. Teil, New York 1 9 4 5 / 4 6 , 1 5 9 - 1 8 8 . - Ders., 'AI rüah ha-qödäs bime ha-benayim (ad z c man6 säl ha-RMB"M): Alexander Marx Jubilee Vol., hebr. Teil, New York 1 9 4 9 / 5 0 , 1 7 5 - 2 0 8 . - Pinchas Palaj ha-Kohen, T c fisat ha-n'vü'ah 'esäl R Y H " L w e ha-RMB"M: Sinai 3 1 ( 1 9 5 2 / 5 3 ) 1 7 7 - 1 8 6 . - Alvin J. Reines, Maimonides' Concept of Mosaic Prophecy: HUCA 4 0 - 4 1 ( 1 9 6 9 / 7 0 ) 3 2 5 - 3 6 1 . - Ders., Maimonides and Abravanel on Prophecy, Cincinnati 1970. - Peter Schäfer, Zur Auffassung der Prophetie bei Jehuda ha-Levi: Kairos 1 2 ( 1 9 7 0 ) 4 2 - 5 1 . - Harry Austryn Wolfson, Halevi and Maimonides on Prophecy: J Q R 3 2 ( 1 9 4 1 / 4 2 ) 3 4 5 - 3 7 0 ; 33(1942/43) 4 9 - 8 2 . Zu Abschn. 3: Hermann Cohen, Der heilige Geist: FS Jakob Guttmann, Leipzig 1 9 1 5 , 1 - 2 1 . Ders., Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919. Peter Schäfer III. Neues T e s t a m e n t 1. Johannes der Täufer 2. Der Messias 3. Ostererfahrungen 4. Frühe Wanderprediger 5. Die Hellenisten 6. Antiochenisches Gemeingut 7. Paulinische Gemeinden 8. Lukas und Johannes 9. Konkrete Erfahrung des Geistes im frühen Christentum (Literatur S. 195) 1. Johannes
der
Täufer
Für —»Johannes den T ä u f e r ist die T a u f e mit Geist noch zukünftige ( M k 1,8 par; Lk 3 , 1 6 b ) T a t (wohl des M e n s c h e n s o h n e s ) , die neben der T a u f e mit Feuer steht (so ursprünglich Q , vielleicht erst später um das Glied „ G e i s t " erweitert). Die T a u f e mit Geist ist entweder als Reinigung zu verstehen (wie die mit Feuer: „ D i e Reinen werden nicht gereinigt werden, aber die Unreinen werden gereinigt mit Feuer und großer B e s t r a f u n g " , jüd. Apokryp h o n : J T h S 9 [ 1 9 0 8 ] 3 7 6 ) oder als durch den Geist bewirkte—»Auferstehung (was wegen der Verbindung mit dem M e n s c h e n s o h n naheliegt) oder als die G a b e prophetischen Geistes (Joel 3 , 1 - 5 ; Sib 111,582), wie Lukas in Act 2 deutet; auch das „ F e u e r " wird von Lukas ausschließlich im positiven Sinn verstanden (vgl. Lk 3 , 1 6 b mit Act 2 , 3 ) . Für Lukas ist daher mit Pfingsten auch definitiv das Ende der Zeit des Täufers g e k o m m e n . — D e r Unterschied zu J e sus ist, daß Jesus nicht nur mit einer erst zukünftigen (Apokalyptiker), sondern auch mit einer bereits gegenwärtigen Zuwendung Gottes zur Welt (Charismatiker) rechnet. Wie beim T ä u f e r ist aber der positive Ausgang abhängig von der Stellung zu ihm selbst. 2. Der
Messias
N a c h 11 Q M e l c h 18 (ed. M . de J o n g e / A . S. v. d. W o u d e : N T S 1 2 [ 1 9 6 5 / 6 6 ] 3 0 3 ) erwartet man einen einzelnen geistbegabten endzeitlichen Verkündiger der frohen Botschaft. Und wie auch sonst Propheten als „ G e s a l b t e " bezeichnet werden, so hat vielleicht schon für Jesus selbst die geistgesalbte Gestalt von Jes 6 1 , 1 große Bedeutung; vgl. L k 4 , 1 8 ; ähnlich Jes 4 2 , 1 f in M t 1 2 , 1 8 ; nach M t 2 6 , 6 8 soll und kann der „ C h r i s t a s " prophezeien; nach I Petr 1 , 1 1 prophezeite der „Geist des C h r i s t u s " schon in den Propheten; vgl. E v T h o m 5 2 ; III K o r ( = A c t P a u l ) 3 , 1 0 (wohl keine Präexistenzvorstellung, sondern das Postulat der Einheit der Offenbarung a n h a n d einer einheitlichen Mittlergröße). Denn hier ergibt sich eine Beziehung von Salbung ( = M e s s i a s ) und Geist, die eine messianische Christologie im Sinne eines waffenlosen (vgl. u. S. 1 8 6 , 1 8 7 ) , weisen, geistbegabten Königs ermöglicht. Seine „ F e i n d e " sind umfassender, als politische Gegner es wären: es sind die—»Dämonen (unreine Geister), über die sein reiner Geist herrschen kann (vgl. M k 1 , 1 2 . 2 3 ; Sefer H a j a s c h a r [ 1 1 . / 1 2 . J h . ] 1 0 9 1 [hebr. S. 8]: „ K a i n a n herrschte durch seine Weisheit über die Geister und D ä m o n e n " ) . W e n n also Jesus D ä m o n e n mit dem Geist ( M t 1 2 , 2 8 diff. Lk 1 1 , 2 0 : Finger) Gottes austreibt, so ist darin der Sieg über Gottes Feinde vollzogen und eine besondere Art von Reich Gottes (durch Besitzergreifung) Gegenwart geworden. Überdies wird die Beziehung von Messias und Geist an Jes 1 1 , 2 und seiner Auslegung (z. B. in PsSal 1 8 , 7 ; äthHen 4 9 , 3 ; 1 Q S b 5 , 2 5 ) e r k e n n b a r (vgl. auch E v J o h [ a r a b . ] 3 7 , 5 1 : „Ich werde dann senden meinen starken Geist, daß der k o m m t , den ich als König auserwählen w e r d e " ) . Die Evangelien jedenfalls kennzeichnen Je-
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
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sus aufgrund des zentralen Berufungsgeschehens der Geisttaufe als den entscheidenden Geist-Träger vor Ostern. Die Frage nach der charismatischen Legitimität Jesu ist so in jeder Weise die zentrale Frage des frühen Christentums, auch und besonders angesichts der Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels vor Jesus: Mit welchem Recht konnte man die charismatischen Messiastraditionen in ihm erfüllt sehen? Und auch nach Ostern kommt es darauf an, ob der Geist Jesu, auf den sich die Gemeinde beruft, wirklich der Geist Gottes ist, denn davon ist u. a. auch die Lösung der Gesetzesfrage abhängig (s.S. 182). Der Schwerpunkt frühchristlicher Geisterfahrung liegt jedoch offenbar in frühnachösterlicher Zeit (mit Phänomenen, die vor Ostern ganz oder weitgehend unbekannt waren wie —»Zungenreden oder Visionen). Das entspricht freilich einem im Bereich des Judentums auch sonst belegten Phänomen, daß auf eine große prophetische Einzelfigur eine Vielzahl von pneumatisch-ekstatischen Nachfolgern folgt (Num 11,25: vom Geist des Mose auf die Ältesten; II Reg 2,10; Sir 48,8 b: Elia und Elisa/weitere Nachfolger; TestHi 4 6 - 5 2 Hiob und seine Töchter, deren Erbe im Zungenreden besteht). 3.
Ostererfahrungen
3.1. Jesu —»Auferstehung selbst wird auf den Geist zurückgeführt (Rom 1,3f; I Petr 3,18; ITim 3,16). Der Ursprung liegt in der jüdischen Auffassung von Gottes Geist, der „die Toten lebendig" macht (im Bild: Ez 37,5.10; Apk 11,11; JosAs 8,9; TestAbr A 18; Sot 9,15; bAZ 20 b), der aus kreatürlicher Schwachheit vor Gottes Thron „aufrichtet" und verwandelt (Berger, Auferstehung 5 3 1 - 5 3 5 ) . Daß man freilich überhaupt Jesu Auferstehung so deutet, ist nicht denkbar ohne die Erfahrung, daß eben dieser Geist auch für das Heil der Anhänger Jesu von zentraler Bedeutung ist. Das gilt besonders für die durch den Geist bewirkte Gerechtigkeit (so erklärt sich I Tim 3,16) und die damit verbundene eigene Auferstehung. 3.2. Die Erfahrung des Auferstandenen ist selbst ein pneumatisches Geschehen. Der Visionär ist der Pneumatiker. In j ü d i s c h e r T r a d i t i o n : P h i l o ( a r m e n . ) , D e D e o 6 (über J e s a j a ) : „ E r e m p f i n g einen Anteil an d e m , der als P n e u m a der G o t t h e i t ü b e r alles e r h a b e n ist. V o n d i e s e m a u s g e g o s s e n , g e r ä t der p r o p h e t i s c h e G e i s t in V e r z ü c k u n g u n d T a u m e l . S o s p r i c h t er: Ich sah den H e r r n . . . " ; A s s M o s n a c h C l e m e n s v. A l e x a n d r i e n , str. 6 , 1 5 . 1 3 2 , 2 - 3 ( J o s u a sieht den e r h ö h t e n M o s e , er ist rö> Tcvevfiazt inagOeig). Im N T : A c t 7 , 5 5 ( „ v o l l des heiligen G e i s t e s . . . sah e r " ) ; J o h 2 0 , 2 2 ( G e i s t m i t t e i l u n g bei der O s t e r v i s i o n ) .
Die österlichen Kollektivvisionen werden als Beauftragungen verstanden, Ostern ist damit als die Anteilgabe insbesondere an der Sendung des Herrn aufgefaßt. Besonders interessant ist die Analogie zwischen den österlichen Kollektiverfahrungen und den gleichfalls kollektiv vollzogenen Ämterübertragungen späterer Gemeinden, bei denen der Geist die Rolle einnimmt, die in den Ostervisionen der Herr innehat (Act 1 3 , 1 - 3 ; I Tim 4,14: Prophetie; vgl. II Tim 1,6: Charisma). Und wie die Erscheinung des Auferstandenen wahre christologische Erkenntnis und damit das Bekenntnis begründet (Gal 1,12.16), so legitimiert immer wieder das Pneuma das wahre Bekenntnis (I Kor 12,3; I Joh 4,2; 5,6). Was daher anfänglich als Erscheinung des erhöhten Herrn erfahren wird, kann später Wirksamkeit des Geistes sein. So werden auch der erhöhte Herr und der Geist parallel als Fürsprecher aufgefaßt (S. 188). Was Lukas als Ostern und Pfingsten auseinanderfaltet, ist daher sachlich und historisch viel eher als Einheit anzusehen. 4. Frühe
Wanderprediger
4.1. Ortsveränderung durch den Geist. Nach Act 8,39 f entrückt der Geist des Herrn Philippus, so daß der Begleiter ihn nicht mehr sieht, und versetzt ihn nach Azot(Asdod). Diese Notiz ist sowohl im Rahmen einer bestimmten Tradition als auch auf dem Hintergrund konkreter Erfahrungen zu begreifen, die beispielhaft für das Pneumaverständnis früherer Gruppen ist. Z u r T r a d i t i o n : 1) D e r G e i s t G o t t e s versetzt realiter an e i n e n a n d e r e n O r t a u f d e r E r d e ; V o r b i l d : F u n k t i o n des W i r b e l w i n d e s : I R e g 1 8 , 1 2 ( G e i s t des H e r r n / E l i a ) ; II R e g 2 , 1 6 (Elia a u f e i n e n B e r g o d e r in
180
G e i s t / H e i l i g e r G e i s t / G e i s t e s g a b e n III
ein T a l g e w o r f e n ; 2 , 1 2 b : „ u n d sah ihn n i c h t m e h r " w i e Act 8 , 3 9 c ) ; Ez 1 1 , 1 ( z u m T e m p e l t o r ) . 2 4 f (nach C h a l d ä a zu den V e r b a n n t e n ) ; k o p t J e r A p o k r ( Ü b e r s . E. C . A m e l i n e a u 1 2 8 f): D e r G e i s t n i m m t J e r e m i a u n d setzt ihn n i e d e r v o r d e m G e n e r a l u n d v o r d e m K ö n i g ; e b d . (ed. K . H . K u h n ) K a p . 2 5 : D e r Geist b r a c h t e J e r e m i a a u s d e m G e f ä n g n i s ; Sef. Z e r u b b a b e l (A. W ü n s c h e , A u s Israels L e h r h a l l e n , 11/2 1 9 0 7 / 0 8 , 8 1 f; B H M 1 1 , 5 4 - 7 7 ) : D e r G e i s t t r ä g t Z e r u b b a b e l z w i s c h e n H i m m e l und E r d e n a c h N i n i v e ; H e r m a s , vis. 1 , 1 , 3 (der G e i s t ergreift u n d trägt in w e g l o s e G e g e n d ) ; 2 , 1 , 1 ; M k 1 , 1 2 (der G e i s t t r e i b t Jesus in die W ü s t e ) . — Spezielle G e s t a l t : D e r G e i s t e r g r e i f t an den H a a r e n (an e i n e m H a a r ) u n d t r ä g t fort: Bei et D r a c o ( = D a n 1 4 ) , 3 4 - 3 6 . 3 9 ( H a b a k u k n a c h B a b y l o n u n d z u r ü c k ) ; E z 8 , 3 (freilich i n n e r h a l b der V i s i o n ) ; E v - H e b r : J e s u s z u m T a b o r ( O r i g e n e s , In J o h 2 , 1 2 , 8 7 ; In J e r X V 4 ; H i e r o n y m u s , In M i c h a 7 , 7 ; In J e s 4 0 , 9 ) . — S t r e n g zu u n t e r s c h e i d e n ist: 2 ) D e r G e i s t versetzt i n n e r v i s i o n ä r an einen O r t , der das S c h a u e n v o n G e h e i m n i s s e n e r m ö g l i c h t , s o z . B . A p k 1 7 , 1 - 3 ; 2 1 , 1 0 ; A p k Z e p h n a c h C l e m e n s v. Alexa n d r i e n , str. 5 , 1 1 , 7 7 , 2 ; A p k E l ( h e b r . ) 1 , 4 - 8 ; P h i l o , P l a n t 2 3 f ( W i r b e l w i n d / v o n P n e u m a E r f ü l l t e zu G o t t e m p o r g e r u f e n ) . Im A l t e n T e s t a m e n t : Ez 8 , 2 f f . G r i e c h i s c h : O . F a l t e r , D e r D i c h t e r u. sein G o t t , 1934,85.87. D e r k o n k r e t e E r f a h r u n g s h i n t e r g r u n d für die hier allein zu d i s k u t i e r e n d e e r s t e T r a d i t i o n i s t r e k o n s t r u i e r b a r , d e n n d i e T ä t i g k e i t a m n e u e n O r t ist z u m e i s t A u s r i c h t u n g e i n e r B o t s c h a f t von G o t t her. W i e das W a n d e r n z u m neuen O r t mit visionärer Erfahrung z u s a m m e n h ä n g t , zeigt E z 3 , 1 1 — 1 5 : W ä h r e n d d e r W a n d e r u n g s c h a u t Ezechiel die H e r r l i c h k e i t G o t t e s . E s geht d a b e i g a r n i c h t u m die G e s c h w i n d i g k e i t ( s o a b e r e t w a bei P h i l o s t r a t o s , vit. A p o l l . 8 , 1 0 , w o w i e d e r u m v o n Geist o d e r Ä h n l i c h e m n i c h t die R e d e ist), s o n d e r n u m die
Geisterfahrung.
A u s g a n g s p u n k t ist d i e „ V i s i o n a u f d e m W e g " ( a u ß e r h a l b d e r O r t e ) in d e r B e r u f s p r a x i s d e r f r ü h e n W a n d e r m i s s i o n a r e ( a u c h d i e P a u l u s v i s i o n in A c t 9 g e s c h i e h t a u f d e m W e g ) z u r I n s p i r a t i o n u n d L e g i t i m a t i o n d e r in d e r n e u e n S t a d t a u s z u r i c h t e n d e n B o t s c h a f t . D i e A r t d e r B e w ä l t i g u n g d e s W e g e s w i r d d a b e i z u r n e u e n E r f a h r u n g d e r S e n d u n g . D e r G e i s t ist ( s o a u c h A c t 2 0 , 2 2 ; vgl. M k
1 , 1 2 ) das agierende Subjekt
schlechthin.
So k a n n das E n t r ü c k t s e i n des W a n d e r e r s a u f einer a n d e r e n E r z ä h l e b e n e (die die Erfahr u n g als O b j e k t i v i t ä t darstellt) als T r a n s p o r t d u r c h den Geist d a r g e s t e l l t w e r d e n : D e r W a n d e r e r h a t nichts m e h r v o m W e g g e m e r k t , d e r v i s i o n ä r e Z u s t a n d ließ d a s G e f ü h l f ü r die O r t s veränderung
verschwinden
(vgl.
auch
Josephus,
Ant
8,124:
aufgrund
von
Gebet
und
H y m n e n w e r d e n d i e B e s c h w e r d e n d e s W e g e s v e r g e s s e n ) . S o g i b t L u k a s in A c t 8 d i e G e i s t e r f a h r u n g d e r W a n d e r e r a u s d e r P e r s p e k t i v e d e r Z e u g e n als w u n d e r h a f t e s G e s c h e h e n w i e d e r . E n t s c h e i d e n d ist: D e r G e i s t w i r d p h y s i s c h e r f a h r b a r , s o s e h r b e s t i m m t er d a s L e b e n dieser frühen
Gruppen.
4 . 2 . E b e n d i e s e n G r u p p e n d ü r f t e w o h l d i e A u f f a s s u n g ü b e r d i e Entstehung den
Geist
e n t s t a m m e n (fälschlich: „ J u n g f r a u e n g e b u r t " ) ;
diese F r a g e ist h i e r
Jesu
durch
unabhängig
v o n hellenistischen P a r a l l e l e n zu b e a n t w o r t e n , d a sie w e d e r den G e i s t G o t t e s n o c h die t h e o l o g i s c h e F u n k t i o n in d e n E v a n g e l i e n h i n r e i c h e n d
erklären.
E b e n s o wie die r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e E r k l ä r u n g sind als V e r l e g e n h e i t s l ö s u n g e n a b z u l e h n e n die B e h a u p t u n g e n , M t 1 u n d L k 1 f seien im N e u e n T e s t a m e n t n i c h t z e n t r a l , sie w i d e r s p r ä c h e n den S t a m m b ä u m e n u n d h ä t t e n n u r eine u n z u r e i c h e n d e W i r k u n g s g e s c h i c h t e g e h a b t , o d e r sie seien n u r — d u r c h and e r e L e g e n d e n prinzipiell e r s e t z b a r e - E i n k l e i d u n g der B e d e u t s a m k e i t J e s u . - Ein m e t h o d i s c h e r Z u g a n g m u ß v i e l m e h r v o n e i n e m zu r e k o n s t r u i e r e n d e n t h e o l o g i s c h e n K a t e g o r i e n s y s t e m h e r g e w o n n e n w e r d e n , das m i t W a h r s c h e i n l i c h k e i t v o n d e m u n s e r e n v e r s c h i e d e n ist. D i e s e s „ S y s t e m " ist a u s e i n e r V i e l z a h l ant i k e r T e x t e a b s t r a k t i v g e w o n n e n u n d h a t f o l g e n d e S t r u k t u r : W i r k l i c h k e i t b e s t i m m t sich - t h e o l o g i s c h g e s e h e n - q u a l i t a t i v n a c h N ä h e o d e r F e r n e zu G o t t als d e m s c h ö p f e r i s c h e n M i t t e l p u n k t des L e b e n s . D i e sem M i t t e l p u n k t a m n ä c h s t e n liegt der B e r e i c h des H e i l i g e n . N i c h t alle W i r k l i c h k e i t h a t d a m i t gleiche N ä h e zu G o t t (wie w i r das h e u t e d e n k e n ) . D e r H e i l i g e h a t in b e s o n d e r e r W e i s e teil an G o t t e s s c h ö p f e r i s c h e r L e b e n s k r a f t o d e r : an i h m w i r k t sie sich b e s o n d e r s a u s . D a h e r liegt die A u f f a s s u n g v o n der Aufers t e h u n g J e s u prinzipiell a u f d e r s e l b e n E b e n e wie die J u n g f r a u e n g e b u r t : B e i d e s w i r d d e m H e i l i g e n zuteil, beides b e d e u t e t l e i b h a f t i g e s , q u a l i t a t i v v o m b l o ß b i o l o g i s c h e n L e b e n u n t e r s c h i e d e n e s Sein aus s c h ö p f e r i s c h e m T u n G o t t e s (das b i o l o g i s c h e L e b e n ist n u r T e i l a s p e k t e i n e r u m f a s s e n d e r e n u n d ü b e r g e o r d n e t e n K o n z e p t i o n v o n L e b e n , w e l c h e s in sich q u a l i t a t i v so d i f f e r e n z i e r t ist, d a ß es z w a r i m m e r l e i b h a f t i g e s , a b e r a u c h p r i m ä r c h a r i s m a t i s c h - d y n a m i s c h e s L e b e n b e d e u t e n k a n n ) . Es g e h t also n i c h t u m ein D u r c h b r e c h e n von N a t u r g e s e t z e n d u r c h M i r a k e l , s o n d e r n u m die g r ö ß e r e o d e r k l e i n e r e N ä h e z u m s c h ö p f e r i s c h e n G o t t s e l b e r . W e r n ä h e r bei G o t t ist, h a t u n m i t t e l b a r e r u n d intensiver an i h m als d e m U r s p r u n g des L e b e n s teil. G e r a d e dieses a b e r ist die A l l t a g s e r f a h r u n g a u c h der f r ü h c h r i s t l i c h e n C h a r i s m a t i k e r , w o b e i d u r c h a u s z u g e g e b e n w i r d (vgl. den A u f r i ß des L u k a s ) , d a ß der G e i s t a b g e s t u f t m a s s i v w i r k s a m w i r d .
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
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W i r e r l e b e n W i r k l i c h k e i t a n d e r s , k ö n n t e n uns a b e r v o n d i e s e r K o n z e p t i o n d a r i n k o r r i g i e r e n lassen, dal? das V e r h ä l t n i s zu G o t t sich n i c h t in i m m a t e r i e l l e n rein geistigen D i m e n s i o n e n b e w e g t , s o n d e r n einen b l e i b e n d e n Bezug zur L e i b l i c h k e i t h a t . Im ü b r i g e n m u ß - so w e n i g w i r a u c h a n d e r s d e n k e n k ö n n e n - unser V e r s t ä n d n i s v o n W i r k l i c h k e i t n i c h t das einzig a d ä q u a t e sein.
4.3. Die frühe Gemeinde begreift ihre christologische Schriftauslegung nicht als jedermann zugängliche Selbstverständlichkeit, sondern als Gabe des Erhöhten (Belehrung des Auferstandenen in Lk 2 4 , 2 5 - 2 7 . 4 4 - 4 7 ) oder als Gabe des Geistes (Lk 4,18f.21: in der Schriftauslegung Jesu ist „Heute" Jes 61,1 f erfüllt, daher das Staunen von V.22); ebenso werden Apollos (Act 18,24f) und Philippus (Act 8,32f.39f) als geistlegitimierte Schriftausleger genannt. Schließlich nennt man den typologischen Sinn der Schrift den „pneumatischen" (Apk 11,8 Jerusalem heißt „pneumatisch" Sodom; I Kor 10,3 f: pneumatischer Fels/Nahrung, V.6: TVJIOL), und so sind auch der pneumatische Tempel und das pneumatische Opfer in I Petr 2,5 zu verstehen. Des Pneuma bedarf es jeweils, um diese Bilder zu dechiffrieren, die von Gott gesetzte Wirklichkeit sind. 4.4. Wohl bereits auf Jesus zurückzuführen ist die Verbindung von Geist und Gebet/Hymnus: Das -n>Gebet geschieht aus der Kraft des Geistes (Rom 8,15; Gal 4,6; Joh 4,23; Eph 6,18; J u d 2 0 , vgl. IV Esr 5,22 f), oder der Geist bringt es vor Gott (Rom 8,26 f; syr. Didask.26). Denn Sprache ist Indiz für das Sein; menschliche Sprache kann Gottes Sein nicht erreichen. Selbst das Gebet muß von Gott kommen, um Gott erreichen zu können. Voraussetzung: Der Geist als solcher hat Sprache und Stimme. — Und andererseits ist wesentlicher Inhalt des Betens die Bitte um den Geist (Lk 11,2 v.l.; vgl. ActThom 27; Lk 11,13; 3,21; Act 4,31; 8,15; 13,2, vgl. auch Kol 1,9; TestLevi 2,3; Jub 1 , 1 9 - 2 1 ; Josephus, Ant 8, 114; 2. Apkjak 62f [ NHC V/4]). - Wie das Gebet, so wird auch der Lobpreis Gottes als Gabe des Geistes angesehen, denn der ideale Ort des Lobpreises ist der Platz vor Gottes Thron, und da genügt nur himmlische Sprache (I Chr 12,19; Eph 5,19; Kol 3,16; äthHen 7 1 , 1 1 - 1 2 ; Sir 39,6; 1QH 17,17; TestHi 43,3; 48,3; Philo, Somn 1 , 3 4 - 4 0 : „denn was Lobgesänge und Hymnen und Preislieder auf den Schöpfervater anstimmen kann, das ist der Himmel und der Geist"). 4.5. Sehr früh anzusetzen ist der Geistempfang auch für Frauen-, Im Gegensatz zu den Rabbinen hat Jesus auch weibliche Nachfolger; das weist mit Sicherheit auf den charismatisch-pneumatischen Charakter der Bewegung (vgl. Act 2 , 1 7 f ; Gal 3 , 2 6 f ; TestHi 4 8 - 5 0 ; LibAnt 32,14; Vita Mosis [ed. A. Gfroerer S. 307]: Geist des Herrn über Mirjam ausgegossen mit der Folge der Prophetie, so auch Sef. Hajaschar 1260; Justin, dial. 88,1: Männer und Frauen, „Gnadengaben vom Geist Gottes habend"). Die Gabe des Geistes ist so neu und eine so unmittelbare Begegnung mit Gott, daß alle früheren Differenzen gegenüber dieser neuen Größe verschwinden (vgl. dazu die Aufhebung gerade auch dieser Opposita unter dem Stichwort „die zwei zu einem machen" in der apokalyptischen und gnostischen Literatur). 5. Die
Hellenisten
Dieser Gruppe ist zuzuweisen, was von Paulus bereits vorausgesetzt wird und was Eigenart und Geschick dieser Gruppe, soweit es bekannt ist, begreiflich machen kann. Für keine andere Gruppe wird von einem so ausgeprägten Charismatikertum berichtet (vgl. das Vorkommen v o n j r v e v f i a in Act 6 - 8 ) , und insbesondere auf diese Gruppe ist es zurückzuführen, daß im frühen Christentum so häufig wie nie zuvor (trotz der steigenden Tendenz der Belege in den Targumim) vom Geist die Rede ist. Paulus hat zunächst ganz offensichtlich diese Gruppe verfolgt und sich zu ihr hin bekehrt. Im Sinne der Verfolgung von Propheten begreift diese Gruppe ihre Verfolgung, und ebenso hat auch Paulus nach der Bekehrung seine frühere Verfolgertätigkeit deuten können (Act 7,5 l f : dort auch als Vergehen gegen den heiligen Geist; I Thess 2,14f). So war die Bekehrung des Paulus davon abhängig, ob er die Legitimität des Geistbesitzes bei dieser Gruppe und bei Jesus selbst anerkennen konnte. Geschah das , so mußte er sein früheres Tun als Prophetenverfolgung, seine eigene Vision aber als Prophetenberufung anerkennen (Gal 1,15 f)- Die Anerkennung der Legitimität Jesu
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Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
w i r d Paulus möglich, weil er ihn als G o t t e s s o h n o f f e n b a r t b e k o m m t . Denn w e n n ü b e r h a u p t , d a n n wird G o t t e s s o h n s c h a f t im N e u e n T e s t a m e n t aus d e m P n e u m a b e g r ü n d e t . — Verschieden ist n u r der Z e i t p u n k t , zu d e m d a s P n e u m a dieses w i r k t : bei A u f e r w e c k u n g ( R o m 1,4), T a u f e ( M k 1 , 1 0 f ) oder physischer E n t s t e h u n g (Lk 1,35; M t 1 , 1 8 - 2 0 ) ; a n a l o g gilt es aber auch f ü r die Christen selbst: bei der A u f e r w e c k u n g (Lk 2 0 , 3 6 ; R o m 8,23) o d e r d u r c h Geiste m p f a n g bei der T a u f e ( R o m 8,15; G a l 4,6). - So ist die B e g r ü n d u n g der G o t t e s s o h n s c h a f t d u r c h Geist nicht n u r mit Sicherheit vorpaulinisch, s o n d e r n n a c h Gal 1,16 auch als Inhalt der Bekehrung des Paulus a n z u s e h e n . — Der tiefere G r u n d f ü r die V e r b i n d u n g v o n Sohnschaft u n d Geist ist dabei, d a ß d u r c h die M e t a p h e r n k o m b i n a t i o n Vater-Sohn N ä h e u n d zugleich Abhängigkeit u n ü b e r b i e t b a r f o r m u l i e r t w e r d e n k ö n n e n (vgl. d a n n auch M t 10,20: Geist eures Vaters). 5.1. Geist und Verfolgung. Die Hellenisten sind nach Jesus die n ä c h s t e n , die als Charism a t i k e r verfolgt w e r d e n . In breiter T r a d i t i o n w i r d n u n insbesondere der verbale W i d e r s t a n d v o r Gericht auf den Geist z u r ü c k g e f ü h r t u n d als inspirierte Rede verstanden. N i c h t n u r hier wird o f t „ W e i s h e i t " neben „ P n e u m a " gesetzt o d e r d a d u r c h ersetzt. Charakteristisch für diese T r a d i t i o n ist die V e r b i n d u n g von Geist/Weisheit mit ävdioTijpii [widerstehen], a) Die Rede des Stephanus wird als charismatische Verkündigung begriffen (Act 6,15; vgl. Hippolyt, Daniel 3,7,5 von Daniel „ v o m Geist g e k r ä f t i g t . . .Aussehen eines Engels"; Philo, Virt 217; LibAnt 27,10: Geist . . . verwandelt in einen anderen Mann), - b ) Geist im Kampf gegen Feinde: Weish 5,23 (Geist der Kraft wird widerstehen); 11,3 (Weisheit; Israel widerstand den Feinden). Wohl daraus zu verstehen: c) Wortkampf gegen die widrige Obrigkeit (Lk 21,14 f: W o r t , Weisheit, Widersacher; widerstehen; widersprechen; Act 4,14: widersprechen; vgl. M t 22,46, Act 6,10 widerstehen, Weisheit, Pneuma). - d) Uberwindung von Königen durch Weisheit: Weish 10,16 (Weisheit widerstand Königen), davon wohl: e) Widerstand v o r d e r Obrigkeit (Mk 13,11 [vgl. V.9!]: Führer, K ö n i g e - nicht ihr redet, sondern der heilige Geist; M t 1 0 , 1 9 b . 2 0 : Geist eures Vaters; Lk 12,11 f: heiliger Geist; Lk 21,14 f; Act 6 , 1 0 ) . - / ) Der Weisheit kann man nicht widerstehen: Jdt 8,28 und so auch Act 6,10; Lk 2 1 , 1 4 f . - g ) Mosetradition nach Ex 4,12.15 ( m i t T a r g u m i m „ich will dich lehren, was du zu sagen hast"); Josephus, Ant 2 , 2 7 2 ; Philo, Migr 81.84, bes. Weish 10,16 (Weisheit, w i d e r s t e h e n ) . - h ) Gott ö f f n e t den M u n d des Propheten (Ez 3,27; 21,19); das tut später die Weisheit (Sir 15,3 b - 5 ) , und das verbindet sich mit dem Freimut zu reden im frühen Christentum (Eph 6,19), welcher besonders die hier behandelte Situation betrifft und auch auf den Geist zurückgeführt werden kann: Act 4,29.31; Phil l , 1 9 f , vgl. II Kor 3,12.17. -i) Verwandt ist: D a ß Gott den M u n d des Betersöffnet (z.B. Ps 50,17); dies kann durch eine Weisheitsaussage ersetzt werden (Weish 10,20f) oder auch auf das Pneuma zurückgeführt werden (Sir 39,6: Geist der Weisheit und Einsicht/im Gebet den H e r r n bekennen). Von hierher ist die Tradition über das G e b e t a u s dem Geist zu verstehen (Rom 8,15; Gal 4,6 u s w . ) . - / ) Eine andere von h) ausgehende Tradition: Prophetische Inspiration speziell bei der Verkündigung des Evangeliums (Mk 13,10.11; Eph 6,19; vgl. I Kor 12,8: durch Pneuma ist das W o r t der Weisheit gegeben, vgl. Sir 39,6).
So e r f ä h r t die verfolgte G e m e i n d e die Legitimität ihres Bekennens gerade d o r t , w o geltende A u t o r i t ä t u n d d r o h e n d e M a c h t (und angesichts dessen auch möglicher eigener Z w e i fel) dieses a m meisten infrage stellen. So w i r d a u s der Situation des ungerecht Verfolgten die K o n f r o n t a t i o n mit d e m G e i s t w o r t des überlegenen Gottes selber. 5.2. Geist und Gesetz. W e n n die Hellenisten eine griechisch sprechende, kultkritische (Aufn a h m e des T e m p e l w o r t e s Jesu im Sinne jüdisch-hellenistischer Tempelkritik) charismatische G r u p p e sind, d a n n h a b e n sie a u c h — freilich w e d e r israel- n o c h gesetzeskritisch — die V o r o r d n u n g d e r w a h r e n Gerechtigkeit v o r n u r äußerlicher O b s e r v a n z gepredigt. Seit alters w u r d e dieses f o r m u l i e r t mit Hilfe des Gegensatzes v o n Beschneidung des H e r z e n s u n d Beschneidung des Fleisches. Bereits Philo ( Q u a e s t in Ex 2 , 2 zu 2 2 , 2 1 ) meinte, d a ß n u r die erste, nicht aber die zweite den w a h r e n Proselyten a u s m a c h e . D o c h isrealkritisch ist das d e s h a l b noch nicht, weil die Beschneidung aller Betroffenen schlicht vorausgesetzt ist. Diese T r a d i tion steht n u n seit längerem mit der E r w a r t u n g der eschatologischen G a b e des Geistes G o t tes in Z u s a m m e n h a n g : Jub 1,23 (Beschneidung der V o r h a u t des Herzens „ u n d ich werde ihnen schaffen einen heiligen Geist. Und ich werde sie rein machen"); Rom 2,28 f (Beschneidung am Fleisch und Buchstabe / Beschneidung des Herzens im Geist); Phil 3,3 („die Beschneidung", im Geiste dienend). - Die Jub-Stelle vermittelt mit einer älteren Tradition, in der zwar nicht von der Beschneidung des Herzens, wohl aber
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
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vom Gegensatz Herz aus Stein / H e r z aus Fleisch die Rede ist und die im übrigen besonders die Ermöglichung der Gesetzesbewahrung durch die Gabe des Geistes betont: Ez 36,26 f (Herz aus Stein / Herz aus Fleisch: „meinen Geist lege ich in eure Brust, daß ihr meine Gesetze beobachtet und erfüllt"); 11,19 (neues Herz / neuer Geist gegenüber dem steinernen Herzen. Herz aus Fleisch bedeutet: die Gesetze beobachten); 18,31 (neues Herz, neuer Geist). In Jer 3 1 , 3 3 war bereits vom Gesetz im Herzen die Rede. Vgl. ähnlich auch später noch Hippolyt, Dan 1,17 („Der, welcher gläubig geworden und die Gebote nicht b e w a h r t hat, wird des heiligen Geistes b e r a u b t " ) und äthApkPetr ( R O C 13 [ 1908] 175: „Meine Gebote werden in ihren Herzen sein und mein heiliger Geist, denn meine W o h n u n g wird in ihren Herzen sein"). Vgl. auch: g r A p k M o s 13; IV Esr 6,26 b; Const. Apost. 8,6 (Proselytengebet: neues Herz / erneuertes Pneuma).
Ziel aller dieser Aussagen ist: Das Gesetz steht nicht mehr fremd und entfremdet als Buchstabe gegenüber; es ist im Herzen und kann dank der neuen Geistesgabe erfüllt werden. So ist Gottes im Gesetz geäußerter Wille nicht dahin, sondern ihm wird radikal genüge getan. Gabe des Geistes, das Gesetz im Herzen und die Beschneidung des Herzens konvergieren in dieser Tradition. Daß die Hellenisten diese Tradition rezipierten, ist nicht nur historisch sowieso wah rscheinlich, sondern auch wohl durch Act 7,51 erweisbar: N u r hier kennt Lukas diese Tradition, er bringt sie aber in der aufschlußreichen Gestalt „beschnitten am Herzen" / „dem heiligen Geist entgegentreten". Paulus rezipiert sie ebenfalls mit Bezug auf den heiligen Geist, und zwar in der bereits abgeschliffenen Gestalt der Opposition von Geist und Buchstabe (II Kor 3,6; Rom 2,29; 7,6). Der Sache und der Tradition nach geht es hier immer zuerst um das „ w a h r e " Judentum („Buchstabe" ist für Paulus die Mosetora im Sinne des fremden, von außen her gegenüberstehenden steinernen Gesetzes. — Den alten Bezug zu dem fleischernen Herzen läßt Paulus übrigens noch einmal in II Kor 3,3 [vgl. 3,6] sichtbar werden), welches durch die Gabe von Gottes Geist das Gesetz erfüllen kann. Erst wenn man annimmt, daß die im Alten Testament und im Judentum ja nur als Erwartung ausgesprochene Gabe von Gott nun wirklich in der Gegenwart geschenkt wird, und wenn man mit dieser Auffassung Heiden begegnet, kann die Frage überhaupt aufkommen und beantwortet werden, ob für diese Heiden dann eine äußere Beschneidung noch notwendig ist. Aber vor jeder Gcsetzesproblematik steht die Frage, ob jener eschatologische Gottesgeist wirklich mit Jesus gekommen ist oder nicht. Auch bei der Bekehrung des Paulus geht es daher nicht von vornherein um die Gesetzesfrage, sondern um diese Grundlage, auf der dann allerdings später im Konfliktfall auch die Stellung zum Gesetz beantwortet wurde. Denn zunächst waren alle Beteiligten beschnitten. Aber in dem ihnen verliehenen Geist sahen sie die eschatologische Beschneidung des Herzens und die Aufhebung des Gesetzes im Sinne einer fremden N o r m , auch wenn sie nicht gesetzeskritisch waren. 6. Antiochenisches
Gemeingut
Hier geht es um Traditionen, die entweder Paulus und den Evangelien oder Paulus und der nach- oder nebenpaulinischen Briefliteratur gemeinsam sind und aus der Geschichte der antiochenischen Gemeinde erklärt werden können. 6.1. Die Frage nach dem Sitz im Leben des Pfingstberichtes Act 2,1 -13. U n a b h ä n g i g von der lukanischen Deutung in 2 , 1 7 - 2 1 ist 2 , 1 - 1 3 bis auf weiteres als Einheit anzusehen. D. h. die übliche Trenn u n g in Sprachenwunder ( 2 , 1 - 4 ) und H ö r w u n d e r ( 2 , 5 - 1 3 ) kann nicht als Ausgangspunkt dienen. D e n n --»Zungenrede und das Verstehen der Z u n g e n r e d e (bzw. das Wiedergeben für andere, das aus d e m Verstehen resultiert) sollen und können nach I Kor 14 auch in Korinth v e r k n ü p f t werden; neu ist demgegenüber in Act 2 nur, d a ß das Verstehen der Zungenrede nicht nur in einer menschlichen Verkehrssprache geschieht, sondern in mehreren. Wie bei der Übersetzung der LXX (vgl. Philo, V i t M o s 2 , 3 7 ff: „wie vom Geist besessen prophezeiten sie") leistet und garantiert der Geist hier eine Ubersetz u n g in menschliche Fremdsprachen. Aber Zielsprache ist in Act 2 wie in I Kor 14 jeweils menschliche Sprache; nur geht es in I Kor 14 ganz und gar u m eine innergemeindliche, in Act 2 dagegen u m eine typisch missionarische Situation. D a ß sowohl in I Kor 14 als auch in Act 2 Z u n g e n s p r a c h e in andere Sprache übersetzt wird, ist an sich schon bemerkenswert: Der Zungenredner ist zum Lehrer geworden. Seine Fähigkeit gilt nicht für sich selbst n u r als Zeichen der Erwähltheit, sondern der Erwählte soll für die anderen mit einer Botschaft von Nutzen sein. - Eine historische und formgeschichtliche Untersuchung des Pfingstberichtes ist somit überfällig - auch deshalb, weil allein Lukas ihn bietet (Joh 2 0 , 1 9 - 2 3 verk n ü p f t Ostern und Geistempfang). Im Unterschied zu den übrigen Glossolalieberichten in Act (10,44ff
G e i s t / H e i l i g e r G e i s t / G e i s t e s g a b e n III
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und 1 1 , 1 5 ff; 19,1 ff) ist gerade die Erweiterung ab V . 5 kennzeichnend, und das hängt offensichtlich mit der Tatsache zusammen, daß es sich hier um den Geistempfang der zwölf Apostel handelt, denn die Verstehbarkeit in vielen Sprachen ist ein Stück Erfüllung des in 1,8 formulierten Programms („bis an die Grenzen der Erde"). - Gedacht ist offenbar an folgendes Phänomen, welches die Gattung des Stücks als ätiologische Legende bestimmt: 1) Orts- und sprachfremde Wanderapostel reden in Zungen (oder ihre Rede wird so gedeutet). Das Zungenreden ist für sie Ausweis ihres C h a r i s m a t i k e r t u m s . - 2 ) Der fremde Charismatiker findet einen lokalen Interpreten, der seine Zungenrede versteht, aber die Ortssprache spricht. —3) Der Pfingstbericht will sagen: Beides ist vom Geist gewirkt, die Zungenrede und das Verstehen dieser Rede. Der Geist weist die fremden Apostel aus — und er garantiert die Richtigkeit des Verstehens. Beides kann nur der Geist (auf das Vertrauen zu ihm ist man dabei angewiesen). So leistet der Geist an entscheidender Stelle Kontinuität (in gewisser Analogie zum Vorgang der LXX-Ubersetzung), nämlich zwischen dem fremden Charismatiker (zu dieser Zeit noch die einzige sichtbare Verkörperung der Einheit christlicher Gemeinden untereinander) und der Ortsgemeinde. —4) Dabei hat Lukas in seiner Darstellung zugunsten seines Prinzips der Alleinvermittlung des Geistes durch die Z w ö l f in Jerusalem das Verhältnis von Wanderschaft und Seßhaftigkeit umgekehrt: Bei ihm reden nicht die ortsfremden Wanderapostel, sondern die zwölf Apostel in Zungen; bei ihm verstehen nicht die ortsansässigen Adressaten, er macht sie vielmehr zu ortsfremden fremdsprachigen Wanderwallfahrern. Diese Umkehrung ist leicht aus der Theologie des Lukas zu erklären: Nur die Wallfahrt nach Jerusalem kann für alle bildkräftig verdeutlichen, was sonst je an einem Ort gilt. - 5) So weist der Pfingstbericht zurück auf die Situation der von Antiochien ausgehenden Wandermissionare in der östlichen Ökumene unter fremdsprachigen Judenschaften. Denn nach der Liste in V . 9 - 1 1 handelt es sich um eine aus der Perspektive Syriens/Antiochiens gruppierte Liste von Völkerschaften, in denen traditionell viele Juden wohnten und die daher für frühe Mission besonders geeignet waren. — 6) Wandermissionare von der hier vorauszusetzenden Art gab es noch bis zum Ende des 1. J h . Nach Did 11 sind sie als solche daran erkennbar, daß sie „im Geist reden" (und als solche nicht beurteilt werden dürfen). Hier wird also (abgesehen von der Fremdsprachlichkeit, die aber bei sich ausbreitender Mission zum Problem werden mußte) genau die Situation beschrieben, die als „Sitz im L e b e n " für Act 2 vorauszusetzen ist. Während der Geist in Korinth nach I Kor 14 die Einheit nur innerhalb der Gemeinde bewirken soll (indem das Charisma der Ubersetzung eingesetzt wird), geht es hier um die Überwindung der Brücke zwischen Hörerschaft am Ort und fremdsprachlichen, zungenredenden Wanderaposteln. Der Geist, traditionell als Übersetzer bekannt (vgl. Rom 8 , 2 6 f; 1 Kor 1 2 , 1 0 etc.), ist hier besonders vonnöten. - So unterscheiden wir im Bericht des Lukas drei Ebenen: Der Bericht über das Ereignis in Jerusalem ist eine symbolische, ätiologische Legende (1); darstellen will Lukas damit, daß ortsansässige Heiden zungenredende Apostel je in ihrer Sprache verstehen konnten (2); historisch handelt es sich zur Zeit des Lukas längst um das Problem der Kircheneinheit zwischen Wanderaposteln und ortsansässigen Christen (3).
6.2.
Geistphänomene
im
Bereich
früher
Ortsgemeinden.
Enthusiasmus
im
frühen
C h r i s t e n t u m h a t i m m e r d a s Z i e l , V e r b i n d u n g m i t u n d K o n t i n u i t ä t zu J e s u s d a r z u s t e l l e n . So tritt d e n n a u c h d e r A s p e k t , d a ß es sich hier u m die Heilszeit h a n d e l e , in der alle den Geist erh a l t e n , s e h r z u r ü c k (vielleicht in I K o r 1 4 , 2 1 ; a u s d r ü c k l i c h n u r in A c t 2 , 1 7 - 2 1 , a b e r a u c h hier ist n u r v o n den letzten T a g e n u n d i m ü b r i g e n v o n V o r z e i c h e n f ü r den n o c h k o m m e n d e n T a g des H e r r n die R e d e ) . D e r I n h a l t d e r e k s t a t i s c h e n E r f a h r u n g e n b e s t e h t in „ h i m m l i s c h e n " G e h e i m n i s s e n (vgl. D a u t z e n b e r g , P r o p h e t i e ) o d e r in H y m n e n ( T e s t H i 4 8 - 5 0 ; E p h 5 , 1 9 ; K o l 3 , 1 6 ) . Inhaltlich bringen die E k s t a s e n d a h e r nichts, w a s ü b e r die jeweilige L e h r e o d e r d a s B e k e n n t n i s prinzipiell h i n a u s g i n g e . D e r W e r t d e r P h ä n o m e n e liegt a u f einer a n d e r e n E b e n e : E s h a n d e l t sich u m die u n m i t t e l b a r e E r f a h r u n g dessen, w o v o n R e l i g i o n redet, u n d d e r E k s t a tiker e r w e i s t sich d u r c h sein W i d e r f a h r n i s e o i p s o als a u s e r w ä h l t . S o w i r d d a s R e d e n in Z u n gen (—> Z u n g e n rede) bereits n a c h T e s t H i als T e i l h a b e an S p r a c h e n v e r s c h i e d e n e r E n g e l k l a s sen v e r s t a n d e n ( T e s t H i 4 8 , 3 ; 4 9 , 2 ; 5 0 , 2 ) , w a s a u c h den Plural in A c t 2 , 4 (in v e r s c h i e d e n e n S p r a c h e n ) e r k l ä r t . So g e b e n die E r w ä h l t e n i h r e r Z u g e h ö r i g k e i t z u r G e m e i n s c h a f t der E n g e l A u s d r u c k , w a s k o n s t i t u t i v ist für d a s V e r s t ä n d n i s v o n K i r c h e und G o t t e s d i e n s t (vgl. K . B e r g e r : Z T h K 7 3 [ 1 9 7 6 ] 1 9 2 f f ) . S o u n t e r s c h e i d e t sich die G e m e i n d e d a r i n v o n i h r e r U m w e l t , u n d s o ist es zu e r k l ä r e n , d a ß Z u n g e n r e d e n z u m Teil d e r A u f n a h m e in d a s C h r i s t e n t u m w u r de, w a s L u k a s a n den p r o b l e m a t i s c h e n u n d signifikanten Stellen b e i b e h ä l t ( A c t 1 0 , 4 4 — 4 8 ; 1 1 , 1 5 - 1 7 : H e i d e n ; 1 9 , 1 - 7 : E p h e s u s j ü n g e r ) ; hier w i r d d a s Z u n g e n r e d e n n i c h t ü b e r s e t z t , d e n n es ist p e r se Z e i c h e n d e r — > E r w ä h l u n g . I m ü b r i g e n d a r f m a n diese E r s c h e i n u n g n i c h t v o r s c h n e l l m i t h e u t i g e n P h ä n o m e n e n g l e i c h s e t z e n . N a c h T e s t H i 4 8 - 5 0 h a n d e l t e es sich i m m e r h i n u m g a n z e H y m n e n , a u c h A c t 1 0 , 4 6 r e d e t v o m L o b p r e i s G o t t e s , u n d d a s ist a u c h in
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
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2,11 gemeint. Zugrunde liegt daher die antike G a t t u n g H y m n u s (Aufzählung der Taten Gottes mit Ende als Gebet), und zwar offenbar in litaneiartiger Form mit zahllosen Wiederholungen (vgl. die Hymnen und Texte der frühjüdischen Hekhalot-Literatur), die zur allmählichen Abschleifung der Wortformen führte und daher als Element ekstatischer Technik verwendet wurde. Kennzeichnend werden einzelne verwendete Sprachteile (vgl. die Gebete der magischen Papyri; im Neuen Testament offensichtlich das „ A b b a " ) , und zwar mit bleibender, auch außerchristlich beliebter Anlehnung an das Aramäische, die Sprache der Magier und der Engel. Es geht daher durchaus nicht nachweisbar um „Äußerungen des Unterbewußten", sondern um eine sprachliche Technik ekstatischer Meditation, wie sie etwa im ostkirchlichen Jesus-Gebet erhalten ist. 6.3. Geisttaufe und Wassertaufe. Der nach dem Täufer kam, brachte zwar nicht das Weltgericht, aber die —>Taufe mit Geist mit dem Zweck, an der M a c h t , die ihn bestimmte, und an seinem Gottesverhältnis teilzugeben; vermittelt wurde dieses durch die Apostel, die „Mitarbeiter Gottes" (I Kor 3,9; I Thess 3,2). Dabei sind Ausrichten und Ankommen des Evangeliums durch den Apostel selbst als charismatischer Prozeß gedacht, in dem Glaube ein Bestandteil ist (I Kor 2,3—5). Daß dieses alles f ü r Gott selbst verbindliche Setzung ist, bringt der Ausdruck „Bund des Geistes" (II Kor 3,6) zum Ausdruck. Die Taufe des Johannes wird zwar von Jesus selbst angenommen, aber nicht weiter praktiziert. Der Ritus wird später als Taufe „auf den N a m e n Jesu" christianisiert. Aber weder tauft Jesus, noch werden die Jünger oder Apostel getauft (Paulus erst nach Act 9,18). Das alles weist auf eine Frühphase der Jesusbewegung, in der nicht (mit Wasser) getauft wurde und in der es lediglich eine Geisttaufe als Geistmitteilung gab. Zeugnisse d a f ü r sind außer dem bereits Erwähnten: Paulus selbst sieht Taufen nicht als seine Aufgabe an (I Kor 1,17); in der von ihm gegründeten Gemeinde von Korinth hat er nur das H a u s des Stephanas und zwei weitere Personen getauft. Außer in I Kor erwähnt er die T a u f e nur in R o m 6,3 f und Gal 3,27. Gerade an Gal wird deutlich, wie sehr der Geistempfang im Vordergrund stand (Anziehen und dadurch Identifikation mit dem Herrn). Noch in Act 8,14 f sind die Apostel für die Geisttaufe zuständig, so auch der Apostel Paulus in 19,6. Und was in Act 10,44 ff in Verbindung mit dem Apostel Petrus geschieht, war (inklusive) Zungenreden einstmals die ganze Initiation (die dann nachgeholte Wassertaufe ist die dann inzwischen notwendig gewordene ökumenisch-„kirchenrechtliche" Ratifikation, umgekehrt wie der Vorgang in Act 19,1 — 7, aber sachlich analog). Auch ein Text wie T e s t j u d 2 4 , 2 - 6 darf mit den Augen eines sehr altertümlichen frühchristlichen Verständnisses von Geisttaufe gelesen werden. So ist die Mitteilung des Geistes in der apostolischen Verkündigung jedenfalls nicht an ein bestimmtes M e d i u m gebunden, und gerade dieses ermöglichte die offensichtlich spätere Verbindung mit dem Wasser-Ritus. So kann der Geist vermittelt werden durch Handauflegung, durch Wassertaufe (z. B. Joh 3,5.7) oder durch die schlichte Verkündigung des Evangeliums im Sinne eines geistgewirkten Gesamtgeschehens. Zeugnis für das Z u s a m m e n w a c h s e n der T a u f e auf den N a m e n Jesu mit der Geisttaufe ist M t 28,19. Der Wasser-Ritus jedenfalls bot den Vorzug eines unmißverständlichen Zeichens, und so ist es zu erklären, daß trotz M k 1,8 später auch Christen mit Wasser tauften. Aber das ist erst das Ende eines längeren Prozesses der Christianisierung des Taufritus, in dem die Verbindung von Wassertaufe und Geisttaufe bei der Taufe Jesu nach dem Bericht von Mk 1 offenbar eine große Rolle im Sinne eines „ T y p o s " erhielt. 6.4. Die Sünde gegen den heiligen Geist. N a c h M k 3 , 2 8 - 3 0 besteht diese Sünde darin, Jesus einen unreinen Geist zu-, damit aber den göttlichen Geist abzusprechen. Ähnlich unvergebbar und daher sogar durch sofortigen T o d zu bestrafen w a r das Vergehen von Ananias und Saphira nach Act 5 (Belügen bzw. Versuchen des Geistes). Das Vergehen bestand einerseits in der Heuchelei beim Almosengeben (sie tun so, als hätten sie alles gegeben), zugleich aber darin, daß sie die Fähigkeit der Apostel, sie in ihrem Herzen zu durchschauen (Act 5,3.9a) und damit ihren Geistbesitz (vgl. I Kor 14,25: Überführen; Lk 7,39; M k 2,8; ä t h H e n 4 9 , 1 - 4 ; 62,12) geringachteten bzw. unterschätzten (das Verb „versuchen" V.9 begegnet in gleicher Funktion in Did 11,7; Apk 2,2). So mißachteten sie nicht Menschen, son-
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dem Gott in den Aposteln, also seinen Geist. Auf diese Weise interpretiert Lukas das Wort des Evangeliums (Lk 12,10) für seine Gemeinde — weniger, um vor Heuchelei zu warnen (denn nicht alle Heuchler fallen tot um), als vielmehr um sicherzustellen, daß der Geist auch ganz gewiß in den Zwölfen war. - Ging es bislang um die Bestreitung oder Mißachtung der Anwesenheit des Geistes in Gottes Bevollmächtigten (Jesus oder die Zwölf; das Wort gegen den Menschensohn, welches im Unterschied dazu vergeben wird — Lk 12,10 — war vielleicht ursprünglich einmal ein Wort gegen Menschen [vgl. K. Berger: ZThK 71 (1974) 23 Anm. 4 1 ] , ist aber auch im Sinne der Menschensohntheologie sinnvoll: Als Menschensohn ist Jesus jetzt zwangsläufig niedrig und ausgeliefert wegen des Äonendualismus; Gottessohnschaft und Pneumabesitz kennen dagegen diese Umkehrungsdialektik nicht), so wird dieses Thema in I Joh konsequent auf das christologische Bekenntnis überhaupt bezogen; denn die unvergebbare Sünde von 5 , 1 6 f ist wohl sicher auf das christologische Bekenntnis des Briefes zu beziehen (2,22; 4,1 — 6); in 5 , 1 4 ff wird der Briefinhalt durch Angabe von Sanktionen abschließend bekräftigt. Ähnlich auch: Ps.Clem.Hom 3 , 1 7 , 2 . - Aber auch Paulus kennt die Sünde wider den Geist mit Todesfolge, wobei es jeweils um den Leib als den Tempel Gottes aufgrund des innewohnenden Geistes geht: Wer die Gemeinde durch Spaltung zerstört, den wird Gott zerstören (I Kor 3 , 1 6 f; vgl. dagegen die weit weniger drastischen Gerichtsaussagen in V . 1 3 b . l 5 ) , und wer durch Unzucht sich gegen den eigenen Leib als den Tempel des Geistes vergeht ( 6 , 1 2 - 1 9 ) , von dem gilt wohl auch der Satz 5,5 (vgl. 5 , 1 0 f ) , daß er dem Satan mit dem Ziel der Zerstörung seines Lebens übergeben werden soll. So ist bei Paulus in I Kor die Sünde gegen den Geist eigentlich gegen den Leib bzw. gegen den Leib der Gemeinde gerichtet, in denen er tangiert wird. — Das früheste Christentum spricht so entschieden von der Sünde gegen den Geist, weil die unmittelbare Gegenwart Gottes selbst in Jesus, Apostel und Gemeinde die zentrale neue Erfahrung ist (vorher redete man so nur vom Tempel). Daher ist die Anerkennung der Legitimität des Geistes als des innewohnenden Gottes das schlechthin entscheidende Verhalten: ob Gott in diesen Menschen ist oder nicht. Wenn er sich so durch seinen Geist an die Menschen band, ist er in ihnen verletzbar und wirkt doch zugleich auch ambivalent, wie Act 5,1 ff zeigen soll. - Während bei Lukas die Frage mit den Zwölf „erledigt" ist, besteht nach Paulus die Möglichkeit dieses Vergehens fort; und ob nun die Einheit der Gemeinde oder der Leib des Christen betroffen ist, jedenfalls handelt es sich um Zerstörung der Kommunikationsfähigkeit dort, wo Gott wohnt. 6.5. Geist und Ethik: Pneuma als Verzicht auf Machtgebrauch. Auffallend häufig ist in der neutestamentlichen Briefliteratur „Geist" (oder die verwandte „Weisheit") mit einem Wortfeld verbunden, dessen gemeinsames semantisches Merkmal der „Verzicht auf Machtanwendung" ist. Dazu gehören: ). JiQCivq, neatizr^-. I Kor 4,21; Gal 5,22; 6,1; I Petr 3,4; Eph 4,2; Jak 3 , 1 3 - 1 8 ; II
Tim 2 , 2 4 ; Herrn mand 1 1 , 8 ; PsClemVirg 11. Zur Vorgeschichte: Sir 1,27 (Weisheit); Sir 3 , 1 7 - 2 1 (Ge-
heimnisse); Herrn sim 9,22,1-3. - 2 . zaTietvög, xancivocpQoavvi;, TajiEivöw. Eph 4,2f; Herrn mand 11,8; PsClemVirg 11. Vorher Sir 3 , 1 7 - 2 1 . - 3 . r)ovxioBeschneidung getreten: er ist der gemeinsame Bezugspunkt (wenn er denn wirklich unmittelbare Gegenwart Gottes selbst ist) und steht daher an der Stelle, die im J u d e n t u m die durch Beschneidung sichtbar gemachte A b s t a m m u n g von —»Abraham einnahm. So klärt sich an dieser Stelle neutestamentlich auch die Frage nach der Gegenwart des H e r r n beim Abendmahl: Der H e r r ist in der Gemeinde als seinem Leib durch den Geist gegenwärtig. Und dieses ist in besonderem M a ß e Wirklichkeit, wenn die Gemeinde als Gemeinde z u s a m m e n k o m m t , d. h. beim A b e n d m a h l . W ä h r e n d Brot und Wein die Bedeutung des Herrn u n d seines Todes darstellen (nirgends ist anderes im Neuen Testament erweisbar), ist die aktuelle wirkliche Gegenwart die pneumatische in seinem Leib (daher sind Geist-Epiklesen vom Neuen Testament her gesehen beim Abendmahl sinnvoll), d. h. in der Wirklichkeit der M a h l feiernden Gemeinde. Erst später wird zusehends die sakramentale Materie Träger des Geistes (Taufwasser) bzw. der Gegenwart des Herrn (Brot und Wein).
Für den einzelnen ist der Geist das, was ihn zum Kind Gottes macht und seine —»Auferstehung als Angeld garantiert. Denn es ist der Geist, der die Auferstehung Jesu bewirkte, den er in sich hat, und der daher auch seine eigene Auferstehung bewirken kann (Rom 8,11). Gewissermaßen im eigenen Interesse müssen die Christen daher den Geist Gottes radikal an Jesu Auferstehung binden. Und Paulus kennt eine Wirksamkeit des Geistes vor Jesus Christus nicht(zu Tivev^aiixog in I Kor 10,3 f s. S. 181). Die Konzeption vom Geistals „Angeld" umgeht dabei die mögliche Folgerung, der Geist müsse sofort Unsterblichkeit bewirken (II Kor 1,22; 5,5; Rom 8,23; Eph 1,14; später wird Christus selbst Angeld genannt). Im -^Hebräerbrief entspricht übrigens der Glaubensbegriff von H e b r 11,1 (Glaube als Teil der
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Wirklichkeit des Erhofften, als Teilhabe an der himmlischen Z u k u n f t ) genau diesem Verständnis von „Angeld" bei Paulus. In dieser Hinsicht entspricht der Glaube im Hebr dem Geist bei Paulus (Hinweis W. Thießen). Analogien zu dieser Rolle des Pneuma bietet wiederum die Weisheit: Nach Weish 15,3 ist „Gottes M a c h t zu kennen Wurzel der Unsterblichkeit" (vgl. auch das Bild in Sir 1,20 und besonders die Rede vom Vorgeschmack auf die zukünftigen Güter nach H e b r 6,4; Barn 1,7), nur ist, wenn von Pneuma gesprochen wird, der Gabecharakter noch stärker betont. So ist der gegenwärtige Leib zwar dem T o d verfallen; doch wer den Geist hat, der darf einen neuen, pneumatischen Leib erwarten, zu dem ihn der Geist verwandelt und der vielleicht schon in ihm steckt (I Kor 1 5 , 5 1 - 5 4 ; II Kor 4,17; 5,5; mit dieser paulinischen Anschauung eng verwandt ist die Konzeption der gnostischen Epistula ad Rheginum [vgl. T R E 4 , 5 2 4 , 1 4 f f ] , während die Kirchenschriftsteller die Restitution des alten Leibes erwarten [vgl. ebd. 4 7 4 , 1 ff]). So ist der Leib, ähnlich wie Gesetz oder Werke bei Paulus, ganz entschieden davon betroffen, o b er in der Sphäre der Sarx oder im Bereich des Pneuma besteht. Auferstehung und Gericht ist jedenfalls der Zeitpunkt, an dem endgültig sichtbar wird, was der Geist jetzt an Werken (Früchten des Geistes) und als neues, leibhaftiges Sein bewirkt hat. 7.2. Geist und —>Ethik. Die neue Bestimmtheit des Leibes durch den Geist wird in doppelter Hinsicht Grundlage der Ethik: 1) Auferstehung zum Leben k o m m t nur den Gerechten zu. Der in den Christen wirksame Auferstehungsgeist Jesu bewirkt ihre eigene Auferstehung also nur, wenn sie damit zugleich auch die Gerechten sind (Rom 8,1 l / 1 2 f ) und durch die Früchte (Werke) des Geistes hier schon ihr neues Sein erkennen ließen. - 2) M a ß s t a b der Ethik ist die Berufung des Leibes zur Auferstehung: „ G o t t verherrlichen mit seinem Leibe" (I Kor 6,14.20). So realisiert sich Gottes Herrschaftswille in der Welt und im leibhaftigen Miteinander als Verwandlung und Verherrlichung der Welt selbst. — 3) Da der Leib des Nächsten durch den innewohnenden Geist Gottes Eigentum ist, wird auch im Leib des Nächsten Gott tangiert (Verletzung der Freiheit des Nächsten als Verletzung von Gottes Eigentum); vgl. auch die Tradition von der Befleckung des heiligen Geistes durch die Befleckung des Leibes TestNaph(hebr.) 10,9; Herrn sim 5,7,2.4; vgl. auch Testisaak 4,16; Herrn sim 5,6,7; Sir 21,28; Jak 3 , 6 . - 4 ) Gemeinde als Leib und das Modell von Leib und Gliedern wird zum M a ß s t a b für Sozialverhalten. So wird der Nutzen aller zum Kriterium. D. h. an die Stelle zeitloser N o r m e n tritt die V e r a n t w o r t u n g für die Gemeinschaft und deren Lebensfähigkeit. — So ist der Geist nicht „an sich", sondern in seiner Beziehung zur Leibhaftigkeit des Menschen zum M a ß s t a b geworden, und er hat damit eine ganz andere Wirklichkeitsgrundlage als die N o r m des Gesetzes. D a ß also der Pneumabesitz der Christen nicht weltlos und individualistisch gedacht wird, hat seinen G r u n d in der Beziehung dieses Pneuma zur Leibhaftigkeit und zur Zukünftigkeit des Menschen (Auferstehung), oder anders formuliert: in seiner Beziehung zur Auferstehung Jesu Christi. 7.3. Geist, —»Beschneidung, —>Gesetz. Wenn Gott durch den Geist wirklich gegenwärtig ist, dann bedeutet dieses unüberbietbare Erwähltheit der Pneumatiker. Eine zusätzliche Beschneidung der auf diese Weise Erwählten bedeutet daher Leugnung der durch den Geist geschaffenen Wirklichkeit bzw. des Geistempfangs selbst (Gal 3f). Wenn der Geist bereits durch die Annahme des Evangeliums verliehen wird, dann bleibt bei der Verkündigung an Heiden einfach nirgends ein O r t f ü r die Beschneidung. So ist die initiale Gabe des Pneuma dort, w o die christliche Mission auf Heiden stößt, als Einbringung in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott Ersatz und Überbietung der Beschneidung als des Kriteriums der Erwählung. In anderem Sinne ist dann dieses Pneuma auch Erfüllung (nicht Abschaffung) des Gesetzes (und durch die Erfüllung werden Menschen frei von der Forderung des Gesetzes; aber das Gesetz ist damit nicht aufgehoben), nämlich im Sinne der prophetischen Erwartung vom Gesetz „im Herzen" der Menschen (s.o.S. 1 8 2 f ) , nicht automatisch, sondern als Gabe und Aufgabe zugleich (und darin dem Gesetz strukturell verwandt). W a r das Gesetz Ä u ß e r u n g des Willens Gottes dem Menschen gegenüber (Buchstabe), ohne das Heil wirken zu können oder zu wollen, so ist der Geist die Befähigung zur Erfüllung dieses Willens aus unüberbiet-
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barer N ä h e her (Sohnschaft) und darin wirklich Heilsweg. N u r wer z u m Geist das Gesetz h i n z u e i n f ü h r e n w i l l , stilisiert d a s G e s e t z z u m H e i l s w e g ( w a s A n s c h a u u n g des J u d e n t u m s nie war). In II Kor 3 besteht für Paulus eine Analogie zwischen einem wirklichen Brief (Empfehlungsbrief) und dem Buchstaben des mosaischen Gesetzes auf der einen Seite und der Gemeinde als vom Geist geschriebenem Brief und der Wirklichkeit des Geistes auf der anderen Seite. Sowohl gegenüber den Empfehlungsbriefen als auch gegenüber der Mose-Tora hat die neue pneumatische Wirklichkeit eine einheitliche Struktur, zwar unsichtbare, aber vollere Wirklichkeit zu sein. Ähnlich wie bei der Frage nach der wahren Beschneidung geht es d a r u m , daß das Verborgene das Wahrere ist, daß die vollere Realität schon da, aber noch verborgen ist. Das bedeutet zugleich: Die neue Realität und Wahrheit ist von der Institution abgelöst. Die Institution (mosaische O r d n u n g , Alter Bund) liefert nur das Bild, mit dem das Neue begriffen werden kann, ist aber in ihrer Geltung abgeschafft. Denn es gilt nur noch die direkteste Verbindung mit Gott: die Verbindung durch Gottes Geist selbst. Keine vor- und außerchristliche Realität kann der durch das Pneuma geschaffenen Nähe zu Gott konkurrieren. - Der hellenistische Grundsatz, daß der Gerechte keines Gesetzes bedarf, kann ein übriges dazu getan haben, daß die geistgestiftete Möglichkeit zur Erfüllung des Gesetzes zugleich als Freiheit (II Kor 3,17) vom Buchstaben des Gesetzes aufgefaßt wurde. 7.4. Geistesgaben (—»Charisma). In I K o r 12—14 b r i n g t P a u l u s es f e r t i g , e i n e F ü l l e c h a rismatischer P h ä n o m e n e e i n h e i t l i c h a u f d e n e i n e n , die G e m e i n d e w i e e i n e n O r g a n i s m u s beh e r r s c h e n d e n G e i s t z u r ü c k z u f ü h r e n u n d sie d u r c h d e n N u t z e n f ü r d a s G a n z e k o n t r o l l i e r e n zu l a s s e n . V o r d e m S i c h - Ä u ß e r n d e r E i n z e l c h a r i s m e n r a n g i e r t n u n d i e A u f e r b a u u n g d e s Leibes als k r i t i s c h e N o r m . N u n liegt d e r U r s p r u n g d e s C h a o s , d a s P a u l u s m i t H i l f e des Briefes zu o r g a n i s i e r e n sich a n s c h i c k t , o f f e n b a r in d e r A r t b e g r ü n d e t , in d e r P a u l u s s e l b s t als S t i f t e r dieser G e m e i n d e a n f ä n g l i c h h i e r d a s C h r i s t e n t u m g e p r e d i g t h a t t e . So wie auch sonst häufig gegnerische oder „kritisierte" Positionen frühere Stadien des Christentums selbst darstellen, sind auch die Charismatiker in Korinth möglicherweise auf dem Punkt der Entwicklung stehengeblieben, den Paulus ihnen einst vermittelt hatte und der sich nun als für eine Ortsgemeinde unpraktizierbar erwies. Denn Charismen, insbesondere das hier kritisierte (weil zum Chaos führende) Zungenreden sind Legitimitätsausweis wandernder Apostel (s.o. S. 179f), und aus diesem Bereich entstammt wohl überhaupt das theologische Prinzip der Berufung und Begabung einzelner (vgl. die Berufungsberichte der Evangelien und die dort geschilderte Verleihung von Vollmacht), während für Ortsgemeinden eigentlich die gleichmäßige Begabung aller mit einem gleichartigen Taufgeist typisch ist, was sich dann später, nach Aussterben der Wandercharismatiker, als nahezu alleinige Form der Wirksamkeit des Geistes durchsetzen konnte. - Den Wanderaposteln aber fehlt eo ipso eine Konzeption von der pneumatisch bedingten Einheit einer Gemeinde oder ähnlichem. Sie sind noch ohne Einsicht in den „Leib Christi". Auch Paulus war zu Anfang in dieser Weise ein Pneumatiker, für dessen Verständnis Gemeinde als solche offenbar noch nichts mit dem Geist zu tun hatte, und wenn man das Wort recht versteht, kann man ihn einen „kirchenlosen Pneumatiker" nennen, für den der Kontakt zum erhöhten Herrn allein maßgeblich war. Erst im Laufe der Zeit, so scheint es, näherhin zwischen der Gründung der Gemeinde von Korinth und der Abfassung von I Kor, sicher aber nach der Abfassung von I Thess wurde Paulus vom Wanderapostel zum Gemeindeapostel. Aber noch immer ist das Apostelsein eines unter den Charismen geblieben, deutlich die Herkunft aus der Einzelberufung (und nicht etwa aus einer Wahl durch die Gemeinde o. ä.) verratend. So bedeutet das Eingreifen des Paulus mit I Kor das Ende der Konzeption vom Einzelcharismatiker nach Analogie des Apostels. Der Weg, den die paulinische Theologie genommen hat, läßt sich auch unter diesem Aspekt am Verhältnis der Eschatologie von I Kor 15 zu I Thess 4 veranschaulichen (denn eschatologische Aussagen pflegen nicht für sich zu stehen, sondern sind im Blick auf die Gegenwart von Gemeinden formuliert). Erst in I Kor ordnet Paulus atbfta und nvev/xa einander zu (6,13—17 wie auch für die Gemeinde in 12,12 f wie in 15,35 ff). Während es in I Thess (vgl. 5,19f) noch um ekstatische Gaben isoliert geht, gewinnt Paulus mit der „ M a x i m e " , daß der Leib Sitz des Geistes sei (für den Einzelnen wie für die Gemeinde) ein neues Ordnungskriterium. Die Entdeckung des Bezuges von Geist und Leib ermöglicht so nicht nur die Lösung moralischer und organisatorischer Probleme, sondern wird als „Verwandlung in pneumatischen Leib" auch für die Eschatologie konstitutiv. In I Thess ist weder das eine noch das andere zu bemerken. D a b e i b e s t e h t w o h l die e n t s c h e i d e n d e t h e o l o g i s c h e L e i s t u n g d a r i n , d a ß P a u l u s d e n e i n e n T a u f - und Auferstehungsgeist zur G r u n d l a g e der C h a r i s m e n m a c h t e ( 1 2 , 4 - 1 1 ) ; so n e n n t er sie v o r s i c h t i g e r w e i s e a u c h n u r a n zwei Stellen ( 1 2 , 1 ; 14,1) w o h l i m A n s c h l u ß a n d e n G e b r a u c h d e r G e m e i n d e n v e v ß a T i x ä , s o n s t C h a r i s m e n , u m d e n e i n e n G e i s t als d i e W i r k u r s a -
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Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben
III
che u n d den Vermittler von den Einzelwirkungen gehörig abzusetzen. M a n
unterschätze
n i c h t die U n e r h ö r t h e i t d e s p a u l i n i s c h e n V o r g e h e n s , w e n n er es u n t e r n i m m t , die B e z i e h u n g e n d e r C h a r i s m a t i k e r z u r h i m m l i s c h e n W e l t u n d z u m e r h ö h t e n H e r r n z u „ o r g a n i s i e r e n " (I K o r
14,30.32.37.40). N u n h a t die A r g u m e n t a t i o n s w e i s e des P a u l u s h i e r e i n d e u t l i c h e s V o r b i l d in Philof a r m e n . ) , D e S a m p s o n e 2 4 f . D i e G a b e n des G e i s t e s sind u n t e r s c h i e d l i c h , w i e es G o t t will (vgl. I K o r 1 2 , 1 1 ) . S o w i r d dem einen d e r G e i s t der W a h r h e i t g e s c h e n k t , d e m a n d e r e n der G e i s t der S t ä r k e u s w . S o h a t t e S i m s o n n u r den G e i s t der S t ä r k e . - T r o t z dieser A n a l o g i e ist zu f r a g e n , wie P a u l u s d a z u k a m , das V e r h ä l t n i s z w i s c h e n d e m e r w ä h l t e n C h a r i s m a t i k e r zu den a n d e r e n , „ f ü r " die er da ist (und d a s w a r a u f i r g e n d e i n e W e i s e imm e r d e r F a l l ) , s o g r u n d l e g e n d a n d e r s zu d e n k e n , die G e m e i n s c h a f t der M i t - E r w ä h l t e n a u f E r d e n als R e g u l a t i v für die G e s t a l t u n g d e r G e m e i n s c h a f t m i t d e m H e r r n i m H i m m e l u n d den E n g e l n ( Z u n g e n r e d e ! ) a n z u s e t z e n . A m E n d e s t e h t w o h l die F r a g e , w o P a u l u s sein V e r s t ä n d n i s v o n K i r c h e h e r b e z o g e n h a t . A n t w o r t : D a s f r ü h e C h r i s t e n t u m k e n n t i m g a n z e n zwei W e g e der F i n d u n g s o z i o l o g i s c h e r I d e n t i t ä t : die A n l e h n u n g an p o l i t i s c h - j u r i d i s c h e K a t e g o r i e n d e r h e l l e n i s t i s c h e n W e l t u n d die spezifisch r e l i g i ö s e char i s m a t i s c h - v i s i o n ä r e F u n d i e r u n g . Beides s c h l i e ß t sich n i c h t a u s . F ü r sein K i r c h e n v e r s t ä n d n i s o r i e n t i e r t sich P a u l u s s e h r w e i t g e h e n d a n h e l l e n i s t i s c h e n p o l i t i s c h e n K a t e g o r i e n (vgl. K . B e r g e r : Z T h K 7 3 [ 1 9 7 6 ] 1 6 7 - 2 0 7 ) . D i e s e s w u r d e a k t u e l l bei z u n e h m e n d e r D i f f e r e n z z u m J u d e n t u m einerseits u n d bei d e r Ents t e h u n g v o n o r g a n i s i e r t e n C h r i s t e n g r u p p e n a n d e r e r s e i t s , die sich in der F o r m ihres Z u s a m m e n l e b e n s n i c h t n a c h d e m V o r b i l d i h r e r w a n d e r c h a r i s m a t i s c h e n L e h r e r r i c h t e t e n , das Prinzip d e r Imit.itio (—»Nachfolge) a l s o d u r c h b r a c h e n u n d erste G e h v e r s u c h e a u f e i g e n e n W e g e n m a c h e n m u ß t e n . S o h a t P a u l u s v i e l l e i c h t a l s e r s t e r u n d v i e l l e i c h t a u c h in e r s t e r L i n i e v e r s u c h s w e i s e d a s K o n z e p t d e r h e l l e n i s t i s c h e n E k k l e s i a a n d i e V e r s u c h e d e r O r t s g e m e i n d e in K o r i n t h h e r a n g e t r a g e n , sich selbst als s e ß h a f t e christliche K o r p o r a t i o n zu begreifen. D a b e i k o n n t e d e r p a gane „ekklesia"-Begriff durch das paulinische Verständnis von Geist und
Geistesgaben
( A n w e s e n h e i t d e s e i n e n H e r r n in d e m e i n e n g e m e i n s a m e n P n e u m a ) e n t s c h e i d e n d c h r i s t i a n i siert w e r d e n . D a m i t a b e r w u c h s die ekklesiologische B e d e u t u n g der Christologie, w a s w o h l t h e o l o g i s c h gesehen die H a u p t u r s a c h e
des Zuriicktretens der Einzelcharismen
war:
Bei
w a c h s e n d e r B e d e u t u n g d e r C h r i s t o l o g i e w i r d d e r direkte K o n t a k t zu G o t t i m m e r s t ä r k e r bes c h r ä n k t a u f d e n einen u n d einzigen M i t t l e r : D i e S o t e r i o l o g i e w u r d e u n a b h ä n g i g v o n d e r dir e k t e n i n d i v i d u e l l e n K o n t a k t n a h m e m i t d e r h i m m l i s c h e n W e l t ( d i e p r i m ä r in d e r N a c h a h m u n g des Aufstiegs J e s u
geschah).
N a c h E. K ä s e m a n n ist j e d e r individuelle D i e n s t der C h r i s t e n C h a r i s m a - w e n n m a n d a r u m w e i ß , d a ß es v o n G o t t ist, s e l b s t das Sein: „ F ü r ihn (sc. Paulus) e r w e i s t e b e n n i c h t die F a k t i z i t ä t des Ü b e r n a t ü r l i c h e n , s o n d e r n die M o d a l i t ä t des a n g e m e s s e n e n G e b r a u c h s ein C h a r i s m a als e c h t " ( E x e g e t . V e r s u c h e u. B e s i n n u n g e n , I 1 9 6 0 , 1 1 6 ) . D a s trifft n i c h t den S a c h v e r h a l t . S t a t t „ n i c h t - s o n d e r n " m u ß es h e i ß e n : „ u n d " . W e d e r E h e n o c h S k l a v e n s t a n d s i n d C h a r i s m a . C h a r i s m e n sind v i e l m e h r a u ß e r g e w ö h n l i c h e G a ben (in I K o r 7 , 7 b: z. B . E h e l o s i g k e i t ) , die „ a l t e r n a t i v " und z e i c h e n h a f t die „ h i m m l i s c h e " E x i s t e n z und Z u g e h ö r i g k e i t der C h r i s t e n a u s w e i s e n , a u c h n i c h t p r i m ä r n u r e t h i s c h g e d a c h t sind. E n t s c h e i d e n d ist der V e r w e i s c h a r a k t e r ( n i c h t d a s „ B e w u ß t s e i n " ) , d e r A u s d r u c k des neuen Seins. S o s i n d C h a r i s m e n individuelle G a b e n als A u s d r u c k des ü b e r s c h w e n g l i c h e n R e i c h t u m s der G n a d e . G e r a d e w e g e n dieses R e i c h t u m s , der f ü r den T r ä g e r u n d für a n d e r e z u r Q u e l l e r e l i g i ö s e r E r f a h r u n g w i r d , ist a n d e r e r s e i t s für das h e u t i g e V e r s t ä n d n i s der „ S a c h e " eine B e s c h r ä n k u n g a u f die C h a r i s m e n l i s t e n des P a u l u s d u r c h n i c h t s nahegelegt. Z u m V e r h ä l t n i s v o n —>Amt und C h a r i s m a gilt i m ü b r i g e n : I m A m t ist j e g l i c h e A u t o r i t ä t n u r als letztlich g e i s t b e g r ü n d e t v o r s t e l l b a r . I m B e r e i c h des N e u e n T e s t a m e n t s g e h t es n o c h n i c h t u m den K o n flikt z w i s c h e n A m t u n d G e i s t , s o n d e r n z w i s c h e n v e r s c h i e d e n e n G e i s t e s g a b e n ( a u c h das A p o s t e l a m t ist e i n e v o n i h n e n ) . C h a r i s m a t i s c h e s E l e m e n t , R e c h t u n d M o r a l sind v i e l m e h r stets und g e m e i n s c h a f t l i c h in g l e i c h e r W e i s e k o n s t i t u t i v f ü r jede G e m e i n d e , u n d ihr G e l t u n g s b e r e i c h ist d e c k u n g s g l e i c h . D i e V o r s t e l lung eines n u r „ r e g u l a t i v e n " R e c h t s h a t C h . B a r t s c h mit R e c h t z u r ü c k g e w i e s e n . D e r K o n f l i k t z w i s c h e n d e m g e i s t g e w i r k t e n A m t u n d den a n d e r e n G e i s t e s g a b e n wird d a n n v i r u l e n t , w e n n das A m t z w a r p n e u m a t i s c h verliehen w i r d (so in den P a s t o r a l b r i e f e n ) , a b e r d u r c h M e n s c h e n , die die H a n d auflegen (—»Handauflegung) u n d die dabei a u ß e r d e m G e i s t n o c h z u s ä t z l i c h e , u n d z w a r v o r g ä n g i g e K r i t e r i e n z u m M a ß s t a b der Z u l a s s u n g zur G e i s t v e r m i t t l u n g m a c h e n . D i e s e Z u s a t z k r i t e r i e n ü b e r w u c h e r n i m L a u f e der Z e i t i m m e r m e h r den e n t s c h e i d e n d e n A k t d e r G e i s t m i t t e i l u n g . 8. Lukas
und
Johannes
F ü r L u k a s ist d e r G e i s t v o r a l l e m in b e s t i m m t e n k o n k r e t e n P e r s o n e n u n d z u b e s o n d e r e n Anlässen greifbar; der allgemeine Taufgeist wird z w a r öfter genannt, aber
„theologisch
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
193
nicht ausgearbeitet". Johannes dagegen kennt keine Inspiration besonderer Personen, auch keine konkrete Anwesenheit des Geistes (daher auch nicht die Sünde gegen den Geist). Vielmehr haben die Getauften/Glaubenden als solche den Geist (Joh 3,5; 7,39), welcher auch der Geist der prophetischen Rede ist. Dieser starken Nivellierung im Innern entspricht bei Joh ein betonter Gegensatz zwischen Gemeinde und Außenstehenden: Die Welt kann den Geist nicht empfangen (Joh 14,17), und auch bloße Sympathisanten wie N i k o d e m u s haben ihn nicht, vielmehr nur Getaufte (Joh 3 , 1 - 6 ) . Bei Lk dagegen ist der Geist noch „ u n g e b ä n d i g t " und kann auch außerhalb der Gemeindegrenzen geschenkt werden (Act 10,44f: Ungetaufte). Bei Joh ist der Geist eher personenunabhängig selbständig - auf Kosten prominenter Träger; er ist neben Jesus Gesandter Gottes und zeigt eigene Aktivität (Lehren, Einführen, Erinnern, Zeugnisgeben); er ist unabhängiger Zeuge neben Jesus. Bei Lk dagegen ist der Geist seh r viel stärker auf Jesus selbst bezogen: Seit der physischen Entstehung ist er Jesus zu eigen, und der Erhöhte selbst ist es, der den Geist ausgießt (Act 2,33). Bei Joh steht an der Stelle des Geistes von Lk 1—3 der —»Logos, und der bei der T a u f e h e r a b k o m m e n d e Geist ist nur Erkennungszeichen für den Täufer (Joh 1,33 f). Für Lk wie Joh ist die Zeit der Kirche die Zeit des Geistes, denn der Geist realisiert die Kontinuität mit und die Differenz zu Jesus. Doch geht es bei Lk um eine Kontinuität, die hergestellt wird durch eine ununterbrochene Kette persönlichen Kontakts (noch keine „apostolische Sukzession"!), wobei es wichtig ist, daß eben dieses der Geist Jesu ist. Anders bei Joh: Der Geist-Paraklet wird lehren (14,26), erinnern (14,26; vgl. 2,22), in die Wahrheit einführen als der Geist der Wahrheit (16,13; zum Ausdruck vgl. auch 14,17; 15,26 und Jub 25,14). So geht es um den Weg zum Leben nach Ostern, konkret: um die Legitimation nachösterlicher Theologie, wie sie der Verfasser des Joh selbst betreibt. Schon Jesu Worte selbst waren Geist (Joh 6,63), und durch den Evangelisten hindurch schafft nach Ostern der Geist den Zugang zu Jesu Worten. So bezieht sich 7,39 auf den Verfasser selbst (nach der Verherrlichung Jesu empfangen die Glaubenden den Geist). So sind die Aussagen über das Pneuma jeweils Spiegel dessen, was für die Christologie bestimmend w a r : Bei Joh ist Jesus der vom Vater gesandte O f f e n b a r e r des Weges zum Leben. So ist auch der Paraklet gesandt und garantiert die Richtigkeit der Weiterführung durch den Evangelisten. Bei Lk dagegen geht es um den leibhaftig vermittelten Kontakt zu Jesus. Gemeinsame Differenzen zu Paulus: Weder bei Lk noch bei Joh ist der Geist Prinzip des Handelns („Wandeln dem Geiste nach"); er steht zur praktischen Moral in keiner direkten Beziehung und daher auch nicht zur Gesetzesproblematik. - Weder bei Lk noch bei Joh ist deshalb der Geist auch Unterpfand der künftigen Auferstehung (denn er hat ja nichts mit der Gerechtigkeit der Christen zu tun) noch hat er etwas mit der Auferstehung Jesu selbst zu tun. — Für das aktuelle christliche Leben spielen weder bei Joh noch bei Lk besondere Geistesgaben eine Rolle (bei Joh fehlt dergleichen überhaupt, bei Lk wird das Zungenreden nur noch anläßlich der Initiation besonders wichtiger Gruppen der Vergangenheit genannt in Act 2,4; 1 0 , 4 4 - 4 6 ; 19,6; fehlt z. B. in 8,17). - Weder bei Lk noch bei Joh steht der Geist in Verbind u n g zur Sohnschaft auch der Christen und dem damit verbundenen Gebet. Für Paulus w a r dagegen der Geist das Prinzip der Gleichgestaltung zwischen dem Sohn Gottes und den Söhnen, und zwar als Auferstehungsgeist, der von der Auferstehung Jesu bis zur Auferstehung der Christen wirkt. — Ebenso ist bei Lk und Joh unbekannt, d a ß der Geist im Leib des einzelnen wie im Leib der Gemeinde anwesend wirkt oder sie bei der Auferstehung verwandelt. Für Lukas gilt außer dem von U. Luck (ZThK 57) Bemerkten folgendes: 1) Die vom T ä u f e r angekündigte Geisttaufe (Lk 3,16) wird allein bei Lukas auch eingelöst (Act 2 , 3 - 1 1 ) . Doch diese Geisttaufe d u r c h den erhöhten Herrn erfolgt nicht n u r hier, sondern in einem „dreifachen Pfingsten" (W. Dietrich, Das Petrusbild der lk Schriften, 1 9 7 2 [ B W A N T 9 4 ] 2 9 4 f ) : in dem der J u d e n (vgl. bes. 2 , 3 8 - 4 1 ) , dem der Samaritaner ( 8 , 1 4 - 2 0 ) und d e m der Heiden (10,45—11,1.16 f), jeweils im Z u s a m m e n h a n g mit Petrus, wobei jeweils vom „ E m p f a n g e n " der „ G a b e " des „ P n e u m a " die Rede ist, das „ausgegossen" wird, nachdem die Menschen das „ W o r t (Gottes)" „ a n g e n o m m e n " hatten u n d indem sie sich „ t a u f e n " ließen. - Im übrigen ist die Geisttaufe bei Lk von der Wassertaufe u n a b h ä n g i g ; die menschliche H a n d l u n g
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Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III
bei d e r G e i s t t a u f e ( w e n n es ü b e r h a u p t eine gibt) ist die H a n d a u f l e g u n g . -2) K e n n z e i c h n e n d f ü r die luk a n i s c h e G e i s t a u f f a s s u n g ist d a s Prinzip der a b g e s t u f t e n Fülle u n d K o n k r e t i o n : Jesus v e r d a n k t noch g a n z leibhaftig seine Existenz d e m Geist; die Z w ö l f erleben d e n Geist in einer S t u r m - E r s c h e i n u n g und als vielfaches S p r a c h e n w u n d e r ; P h i l i p p u s wird n o c h d u r c h den Geist d u r c h die L u f t e n t r ü c k t (Act 8 , 3 9 f), bei den wichtigeren Initiationen zeigt sich der Geist n o c h d u r c h Z u n g e n r e d e n (s. o). D o c h den C h r i s t e n allgemein w i r d der Geist n u r m e h r d u r c h H a n d a u f l e g u n g vermittelt. A n h a n d dieser abnehm e n d e n K o n k r e t i o n zeigt L u k a s seinen Lesern, d a ß das, w a s jeder einzelne in der G e g e n w a r t unanschaulich e m p f ä n g t , in W a h r h e i t d o c h eine g r o ß e u n d vielfältige K r a f t ist. G e r a d e so gelingt es i h m , den „ g r o ß e n A n f a n g " mit d e r G e g e n w a r t zu v e r b i n d e n : Es ist eine identische K r a f t darin w i r k s a m . So wird die narratio ü b e r den A n f a n g z u r A u f h e l l u n g der u n a n s c h a u l i c h e n G e g e n w a r t . — 3) D e r Geist ist v o r O s t e r n n u r bei Jesus; a n h a n d des Z w ö l f e r k r e i s e s will Lk zeigen, d a ß d e r Geist d a n a c h ü b e r h a u p t auf a n d e r e M e n s c h e n ü b e r t r a g b a r ist. So d i e n t der Bericht ü b e r A n a n i a s u n d S a p h i r a (Act 5 , 1 - 11) im jetzigen A u f r i ß v o r allem der D e m o n s t r a t i o n , d a ß der Geist in den Aposteln ü b e r h a u p t w a r (5,3.9), so d a ß die u n v e r g e b b a r e S ü n d e gegen den Geist a u c h i h n e n g e g e n ü b e r gilt. Auf den Geistbesitz d e r Apostel k o m m t in der T a t alles a n . — 4) D u r c h d a s r e d a k t i o n e l l b e a r b e i t e t e Schriftzitat in Act 2 , 1 7 - 2 1 deutet Lk die G e i s t a u s g i e ß u n g im R a h m e n seiner T h e o l o g i e : D u r c h den (redaktionell vervollständigten) Sammelbegriff „ Z e i c h e n u n d W u n d e r " in 2 , 1 9 wird a u c h d a s W i r k e n der Apostel u n t e r die Vorzeichen des T a g e s J a h w e s eingereiht (vgl. d a n n gleich 2 , 2 2 . 4 3 ; 4 , 3 0 ; 5 , 1 2 ; 6,8; 14,3; 1 5 , 1 2 ) . - In 2 , 1 7 f ü g t Lk ein „in den letzten T a g e n " u n d b e s c h r e i b t d a m i t — in D i f f e r e n z z u m E n d e selbst — die Endzeit (vgl. I , 6 - 8 ) , in der die V e r h e i ß u n g (das ist d e r Geist: Lk 2 4 , 4 9 ; Act 1,4) n u n allen zuteil w e r d e n k a n n (so: Act 2 , 3 8 b . 3 9 in A u f n a h m e von 2 , 2 1 ) . - I n 2 , 1 8 c f ü g t Lk ein „ u n d sie w e r d e n p r o p h e z e i e n " , w a s in Act 1 0 , 4 6 ; 19,6; 2 1 , 9 W i r k l i c h k e i t w i r d . Die „ G e s i c h t e " von 2 , 1 7 w e r d e n in Act 9 , 1 0 ; 1 0 , 3 . 1 1 . 1 7 . 1 9 ; I I , 5 ; 16,9 f; 18,9; 2 2 , 1 7 f realisiert. Die E r s c h e i n u n g e n von 2 , 2 0 sind s c h o n in Lk 2 1 , 2 5 als Vorzeichen g e d e u t e t w o r d e n . So gilt: Alles, w a s die christliche G e m e i n d e in b e s o n d e r e m M a ß e auszeichnet, wird u n t e r die Vorzeichen des Endes e i n g e r e i h t u n d d a h e r strikt eschatologisch g e d e u t e t . So w i r d die gängige M e i n u n g w i d e r l e g t , L k sei ein V e r t r e t e r d e r E n t e s c h a t o l o g i s i e r u n g . Im R a h m e n des Geschichtsberichtes der Act w a r n i c h t der Schluß, s o n d e r n der A n f a n g in J e r u s a l e m der O r t f ü r diese g r u n d s ä t z l i c h e eschatologische Aussage. - 5) Die R a h m u n g von Act 2 , 4 3 d u r c h 2 , 4 2 u n d 2,45 f zeigt, d a ß a u c h der Besitzverzicht der G e m e i n d e als eine A r t W u n d e r z e i c h e n u n d d a m i t als Erweis des P n e u m a gilt. 9. Konkrete
Erfahrung
des
Geistes
im frühen
Christentum
Die zentrale neue Erfahrung des frühen Christentums ist die wirkliche und unmittelbare Präsenz Gottes in Menschen durch den Geist. Die Leistung des Geistbegriffs besteht dabei darin, für die Erfahrbarkeit Gottes in der Welt ü b e r h a u p t zu stehen: H e r k u n f t von einem anderen und Immanenz im Menschen werden so beschrieben. N ä h e und zugleich Abhängigkeit werden so durch „Geist" wie durch die Vater/Sohn-Metaphorik gleichermaßen benannt. Vorausgesetzt ist die Distanz Gott/Welt, die im späteren Judentum immer stärker erfahren wurde. Bei dieser Distanzierung bleibt Gott der „gute", während die negativen Seiten des Gottesbildes zunehmend durch Satan ( ^ T e u f e l ) und —»Dämonen wahrgenommen werden. Der „ g u t e " Gott h a t nichts mit dem zu tun, was in der Welt „ b ö s e " ist. Die Rede vom Geist Gottes ist angesichts dessen der Weg, von einer positiven Immanenz des guten Gottes in der Welt zu sprechen. Diese ist dann freilich dem negativen innerweltlichen Wirken der Dämonen entgegengesetzt (vgl. dazu besonders das MkEv). So ist die Rede von Gottes N ä h e zu den Menschen durch den Geist oder in gleicher Bedeutung die Rede vom Gottesverhältnis Jesu im Sinne der N ä h e zwischen Vater und Sohn die frühchristliche Möglichkeit, vom guten Gott zu reden, ohne daß dieser als guter (wie sonst) weltfern sein müßte. So wird durch Gottes Sohn bzw. durch Gottes Geist bewirkt, d a ß die Welt nicht an die Dämonen verlorengeht. Dieses hat konkrete Konsequenzen: 1) Die Angst vor Gott ist beseitigt zugunsten der TiaQQrjoCa. — 2) Die häufige Kombination von Geist und —»Freude (Lk 10,21; Act 13,52; Rom 14,17; Gal 5,22; IThess 1,6; I Petr 1,8; Herrn vis 3,13,2) macht deutlich, daß den negativ zu bewertenden Begierden im Bereich der Sarx auf der Seite der Erlösten eine positive emotionale Qualität gegenübersteht (so d a ß nicht nur Leib und Werke ihr je positives Gegenbild haben, sondern auch die e m O v ^ i a ; vgl. dazu besonders Gal 5 , 1 9 / 2 2 und Rom 14,17). So ist die Freude „Frucht des Geistes" und „Aktualisierung der Freiheit", der Anfang des ewigen Lebens (Herrn vis 3,13,2).— 3) Der Geist wird erfahren als Freiheit vom Buchstaben des Gesetzes in der Ethik wie in der christologischen Schriftauslegung. In beiden Fällen erlaubt der Geist es, das jetzt von G o t t Gewirkte bzw. das jetzt von Gott Gewollte „über den
G e i s t / H e i l i g e r G e i s t / G e i s t e s g a b e n III
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B u c h s t a b e n h i n a u s " (und d o c h nicht als W i d e r s p r u c h , s o n d e r n als V o l l e n d u n g ) zu erkennen. -4)
D e r Geist ist der G a r a n t der Einheit u n t e r C h r i s t e n , w o diese für M e n s c h e n nicht
m e h r a u f w e i s b a r und n a c h w e i s b a r ist ( A c t 2 ) . E r heilt z e r s t ö r t e K o n t a k t f ä h i g k e i t g e g e n ü b e r G o t t ( F r e i m u t , Z u g a n g ) und u n t e r M e n s c h e n ( L i e b e ) ; er g e w ä h r l e i s t e t den K o n t a k t mit Jesus nach O s t e r n . — S) D e r Geist w i r k t die g r o ß e n u n d n o t w e n d i g e n T a t e n ( W u n d e r , Besitzverzicht), also das, w a s sicher a u f G o t t weist. — 6) D e r Geist w i r k t die Gleichheit aller und die A u f h e b u n g der S c h r a n k e n (Gal 3 , 1 4 mit 3 , 2 7 f ; I K o r 1 2 , 1 2 f ) . E r w i r k t als Geist der Sanftm u t und als Friede ( k o p t A p k E l i a [ J S H R Z V / 3 ] 2 6 6 : „ D e r F r i e d e auf der E r d e wird w e g g e n o m m e n w e r d e n und der G e i s t " ) . — 7) D e r Geist b e w i r k t als Geist der K i r c h e die L e g i t i m i t ä t n a c h ö s t e r l i c h e r Aussagen ü b e r G o t t ( J o h E v ) . - Die gründlichste E r f a s s u n g dieses P h ä n o mens a b e r liefert R o m 8 , 1 2 ff. G e r a d e hieran w i r d deutlich, d a ß der Geist n i c h t zu v e r w e c h seln ist mit e i n e m B e w u ß t s e i n s z u s t a n d (wie d e n n a u c h die F r a g e n a c h der G e w i ß h e i t des Geistbesitzes d e m N e u e n T e s t a m e n t f r e m d ist u n d jedenfalls n i c h t d u r c h B e f r a g u n g des Inneren des M e n s c h e n g e w o n n e n w i r d ) , s o n d e r n d a ß er d u r c h den M e n s c h e n u n d sein H a n deln h i n d u r c h die W e i s e ist, in der G o t t n a c h d e r W e l t greift, u m sie e s c h a t o l o g i s c h und damit endgültig zu v e r w a n d e l n v o n jeglicher Sklaverei hin zu seiner eigenen H e r r l i c h k e i t . So ist das Ziel der Sendung des Geistes die endgültige V e r w a n d l u n g der W e l t - u n d nicht das Bewußtsein des M e n s c h e n . Literatur Christian Bartsch, Frühkatholizismus als Kategorie hist.- krit. Theol. Eine methodologische u. theologiegesch. Unters., Berlin 1980. - F. W. 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G e i s t / H e i l i g e r G e i s t / G e i s t e s g a b e n IV
196
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IV. Dogmengeschichtlich 1. Die Grundschemata christlicher Pneumatologie im 2 . / 3 . Jh. 2. Die Dogmatisierung der Gottheit des Heiligen Geistes. 3. Die abendländische Lehrentwicklung seit Augustin. 4. Die Pneumatologie im scholastischen System. 5. Pneumatologische Neuorientierung in Reformation und früher Neuzeit (Literatur S. 2 1 5 ) Die G e s c h i c h t e d e r P n e u m a t o l o g i e g e w i n n t ihr b e s o n d e r e s Profil d u r c h die D o g m a t i s i e rung der G o t t h e i t des Heiligen Geistes, die seit d e m Konzil v o n —>Konstantinopel 3 8 1 allg e m e i n rezipiert wird. Eine D a r s t e l l u n g der E n t w i c k l u n g bis zu diesem D a t u m m u ß die G r ü n d e , die zur D o g m a t i s i e r u n g führen, v e r s t ä n d l i c h m a c h e n . D a r ü b e r hinaus k ö n n e n aus der weiteren L e h r g e s c h i c h t e n e b e n den g r o ß e n Entwicklungslinien n u r einige h e r a u s r a g e n d e K o n z e p t i o n e n n a m h a f t g e m a c h t w e r d e n . D a diese meist im Z u s a m m e n h a n g v o n U m b r u c h situationen der K i r c h e n g e s c h i c h t e stehen, k a n n d a r a u s h y p o t h e t i s c h g e f o l g e r t w e r d e n , d a ß die P n e u m a t o l o g i e eine L e h r f o r m darstellt, die in b e s o n d e r e r W e i s e d e m V e r s u c h dient, Krisen des C h r i s t e n t u m s zu signalisieren, zu deuten u n d p r o d u k t i v zu ü b e r w i n d e n . Eine befriedigende Gesamtdarstellung existiert bisher weder für den gesamten Komplex noch für die altkirchliche Entwicklung. Außer einer Fülle von Spezialuntersuchungen bietet die Forschung keine umgreifenden Fragestellungen und Erklärungsversuche; die übliche Aneinanderreihung vielfältiger Positionen und Aspekte bleibt unbefriedigend. 1. Die
Grundschemata
christlicher
Pneumatologie
im 2 . / J .
Jh.
Die altkirchliche P n e u m a t o l o g i e setzt die im N e u e n T e s t a m e n t b e g o n n e n e R e f l e x i o n fort, i n d e m sie die S c h e m a t a der urchristlichen G e i s t e r f a h r u n g u n d P o s t u l a t e aufgreift; daneben knüpft sie bis ins 3 . J h . an jüdische u n d hellenistische T r a d i t i o n e n , die ihr direkt o d e r indirekt vermittelt w e r d e n , an. Ein t y p i s c h e s M e r k m a l in f o r m a l e r H i n s i c h t ist, d a ß sie k a u m explizit t h e m a t i s i e r t w i r d , s o n d e r n als ein A s p e k t a n d e r e r T h e m e n — meist beiläufig, nur bei wenigen T h e o l o g e n a u s d r ü c k l i c h b e d a c h t — z u r S p r a c h e k o m m t . D e r Geist bildet p r i m ä r die L e b e n s w i r k l i c h k e i t d e r C h r i s t e n , erst s e k u n d ä r einen G e g e n s t a n d d e r L e h r e . Dabei erweisen sich die folgenden S a c h z u s a m m e n h ä n g e als leitend, die je für sich erscheinen und n u r bei
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben IV
197
wenigen Autoren insgesamt oder als miteinander verknüpft begegnen: 1. Der Geist vermittelt göttliche Gegenwart, indem er zu besonderer Erkenntnis der Wahrheit verhilft. 2. Raum dieser Gegenwart ist die -n-Kirche als das eschatologische Gottesvolk; sie ist in ihrer ganzen Realität, einschließlich der Ordnungen, durch den Geist bestimmt. 3. Das Leben des einzelnen Christen wird durch den Geist geprägt, welcher sowohl die neue Existenz seit der Taufe umfassend fundiert als auch den Lebenswandel konkret normiert. Nicht zufällig begegnen diese drei Aspekte später im Credo von 3 8 1 . Die Theologen des 2 . / 3 . J h . akzentuieren sie unterschiedlich, wobei dem ersten insofern eine gewisse historische Priorität zukommt, als er - anknüpfend an die urchristliche Prophetie, charismatische Geisterfahrung und -^•Schriftauslegung — in der Frühzeit relativ breit bedacht wird, auch dort, wo die Pneumatologie ansonsten zurücktritt. Von Anfang an begegnet pneumatologische Reflexion in drei Komplexen als Lösung der Frage nach Ermöglichung von Wahrheitserkenntnis durch den Hinweis auf göttliche Inspiration, wobei jüdische und hellenistische Grundgedanken durch den Bezug auf Jesus Christus umgeformt werden: Inspiration begegnet a) in der Prophetie, damit zusammenhängend b) in der Autorität heiliger Schriften sowie c) in der Erleuchtung des Verstandes im mysterienhaften oder religionsphilosophischen Sinne. (Mischformen dieser Komplexe zeigen deren Konvergenz.) Die Entwicklung geht dahin, durch derartige Vorstellungen das Gegenüber von Objektivität der Offenbarung im göttlichen Wort und Subjektivität der Aneignung zu deuten. Die Auffassung, daß die Heilige Schrift als normative Offenbarung letztlich vom Heiligen Geist verfaßt sei, gilt fast überall als communis opinio (s. z . B . I Clem 2 2 ; 4 5 , 1 f). Demgemäß spielt eine pneumatologische Auslegung (des Alten Testaments) von Anfang an für die Gemeinden eine zentrale Rolle. Der urchristliche Neuaufbruch der Prophetie lebt vor allem im syropalästinischen und kleinasiatischen Christentum fort. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum lukanischen und johanneischen Schrifttum belegen das die —»Didache und —»Ignatius von Antiochien. Der Prophet als Geistträger par excellence verkündet normativ, aber kontrollierbar die Wahrheit (Did 11,7— 11); der bischöfliche Pneumatiker beansprucht für seine Weisungen die Autorität des Geistes (Ign R o m 7 , 2 ; Philad 7,1 f).
Die Lebendigkeit geisterfüllter Prophetie bezeugt für R o m um 1 4 0 das Schrifttum des -^-Hermas (vis 1,1,3) in eigentümlicher Verbindung von frühchristlicher Geisterfahrung, jüdischer Angelologie und hellenistischer Mantik. Der prophetische Geist ist auf die ganze Gemeinde bezogen, die aus seinen Weisungen Lebenskraft und Orientierung schöpft (mand. 1 1 , 7 - 1 7 ) . Die seit längerem spürbare Krise des Propheten- und Pneumatikertums kulminiert seit der Mitte des 2. J h . in der Protest- und Reformbewegung des —>Montanismus. Die erhaltenen Orakel der montanistischen Propheten zeigen, daß deren Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit ihrer Wahrheitserkenntnis sich in ihrer eschatologischen Geistbegabung gründet. Das mit dem Montanismus gestellte grundsätzliche Problem ist, ob der lebendige Geist, wie er sich durch einzelne Pneumatiker kundtut, Offenbarungsweisen erschließt, die in der Sache über die bisherige Verkündigungstradition hinausgehen. Parallel zur prophetischen Linie entwickelt sich die Lehre von der Inspiriertheit der in der Kirche als Autorität geltenden Schriften: Der Geist hat sich an das Wort gebunden. Für „die Schrift" (den aus dem Judentum übernommenen Kanon) bzw. deren Verfasser gilt von Anfang an gleichsam selbstverständlich der Geist als eigentlicher Autor (vgl. II T i m 3 , 1 6 ; I Clem 4 5 , 2 u. ö.; Barn 9,2 u. ö.). Auf die Apostel kann diese Auffassung ohne Probleme übertragen werden, wobei der urchristliche Gedanke, daß die nachösterliche Christusverkündigung letztlich geistgewirkt ist, aufgenommen wird: Der Normcharakter der apostolischen Zeugnisse und Lehren ist darin begründet, daß sie Wirkung des Heiligen Geistes sind. In der apologetischen Literatur ( ^ A p o l o g e t i k ) , die die Wahrheitserkenntnis zentral thematisiert, bildet die solcherart begriffene revelatorische Funktion des Heiligen Geistes den Kern der pneumatologischen Reflexion. —»Justin liefert dafür das signifikanteste Beispiel. Die Wahrheit ist durch den Heiligen Geist auserwählten Menschen mitgeteilt worden und kann von denen erkannt werden, die in der Kraft des Geistes die Schrift auslegen (Apol. I, 3 1 , 1 u.ö.). Die Betonung, daß dieser Geist zu G o t t gehört (s. dazu die triadischen Formeln: Dial. 3 2 , 2 ; 5 6 , 3 ) , dient der Ver-
198
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben IV
gewisserung, d a ß die inspiratorische Erkenntnis wirklich die letzte Wahrheit erfaßt. Für menschlichen Verstand ist Gott nur durch den Heiligen Geist zugänglich (Dial. 4,1); d e m g e m ä ß sind die in der Christenheit präsenten Geistesgaben/Charismen Gottes vor allem solche der religiösen Erkenntnis und der Bekehrungspredigt (Dial. 39,2; 88,1).
In voller Klarheit auf die urchristlichen Schriften bezogen wird die Inspirationslehre dann bei —>Theophilus von Antiochien um 170 und —>Irenaus um 180/90, die mit älterer Tradition Geist und Weisheit Gottes identifizieren und vom Offenbarungsproblem her zu ersten Formen einer Trinitätslehre vorstoßen. Als soteriologische Reflexion begegnet die Pneumatologie um 1 6 0 / 7 0 bei dem Syrer —»Tatian, der in dieser Hinsicht, o b w o h l ansonsten ein Außenseiter der Theologiegeschichte, exemplarische Bedeutung besitzt. Der ideale Mensch besteht nach Tatian aus Leib u n d Seele einerseits und dem Geist andererseits, welcher Träger der Unsterblichkeit, der Wahrheitserkenntnis und des Gottesbezuges ist. Doch seit A d a m s Fall ist die Einheit beider zerstört, weil der Fall z u m Verlust des göttlichen Geistes g e f ü h r t hat. Die Erlösung besteht darin, d a ß G o t t seinen Geist sendet, der sich mit der Seele zu einer Lebensgemeinschaft verbindet; in dieser Vollkommenheit des Pneumatikers, des eschatologisch neugeformten Menschen, wird das w a h r e , ursprünglich von G o t t gewollte Menschsein realisiert. Tatian repräsentiert damit einen in der Folgezeit (vor allem ü b e r Irenäus) w i r k s a m werdenden Typ der V e r k n ü p f u n g von Urstandslehre und Pneumatologie, w o n a c h die Heilsgabe des Geistes etwas restituiert, was im Sündenfall verloren gegangen ist.
Ein anderer Typ begegnet im 2. J h . nur ansatzweise, klar profiliert dagegen seit —»Clemens von Alexandrien. Danach erhält der erlöste Mensch mit der Formung durch den Heiligen Geist etwas eschatologisch Neues, w o d u r c h seine schöpfungsmäßige Bestimmung nicht restituiert, sondern erst erfüllt wird. Beide Typen erwachsen in A u f n a h m e und Abgrenzung aus der Auseinandersetzung mit der Gnosis. Von der alexandrinischen Religionsphilosophie her formuliert die christliche —»Gnosis eine konsistente und wirkungsgeschichtlich bedeutsame Konzeption einer pneumatologisch fundierten Erkenntnislehre und Psychologie, die die anthropologisch-soteriologischen sowie die ekklesiologischen Aspekte einschließt. Sie k n ü p f t an stoische und jüdische Denkweise an, wonach Vitalkraft und Denkvermögen des Menschen als Ableger des göttlichen Geistes verstanden werden. Eine besondere Tradition spielt dabei seit Philo die Auslegungsgeschichte von Gen 2,7, w o n a c h G o t t bei der Schöpfung dem Menschen seinen Geist eingeblasen und ihm damit eine d a u e r h a f t e Transzendenzorientierung eingestiftet hat. So kann der menschliche Verstand als Teil des göttlichen Geistes identifiziert werden, ist aber, unter den Bedingungen irdischer Existenz beschränkt bzw. alteriert, zur vollen Wahrheitserkenntnis von sich aus nicht fähig. Er bildet insofern einen natürlichen A n k n ü p f u n g s p u n k t f ü r die Erlösung, als der im Vorgang der Erleuchtung gnadenhaft von oben einströmende Gottesgeist sich mit ihm verbindet. Diesen Grundgedanken entfaltet außer dem Apokryp h o n des Johannes vor allem die Schule —»Valentins in einer spekulativ-mystischen Theosophie, deren Kern eine subtile Ontologisierung der frühchristlichen Pneumatologie bildet. —»Irenaus wendet sich vom frühkatholischen Moralismus durch eine pneumatologisch bestimmte Soteriologie ab und setzt gegen das individualistische Geistverständnis der Gnostiker seine Konzeption einer Heilsgeschichte. Gottes Geist hat kontinuierlich in Propheten und Aposteln den göttlichen Heilsplan offenbart, so d a ß ihn auch der normale Christ verstehen kann, wenn er die inspirierten Schriften gemäß der in der —»Kirche tradierten Verkündigung auslegt. Der Kirche als ganzer ist der Geist gegeben, weil Christus (der mit dem Geist „Gesalbte") die von Gott empfangene Gabe an diejenigen weitergegeben hat, die an ihm im Glauben teilhaben. Irenäus verbindet die Geistchristologie mit der Rekapitulationstheorie: Christi Geist wirkt als Kraft der N e u s c h ö p f u n g in der Kirche die neue, nach dem —> Bild Gottes gestaltete Menschheit; jedem einzelnen verbindet er sich in der —»Taufe, so daß dessen Existenz fortan durch den Geist bestimmt ist. Die Erlösung bringt die gestörte Schöpfung zurecht bzw. die unvollendete Schöpfung zum Ziel. —»Tertullian repräsentiert gegenüber dieser systematisierten Pneumatologie die ältere Lehrweise, zeigt aber, d a ß die bei Irenäus verarbeiteten Elemente einer relativ breiten kirchlichen Tradition entsprechen.
G e i s t / H e i l i g e r G e i s t / G e i s t e s g a b e n IV
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Die durch Gnosis und M o n t a n i s m u s angezeigte G r u n d l a g e n k r i s e wird durch die Fixierung der schon früher reflektierten institutionellen Bindung des Geistes prinzipiell gelöst: Weil der Kirche als g a n z e r der Geist z u k o m m t , ist dieser im kirchlichen A m t s t r ä g e r p r ä s e n t , der seinen Geistbesitz durch die a p o s t o l i s c h e Sukzession als c h r i s t u s g e m ä ß legitimieren k a n n , k o n k r e t : im —»Bischof und in den B i s c h o f s v e r s a m m l u n g e n (vgl. das A u f k o m m e n von Bischofslisten und die erstmals in der A b w e h r d e r M o n t a n i s t e n begegnenden —>Synoden). Diese Präsenz läßt sich mit o b j e k t i v e n Kriterien inhaltlich k o n t r o l l i e r e n ; neben der Ausbildung des m o n a r c h i s c h e n E p i s k o p a t s steht die F i x i e r u n g der apostolischen T r a d i t i o n in Gestalt des werdenden K a n o n s n e u t e s t a m e n t l i c h e r Schriften s o w i e in dem lehrmäßig normierten G l a u b e n s b e w u ß t s e i n der K i r c h e , der regula
fidei
( — » G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e ] ) . Den
ekklesiologischen Bezug der P n e u m a t o l o g i e entfalten um 2 2 0 —»Hippolyt von R o m in seiner Traditio
apostolica
(—»Kirchenordnungen) und u m 2 5 0 —»Novatian. Allerdings wird eine
zunehmende Klerikalisierung der E k k l e s i o l o g i e d a r a n e r k e n n b a r , d a ß H i p p o l y t dem B i s c h o f die Fülle des Geistbesitzes in besonderer W e i s e zuspricht, aus welcher dieser der G e m e i n d e in T a u f e , S ü n d e n v e r g e b u n g , E x o r z i s m u s und V e r w a l t u n g mitteilt. Diesen Befund bestätigen eine G e n e r a t i o n später die syrische D i d a s k a l i a und —»Cyprian von K a r t h a g o : A u ß e r h a l b der durch die B i s c h ö f e repräsentierten K i r c h e wirkt der Geist Christi nicht, d a r u m gibt es dort kein Heil. D i e reife Z u s a m m e n f a s s u n g der a l t k a t h o l i s c h e n P n e u m a t o l o g i e bietet —»Orígenes, der d a m i t in d e r Folgezeit n a c h h a l t i g g e w i r k t hat. D i e früheren Ansätze, das E r k e n n t n i s p r o b l e m p n e u m a t o l o g i s c h zu lösen, n i m m t er in einer g r o ß a r t i g e n h e r m e n e u t i s c h e n K o n z e p t i o n auf, die gleichermaßen a u f der Synthese wie a u f der Differenz von Schrift und Geist basiert. M i t seiner grundlegenden F o r m u l i e r u n g der Regeln einer allegorischen Bibelauslegung H » B i belwissenschaft) stellt er klar, d a ß W a h r h e i t s e r k e n n t n i s im Heiligen Geist sich für die Christen vor allem als ein N a c h d e n k e n über den in der Heilsgeschichte g e o f f e n b a r t e n , in der inspirierten Schrift verhüllten Geist vollzieht, indem durch den B u c h s t a b e n mit seiner V o r d e r gründigkeit und historischen Zufälligkeit h i n d u r c h die p n e u m a t i s c h e n T i e f e n d i m e n s i o n e n ewiger W a h r h e i t e n erreicht w e r d e n . Diese E r k e n n t n i s wird a b e r nicht j e d e m Christen zuteil, sondern nur d e m P n e u m a t i k e r . M i t dieser M a x i m e , die seinem doppelschichtigen Kirchenbegriff entspricht, grenzt sich O r í g e n e s gegen eine S a k r a m e n t a l i s i e r u n g und Klerikalisierung der P n e u m a t o l o g i e a b . Er bindet diese k o n s e q u e n t an die Ethik: D a s T a u f s a k r a m e n t vermittelt nicht ipso f a c t o j e d e r m a n n den G e i s t , s o n d e r n nur dem wirklich bekehrten und sittlich reinen C h r i s t e n . G e i s t b c s i t z m u ß sich folglich ausweisen an einem geistgemäßen Lebenswandel und einer p n e u m a t i s c h e n E r k e n n t n i s . D a r u m k o m m t er nur den „ H e i l i g e n " zu, die in der Kraft des Geistes durch progressive E n t w e l t l i c h u n g zur V o l l k o m m e n h e i t fortschreiten. D a s Heil besteht in der geistgemäßen und geistgewirkten V e r ä n d e r u n g des M e n s c h e n . M i t dieser P n e u m a t o l o g i e legt Orígenes die F u n d a m e n t e für die —»Askese und —»Mystik, die kritische Ekklesiologie und die synergistische S o t e r i o l o g i e , wie sie in der O s t k i r c h e seit d e m 4 . J h . Gestalt g e w o n n e n h a b e n .
2. Die Dogmatisierung
der Gottheit
des Heiligen
Geistes
In der K o n t r o v e r s e utn die G o t t h e i t Christi seit 3 1 8 / 3 2 5 (—»Arianismus) werden die K o n s e q u e n z e n für die P n e u m a t o l o g i e erst allmählich mitdiskutiert. F ü r Arius gilt - in Anw e n d u n g seines m o n o t h e i s t i s c h e n Ansatzes s o w i e aufgrund e n g e l p n e u m a t o l o g i s c h e r T r a d i t i o n e n - der Geist als G e s c h ö p f . Andererseits spricht —»Marcell v o n A n k y r a so von dessen G o t t h e i t , daß er d a m i t in breiten Kreisen W i d e r s p r u c h p r o v o z i e r t , den —»Eusebius von C a e sarea literarisch artikuliert. Z u n ä c h s t u n a b h ä n g i g von der T r i n i t ä t s p r o b l e m a t i k sind Spuren eines p n e u m a t o l o g i s c h e n und c h a r i s m a t i s c h e n N e u a u f b r u c h s zu verzeichnen, der seinen N i e d e r s c h l a g findet in Sprüchen und Lehren der A s k e t e n , in Predigten (s. z . B . die K a t e c h e sen des —»Cyrillus von J e r u s a l e m und die H o m i l i e n des Eusebius von E m e s a ) , vor allem a b e r in auffälligen Erweiterungen des dritten C r e d o - A r t i k e l s seit der 2 . a n t i o c h e n i s c h e n F o r m e l 341. Im R a h m e n dieser E n t w i c k l u n g k o m m t der Lehre des —»Athanasius g r ö ß t e B e d e u t u n g
200
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben IV
zu. Er entfaltet die bisher beiläufig thematisierten Grundzüge seiner zunächst an Origenes orientierten Pneumatologie in der Auseinandersetzung mit der Bestreitung der Gottheit des Geistes durch die von ihm so genannten „Pneumatomachen" in vier Briefen an Serapion von Thmuis ( 3 5 7 - 3 5 9 ) . Kennzeichnend für Athanasius ist in formaler Hinsicht die konsequent exegetische Fundierung der Pneumatologie, in inhaltlicher Hinsicht die Integration der Pneumatologie in die Christologie und Soteriologie. Er denkt stets von der Offenbarung Gottes in Christus her und betont deswegen die Einheit der —»Trinität. D e r Heilige Geist, w e l c h e r d e m Gläubigen in B i b e l w o r t e n und geistlicher E r f a h r u n g begegnet, ist für A t h a n a s i u s der Geist Christi. U b e r Origenes führt hier die strengere trinitarische S y s t e m a t i k hinaus: D e r V a t e r wirkt alles d u r c h den L o g o s im Geist (Serap. 1 , 2 8 . 3 1 ) , nicht n u r im H e i l s w e r k , s o n d e r n a u c h in der S c h ö p f u n g (ebd. 111,5), w o m i t A t h a n a s i u s die diesbezügliche R e s t r i k t i o n der P n e u m a t o l o g i e ü b e r w i n d e t . In der Soteriologie n i m m t er die R e k a p i t u l a t i o n s l e h r e des I r e n ä u s auf: G o t t e r n e u e r t d u r c h den Geist den g e m ä ß Gen 1 , 2 6 z u m Ebenbild b e s t i m m t e n M e n s c h e n , d e r d u r c h den Sündenfall die M ö g l i c h k e i t der V o l l e n d u n g v e r l o r e n h a t , indem der Geist als Bild des S o h n e s T e i l h a b e a m S o h n als dem —»Bild G o t t e s vermittelt (1,9). Als Geist der E r n e u e r u n g wirkt dieser d u r c h die E r l e u c h t u n g , d . h . er eignet die objektiv-prinzipiell in Christus erfolgte O f f e n b a r u n g der W a h r h e i t d e m Christen individuellfaktisch zu, verbindet ihn so mit Christus und m a c h t ihn als „ G e i s t der S o h n s c h a f t " z u m Kind G o t t e s (1,19. 2 2 . 2 5 ) .
Mit dieser soteriologisch-offenbarungstheologisch bestimmten Pneumatologie nimmt Athanasius Grundgedanken der bisherigen Lehrtradition auf. Sein spezifischer, theologiegeschichtlich bedeutsamster Beitrag liegt in der konsequent trinitätstheologischen Orientierung. Wenn Christus in seinem Geist die Erlösung vollbringt, ist dieser wie jener im Wesen und in allen göttlichen Eigenschaften dem Vater verbunden. Die Trinität ist unteilbar, ist ein Gott (Serap. 1,17; orat. c. Ar. 111,15). Seit der Synode von Alexandrien 362 setzt Athanasius in östlichen Nizänerkreisen gegen die Bestreitung der Gottheit des Geistes durch Arianer und Pneumatomachen als neue Norm der Orthodoxie durch, daß das Nicaenum ergänzt wird durch eine Verurteilung derer, „die den Heiligen Geist ein Geschöpf nennen und ihn vom Wesen Christi trennen" (PG 2 6 , 8 0 0 A). Von dieser Norm führt ein direkter Weg zum Konzil von —• Konstantinopel. Im populären Widerspruch zu dieser Trinitätslehre formieren sich aus Kreisen der Homöusianer die Pneumatomachen seit 367 vornehmlich in Kleinasien als eigene Partei unter Führung des —»Eustathius von Sebaste und des Silvanus von Tarsus (später auch „Makedonianer" genannt nach dem bis 3 60 als Bischof von Konstantinopel amtierenden Makedonius). Sie konservieren die traditionelle Unbestimmtheit der Pneumatologie und lassen die Frage, ob der Geist Person oder Kraft, primär Gott oder der Schöpfung zugehörig sei, offen, wobei teilweise enthusiastisch-charismatische Erfahrungen der Askese mitwirken. In Abwehr dagegen setzen Athanasius' grundlegende Position vor allem —»Basilius von Caesarea und seine Freunde bis zur Lehrentscheidung von 381 wirksam fort. Allerdings dürfen auch andere Theologen als Vorbereiter und Multiplikatoren des Geistdogmas nicht übersehen werden wie z. B. —> Apollinaris von Laodicea und -n>Didymus von Alexandrien. Charakteristisch für Basilius' Pneumatologie ist der durchgängige Bezug auf die religiöse Erfahrung. Sie wird fast zum organisierenden Prinzip der gesamten Theologie und reflektiert die existentiellen und kirchlichen Grundfragen jener Zeit, wobei Basilius sie weniger in systematischer Form als in kontroverstheologischen Äußerungen vorträgt (vor allem in Adversus Eunomium und De Spiritu Sancto). Als Geisttheologe kann er bis heute klassischen Rang beanspruchen. Die seit der Frühzeit begegnenden drei Grundaspekte der Pneumatologie (den erkenntnistheoretischen, den anthropologisch-ethischen, den ekklesiologischen) thematisiert er in einer Konzeption, die mit innerer Notwendigkeit auf die Gottheit des Geistes zielt. Der Christ lebt dem Geist gemäß nur in der Gemeinschaft der Kirche, wobei sich Basilius mit seiner pneumatologisch fundierten Ekklesiologie kritisch gegen die reichskirchliche Wirklichkeit an dem urchristlichen Modell orientiert. Die Neubesinnung auf die innovatorisch-verändernde Kraft des Geistes und auf die Bedeutung der Charismen machen ihn zu einem Kirchenreformer, der die Institution mit ihrem amtskirchlich-sakramentalen Automa-
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tismus der Heilsvermittlung durch entschiedene Rückbesinnung auf den Heiligen Geist als Norm kirchlicher Gestaltung von innen heraus verändern will. Wenn dieser Geist Gott selber ist (Basilius vermeidet wie Athanasius die direkte Gottesprädikation, bringt sie aber der Sache nach), dann ist er der Verfügung durch die Kirche entzogen. An Basilius wird exemplarisch deutlich, daß das pneumatologische Dogma aus einem umfassenden geistlichen Neuaufbruch in einer Krisensituation resultiert. Auch in den trinitätstheologischen Konsequenzen seiner Pneumatologie argumentiert er von der religiösen Erfahrung her. Die Wirkungen des Geistes entsprechen denjenigen Christi und Gottes, die Gleichheit der Wirkungen beweist die Einheit des Wesens (Spir. 16). Mit dieser Argumentation hat Basilius in der Folgezeit nachhaltigen Einfluß ausgeübt, desgleichen mit seiner doxologischen Fundierung des Dogmas: Die ontologische Einheit von Vater, Sohn und Geist, die Homousie, stellt sich dem Christen konkret letztlich als Einheit in der Anbetung, als Homotimie dar (ebd. 19ff). Das Zeugnis der Bibel ist die Grundlage, die religiöse Erfahrung das Medium, die asketische, ethische und kirchliche Praxis die Bewährung der Uberzeugung, daß der Heilige Geist wesenseins mit Gott ist. Hält Basilius sich gegenüber einer scharfen begrifflichen Fixierung auffällig zurück (auch den Begriff ¿[ioovoiov wendet er nicht direkt auf den Geist an), so liegt ein besonderes Verdienst seines Freundes —»Gregor von Nazianz darin, die neue Trinitätslehre in terminologischer Klarheit und systematischer Stringenz einer breiten Öffentlichkeit plausibel gemacht zu haben (besonders durch seine Theologischen Reden in Konstantinopel 3 8 0 ; or. 2 7 - 3 1 ) . Gregor lenkt dabei in der Sache stärker zu Athanasius zurück, indem er vom Offenbarungsgedanken her argumentiert. Die umstrittenen Begriffe, welche die Gottheit und Homousie des Geistes formulieren, verwendet er ohne die für Basilius maßgebliche seelsorgerlich-kirchenpolitische Zurückhaltung gegenüber „ N e u e r u n g e n " , was mit dazu beiträgt, daß er seine Position auf dem Konzil 3 8 1 gegen die konservative M a j o r i t ä t der Neonizäner nicht durchsetzen kann. Dort bringt aber vor allem —»Gregor von Nyssa die Intention und Konzeption seines verstorbenen Bruders Basilius zum Zuge. Dessen Pneumatologie verstärkt die asketischen und synergistischen Tendenzen, und zwar in Aufnahme wie in Abwehr von Gedanken der —»Messalianer.
Das Konzil von —>Konstantinopel ( M a i - J u l i 3 8 1 ) bringt insofern einen Abschluß der Lehrentwicklung, als die Pneumatologie nunmehr in den christlichen Gottesbegriff aufgenommen ist. (Die dogmatischen Entscheidungen sind allerdings wegen der schlechten Quellenlage nicht mit letzter Klarheit zu erkennen.) Ein Lehrdekret formuliert die neonizänische Trinitätslehre (eine Gottheit bzw. Usia in drei Hypostasen; Textzitat bei Theodoret, h. e. V , 9 , l l ) und verwirft die abweichenden Positionen, darunter diejenige der Pneumatomachen. Daneben wird das —»Nicäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis (einer der in Nicänergemeinden gebräuchlichen Credotexte) sanktioniert, das im dritten Artikel mit antipneumatomachischen Formulierungen in biblisch-liturgischer Redeweise die innertrinitarische Stellung des Geistes so ausdrückt, daß seine Zugehörigkeit zu Gott (Herr-Sein, Ausgang aus dem Vater, Homotimie) ebenso wie seine soteriologische und revelatorische Funktion (Lebensspender, Offenbarung durch die Propheten) klar ist. Damit fixiert man die pneumatologische Bekenntnisentwicklung: Die Wahrheitserkenntnis und die neue Existenz des Menschen, das Sein der Kirche und die Hoffnung auf das jenseitige Leben gründen sich in der Kraft des Geistes Gottes. 3. Die abendländische
Lehrentwicklung
seit Augustin
—»Augustin hat die gesamte abendländische Lehrentwicklung maßgeblich bestimmt, auch hinsichtlich deren Abgrenzung gegenüber den Ostkirchen. Er thematisiert die Pneumatologie nicht eigens, sondern im Rahmen der Trinitätslehre (—»Trinität), der Soteriologie (—»Gnade, —»Heil und Erlösung) und der Ekklesiologie ( ^ K i r c h e ) , die damit pneumatologisch bestimmt werden. Letztlich wird sie bei ihm - und seit ihm in der abendländischen Theologie - zu einer Funktion der Christologie (—»Jesus Christus). Der voluntaristische Ansatz seines Denkens führt dazu, daß er den herkömmlichen Intellektualismus in der Pneumatologie ausschaltet; er sieht das Wirken des Geistes ganz von der Fragestellung her, wie der
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Mensch einen Gott entsprechenden Willen bekommt. Seit den philosophischen Frühdialogen interpretiert er den Heiligen Geist existentiell als die göttliche Kraft, welche den Menschen von innen heraus in eine Bewegung auf Gott hin bringt, wobei Wahrheitserkenntnis und Affektivität zusammenhängen: Die durch Christus erschlossene Wahrheit soll geliebt werden; daß dies geschieht, ist das Werk des Geistes, welchen Augustin seit 3 8 8 (De moribus 1,13,23) unter Rückgriff auf Rom 5,5 — als den locus classicus seiner Pneumatologie — mit der Liebe Gottes identifiziert. Mit dem Liebesgedanken erhält seine Pneumatologie in wirkungsgeschichtlich bedeutsamer Weise ihr organisierendes Prinzip. Die vom Geist inspirierte —»Liebe führt als Erkenntnisdrang zum Sohn als der geoffenbarten Wahrheit, in welchem Gott der Vater erkannt wird (ebd. 1,17,31); diese Liebe verbindet bleibend mit Gott und vermittelt die erstrebte beatitudo (De vera rel. 12,24; 5 5 , 1 1 2 ) . In der Pneumatologie konvergieren die hinsichtlich ihrer Struktur parallelen Lehren über Gnade und Erkenntnis, die Augustin in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung formuliert. Darin unterscheidet sich das Heilswirken des Geistes von demjenigen des Sohnes, daß dieser die offenbarende Wahrheit, jener die mit dem Verlangen nach Wahrheit erfüllende und mit Gott verbindende Liebe ist. Insofern bildet der Geist für Augustin wie für die griechischen Väter des 4. Jh. primär einen Gegenstand der religiösen Erfahrung, erst sekundär einen solchen der theoretischen Spekulation. Augustin überträgt in De Trinitate die soteriologisch-ekklesiologische Qualifizierung des Geistes als Caritas und communio auf den trinitarischen Gottesbegriff. Er versteht den Geist innertrinitarischfunktional als die von Vater und Sohn ausgehende Liebesbewegung, die beide verbindet und von ihnen her in das Herz des Christen eindringt. Demgegenüber tritt die Personhaftigkeit des Geistes zurück, wie der Vergleich mit der östlichen Hypostasenlehre zeigt.
In der Auseinandersetzung mit dem Donatismus (—»Afrika 1.3.4) gibt Augustin der traditionellen, seit—»Cyprian maßgeblich fixierten Integration von Pneumatologie und Ekklesiologie vom Ansatz beim Liebesgedanken her ein neues Profil (s. C. epist. Parmeniani; De baptismo; C. lit. Petiliani). Betonte die Tradition, daß der Heilige Geist nur in der —»Kirche wirke und deswegen die von den Häretikern vollzogenen Sakramente unwirksam seien, so verstärkt Augustin diese Argumentation durch die Verbindung von Geistgedanken und Liebesbegriff. Kennzeichen der wahren Kirche als des von Ewigkeit her erwählten Volkes Gottes und der zu Gott hin wandernden Bürgerschaft ist die Einheit, die Verbundenheit in der Liebe (amor Dei und Caritas), welche identisch ist mit der Gegenwart des Geistes in der Kirche. Ist die Kirche Leib Christi, dann ist der Heilige Geist als Liebe und Gemeinschaft dessen Seele (De bapt. 111,2). In den ^ S a k r a m e n t e n manifestiert er sich, so daß man bei deren Vollzug zwischen dem äußeren Ritus, den auch die Häretiker und Schismatiker üben, und dem geistgewirkten effectus sacramenti, der nur in der Kirche statthat, differenzieren muß. Deswegen bricht derjenige Christ, der die Gemeinschaft durch abweichende Lehre und Praxis zerstört, das Liebesband, trennt sich vom Geist und tritt damit aus dem Kraftfeld des Heilswerkes Christi heraus. Es gibt für Augustin keine unvermittelte Verbindung des Gläubigen mit dem Geist Christi, sondern nur die Teilhabe an dem Geist, der das regnum bzw. corpus Christi, d.h. konkret die katholische Kirche konstituiert. Die folgenreichste Profilierung erfährt Augustins Pneumatologie durch seine Neuinterpretation der Gnadenlehre (v. a. in De spir. et lit. von 4 1 2 , wo er über das origenistisch-platonisierende zum paulinischen Verständnis des Gegensatzes von Geist und Buchstabe zurückkehrt). Die Rechtfertigungslehre wird dadurch, daß Augustin den Begriff—»Gnade vom Begriff Geist her als göttliche Kraftmitteilung versteht, pneumatologisch strukturiert. Diesen Aspekt macht Augustin zum Angelpunkt seiner Explikation der nizänischen Trinitätslehre. Die Eigenart des Heiligen Geistes besteht darin, das Gemeinsame von Vater und Sohn zu sein; er ist die personalisierte communio, weil in ihm die Zweiheit zur Einheit zurückkehrt, und ist insofern das Band der Liebe (De trin. V, 1 1 , 1 2 - 1 2 , 1 3 ; X V , 1 7 , 2 7 - 1 8 , 3 2 ) . Diese trinitarische Definition der Pneumatologie hat dann Konsequenzen für die Soteriologie und Ekklesiologie, denn Gott teilt sich im Heiligen Geist, der Gabe Christi, dem Menschen als Liebe mit und nimmt ihn so in seine Gemeinschaft auf, weswegen die Liebe das Kri-
G e i s t / H e i l i g e r G e i s t / G e i s t e s g a b e n IV
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t e r i u m christlicher P r a x i s als eines L e b e n s in der K r a f t des Geistes bildet und die W i r k l i c h keit des auf E r d e n pilgernden G o t t e s s t a a t e s b e s t i m m t ( D e t r i n . X V , 1 9 , 3 3 ; D e civ. Dei X V , 6 ) . D i e W i r k u n g s g e s c h i c h t e v o n Augustins P n e u m a t o l o g i e b e s t i m m t die L e h r e n t w i c k l u n g der folgenden J a h r h u n d e r t e . D e r Heilige Geist w i r d p r i m ä r i n n e r t r i n i t a r i s c h - i m m a n e n t als g ö t t l i c h e Liebe bzw. als der Wille, mit d e m das Selbstdenken G o t t e s zu sich z u r ü c k k e h r t , gedeutet. D a b e i spielt die A n b i n d u n g der P n e u m a t o l o g i e an die C h r i s t o l o g i e insofern eine entscheidende Rolle, als d e r s e i n s m ä ß i g - e w i g e A u s g a n g des Geistes ex patre filioque Definition als vtnculum
caritatis
(amoris)
und seine
sein Subjektsein reduzieren u n d sein Heilswirken
demjenigen Christi u n t e r o r d n e n . Die E i g e n s t ä n d i g k e i t des Geistes tritt in der augustinischen T r a d i t i o n ( a n d e r s als in d e r o r i g e n i s t i s c h - k a p p a d o k i s c h e n ) z u r ü c k , weil er letztlich nicht als P e r s o n , s o n d e r n als K r a f t bzw. als R e l a t i o n begriffen w i r d . Die P n e u m a t o l o g i e wird n u n m e h r v o r w i e g e n d als ein Aspekt d e r S o t e r i o l o g i e u n d Ekklesiologie t h e m a t i s i e r t : Der Heilige Geist wird h e i l s ö k o n o m i s c h - s o t e r i o l o g i s c h als göttliche Liebe und helfende G n a d e , ekklesiologisch als G e m e i n s c h a f t u n d W i r k u n g der S a k r a m e n t e , h e r m e n e u t i s c h als t r a n s z e n d e n ter B e d e u t u n g s g e h a l t des zeichenhaften S c h r i f t w o r t e s u n d e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h als Beziehung v o n auctoritas
u n d ratio g e d e u t e t , so dai? die explizite P n e u m a t o l o g i e zugunsten der
g e n a n n t e n T h e m e n z u r ü c k t r i t t . A n d e r e r s e i t s bleibt in diesen eine p n e u m a t o l o g i s c h e G r u n d s t r u k t u r m e h r o d e r w e n i g e r stark p r ä s e n t , die eine K o n t i n u i t ä t z w i s c h e n mittelalterlicher u n d a l t k i r c h l i c h e r L e h r e n t w i c k l u n g anzeigt. D i e f u n d a m e n t a l e n Differenzen z u r O s t k i r c h e bündeln sich in d e m Filioque-Streit u m die unterschiedliche F o r m u l i e r u n g des 3 . Artikels des Nizänum
H>Nizäno-Konstantinopolita-
nisches G l a u b e n s b e k e n n t n i s ) . Dies ist eine b e s o n d e r s signifikante F o l g e der augustinischen L e h r e , w e l c h e den Geist als eine F u n k t i o n G o t t e s u n d Christi begreift, wenngleich diese L e h r e in ä l t e r e r w e s t l i c h e r T r a d i t i o n w u r z e l t . Die bereits voraugustinische Formulierung, daß der Geist seine Existenz a patre filioque hat, gebraucht Augustin noch nicht verbatim, sondern nur sinngemäß. Doch sie findet allmählich nicht nur in der Theologie Eingang (s. z. B. -->Fulgentius von Ruspe, —>Isidor von Sevilla, —»Gregor d. Gr.), sondern auch in den Credotexten (—»Glaubensbekenntnisse), im 5 . / 6 . Jh. in spanischen Formeln gegen den —»Priszillianismus sowie im —»Athanasianischen Symbol, dann von Spanien aus nach Gallien vordringend. Im Frankenreich macht man sie seit der Synode von Frankfurt 7 9 4 gegen den spanischen Adoptianismus nicht in pneumatologischer, sondern in christologischer Abzweckung geltend und beruft sich dabei auf das biblische Zeugnis. Unter dem maßgeblichen Einfluß —»Karls d. Gr. gelangt das filioque seit 7 9 6 / 9 7 in den Symboltext, wobei in Karls Auftrag zur ausdrücklichen Abgrenzung gegen den Osten Theodulf von Orléans 8 0 9 die Schrift De Spiritu Sancto (ein Augustin-Florilegium) verfaßt. Durch die ostkirchliche Kritik vor allem des —»Photius (synodale Verwerfung des filioque 8 6 7 und 879) wird die damit angezeigte unterschiedliche Pneumatologie als ein Grundproblem bewußt; die westliche Lehrform wird in ihren Implikationen und Konsequenzen seit dem 12. J h . ausdrücklich reflektiert, besonders seit dem Traktat De processione spiritus sancii des —»Anselm von Canterbury von 1102. Für Photius impliziert das filioque die Annahme, daß der Sohn dem Wesen des Vaters näher als der Geist stehe, eine Abwertung der Pneumatologie sowie eine Tendenz zum Pneumatomachentum. Demgegenüber lehrt die Ostkirche, daß der Geist zwar innerhalb der Heilsgeschichte auch vom Sohn gesandt werde, bestreitet aber, daß dieser „ökonomische" Sachverhalt ebenfalls für die immanent-ewige Trinität gelte. Damit trennt sie - gemäß dem griechischen Axiom, daß Gottes Sein, welches in der Bibel geheimnisvoll angedeutet ist, der menschlichen Erkenntnis letztlich unzugänglich b l e i b t - in folgenschwerer Weise zwischen dem Wesen Gottes und seiner Offenbarung im Heilswerk. Die an die Filioque-Lehre gestellte Frage, ob es sich um eine oder um zwei processiones des Geistes handle, sucht das Konzil von —»Lyon 1 2 7 4 im Anschluß an Augustin mit der Lehrentscheidung zu klären, daß der Geistex patre filioque als von einem einzigen Prinzip ausgehe ( C O D 3 1 4 , l O f ) , scheint aber damit dessen Existenz aus der Vater und Sohn gemeinsamen Gottheit herzuleiten und dem Geist nicht in derselben Weise göttliches Wesen zuzubilligen. Für den Osten bleibt das inakzeptabel. Im Zusammenhang der Unionsverhandlungen schlägt das Konzil von Florenz 1 4 3 9 H>Basel-Ferrara-Florenz) als altkirchliche Interpretation des filioque vor, daß der Geist ex patre per filium hervorgehe ( C O D 5 2 6 , 4 4 f ) , ohne damit eine Einigung zu bringen. Auch in den Verhandlungen der Protestanten mit Konstantinopel (Briefwechsel der Tübinger Theologen mit dem Patriarchen Jeremias II. 1 5 7 3 - 1 5 8 1 ) erweist sich die Differenz als eine die jeweilige Theologie strukturell prägende. Annäherungen, aber noch keine tragende Verständigung bringen dann erst die ökumenischen Gespräche im 2 0 . J h . Die g r u n d s ä t z l i c h e d o g m e n g e s c h i c h t l i c h e B e d e u t u n g des Filioque-Streits liegt - abgese-
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hen von seiner Bedeutung für die seit 1054 bestehende Kirchenspaltung — in der unterschiedlichen Zuordnung von Christologie und Pneumatologie, damit in Differenzen der Vermittlung von Gott und Welt sowie von Offenbarung und Geschichte. Bis in die Gegenwart hat man daraus essentielle Unterschiede zwischen östlichem und westlichem Christentum zu erklären versucht. Dem westlichen Vorwurf, die Leugnung des filioque fördere einen pneumatokratischen Mystizismus, eine spekulative Theologie zu Lasten der Offenbarungstheologie sowie einen Verlust des Weltbezuges, steht der östliche Vorwurf gegenüber, die abendländische Theologie sei durch Geistvergessenheit geprägt, führe zum Anthropozentrismus und Säkularismus und setze an die Stelle der pneumatologischen Gott-Mensch-Vermittlung institutionelle, christologisch abgeleitete Mittlerinstanzen wie Kirche, Sakramente, Heilige, Papst. Hinsichtlich der mittelalterlichen Differenz zwischen Ost- und Westkirche erklärt sich das Zurücktreten der Pneumatologie in der abendländischen Tradition aus der Prävalenz der Christologie: Die Rede vom Heiligen Geist ist hier eine zusätzliche Präzisierung oder Kumulierung dessen, was auch von Christus ausgesagt wird, so daß dieser die Funktionen des Geistes übernehmen kann, während sie für die östliche Tradition eine theologische Notwendigkeit darstellt, weil ohne sie eine vollständige Explikation der Wahrheitserkenntnis und der Heilsaneignung nicht gegeben ist, wodurch das Wirken des Geistes mit demjenigen Christi konkurriert. In der Sakramentenlehre wird die altkirchliche Grundanschauung im allgemeinen ohne reflektierte Verarbeitung weitertradiert: Der Heilige Geist wird durch die —»Taufe vermittelt, wodurch der Mensch von Sünden gereinigt und verwandelt wird; dabei ist der Geist sowohl göttliche Person und insofern unverfügbares Gegenüber des Menschen als auch Heilsgabe und insofern mit dem Menschen innerlich verbunden (s. z.B. —»Isidor, —»Alkuin, —»Hrabanus Maurus). D i e t h e o l o g i s c h e n P r o b l e m e , w e l c h e die P r a x i s der a l l g e m e i n e n K i n d e r t a u f e für ein d e r a r t i g e s T h e o r e m s c h a f f t , w i r d d u r c h die V e r s e l b s t ä n d i g u n g d e r G e i s t g a b e g e g e n ü b e r d e m T a u f a k t u n d ihre ins t i t u t i o n e l l e F i x i e r u n g an das S a k r a m e n t d e r —»Firmung (confirmatio) a u f g e a r b e i t e t : Z u d e r in der T a u f e g r u n d l e g e n d v o l l z o g e n e n S ü n d e n v e r g e b u n g u n d W i e d e r g e b u r t tritt in der F i r m u n g d u r c h bis c h ö f l i c h e H a n d a u f l e g u n g u n d S a l b u n g die K r a f t des H e i l i g e n Geistes h i n z u , w e l c h e r die H e i l i g u n g des L e b e n s u n d die volle A u f n a h m e in die G e m e i n s c h a f t der K i r c h e b e w i r k t . Seit H r a b a n u s M a u r u s w i r d d a b e i im a l l g e m e i n e n s o d i f f e r e n z i e r t , d a ß die G e i s t g a b e in der T a u f e z u r V e r g e b u n g , in der F i r m u n g zur K r ä f t i g u n g b z w . als Infusio gratiae z u r sittlichen R e i n h e i t e r f o l g t . I n n e r h a l b der G n a d e n l e h r e differenziert die S c h o l a s t i k d a n n die W i r k s a m k e i t des G e i s t e s g e n a u e r .
4. Die Pneumatologie
im scholastischen
System
Das Aufblühen der Theologie im 12. Jh. führt zwar zunächst nicht zu einer Neubesinnung auf die Pneumatologie, bringt aber Fragestellungen, die auf eine weitere Bearbeitung drängen. Generell tritt die Pneumatologie hinter anderen Themen zurück. —»Anselm von Canterbury handelt sie konventionell im Rahmen seiner Trinitätslehre ab, welche über Augustin hinaus die innergöttlichen Relationen psychologisch zu beweisen versucht, und begreift den Hervorgang des Geistes als Akt der Liebe des Vaters zum Sohn, der sich soteriologisch darin auswirkt, daß der Geist durch sein Wirken im Herzen des Christen diesen den Weg zu Gott führt. Konsequenter thematisiert Abaelard den pneumatologischen Aspekt der menschlichen Neuwerdung: Christus vermittelt als Offenbarer der Liebe Gottes durch seine Lehre eine neue Gesinnung, indem er durch die (an das biblische Wort gebundene, institutionell nicht zu reglementierende) Ausgießung des Heiligen Geistes die Liebe zu dem weckt, was er lehrt, wobei der Geist der innertrinitarischen Bestimmung nach (mit Augustin) die Einheit in der Liebe ist. Damit stellt sich das Problem, wie die Einwohnung des Geistes als göttliche Person (Proprietät) von seinen Wirkungen (Appropriationen) zu unterscheiden ist. Die christologische Konzentration läßt bei Anselm und Abaelard ebenso wie bei ihren Schülern die heilsgeschichtlich-soteriologische Funktion des Geistes weitgehend zurücktreten. Entsprechendes zeigt sich auch in der Trinitätslehre der Viktorinerschule H»Sankt Viktor, Schule von) und in der monastischen Theologie des -h> Bernhard von Clairvaux, bei de-
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ren Rekurs auf die geistliche Erfahrung das Fehlen einer expliziten Pneumatologie besonders auffällt. Für Bernhard bewirkt Christus die Erleuchtung und Reinigung von Affekten; christliche Existenz verwirklicht sich in der Nachfolge Jesu kraft dessen Gnadenwirken, wobei Bernhard das dem Christen in der Erfahrung zugängliche Geistwirken eher marginal thematisiert: Der Geist teilt seine Gaben mit, dem Individuum in der Eingießung der Gnade die theologischen Tugenden, der Kirche in der effusio gratiae die Charismen (Sermo 18,1; PL 1 8 3 , 5 8 7 C; 1 4 , 1 - 7 , ebd. 5 7 4 f ) . Die ausführlichen Trinitätsspekulationen der Viktorinerschule bestätigen dies Bild. —»Hugo von St. Viktor interpretiert das heiligende Werk des Geistes, der als Geist Christi zugleich der Geist der Kirche ist, als Vermittlung religiöser Gewißheit: Er hebt durch die Erleuchtung den zunächst sich äußerlich an der Kirchcnlehre orientierenden Glauben auf eine höhere Stufe und entflammt den Christen dann zu einer Liebe, welche zu Gott führt (De sacr. 1,3,23; 4 , 1 6 ; 11,2,1). —»Richard von St. Viktor systematisiert die augustinische Konzeption (Geist sXsdonum und innertrinitarisch als amor patris et filii) in psychologisierender Weise so, daß die Eingießung des Heiligen Geistes als d e r p l e n i t u d o amoris debiti im Menschen dann erfolgt, wenn in diesem die geforderte Gottesliebe tatsächlich wirksam wird (De trin. VI,14).
Die durch Abaelard aufgeworfene Problematik, wie Heiliger Geist und Geistwirkungen zu unterscheiden sind, wird durch derartige Konzeptionen noch verschärft und im 12. J h . verschiedentlich diskutiert: Bleibt der Geist ein Gegenüber, welches die Liebe im Christen hervorruft, oder geht er selber motivierend und intensivierend in die Liebesfähigkeit ein? Eine eindrucksvolle Lösung schlägt —»Petrus L o m b a r d u s vor, indem er unter Berufung auf Augustin und Bibelstellen wie R o m 5 , 5 ; I J o h 4 , 1 6 den im Gläubigen einwohnenden Heiligen Geist mit der Caritas identifiziert, wie es vor ihm schon andere Theologen (z. B. Paschasius Radbertus, —»Wilhelm von St. Thierry) taten. D e r in das Herz eingegossene Geist ist als Gottes unmittelbare G n a d e n g a b e die dritte Person der Trinität selbst, für die - neben der ewigen processio ex patre filioque - auch ein zeitliches Heraustreten gilt; der Geist ist als gratia in p a r a d o x e r Einheit G a b e und G e b e r zugleich, er teilt sich in vielgestaltiger Form in Tugenden und Charismen mit, o h n e sich darin zu zerteilen, und wird so - in biblischem Sinne als existenzumwandelnde Kraft Gottes verstanden - zum S u b j e k t der Rechtfertigung und Aktprinzip der Heiligung, ein quasi habitus, eine quasi virtus im Christen (Sent. Üb. I, dist. 17,1—6). Diese Lehre des L o m b a r d e n erregt lebhaften Widerspruch ( z . B . bei —»Gilbert Porreta). In Antithese zu ihr differenziert man hinfort zwischen der Einwohnung des Heiligen Geistes und der göttlichen Liebe als gratia increata, für deren Mitteilung die übernatürliche Umwandlung des Christen durch die gratia creata die Voraussetzung bildet. Innerhalb der scholastischen Systematik stellt die unter dem N a m e n des —»Alexander Halesius tradierte Summa theologica die Gnadenlehre als eine personalistische T h e o l o g i e des Geistes dar und m a c h t damit deutlich, d a ß die hochscholastische Soteriologie mit ihren scheinbar intellektualistischen Differenzierungen des Gnadenwirkens eine anthropologisch durchreflektierte Interpretation der biblischen und augustinischen Pneumatologie liefert. In Neuaufnahme der altkirchlichen Geistchristologie wird der Heilige Geist als die in Jesus Christus manifestierte gratia unionis, die Gottheit und Menschheit verbindet und sich dem Leib Christi und dessen Gliedern mitteilt, interpretiert (tom. IV, n. 9 9 sol., n. 1 1 2 , sol.). Die Wirklichkeit der Begnadung wird - in der Einheit von gratia creata und increata — erfahrbar als Präsenz des Geistes Christi, in welcher sich die Begegnung des Menschen mit Gott selbst vollzieht. Der Geist (als donum und amor di tgratia increata, die personale Kraft, in der Gott aus sich heraustritt) bewirkt die innere Umwandlung des Menschen (dispositio) und die Bestimmung seiner Existenz durch Gott ( d e i f o r m i t a s , assimilatio durch Restitution der imago Dei; tom. IV, n. 6 0 8 sol., 6 0 9 sol.). Die soziologische Komponente dieser Konzeption wird - in Aufnahme von Ausführungen Hugos von St. V i k t o r - d u r c h die Idee von der gratia capitis in Christus, der Mitteilung des Geistes durch Christus an jeden Christen in prinzipiell gleicher Weise in Form einer pneumatischen Ekklesiologie entfaltet (tom. IV, n. 1 0 2 - 1 0 8 . 4 7 8 - 4 8 0 ) .
Demgegenüber tritt bei -h> T h o m a s von Aquin in der Darstellung der Gnadenlehre die explizite Thematisierung der Pneumatologie zurück, ist aber implizit ein wesentliches Strukturelement. Er interpretiert die mit Christus gesetzte G e g e n w a r t des Heiligen Geistes alsgratia spiritus in der Rechtfertigungslehre und Ethik so, daß die Aussagen über die Gnade an die Stelle der augustinischen Aussagen über den Geist treten. Im Widerspruch zu Petrus L o m -
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bardus differenziert T h o m a s — wie auch —»Albert der Gr. — zwischen der Einwohnung der trinitarischen Person {gratia increata) und der am Menschen wirkenden Geistgabe, welche die heiligmachende habituelle G n a d e enthält (nicht ist; eine Identifizierung von Geist und Gnade wird abgelehnt, weil das Unendliche nicht im Endlichen aufgehen kann: S. th. I, q 4 3 , a. 1 - 8 ; 11,2, q. 2 3 , a.2). Die Personalität des Geistes bleibt in der Rechtfertigungslehre gewahrt, denn er ist die Ursache der Gnade, welche wiederum die Voraussetzung dafür bildet, daß dem Christen die Geistesgaben und der Geist selber einwohnen können. Die Auffassung des Lombarden erscheint deswegen gefährlich, weil sie die Willensfreiheit und damit das Subjektsein des Menschen auszuschalten droht. W e n n für T h o m a s unter Einwirkung des Geistes im Christen ein übernatürlicher Habitus der Liebe zustandekommt, dann soll durch die Abwehr eines direkten pneumatologischen Bezuges die menschliche M i t w i r k u n g und Verantwortlichkeit gesichert werden. In Anlehnung an Augustin versteht er das „neue Ges e t z " Christi als die innerlich wirkende G n a d e des Heiligen Geistes, welche kraft des Habitus der Liebe im M e n s c h e n ein Handeln im „Gesetz der Freiheit" begründet und damit die Rechtfertigung ermöglicht (S.th.II/1, q. 1 0 6 a . 1 - 2 ) . Insgesamt liefert T h o m a s eine kunstvoll durchreflektierte Interpretation der biblischen Aussagen, daß christliche Existenz ein Leben aus dem Geiste im Geiste ist. Allerdings ist mit der Lehre von der habituellen G n a d e und der Konzentration auf die G a b e n des Geistes das Geistwirken in einem solchen M a ß e an die Sakramente gebunden, daß seine Freiheit fraglich wird. Für die Lehre von den sieben Geistesgaben (Jes 11,2), die besonders durch —»Hieronymus in der lateinischen Kirche ausgeprägt wurde und zum Grundbestand mittelalterlicher Pneumatologie gehört, bietet Thomas eine umfassende Systematisierung, welche in der Folgezeit nachhaltig wirkt. Eine der scholastischen Differenzierung zwischen Geistein wohnung als gratia increata und Begnadung als gratia creata vergleichbare Konzeption bietet sich in der griechischen Kirche mit der Energienlehre des —»Gregorios Palamas. Dieser nimmt die Spiritualität der Hesychasten (—»Hesychasmus), die auf die Gegenwart Gottes im Menschen durch Erleuchtung zielt, auf, sichert sich aber gegen eine mißverständliche Identifizierung des Unendlichen mit dem Endlichen dadurch, daß er zwischen Gottes Wesen (der ovaia, den trinitarischen Hypostasen) und Gottes Energien (seinem Außenbezug) unterscheidet. Alsovaia ist Gott unzugänglich, in den Energien teilt er sich den Menschen mit. Damit entfernt sich Palamas grundlegend von der altkirchlichen Lehre, wonach der Heilige Geist der Aspekt göttlicher Vermittlung sei, und setzt die Energienlehre an die Stelle der Pneumatologie, welche nun rein spekulativ als Problem des Gottesbegriffs abgehandelt wird. Den heilsgeschichtlichen Bezug des Seins Gottes gibt die palamitische Theologie auf; die Pneumatologie ist entgeschichtlicht und soteriologisch funktionslos.
M i t einer stärker personalistischen Konzeption in der Pneumatologie suchen —»Duns Scotus und Wilhelm von —»Ockham die göttliche Freiheit ebenso wie die menschliche zu sichern. Duns nähert sich der augustinischen Identifizierung von Caritas und gratia mit dem Heiligen Geist an, wie sie der L o m b a r d e gelehrt hat, und betont, daß der Geist zwar in Gestalt des eingegossenen Habitus dem Christen einwohne, aber auch als donum souveränes Gegenüber bleibe und die Glaubens-, Hoffnungs- und Liebesakte erwecke (Lect./Paris. I, dist. 17, q . l ; dist. 18). O c k h a m verstärkt dies noch durch seinen Voluntarismus und seine Modifizierung des Habitus-Begriffs der traditionellen Gnadenlehre, indem er die personalistisch als Zuwendung Gottes verstandene G n a d e mit dem Heiligen Geist identifiziert: Als göttliche Person kann dieser Geist nicht in menschliche Verfügbarkeit geraten; er bewirkt im Christen die Liebe, indem er dessen natürliche Fähigkeiten zum T u n des Guten freisetzt und dessen Willen lenkt (Sent. I, dist.17, q. 1; III, q. 5 u. 8). Folgerichtig löst O c k h a m auch die Bindung des Geistwirkens an die Sakramente und damit an die kirchliche Vermittlung auf, indem er Gottes Freiheit im sakramentalen Handeln betont. Derartige Ansätze zu einer personalistischen Pneumatologie werden dann in der reformatorischen T h e o l o g i e aufgenommen. In den Reflexionen der abendländischen —»Mystik bekundet sich — anders als in der Ostk i r c h e - g e n e r e l l ein auffälliges Zurücktreten der Pneumatologie, das sich im übrigen schon bei Dionysius Areopagita findet. Sie ist weithin Christus-, nicht Geistmystik. Das zeigen außer Bernhard, den Viktorinern und -^»Bonaventura exemplarisch die deutschen M y s t i k e r
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(anders dagegen z.B. —»Katharina von Siena). In Meister —»Eckharts Reden vom Seelenfünklein and von der Vereinigung des Menschen mit Gott fehlt ein konstitutiver pneumatologischer Bezug; sie sind vielmehr christologisch konzipiert (Christus als Bild Gottes und Inkarnation der Gottheit) und neuplatonisch formuliert. Anders steht es bei J. —»Tauler insofern, als dieser die Vereinigung des menschlichen Geistes mit Gott im Seelengrund als dessen Überformung durch Gottes ungeschaffenen Geist bezeichnen kann (Predigten, ed. F. Vetter 2 0 2 , 1 3 f; 2 0 8 , 1 3 f; 2 4 4 , l O f ; 2 6 3 , 7 f f u.ö.). Doch die christozentrische Grundkonzeption ist bei ihm wie auch bei H. —»Seuse und in der —»Theologia deutsch stärker ausgeprägt als bei Eckhart. Was er über die sieben Gaben des Heiligen Geistes ausführt (in weitgehendem Anschluß an Thomas) wirkt wie eine marginale Illustration der mystischen Grundgedanken durch die Interpretation herkömmlicher Kirchenlehre. Damit bestätigt die Mystik das Bild, welches die Scholastik bietet: Wohl spricht man vom Heiligen Geist, meist in konventioneller Verarbeitung von Traditionsgut, aber nur selten theologisch zentral. Abseits der spekulativen Verarbeitung der tradierten Konzeptionen macht sich die innovatorische Kraft der pneumatologischen Reflexion im 12./13. Jh. in den geschichtstheologischen und ekklesiologischen Entwürfen von Kirchenreformern und -kritikern verschiedener Prägung bemerkbar, veranlaßt durch ein neues Fragen nach der heilsgeschichtlichen Funktion der Kirche und dem Wirken des Geistes. Dies zeigt sich z. B. auch in den vielfältigen Stiftungen von Heilig-Geist-Hospitälern und in den Heilig-Geist-Bruderschaften (—»Bruderschaften) seit dem 13. Jh. K r i t i k an k i r c h l i c h e n M i ß s t ä n d e n und R e f o r m f o r d e r u n g e n f ü h r e n zur E r w a r t u n g eines bald a n b r e c h e n d e n Z e i t a l t e r s des Heiligen G e i s t e s b z w . eines G e i s t - G e r i c h t s bei —»Rupert von D e u t z und —»Gerh o c h v o n R e i c h e r s b e r g , die in eine t r i n i t a r i s c h - c h r i s t o z e n t r i s c h e G e s c h i c h t s d e u t u n g e i n g e b e t t e t ist. D i e H o f f n u n g k n ü p f t an die t r a d i t i o n e l l e L e h r e von der P r ä s e n z der sieben G e i s t e s g a b e n in der K i r c h e a n : D e r „ G e i s t der F r ö m m i g k e i t " als L e b e n s p r i n z i p d e r K i r c h e soll alle G o t t l o s i g k e i t ü b e r w i n d e n . Bei —»Joa c h i m v o n F i o r e s p r e n g t die e s c h a t o l o g i s c h e G e i s t h o f f n u n g die k i r c h l i c h e n F o r m e n ; er f o r m u l i e r t die N a h e r w a r t u n g eines Z e i t a l t e r s des G e i s t e s als eines R e i c h e s d e r V o l l e n d u n g und der F r e i h e i t in L i e b e und F r e u d e im R a h m e n s e i n e r t r i n i t a r i s c h e n G e s c h i c h t s t h e o l o g i e , w o n a c h das g e g e n w ä r t i g n o c h and a u e r n d e Z e i t a l t e r des S o h n e s in d e r K i r c h e der K l e r i k e r u n d S a k r a m e n t e bereits e r k e n n b a r a b g e l ö s t w i r d d u r c h die K i r c h e des G e i s t e s , w o geistliches S c h r i f t v e r s t ä n d n i s und a s k e t i s c h e L e b e n s f ü h r u n g den C h a r a k t e r des C h r i s t e n t u m s b e s t i m m e n . S p i r i t u a l i s t c n aus den R e i h e n des F r a n z i s k a n e r o r d e n s d e u t e n diesen e s c h a t o l o g i s c h e n Ansatz radik a l - k i r c h e n k r i t i s c h u m und identifizieren in e n t h u s i a s t i s c h e m E r w ä h l u n g s b e w u ß t s e i n die n e u e a s k e t i s c h e B e w e g u n g als die bereits realisierte G e i s t k i r c h e . Ein n o c h r a d i k a l e r e r E n t h u s i a s m u s b e g e g n e t bei den A n h ä n g e r n des —»Amalrich v o n Betia a u f der G r u n d l a g e e i n e r an — » J o h a n n e s S c o t u s E r i u g e n a o r i e n t i e r t e n p a n t h e i s t i s c h e n T r i n i t ä t s s p e k u l a t i o n : D e r H e i l i g e G e i s t i n k a r n i e r t sich neu in den A m a l r i k a n e r n und o f f e n b a r t ihnen die g a n z e W a h r h e i t , s o d a ß sie in i h r e r e r l e u c h t e t e n E x i s t e n z die A u f e r s t e h u n g a n t i z i p i e r e n . A u c h die —»Brüder (und S c h w e s t e r n ) des freien G e i s t e s m i t i h r e m L e b e n im G e i s t der F r e i h e i t müssen im Z u s a m m e n h a n g dieses p n e u m a t i s c h e n N e u a u f b r u c h s g e n a n n t w e r d e n .
Morphologisch gesehen erweist damit der erstmals im Montanismus virulent gewordene Typ von Pneumatologie einmal mehr seine Kraft in sporadischer, situationsspezifischer Aktualisierung einer die Institution und das Dogma sprengenden Geisterfahrung. Mit den verschiedenen Formen des Spiritualismus ist seit dem 12./13. Jh. eine Thematisierung der Pneumatologie abseits kirchlicher Lehren gegeben, die mehr oder weniger kontinuierlich bis in die Neuzeit hinein wiederkehrt. 5. Pneumatologiscbe
Neuorientierung
in Reformation
und früher
Neuzeit
Die Reformation bringt mit der Neubesinnung auf die Christologie als Zentrum des Christentums und mit ihrer daraus resultierenden Worttheologie eine neue Profilierung der Pneumatologie. Trotz starker Orientierung an Augustin kehrt diese sich von der mittelalterlichen Tradition (die der Katholizismus mit dem ^ T r i d e n t i n u m fortschreibend fixiert) in so entscheidenden Punkten ab, daß sie innerhalb der Geschichte der Lehre vom Heiligen Geist einen eigenen Typ repräsentiert. Dieser pneumatologische Aufbruch dürfte im Zusammenhang mit der Tatsache stehen, daß die Reformation eine Grundlagenkrise des abendländi-
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sehen Christentums zu bewältigen versucht. Auffällig ist im Vergleich zum Mittelalter, wie stark die Bedeutung der Geistaussagen im Rahmen der theologischen Konzeptionen fast aller Reformatoren hervortritt, auch wenn sie nicht immer explizit reflektiert wird. Dies liegt an der durchgängigen Neuformulierung von Soteriologie und theologischer Prinzipienlehre, die den Akzent auf die personale Zuwendung Gottes in Jesus Christus legt und von dort her das Vermittlungsproblem pneumatologisch löst. Die Themen „Wort und Geist" sowie „Rechtfertigung und Heiligung" erweisen sich als Schwerpunkte bis ins 17./18. Jh. Dabei ist für die reformatorische Pneumatologie die Neubelebung des altkirchlichen Bekenntnisses bzw. des Trinitätsdogmas charakteristisch: Der Heilige Geist wird in seiner Personalität und Gottheit streng als Gegenüber zum Menschen verstanden. Die verschiedenen Positionen des —»Spiritualismus bieten dagegen einen anderen Ansatz und bereiten den tiefen Traditionsbruch vor, den die klassische Pneumatologie mit Pietismus und Aufklärung erfährt. Die Auflösung der Pneumatologie im Rationalismus kann ebenfalls als Krisensymptom gedeutet werden. 5.1. M. —»Luther bringt gegenüber der augustinisch-scholastischen Tradition einen Neuansatz durch die radikale christologische Konzentration der gesamten Theologie, die zur Folge hat, daß er die bisherige ontologische Sichtweise durch eine personalistische ablöst. Die daraus resultierenden Konsequenzen für das Verhältnis von Natur und Gnade, für das Verständnis des Wesens der—»Gnade, des Gottesbegriffes (—»Gott) und Menschenbildes (—»Mensch) führen zu einer Umformung auch der Pneumatologie. Diese liegt allerdings bei Luther nicht in Form einer systematischen Lehre entwickelt vor. Seine Schriften thematisieren sie nicht eigens, vielmehr kommt er vor allem in praxisbezogenen Aussagen auf den Geist zu sprechen (im Katechismus, in Chorälen und Pfingstpredigten, in Tröstungen gegenüber der -^Anfechtung): Pneumatologie ist bei ihm ein assertorisches Reden von der nur dem Glauben zugänglichen Realität des Heiligen Geistes, ein Bekenntnis zur Alleinwirksamkeit Gottes und ausschließlichen Mittlerschaft Jesu Christi. Das Reden vom Wirken des Geistes gehört gleichwohl ins Zentrum seiner Theologie und ergibt sich folgerichtig aus seinem reformatorischen Ansatz, der christozentrischen Rechtfertigungslehre, die das Verständnis des dem solo Christo-solo verbo korrespondierenden sola fide durch den Hinweis auf den Geist absichert: Der im Wort begegnende Geist Gottes wirkt den —> Glauben. Das ist der Zentralgedanke der lutherischen Pneumatologie. Demgemäß entwickelt diese sich im Rahmen seiner Hermeneutik seit der ersten Psalmenvorlesung 1513—1515, wobei sie ihre eigentliche Präzisierung seit 1517/18 durch die Klarheit, mit der das äußere Wort als Heilsmittel herausgestellt wird, erfährt. Das —»Wort Gottes bildet schon 1 5 1 3 ff den Ausgangspunkt seiner Theologie. G o t t hat sich an das W o r t gebunden, außerhalb desselben gibt es keine Offenbarung. Zwischen dem äußeren W o r t als fordernder oder verheißender Anrede und dem durch dieses vermittelten inneren Wort als überzeugender Erleuchtung muß unterschieden werden, aber sie dürfen nicht getrennt werden. Der Heilige Geist benutzt das äußere Wort (welches gleichzusetzen ist mit dem Buchstaben bzw. Gesetz), um in der F o r m des inneren Lichtes als Geist bzw. Evangelium im menschlichen Herzen zu wirken (z. B. W A 5 5 / 1 / 1 , 1 7 1 f. 2 4 8 ) . Schon in der Frühphase der Lehrentwicklung wendet sich also Luthers Pneumatologie gegen den Spiritualismus. Das W o r t des Geistes im eigentlichen Sinn ist Evangelium, Wort der Gnade, welches bringt, was es verheißt, nämlich Christus und seinen Geist. „Geistlich" ist demnach alles, was im Licht der Heilstat Christi, der Inkarnation und des Kreuzes verstanden wird; im Geist existieren heißt, aus dem Glauben an Christus, an den verhüllt-offenbaren Gott, heraus zu leben.
Gegenüber der augustinischen Tradition, an der Luther sich zunächst orientiert und deren christologische Fundierung der Pneumatologie er beibehält, verändert er entscheidendes: Wort und Geist gehören zusammen, der Geist wird nicht mit der Liebe Gottes identifiziert und als eine supranatural-wesensverändernde Kraft verstanden, die ein gottgemäßes Handeln ermöglicht, sondern ist Gottes schöpferische Gegenwart im Wort der Schrift, die Glauben und damit eine neue Existenz realisiert. Luther setzt anders als die bisherige Tradition nicht erkenntnistheoretisch oder ethisch bei der Frage an, wie der Mensch zu Gott gelangen könne, sondern offenbarungstheologisch bei derjenigen, wie Gott zum Menschen kommt. Der scheinbare Widerspruch in dem Gedanken, daß der Geist einerseits Schöpfer
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der neuen Existenz, andererseits aber Gabe an den Glaubenden ist, löst sich vom christozentrischen Ansatz der Rechtfertigungslehre her. Der Geist bringt den Hörer des Wortes, indem er Glauben in ihm weckt, zu Jesus Christus, erhält ihn in diesem Glauben und bewahrt ihn in einem christusgemä.ßen Lebenswandel (z. B. WA 30/1,188. 3 6 7 f ; 39/1,188). Insofern ist der Geist die Größe, welche die für die Christenexistenz konstitutive Gleichzeitigkeit des glaubenden Subjekts mit der Heilstat Christi bewirkt und den historischen Abstand überbrückt. Das extra me Christi wird im Geist zum pro me\ ohne das Geistwirken bleibt das Heil völlig verschlossen. Für sich betrachtet ist der Mensch coram Deo „Fleisch", total sündig (auch in seinem geistigen Vermögen); „Geist" ist er als von Gott in Christus Angenommener. So sichert die Pneumatologie das Prinzip des sola gratia: Der Glaube ist nicht menschliches Werk, sondern Gabe Gottes. Nur so wird Heilsgewißheit ermöglicht, zugleich wird aber auch dadurch die Frage nach der Prädestination gestellt, weil der Geist wirkt, wo und wann es Gott gefällt (wie Luther immer wieder betont: WA 2,1 ff; 10/1/2,378,26ff; 1 4 , 6 8 1 , 2 0 f f u.ö.). Durch den Rekurs auf den Heiligen Geist wird jede „Werkerei" aus der Rechtfertigungslehre auch insofern ausgeschlossen, als der Geist die neue, aus dem Glauben automatisch erwachsende Aktivität des Christen wirkt, die sich nicht in äußerlich am Gebot Gottes orientierten Werken, sondern in innerlich dem Willen Gottes entsprechenden „Früchten des Geistes" darstellt (so z. B. gegen die Antinomer WA 39/1,244f; 4 2 8 , 1 6 f f ; 4 3 5 , 1 8 ff u.ö.). Gegen jeden Synergismus betont Luther auch hier die schöpferische Tätigkeit des Geistes, der in seinen Gaben als Gott anwesend ist. Von dieser Pneumatologie her integriert sich die Ethik in die Rechtfertigungslehre; sie tritt allerdings hinsichtlich der Akzentuierung hinter dieser zurück: Das Werk der „Heiligung" (als zusammenfassender Begriff der Tätigkeit des Geistes) ist primär auf das Wort, auf das Ankommen des Evangeliums bezogen und besteht inhaltlich im Glauben, im neuen Selbstverständnis. D i e s zeigt die k l a s s i s c h e Z u s a m m e n f a s s u n g im Großen Katechismus zum 3. Artikel ( W A 3 0 / 1 , 1 8 7 f f ) : D e r G e i s t als K r a f t der V e r m i t t l u n g b r i n g t u n s C h r i s t u s n a h e im V e r s t e h e n und A u f n e h men des E v a n g e l i u m s . M i t t e l dieser H e i l i g u n g ist der Z u s p r u c h d e r S ü n d e n v e r g e b u n g im ä u ß e r e n W o r t der Predigt u n d im S a k r a m e n t . D e r O r t , an d e m die H e i l i g u n g p r a k t i z i e r t w i r d , ist die K i r c h e , ihr Z i e l das e w i g e L e b e n . D a b e i s o r g t der G e i s t d a f ü r , d a ß r e c h t g e p r e d i g t w i r d , w o m i t er die A n n a h m e des W o r tes e r m ö g l i c h t . D a die d u r c h den G l a u b e n g e p r ä g t e C h r i s t e n e x i s t e n z in der S p a n n u n g d e s s t m u l iustus et peccator steht, l e b t sie v o n der S ü n d e n v e r g e b u n g in d e r T r ö s t u n g des a n g e f o c h t e n e n —»Gewissens d u r c h den G e i s t als den T r ö s t e r s c h l e c h t h i n . C h r i s t l i c h e s L e b e n als H e i l i g u n g , d. h. als L e b e n a u s der K r a f t des G e i s t e s , stellt sich k o n k r e t als Leben aus d e m und u n t e r d e m W o r t G o t t e s d a r .
Der Heilige Geist wirkt für Luther nicht direkt, indem er sich auf charismatische, enthusiastische, mystische, spekulative oder sakramentale Weise mit dem Menschengeist verbindet. Das die altkirchliche und mittelalterliche Pneumatologie prägende Interesse an einer derartigen Verbindung teilt Luther nicht. Für ihn bleibt der Geist striktes Gegenüber; er wirkt indirekt durch das Wort der Schrift und der Predigt sowie durch die Sakramente als seine Instrumente. Deswegen können die Geistwirkungen auch als Wirkungen des Wortes beschrieben werden. Das betont Luther immer wieder gegen die Spiritualisten (z. B. WA 1 8 , 1 3 6 , 9 f f ) , aber es gilt auch gegen den römischen Sakramentalismus und den humanistischen Skeptizismus eines Erasmus. Der Geist teilt sich weder durch spezielle Offenbarungen dem frommen Individuum mit noch bindet er sich an eine institutionelle Verfügbarkeit durch die Kirche. Er bleibt in der Bindung an das Wort frei. Der Grund für Luthers Polemik gegen Schwärmertum und Papstkirche liegt wieder in der christologischen Konzentration der Pneumatologie. Da Christus der einzige Heilsweg bleibt, würde ein direktes (enthusiastisches oder sakramentales) Geistwirken seine Mittlerschaft konkurrierend beeinträchtigen. Der Inkarnation Christi entspricht die Inverbation des Geistes. Das hat Konsequenzen für die Ekklesiologie: Die vom Geist geleitete Kirche ist die Versammlung unter dem Wort, nicht die Geistkirche der entschiedenen Aktivisten oder die Hierarchie der den Geist verwaltenden Priester. Wie der Geist im Wort verhüllt ist, so ist die wahre Kirche verborgen, wenngleich an ihren Zeichen erkennbar. Doch gegen alle Zweifel vermittelt der Geist die Wahrheit klar und erhält so die Kirche: Spiritus sanetus non est Scepticus (WA 1 8 , 6 0 5 , 3 2 ) .
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5.2. Durch das —>Augsburger Bekenntnis findet die lutherische Pneumatologie in der Formulierung Ph. —»Melanchthons — ebenso wie durch die prägnante Aussage des Kleinen Katechismus - Eingang in breiten Kreisen der evangelischen Kirche: Der rechtfertigende Glaube kommt beim Hören des Evangeliums durch das Geistwirken zustande und lebt sich in den guten Werken als den Früchten der Rechtfertigung aus (CA 4—6). Diese Lehre versteht sich als Interpretation des altkirchlichen Bekenntnisses (CA 3,5). Gegen die Spiritualisten wird das Geistwirken als Wortgeschehen begriffen (CA 5,2). Die neue, gottgefällige Existenz in der Heiligung gründet sich in der Erneuerung des Willens durch den Heiligen Geist (CA 3,5; 18,2—3). In der Vorform des Bekenntnisses (Na) hat Melanchthon aufgrund seiner Orientierung an Augustin die pneumatologische Fundierung der Rechtfertigungslehre stärker betont; die dadurch entstehende Konkurrenz zur christologischen Fundierung ist dann im Augsburger Bekenntnis zugunsten der letzteren abgebaut. Die Bedeutung der Pneumatologie bleibt, noch klarer erkennbar später in der CA variata und CA graeca. Mit der auch im Augsburger Bekenntnis anklingenden Affektenlehre (—»Affekt), die er erstmals in den Loci von 1521 im Anschluß an Augustin, J. —»Gerson und M. —»Ficino vorträgt, bietet Melanchthon ein bedeutsames Spezifikum gegenüber Luther. Die in der Herrschaft der schlechten Affekte sich manifestierende Sündigkeit wird im Gläubigen verdrängt durch den Geistempfang, welcher durch die neuen Affekte (deren grundlegender der Glaube als fiducia ist) die Erfüllung des Gesetzes ermöglicht. So wird die Erlösung unmittelbar erfahren, indem Gottes Geist die Seele prägt. (Diese Pneumatologie berührt sich mit derjenigen der Spiritualisten, woraus sich Melanchthons anfängliche Unsicherheit gegenüber dem Schwärmertum erklärt.) Auf die Rechtfertigung, die Melanchthon zunehmend rein imputativ als Sündenvergebung versteht (was seit 1532 die für ihn und seine Schüler typische Lehrform bildet), folgt die als Wesensveränderung verstandene-^Wiedergeburt. Mit der psychologischen Orientierung der Pneumatologie entspricht er dem neuzeitlichen Interesse an der Verbindung von Glaube und —»Erfahrung, wie es im —»Humanismus und Spiritualismus zum Ausdruck kommt. Morphologisch gesehen, nähert sich seine Pneumatologie dem altkirchlichen Lehrtypus. Ihr Schwergewicht verlagert sich in die Ethik, wodurch Melanchthon die weitere Lehrentwicklung im Luthertum prägt. Anders als bei Luther treten für Melanchthon Wort und Geist auseinander. Zur Verheißungsgnade im Wort, die der Glaube ergreift, muß die Geistgnade treten, welche die innere Umwandlung, den Geistglauben und das neue Leben ermöglicht. Melanchthon kennt nicht wie Luther die personale Unmittelbarkeit der Christusbeziehung, deswegen muß der Glaube die heilsgeschichtliche Distanz überbrücken. Die unmittelbare Präsenz Gottes bildet der Geist. Er begründet die Heilsgewißheit und bringt als Liebe den lebendigen Willen Gottes zur Geltung, der seinen Ausdruck in der lex spiritualis bzw. lex viva findet, welche dem natürlichen Selbstbehauptungstrieb des Menschen entgegentritt und diesem die Sündhaftigkeit existentiell einsichtig macht. Mit dieser Auffassung von Geist und Gesetz, die er aus Augustin übernimmt, unterscheidet Melanchthon sich von Luther, welcher eine derartige Unmittelbarkeit des Geistwirkens ablehnt. Ist bei diesem die Christologie das systematische Prinzip aller Theologie, so wird es bei Melanchthon die Pneumatologie. Die Folge ist eine Ethisierung von Anthropologie und Rechtfertigungslehre, die den Gegensatz von Fleisch und Geist nicht mehr wie bei Luther als Totalaussage coram Deo, sondern als partielle Wesensbeschreibung versteht. Ziel des Christen muß es sein, sein Fleisch-Sein zugunsten der Bestimmung durch den Geist zu überwinden. Die Heiligung wird somit in dem von Melanchthon geprägten Luthertum zentrales Thema der Pneumatologie.
5.3. Alle großen Reformatoren außer Luther übernehmen aus dem Humanismus und ihrer Augustinlektüre die platonisierende Grundtendenz, Geist und Fleisch im Sinne von innerlich/unsichtbar - äußerlich/sichtbar entgegenzusetzen. Damit verbindet sich ein starkes Interesse an christlicher Praxisgestaltung, weswegen die Veränderbarkeit des Menschen unter Wahrung des evangelischen Ansatzes bei der Alleinwirksamkeit und Unverfügbarkeit Gottes zum zentralen Thema wird. Erstmals deutlich tritt dieser Unterschied — abgesehen von den Spiritualisten — bei U. -H>Zwingli hervor. Für Zwingiis gesamte Theologie besitzt die Pneumatologie konstitutive Bedeutung. In der Forschung ist früher dies Charakteristikum meist als „Spiritualismus" bezeichnet worden, doch werden dadurch die Konturen eher verwischt. Verglichen mit den charakteristi-
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sehen Merkmalen des Spiritualismus (s.u.), ist Zwingli kein Spiritualist, bietet allerdings gewisse spiritualistische Tendenzen. Unter den Reformatoren kann er ebenso wie Bucer und Calvin als der große Pneumatologe gelten. Gott ist Geist, der Mensch aber Fleisch: Von der Spannung dieser biblischen Aussage sind fast alle Einzellehren Zwingiis geprägt. Da G o t t als Geist (in Anlehnung an Augustins Lehre) das Sein selbst und das höchste Gut ist, folgt die Selbstoffenbarung in Jesus Christus und die Mitteilung seiner Güte im Heiligen Geist gleichsam notwendig aus seinem Wesen. Alle Gottes- und Wahrheitserkenntnis wird somit durch Gott selbst im Heiligen Geist vermittelt, wobei dieser nicht an die Heilsgeschichte im engeren Sinne gebunden ist, sondern auch bei besonders qualifizierten Heiden wirkt. Aus jenem Gottesbegriff folgt der logische Z u s a m m e n h a n g von Pneumatologie und Prädestinationslehre im Sinne eines philosophischen Determinismus: Als G r u n d des Seins wirkt Gott in allen Kreaturen, entweder zur Sünde oder durch seinen Geist z u m Guten; er gibt sich in der Erleuchtung des Verstandes demjenigen zu erkennen, welchem er in souveräner Freiheit seinen Geist schenkt. Diese Betonung der göttlichen Souveränität veranlaßt Zwingli seit 1524 im Z u s a m m e n h a n g seiner Reflexion über die Abendmahlsdeutung, die frühere problemlose Z u o r d n u n g von äußerem W o r t der Schrift und innerlichem Geistwirken zugunsten einer scharfen T r e n n u n g von W o r t und Geist aufzugeben, die aus seiner Abgrenzung gegen den katholischen Sakramentalismus u n d alle institutionelle Sicherung der göttlichen Z u w e n d u n g resultiert. Der Glaube wird nicht durch das W o r t , sondern durch den Geist bewirkt, der als verbum internum den Menschen so überzeugt, daß er dem Verkündigungswort als dem Erkenntnisgrund vertraut. Dementsprechend sind die Sakramente Hinweise auf die heilvolle Geistgegenwart. Ist der natürliche Mensch durch Gottferne und Geistlosigkeit bestimmt (wobei Zwingli die altchristliche Identifizierung der Erbsünde mit d e m Verlust des Gottesgeistes a u f n i m m t ) , so ist der Christ durch die Geistgabe von der Störung seiner N a t u r geheilt u n d fähig, als ein von Gott Gerechtgemachter d u r c h einen Prozeß fortschreitender Heiligung kraft des Geistes die göttliche Gerechtigkeit in sich zu realisieren. D a d u r c h gewinnen die Werke als Früchte des Geistes und Zeichen der Rechtfertigung einen anderen Stellenwert als bei Luther, ebenso die Notwendigkeit einer christlichen Veränderung der Welt im Sinne einer Anpassung an den Geist, den Willen Gottes.
O h n e einem Synergismus zu verfallen, kehrt Zwingli mit seiner pneumatologischen Struktur der Rechtfertigungslehre zum augustinisch-scholastischen Ansatz zurück. Im Unterschied zum lutherischen repräsentiert er damit einen eigenen Lehrtypus innerhalb der evangelischen Pneumatologie, der in der Folgezeit — auch ohne direkten zwinglianischen Einfluß — verschiedentlich variiert begegnet. M . —»Bucer nimmt Zwingiis pneumatologische Konzentration auf. Rechtfertigung bedeutet für ihn A n n a h m e des Menschen durch Gott als dessen Kind, die sich in der Geistverleihung ausdrückt, als deren Zeichen der gute Lebenswandel erscheint. Durch die Betonung der Allwirksamkeit Gottes im Geist wird die Rechtfertigungslehre zur Wiedergeburtslehre (vgl. auch Art. 3 - 6 der —»Confessio Tetrapolitana). Die Besonderheit und Wirkung von Bucers Pneumatologie liegt in der Verbindung mit der Ekklesiologie, w o d u r c h er Intentionen des täuferischen Gemeindeideals aufnehmen kann. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen gründet sich in deren Geistbegabung, die in der (durch die —» Kirchenzucht zu kontrollierenden) Heiligung demonstriert wird. In anderer Weise f ü h r t H. —»Bullinger Zwingiis Ansatz durch seine Integration der Pneumatologie in die Bundestheologie fort, w o d u r c h seine Gotteslehre ebenso wie Rechtfertigungslehre, Ethik und Ekklesiologie pneumatologisch orientiert sind (wirkungsgeschichtlich bedeutsam durch die Z u s a m m e n f a s s u n g in der —»Confessio Helvetica Posterior 1566). In der späteren reformierten Tradition sind derartige Ansätze aufgenommen, wenngleich durch den Einfluß Calvins überlagert worden. Die zentrale und konsequente Berücksichtigung der Pneumatologie im theologischen System bei J. —»Calvin bildet den H ö h e p u n k t der reformatorischen Neuentdeckung des Heiligen Geistes. Danach ist alles Handeln Gottes gegenüber der Welt (wie bei Origenes in drei konzentrischen Kreisen abgestuft gedacht: gegenüber dem Kosmos, der Menschheit, der Christenheit) in seiner Wirkung durch den Geist vermittelt. Nicht zufällig thematisiert Calvin deswegen die Pneumatologie ausführlich im Z u s a m m e n h a n g der Soteriologie und Ekklesiologie (Buch III und YV der Institutio von 1559), berücksichtigt sie aber auch bei der Erörterung der natürlichen Gotteserkenntnis und Moral: Von dem universellen, der N a t u r des Menschen in gebrochener Weise zuteil werdenden Geistwirken (welches eine gewisse Erkenntnis und allgemein-humane Geistesgaben vermittelt) ist dessen Vollgestalt im Rahmen
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des Heilswerkes Christi zu unterscheiden. W a h r e Gotteserkenntnis wird nur durch die Offenbarung in W o r t und Geist zuteil, wobei Calvin in scheinbar spiritualistischer Weise zwischen der äußeren Ansprache durch Schrift und Predigt und der inneren Erleuchtung differenziert. Die Glaubwürdigkeit der Schrift bezeugt G o t t selbst durch das innere Zeugnis des Geistes, doch der Geist wirkt nicht am W o r t vorbei. Traditionsgeschichtlich gesehen, k o m m t hier platonischer und augustinischer Einfluß zum T r a g e n ; theologisch gesehen, dient jene Differenzierung wie die gesamte Pneumatologie dem Anliegen, die Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes zu sichern. G o t t als Geist ist stets creator, nie bloß cooperator. D a r u m geht es auch in Calvins Soteriologie, die vom Erwählungsgedanken her durch Rekurs auf das Wirken des Heiligen Geistes im Christen dessen Neuwerdung in Rechtfertigung und Heiligung als einheitliches Handeln Gottes begreift und insofern das zusammenschaut, was die melanchthonisch-lutherische Lehrform tendenziell trennt. In seiner Systematisierung bringt Calvin die durch die scholastische Gnadenlehre eher verdeckte Intention Augustins, korrigiert durch die stärkere christologische Konzentration, neu zur Geltung: Die durch Christus vermittelte G n a d e G o t t e s realisiert sich durch das Geistwirken, einerseits innerlich im Christen durch die Früchte des Geistes, andererseits äußerlich in der Kirche durch die W e r k e des Geistes. Im Aufbau von Inst. III wird die Aneignung des Heils als Konkretion der operatio Spiritus (111,1) dargestellt: Glaube (2), Buße ( 3 - 5 ) , christliches Leben in Leiden, Hoffnung und Aktivität ( 6 - 1 0 ) , Rechtfertigung ( 1 1 - 1 8 ) , Freiheit (19), Gebet (20), Erwählung (21 - 2 4 ) , Auferstehung (25). Der Heilige Geist als das vinculum der communio cum Christo verwirklicht diese, indem er sie als unio cum Christo ins Bewußtsein bringt und in der««io die Wiedergeburt, die Realisierung der ursprünglichen Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit, durch Rechtfertigung und Heiligung vermittelt. Das Leben der Christen leitet der Geist durch das mit seiner Kraft in der Freiheit des Gehorsams zu erfüllende Gesetz im usus paedagogicus (vgl. 11,7,6). Deswegen sind die Werke als Früchte der Wiedergeburt ein Zeichen für die Präsenz des Heiligen Geistes und damit des rechtfertigenden Christusglaubens im Christen und insofern auch ein Hinweis auf die in Gottes Freiheit begründete Erwählung (111,14,18 ff). Die Prädestinationslehre ist bei Calvin wie die Ethik durch die Pneumatologie bestimmt und dadurch der Soteriologie eingeordnet. Auch die Ekklesiologie und Sakramentenlehre (Inst. IV) sind durch die Pneumatologie geprägt, wobei Calvin einen Mittelweg zwischen der Position der Schwärmer (enthusiastische Freiheit des Geistes von aller Form) und der Position Roms (institutionelle Verfügbarkeit des Geistes in Amt, Sakrament, Recht) geht. Kirche ist die unsichtbare Gemeinschaft der durch den Geist Geheiligten, zugleich aber sichtbar in der Kontinuität der reinen Lehre, die dem Geist entspricht. Im Streit um das —»Abendmahl erweist sich der pneumatologische Grundzug der calvinischen Lehre als bedeutsam: Die Gegenwart Christi im Abendmahl ist durch den Heiligen Geist vermittelt; die substantia von Leib und Blut in den Elementen ist mit einer virtus verbunden, welche der Geist ist; im Geist aber ist der erhöhte Christus als Person gegenwärtig. So wirkt sich Calvins Axiom, daß man Christus nicht von seinem Geist trennen kann, in einer nach zwei Seiten offenen, sowohl gegenüber den Zwinglianern als auch gegenüber den Lutheranern vermittlungsfähigen Lehre von der „Geistpräsenz" aus. Allerdings macht seine dem Wortverständnis entsprechende Trennung von Abendmahlsempfang und Geistmitteilung seit dem —>Consensus Tigurinus 1549 eine Verständigung mit dem Luthertum, welches die Pneumatologie in der Abendmahlslehre zurücktreten läßt, unmöglich. Die Wirkungsgeschichte von Calvins Pneumatologie erstreckt sich - zumal im Z u s a m menhang des T h e m a s H e i l i g u n g - ü b e r die reformierte O r t h o d o x i e (z. B. in der Perseveranzlehre des Prädestinationsdogmas der —»Dordrechter Synode 1 6 1 8 / 1 9 ) auf den -^»Puritanismus und über Erfahrungs- und Gewissenstheologen wie William Perkins und W . —»Arnes auf den frühen —»Pietismus. 5 . 4 . Ein erheblicher Teil der reformatorischen Bewegung ist durch den —»Spiritualismus geprägt, aus dessen Pneumatologie sich derartige Konsequenzen für die Ethik und Ekklesiologie ergeben, daß damit — trotz der erheblichen Vielfalt der Positionen — ein eigener F r ö m migkeits- und Kirchentyp entsteht, der teils neben dem, teils innerhalb des offiziell etablierten Protestantismus in die weitere Neuzeit hineinwirkt. Auch wenn der Spiritualismus weder lehrmäßig noch organisatorisch als Einheit zu begreifen ist, kann er insofern als ein pneumatologischer T y p zusammengefaßt werden, als er konsequent alle Vermittlungsformen für
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das Geistwirken negiert und sich v o m kirchlichen D o g m a absetzt. In ihm k o m m e n einzelne E l e m e n t e der altchristlich-mittelalterlichen P n e u m a t o l o g i e , v e r b u n d e n mit einer typisch neuzeitlichen G r u n d h a l t u n g , z u m Z u g e , a b e r i n s g e s a m t f ö r d e r t er eine A u f l ö s u n g der t r a dierten L e h r f o r m , die d a n n im 1 8 . J h . allgemein z u t a g e tritt. Sein C h a r a k t e r als P r o t e s t b e w e g u n g und seine s t a r k e V e r b r e i t u n g w ä h r e n d des 1 6 . / 1 7 . J h . bestätigen die V e r m u t u n g , d a ß p n e u m a t o l o g i s c h e N e u a u f b r ü c h e im Z u s a m m e n h a n g mit der B e w ä l t i g u n g e l e m e n t a r e r Krisen des C h r i s t e n t u m s stehen. F ü r die D o g m e n g e s c h i c h t e besitzt er n u r m a r g i n a l e Bedeut u n g , weil er sich der p r o d u k t i v e n B e a r b e i t u n g k i r c h l i c h e r L e h r e n entzieht. C h a r a k t e r i s t i s c h e M e r k m a l e der v e r s c h i e d e n e n F o r m e n des r e f o r m a t o r i s c h e n Spiritualismus sind: die B e s t i m m u n g der w a h r e n W i r k l i c h k e i t als Geist, die o n t o l o g i s c h e V e r b i n d u n g zwischen G o t t e s g e i s t u n d M e n s c h e n g e i s t , die u n m i t t e l b a r e G o t t e s g e m e i n s c h a f t im Geist, der u n m i t t e l b a r e Z u g r i f f a u f die W a h r h e i t d u r c h direkte u n d spezielle O f f e n b a r u n gen, die völlige A b w e r t u n g der ä u ß e r e n Heilsmittel ( W o r t , S a k r a m e n t e , K i r c h e ) , die Antithese v o n Geist u n d Schrift b z w . die P r i o r i t ä t des ersteren, d e r als G e i s t w e r d u n g definierte H e i l s w e g , der individualistische b z w . antiinstitutionelle K i r c h e n b e g r i f f (Christen als freie G e i s t t r ä g e r ) , der enthusiastische W i d e r s p r u c h gegen die „ W e l t " als d a s Widergeistliche. Ü b e r derartige, im einzelnen zu differenzierende u n d n i c h t für alle g l e i c h e r m a ß e n zutreffende F o r m a l i s i e r u n g e n h i n a u s ist eine S y s t e m a t i s i e r u n g u n m ö g l i c h . D e s w e g e n sei hier nur k u r z a u f einige profilierte V e r t r e t e r verwiesen. Im Zusammenhang der Wittenberger Reformation begegnen spiritualistische Konzeptionen in Anknüpfung an mystische Traditionen erstmals bei den Zwickauer Propheten, bei A. —»Karlstadt und T h . —»Müntzer, die das Insistieren auf dem Geistbesitz kritisch gegen die Reformation ausspielen. Karlstadt polemisiert gegen die äußeren Formen der Kirchlichkeit zugunsten eines unmittelbaren, innerlichen, vom Geist gewirkten Gottesverhältnisses. Die Frontstellung gegen das reformatorische Schriftprinzip kennzeichnet die Pneumatologie Müntzers: Die für das Christsein konstitutive Heilsgewißheit gründet sich nicht im Glauben an das Wort der Schrift, sondern im inneren Geistbesitz, den zu vermitteln Ziel der Inkarnation Christi ist. Demgemäß hat der Christ im Geist der Gottesfurcht und in Armgeistigkeit zu leben, d. h. den Heilsweg des Leidens zu beschreiten, um so die geistgewirkte Freiheit von der Welt zu praktizieren. Die Sakramente werden in diesem Sinne individualistisch-pneumatologisch umgedeutet (Geisttaufe als geistgemäße Praxis, Abendmahl als Vermittlung des Geistes opferbereiter Nachfolge). Als ekklesiologisches Prinzip ergibt sich für Müntzer wie für die meisten anderen Spiritualisten, daß die wahre Kirche nur aus den Geistträgem besteht und in den Früchten des Geistes ein Kriterium eindeutiger Abgrenzung besitzt. Allerdings kommt es bei den Spiritualisten im Unterschied zu den Täufern über das bloße Postulat eines Geistchristentums der Liebesgesinnung hinaus (s. dazu auch H. —»Denck) kaum zur Gemeinschaftsbildung. Insofern repräsentiert S. —»Franck mit seinem radikalen Individualismus diese Bewegung am deutlichsten. Christentum besteht für ihn, frei von allen äußeren Bindungen, in der Tatsache, daß der Heilige Geist sich mit einzelnen Gläubigen verbindet und durch sie in der Liebe wirkt. Die innere Geisterfahrung bzw. das pneumatische Selbstbewußtsein ist damit das Kriterium, welches sich einer Kontrolle entzieht. Die wohl eindrucksvollste und wirkungsvollste Konzeption vertritt hier C. v. —»Schwenckfeld: Die Kirche der Heiligen lebt unerkannt in der Zerstreuung, konstituiert allein durch die Erkenntnis Christi, der mit seinem vergotteten Fleisch und der Sendung seines Geistes in die Herzen der Gläubigen die Gemeinschaft mit Gott und die Verklärung des Menschen vermittelt; an äußere Gnadenmittel ist dieser Geist nicht gebunden. Mit dem Neuaufbruch der —»Apokalyptik verbindet sich der Spiritualismus bei Täufern wie H. --»Hut, M . —»Hofmann und D. —»Joris und wirkt trotz der Verfolgung der entsprechenden Gruppen im Untergrund fort. Im 17. Jh. artikulieren sich dann in Anknüpfung an die verschiedenen Traditionen neue Positionen eines mystischen Spiritualismus.
5.5.
Der in den r e f o r m a t o r i s c h e n L e h r e n ü b e r d e n G l a u b e n u n d die Heiligung e n t h a l t e n e
A n s a t z wird v o n der altlutherischen — » O r t h o d o x i e a u f g e n o m m e n u n d systematisiert, w o b e i als G r u n d i n t e n t i o n die A u s s c h a l t u n g des S y n e r g i s m u s deutlich w i r d . G o t t der Heilige Geist w i r k t den aus d e m H ö r e n k o m m e n d e n G l a u b e n u n d d a m i t die neue E x i s t e n z dergestalt, d a ß er m i t d e m W o r t der Schrift ü b e r z e u g u n g s k r ä f t i g v e r b u n d e n ist, in der innerlichen —»Erl e u c h t u n g diese U b e r z e u g u n g s k r a f t realisiert u n d sie im L e b e n s w a n d e l manifestiert. S o m i t b e g e g n e t die P n e u m a t o l o g i e in d e r —»Dogmatik an zwei z e n t r a l e n Stellen: in der L e h r e v o n d e r V e r b a l i n s p i r a t i o n der Heiligen Schrift (seit -H>Flacius a n g e b a h n t , seit J . —»Gerhard ent-
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faltet) sowie in der Lehre von der Heilsaneignung als der in verschiedene Aspekte gegliederten gratia spiritus sancti applicatrix (in ausgereifter F o r m seit Quenstedt). Die Intention der Offenbarungstheologie wird in der seit Calvin und Flacius zunehmend ausdifferenzierten Lehre von der Schriftinspiration und vom Testimonium spiritus sancti internum aufgenommen. Die Schrift wird damit zum entscheidenden Gnadenmittel, das Geistwirken wird primär als ein hermeneutisches Phänomen verstanden. Im Streit um die Position des die spiritualistische Trennung von Schriftwort und Geist aufnehmenden Hermann Rahtmann ( 1 6 2 1 - 1 6 2 9 ) fixiert die Orthodoxie die Lehre, daß die Erleuchtungskraft des Geistes dem Wort kraft gnadenhafter Vereinigung innerlich sei und ihm auch extra usum eigne. Mit diesem verbalistischen Objektivismus wird das Geistwirken in einer dem katholischen Sakramentalismus analogen Weise institutionell gebunden. Das Problem der Vermittlung und Aneignung wird in der Entfaltung des ordo salutis pneumatologisch reflektiert. Christi Erlösungswerk aktualisiert der Geist im Gläubigen als Wortgeschehen sowie als Existenzbewegung durch die Berufung, Erleuchtung, Bekehrung, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Gemeinschaft mit Gott und Heiligung. Die seit Melanchthon intendierte Zergliederung des Heilsvorgangs unter Rekurs auf die Erfahrung stellt sich für die orthodoxen Dogmatiker als eine psychologisch reflektierte Differenzierung verschiedener theologischer Aspekte dar. Philipp Nicolai führt dabei 1598 erstmals den Begriff der unio mystica ein (der seit J. Gerhard in der Dogmatik rezipiert wird), wonach Gott in der begnadenden Gemeinschaft dem Gläubigen durch die Copula des Heiligen Geistes Anteil an göttlichen Kräften gibt. Johann Andreas Quenstedt faßt dann 1685 unter dem Oberbegriff der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes jene Reihung der Aspekte klassisch zusammen. Damit nimmt die Orthodoxie die Systematisierung der Gnadenlehre auf, wie sie die Scholastik in Anlehnung an Augustin erarbeitete, prägt sie aber von der evangelischen Worttheologie her um.
5 . 6 . Der—»Pietismus knüpft an die in den o r t h o d o x e n Lehrstücken enthaltenen Ansätze zur Vermittlung mit der religiösen Erfahrung hinsichtlich Erleuchtung, Wiedergeburt und Heiligung an und deutet mit seiner Betonung des Geistwirkens die neue Existenz des Christen als W e r k Gottes. D o c h daneben wirken sich spiritualistische Einflüsse mit dem Drängen auf Unmittelbarkeit und persönlich erfahrene Verifikation aus und bringen einen synergistischen Zug in die Erkenntnislehre wie in die Soteriologie. P h . J . -+»Spener z . B . unterscheidet sich von der O r t h o d o x i e u. a. darin, daß er neben dem ordnungsgemäßen W i r k e n des Geistes durch das W o r t ein außerordentliches, verborgenes Handeln im menschlichen Herzen lehrt. Insgesamt gelingt es dem Pietismus, ein neues Bewußtsein für die Erfahrbarkeit der Geistwirkungen zu wecken, wobei gelegentlich enthusiastische Erlebnisse prophetischer und charismatischer Art eine Rolle spielen. Für die Lehrentwicklung bringt er in materieller Hinsicht keine grundsätzlich neuen Aspekte. A b e r mit seiner Neubelebung der Pneumatologie, die den Umbruch einer a m religiösen Subjektivismus orientierten Zeit und die Kritik an den Insuffizienzen des kirchlichen Lebens reflektiert, bereitet er spätere Ansätze, das D o g m a von der Erfahrung her neu zu interpretieren, vor. 5 . 7 Die durch --»Aufklärung und -H> Rationalismus geprägte T h e o l o g i e vermag - unbeschadet einer beträchtlichen inhaltlichen Spannweite — von ihrem generell immanentistischen Ansatz her dem Kernbestand des pneumatologischen D o g m a s nicht mehr voll gerecht zu werden, wie sie auch zu den übrigen D o g m e n wegen deren metaphysischer Begründung keinen oder nur einen gebrochenen Z u g a n g findet. So führt sie insgesamt zu einer Krise des D o g m a s , weil sie dessen supranaturale Implikationen nicht mehr nachvollziehen kann, inhaltlich aber nicht zu einer Eliminierung, sondern zu einer Reduktion des traditionellen Lehrbestandes. Von ihrem G r u n d p r o b l e m des Verhältnisses von O f f e n b a r u n g und Vernunft her deutet sie die Schriftinspiration im wesentlichen als persönliche Erleuchtung der Propheten und Apostel, wobei das natürliche Licht der Vernunft eine innerweltlich erklärbare Überhöhung durch den göttlichen Geist erfährt. Ihr Insistieren auf der Einheit der rational kontrollierbaren Wirklichkeitserfahrung m a c h t mit der Uberwindung der traditionellen Differenzierung von Natürlichem und Ubernatürlichem im Bereich der Soteriologie die transzendentalen und mystischen Geistaussagen der reformatorischen und o r t h o d o x e n Tradition unmöglich, bietet aber im R a h m e n einer religiösen Weltdeutung die M ö g l i c h k e i t , die Mitteilung göttlicher Kräfte in nichtmirakulöser Weise als Geistwirkungen zu interpretieren. So k a n n z . B . J . S . —»Semler die das menschliche G e m ü t gnadenhaft verändernde Lehre Jesu Christi mit dem lebendigmachenden Heiligen Geist gleichsetzen. Und der spätra-
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t i o n a l i s r i s c h e N o r m a l d o g m a t i k e r J . A . L. — > W e g s c h e i d e r f a ß t die v e r b r e i t e t e A u f f a s s u n g v o m W e s e n des H e i l i g e n G e i s t e s d a h i n g e h e n d z u s a m m e n , d a ß dieser d i e j e n i g e W i r k k r a f t sei, mit w e l c h e r G o t t - u n t e r W a h r u n g m e n s c h l i c h e r F r e i h e i t - alle g e i s t l i c h e V o l l k o m m e n h e i t in i n t e l l e k t u e l l e r u n d m o r a l i s c h e r H i n s i c h t b e w i r k e . D a m i t stellt sich seit P i e t i s m u s u n d A u f k l ä r u n g die A u f g a b e , d a s D o g m a v o n d e r B a s i s n e u z e i t l i c h e r S u b j e k t i v i t ä t aus s o zu int e r p r e t i e r e n , d a ß sein G e h a l t mit d e r m o d e r n e n W i r k l i c h k e i t s e r f a h r u n g v e r m i t t e l t w e r d e n k a n n . M i t d e m I d e a l i s m u s e r b r i n g t die T h e o l o g i e im 1 9 . J h . p r o d u k t i v e N e u a n s ä t z e in dieser R i c h t u n g . Literatur Allgemeines: A. Gardeil, Art. Dons du Saint-Esprit: D T h C 4 / 2 ( 1 9 2 4 ) 1 7 2 8 - 1 7 8 1 . - Karl Friedrich Noesgen, Gesch. der Lehre vom hl. Geiste, Gütersloh 1899. - A. Palmieri, Art. Esprit-Saint: D T h C 5/ l ( 1 9 2 4 ) 6 7 6 - 8 2 9 . - Martin A. Schmidt, Art. Hl. Geist, dogmengesch.: R G G ' 2 ( 1 9 5 8 ) 1 2 7 9 - 1 2 8 3 . - Walther Völker, Art. Hl. Geist, dogmengesch.: R G G J 2 ( 1 9 2 8 ) 9 4 9 - 9 5 3 . Zu 1.: Karl Adam, Die Lehre v. dem hl. Geiste bei Hermas u. Tertullian: T h Q 8 8 (1906) 3 6 - 6 1 . Adhémar d'Alès, La doctrine de l'Esprit en saint Irénée: RSR 14 (1924) 4 9 7 - 5 3 8 . - Wolfgang Bender, Die Lehre über den Hl. Geist bei Tertullian, 1961 (MThS.S 18). - André Benoit, Le Saint-Esprit et l'Eglise dans la théologie patristique grecque des quatre premiers siècles: L'Esprit Saint et l'Eglise, Paris 1 9 6 9 , 1 2 5 - 1 5 2 . - J. 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Geist/Heiliger G e i s t / G e i s t e s g a b e n IV
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L a n d g r a f , D o g m e n g e s c h . der F r ü h s c h o l a s t i k , R e g e n s b u r g , 1/1 1 9 5 2 , 2 2 0 - 2 3 7 ; I V / 1 1 9 5 5 , 1 3 - 6 9 . - O d o Lottin, Les d o n s du Saint-Esprit chez les théologiens d e p u i s Pierre L o m b a r d j u s q u ' à saint T h o m a s d ' A q u i n : R T h A M 1 ( 1 9 2 9 ) 4 1 - 6 1 . - Ders., L a doctrine d ' A n s e l m e de L a o n sur les d o n s du Saint-Esprit et son influence: R T h A M 2 4 ( 1 9 5 7 ) 2 6 7 - 2 9 5 . - Walter H . Principe, Saint B o n a v e n t u r e ' s t h e o l o g y of the Spirit a s love between Father a n d S o n : T h e C o r d 2 4 ( 1 9 7 4 ) 2 3 5 - 2 5 6 . - J o h n F. Q u i n n , T h e rôle of the H o l y Spirit in St. B o n a v e n t u r e ' s theology: FrS 3 3 ( 1 9 7 3 ) 2 7 3 - 2 8 4 . - F r a n z M . Schindler, D i e G a b e n des H l . Geistes nach T h o m a s v. Aquin, F r c i b u r g 1 9 1 5 . - M i c h a e l S c h m a u s , Die t h e o l o g i e g e s c h . 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K o n g r e g a t i o n e n ) : R E ' 6 ( 1 8 9 9 ) 4 5 7 - 4 6 0 . Zw 5.: H e r m a n n B a u c h , D i e Lehre v o m Wirken d e s Hl. G e i s t e s im F r ü h p i e t i s m u s , 1 9 7 4 ( T h F 5 5 ) . — Heinrich B o r n k a m m , M y s t i k , S p i r i t u a l i s m u s u. die A n f ä n g e des Pietismus im L u t h e r t u m , Gießen 1 9 2 6 . - Abel E. B u r c k h a r d t , D a s G e i s t p r o b l e m bei H u l d r y c h Z w i n g l i , Leipzig 1 9 3 2 . - J o b s t C . Ebel, W o r t u. Geist bei den V e r f a s s e r n der K o n k o r d i e n f o r m e l , 1 9 8 1 ( B E v T h 8 9 ) . - G e r h a r d Ebeling, Die A n f ä n g e v. Luthers H e r m e n e u t i k : Z T h K 4 8 ( 1 9 5 1 ) 1 7 2 - 2 3 0 = ders., L u t h e r s t u d . , T ü b i n g e n , I 1 9 7 1 , 1 - 6 8 . H a y o G e r d e s , Z u Luthers Lehre v o m Wirken des G e i s t e s : L u J 2 5 ( 1 9 5 8 ) 4 2 - 6 0 . - C h r i s t o f Gestrich, Zwingli als T h e o l o g e . G l a u b e u. G e i s t beim Z ü r c h e r R e f o r m a t o r , 1 9 6 7 ( S D G S T h 2 0 ) . - L o r e n z G r ö n vik, T a u f e u. H l . Geist in der Sicht der T h e o l . Luthers: Pertii M ä k i ( H g . ) , T a u f e u. H l . Geist, 1 9 7 9 , 1 0 6 - 1 2 1 ( S L A G A 1 8 ) . - R i c h a r d H . G r ü t z m a c h e r , W o r t u. G e i s t , Leipzig 1 9 0 2 . - Alfred Hegler, Geist u. Schrift bei S e b a s t i a n F r a n c k , F r e i b u r g 1 8 9 2 . - G e r h a r d Heintze, Luthers Pfingstpredigten: L u J 3 6 ( 1 9 6 9 ) 1 1 7 - 1 4 0 . - H e l m a r J u n g h a n s , D a s W o r t G o t t e s bei Luther w ä h r e n d seiner ersten Psalmenvorlesung: T h L Z 1 0 0 ( 1 9 7 5 ) 1 6 1 - 1 7 4 . - Ernst Kinder, Z u r Lehre v o m H l . Geist nach den luth. Bekenntnisschriften: F u H 15 ( 1 9 6 4 ) 7 - 3 8 . - Walter K r e c k , W o r t u. Geist bei C a l v i n : FS G ü n t h e r D e h n , N e u kirchen 1 9 5 7 , 1 6 7 - 1 8 1 . - Werner K r u s c h e , D a s Wirken des H l . Geistes nach C a l v i n , 1 9 5 7 ( F K D G 7). M a n f r e d K w i r a n , D e r H l . Geist als Stiefkind? B e m e r k u n g e n zur C o n f e s s i o A u g u s t a n a : T h Z 3 1 ( 1 9 7 5 ) 2 2 3 — 2 3 6 . — A u g u s t L a n g , Der E v a n g e l i e n k o m m . M a r t i n Butzers u. die G r u n d z ü g e seiner T h e o l . , 1 9 0 0 ( S G T K 2 / 2 ) . - C h a r l e s Lelièvre, L a maîtrise de l'Esprit. Essai critique sur le principe f o n d a m e n t a l e de la théologie de C a l v i n , Paris 1 9 0 1 . - S i m o n van der Linde, D e leer van den Heiligen Geest bij Calvijn, Wageningen 1 9 4 3 . - G o t t f r i e d W. L o c h e r , D i e Lehre v o m H l . G e i s t in der C o n f e s s i o Helvetica Posterior: J o a c h i m S t a e d t k e ( H g . ) , G l a u b e n u. B e k e n n e n , Z ü r i c h 1 9 6 6 , 3 0 0 - 3 3 6 . - Wilhelm M a u r e r , L e x spiritualis bei M e l a n c h t h o n bis 1 5 2 1 : ders., M e l a n c h t h o n - S t u d . , 1 9 6 4 , 1 0 3 - 1 3 6 ( S V R G 1 8 1 ) . - Ders., D e r j u n g e M e l a n c h t h o n zw. H u m a n i s m u s u. R e f o r m a t i o n , G ö t t i n g e n , II 1 9 6 9 . - T h e o d o r M e i n h o l d , D e r hl. Geist u. sein Wirken a m einzelnen M e n s c h e n mit bes. Beziehung a u f L u t h e r , Erlangen 1 8 9 0 . - Rudolf O t t o , D i e A n s c h a u u n g v o m hl. G e i s t e bei Luther, G ö t t i n g e n 1 8 9 8 . - Albrecht Peters, D i e Trinitätslehre in der r e f o r m a t o r i s c h e n Christenheit: T h L Z 9 4 ( 1 9 6 9 ) 5 6 1 - 5 7 0 . - Regin Prenter, Spiritus C r e a tor. Stud. zu L u t h e r s T h e o l . , 1 9 5 4 ( F G L P 1 0 / 6 ) . - G o r d o n R u p p , W o r d a n d Spirit in the First Y e a r s o f the R e f o r m a t i o n : A R G 4 9 ( 1 9 5 8 ) 1 3 - 2 6 . - K u r t Dietrich S c h m i d t , L u t h e r s Lehre v o m Hl. G e i s t : Schrift u. B e k e n n t n i s . FS S i m o n S c h ö f f e l , H a m b u r g / B e r l i n o . J . ( 1 9 5 0 ) , 1 4 5 - 1 6 4 . = ders., G A u f s . , G ö t tingen 1 9 6 7 , 1 1 1 - 1 2 7 . - M a r t i n S c h m i d t , W i e d e r g e b u r t u. neuer M e n s c h . G e s . S t u d . z. G e s c h . des Pietismus, 1969 ( A G P 2 ) . - F r i t z S c h m i d t - C l a u s i n g , Zwingli, 1965 (SG 1219) 8 2 - 1 1 2 . - E r d m a n n S c h o t t , Fleisch u. Geist nach Luthers Lehre, L e i p z i g 1 9 2 8 . - K l a u s S c h w a r z w ä l l e r , Delectari a s s e r t i o n i b u s . Z u r S t r u k t u r v. Luthers P n e u m a t o l o g i e : L u J 3 8 ( 1 9 7 1 ) 2 6 - 5 8 . - T j a r k o S t a d t l a n d , R e c h t f e r t i g u n g u. Heilig u n g bei C a l v i n , 1 9 7 2 ( B G L R K 3 2 ) . - W. Peter Stephens, T h e H o l y Spirit in the T h e o l o g y of M a r t i n Bucer, C a m b r i d g e 1 9 7 0 .
Wolf-Dieter H a u s c h i l d
218
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben V
V. Dogmatisch und ethisch 1. B e g r i f f s v e r s t ä n d n i s 2. D e r theologische G e b r a u c h des W o r t e s 3. P n e u m a t o l o g i e u n d Trinitätslehre 4. P n e u m a t o l o g i e im H o r i z o n t von Christologie u n d A n t h r o p o l o g i e 5. Kirche als Geistgemeinschaft 6. D e r Geist als S c h ö p f e r u n d Vollender 7. Ethik des Geistes (Literatur S. 2 3 3 )
1.
Begriffsverständnis
1.1. Im Unterschied zu den meisten Termini ist der Begriff Geist mit einer Definition in seiner Bedeutung nicht ausreichend zu erfassen. Seine Valenz ergibt sich aus den Zusammenhängen, in denen er gebraucht wird. Dieser Sachverhalt kann zu dem Urteil Anlaß geben, daß Geist kein zulänglicher Terminus der wissenschaftlichen Sprache ist. Man wird diesem Urteil freilich nur zustimmen können, wenn nicht trotz der begrifflichen Undeutlichkeit mit dem Worte etwas bezeichnet wäre, was auf andere Weise nicht zur Sprache zu k o m m e n vermag. Im formalen Sinne kann als allgemeines Kennzeichen des Geistes festgestellt werden: Das Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen. Unter dem Einen oder Anderen ist Unterschiedlichstes zu verstehen. Sie meinen Gott oder den Menschen, Sächliches oder Personales, Angeborenes oder Erworbenes, Rationales oder Irrationales, Natürliches oder Ubernatürliches oder Geschichtliches, Konstantes oder Variables, Mächtiges oder Ohnmächtiges etc. Jedoch müssen wenigstens für eine Seite die logischen M e r k m a l e der Personalität gegeben sein. Das formale Verständnis des Geistes ermöglicht es, in zusammenfassender Weise das aktuelle, gewöhnlich eine Bewegung in sich schließende Beieinander von Seiendem dort auszuformulieren, w o Relationen in Form der Partizipation vorliegen. D a r u m können Naturvorgänge ebenso mit dem Begriff des Geistes verdeutlicht werden wie jene, die dem Gebiet der Geschichte zuzuordnen sind. D e r T e r m i n u s P a r t i z i p a t i o n w i r d in der P n e u m a t o l o g i e v o r allem seit—»Tillich (z. B. Syst. T h e o l o g i e III, 1 6 5 f f ) v e r w a n d t , z . T . e r g ä n z t d u r c h weitere B e s t i m m u n g e n (bes. Ebeling, D o g m a t i k III, 9 0 f f ) . Er d i e n t im f o l g e n d e n (wie der zu seiner I n t e r p r e t a t i o n h e r a n g e z o g e n e Begriff der A k t u a l i t ä t ) der p h ä n o menologischen Analyse, darf also n i c h t s o f o r t o n t o l o g i s c h g e d a c h t w e r d e n .
1.2. Aus dem formalen Verständnis des Geistes ergeben sich drei Abgrenzungen: 1.2.1. In der Gegenwart wird der Begriff zumeist nur noch - besonders als Folge der Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie — zur Interpretation geschichtlicher oder gar bloß personaler Vorgänge benutzt. Damit verbindet sich der Gedanke, daß von einem Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen lediglich dort zureichend gesprochen werden kann, w o es menschliche (oder göttliche) Aktzentren gibt. Diese Reduktion ist jedoch problematisch. Sie m u ß mit einer vorgängigen Bestimmung des Einen und des Anderen arbeiten. Was Geist genannt werden kann, ist dann im Kern nicht etwas Auszumachendes, sondern etwas, was bereits a n e r k a n n t sein muß. Die Wahrnehmungspotentialität, die im Worte Geist beschlossen liegt, wird auf diese Weise untergraben. 1.2.2. Im Interesse dieser Wahrnehmungspotentialität können bestimmte Begriffsverbindungen nicht oder nur mit Einschränkungen aufgenommen werden. Das gilt besonders von den Formeln Geist — Materie, N a t u r , Körper, aber auch Stoff und Welt. Diese Verbindungen legen ein substanzontologisches Verständnis des Geistes nahe, das zumal im Rahmen eines um Verifikationen bemühten wissenschaftlichen (positivistischen) Denkens als aporetisch e m p f u n d e n werden m u ß . Demgegenüber h a t das Wort Geist bei der hier vorgenommenen G r u n d b e s t i m m u n g die Bedeutung, allererst die Feststellung von so etwas wie Substanz zu ermöglichen. Denn wenn Geist das Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen meint, dann obliegt dem Denken die Aufgabe, die tatsächliche Beschaffenheit des Seienden herauszufinden. Der Begriff Geist impliziert daher eine Kritik an der ontologischen Verwendung von Allgemeinbegriffen, auch falls er selbst als ein solcher benutzt wird. 1.2.3. Kritisch müssen schließlich anthropologische Verwendungen des Geistbegriffes betrachtet werden. So wird Geist in N a c h b a r s c h a f t zu Sinn, Gemüt oder Herz gebraucht, aber auch im Sinne von Bewußtsein, Vernunft, schöpferischem Sichverhalten, Begabung,
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben V
219
Talent, Esprit, Genie. Der Begriff meint insofern eine bestimmte Grundbefindlichkeit oder Ausrichtung des Menschen. Diese Gleichsetzungen intendieren den Gedanken, daß von Geist dort gesprochen werden muß, wo ein Seiendes über die Fähigkeit verfügt, sich auf anderes in eindeutiger, oft außerordentlicher Weise zu beziehen. Geist wird gleichbedeutend mit spiritueller Kraft, gelegentlich ekstatischer Hingerissenheit. Problematisch bei solchen Bestimmungen ist nicht, daß Geist ihnen gemäß verstanden werden kann. Problematisch ist, daß sie Identifikationsregeln nahelegen, die ihn als den verborgenen, geheimnisvollen Grund der menschlichen Existenz zu denken nötigen und ihn insofern unzulässig definieren. (Diesen Gedanken hat auf der Basis einer analytisch-philosophischen Denkweise vor allem Ryle entfaltet.) Es ist deshalb ratsam, über das formale Verständnis des Begriffes Geist nicht hinauszugehen und sich durch dieses den Blick schärfen zu lassen für dasjenige, was mit ihm zur Erscheinung drängt. 2. Der theologische
Gebrauch
des
Wortes
Die Dogmatik spricht — von meist knappen Bestimmungen zu Person und Wesen des Geistes abgesehen — an folgenden Stellen vom Geist: Bei der Bestimmung des Wesens —> Gottes (bes. im Anschluß an Joh 4 , 2 4 ) , im Rahmen der Trinitätslehre (—»Trinität), der Schöpfungslehre (—»Schöpfer/Schöpfung), der Empfängnis, d e r ^ T a u f e , der —»Auferstehung und des Amtes -^»Jesu Christi, der Lehre von der Heiligen Schrift (—»Bibel) wie den sog. Gnadenmitteln (—»Sakramente), der Anthropologie (—»Mensch), der Ekklesiologie ( ^ K i r c h e ) und der —»Eschatologie. Die —»Ethik fügt den allgemeinen grundsätzlichen Gedanken des Wandels im Geiste (bes. im Anschluß an Gal 5) hinzu. Zu diesen Schwerpunkten treten fundamentaltheologische Themen: Geist und —»Geschichte, —»Glaube, —»Wahrheit, —»Gesetz, Buchstabe. Die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten spiegelt einerseits den differenzierten biblischen Sprachgebrauch, andererseits die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Denken, besonders aber die Setzungen wider, die sich von der Trinitätslehre aus ergeben. Das gilt vor allem von der Berücksichtigung des Geistes im Rahmen der Schöpfungslehre und der Christologie, während man sich in der Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Ethik direkter und unmittelbarer auf entsprechende biblische Aussagen stützen kann. Freilich ist es der klassischen dogmatischen und ethischen Pneumatologie nicht durchgehend gelungen, alle Momente des biblischen und des philosophischen Geistverständnisses in sich aufzunehmen, wie sich besonders dort zeigt, wo der Geist in Korrelation mit anderen Begriffen (z. B. mit dem der Wahrheit) steht. Die Ursache dafür liegt darin, daß die Trinitätslehre den Geist als eine „Person" versteht und diese Bestimmung offenbar nur Teilaspekte des Geistproblems zum Vorschein zu bringen vermag. - Eine ähnliche Grenze, freilich unter anderem Vorzeichen, zeigt sich in bezug auf die immer wieder aufbrechenden und die Kirche beunruhigenden charismatischen Bewegungen. Sie verselbständigen den Geist und lösen ihn aus der engen Bindung an Gotteslehre und Christologie, weil in dieser Bindung nur wenig Raum für die meist enthusiastisch zu verstehende Erfahrung des Geistes zu bleiben scheint. Aus diesen Gründen hat sich teils neben, teils innerhalb des trinitätstheologischen Typs der Pneumatologie ein religionsphilosophisch und ein enthusiastisch orientierter herausgebildet. Die systematische Theologie hat sich insbesondere mit dem religionspkilosophischen Typ auseinandergesetzt. Er trat ihr in der neueren Zeit vor allem in Gestalt der idealistischen Philosophie, besonders der —.Hegels (s.u. Abschn. VII. 3.4) und —»Schleiermachers (s.u. Abschn. VI. 5) und ihrer Rezipienten entgegen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. oft in Symbiose mit der Rezeption der --»Mystik. Wortführer der Gegenbewegung war die—»Dialektische Theologie (vgl. in bezug auf die Pneumatologie bes. H. Barth). Die Abwendung vom religionsphilosophischen Typ bedeutete in der Konsequenz eine Hinwendung zu Motiven des enthusiastischen Typs (bes. deutlich bei —»Brunner). In der Gegenwart ist die Gegenbewegung z . T . wieder revidiert worden (vgl. z . B . Küng; Pannenberg). - Die neueste religionsphilosophische Diskussion wurde vor allem durch die Auseinandersetzung mit dem seine eigenen
220
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben V
pneumatologischen Traditionen verarbeitenden jüdischen Denken bereichert (—»Bloch, —»Buber, —»Hoffnung, -^»Judentum, - ^ M e s s i a s ) . Der enthusiastische Typ begegnet der Theologie z. Z. vor allem in Gestalt pfingstlicher und charismatischer Bewegungen, deren Gedanken, in den eigenen Reihen nur unzureichend entfaltet, inzwischen vielfach für eine Theologie des Geistes fruchtbar gemacht werden (vgl. bes. Hollenweger; Mühlen).
Gleichwohl darf die spezifische theologische Kraft der Trinitätslehre nicht übersehen werden. Sie ist gleichsam der Punkt, auf den hin, wenigstens für die theologische Reflexion, ein hinlängliches Verständnis des Geistes zuläuft. Dies ist freilich nur möglich, wenn sie nicht als bloß zu reproduzierendes Lehrstück betrachtet, sondern als Integral der Bewährung ausgesetzt wird. Unter Beziehungnahme auf das im ersten Abschnitt erörterte Begriffsverständnis muß dies heißen: Wie kann im Rahmen der Trinitätslehre das Sein-können eines Einen in oder bei einem Anderen aufgenommen und entfaltet werden? In der pneumatologischen Diskussion wird der Zusammenhang von Trinitäts- und Geistlehre freilich nicht immer hervorgehoben. Ihr T e n o r i s t ( z . T . schon im 19. Jh.) die Klage über das vorherrschende theologische Defizit in der Pneumatologie und - korrespondierend - der Versuch, Dimensionen und Erscheinungsweisen des Geistes neu herauszuarbeiten. Das gibt praktisch-theologischen Erwägungen oft ein erhebliches Übergewicht. Die Klage über das pneumatologische Defizit dürfte jedoch nur teilweise berechtigt sein. Denn der Reichtum der - allerdings oft nur formelhaften - Geistaussagen in der theologischen Tradition ist größer, als zu erkennen gegeben wird. Um ihre Verlebendigung hat sich in der Gegenwart auf evangelischer Seite bes. die holländische Theologie bemüht (vgl. z. B. Berkhof, N o o r d m a n s , v. Ruler); auf katholischer Seite vgl. vor anderen das große Werk Congars.
3. Pneumatologie
und
Trinitätslehre
Dem dogmatischen Verständnis des Heiligen Geistes wurde erst relativ spät Aufmerksamkeit zugewandt. Die ihm geltenden Bestimmungen wurden im Zusammenhang der trinitarischen Streitigkeiten (—»Trinität) gefunden und sind insbesondere als eine notwendige Folge der Lehre von der Homoousie des Sohnes zu verstehen (s.o. IV, 2 ; 3 ) . Uber den Geist wurde im wesentlichen das folgende ausgesagt: Er besitzt die Vera divinitas, ist aber zugleich eine Vera et distineta a patre et filio persona, der als character hypostaticus diespiratio Passiva, d.i. im Osten dieprocessio a patre, im Westen dieprocessio a patre filioque, zukommt. Die Entfaltung der Lehre blieb in ihrer Gedankenführung stark von der Christologie bestimmt. Man übertrug insbesondere die Unterscheidung von Person und Werk auf den Heiligen Geist und bedachte - unter Berücksichtigung der bleibenden Differenz - die Analogien zwischen Inkarnation und Einwohnung des Geistes (in der Kirche bzw. im Menschen), zwischen den zwei Naturen Christi und dem Verhältnis von Geist und Kirche. Das Bemühen um formale Gleichgestaltung geriet jedoch scheinbar an eine Grenze bei der Bestimmung der Eigentümlichkeit des Geistes. Während „ V a t e r " und „ S o h n " klare personale Begriffe darstellen, wurden für den Geist unpersönliche Symbole (z. B. das der Taube) gewählt. Im Westen komplizierte sich die Lage noch dadurch, daß die normative Wirkungen entfaltende psychologische Trinitätslehre —> Augustins für den Geist eine Grundbestimmung nannte, die zugleich von dem Wesen der Gottheit insgesamt galt, nämlich die Liebe. Dies gab letztlich in der ökonomischen Trinitätslehre der Lehre vom Werk Gottes ein entschiedenes Übergewicht über die der göttlichen Personen - mit der Folge, daß die Explikation der Pneumatologie eine Sache insbesondere der Gnadenlehre gewesen ist. Das westliche Interesse an der Einheitlichkeit Gottes belegt diese (oft sabellianisch genannte) Tendenz. Obschon diese Tendenz einem philosophisch-idealistischen Ansatz der Theologie entgegenkommt, besteht die Frage, ob auf solche Weise die Trinitätslehre zureichend entfaltet werden kann. Die neuere Theologie, die sich seit K. —»Barths Neukonzeption der Trinitätslehre des Lehrstückes in erstaunlichem Umfange angenommen hat, hat dies im allgemeinen verneint und unter Berücksichtigung voraugustinischer Ansätze wie der ostkirchlichen Lehre (zumal im Zusammenhange der ökumenischen Bewegung) näher ausgearbeitet. Sie wurde dazu geführt, der Eigenständigkeit der Pneumatologie größere Aufmerksamkeit zu zollen. Allerdings hat sich dieser Gedanke nicht eindeutig Bahn gebrochen. In der Hauptsa-
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben V
221
che von Barth beeinflußt, steht neben einer aus pneumatologischen Beweggründen der Trinitätslehre zugewandten Denkweise die primär dem Problemkreis Trinitätslehre — Christologie geltende (z.B. Jüngel). Soweit von der Geistlehre wesentliche Anstöße für die Rezeption der Trinitätstheologie ausgingen, standen sie unter den Vorzeichen: Geschichte, Eschatologie, Personverständnis. Das geschichtliche Verständnis der Trinitätslehre stellt den Versuch dar, sich derselben auf dem Boden einer Denkweise zu nähern, die ihr von der Herkunft her nur teilweise entsprach. Zwar wohnte der Trinitätslehre in Gestalt der ökonomischen immer der Bezug zum Geschichtlichen inne. Weil aber nicht sie, sondern die sogenannte immanente Trinitätslehre das eigentliche Herzstück bildete, dokumentierte sie ein Gottesverständnis, dem die Beziehung zum Geschichtlichen erst sekundär zukam. Geschichtliches Denken mußte sich folglich allererst auf das Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinitätslehre richten. Diesbezüglich formulierte Rahner die epochemachende These, die immanente Trinitätslehre sei die ökonomische und umgekehrt (vgl. MySal 2, 3 2 7 f f ) . Das eschatologischc Verständnis gibt der ökonomischen Trinitätslehre ein noch stärkeres Gewicht. Es lehrt die Zeit seit Christi Auferstehung als Zeit des Geistes verstehen und ist besonders geeignet, enthusiastische Erfahrungen theologisch zu berücksichtigen (vgl. vor allem die z. B. die Erwägungen —»Joachims v. Fiore und der beiden —»Blumhardts aufnehmende Position Moltmanns). Das personalistische Verständnis gilt dem Bemühen, das Sein des Geistes genauer zu erfassen und damit ein offenes Problem der Tradition aufzunehmen. Auch diese Position führt zu einer starken Beachtung des Enthusiasmus (vgl. bes. Mühlen im Anschluß an die Philosophie des Personalismus).
Die unter den genannten Vorzeichen stehenden Konzeptionen haben im ganzen erreicht, den in der Trinitätslehre beschlossenen Erfahrungsgehalt für ein begründetes Geistverständnis neu ins Bewußtsein zu rufen. Die Überlegungen sind nicht mehr primär auf den Zielpunkt Augustins, diews/o beatifica, gerichtet, sondern auf dieperegrinatio des Christen, und sie nehmen dabei gerade das in Blick, was das Wesen des Geistes ausmacht, nämlich das Sein-Können Gottes in und bei dem Menschen. Allerdings ist auffällig, daß die Eigenart der Pneumatologie übergeordneten systematisierenden Gesichtspunkten unterstellt wird, die die Reziprozität von immanenter und ökonomischer Trinitätslehre nicht voll wahren. Dadurch bleibt jenes Problem subordiniert, das sich zumal vom Neuen Testament (aber auch von Augustin) her als Grundproblem der Pneumatologie stellt, wie nämlich von der Erfahrung des Geistes und vom Geist selbst einerseits in apersonalen, andererseits, wenigstens tendenziell, in personalen Kategorien geredet werden kann, wie er insbesondere zugleich Geber und Gabe ist. Nur wenn man an dieser Stelle begründete Übergangsmöglichkeiten läßt, dürfte die Vielfältigkeit des Redens vom Geiste gewahrt bleiben. Auch im Rahmen der Trinitätslehre wird damit die Frage erheblich, wie sich das Reden vom Geist überhaupt konstituiert (vgl. dazu G. Sauter: Erfahrung 192ff; Lessing, Kirche 9ff). Die alle pneumatologischen Probleme wie in einem Brennpunkt enthaltende Kontroverse um das sog.filioque (s.o. IV. 3), in der das Verständnis des Geistes vom Osten und vom Westen unterschiedlich akzentuiert wurde (was neuerdings vielfach Gegenstand ökumenischer Verhandlungen ist), lenkt diesbezüglich die Aufmerksamkeit auf zwei ihr selbst voraufliegende, in der Frömmigkeit verwurzelte Aussagen: auf den Ursprung des Geistes (Ostkirche) bzw. auf die durch ihn erschlossenen Glaubensinhalte (Westkirche). Ost- wie Westkirche nennen damit Punkte, die für das Verständnis des Redens vom Geist unverzichtbar sind, freilich nicht sogleich mit der Begrifflichkeit der Trinitätslehre interpretiert werden dürfen. Sie zeigen gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen, an, daß erstens Vater (und Sohn) nur je in der Unterschiedenheit von sich selbst die sind, die sie sind — durch die Sendung des Geistes —, und daß zweitens der Geist kein anderer ist als der des Vaters (und des Sohnes). Während diese beiden Punkte Grundmerkmale des Geistgeschehens meinen, kommt ein dritter erst sekundär hinzu, daß nämlich der Geist in unverbrüchlicher Relation zu Vater und Sohn der ist, der er ist. Ersichtlich ist dieser Punkt eine Verschärfung des ersten wie des zweiten, nämlich der Unterschiedenheit des Geistes von Vater und Sohn bei gleichzeitiger inhaltlicher Ubereinkunft. Erst er erweckt die Frage nach der Eigentümlichkeit des Geistes und erst hier stellt sich darum das Problem des personalen und des apersonalen Redens von Gott. Damit werden in engstem Zusammenhang zwei weitere Fra-
222
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben V
gen akut, nämlich welche Weisen der Partizipation an Gott gedacht und theologisch verantwortet werden können sowie die andere nach deren Aktualisierung. In diesem Horizonte erweist sich die Personalität des Geistes als der Gedanke, der umfassender als alle apersonalen Redeweisen das Sein des Geistes selbst in Augenschein nehmen kann, ohne diese schlechthin überflüssig zu machen. Die aus der Verschärfung einer Fragestellung erfolgte Konstitution des Geistes als Person bildet die Voraussetzung für seine Erörterung in der Trinitätslehre. Sie gibt zum ersten bestimmte Interpretationshinweise für dieselbe. Das gilt besonders von der Begrifflichkeit. Die Rede vom Geist ist niemals selbstverständlich. Sein Sein kann deshalb primär nicht aus der Analogie zu Vater und Sohn begriffen werden. Es enthält schon qua Begriff ein eigenes assertorisches Moment, an dem trinitarisches Denken nicht vorbeigehen kann. Desgleichen kann vom göttlichen Wesen des Geistes nicht unabhängig von dem, was er und wie er es zur Erscheinung bringt, gesprochen werden. Der Geist wird dadurch zum Anwalt der Entdeckung Gottes. Zum zweiten wird durch den Konstitutionsvorgang, der immer in einem bestimmten Kontext erfolgt, verständlich, daß der Geist, ohne ein Anderer zu werden, nicht nur personal oder apersonal gefaßt, sondern auch dem Vater und dem Sohne prädiziert werden kann, so daß je nach den Zusammenhängen die gleiche Aussage einer der drei Personen oder der Gottheit insgesamt zugeeignet zu werden vermag. Geist bedeutet hier die grenzenlose Anteilnahme Gottes am anderen, und sein Verständnis kann daher nicht auf einen bestimmten Sprachgebrauch festgelegt werden. Zum dritten muß vom Konstitutionsvorgang aus der Gedanke des Lebens Gottes zum Grundgedanken der Trinitätslehre und der Geist zum Inbegriff von dessen Mitteilung werden. Der Konstitutionsvorgang erschließt die Dimensionalität des Seins Gottes und eröffnet so die Teilhabe am Leben Gottes, indem er von Vater, Sohn und Geist sowie den mannigfachen Weisen ihrer Gegenwart zu reden nötigt. Dadurch, daß das Wort Geist dabei aus dem Zusammenhang der Rede von ihm seine Bedeutung erfährt, kann (auch in den folgenden Ausführungen) auf eine eigene Reflexion darüber, als wer der Geist jeweils zur Sprache kommt, verzichtet werden. Die aufgeführten Gesichtspunkte sind primär der ökonomischen Trinitätslehre zugehörig. Hier hat der trinitarische Personbegriff seinen eigentlichen Ursprung, aber auch das apersonale Verständnis des Geistes. Es ist eine andere Frage, ob der Begriff der —»Person auch innerhalb der immanenten Trinitätslehre verwandt werden kann. Es gibt gute Gründe, hier von Seinsweise (Barth, K D 1 , 1 , 3 7 4 ff u . ö . ) oder besser distinkter Subsistenzweise (Rahner: MySal 2, 3 8 9 ff) zu reden. Auch wenn man den engen Zusammenhang von ökonomischer und immanenter Trinitätslehre heraushebt, ist eine je unterschiedliche Begrifflichkeit dadurch nicht ausgeschlossen.
4. Pneumatologie
im Horizont
von Christologie
und
Anthropologie
4.1. Wenn in der Trinitätslehre vom Geist Christi gesprochen wird, dann ist an den Geist, den der Auferstandene sendet, gedacht. Die Beachtung, die der Konstitution der Rede vom Geist zuteil werden soll, lenkt den Blick jedoch zuerst in eine andere Richtung, nämlich auf den irdischen Christus als denjenigen, wo das Sein-Können Gottes in oder bei einem Anderen in für den christlichen Glauben verbindlicher Weise in Erscheinung tritt. Wenn dabei sogleich das Augenmerk auf den Zusammenhang von Christologie (—»Jesus Christus) und Anthropologie (—»Mensch) gelenkt werden darf, so hat das darin seine Ursache, daß der christliche Glaube von Anfang an bekannte, daß Jesus und der Glaubende in gleicher Weise Empfänger des Geistes sind. Die Traditionen, aus denen diese Vorstellung herauswuchs, sind freilich recht unterschiedlicher Art und vor allem von verschiedenem Gewicht. Wenn die Trinitätslehre jedoch die Möglichkeit intendiert,verschiedenartige Geistbegriffe zu kombinieren, dann begründet sie auch hier enge Wechselbeziehungen. Trotz aller Unterschiedenheit muß dann gelten: Was von Jesus als Geistträger ausgesagt werden kann, das kann auch vom Glaubenden ausgesagt werden. In der evangelischen Theologie ist diese These vor allem von A. Ritsehl vertreten worden (III, 4 1 0 ff. 6 0 0 ff). Durch die mit ihr beabsichtigte Kritik der Zwei-Naturen-Lehre ist sie seitdem in Verruf geraten. Inzwischen ist besonders durch Kasper, Mühlen, Schoonenberg, auch Tillich u. a. eine veränderte Beur-
Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben V
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teilung der s o g . G e i s t c h r i s t o l o g i e m ö g l i c h . — F ü r die O s t k i r c h e s t a n d i m m e r eine p n e u m a t o l o g i s c h e S i c h t d e r C h r i s t o l o g i e im V o r d e r g r u n d (vgl. N i s s i o t i s 6 4 ff), deren P r o b l e m e freilich a n d e r s g e l a g e r t sind.
Die These ermöglicht zwei präzisierende Gesichtspunkte: Die Dogmatik beschreibt den Auftrag Jesu Christi üblicherweise mit der Lehre von den drei Amtern, die im Mittleramt ihre Mitte haben. Zu dessen Verrichtung wurde Jesus mit dem Heiligen Geist gesalbt. Er ist der Christus. Während die katholische Theologie das Mittleramt auch Maria und der Kirche übertragen denkt, behält die evangelische Theologie dieses Amt Christus allein vor. Das schließt aber nicht aus, daß die Ausgestaltung des einen Amtes in den Ämtern des Propheten, des Priesters und des Königs auch zur Beschreibung des Auftrages des Getauften dienen und die Weisen seines Dienstes in der Welt anzeigen kann. Durch die Ämterlehre ist deshalb gleichermaßen Identität und Differenz im Hinblick auf die Verleihung des Geistes an Christus bzw. den Gläubigen angezeigt. Der geschenkte Geist Gottes bestimmt jedoch nicht nur den Auftrag Jesu Christi bzw. des Christen, sondern er formt die Person. Er begründet die völlige Hingabe an Gott. Dadurch wird für den Geistträger das Sein in Anderem, sc. Gott, konstitutiv. Die Partizipation wird zum Inbegriff des Personseins. Die bestimmende Kraft des Geistes führt dazu, den von ihm geleiteten Menschen als Pneumatiker und diesen als den neuen Menschen zu bezeichnen. Denn der Geist Gottes wandelt den Menschen. Das dokumentiert sich wiederum besonders in der Taufe, die die Gleichheit der Geistträger in sich schließt. Die beiden Aussagereihen, zum Auftrag und zum Personsein Jesu Christi bzw. des Christen, stehen nicht spannungslos nebeneinander. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Anthropologie. Denn es existiert die Frage, auf was mehr zu achten ist: auf das den Christen gegebene Amt oder auf die gewandelte Person. Eine Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen dürfte nicht möglich sein, wohl aber die Aufgabe bestehen, beide Aspekte in ein begründetes Verhältnis zu bringen. D i e s e A u f g a b e ist n i c h t leicht zu l ö s e n . D e n n es s t e h e n sich i m m e r w i e d e r zwei T y p e n v o n T h e o l o g i e g e g e n ü b e r , eine w e l t b e z o g e n , m i s s i o n a r i s c h o r i e n t i e r t e u n d eine a n t h r o p o l o g i s c h , a u f den einzelnen a u s g e r i c h t e t e . M i t d e r ersten v e r b i n d e t sich in der R e g e l ein a u s g e p r ä g t e r e s ö k u m e n i s c h e s u n d e t h i s c h e s Interesse, mit d e r z w e i t e n ein a u s g e p r ä g t e r e s f u n d a m e n t a l t h e o l o g i s c h e s . Z u diesen u n t e r s c h i e d l i c h e n A u s r i c h t u n g e n t r a g e n a u c h v e r s c h i e d e n e k o n f e s s i o n e l l e O r i e n t i e r u n g e n bei, die d e r Ä m t e r l e h r e u n d ihren a n t h r o p o l o g i s c h e n K o n s e q u e n z e n g r ö ß e r e B e d e u t u n g b e i m e s s e n d e r e f o r m i e r t e b z w . die m y s t i s c h e n A n s c h a u u n g e n v o n der P e r s o n Christi u n d deren a n t h r o p o l o g i s c h e n K o n s e q u e n z e n sich n ä h e r n d e lutherische.
Als Grenzpunkte der Relation zeichnen sich ab, daß die Wahrnehmung des Amtes dem Personsein oder das Personsein dem Amte untergeordnet wird. Dort wird die Ausübung des Amtes zu einer bloßen Folge, hier das Personsein zu einer bloßen Funktion. In beiden Fällen geht die Verwiesenheit geistbestimmten Menschseins an Jesus Christus selbst verloren. Denn das, was dessen Personsein charakterisiert, die Hingabe an den Vater, und das, was dessen Amt ausmacht, die Erfüllung des Willens des Vaters, wird in Zweck und Mittel auseinandergelegt, während sie eine untrennbare Einheit darstellen. — Die positive Lösung der Aufgabe macht einen weiteren Schritt erforderlich. 4.2. Die Möglichkeit, daß der Mensch in gleicher Weise wie Jesus Christus Träger des Geistes sein kann, darf nicht mit dem bloßen begrifflichen Mittel der Analogie deutlich gemacht werden. Es ist vielmehr eine eigene Besinnung auf den Grund dieser Möglichkeit notwendig. Nach übereinstimmendem Zeugnis liegt er in der Auferstehung Jesu, die selbst durch den Geist vollbracht wurde (vgl. o. Abschn. III. 3). Sie begründet Geltung und Wirklichkeit des Geistes für den Menschen. Durch sie ist Jesus Christus nicht nur Bruder, sondern Herr, was wiederum nur im Geiste bekannt werden kann (vgl. I Kor 12,3). Diese Begründung setzt dazu instand, die Weite und die Grenzen des Geistgeschehens zu ermessen, und zwar sowohl im Hinblick auf den Aspekt des Amtes wie der Person. Sie verhindert es, daß die christliche Existenz sich in einer Nachahmung Jesu erschöpfen könnte, der gleichwohl aufgrund gemeinsamer Geistträgerschaft dem Menschen nahe bleibt.
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Die Weite des Geistgeschehens wird dadurch manifest, daß das Sein des Christen in mannigfaltiger und differenzierter Weise beschrieben werden kann. Innerhalb des Neuen Testamentes geschieht das am deutlichsten bei Paulus (vgl. z.B. Rom 8; IKor 1 0 - 1 2 ; Gal 5). Darin dokumentiert sich der Grundgedanke der Partizipation, der ohne Entdeckungen und Gestaltungen nicht Wirklichkeit sein kann. Voraussetzung dieser Beschreibungen ist die Aussage, daß der Geist im Menschen Wohnung nimmt, damit er „ein Tempel des heiligen Geistes" (I Kor 6,19; vgl. 3,16; Eph 2 , 1 9 - 2 2 ; Joh 1 4 , 2 3 - 2 6 ) ist. Diese Aussage bezeichnet inbegrifflich das Sein-Können Gottes im Menschen wie das Sein-Können des Menschen in Gott. Sie ist insofern — anthropologisch gesehen — die vollkommene Verdeutlichung des Partizipationsgeschehens. Als Bestimmung der menschlichen Existenz muß von hier aus ihr ekstatischer Charakter angegeben werden. Der, der am Geist teilhat, ist i.e.S. nicht bei sich selbst, sondern bei Gott. Die Wesenszüge göttlichen Seins können folglich auf ihn übertragen werden. Zur näheren Beschreibung dienen insbesondere solche Vorstellungen, die einen Kontrast zu der mit dem Kommen Christi vergangenen, Partizipation verhindernden oder zerstörenden Welt bilden: Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit, Frieden, Freude, aber auch Geduld, Demut, Glaubensstärke etc. Diese Begriffe sind fundamentale anthropologische, aber sie übersteigen notwendigerweise den Horizont der Anthropologie, weil sie eine Anteilhabe an dem alles umfassenden Sein Gottes beinhalten. Sie sind darum auch für das Verständnis der Kirche und der Eschatologie erheblich (s. dazu u. S. 226.230). Ihr spezifischer anthropologischer Sinn wird jedoch erkennbar, sobald die Grenzen des Geistgeschehens mit in Betracht gezogen werden. Die Grenzen des Geistgeschehens verlaufen nicht nur zwischen Jesus Christus und denen, die ihm keinen Glauben schenken. Vielmehr folgt aus der Geistbetroffenheit des Menschen die anthropologisch höchst folgenreiche Einsicht, daß sie innerhalb der menschlichen Existenz selbst Wirklichkeit sind. Es ist also eine Selbstunterscheidung ins Auge zu fassen. Diese Selbstunterscheidung, die traditionell mit dem Begriffspaar Geist — Fleisch angezeigt wird, ist geboten, weil der Mensch noch nicht auferstanden ist und Geist darum nie ohne Hoffnung existent ist. Der Christ wird also zu konstatieren haben, daß die Wirklichkeit des Geistes nicht mit ihm identisch ist. Aus diesem Grunde ist fehlende Partizipation, Ausdruck der Geistlosigkeit, nach wie vor ein Teil seines Lebens. Diese Notwendigkeit der Selbstunterscheidung läßt es erst existenziell verständlich erscheinen, daß das Sein Gottes entdeckt werden muß und die Einwohnung des Geistes im Menschen nicht mit bestimmten Befindlichkeiten gleichgesetzt werden kann. Das muß besonders dann beachtet werden, wenn Geist durch anthropologische Begriffe wie Herz, Gemüt, Sinn interpretiert wird. Denn sie wären falsch verstanden, falls sie nicht als eindringliche Verdeutlichungen der Partizipation begriffen würden. Sie bezeichnen theologisch niemals das ureigene Sein eines Subjektes. Daß dieser Anschein entstehen kann, beruht auf einer - allerdings naheliegenden - Verwechslung. Die Teilhabe an Gott berührt nämlich den Menschen in seinem innersten Kern. Sie erlaubt nicht nur Du, sondern gerade auch Ich zu sagen, weil der Geist den Menschen als Ganzen in Anspruch nimmt. Auf den Gedanken der Selbstunterscheidung zurückbezogen,bedeutet dies: Sie darf nicht einseitig als Zeichen der Entfremdung menschlicher Existenz verstanden werden. Sie ist hauptsächlich Begleitumstand höchstmöglicher Partizipation. Aus diesem Grunde stehen Fleisch und Geist niemals als Auswahlmöglichkeiten nebeneinander. Das Sein im Geiste schließt eine abwehrende, kritische Haltung ein gegenüber all dem, was am Sein Gottes nicht teil hat. 4.3. Die Erscheinung des Geistes in Amt und Person Jesu Christi sowie die Begründung geistlicher Existenz durch die Auferstehung Jesu ermöglichen ein Verständnis der Partizipation von Gott und Mensch. Um die Rede vom Geist als einen Konstitutionsvorgang zu begreifen, ist jedoch ein dritter Schritt notwendig, der erst verständlich macht, inwiefern von Geist als einem Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen gesprochen werden kann. Wie bereits deutlich wurde, löscht die Partizipation die Personalität des Menschen
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nicht aus, ebensowenig wie die Gottes. Für das Geistgeschehen ist somit maßgeblich, daß es nicht nur Freiheit gewährt, sondern selbst in Form der Freiheit existent wird. Deshalb muß der Geist gesandt werden, damit Partizipation Wirklichkeit sein kann. Das Geistgeschehen ist ein zeitliches Geschehen, das mit entsprechenden dynamischen Kategorien (Geist als Hauch, Wind, Energie etc.) beschrieben werden kann. Im Hinblick auf Gott ist hiermit die Dimension der Erwählung angesprochen; im Hinblick auf den Menschen, daß er den Geist erwarten muß, daß er um ihn bitten soll, daß er sein Ausbleiben fürchten muß wie daß er sich seines Kommens getrösten darf. Dieses Zeitgeschehen wäre unzureichend verstanden, wenn es lediglich als eine Aktualisierung der Partizipation begriffen würde. Denn das hieße, daß das Schema von Form und Materie oder Möglichkeit und Wirklichkeit ein hinlängliches Interpretationsschema wäre. Indem vielmehr bisher schon von der (jede Überbetonung dynamistischen Denkens in Schranken weisenden) Notwendigkeit einer Entdeckung Gottes die Rede war, ist angezeigt, daß Partizipation überhaupt nur im Modus der Aktualität existent wird. Partizipation und Aktualität können darum unterschieden, aber nicht getrennt werden. Die aktuale Dimension des Geistgeschehens läßt die Frage nach den Mitteilungsweisen des Geistes als besonders dringlich erscheinen. Vor allem die reformatorische Theologie hat an dieser Stelle auf den Zusammenhang von Wort und Geist (—»Hermeneutik) aufmerksam gemacht. Auch wenn von lutherischer und reformierter Tradition dieses Verhältnis unterschiedlich bestimmt wurde, besteht Übereinkunft darin, daß Geist im Wort begegnet. Diese Auszeichnung des Wortes beruht nicht nur darauf, daß ontologisch die menschliche Teilhabe an Anderem primär als sprachliche Teilhabe zu verstehen ist, sondern vor allem darauf, daß die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu Christi der Wurzelpunkt der christlichen Rede vom Kommen des Geistes ist und die Entdeckung Gottes daher in diesem Umkreis erfolgt. 4.4. Die dem Christen zukommende Gabe des Geistes eröffnet die Möglichkeit, das Wort Geist in weiterem Sinne zu verwenden. Es ist dies besonders eine Folge davon, daß der christlichen Theologie mit dem Begriff Geist eine spezifische Sicht des Menschseins gelungen ist. Geist meint dann nicht nur den heilig genannten Geist. Er ist vielmehr Inbegriff aller Partizipationsweisen des Menschen und besonders derjenigen, die die Besonderheiten menschlicher Partizipation klar zum Ausdruck bringen, wie Sprache, Vernunft, Liebe. Der Mensch ist Geist, und er hat Geist; denn wie rudimentär auch immer: Er hat teil an anderem. Es ist möglich, in diesem Lichte Geist auch im Sinne von Talent, Genie, Begabung zu gebrauchen. Das Wort zielt diesbezüglich, soll der Kontakt zum theologischen Sprachgebrauch nicht verlorengehen, freilich nicht primär auf die herausragende, subjektive Fähigkeit eines Menschen. Im Vordergrund muß auch hier der Gedanke intensiver Teilhabe an etwas stehen. S. Kirche als
Geistgemeinschaft
Daß der Geist die —»Kirche konstituiert, ist ein Grundsatz jeder Ekklesiologie. Der Vorgang der Konstitution wird allerdings keineswegs einheitlich erklärt. Das hängt mit der Schwierigkeit zusammen, die Geistkonstitution der Kirche mit ihrer Wirklichkeit zu vereinbaren. Sie führt zu verschiedenartigen Unterscheidungen, z. B. der von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, Ereignis und Institution, Kirche und Gemeinde, aber auch zur prinzipiellen Kritik der institutionellen Wirklichkeit der Kirche selbst. Die hierdurch angezeigte geringere oder größere Abwertung der Wirklichkeit der Kirche dürfte im wesentlichen damit zusammenhängen, daß mit Geist als Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen nicht genügend ernst gemacht wird. Das wird schon daraus ersichtlich, daß die auch das Sein der Kirche interpretierende Unterscheidung von Geist und Fleisch in den oben genannten Differenzierungen nicht direkt zum Tragen kommt, sondern nur unter Zuhilfenahme bestimmter, ein abgestuftes Wirklichkeitsverständnis nahelegender Kategorien. Die gegenwärtige Ekklesiologie hat (unter pneumatologischen Gesichtspunkten) ihre entscheidendsten Anregungen durch die Wiederbegegnung mit dem paulinischen und reformatorischen Kir-
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chenverständnis erfahren. Sie hat z. B. die die ältere Ekklesiologie (Schleiermacher) beschäftigende und aus der Trinitätslehre erwachsene Frage nach den Analogien zwischen der Person Jesu Christi und der Geist-Person Kirche (vgl. aber Bonhoeffer; Tillich), um deren Neuformulierung sich besonders die katholische Theologie bemüht, zurücktreten lassen.
5.1. Die Konstitution der Kirche (und folglich auch die Konstitution der Rede vom Geist in bezug auf die Kirche) unterscheidet sich nicht von der Konstitution des Christen .Eine Unterscheidung ist nicht am Platze, weil mit der Konstitution des Christen immer schon die der Kirche gegeben ist und umgekehrt. Dieser Zusammenhang ist in der Christologie verwurzelt. Indem die Auferstehung Jesu die Herrschaft des Geistes in Kraft setzt, ist die Gemeinschaft derer, die sich Christen nennen, begründet. Der Geist gilt dem einzelnen, aber er weist ein in eine Gemeinschaft; er intendiert eine Gemeinschaft, aber er verwandelt den einzelnen. Der Zusammenhang zwischen der Konstitution des Christen und der der Kirche wird besonders deutlich dadurch, daß die Differenzierung von Amt und Person auch für die Kirche erheblich ist. Das prophetische Wort richtet die Kirche ebenso auf die sie umgebende Welt aus wie die priesterlichen und königlichen Aufgaben. Zusammenfassend kommen diese Aspekte unter dem Begriff des Volkes Gottes zur Sprache. Das Verständnis der Kirche als Leib Christi dokumentiert hingegen die Seite der Person. Es lehrt, die Kirche als eine Einheit zu verstehen, die nicht anders existent ist als in der Hingabe an ihren Herren. Wählt man zur Verdeutlichung für das Sein der Kirche den Begriff des Organismus, dann muß man sich klar sein, daß damit nicht in erster Linie einvernehmliche Lebensformen intendiert sind, sondern das Bestimmtsein von dem die Einheit erst bewirkenden Herrn, der mit der Kirche durch den Geist verbunden ist. Darum gehört das Neu-Werden, das Sich-wandeln-lassen zur Existenz der Kirche wie zur Existenz des Christen. Auch sie ist durch ein Sein im Anderen, sc. Gott, charakterisiert. In gleicher Weise besteht für die Kirche die Notwendigkeit, sich von sich selbst zu unterscheiden. Sie ist ecclesia militans, und das gilt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Das Gebot der Wachsamkeit ist immer wieder einzuschärfen, weil ein unheiliger Geist sich an die Stelle des heiligen setzen kann. Auch hier ist zu sehen, daß dieses Gebot der Wachsamkeit aus höchstmöglicher Partizipation herauswächst und eine zwiespältige Existenzweise nicht unter die Kennzeichen der Kirche gehört. 5.2. Wenn beim Menschen von der Entdeckung Gottes zu sprechen war, so gewinnt diese Rede in der Ekklesiologie an Konkretion. Denn gemeint ist hier nicht nur die Entdekkung Gottes in bezug auf die Kirche als ganzer. Gemeint ist auch, daß die Wahrnehmung Gottes im Umgang der Glieder der Kirche untereinander erfolgen muß. Allein in diesem doppelten Gedanken ist die Interdependenz zwischen der Konstitution des Christen und der der Kirche gewahrt. Das Phänomen, das damit Aufmerksamkeit beansprucht, sind die Besonderheiten des in der Kirche zur Geltung kommenden Geistes. Sie werden gewöhnlich unter dem Stichwort Früchte des Geistes zusammengefaßt und sind identisch mit den aus der Einwohnung des Geistes sich ergebenden Charakterisierungen (s.o. S . 2 2 4 ) . Es werden durchweg auf die Gemeinschaft bezogene Verhaltensweisen genannt, die aber - als Taten von einzelnen — Differenzierungen innerhalb der Kirche dokumentieren. Deshalb kann die Frage eine Rolle spielen, wann die Früchte des Geistes seine Gabe anzeigen. Mit der vor allen Dingen paulinischen Entscheidung, daß Gabe des Geistes und defiziente Erscheinungen nicht in prinzipiellem Widerspruch stehen, ist eine für die Ekklesiologie folgenreiche Einsicht gewonnen. Maßgeblich sind nun nämlich nicht apriori bestimmte Manifestationen des Geistes, sondern seine bewegende und belebende Kraft auch noch unter der Decke der Schwachheit. 5.3. In der Gemeinde ist aber nicht bloß die Frage der Früchte des Geistes und ihrer Entdeckung akut. In und mit aller Entdeckung Gottes ist zu erwägen, wie die Kirche mit der Wirklichkeit des Geistes umgeht. Man stößt an diesem Punkt auf die Kehrseite des verhandelten Problems; nämlich wie sich innerhalb der Kirche nun nicht Geist und Personsein, sondern Geist und —»Amt zueinander verhalten. Unbeschadet des Gedankens, daß im Geist
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zu sein und ein Amt wahrzunehmen identisch sind, differieren die Aufgaben innerhalb der Geistgemeinschaft. Die aus der Gemeinde erwachsende Seite des Amtes ist vor allem unter dem paulinischen Begriff der -^Charismen (s.a. o. Abschn. III. 7.4) zu würdigen. Seine Bedeutung besteht darin, die Vielschichtigkeit des Amtes und der Amtsausübung in der christlichen Gemeinde herauszuheben. Paulus geht besonders auf Formen des prophetischen und des königlichen Amtes ein (vgl. bes. I Kor 12). Sie machen deutlich, daß wir es in der T a t beim Amt mit einem Wesensmerkmal der christlichen, gemeinschaftsbezogenen Existenz zu tun haben. Der Kreis der Charismatiker steht nicht der Gemeinde gegenüber, sondern in ihr. Er betätigt den der ganzen Gemeinde gegebenen Geist in spezifischer Ausprägung. Dieses Eingebundensein in die Gemeinde setzt die Charismen Gefährdungen aus. Denn es gibt keine „ A m t s m o r a l " , die ihre Ausübung sicherstellen könnte. Der Charismatiker ist auf die der ganzen Kirche und allen ihren Gliedern geltenden M a ß s t ä b e verwiesen. 5.4. Mit einem weiteren Aspekt des Verhältnisses von Geist und Amt hat man es in der Frage des sog. besonderen Amtes zu tun. Das sind feste, personengebundene Dienste, die nicht aus der Gemeinde hervorgehen, sondern ihr gegenüber stehen. Pneumatologisch gehören vor allem zwei Problemkreise an diese Stelle, der der Tradition und der der Ordination. D a ß es ü b e r h a u p t zur Herausbildung eines besonderen Amtes k o m m t , hat aufs engste mit dem Problemkreis der —>Tradition zu tun. Denn das besondere Amt hat seinen Bestand in der Aufgabe der Traditionswahrung und konnte eigentlich erst existent werden, als diese Aufgabe eigens erkannt worden ist. Dieser historische Gesichtspunkt vermag den Zusammenhang von Geist und Amt jedoch nicht hinlänglich zu erklären. Er führt eher dazu, Tradition als Gegenbegriff zu Geist zu fassen. Demgegenüber wird man daran festzuhalten haben, daß der Z u s a m m e n h a n g von Geist und Tradition mit dem Christusgeschehen gegeben ist. Indem Jesus der Geistträger ist und von seiner Auferstehung gesprochen werden m u ß , sind sowohl Geist als auch Tradition zu bedenken, selbst wenn der Z u s a m m e n h a n g erst in späterer Zeit evident werden konnte. Die Herausstellung des besonderen Amtes erklärt sich also aus der W a h r u n g der Christustradition und damit der Verkündigung seines Geistes. Dies macht es notwendig, allein lebendige Tradition mit dem Wesen des Geistes übereinkommend zu denken (und umgekehrt). D a ß der Z u s a m m e n h a n g von Geist und Amt nicht zu einer Erstarrung führt, ist darin begründet, daß die Konstitution der Kirche durch den Geist nicht unter die Traditionsweitergabe verrechnet werden kann, sondern sich mit und unter dieser als etwas Selbständiges und die Traditionsbezogenheit Begründendes ereignet. D a r u m w o h n t der Tradition der Geist nicht automatisch inne, aber er ist ohne sie nicht zu haben. Das Amt ist in seinem Wesen von dieser Spannung gekennzeichnet und steht d a r u m im Gegensatz zu einseitiger Traditionsbejahung und zur Behauptung unmittelbarer Geisterfahrung. Der zweite Problemkreis, der der -^Ordination, bringt zum Ausdruck, daß die Übermittlung des Amtsauftrages durch die Gemeinde die Zusage der Gegenwart des Heiligen Geistes in sich schließt (vgl. bes. I Tim 4,14). Nach evangelischem Verständnis begründet das keinen character indelebilis, wohl aber die Gewißheit, d a ß alles Reden und T u n des Amtsinhabers unter dem Zeichen der Verheißung des Geistes geschieht. Auf den Ordinierten hin gesehen, stellt sich das Verhältnis von Person und Amt an sich nicht anders d a r als bei jedem Christen. Im Blick auf seine Aufgabe, besonders Predigt des Evangeliums und Gemeindeleitung, ergibt sich allerdings eine Direktive zur Ü b e r o r d n u n g des Amtes, an der die Person sich auszurichten hat. Das kann eine pneumatologische Engführung zur Folge haben. Sie ist n u r dadurch aufzufangen, d a ß das besondere Amt auf die charismatische Grundstruktur der Gesamtgemeinde bezogen bleibt. 5.5. Das das Amt bestimmende Problem des Verhältnisses von Geist und Tradition taucht als eine die Existenz der ganzen Kirche betreffende strukturelle Frage wieder auf in der Unterscheidung von Geist und Buchstabe (II Kor 3,6; zur benachbarten von Geist und Gesetz vgl. u. S. 231). Sie n i m m t das Reden und Handeln der ganzen Kirche und aller ihrer
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Glieder ins Blickfeld. Deshalb wird mit ihr nicht bloß Kirche als Geistgemeinschaft näher präzisiert. Das Thema Kirche und Welt ist mit zu bedenken. Die strukturelle Bedeutung der Unterscheidung von Geist und Buchstabe verbietet es, Daseinsweisen nur unter den letzteren zu subsumieren. Buchstabe meint ebenso wie Geist den Effekt, den Erfolg, nämlich den des Tötens oder den des Lebendigmachens. Deshalb ist prinzipiell die Möglichkeit einzuräumen, d a ß Seiendes das eine oder das andere sein kann. Diese Zweideutigkeit zeigt exemplarisch die Gefährdung an, der das christliche Existieren unterliegt. Sie nennt zugleich die Aufgabe, die überall dort gestellt ist, w o der N a m e Christi genannt wird. Der Geist m u ß sich gegen die Macht des Buchstabens zur Geltung bringen. Dieses Gegenüber verdeutlicht einen Wesenszug der Geistgemeinschaft in der Welt. Sie existiert nur, indem sie ihr Sein als Diakonie des Geistes begreift und also in ständiger Hinwendung zum Geiste, der manifest werden will, ihr Leben führt. 5.6. Das Angewiesensein der Kirche auf den Geist macht deutlich, daß auch für sie dessen aktuales Sein eigens gewürdigt werden m u ß . In der Ekklesiologie ist dieser Aspekt z.T. verselbständigt und neben den aus der Christologie entwickelten Gesichtspunkt der Partizipation gesetzt worden (vgl. die Unterscheidung von Institution und Ereignis durch Leuba, Dilschneider; anders Congar mit der Unterscheidung von Institution und Gemeinschaft). Aus solchen Gegenüberstellungen folgen im einzelnen schwierige Vermittlungsprobleme. Demgegenüber wird auch hier daran festgehalten, daß Partizipation nur im Modus der Aktualität existent ist (s.o. S. 225). Aus ihr erwächst die Frage nach den Mitteilungsweisen des Geistes.
Die Mitteilungsweisen, an die das Geistgeschehen geknüpft ist, sind insbesondere die Heilige Schrift und die Sakramente. Die pneumatologische Bedeutung der Schrift (—»Bibel) wird herkömmlich mit dem Begriff der Inspiration angezeigt. Als inspirierte ist die Schrift gleichsam der G a r a n t des Geistzeugnisses der Gemeinde. Der Begriff ist allerdings insofern problematisch, als er den Blick einseitig auf die Autorschaft der biblischen Bücher lenkt. Von der Pneumatologie her geurteilt, erwächst aber die Stellung der Heiligen Schrift aus dem, was sie erhellt und bewirkt wie aus dem, was die christliche Gemeinde ihr verdankt. Die Geltung resultiert also aus der einenden Mitte der Schrift, der Verkündung des Seins Gottes beim Menschen und des Menschen bei Gott. Diese Mitte begründet die Schriftbezogenheit; sie behauptet ihre Worte als lebendiges W o r t auch gegen die M a c h t des biblischen Buchstabens. Die These von der Inspiration der Schrift stützt sich dementsprechend nicht auf Evidenzen irgendwelcher Art, sondern auf den Inhalt, der zugleich der Schrift ihre Stellung gibt. Die Dogmatik entfaltet diese Gedanken herkömmlich in der Lehre vom testimonium spiritus saneti internum. Nicht in prinzipiell verschiedener, aber in anderer Weise hat die christliche Gemeinschaft es bei den Sakramenten mit der Mitteilung des Geistes zu tun. Sie dokumentieren insbesondere, daß der Mensch mit seiner Leiblichkeit von der Gegenwart des Geistes betroffen ist und er infolgedessen mit allen seinen Handlungen in die Z u w e n d u n g Gottes einbezogen wird. Allerdings ist auch in bezug auf die Sakramente eine Evidenz des Geistes nicht zu behaupten. Das Verständnis des Geistes als Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen verwehrt vorschnelle Gleichsetzungen. Die christliche Gemeinde m u ß , um falscher Buchstäblichkeit zu wehren, auch in Anbetracht der Sakramente die Gegenwart des Geistes erhoffen und erwarten können. N u r dann erschließen sie ihr die Gegenwart des Geistes. 5.7. So wie im Rahmen der Anthropologie schließlich die allgemeine Geisthaftigkeit des Menschen zu würdigen war, ist auch bei der Kirche auf den Z u s a m m e n h a n g mit allgemeinen sozialen Formen des Geistes einzugehen. Denn es läßt sich vom Geist der Kirche in Analogie zu Geist des Staates etc. sprechen. Dieser weitere Sprachgebrauch ist korrekt, weil der Geist Gottes den Menschen in Zeit und R a u m mit Beschlag belegt. Gleichwohl wäre es gefährlich, wenn man den Versuch unternehmen wollte, alle sozialen Formen des Geistes unter einem Oberbegriff zusammenzufassen und auf dieser Basis die verschiedenen sozialen Systeme zu klassifizieren. Der Begriff des Geistes k ö n n t e sich als letztlich überflüssig erweisen. Aber entscheidender ist, daß ein solcher Versuch auch dem Verständnis des Geistes nicht entspräche.
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Wenn er ein Sein-Können eines Einen in oder bei einem Anderen meint, dann kommt es nicht darauf an, definitorisch klare Bestimmungen zu finden. Vielmehr ist es notwendig, das Nebeneinander verschiedener sozialer Systeme als Wege zu verstehen, Partizipationsformen und ihre Ausgestaltung in Beziehung zu setzen, voneinander abzugrenzen, in ihrer Leistungsfähigkeit zu bestimmen etc. Was z. B. Geist der Kirche ist, wird sich infolgedessen bloß in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum feststellen lassen. Nur hypothetisch können allgemeinere Definitionen versucht werden. 6. Der Geist als Schöpfer
und
Vollender
Daß der Geist Gottes in Beziehung zu Schöpfung (—»Schöpfer/Schöpfung) und Vollendung (—»Eschatologie) gedacht werden muß, ergibt sich aus seinem bisher dargestellten Wesen wie aus seiner Erfahrung. Als Sein in oder bei einem Anderen bewirkt er dessen Sosein und wird folglich als creator spiritus erfahren. Weil er diesem Anderem die Kontinuität der Verheißung gewährt, vollendet er es auch und wird folglich als Kraft der Vollendung erlebt. Schöpfung und Vollendung erstrecken sich in der Begegnung mit dem Geist Christi zuerst auf den Menschen in seiner Kreatürlichkeit. Sie müssen jedoch die gesamte Kreatur meinen, wenn der Geist nicht nur einen Teil des Menschen in Anspruch nimmt. Die Pneumatologie muß daher die Kosmologie, überhaupt die universalen Aspekte der Wirklichkeit, mit in Betracht ziehen. Sie steht an dieser Stelle freilich vor einem auch methodisch schwierigen Problem. Denn die Weiterung legt eine spekulative Erörterung nahe. Demgegenüber soll hier wiederum davon ausgegangen werden, daß das Geistgeschehen immer ein Konstitutionsgeschehen ist. Ohne die Erkenntnis der umwandelnden und erneuernden Macht des Geistes sollen also auch die protologischen und eschatologischen Aspekte der Pneumatologie nicht begriffen werden. Hieraus entspringen zwei unterschiedliche Einsichten. In bezug auf die Schöpfung ist zu sagen: Sie muß, wenn es wirklich um den Geist Gottes und nicht um einen auf den Menschen zugeschnittenen Geist geht, als Implikat des Geistwiderfahrnisses begriffen werden. Geist lehrt den Geist entdecken auch dort, wo seine Konturen nicht eindeutig vorgezeichnet oder durch die Geistlosigkeit des Menschen verstellt sind. In bezug auf die Eschatologie gilt: Sie muß als Explikat des Geistwiderfahrnisses verstanden werden. Der Geist ist Zeichen bereits anhebender Vollendung, diese also das Hoffnungsziel gegenwärtiger Geisterfahrung. Beide Einsichten fußen auf dem Gedanken, daß weder protologische noch eschatologische Aussagen im Rahmen der Pneumatologie verselbständigt werden können. Das heißt: Schöpfung kann nur im Zusammenhang mit der Neuschöpfung, wie sie in der Begegnung mit dem Geist Christi deutlich wird, Vollendung nur im Zusammenhang mit dem verheißenen Geiste Christi recht begriffen werden. Beides hat seinen Wurzelpunkt in der Inkarnation, die pneumatologisch besonders mit dem Bericht von der Empfängnis Jesu verknüpft ist. 6.1. Zum Verstehen der Schöpfung müssen zwei Linien bedacht werden, die im Widerfahrnis der Neuschöpfung konvergieren und den bisher herausgestellten Zusammenhang von Partizipation und Aktualität bekräftigen. Zum einen hat der vom Geist Christi in Anspruch genommene Mensch zu erkennen, daß er der zur Teilhabe mit Gott immer schon Bestimmte ist. Die Neuschöpfung erschließt eine Dimension, die logisch der durch Christus eröffneten voraus liegt. Zum anderen hat derselbe Mensch zu sehen, daß diese Teilhabe nur in Form zeitlicher, mit dem Kommen Christi bestätigter und folglich zu glaubender Einsicht existent ist. Beide Seiten k o m m e n in dem Begriff überein, der biblisch die Beziehung des Geistes zur Schöpfung belegt, dem des Lebensodems (s.o. Abschn. I. 5). Indem er von G o t t eingehaucht wird, wird der Mensch fähig, am Sein Gottes Anteil zu haben wie G o t t an ihm. Der Lebensodem ist aber nicht die Basis für ein Leben im Geiste, sondern selbst schon eine Manifestation der Geistwirklichkeit. Er kann darum nicht aus dem theologischen Kontext gelöst und vom Menschen in seine Verfügungsgewalt genommen werden. Seine Erschlossenheit als Schöpfungsgabe Gottes ist vom Geist gewirkt und folglich Zeichen aktueller Partizipation.
Die zwei das Schöpfungsverständnis leitenden Gesichtspunkte machen die Bereiche
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kenntlich, in denen das Wirken des Geistes erfahren wird, nämlich in ^ N a t u r und —»Geschichte. Denn als Natur- und Geschichtswesen ist der Mensch in Anspruch genommen, wenn er den Geist Christi erfährt und auf das Leben in Natur und Geschichte ist er durch diesen zurückverwiesen. Beide Bereiche dürfen deshalb nicht voneinander gesondert werden. Es wäre verkehrt, in der Pneumatologie dem Begriff der Heilsgeschichte eine Vorzugsstellung einzuräumen. Ebensowenig könnte heiligen Orten eine herausragende Stellung zuerkannt werden. Alle Zeiten und Räume sind durch das Kommen Christi vom Urteil des Geistes betroffen. In dem pneumatologischen Verständnis der Schöpfung haben die dem Geistbegriff benachbarten anthropologischen Termini wie Gemüt und Herz ihren eigentlichen Ort. Werden sie umfassend genug verstanden, dann gewinnen sie sowohl eine naturhafte wie eine geschichtliche Bedeutung. In den gleichen Zusammenhang gehört das Verständnis des Geistes als Sinn, wenn mit ihm die Intentionalität von Seiendem gemeint ist. Auch Begriffe wie subjektiver oder objektiver Geist sind der Schöpfungstheologie zuzuordnen. Indem das Widerfahrnis des Geistes auf den Zusammenhang von Partizipation und Aktualität auch in der Schöpfungstheologie achten lehrt, wird durch den Geist die Erkenntnis der Einheit der Wirklichkeit begründet. Geist und Einheit sind geradezu gleichzusetzen, so daß der Mensch in kosmische Zusammenhänge eingewiesen ist und alles Lebendige in seiner Anteilhabe an Gott zu begreifen hat. Zu beachten ist hierbei nur, daß Einheit immer konstituierte Einheit meint und darum mit vorhandener Einheit nicht ohne weiteres identifiziert werden kann. Das ist gerade dann hervorzuheben, wenn — vom Geistwiderfahrnis aus mit Recht — Kirche als Anwalt der Einheit der Welt verstanden wird. Denn gerade sie wird nicht davon absehen können, daß Einheit ein Geschenk des Geistes ist und bleibt, auch wenn es um die Einheit der Schöpfung geht. 6.2. Es ließ sich bereits bei den bisherigen Erörterungen nicht davon absehen, daß —»Hoffnung ein Grundmerkmal des Seins im Geiste ist. Die Pneumatologie nötigt daher zur Beachtung der Eschatologie. In der Tat drängt die Erfahrung des Geistes als Sein-Können Gottes in dieser Welt zum Gedanken vollendeter Partizipation, in der jede Differenz zur Aktualität aufgehoben ist. Weil auch diese Erfahrung an den Namen Jesu Christi geknüpft ist und die Vollendung allererst als Vollendung seines Werkes bedacht werden muß, kann der ihm und der durch ihn geschenkte Geist als schon die Gegenwart bestimmende eschatologische Gabe verstanden werden. Dieses Verständnis darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Vollendung als Explikat des Geistwiderfahrnisses nicht bloß mehr, sondern immer auch ein anderes ist als das in der Gegenwart erfahrene. Wenn keine Nötigung mehr bestehen wird, den Geist vom unheiligen Geist zu unterscheiden, zeigt das eine grundlegende Differenz zur gegenwärtigen Weltzeit an. Das eschatologische Verständnis des Geistes macht es darum notwendig, auch hier zwei Linien zu verfolgen. In Analogie zum Zusammenhange von Schöpfungslehre und Pneumatologie kann gesagt werden: Der vom Geist Christi in Anspruch genommene Mensch hat zu erkennen, daß er der zur Partizipation mit Gott auf immer Bestimmte ist. Zum anderen hat derselbe Mensch zu sehen, daß er die Partizipation jetzt nur haben kann im Kampf mit Mächten, die dem Geiste widerstreiten. Die vollendete Partizipation steht noch aus. Beide Linien konvergieren in der Sendung des Geistes. Durch die Ausrichtung auf die Zukunft verändert sich - im Vergleich zur Schöpfungslehre - das Verhältnis von Partizipation und Aktualität. Denn während dort die Aktualität das zur Partizipation hinzukommende ist, ist hier die Relation in umgekehrter Reihenfolge zu denken. Partizipation ist nun das, was erwartet wird! Sie kann nicht lediglich vorausgesetzt werden — unbeschadet dessen, daß auch jetzt allein der Zusammenhang von Partizipation und Aktualität das Geistgeschehen charakterisiert. Im Lichte der beiden Linien der Eschatologie werden pneumatologische Grundbegriffe der Anthropologie und der Ekklesiologie, insbesondere der der —»Freiheit, der —> Gerechtigkeit und der —»Liebe zum Singularetantum. In gleicher Weise gewinnt die jetzt noch notwendige Selbstunterscheidung kosmische Weite. Die Eschatologie verdeutlicht, daß das
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Sein-Können Gottes im Anderen und das Sein-Können des Menschen in Gott eine Weltenwende impliziert. Darum dient das Begriffspaar alt—neu nicht nur zur anthropologischen Kennzeichnung des Geistgeschehens, sondern auch zur Benennung seiner universalen Bedeutung. Zum Inbegriff der alten Welt wird insbesondere der Terminus —>Gesetz. Das Gesetz ist nicht imstande, die Partizipation des Menschen an Gott zu bewirken, weil es seine Grundbefindlichkeit übersieht: die Sünde. Als Heilsweg verstanden, zeigt es daher eine prinzipielle Grenze der Partizipationsfähigkeit an, die der Mensch von sich selbst aus nicht überwinden kann. Auf der anderen Seite ist es möglich, Geist und Wahrheit bzw. Weisheit zusammenzuführen. Das gewährte Sein-Können öffnet nämlich den Blick für das Sein Gottes wie für die Beschaffenheit der Welt und der in ihnen und zwischen ihnen waltenden Relationen. Dabei ist wiederum darauf zu achten, daß auch Wahrheit ohne Aktualität nicht zu haben ist. Deshalb bedarf es der Führung und Leitung Gottes auf dem Wege der Wahrheit. Im gleichen eschatologischen Sinne wie Geist und Wahrheit kann die Wendung Geist und Recht gebraucht werden. Daß auch diese beiden Begriffe zusammengefügt werden können, hat darin seine Ursache, daß der Geist die Struktur der Wirklichkeit in ihrem Verhältnis zu Gott erschließt. Erkannte Partizipation ist in Rechtsbegriffen beschreibbare Partizipation. Zu beachten ist, daß der pneumatologische Rechtsbegriff konstitutionell der Eschatologie und nicht der Schöpfungslehre zugehört. Darum ist mit der Erkenntnis von Rechtsstrukturen allein nichts getan. Es kommt einerseits auf die christologische Verwurzelung des Rechtes, andererseits auf den vom Geist geleiteten Vollzug an. Oder anders: Gerechtigkeit ist die Bedingung der Möglichkeit allen eschatologischen Rechtes. Der Zusammenhang von Geist und Recht wurde in der neueren Rechtstheologie insbesondere gegen —>Sohm hervorgehoben (vgl. z.B. Wolf; Dombois). Es blieb aber fraglich, inwieweit mit der Gabe des Geistes verbindliches kirchliches Recht gegeben ist. Denn für die Geistgemeinschaft ist diese Gabe nur verbunden mit der Notwendigkeit der Selbstunterscheidung existent. Dadurch wird der Zusammenhang von Sein und Akt konstitutiv, der weder in einer Rechtstheorie noch in der Rechtspraxis automatisch aufgefangen werden kann. Er nötigt methodisch zur Differenzierung zwischen eschatologischem Gottesrecht und Menschenrecht, aber er berechtigt auch zu der Erkenntnis, daß sich im menschlichen Recht Gottesrecht zu vollziehen vermag.
Die Vollendung, zu der der Geist führt, kulminiert im Gedanken der—»Auferstehung von den Toten. Der Totenleib wird abgetan und ein verwandelter Leib gegeben (vgl. bes. I Kor 15,35ff). Die Auferstehung von den Toten bedeutet sicherlich ein völliges Einswerden mit Gott. Es muß aber gesehen werden, daß auch dieses Einswerden nicht ohne Partizipation und Aktualität zu denken ist. Für sie gibt es kein Ende, so daß das Sein Gottes „alles in allem" (ebd. 15,28) nicht als Aufhebung der Anderen (sc. der Auferstandenen) begriffen werden darf. Nur wenn man diesen Gedanken scharf ins Auge faßt, ist die Schöpfung nicht ein Mittel zum Zwecke des endgültigen Bei-sich-selbst-seins Gottes. Vielmehr ist auch sie in die Vollendung einbezogen, und zwar in der Form, daß nunmehr alles Geistwidrige abgetan ist. Es ist der Vorzug chiliastischen Denkens (—>Chiliasmus), daß es das Grundmoment der Partizipation ins Licht setzen kann. Fraglich ist seine Abwertung der Schöpfung wie die spekulative Ausmalung künftiger Geschichte. 7. Ethik
des
Geistes
Die bisherigen Analysen können von drei Voraussetzungen ausgehen: Die am Geist orientierte theologische —»Ethik ist niemals formale Ethik. Geist wäre im Sinne von Selbstbewußtsein und nicht von aktueller Partizipation aus zu verstehen, falls dies anders sein sollte. Eher ergibt sich eine gewisse Nähe zur —»Situationsethik. Sie ist mit dem Moment der Aktualität, das dem der Partizipation zu verbinden ist, angezeigt. Allerdings genügen ihre Prinzipien keineswegs. Der Geist ermöglicht, das Woher und das Wohin des Handelns in die Überlegung einzubeziehen. Darum ist die Geistethik in spezifischem Sinnemateriale Ethik. Ihre Prinzipien treten nicht als etwas Neues zur dogmatischen Bestimmung hinzu, vielmehr sind die Beschreibungen, die hier gegeben wurden, in der Regel immer auch schon ethische und umgekehrt. Mindestens können dogmatisch-pneumatologische Sätze in ethische ohne
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sonderliche Schwierigkeiten umformuliert werden. In diesem Sinne sind die zur Sprache gekommenen anthropologischen und ekklesiologischen Grundbegriffe sowie ihre schöpfungstheologischen Implikate und eschatologischen Explikate ohne eine Inanspruchnahme des handelnden Menschen nicht zu denken. - Gleichwohl bedürfen einige Themen der besonderen Berücksichtigung. Die Pneumatologie fordert ethisch besonders zur Auseinandersetzung mit dem Problem der —>Vernunft heraus. Weil der Geist von Menschen, womöglich auf außerordentliche Weise, Besitz ergreift, scheint ein Gegensatz begründet. Dieser wird allerdings durch die Aufforderung, die Geister zu prüfen (I Joh 4,1), eingeschränkt. Aber dadurch ist noch keine Überwindung des Gegensatzes eingeleitet. Diese Möglichkeit zeichnet sich erst dadurch ab, daß das Sein und Wirken des Geistes Schöpfung und Vollendung mitumfaßt. Jedoch begründet auch diese Berücksichtigung allein noch nicht die Stellung der Vernunft, weil sie ein irrationalistisches Verständnis der Wirklichkeit nicht zureichend ausschließt. Erst die Beachtung der Trinitätstheologie bedingt, das Walten des Geistes in einem Spannungsverhältnis (von Schöpfung, Versöhnung und Erlösung) zu sehen, das ohne eine herausragende Stellung der Vernunft weder wahrgenommen noch bewältigt werden kann. Die Komplexität und Universalität des Geistwirkens geben also der Vernunft ihre Bedeutung für das Handeln. Sie machen deutlich, daß das Walten des Geistes sich auf die Wirklichkeit überhaupt erstreckt und darum mit Einzelphänomenen, zu denen auch enthusiastische zu rechnen wären, nicht identifiziert werden kann. Wenn der trinitätstheologisch verstandene Geist die Vernunft in Kraft setzt, so folgen daraus Einschränkungen. Vernunft kann sich nicht an die Stelle des Geistes setzen. Sie ist gehalten, das Seiende als das, was es ist, gelten zu lassen. Ihr wohnt eine realistische Tendenz inne, nicht im Sinne einer Bevorzugung des Bestehenden, wohl aber eines Interesses an unverstellter Wirklichkeit. Die Pneumatologie führt darum zur Gegnerschaft mit den Formen der idealistischen Philosophie, sofern sie eine Gleichsetzung von Geist und Vernunft intendieren. Diese Gegnerschaft richtet sich erst recht gegen jeden exzessiven ideologischen Gebrauch der Vernunft. Demgegenüber können z. B. in der christlichen Theologie pneumatische Phänomene gebilligt werden als Ausdrucksformen der Partizipation, solange sie sich in den Zusammenhang des Geistgeschehens einfügen. Die in solcher Weise für die Vernunft abgesteckten Maße bringen natürlich die Frage nicht zum Verstummen, ob nicht ihr selbst und dem von ihr geleiteten Handeln eine innere Beziehung zum Walten des Geistes innewohnt. Es gibt das Licht der Vernunft, erleuchtete Vernunft. Beides verweist —in unterschiedlicher, sc. schöpfungstheologischer bzw. eschatologischer, Perspektive — auf die der Betätigung der Vernunft geschenkte bzw. aus ihr selbst hervorgehende Spontaneität, also auf die ihr zugeeignete bzw. ihr eigene Geistigkeit. Die Beantwortung der Frage nötigt zur Wiederaufnahme des über das Verhältnis des Geistes Gottes zu dem des Menschen Gesagten (s.o. S. 225). Zum einen ist danach festzuhalten, daß die Spontaneität der menschlichen Vernunft erst dann zur Sprache gebracht werden kann, wenn zuvor Gottes Sein-Können in oder bei Anderem zu Worte gekommen ist. Denn die Spontaneität muß sich messen lassen am Umfange des göttlichen Geistwirkens. Für sich besagt sie darum nichts. Zum anderen ist aber diese Spontaneität ein Merkmal der Partizipation des Menschen an Gott. Sie ist insofern einerseits eine Präzisierung des empfangenen Lebensodems (s.o. S. 229) und folglich ein Implikat des Geistgeschehens. Andererseits ist sie eine Folge der Teilhaberschaft am Geiste Christi und als solche eine eschatologische Gabe. Aufgrund dieser beiden Antworten ist von der Vernunft geleitetes Handeln niemals allein dem Gegebenen und dessen vernünftiger Gestaltung zugewandt, sondern ek-statisch vom Lichte der Vernunft wie von der erleuchteten Vernunft bestimmt und geleitet. Die Reihenfolge, in der die beiden Erkenntnisse zu formulieren sind, führt freilich dazu, daß ethisch der Bereich des erscheinenden, öffentlich sich verwirklichenden Handelns auszuzeichnen ist vor allen ethischen Bestimmungen der Vernunft selbst. Die Bedeutung dieser Seite aber zeigt sich darin, daß gerade solche ethischen Verhaltensweisen hervorgehoben werden müssen, die ohne den Strahl des der Vernunft gewährten Lichtes nicht verwirklicht werden können, nämlich
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die als Grundbegriffe des geistlichen Seins geltend zu machenden Gedanken der Liebe, der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens. Das v o m Geist geleitete Handeln erstreckt sich auf die gesamte Wirklichkeit. T r o t z d e m bedarf das Verständnis der Kirche
als Geistgemeinschaft ethisch besonderer Berücksichti-
gung. Es besteht die Frage, ob diese Gemeinschaft sich durch besondere M a ß s t ä b e und Verhaltensformen auszeichnet. Die Frage ist geteilt zu beantworten. Auf der einen Seite muß gesagt werden, daß die Geistgemeinschaft partizipatorische Handlungsweisen wertmäßig bevorzugt. Sie hat dadurch in der T a t eine besondere Ethik und muß sich an dieser messen lassen. Das schließt nicht aus, d a ß die ethischen Begriffe der Geistgemeinschaft auch nichttheologische Ethiken bestimmen können. Charakteristisch ist der G o t t und W e l t umspannende Begründungsrahmen, nicht die einzelne ethische Kategorie. Auf der anderen Seite ist mit dem M o m e n t der Selbstunterscheidung angezeigt, d a ß die Seinsweise der Geistgemeinschaft keine unangefochtene ist. Daher kann kein zeitübergreifender ethischer Standard erreicht werden. Z u jeder Zeit ist die Partizipation eine zu gewinnende. Insofern gibt es keinen namhaft zu machenden evidenten ethischen Unterschied zwischen den Handlungsformen der Geistgemeinschaft und anderen sozialen Systemen. Dies läßt sich zusammenfassend auf den Begriff beziehen, der das Wesen des Geistes in ethischer Perspektive a m klarsten zum Ausdruck bringt, den der —»Heiligkeit.
E r führt zu-
rück zur christologischen Fragestellung. Denn Heiligkeit bedeutet nicht eine Sakralisierung der Lebensweise, sondern ein Befolgen des Willens Gottes, wie er im Geistwirken Jesu zum Ausdruck k o m m t , durch seine Auferstehung begründet ist und in der Praxis der Selbstunterscheidung verwirklicht wird. Ihm entsprechend ist die Sünde wider den Heiligen Geist ( M k 3 , 2 9 ) die einzig unvergebbare Sünde, weil sie einer Unmöglichkeit gleichkommt, n ä m lich der Ablehnung der Partizipation als der durch das K o m m e n Jesu manifest gewordenen menschlichen Grundsituation. Literatur In das Verzeichnis wurden die Lehrbücher der —»Dogmatik und —»Ethik mit Ausnahme der im Artikel zitierten nicht aufgenommen. Bibliographien: RBIC l f f ( 1 9 6 6 / 6 7 f f ) , s. v. Hl. Geist. - IOB 1 / 2 f f (1962/63ff), s. v. Gott/Hl. Geist. - Holy Spirit - Esprit Saint. Int. Bibliography 1972 - June 1974 indexed by Computer - Bibliogr. int. 1 9 7 2 - j u i n 1974 établie par ordinateur. Hg. v. Eduardo Ibarra, Straßburg 1974 (R[B]IC Suppl. 14). Anna Marie Aagaard, Gottes verwundbare L i e b e - H l . Geist. Meditationen, 1982 (KT 6 6 ) . - D i e s . , Helliganden sendt til Verden, Aarhus 1973 2 1 9 7 4 . — Leiv Aalen, Testimonium Spiritus Sancti som teologisk ,prinsipp', Oslo 1938. - Ders., Das Zeugnis des Hl. Geistes als ,Prinzip' der ev. Ethik: ZSTh 15 (1938) 2 4 8 - 3 1 5 . - Metropolit Alexy, In der Kraft des Hl. Geistes - frei für die Welt: ZdZ 34 (1980) 41—52. - Paul Althaus, Communio Sanctorum, 1928 (FGLP 1/1). - Die Anrufung des Hl. Geistes im Abendmahl, hg. v. Kirchl. Außenamt der EKD, 1977 (ÖR.B 3 1 ) . - H e i n r i c h Bacht, Nomos u. Pneuma. Krit. Überlegungen zur Diskussion über Autorität u. Freiheit in der Kirche: StZ 184 (1970) 9 8 - 1 1 2 . Hans Urs v. Balthasar, Skizzen zur Theol. III. Spiritus Creator, Einsiedeln 1967; IV. Pneuma u. Institution, 1974. - Johannes B. Banawiratma, Der Hl. Geist in der Theol. v. Heribert Mühlen, 1981 (EHS.T 159). - Karl Barth/Heinrich Barth, Zur Lehre vom Hl. Geist, 1930 (ZZ.B 1). - Karl Barth, KD 1 / 1 , 1 9 3 2 = s 1 9 6 4 . — Ders., Nachwort: Schleiermacher-Ausw., hg. v. Heinz Bolli, München/Hamburg 1968 = " 1 9 8 0 , 2 9 0 - 3 1 2 . - Don Basham, A Handbook on Holy Spirit Baptism, Monroeville, Penns. 1969. Nikolaj Berdjajew, Geist u. Wirklichkeit, Lüneburg 1949. - Hendrikus Berkhof, Theol. des Hl. Geistes, 1968 (NStB 7). - Petrus B.T. Bilaniuk, Theology and Economy of the Holy Spirit, Rom/Bangalore 1980. - Pamela M. Binyon, The Concepts of ,Spirit' and ,Demon'. A Study in the Use of Différent Languages Describing the same Phenomena, Frankfurt/Bern/Las Vegas 1977 (Stud. zur interkulturellen Gesch. des Christentums 8). - Arnold Bittlinger, Papst u. Pfingstler. Der röm.-kath.-pfingstliche Dialog u. seine ökum. Relevanz, Frankfurt/Bern/Las Vegas 1978 (Stud. zur interkulturellen Gesch. des Christentums 16). - Klauspeter Blase.r, Vorstoß zur Pneumatologie, 1977 (ThSt [B] 121). - Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio, Berlin 1930, München 4 1 9 6 9 (TB 3). - Wilfried Brandt, Der Hl. Geist u. die Kirche bei Schleiermacher, 1968 (SDGSTh 25). - Walter Bröcker/Heinrich Buhr, Zur Theol. des Geistes, Pfullingen 1960. - Emil Brunner, Die Lehre vom Hl. Geiste, 1945 (KZF 15). - Ders., Vom Werk des Hl. Geistes, Tübingen 1 9 3 5 . - P e t e r Brunner, Der Geist u. die Kirche: ders., Pro Ecclesia. GAufs. zur dogm. Theol., Berlin/Hamburg, [I] 1962, 2 2 0 - 2 2 4 . - Ders., Der Hl. Geist führt die Kirche
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Problemgeschichte
In der B e h a n d l u n g des T h e m a s „ H e i l i g e r G e i s t " z e i g t sich d u r c h d i e n e u e r e T h e o l o g i e g e s c h i c h t e h i n d u r c h z w i s c h e n der D o g m a t i k u n d der P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e e i n e d e u t l i c h e S y m m e t r i e . D e r Reduktion Verschweigen
d e r L e h r e v o m H e i l i g e n G e i s t in d e r D o g m a t i k e n t s p r i c h t ein
o d e r ein auf s p e z i f i s c h e F r a g e s t e l l u n g e n eingeschränktes
Reden
v o m G e i s t in
d e r P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e (vgl. S t e p h a n 1 6 8 f). D i e G e s c h i c h t e d i e s e s L e h r s t ü c k s i n n e r h a l b d e r P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e k a n n g e z e i c h n e t w e r d e n a l s e i n e Geschichte als e i n e Geschichte
des sich aufdrängenden
Geistes
Gottes.
des verdrängten
und
Eine ausgebildete Amtskirche,
die d e n V e r l u s t der —»Charismen l e g i t i m i e r t , d e n G e i s t a l s Besitz r e k l a m i e r t u n d d e m —>Amt ein- u n d u n t e r o r d n e t , w i r d in der sie t h e o l o g i s c h b e g l e i t e n d e n L e h r e ihrer P r a x i s d e m H e i l i g e n G e i s t w e n i g A u f m e r k s a m k e i t s c h e n k e n m ü s s e n . E i n z e l n e , a u s der D o g m e n g e s c h i c h t e ü b e r k o m m e n e P r o b l e m s t e l l u n g e n - w i e W o r t u n d G e i s t ; G e i s t u n d G n a d e n m i t t e l ; Inspirat i o n der Schrift; vita spiritualis
- w e r d e n v o n der P r a k t i s c h e n T h e o l o g i e ü b e r n o m m e n u n d
als S p e z i a l f r a g e n in i h r e m F ä c h e r k a n o n , i n s b e s o n d e r e i m K o n t e x t v o n —»Homiletik, —»Poim e n i k u n d A s z e t i k (—»Askese) b e h a n d e l t (vgl. A c h e l i s 1 , 1 - 1 4 ) . D e r H e i l i g e G e i s t w i r d d a b e i w e i t h i n g e s e h e n als d e r theonome
V o r b e h a l t , der d a s g e g e n w ä r t i g e W i r k e n G o t t e s g a r a n -
tiert, s o z w a r einer A l l e i n w i r k s a m k e i t d e s M e n s c h e n w e h r t , a b e r l e t z t e n d l i c h d o c h n u r d e n
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Weg „von der Lehre zum Leben" in der Praxis gewährleistet (vgl. Diem 55 f). Man wird so von einer wohltemperierten Ausgeglichenheit in der Lehre vom Heiligen Geist und gerade deshalb von „Geistvergessenheit" (Dilschneider; Bohren; Mühlen) reden können. War die Praktische Theologie im Blick auf die dogmatische Bemühung um den Heiligen Geist und hinsichtlich der gängigen kirchlichen Praxis weitgehend reaktionär, so hat sie auch im Blick auf den sich aufdrängenden Geist oft nur eine beobachtende, klärende, einordnende Stellung eingenommen. Immer wieder ist im Verlaufe der Kirchengeschichte ein Aufbruch des Geistes zu verzeichnen gewesen (s. o. Abschn. IV), der aber entweder durch einen wenig abgeklärten Enthusiasmusvorwurf entschärft oder gar entschieden verworfen wurde. Zu ungeklärt war und ist das Verhältnis der Großkirchen zu den Neuaufbrüchen des Heiligen Geistes, die sich meist in kleinen Gruppen innerhalb oder am Rande der Kirche ereignen. Erst in der neueren Zeit geschieht auf verschiedenen Ebenen ein neues Bedenken, Erwarten und Erfahren des Heiligen Geistes. In der Dogmatik haben E. —»Brunner, K. —»Barth und O.A. Dilschneider die Weichen für eine pneumatologische Neuorientierung zu stellen versucht; H. Mühlen hat neben J. Moltmann, G. Sauter und W. Dantine den Heiligen Geist in den Vordergrund seiner ekklesiologischen Bemühungen gestellt; in der Praktischen Theologie entwirft R. Bohren eine pneumatologisch konzipierte „theologischeÄsthetik" und M. Seitz bedenkt insbesondere die Aspekte von Seelsorge und vita spiritualis. Die charismatische Bewegung, die auf eine ökumenisch orientierte Erneuerung der Kirche zielt, hat zumal seit den siebziger Jahren des 20. Jh. der Pneumatologie neue Impulse gegeben, die aber theologisch ausgearbeitet werden müssen, damit Heiliger Geist ein „epochales Ereignis" (Mühlen) wird und nicht eine Episode der Theologiegeschichte bleibt. Von diesen Neuentdeckungen der Pneumatologie her stellt sich für die Praktische Theologie die Frage, ob sie sich als Ganze von ihr her konzipieren läßt oder ob die Rede vom Heiligen Geist nur in bestimmten, begrenzten, von der Tradition vorgeschriebenen Fragestellungen vorkommen soll. Man wird auf jeden Fall auch in der Praktischen Theologie, die ansetzt im Heute der Geistesgegenwart, die Reformatoren neu zu Gehör bringen müssen. Liegt deren Bedeutung auch „in der Entdeckung und Entfaltung der Lehre vom Heiligen Geist" (Koopmans 112; vgl. Diem 55 ff und die Arbeiten von Krusche; Prenter; Locher), dann wird hier wie in der Bibel Wegweisung zu finden sein, die Geschichte und Gegenwart praktisch-theologischer Bemühungen um den Heiligen Geist fruchtbar deuten und beeinflussen zu können. Alle Fächer der Theologie haben hier ein Thema, das ihre Einheit konstituiert. 2. Kirche als Selbstverwirklichung
ihres
Geistes
Thematisierte die Praktische Theologie seit —»Schleiermacher den Heiligen Geist grundsätzlich, dann tat sie das immer nur in Unterordnung desselben unter die Ekklesiologie. ^•Kirche blieb - im Gegensatz zur reformatorischen Lehre - der Oberbegriff allen Redens vom Geist. E. C. -^Achelis' Definition von Praktischer Theologie bestimmt zugleich, wie vom Heiligen Geist geredet werden darf: „Die praktische Theologie ist nichts anderes als die Lehre von der Selbstbetätigung der Kirche zu ihrer selbst Erbauung" (1,25). Erbauung ist verstanden als der zielgerichtete, immanente, in der Kirche durch ihr Wesen angelegte Prozeß zu ihrer Vervollkommnung, welchen die Praktische Theologie zu beobachten und zu begleiten hat. „Die Tätigkeiten, deren Theorien die Disziplinen der praktischen Theologie beschreiben, sind der Kirche Jesu Christi eigentümlich; es sind kraft des in ihr wohnenden Geistes ihre notwendigen Lebensbetätigungen, damit sie sich erhalte und vollende, d. h. erbaue" (1). Der Heilige Geist wird diesem Prozeß eingeordnet als der Garant der natürlichen Gaben, die zur Erhaltung, Wirkung und Erbauung der Kirche notwendig sind (vgl. 171 ff; v. d. Goltz 25 ff). Dies Bild von Kirche und des in ihr eingeordneten Heiligen Geistes bestimmt die Praktische Theologie von Schleiermacher an, ja man wird behaupten dürfen, daß Schleiermachers Verständnis von Heiligem Geist alle folgende Praktische Theologie zumindest mitbestimmt. Definiert er Heiligen Geist als „ . . . die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesamtleben der Gläubigen beseelenden Gemein-
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geistes" (Glaube 11,259), so wird hierin das Grundproblem jeglicher Pneumatologie sichtbar: die Frage nach dem den Heiligen Geist vom Menschengeist und also auch vom die Kirche durchwaltenden Gemeingeist unterscheidenden Proprium oder aber die Frage nach der Selbstwirksamkeit, der Subjekthaftigkeit des frei wirkenden Gottesgeistes, nach seiner Personalität also. Bestimmt die Definition Schleiermachers das Verständnis des Heiligen Geistes in der Praktischen Theologie, dann wird die Kirche zum Subjekt im Prozeß des sich selber entwickelnden, weil in ihr angelegten Geistes (vgl. auch Ritsehl, Unterricht § 55, S. 49). „ W a s die Gemeine zu einer christlichen macht, was ihre Lebenseinheit bildet, ist dasselbe was die Lebenseinheit des Ganzen bildet, und es h a t daher diese Wirksamkeit immer den Charakter des allgemeinen; denn man kann nur wirken auf eine Gemeine indem man die Kraft des Geistes in ihr zu stärken sucht" (Schleiermacher, Prakt. Theol. 33). H . Barth sieht in dieser Definition des Heiligen Geistes die grundsätzliche Unterschiedenheit zur genuin reformatorischen: „Als Hl. Geist wird der Geist der psychologisch-geschichtlichen Wirklichkeit der gläubigen Gemeine i m m a n e n t " (Geistproblem 26; vgl. Sauter, Freiheit 213). Die Praktische Theologie, die dieser idealistischen Geistdeutung folgt, wird in ihrer Methodik (vgl. Schleiermacher, Prakt. Theol. 39) und Ausführung zu einer kirchenerhaltenden, zwar bedingt kirchenkritischen, aber insgesamt doch angepaßten, die Vervollkommnung des bestehenden Kirchentums intendierenden Lehre. Wenige Theologen des 19. J h . haben sich dem Bezwingenden dieser Grundlegung entziehen können; vertauscht wurden nur die grundlegenden Begriffe: „christlicher Geist" (Rothe; vgl. Weth 204); „Christi Geist" (Ritsehl; F. Niebergall) und auch „Jesu Geist" (v. H a r n a c k ; Schweitzer; Baumgarten; Geyer u. a.). Entscheidend ist hierbei, d a ß der so bestimmte Heilige Geist als die vom jeweiligen theologischen S t a n d p u n k t her zu füllende i m m a n e n t e Bewegung der Kirche auf ein ebenfalls im Rückgriff auf ein bestimmtes Jesusbild zu beschreibendes Ziel anzusehen ist. Heiliger Geist wird identisch mit dem Ziel oder Zweck von Kirche, das die grundlegenden Aussagen der Praktischen Theologie bestimmt (vgl. vor allem die im Gefolge Ritschis entstehende Praktische Theologie des späten 19. Jh.). Entwürfe, die versuchten, von dem Subjekt des Heiligen Geistes her gängige kirchliche Praxis in Frage zu stellen oder zumindest Teildisziplinen der Praktischen Theologie neu zu konzipieren, blieben weithin unbeachtet und wirkungslos (z. B. Lauterburg; Fezer; Schieder; A. D. Müller; vgl. Bohren, Predigtlehre 65 ff).
3. Verheißung
des Geistes und real existierende
Kirche
Ist der Heilige Geist nicht der Kirche untergeordnet, sondern wird sie als Geschöpf des Geistes gesehen und bedacht, dann werden von den Aussagen zumal der Bibel und der Reformatoren über den Heiligen Geist, von N e u a u f b r ü c h e n von Geisterfahrungen und von ekklesiologischen Defizienzerfahrungen her Aussagen über den Geist einen zentralen Stellenwert innerhalb der Praktischen Theologie erhalten müssen. Insbesondere die geglaubte Gegenwart des Heiligen Geistes in Kirche und Welt sowie die verheißene Fülle von Geisterfahrungen in der Kirche nötigen zu Grenz- und Differenzerfahrungen, in denen das Leiden des Geistes an der Kirche durchbricht zu neuem W a h r n e h m e n des Geistes (Blumhardt; Barth; Thurneysen; Bohren). Die Geschichte der Kirche ist voll solcher Erfahrungen im Pietismus, bei den Enthusiasten aller Couleur, den Erweckungs- und reformerischen Bewegungen aller Zeiten. Offengehalten werden durch sie die Fragen nach dem H e r r n der Kirche, dem Subjekt des dreieinigen N a m e n s Gottes (Miskotte; Bohren) und dem eschatologischen Ziel der Kirche, dem Reich Gottes. Zumal in dem Fragen nach den die Gegenwart des Geistes bezeugenden „Früchten des Geistes", nach den „Erweisen des Geistes und der K r a f t " wird die Praktische Theologie zu ihrem T h e m a gerufen. Die Fragen G. E. —>Lessings (vgl. Werke VIII,9 ff; Bohren, Wort, 7 - 3 0 ; Steiger, Glaube 8 5 f f ; Biser 156ff), C. ^ H a r m s ' , S. ^ K i e r k e g a a r d s , F. —>Overbecks sehen als „unerledigte A n f r a g e n " (K. Barth, Kirche 1 ff) gerade an die Praktische Theologie einer Antwort entgegen, die n u r im H o r i z o n t der Pneumatologie gegeben werden kann. Der Heilige Geist ist das Angeld, gleichsam der „Reichssiegelbewahrer" all der in der offiziellen und offiziösen Kirche verdrängten, vergessenen, verleugneten, verratenen und unterdrückten Utopien, Sehnsüchte und Aufbrüche des Geistes hin zum Reich Gottes und auch des Leidens an der real existierenden Kirche. Praktische Theologie wird das Potential dieser Geschichte des Geistes heben und f r u c h t b a r machen müssen.
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Eine besondere Rolle im Kontext einer pneumatologischen Praxis gebührt J. Chr. —»Blumhardt und Chr. —»Blumhardt. J. Chr. Blumhardt kommt her von einer überwältigenden Geisterfahrung in seiner Gemeinde und zugleich von der Erfahrung einer geistvergessenen Kirche. Er unterscheidet den Heiligen Geist als Gabe, wie er in den Diensten und der Tradition der Kirche gegenwärtig ist, und den Heiligen Geist als Person, der als „Pfingstgeist" neu ausgegossen werden muß über die Kirche, damit die Christenheit durch ihn wie die erste Christenheit durch den Pfingstgeist zu neuem, weltumfassenden Leben erweckt und damit das Reich Gottes gebaut wird (vgl. J. Chr. Blumhardt I V / 2 , 3 8 - 4 0 . 4 6 - 4 8 . 5 4 - 5 6 ; I V / 1 , 2 9 3 - 2 9 5 ) . „Es fehlt den Christen der verheißene persönliche Heilige Geist. Der von Gott ausgegossene Geist ist so nicht mehr da, als Er da gewesen ist, und sollte noch da sein, weil ohne Ihn Millionen nicht mehr zu retten sind aus ihrem Elend und ihrer Verkommenheit, und doch gerettet werden sollten" (IV/2,47). Aus der elementaren Differenzerfahrung von vom Geist intendierter und empirischer Kirche (vgl. IV/1,295; E. Kerlen: J . Chr. Blumhardt 7 9 - 8 1 ; G. Sauter: ebd. 85 ff) erhebt er die pneumatologischen Soll-Sätze einer jeden zukünftigen Praktischen Theologie, die vom Heiligen Geist in der Kirche redet: „1) Es muß anders mit uns werden, wenn's überhaupt etwas sein soll. 2) Es wird anders werden damit es etwas sei, nach der Verheißung des Evangeliums. 3) Es kann nur anders werden durch den heiligen Geist, wie derselbe in der ersten Zeit gewesen ist" (1/1,199; vgl. 1 / 2 , 1 1 6 - 1 2 0 ) . Die Erwartung eines neuen Pfingsten in der Christenheit, gewissermaßen einer dritten Offenbarungsstufe (vgl. 1/2,119), führt bei seinem Sohn Christoph Blumhardt zum Wagnis der Wahrnehmung der Geistesgegenwart in Geschichte und Politik (Landau, Vorsehung 248 ff; Kerlen). L. —»Ragaz, H. -»Kutter, K. —»Barth, E. —»Thurneysen, E. —»Brunner, der Anfang der—»dialektischen Theologie ist von der Theologie beider Blumhardts beeinflußt (vgl. Mattmüller: J. Chr. Blumhardt 99 ff). Die Ansätze dieser Theologen werden neu bedacht und fruchtbar gemacht werden müssen für die Praktische Theologie, kommen sie doch allesamt aus der grundlegenden Erfahrung der geistlosen Praxis einer Kirche, die sich von Amts wegen auf den Besitz des Geistes beruft. Theologie wird da schon praktisch, wo sie bei Differenzerfahrungen wahrer (idealer?) und real existierender Kirche nach dem Heiligen Geist als dem Herrn der Kirche zu fragen beginnt (vgl. Schaeder, Hl. Geist 153 f; Goertz). 4. Kirche
als Gestaltung
des Heiligen
Geistes
Praktische Theologie ist zu treiben in der Zeit des Geistes, in der die Kirche existiert in all ihren Formen. „Ostern bleibt nicht. Gott geht weiter und schafft etwas Neues. Er schreitet fort zu Pfingsten und fängt dazu wieder von unten auf a n " (Noordmans, Evangelium 3 5 ) . In dieser Zeit des Geistes hat Praktische Theologie sich darin zu bewähren, daß sie verhindern hilft, daß Kirche, in welcher ihrer Gestalten auch immer, als Aufhebung der fundamentalen Differenz von Gottes Geist und Menschengeist gedacht und verwirklicht werden kann. Kirche als Gestaltung des Heiligen Geistes zu verstehen, ist die Verneinung jeglicher Versuche, Kirche über den Geist zu stellen. Die Differenz wird offengehalten durch das präzise zu bestimmende und durchzuhaltende Subjektsein Jesu Christi, dessen Werk der Heilige Geist weiterführt und der Vollendung des Reiches Gottes zuführt. Praktische Theologie wird hier eine ihrer Hauptaufgaben sehen müssen, in ihrer Grundlegung und Durchführung in den einzelnen Disziplinen die trinitarisch zu denkenden Zusammenhänge zwischen Christus, dem Heiligen Geist und der Kirche zu bestimmen. M. Seitz hat, J. G. —»Hamann und H. —»Bezzel aufnehmend, von der Kondeszendenz des Geistes geredet, der in seinem Sich-Herabneigen, Sich-Vermischen und Mitwirken das Werk, Weg und Auftrag Jesu weiterführend, die Kirche aufs Reich Gottes hin in all ihrem Reden und Handeln führt, erhält und erbaut. R. Bohren hat denselben Zusammenhang von Kirche und Heiligem Geist beschrieben als theonom-reziprokes Handeln des Geistes, um mit diesem, von van Ruler entlehnten Begriff, das Mitwirken des Menschen mit dem Geist zu verstehen und das Wirken des Geistes in der Welt zu deuten (vgl. Bohren, Gott; Seitz, Bezzel; ders., Praxis). Praktische Theologie, die als theologische Ästhetik (Bohren) Gottes „Praktisch-Werden" in Kirche und Welt bedenkt, leitet an zur Wahrnehmung des Geistes in Geschichte und Schöpfung, in Kunst und Natur und zum die Zwecke und das Ziel des Gottesgeistes wahrnehmenden Reden und Tun der Kirche. Eine pneumatologisch entworfene und durchgeführte Praktische Theologie lebt von der Illumination, der Aufklärung des Geistes, die dieser in Gericht und Gnade über die Kirche schenkt, und läßt Raum den Gaben des Geistes, die er in Kirche und Welt austeilt. Sie nimmt so das Anliegen der natürlichen Theologie auf, indem sie auch die „Welt als Gleichnis" im Horizont des Geistes wahrzunehmen anleitet. Die einzelnen Fächer der Praktischen Theologie werden durch eine solche Konzeption auf ihre Einheit zurückgeführt, die in der Gegenwart des Geistes begründet ist. Sie versucht dann, die einzelnen Disziplinen dem dreifachen Werk des Heiligen Geistes zuzuordnen, wel-
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ches zugleich die Priorität Jesu Christi wahrt. O. Webers Versuch, das W e r k des Heiligen Geistes in Analogie zur Drei-Ämter-Lehre Christi zu bestimmen, wird hierbei fruchtbar gemacht werden können. „Das ,dreifache Amt' Jesu Christi schafft sich in der dreifachen Wirksamkeit des Geistes seine in Christus bestehende und bei uns zum Ausdruck kommende W i r k u n g " (Weber 2 7 6 ) . Verkündigung, Bildung, Unterricht in der Kirche und durch die Kirche wären zu sehen unter dem prophetischen, das Zeugnis Jesu weiterführenden und beglaubigenden Werk des Geistes. Insbesondere die Frage der Kommunikationsregeln, der „Grammatik des Geistes" ist in diesem Zusammenhang zu lösen, zumal die Sprache das Mittel des Geistes ist und seine Grammatik die brüderliche Kommunikation der Menschen will (vgl. Hamann; Sauter; Steiner). Seelsorge, vita spiritualis, Askese, Diakonie, Haushalterschaft als die Weise des rechten Austeilens und Verwaltens der Charismen wären vor allem zu bedenken vom priesterlichen Werk des Geistes her, der in der Kontinuität der Kirche heilvolles, geheiligtes Leben schaffen und aufrechterhalten will in einer in theonomer Reziprozität wahrgenommenen und gewirkten perseverantia sanctorum. Gottesdienst, Sendung und Mission werden zu bedenken sein als das das uranfängliche Werk Christi, seine tnissio in die Welt weiterführende und zum Ende führende königliche Werk des Geistes, der weltumgreifend Kirche in seine Bewegung des Leidens und Rettens der Kreatur miteinbezieht. Praktische Theologie, die dies königliche Werk des Geistes mitwirkt, ist selber hineingezogen in die Dynamik der Missio des Geistes (Aagard; Moltmann; Bohren; Sauter; Pannenberg), die, in der Kirche ihren Anfang nehmend, mit ihr und durch sie die Welt für Gott reklamiert (Chr. Blumhardt) und so auch an der Welt das prophetische und priesterliche Werk des Geistes wirksam werden läßt. Die Gestalt dieses dreifachen Werkes ist aber imitatio der Gestalt des leidenden und auferstandenen Jesus Christus. H. G. Geyer nennt die dieser Gestalt entsprechende Praxis der Kirche deren „mimetische Praxis", in der die „Kirche Jesu Christi als Interessenvertretung der Feindesliebe Gottes auf Erden im Geist des Sohnes das nicht nur in Wahrheit schon immer unwidersprechliche sondern auch in Wahrheit zuletzt unwiderstehliche Interesse des Vaters im Himmel an einer Erde (vertritt), die, durch das Faktum des Kreuzes Christi als die Erde des Gekreuzigten für immer von der Passion des Sohnes auf Erden ergriffen, endgültig Gottes Welt geworden ist: die Welt seines rechtmäßigen und todesmächtigen Liebeswillens" (Geyer 140). Praktische Theologie als Lehre von der Gestaltung der Kirche durch den Heiligen Geist w ü r d e s o ihr A m t wahrnehmen, das ihr zugeteilt ist und an dem ihr ihre Wahrheit widerfährt im Geschehen der einen, apostolischen, wahren Kirche, die geistgemäß das Heil des dreieinigen Gottes bezeugt und ausbreitet und damit die Welt mit sich ins Gotteslob führt (vgl. Schwarzwäller, Wiss. 3 2 0 ) . Literatur Anna Marie Aagaard, Missiones Dei: Evangelium u. Gesch., Göttingen, III 1 9 7 3 , 9 7 - 1 2 1 . — Ernst Christian Achelis, Lb. der Prakt. Theol., Leipzig, I 3 1911. - Heinrich Barth, Die Geistfrage im dt. Idealismus: ZZ.B 1 ( 1 9 3 0 ) 1 - 3 8 . - Karl Barth, Unerledigte Anfragen an die heutige Theol.: ders. Die Theol. u. die Kirche, München 1 9 2 8 , 1 - 2 5 . - Hermann Bauch, Die Lehre vom Wirken des Hl. Geistes im Frühpietismus, 1974(ThF 55). - Heinrich Beck, Geist u. Technik: Erfahrung u. Theol. des HI. Geistes (s. o. Abschn. 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Geist
1.1. Die Ursprungsbedeutung und ihr Fortleben. Die Etymologie bestimmt die ursprüngliche Bedeutung von Geist als ,Außersichsein'. Sie nimmt dabei eine indogermanische Wurzel (*gheis- bzw. *gheizd- ) mit der Bedeutung von „aufgebracht sein' an, die im Germanischen durch das intransitive, inchoativ verwendete gotische Verb usgeisnan [sich entsetzen, außer Fassung geraten] belegt wird. Diese Ursprungsbedeutung ist in der heutigen Verwendung von Geist nur noch nebenbei enthalten, denn Geist wird als Einheit des vernunfthaften Denkens und der Existenz verwendet. Es wäre daher möglich, das ins Deutsche entlehnte griechische ôaifiwv im philosophischen Kontext von Piatons Symposion mit Geist zu übersetzen: Der Eros ist „ein großer Geist", der zwischen Gott und Mensch verkehrt (202d). Eros als das liebende Verlangen nach dem wahrhaft Schönen erschließt dem Menschen „plötzlich" (t^aicpvqç) dieses Schöne an ihm selbst (210e). Das .Außersichgeraten' in der Bedeutung des Ubersteigens des eigenen Selbstes zugunsten des an sich Schönen und Wahren (205 e) läßt sich im Deutschen durch Geist und, als Vorgang oder Bewegung, durch „Begeisterung" ausdrücken (griech. fiavia, vgl. Piaton, Phaidr. 244äff).
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Der Ursprungsbedeutung von Geist als Außersichsein ist von den deutschen Dichtern —»Goethe am nächsten gekommen: Faust, der den Erdgeist beschworen hat, weicht bei dessen Auftreten entsetzt zurück: „Schreckliches Gesicht!" „Weh! ich ertrag' dich nicht!" (V.483.485) Die Wirkung des Geistes ist ein Außersichgeraten. 1.2. Geist und Esprit. Das deutsche Wort Geist ist gegen das französische „esprit" abzugrenzen und wird im Sprachgebrauch auch dagegen abgegrenzt. - „Esprit" erscheint im 17. Jh. bei Pascal, Méré und La Rochefoucauld zur Bezeichnung des gesunden Menschenverstandes („le bon sens"), der durch Urteilsfähigkeit („jugement") und Geschmack („goüt") verfeinert ist. Durch D. Bouhours Le Bei Esprit (1673) wurde „le bei esprit" zu einem Modewort. Man verstand darunter den „esprit" schlechthin. Bouhours nannte „bei esprit" den „bon sensqui brille". Mitte des 18. Jh. löste dann das zu einem Wortfetisch werdende „bon goüt" den „bei esprit" ab. Im Deutschen findet sich keine vergleichbare Bedeutungsgeschichte von Geist. Die Lehnübersetzungen „Freigeist" (von Schottel 1663 zu „esprit libre" geprägt) oder „Schöngeist" (von Thomasius 1687 zu „bei esprit"), mit denen man sich bemühte, den Franzosen nachzuweisen, daß auch die Deutschen „esprit" besäßen, dessen sie von Bouhours kaum für fähig gehalten wurden, betrifft weder den dichterischen noch den philosophischen Sinn von Geist. Daß es den Deutschen gleichwohl gelungen ist, mit „Esprit" das Verhältnis von Geist und esprit auszusprechen, beweisen Hegel und Nietzsche: Esprit sei für die Franzosen, meint Hegel, „das sicherste Mittel, allgemein zu gefallen" und gehöre bestenfalls „zu einer genialen Form des Vernünftigen" (Enzykl. § 394, Zus.). Nietzsche bemerkt: „Der Deutsche . . . hat vor dem französischen esprit die Angst, er möchte der Moral die Augen ausstechen - und doch eine Angst und Lust, wie das Vöglein vor der Klapperschlange" (Morgenröte, Nr. 193). Hegel übersetzt mit „geniale Form des Vernünftigen" (s. o.) die von Voltaire in seinem Enzyklopädie-Artikel Esprit (1755) gelieferte Definition von esprit als „raison ingénieuse". In diesem Artikel weist Voltaire auf die Eigentümlichkeit hin, daß,esprit' im Französischen ein zweites bestimmendes Wort benötigt (e. sublime, naif, adroit, fin usw.). Hierdurch unterscheiden sich der Gebrauch von Geist, der kein zusätzliches Adjektiv benötigt, und esprit. Ferner dominiert im französischen Sprachgebrauch ein Haben des Geistes, im deutschen dagegen ein Sein. Die bleibende Unähnlichkeit von Geist und esprit hat Goethe gegenüber Eckermann (21.3.1832) treffend festgehalten: „Das französische esprit kommt dem nahe, was wir Deutschen Witz nennen. Unser Geist würden die Franzosen vielleicht durch esprit und äme ausdrücken. Es liegt darin zugleich der Begriff der Produktivität, welche das französische esprit nicht hat." 1.3. Die Hauptbedeutung. Goethe spricht dem Geist eine Produktivität zu und erweitert damit Kants ästhetische Bestimmung als „das belebende Prinzip im Gemüte" (Kritik der Urteilskraft § 49). Der noch immer lebendige Sinn von Geist ist aber noch weiter: Im Unterschied zu Denken und Vernunft, die als Vermögen des Vorstellens von Einheit gelten, und ihren Sitz in einem einzelnen Menschen haben, versteht man unter Geist nicht ein Vorstellungsvermögen, sondern das Sein der Vernunft oder diese als Sein. In dem Wort Geist liegt keine Trennung von Existenz und Denken, sondern deren Einssein. Diese Einheit liegt auch noch dem herabsetzenden Gebrauch von Geist als .Gespenst' zugrunde, mit dem Nietzsche in Also sprach Zarathustra (Vorrede Nr. 3) spielt. Dichterisch verwirklicht wird diese Wesensbedeutung von Shakespeare und bei Goethe in der Gestalt des Erdgeistes und des Wortes des Mephistopheles: „Ich bin der Geist, der stets verneint!" (Faust, V. 1338). Die urteilende Tätigkeit des Verneinens ist selber existierendes Subjekt. Shakespeare läßt die Geister der Ermordeten (Caesar, Banquo, Hamlets Vater) wieder erscheinen. Er unterscheidet „spirit" und „ghost": Brutus will Caesars „spirit" töten (J. Caesar 167ff), muß aber erfahren, daß Caesars geistige Existenz („ghost") überlebt und den Untergang seiner Mörder bewirkt.
2. Die Entfaltung der Ersten Philosophie und die Stellung des Geistes in ihr Die überlieferte Erste Philosophie oder —»Ontologie läßt sich in drei Epochen gliedern: Die 1. Epoche bildet die antike Philosophie, die 2. die Philosophie des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit und die 3. die Form der Philosophie seit Kant. Den Namen ,Metaphysik' verdient dabei eigentlich nur die 2. Epoche. Die erste Epoche wird bestimmt durch das Sein und seine Auszeichnung vor dem Nicht. Sein ist dabei nicht als Kopula zu verstehen, sondern als selbständiges Existieren und als Lebendigkeit. Es wird deshalb auch als cpvatg ausgesprochen. In detzweiten Epoche ist nicht mehr das Sein das Erste, sondern es erscheint als aus dem Einen abgeleitet, dessen Charakter sich ebenfalls wandelt. Es wird verstanden als ein über dem Sein stehendes schaffendes Nicht (so bei —»Plotin) oder als das Wesen, von dem die Philosophie aufzeigt, daß es die Existenz in sich enthält. Das schaffende Nicht oder das Wesen ist gegenüber der Existenz dasjenige, was über sie verfügt, d. h. Macht. Die Macht ist der eigentliche Gegenstand der zweiten Epoche. Auf sie ist zugleich das höchste Vorstellen festgelegt, nämlich als ein Demonstrieren, daß das Eine (das Wesen Gottes) existiert. Diese Philosophie der Herleitung des (höchsten) Seins aus dem Wesen wird im historischen (und auch polemischen) Sprachgebrauch als —»Metaphysik bezeich-
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net. Die dritte Epoche wird eröffnet durch den Erweis der Nichtdemonstrierbarkeit der Macht (die drei Kritiken I. —>Kants). Positiv wird dabei das Verhältnis des Vorstellens zum Vorgestellten und das Vorstellen des Verhältnisses zum Gegenstand der Philosophie. Beides wird im Begriff der Reflexion gedacht, der die dritte, immernoch gegenwärtige Epoche bezeichnet. Die Philosophie—»Nietzsches gehört wegen ihrer Lehre vom ,Willen zur Macht' nicht etwa in die zweite Epoche. Nietzsche versteht Macht nämlich nur als das Erstrebte, während sie in der zweiten Epoche als höchstes Wirkliches (als actus purus z. B.) gedacht wurde.
Während von Anaxagoras (s. u. Abschn. 3.1) bis Aristoteles (s. u. Abschn. 3.2) der Geist im Mittelpunkt stand, beschäftigt sich die eigentliche Metaphysik mehr mit dem Begriff der Seele als mit dem des Geistes. In der Zeit nach Hegel tritt zwar eine Erschöpfung des spekulativen Philosophierens ein, aber der Geistbegriff wird in den Bestimmungen des objektiven Geistes Diltheys oder den anthropologischen Gedanken M. Schelers aufbewahrt. Der Begriff des Geistes verbindet also die verschiedenen Epochen der Philosophie. Die abgegriffene Bezeichnung „Geistesgeschichte" ist im wörtlichen Sinn deshalb treffend als Bezeichnung der Kontinuität der Ersten Philosophie. Allerdings wird Geist in der Epoche des Seins anders bezeichnet und bestimmt als in der Reflexionsepoche. Im engeren Sinne könnte man von einer Philosophie des Geistes erst seit Hegel sprechen. Jedoch bezeichnet der griechische vovg nicht nur die Vernunft im Unterschied zum Verstand (öiavoia), sondern auch ihre Existenz, also Geist. 3. Paradigmata für einen
Geistbegriff
3.1. Xenophanes und Anaxagoras. Bevor Anaxagoras den vovg als Ursprung der Weltbewegung dachte, hatte Xenophanes, einen einzigen, dem Menschen nicht ähnlichen Gott an die Stelle der anthropomorphen Götter setzend, von diesem Gott behauptet: „Doch ohne Mühe schwenkt (xgaöaivEi) er alles mit dem Denken des Geistes" (FVS Nr. 25). Der vovg bezieht sich hiernach (1.) auf das Ganze des Seienden als Ganzes, indem er es (2.) bewegt. Die (3.) Art der Weltbewegung hat man sich dabei als einen lustigen Tanz vorzustellen (xgaöaiveiv hängt zusammen mit xógóal;). Es scheint, daß der Gott hier von dem Geist unterschieden wird und noch eine Individualität für sich darstellt, die er dem Geist und der Weltbewegung mitteilt. Der Geist ist nicht aus dem Wesen eines sich gleichen Seins gedacht wie im Satz des Demokrit: „es ist göttlichen Geistes, ewig etwas Schönes zu erdenken" (FVS Nr. 112). In der vorsokratischen Philosophie hat Anaxagoras den Gedanken am weitesten ausgeführt, daß der vovg Ursprung kosmischer Bewegung ist. Ausgehend davon, daß es unendlich viele Elemente gibt, die im Verhältnis der Mischung oder Scheidung dasjenige sind, was fälschlich Entstehen oder Vergehen genannt wird (FVS B 17; vgl. entspr. schon Empedokles B 8), wird dieser Zustand der Ordnung von Mischung und Trennung auf ein Bewegendes zurückgeführt, das die unendliche Vielfalt aus einem ordnungslosen Zustand herausführt. In der Vielfalt des ,Umgebenden' (rö JIEQIEXOV, B 2) entsteht ein Wirbel (JTEQIXÁQTJOIG, B 12), der die Bewegung der Sonne und der Gestirne und überhaupt die Trennung der Stoffe voneinander bestimmt (B 12). Anaxagoras nennt dasjenige, was die Wirbelbewegung bewirkt, den vovg. Soweit es die überlieferten Fragmente erkennen lassen, bedeutet die durch Wirbelbewegung bewirkte Scheidung ein geordnetes und als solches erkennbares Gefüge des Seienden. „Und was sich mischte und abschied und voneinander schied: das alles erkannte der Geist" (B 12). Die Bewegung des Scheidens geschieht um des Erkennens willen. Das Geschiedensein der Stoffe ist ihre Erkennbarkeit. Piaton und Aristoteles, denen immerhin das uns verlorene Gesamtwerk des Anaxagoras zugänglich war, haben ihn wegen der fehlenden Zweckbestimmtheit der Geistestätigkeit getadelt. Piaton läßt Sokrates sagen (Phaid. 97 c ff) a) die Begründung alles Seienden durch den vovg müßte eine Welterklärung nach dem Prinzip des Besten ergeben; b) Anaxagoras nutzt aber diese Möglichkeit nicht, sondern bestimmt doch bloß ,Luft, Wasser und Äther' als Bewegendes. Es seien aber doch für ein vernunftbegabtes Lebewesen nicht seine Körperteile der Grund seines Aufenthaltes an einem Ort, sondern weil der Mensch den Aufenthalt an
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diesem O r t für das Bessere ansehe, deshalb werde der Leib zu ihm gebracht und dort gehalten. Piaton entdeckt hier die von dem vovg bestimmte zweckmäßige H a n d l u n g des Menschen. Anaxagoras kannte sie noch nicht; er will auch nur die Naturvorgänge erklären. Aristoteles sagt deshalb, Anaxagoras suche die Ursache gewöhnlich gar nicht in dem vovg-, nur wenn er in die Verlegenheit k o m m e , eine Notwendigkeit aufzuzeigen, dann greife er auf den vovg z u r ü c k . E r b e n u t z e d e n vovg
a l s o w i e e i n e n deus ex machina
( m e t a p h . 9 8 5 a 18 ff). Ari-
stoteles bemängelt ferner, daß Anaxagoras mit dem Bewegtwerden der Körper durch das Nicht-Körperliche eigentlich die Seele {Tpv%ij) gemeint habe, diese aber fälschlich mit dem Geist gleichsetze (an. 4 0 4 a 2 6 f f ) . N e u e r e D e u t u n g e n des A n a x a g o r a s neigen d a z u , angesichts dessen n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r Einsichten, z. B. d a ß d e r M o n d d a s S o n n e n l i c h t reflektiert (FVS A 1 ) o d e r d a ß die S o n n e n - u n d M o n d f i n sternisse auf S c h a t t e n w i r k u n g e n v o n M o n d u n d Erde b e r u h e n (A 42), die von P i a t o n v e r m i ß t e Teleologie nicht als M a n g e l , s o n d e r n als V o r z u g zu d e u t e n . In diesem Fall k a n n der vovg als Prinzip der Weltb e w e g u n g allerdings n u r s t ö r e n .
Anaxagoras bestimmt den vovg als ein durch Getrenntsein, Feinheit und Reinheit von allem anderen Seienden ausgezeichnetes Seiendes (B12). Der Geist ist selbst ein Seiendes, ein XQVfta (B 12). Das Offenbar- und Erkennbarsein, das durch die Scheidung der Elemente erfolgt, scheint f ü r ihn nicht G r u n d der Scheidung, sondern diese G r u n d der Erkennbarkeit zu sein. Er spricht deshalb (in dem f ü r den Geistbegriff wichtigsten Fragment B12) statt von einer ursprünglichen Erkennbarkeit des Geistes von dessen Getrenntsein und Feinheit. Anaxagoras hebt hervor, allein der Geist sei dasjenige, was f ü r sich sei (ecp' eavrov, B12). Aber diese Selbstbeziehung soll nur das Getrenntsein von allem anderen bezeichnen. Schließlich schreibt er dem Geist die Herrschaft über alles zu [ndvrojv vovg ygarel, B12). Im Begriff des Herrseins sind eigentlich das Innere, Erkenntnishafte und das Äußere, Seiende miteinander verknüpft, indem jenes das Seiende zur Bewegung bestimmt. Aber die Sätze des Anaxagoras sind zu grob, um dies näher zu erklären. Die schönste Formulierung, die er f ü r die Wahrheitsfindung gab — „ D a s in Erscheinung Tretende ist ein Anblick des Verborgenen" (ötptg rwv ädtfAwv lä (paivöfieva, B 2 1 a) —, bedeutet f ü r seine eigene Lehre, daß das Erscheinende selbst noch das Verbergende ist: Der Geist a l s ^ g ^ a , in welchem eine Selbstbeziehung des Denkens verschlossen ist. 3.2. —>Aristoteles. Dievcw^-Lehren des Aristoteles nehmen ständig Bezug auf Anaxagoras und bilden den Versuch einer A u s f ü h r u n g von dessen Programm. Aristoteles erkennt, daß von Geist nicht ohne dessen Beziehung zur menschlichen Seele gesprochen werden kann. Soll aber der vovg zugleich der Ursprung der Weltbewegung sein, so wird das Verhältnis dieses Ursprunges zur Seele ein Problem. Aristoteles unterscheidet einen vovg dertpvxt] von dem vovg als G o t t oder dem unbewegt Bewegenden. Der aus den überlieferten Texten nicht recht erklärbare Z u s a m m e n h a n g beider Begriffe bezeichnet die eigentümliche Schwierigkeit dieser höchsten Form der Geistlehre in dieser Epoche der Philosophie. 3.2.1.
Der Zusammenhang
mit der —>Seele. D e r A r i s t o t e l i s c h e n U n t e r s u c h u n g ü b e r d i e
Seele liegen zwei Voraussetzungen über den Gegenstand „Seele" zugrunde: a) die Seele ist ein bestimmtes Seiendes neben anderen; b) sie gibt über alles Seiende Aufschluß. Sie wird deshalb bestimmt a) als „Entelechie eines natürlichen, mit Organen ausgestatteten Körpers" (an. 4 1 2 b 5 f ) u n d b) ist sie „in gewissem Sinn alles Seiende" (431 b 2 1 ) . Der vovg der Seele, der wahren Aufschluß über alles Seiende gibt, soll selbst ein Sein als kvEQyEia sein (430 a 18). D a n n aber gehört er einerseits zur Seele, andererseits nicht. Aristoteles spricht die Verschiedenheit von Seele und Geist deutlich aus: Der vovg ist getrennt (xwgiOTÖg) von der Seele, er allein k o m m t „durch die T ü r " (dygaOev), also von außen, in die Seele hinein (gen. an. 7 3 6 b 2 7 ) . Der vovg denkt das Denkbare (rö vorjzov), d. h. er urteilt oder stellt die substantiellen (substantiell im Unterschied zu akzidentiell) Formen vor. Aber: „Bevor er denkt, ist er nichts der Wirklichkeit nach von dem was ist" (an. 4 2 9 a 24). Sein Wesen besteht in nichts als dem Können (eristövvarög, 429 a 2 1 f). Der Geist m u ß aber in irgendeiner Weise bereits sein, um
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denken zu können. Und zwar muß er in der Weise sein, daß er sich selber denkt, bevor er anderes denkt. Die Begründung dafür, daß Aristoteles das denkende Aufschlußgeben des vovg zu einer evegyeia erklärt, muß also in der Selbstbeziehung der Denktätigkeit als Voraussetzung des Denkens liegen. Von daher sind drei Fragen zu klären: a) Was heißt Denken für Aristoteles ? b) Was ist die Selbstbeziehung des vovg ? c) In welchem Verhältnis stehen Denken und Selbstbeziehung des vovg? 3.2.1.1. Aristoteles bestimmt das Denken als die Tätigkeit, das jeweils dem Vorstellen sich Zeigende als Eines zu bestimmen (rd öe ev noiovv, TOVTO o vovg exaoxov, 430 b5 f). Es ist einerseits ein Urteilen ( ö i a v o e l o d a i ) , das das durch Wahrnehmung und Einbildungskraft Vorgestellte durch Zusammenfügen (ovvOeoig) oder Trennen (Plotin. J e d e philosophische Auslegung der Geistlehre Plotins muß dreierlei beachten: a) W o h e r stammen Plotins G e d a n k e n , b) w o f ü r w a r er ein Wegbereiter und c) sind seine Bestimmungen w a h r und möglich oder nicht? Zu a): Plotin wird von einem sechsfachen Überlieferungsstrom bestimmt, der von philologischen
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und z. T. philosophischen Deutungen weitgehend erschlossen ist, nämlich: Piaton; Aristoteles; die ägyptisch-alexandrinische Philosophie; die —»Gnosis; die Upanishaden; ausnahmslos ablehnend verhält sich Plotin gegenüber den Atomisten und Epikureern. Z « b): Plotin wurde bisher als Wegbereiter der arabischen, jüdischen und christlichen —»Mystik, der Augustinischen Metaphysik des —»Willens, des subjektiven und absoluten --»Idealismus (—»Descartes, deutscher Idealismus) sowie des modernen Naturbegriffes gedeutet und ansatzweise durch seinen Begriff des Unbewußten mit S. —»Freud in Verbindung gebracht. Zuc): Leider hat sich die Interpretation bisher in der Frage sehr zurückgehalten, ob die Plotinschen Deutungen der Uberlieferung sachgemäß sind oder nicht (Ausnahmen bilden F. Heinimann und W. Bröcker).
Für Plotin bedeutet Geist die Erkenntnis seiner selbst (VI,3,2 [49]). Im Unterschied zur dtävoia, die diskursives Erkennen ist, besteht der vovg im absoluten Denken seiner selbst. Die Kant alle philosophische Erkenntnis auf die Spontaneität der Apperzeption gegründet und die Erkenntnis des Absoluten n u r noch als regulative Idee f ü r die empirische N a t u r f o r schung zugelassen. -^Schelling hatte zwar eine Verbindung beider Positionen angestrebt, aber Hegel wirft ihm vor, Absolutes und Subjekt in die Beziehung bloßer Identität gebracht zu haben (Abs. 16; 17). Die Bestimmung des Geistes durch Substanz und Subjekt enthält dreierlei: Substanz, Subjekt und die Beziehung beider. Diese Beziehung ist nicht ihre Bedeutungsgleichheit, denn Hegel erkennt, d a ß beide Begriffe f ü r sich dasselbe bedeuten, nämlich einfache Allgemeinheit, d. h. der Begriff,Subjekt' als Ich ist ebenso allgemein und einfach wie der Begriff S u b stanz' (Abs. 17), sofern Substanz mit Spinoza id quod in se est et per se concipitur (Ethik I,
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Definitio 3) besagt. Hegels Lösung ist, daß die Beziehung Lebendigkeit und Reflexion bedeutet, wobei Subjekt und Substanz zwei Namen desselben, nämlich des Absoluten, darstellen. Seine Intention ist, jene vor/oig vorjOEwg des Aristoteles, in welcher Gott sowohl das absolute Denken als auch das absolute Leben bedeutet (s.o. Abschn. 3.2), als Geist zu entfalten. Deshalb beschließt er die Darstellung des absoluten Geistes und seines gesamten Systems mit einem längeren Zitat über die vorjaig vorjoewg aus metaph. XII. Im Unterschied zu Aristoteles soll dieser Geist aber nicht ein höchstes Seiendes für sich bilden, sondern den gesamten Umfang des Bewußtseins einschließen. „Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten" (Enzyklopädie § 384). Sofern das Lebendigsein Bewußtsein bedeutet (Aristoteles, eth. Nie. IX,1170a 16f), Bewußtsein aber wesentlich Wissen der Subjekt-Objekt-Beziehung ist (d.h. Reflexion), so geht es bei der Entfaltung des Geistbegriffs darum, die Reflexion als „positives Moment des Absoluten" zu fassen (Phänomenologie, Vorr. Abs. 21). Es wird damit die Doppelbehauptung aufgestellt, 1. daß die Reflexion notwendig auf das Absolute führt, weil sie es schon enthält, und 2. daß das Absolute notwendig auf die Reflexion führt, weil es sie schon enthält. Das Absolute ist sogar schon bei dem unmittelbaren sinnlichen Bewußtsein (Phänomenologie, Einl. 64) und tritt im Verlauf der Erfahrungsbewegung des Bewußtseins als absoluter Geist hervor. Schelling hat nach Hegels Tod dessen Gleichung Absolutes = Geist für unzutreffend erklärt und stattdessen den Geist als ein Zweites bestimmt, wobei das Erste, Ursprüngliche ein allem Denken vorausliegendes Sein darstellen soll (Phil, der Mythologie, Stuttgart, 11,1857 2. u. 3. Vorl.; Abh. über die Quelle der ewigen Wahrheiten, Stuttgart 1856). Diese Kritik bildet die einzige philosophisch-spekulative Gegenkonzeption gegen den Geistbegriff Hegels. Hegel behauptet, theologisch gesprochen, daß der sich im Christentum offenbarende Gott kein Deus absconditus mehr ist. Er hatte seine Geistlehre gegen Schellings Identitätsphilosophie konzipiert, um in das Absolute Lebendigkeit und Reflexion einzubringen. Hierdurch geraten das Absolute und die Reflexion allerdings in ein Spannungsverhältnis. Die Bejahung dieses Spannungsverhältnisses macht das Großartige der Hegeischen Geistlehre aus, mag man ihr nun zustimmen oder nicht: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes" (Phänomenologie, Vorr. Abs. 32). 3.4.3. Die abschließende Form, in welche Hegel 1830 die Verbindung des Absoluten mit der Reflexion als Geist gebracht hat, ist die Dreigliederung subjektiver-objektiver- absoluter Geist. Der subjektive Geist bezeichnet dabei im ganzen das sich von der Natur zum Bewußtsein seiner Freiheit lösende menschliche Bewußtsein. Der objektive Geist bezeichnet im ganzen die vom subjektiven Geist gestiftete Welt der Geschichte, und der absolute Geist das Wissen des Absoluten in Form der Kunst, der Religion und der Philosophie. Die drei Formen des Geistes sind in sich wieder dreifach gegliedert. Diese Triplizität entspricht der Subjekt-Objekt-Beziehung und ihrer Verknüpfung im Absoluten bzw. der hegelschen Konzeption des Dialektischen (s. u. Abschn. 3.4.4). Der subjektive Geist ist a) Seele, b) Bewußtsein, c) Geist. Im Bereich des objektiven Geistes wird a) das Recht, b) die Moralität und c) die Sittlichkeit abgehandelt; im absoluten Geist liegt die Dreifachheit in a) der Kunst, b) der Religion, c) der Philosophie. Aber auch die drei jeweils großen Komplexe sind in kleinere Einheiten unterteilt (die Sittlichkeit z. B. in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) und diese wiederum enthalten Bestimmungen, die unmittelbar erscheinen, in Wirklichkeit aber bestimmt und beherrscht sind von dem Drang des Bewußtseins, sich selbst als Geist zu erfassen. Dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit der von Hegel behandelten Phänomene steht so die Einfachheit ihrer allgemeinen Form gegenüber. Von besonderem Interesse für das Verständnis des Geistbegriffes ist die Behauptung seiner Objektivität. Letztere bedeutet wesentlich nicht gesetzmäßige Naturbeschaffenheit, sondern es wird die Subjektivität objektiviert. Die wesentliche Objektivation der Subjektivität erfolgt nicht in dem Verhältnis der einzelnen Subjekte zu sich selbst, sondern der Menschen untereinander, die Hegel (im Rückgriff auf —>Fichte) als gegenseitiges Sich-Anerken-
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nen darstellt. Er rekonstruiert das Anerkennen als einen Kampf, aus dem Herr und Sklave hervorgingen, die Menschen aus dem Naturzustand heraustraten und die Bildung des Staates begann (Enzyklopädie § 433). Der wahre und gute Staat aber ergibt sich erst als Vollendung der Weltgeschichte (deren Anzeichen Hegel im Preußischen Staat seiner Zeit erblickte, wenngleich nicht mit diesem identifizierte). Der eigentliche Staat definiert sich auch durch die Anerkennung der Freiheit des -^Eigentums (Rechtsphil. § 62). Diese Freiheit setzt das gegenseitige Anerkennen voraus, nämlich das Verständnis der Subjekte untereinander als zugleich leiblicher und selbstbewußter Wesen. In der Phänomenologie des Geistes führt Hegel den absoluten Geist als gegenseitiges Anerkennen der ^ G e w i s s e n ein, das zugleich den theologischen Sinn der spirituellen Parusie Christi für zwei in seinem Namen Vereinte besitzt: Der absolute Geist „ist der erscheinende Gott mitten unter, ihnen" (472). Die —»Religion als Inhalt des absoluten Geistes ist die christliche Religion, deren Offenbarungscharakter Hegel als Selbstreflexion des Absoluten und zugleich als die zum Absoluten führende Reflexion des menschlichen Bewußtseins darstellt (Enzyklopädie § 5 6 4 - 5 7 1 ) . Hegel, für den —»Luthers Lehre die Wendung der Weltgeschichte zur Versöhnung von Innerlichkeit und Staat einleitet, gibt die Vorstellung des Deus absconditus auf. Die Form der religiösen Reflexion heißt Vorstellung, Glauben und Andacht (Enzyklopädie § 565). Die Vorstellung teilt den geistigen Gehalt in verschiedene selbständige Mächte (die drei Personen der Trinität), der Glaube in Verbindung mit der fühlenden Andacht vereinigt das Getrennte wieder. Glaube und Andacht zusammen stellen eine konkrete Verbindung von Intellekt und Sinnlichkeit dar und entsprechen so der Konkretion des Geistes. In der Bewegung der Vorstellung, des Glaubens und der Andacht handelt aber nicht bloß das endliche menschliche Bewußtsein, sondern zugleich ebenso der absolute Geist (§ 571). Die philosophisch reine Form der QeoXoyia ist — wieder ursprünglich heidnisch — die sich selbst vernehmende Vernunft, die vötjoig votjoecug, die vorjoig xad'avTrjv (am Schluß der Enzyklopädie). 3.4.4. Der Schwierigkeit, die Geistlehre Hegels nachzuvollziehen, steht die noch größere Schwierigkeit gegenüber, ihre begriffliche Grundlegung zu verstehen, die Hegel ihr am Schluß seiner Wissenschaft der Logik unter dem Titel der,absoluten Methode' gegeben hat, in der die dialektische Bewegung als das Allgemeine der >Form< des Inhalts gefaßt wird. Diese Bewegung soll darin bestehen, daß ein Erstes, auch Unmittelbares genannt (Logik 11,494f), ein Zweites wird, das Vermitteltes' oder ,Anderes' genannt wird. Dieses Zweite enthält das Erste in sich, da es aus ihm geworden ist. Es ist dieses Zweite ein Anderes gegenüber dem Ersten, aber, weil das Erste in ihm enthalten ist, das , f i n d e r e eines Anderen" (496). Dieses Andere des Anderen ist aber als Verneinung der Verneinung wiederum ein Bejahtes. Hegel nennt es die „Herstellung der ersten Unmittelbarkeit" (497) oder auch ein „Identisches". Darin ist es aber auch das „zweite" Unmittelbare geworden, welches, soll überhaupt gezählt werden, ebenso das „Dritte" zum ersten Unmittelbaren und zum Vermittelten bzw. sogar als die vierte Phase der Bewegung anzusehen ist, sofern die Verneinung als eigenes Moment gezählt wird. Als mögliche Schematisierung bietet sich an: A wird B, B ist non-A
1
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n o n non-A wird A'
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Die formallogische Interpretation dieses Ausdrucks ist bis heute nicht befriedigend geklärt. G e w ö h n l i c h werden A, B, non-A, n o n non-A u n d A' als Prädikate verstanden. Dagegen wird neuerdings vorgeschlagen, A, B und A' als Kennzeichnungen zu deuten, d. h. als ,hinweisend' gebrauchte Ausdrücke u n d Termini zur Kennzeichnung des Gegenstandes der Rede ( H . F . Fulda: Dialektik in der Phil. Hegels). Auf dem Boden der zweiwertigen f o r m a l e n Logik lassen sich zwei H a u p t e i n w ä n d e formulieren: J. Hegel sagt, B sei das Andere bezüglich A, und A sei in B a u f g e h o b e n . Das Anderswerden des A h a t logisch keinen Sinn, außer wenn B ein P r ä d i k a t mit anderem Inhalt, aber gleichem U m f a n g mit A bedeutet. B und A sind d a n n extensional gleich u n d intensional verschieden. In diesem Sinne w ä r e A in B enthalten. Aber diese intensionale Verschiedenheit ist nicht Gegenstand der Logik. N u r eine extensionale Verschiedenheit von A u n d B w ä r e sinnvoll. Hegel verwechselt Intension und Extension. 2. Hegel setzt non-non-A = A' u n d versteht unter A' das wiederhergestellte A. Er benutzt dabei das Gesetz der doppel-
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ten Negation. Dieses gilt aber nur im Bereich der Aussage, nicht bei Prädikaten. Hegel betrachtet aber paradoxerweise die Aussageform als ungeeignet zum Erfassen des Ausdruckes A . . .A' (495).
L ä ß t sich somit die > dialektische < M e t h o d e nicht im R a h m e n der f o r m a l e n Logik darstellen, so k a n n doch ihr Sinn f ü r die G r u n d l e g u n g des Geistesbegriffes b e n a n n t w e r d e n : Hegel spricht von der dialektischen Bewegung als von einem A u f h e b e n „ d e s Gegensatzes zwischen Begriff u n d Realität" (496). Dieser Gegensatz ist der M o t o r der dialektischen Bew e g u n g . Er ist der Gegensatz d e r Reflexion u n d in ihm steckt auch n o c h etwas von der Beziehung zwischen Subjekt u n d O b j e k t , die, als R e f l e x i o n s b e s t i m m u n g , auf d e m Wege d e r N e g a t i o n der N e g a t i o n a u f g e h o b e n w i r d . Der Gegensatz A-B w i r d in A' a u f g e h o b e n , u n d die Bewegung von A zu A' bezeichnet den W e g der Reflexion z u m Absoluten. Die a n d e r e Bewegung, die des Absoluten zur Reflexion, ist aber e b e n s o in d e m A u s d r u c k A . . .A' enthalten, d e n n das A als A n f a n g d e r Bewegung k a n n auch als das Absolute verstanden w e r d e n . Die Einheit beider Bewegungen vollzieht sich in d e m U m s c h l a g des n o n - A in das n o n n o n - A . Hegel bezeichnet diesen Punkt e m p h a t i s c h als „ Q u e l l . . . lebendiger u n d geistiger Selbstbew e g u n g " (496). Die höchste F o r m dieser Selbstbewegung entwickelt sich, sobald die Begriffe A u n d B Bewußtsein u n d Selbstbewußtsein bedeuten: Diese Selbstbewegung ist der Geist. In der Zeit nach Hegel w u r d e z w a r an einem Begriff des Geistes festgehalten, Hegels Denken a b e r d a d u r c h u n t e r b o t e n , d a ß m a n u n t e r Geist d a s P r o d u k t des endlichen B e w u ß t seins v e r s t a n d u n d versteht. Die A n s e t z u n g einer ,dritten Welt' n e b e n der kein Bewußtsein besitzenden Welt der T a t s a c h e n u n d der Bewußtseinswelt z u n ä c h s t bei G. Frege u n d später bei K . R . P o p p e r soll allerdings d a v o r b e w a h r e n , den Bereich der Kategorien u n d auch d e r T h e o r i e n (eben: die ,dritte Welt') von d e m Bewußtsein a b h ä n g i g zu m a c h e n (zur philosophischen D e u t u n g Freges in diesem P u n k t vgl. G. Prauss, Einf. in die E r k e n n t n i s t h e o r i e , D a r m s t a d t 1980; K . R . P o p p e r , E r k e n n t n i s t h e o r i e o h n e e r k e n n e n d e s Subjekt; ders., Z u r T h e o r i e des objektiven Geistes: ders., O b j e k t i v e E r k e n n t n i s , H a m b u r g 1974). Hegel w i r d dabei unterstellt, er h a b e die a n sich bestehende ,dritte Welt' z u m P r o d u k t des subjektiven Bewußtseins g e m a c h t , ebenso wie Plotin die Ideenwelt P i a t o n s z u m Inhalt des vovg g e m a c h t h a b e (Popper 142 f). Abgesehen d a v o n , d a ß P o p p e r den Begriff von Subjektivität auf den eines psychologischen Begleitphänomens verengt, w i r d hier die Intention Hegels v e r k a n n t . Sie besteht d a r i n zu zeigen, d a ß die Subjektivität sich selbst z u m A b s o l u t e n hin überschreitet u n d d a ß d a s A b s o l u t e sich in die Subjektivität e n t l ä ß t . Diesen A n s p r u c h auf Darstellung des A b s o l u t e n indessen h a t die Philosophie gegenwärtig preisgegeben. Quellen Aristoteles, Metaphysik, hg. u. k o m m . v. W. D. Ross, 2 Bde., O x f o r d 1958. - Ders., De anima, hg. v . W . D . Ross, O x f o r d 1959; dt. Übers, mit Komm. v. W.Theiler, Darmstadt 1 9 5 6 . - D e r s . , Physik, hg. v. F. M. Cornford, London 1958. - Ders., Ethica Nicomachea, hg. v. I. Bywater, O x f o r d 1962; dt. Ubers, u. Komm v. F. Dirlmeier/E. A. Schmidt, Stuttgart 1969. - FVS. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, H a m b u r g 6 1 9 5 2 . - D e r s . , Wiss. der Logik, hg. v. G. Lasson, H a m b u r g 1963. - Ders., Enzyklopädie der phil. Wiss. im Grundriß, hg. v. F. Nicolin/O. Pöggeler, H a m b u r g 1959. - Plotin, Schriften, hg. v. R. H ä r d e r u.a., 5 Bde. u. 5 Erl. Bde., H a m b u r g 195 6 ff. Literatur Emile Brehier, La philosophie de Plotin, Paris 1928. - Walter Bröcker, Aristoteles, Frankfurt a. M. 1964. - Ders., Die Gesch. der Phil, vor Sokrates, Frankfurt a . M . 1965. - Ders., Piatonismus ohne Sokrates. Ein Vortr. über Plotin, Frankfurt a. M. 1966. - Wolfgang Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt 1957. - Dialektik in der Phil. Hegels, hg. v. R.P. H o r s t m a n n , Frankfurt a . M . 1978. - Kurt v. Fritz, Die Rolle d e s N O Y 2 - . Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, hg. v. H.-G. Gadamer, Darmstadt 1 9 6 8 , 2 4 6 - 3 6 4 . - Nicolai H a r t m a n n , Das Problem des geistigen Seins, Berlin 2 1 9 4 9 . Hegel in der Sicht der neueren Forschung, hg. v. I. Fetscher, 1973 (WdF 52). - G.S. Kirk/J.E. Raven, The Presocratic Philosophers, Cambridge 1971. - H a n s Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Unters, zur Gesch. des Piatonismus zw. Piaton u. Plotin, Amsterdam 1964. —Werner M a r x , Einf. in Aristoteles' Theorie vom Seienden, Freiburg 1972. - Klaus Oehler, Die Lehre vom noetischen u. dianoetil
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Geister
sehen Denken bei Piaton u. Aristoteles, München 1 9 6 2 . - Ders., Antike Phil. u. byz. M A , München 1 9 6 9 . - Die Phil, des Neuplatonismus, hg. v. C. Zintzen, Darmstadt 1 9 7 7 . - Karl R . Popper, Objektive Erkenntnis, H a m b u r g 1 9 7 4 . - Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Phil, bei den Griechen, Frankfurt 1 9 7 8 . - M a x Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, B e r n / M ü n c h e n 7 1 9 6 6 . - Walter Schulz, Das Problem der absoluten Reflexion, Frankfurt a. M . 1 9 6 3 . - Ders., Der G o t t der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 4 o . J . ( 1 9 5 7 ) . - T h o m a s A. Szlezäk, Piaton u. Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel/Stuttgart 1 9 7 9 . - Bernhard T a u r e c k , Mathematische u. transzendentale Identität. Phil. Unters, zum Identitätsbegriff der mathematischen Logik sowie bei Schelling u. Hegel, W i e n / M ü n c h e n 1 9 7 3 . Ders., Das Schicksal der phil. Konstruktion, W i e n / M ü n c h e n 1 9 7 5 . - W i l l y Theiler, Überblick über Plotins Phil. u. Lebensweise: Plotin, Schriften (s.o.) Erl. Bd. IV 1 9 7 1 , 1 0 3 - 1 7 8 . - M i c h a e l T h e u n i s s e n , H e gels Lehre vom absoluten Geist als theol.-politischer T r a k t a t , Berlin 1 9 7 0 . - J . T r i c o t , La Metaphysik d'Aristote, Paris 2 1 9 5 3 . - Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, Frankfurt 1 9 7 9 . - Ders., Plotin als Interpret der Ontologie Piatons, Frankfurt a . M . M 9 6 6 .
Bernhard Taureck
Geister 1. Begriff 2. Entstehung von Geistern 5 . Menschliche Reaktionen (Literatur S. 2 5 8 )
3 . Erscheinungsformen
4 . Wirkungsbereiche
1. Begriff Mit dem Begriff „Geister" bezeichnet man übernatürliche Wesen mit einer gegenüber den Göttern begrenzten, jedoch den Menschen im allgemeinen überlegenen Machtfülle. Es sind Gestalten des Spuks, der niederen Mythologie, der „religiösen Halbwelt", wie Rudolf Otto definierte (Gefühl 6 6 f). Der Bereich, in dem sie Bedeutung besitzen, ist die unterdogmatische Schicht der Religionen, der Volks- und Aberglauben, die sogenannte „Religion der Tiefe" (Pfister 19). In ihr treten sie einerseits als Kollektivgeister in Erscheinung, andererseits aber auch als profiliertere Gestalten, die Eigennamen und individuelle Charakterzüge besitzen. Ihr Wesen ist mehrdeutig und umfaßt sowohl gute, den Menschen hilfreiche Geister als auch solche in erschreckender Gestalt und mit schadenbringender Wirksamkeit; im letzteren Fall werden sie im allgemeinen als Gespenster oder —»Dämonen bezeichnet. Sie wohnen im Luftraum, in Naturerscheinungen wie vornehmlich Bergen, Bäumen, Gewässern, Sümpfen, an Kreuzwegen und in Einöden, außerdem auch in menschlichen Behausungen, in Ruinen und auf —»Friedhöfen. Bevorzugte Zeiten ihres Auftretens sind Mitternacht und Mittag. Den eigentlichen Geistern in ihren Erscheinungsformen und Verhaltensweisen verwandt sind dämonisierte Menschen, zu denen Werwölfe und Berserker zählen, ferner Leopardenmenschen, —»Hexen, von Geistern Besessene und Fluchbeladene, die, wie der fliegende Holländer, ruhelos auf einem gespenstischen Totenschiff umherirren. 2. Entstehung
von
Geistern
Die Entstehung des Geisterglaubens kann sicher nicht auf eine einheitliche Wurzel zurückgeführt werden. Die evolutionistischen Theorien des Animismus und des Polydämonismus, die, trotz sonstiger Unterschiede, beide gleichermaßen den Glauben an Geister als eine Entwicklungsstufe auf dem Wege zum Gottesglauben verstehen wollten, sind schon aus chronologischen Gründen unhaltbar; denn Geister- und Gottesglauben sind zeitliche Parallelerscheinungen innerhalb eines religionsinternen Pluralismus (Lanczkowski 30ff). Außerdem scheitert jeder Versuch einer vereinheitlichenden Theorie an der Tatsache, daß ganz unterschiedliche Voraussetzungen für die Entstehung des Geisterglaubens nachgewiesen werden können. Abgesunkene Numina, Gottheiten, die depotenziert, ihrer einstigen Machtfülle beraubt sind, können als Geister weiterhin existieren. Das ist bei Religionswechsel der Fall und vornehmlich dann, wenn eine polytheistische Religion vom Monotheismus abgelöst wird. Dann nämlich bleiben nicht selten die Numina des polytheistischen Systems im Aberglauben als Geister lebendig. Der wilde Jäger, der nach volkstümlichen Vorstellungen in stürmischen
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Geister
sehen Denken bei Piaton u. Aristoteles, München 1 9 6 2 . - Ders., Antike Phil. u. byz. M A , München 1 9 6 9 . - Die Phil, des Neuplatonismus, hg. v. C. Zintzen, Darmstadt 1 9 7 7 . - Karl R . Popper, Objektive Erkenntnis, H a m b u r g 1 9 7 4 . - Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Phil, bei den Griechen, Frankfurt 1 9 7 8 . - M a x Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, B e r n / M ü n c h e n 7 1 9 6 6 . - Walter Schulz, Das Problem der absoluten Reflexion, Frankfurt a. M . 1 9 6 3 . - Ders., Der G o t t der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 4 o . J . ( 1 9 5 7 ) . - T h o m a s A. Szlezäk, Piaton u. Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel/Stuttgart 1 9 7 9 . - Bernhard T a u r e c k , Mathematische u. transzendentale Identität. Phil. Unters, zum Identitätsbegriff der mathematischen Logik sowie bei Schelling u. Hegel, W i e n / M ü n c h e n 1 9 7 3 . Ders., Das Schicksal der phil. Konstruktion, W i e n / M ü n c h e n 1 9 7 5 . - W i l l y Theiler, Überblick über Plotins Phil. u. Lebensweise: Plotin, Schriften (s.o.) Erl. Bd. IV 1 9 7 1 , 1 0 3 - 1 7 8 . - M i c h a e l T h e u n i s s e n , H e gels Lehre vom absoluten Geist als theol.-politischer T r a k t a t , Berlin 1 9 7 0 . - J . T r i c o t , La Metaphysik d'Aristote, Paris 2 1 9 5 3 . - Karl Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, Frankfurt 1 9 7 9 . - Ders., Plotin als Interpret der Ontologie Piatons, Frankfurt a . M . M 9 6 6 .
Bernhard Taureck
Geister 1. Begriff 2. Entstehung von Geistern 5 . Menschliche Reaktionen (Literatur S. 2 5 8 )
3 . Erscheinungsformen
4 . Wirkungsbereiche
1. Begriff Mit dem Begriff „Geister" bezeichnet man übernatürliche Wesen mit einer gegenüber den Göttern begrenzten, jedoch den Menschen im allgemeinen überlegenen Machtfülle. Es sind Gestalten des Spuks, der niederen Mythologie, der „religiösen Halbwelt", wie Rudolf Otto definierte (Gefühl 6 6 f). Der Bereich, in dem sie Bedeutung besitzen, ist die unterdogmatische Schicht der Religionen, der Volks- und Aberglauben, die sogenannte „Religion der Tiefe" (Pfister 19). In ihr treten sie einerseits als Kollektivgeister in Erscheinung, andererseits aber auch als profiliertere Gestalten, die Eigennamen und individuelle Charakterzüge besitzen. Ihr Wesen ist mehrdeutig und umfaßt sowohl gute, den Menschen hilfreiche Geister als auch solche in erschreckender Gestalt und mit schadenbringender Wirksamkeit; im letzteren Fall werden sie im allgemeinen als Gespenster oder —»Dämonen bezeichnet. Sie wohnen im Luftraum, in Naturerscheinungen wie vornehmlich Bergen, Bäumen, Gewässern, Sümpfen, an Kreuzwegen und in Einöden, außerdem auch in menschlichen Behausungen, in Ruinen und auf —»Friedhöfen. Bevorzugte Zeiten ihres Auftretens sind Mitternacht und Mittag. Den eigentlichen Geistern in ihren Erscheinungsformen und Verhaltensweisen verwandt sind dämonisierte Menschen, zu denen Werwölfe und Berserker zählen, ferner Leopardenmenschen, —»Hexen, von Geistern Besessene und Fluchbeladene, die, wie der fliegende Holländer, ruhelos auf einem gespenstischen Totenschiff umherirren. 2. Entstehung
von
Geistern
Die Entstehung des Geisterglaubens kann sicher nicht auf eine einheitliche Wurzel zurückgeführt werden. Die evolutionistischen Theorien des Animismus und des Polydämonismus, die, trotz sonstiger Unterschiede, beide gleichermaßen den Glauben an Geister als eine Entwicklungsstufe auf dem Wege zum Gottesglauben verstehen wollten, sind schon aus chronologischen Gründen unhaltbar; denn Geister- und Gottesglauben sind zeitliche Parallelerscheinungen innerhalb eines religionsinternen Pluralismus (Lanczkowski 30ff). Außerdem scheitert jeder Versuch einer vereinheitlichenden Theorie an der Tatsache, daß ganz unterschiedliche Voraussetzungen für die Entstehung des Geisterglaubens nachgewiesen werden können. Abgesunkene Numina, Gottheiten, die depotenziert, ihrer einstigen Machtfülle beraubt sind, können als Geister weiterhin existieren. Das ist bei Religionswechsel der Fall und vornehmlich dann, wenn eine polytheistische Religion vom Monotheismus abgelöst wird. Dann nämlich bleiben nicht selten die Numina des polytheistischen Systems im Aberglauben als Geister lebendig. Der wilde Jäger, der nach volkstümlichen Vorstellungen in stürmischen
Geister
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Nächten mit einem gespenstischen Heer die Lüfte durchzieht, ist ein bekanntes Beispiel hierfür; denn er geht zurück auf Odin/Wodan, den durch die Luft reitenden germanischen Gott. Der Animatismus, der Glaube des naturverbundenen, archaischen Menschen an eine allseitige Beseelung seiner Umwelt liegt der Konzeption der äußerst zahlreichen Naturgeister zugrunde, sofern diese nicht, wie der wilde Jäger, auf abgesunkene Numina zurückzuführen sind. Geister können auch durch Götterspaltung entstehen. Nur handelt es sich dann nicht, wie sonst häufig bei diesem Vorgang innerhalb polytheistischer Systeme, darum, daß die Fülle der Qualitäten und Funktionen eines großen Gottes aufgeteilt und in Sondergöttern verselbständigt wird, sondern um die personale Pluralisierung gleicher Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des einen Gottes. So geht die spätere Vielzahl der griechischen Tritonen, dämonischer, menschengestaltiger Meermänner mit Fischunterleib, die auf Muscheln bliesen und bestrebt waren, Menschen zu ertränken, zurück auf die eine Gestalt des alten Meer-Gottes Triton. Die 3 0 0 0 Okeaniden, menschenfreundliche Meernymphen, galten als Töchter des Titanen Okeanos und wurden somit auf diese eine Gestalt zurückgeführt. Auch die Abspaltung der 5 0 Nereiden, Helferinnen der in Seenot Geratenen, wurde genealogisch gedeutet, wenn man in ihnen Töchter des Nereus erkannte, eines hinter Poseidon zurücktretenden Meeresgottes, eines gütigen, hilfreichen und weisen Greises. Schließlich verkörpern die bösen 9 Töchter der Ran, einer germanischen Meeresgöttin, ganz die Eigenschaften ihrer Mutter; sie suchen Schiffe zu versenken und die Mannschaft zu ertränken. Nicht allein Abspaltungen einer Gottheit, sondern auch ihr beigesellte ethische Abstraktionen neigen zur Personifikation. Dieser Vorgang ist im Parsismus bei den „unsterblichen Heiligen", den amesha spenta, zu beobachten, die den guten Gott Ahura Mazda umgeben. Entsprechend dem auf Zarathustra zurückgehenden dualistischen System wurde ihnen dann die gleiche Anzahl böser Geister gegenübergestellt. Im Ausstrahlungsgebiet der —»Iranischen Religion haben beide Wesenheiten, die guten wie die schlechten, auf die Vorstellung der —>Engel einerseits, auf diejenigen des —»Teufels und teuflischer Mächte andererseits eingewirkt. Augenblickserscheinungen, Täuschungen und Trugbilder, vornehmlich bei unvorhergesehenen Naturereignissen, können sowohl zur vorübergehenden als auch dauerhaften Konzeption von Geistern führen. Die Gruppe der Totengeister nimmt einen breiten Raum ein. Ihnen können schützende Funktionen zugeschrieben werden; in überwiegender Mehrzahl aber werden sie als unheilbringend verstanden. Bei ihnen kann es sich um eine ungegliederte Masse der Toten handeln, wie dies bei den römischen Lemuren der Fall war. In der Kaiserzeit nannte man diese Totengeister meist Manen, was sie wahrscheinlich im euphemistischen Sinne als „die G u t e n " bezeichnete. Dieser ungegliederten Masse von Totengeistern stehen Einzelgestalten gegenüber, die als Wiedergänger, als ruhelose T o t e oder „ U n t o t e " aus dem Grabe aufgestanden sind. Bei ihnen handelt es sich um Menschen, die ein verwerfliches Leben führten oder einen schlimmen T o d , vornehmlich als Selbstmörder oder Verurteilte, erlitten. Eigenartigerweise können auch Lebende, ohne daß ihr späterer T o d hierfür Bedeutung besitzt, eine Geistervorstellung anregen. Dies ist der Fall bei dem slawischen Trojan, der ohne nähere Qualifikation im russischen Igorlied erwähnt wird, aber auf dem Balkan, dort zuweilen „ Z a r T r o j a n " genannt, als Gespenst des Dunkels eine Rolle spielt. Vorgestellt wird er mit Eselsohren und Flügeln aus Wachs. Uber seine Herkunft herrscht Einigkeit. Es ist kein Geringerer als der einstige Eroberer Dakiens, der römische Kaiser T r a j a n , dessen offizieller Kult nach der Eroberung des Landes durch die Römer von den Südslawen vielleicht mißverstanden, wahrscheinlich aber absichtlich umgedeutet und ins Negative gewendet wurde. Schließlich haben literarische Darstellungen die Bilder von Geistern hervorgerufen oder modifiziert. So sind die Heinzelmännchen als gute Hausgeister erst durch das ihnen gewidmete Gedicht von August von Kopisch bekannt geworden. Friedrich Müller, der meist als „Maler Müller" zitierte Dichter, war der erste, der in seinem Faust-Drama dem Gott Vitzil-
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Geister
opochtli, dem Stammesnumen der Azteken des alten Mexiko, unter der verballhornten Namensform Vitzliputzli teuflische Züge verlieh. Die Gestalt des Dracula ist eine Schöpfung des Iren Bram Stoker, der das besonders auf dem Balkan verbreitete Motiv vom untoten Blutsauger mit schauerlichen Überlieferungen verband, die den blutrünstigen Vlad betrafen, 5 der in der zweiten Hälfte des 15. J h . die Walachei tyrannisierte. Undine, die seelenlose, erlösungsbedürftige Seejungfrau, wird zuerst von Paracelsus erwähnt. Die Lorelei erscheint zunächst bei Clemens Brentano; die bekannteste Version von dem schönen Mädchen, das die Männer verwirrt und sie im Rhein ertrinken läßt, stammt von Heinrich Heine. Rumpelstilzchen ist eine Grimmsche Märchengestalt, mit der sich das im Geisterglauben und in der Ma10 gie weit verbreitete „Rumpelstilzchen-Motiv" verbindet, das Geheimhalten des eigenen Namens aus Furcht, ein fremder Kenner dieses Namens gewinne Macht über den Namensträger.
3.
Erscheinungsformen
Obwohl es den Geistern wesenseigentümlich ist, gestaltlos oder mit wechselndem Aus15 sehen aufzutreten, verbindet der Volksglaube mit ihnen doch meist feststehende Erscheinungsformen. Als menschengestaltige Geister von reizvollem Äußeren treten Wassernymphen auf, die den Wanderer anlocken, um ihn dann in einem Gewässer zu ertränken. Mehrheitlich aber sind menschengestaltige Geister, weibliche wie männliche, durch abnorme Mißbildungen von gräßlichem Aussehen gekennzeichnet, die Erschrecken und Entsetzen 20 hervorrufen. So treten die griechischen Gorgonen, deren bekannteste die Medusa ist, mit Schlangenhaaren, Hauzähnen und Flügeln in Erscheinung, und wer sie anblickte, wurde zu Stein. Der babylonische Sturmdämon Pazüzu hat ein fratzenhaftes Gesicht, besitzt vier Flügel, lange Hörner, Vogelkrallen und einen Skorpionschwanz. Und der chinesische Berggeist Mo-sin-a, der Reisende in die Irre führt und die Erschöpften tötet, hat die Gestalt eines klei25 nen Kindes, das durch sein schlohweißes Haar erschreckt. Die Kyklopen der Griechen sind einäugig und außerdem durch ihre riesenhafte Gestalt ebenso von gewöhnlichen Menschen unterschieden wie zwergenhafte Geister. Unter den menschlichen Körperteilen spielt die eiskalte Geisterhand eine Rolle, die, gelegentlich sichtbar, einen Menschen um Mitternacht berührt. 30 Tierische Erscheinungsformen sind häufig. Die indischen Räkshasas [Beschädiger] können die Gestalt von Hunden, Geiern, Eulen und anderer Nachtvögel annehmen. Die ebenfalls indischen Nägas, die unterirdische Schätze bewachen, sind ihrem Namen nach „Schlangen", treten aber auch in menschlicher Gestalt auf. Hellrote Geisterpferde sind es, auf denen die tibetischen bTsan durch die Lüfte reiten; mit ihren tödlichen Pfeilen schießen 35 sie auf Wanderer. Im übrigen erscheinen bevorzugt Tiere, deren Anblick als unästhetisch empfunden wird. Diesen Eindruck rufen auch tierisch-menschliche Mischformen hervor. Zu ihnen zählen, außer einigen der bereits genannten Mißbildungen, die dämonischen Kentauren der Griechen, menschliche Gestalten mit dem Unterkörper von Pferden, die Satyrn mit Pferde40 schwänzen und die Harpyien, die auf Vogelleibern einen Frauenkopf tragen. Zu den visuellen Erscheinungen gehören auch Geister, die in Lichtern, Rauchwolken und Feuerflammen umgehen oder diese als Attribute besitzen wie Calcus, der feuerspeiende Riese, der in einer Höhle am Aventin hauste. Bevorzugte Geisterfarben sind rot, grau und schwarz sowie das Weiß der Totengeister. 45 Unsichtbar bleiben zumeist Mahren und Truden, die als Dämonen des Alptraums umgehen, ferner Klopf- und Poltergeister sowie persönliche Schutzgeister. Unter den akustischen Erscheinungen überwiegt ein dumpfes Murmeln. Riesen brüllen, und Zwerge piepsen. Wassernymphen töten ihre Opfer unter schallendem Gelächter. Die Räkshasas schreien wie Esel, wenn sie die Kreuzwege heimsuchen.
Geister 4.
257
Wirkungsbereiche
Geister der Luft stehen oft mit atmosphärischen Erscheinungen in Verbindung, wie die indischen Maruts, die den erquickenden Regen bringen. Daneben aber ist offensichtlich für ihr Wesen auch der Gedanke bestimmend, daß sie rasch ihren Wirkungsbereich verlegen und an jeden beliebigen Ort fliegen können, um auf Menschen oder Tiere — meist in schadenbringender Weise - einzuwirken. Deshalb wohl hat 'Izrä'il, der arabische Bote des Todes, 4000 Flügel. Die babylonische Lamaschtu (-^Babylonisch-assyrische Religion) ist eine geflügelte Löwin, deren Körper mit Schuppen übersät ist; sie bringt das Fieber und reißt Ungeborene aus dem Mutterleib, um sich an deren Blut zu berauschen. Auch die russische Babajaga verlangt nach Menschenblut; in einem eisernen Kessel fährt sie durch die Lüfte, lmdugud, der sumerische Sturmvogel, ein löwenköpfiger Adler, dem der babylonischeZü entspricht, schwebt über Herden und schlägt seine Krallen in die Tiere. Zu den bereits erwähnten kollektiven Geistern des Meeres sind noch die griechischen Sirenen hinzuzufügen, dämonische Mischwesen, teils mädchen-, teils vogelgestaltig, die mit ihrem bezaubernden Gesang die an ihrer Insel vorbeifahrenden Schiffer ins Verderben lockten. Außerdem lauerten in den Wirbeln des griechischen Meeres nahe nebeneinander die Ungeheuer der Skylla und Charybdis. Im Aberglauben der Fahrensleute hat seit dem ausgehenden 18. Jh. und bis zum Ende der Segelschiffahrt der Klabautermann eine außerordentlich große Rolle gespielt. Vorgestellt wurde er als ein kleines, graues Männchen mit spitzem Hut, gelben Reitstiefeln und einem hölzernen Hammer in der Hand. Im allgemeinen galt er als hilfreicher Schiffsgeist, allerdings mit schelmischen Zügen. Moralische Vergehen ahndete er mit seinem Verlassen des Schiffes, das dann dem Untergang geweiht war. Sehr böse sind im allgemeinen die Geister der Binnengewässer. Das gilt für den slawischen Wassermann, der im Russischen Vodjanoj heißt. Er haust in den für Menschen besonders gefährlichen Strudeln und Untiefen. Den Wanderer, der in seinem See badet, lockt er in die Tiefe und macht den Ertrunkenen sich Untertan. Fischern zerreißt er zuweilen die Netze. Ein Gespenst, das den Reisenden in Morast und Sümpfe führt, ist im osteuropäischen Volksglauben der „Irreführer"; sein lettischer Name ist Vadätäjs, sein ukrainischer Blud. Die gefährlichen Wassernymphen der Slawen, die Rusalki, sind nach dem Volksglauben aus den Seelen ertränkter oder erwürgter Kinder oder denjenigen von Frauen entstanden, die eines unnatürlichen Todes starben. Bösartig sind auch die germanischen Nixen sowie der männliche Nix, Neck oder Nock, der in kleiner Menschengestalt und bärtig vorgestellt wurde, mit grünem Hut und grünen Zähnen. Ambivalent ist das Wesen der indischen „Wasserwandlerinnen", der lieblichen Apsaras. Sie verleihen Glück im Würfelspiel, verursachen aber auch Wahnsinn und verführen die Asketen. Geister der Wüste sind in erster Linie die Dschinn des alten Arabien. Sie galten als unsichtbar, konnten aber auch den Menschen in wechselnder Gestalt gegenübertreten. Ihr Verhalten war zwiespältig. Sie inspirierten Dichter und Seher, verursachten aber auch Geisteskrankheiten; bezeichnenderweise bedeutet madschnün, die arabische Vokabel für „wahnsinnig", wörtlich „von einem Dschinn besessen". Einseitig bösartig waren d i e G h ü l , Dämoninnen der arabischen Wüste, die den Reisenden vom Wege lockten, töteten und auffraßen. Die alten Israeliten kannten den Wüstendämon Asasel, zu dem sie den Sündenbock hinaustrieben. In den Wäldern des Nordens hausten die Riesen, die, älter als die Götter, gelegentlich als weise, dann aber auch wieder als plump und dumm angesehen wurden. Die Trolle, „Zauberwesen" der Wälder, lebten lange im Volksglauben fort. Auch die südslawischen Vilen, weibliche Wesen von großer Schönheit, die aus den Seelen verstorbener Mädchen hervorgingen, hielten sich teilweise in den Wäldern auf. Der bekannteste Berggeist Mitteleuropas istRübezahl. Er ist ein neckischer Geselle, aber nicht bösartig. Er foppt Wanderer und treibt mit ihnen seinen Schabernack, aber er be-
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Geister
schenkt auch die Armen. Die Etymologie seines Namens ist nicht eindeutig geklärt; germanische und slawische Ableitungen sind möglich. Sicher dürfte der Name ursprünglich nichts mit „Rüben" zu tun haben, und eine diesbezügliche Geschichte, die den Berggeist Rüben zählen läßt, ist sekundär und beruht auf irrigem Namensverständnis. Geister der Feldflur sind die römischen Laren, die das bäuerliche Anwesen beschützen, wahrscheinlich auch, soweit ersichtlich die nordgermanischen Landvaettir, die „Landwichte". Zu den Pflanzengeistern zählen die griechischen Dryaden, Nymphen, die in Bäumen leben und sterben, vor allem aber die zahlreichen germanischen Korngeister, die unter verschiedenen Namen als Korn- und Roggenmuhme, Roggenwolf und Habergeiß im Volksglauben fortleben. Die Hausgeister, klein von Gestalt, oft mit Tarnkappen versehen und nicht immer nur freundlich gesonnen, treten sehr zahlreich und meist kollektiv in Erscheinung. Die römischen Penaten galten speziell als Schützer der Vorratskammer (penus). Das germanische Wort Kobold bezeichnet den „Hausverwalter", wurde aber auch auf ein Bergmännchen übertragen, das den Bergleuten vermeintlich wertlose Metalle und Mineralien unterschob; von diesem Berggeist hat das Element Kobalt seinen Namen. Der slawische Hausgeist heißt bei den Russen Domovoj, bei den Ukrainern Domovyk. Schutzfunktionen gegenüber dem Tempel haben die asiatischen Dvarapälas, apotropäische Torhüter, die, figürlich dargestellt, mit furchterregenden und abwehrenden Gebärden zu beiden Seiten eines Tempeleingangs Wache halten. Zu den persönlichen Schutzgeistern des Menschen gehören die altnordische Fylgia, die iranische Fravashi und der Genius der Römer, der sich speziell auf die männliche Zeugungskraft bezieht und dem die weibliche Juno als Gebärkraft der Frau korrespondiert. Mehrheitlich sind die Geister den Menschen feindlich gesonnen. Hierzu gehören als größere Gruppen die südslawischen Vampire, nächtliche Blutsauger, die als Untote dem Grabe entsteigen, ferner die schwarzen Bdud der Tibeter, die Udug-, bzw. Utukku-Dämonen der Sumerer und Babylonier und die menschenfressenden Stymphalischen Vögel der Griechen. Als spezielle Götterfeinde gelten die indischen Asuras und, seit der Verkündigung Zarathustras, die iranischen Daêvas. 5. Menschliche
Reaktionen
Das menschliche Verhalten gegenüber den Geistern richtet sich nach deren Wesen. Oft werden gute Geister wie die der Ahnen und der Feldflur verehrt. Der Spiritismus versucht, Geister zum Zwecke der Orakelerteilung und Zukunftsschau zu beschwören. Vorherrschend aber begegnet der Mensch den Geistern mit Gespensterfurcht, „dem apokryphen Absenker und Zerrbilde des numinosen Gefühles" (R. Otto, Das Heilige 33). Hieraus resultieren apotropäische und, soweit es sich um von Geistern Besessene handelt, exorzistische Riten (—»Exorzismus). Als apotropäisches Zeichen gilt vor allem das Kreuz. Im Volksglauben gelten Erz, Eisen, Feuer, Knoblauch und Zwiebel als dämonenabwehrende Mittel. Gelegentlich findet sich die Ansicht, daß ein Geist durch menschliches Opfer erlöst werden könne. Die arabischen Dschinn finden Erlösung, wenn sie sich zum Islam bekehren. Literatur Alfred Bertholet, Götterspaltung u. Göttervereinigung, Tübingen 1933. - Wilhelm Bousset, Zur Dämonologie der späteren Antike: A R W 18 (1915) 1 3 4 - 1 7 2 . - Walter Burkert, Griech. Religion der archaischen u. klassischen Epoche, Stuttgart 1977. - Georges Dumézil, Naissance d'archanges, Paris 1 9 4 5 . - C a r l Frank, Lamastu, Pazuzuu. andere Dämonen, Leipzig 1 9 4 1 . - G é n i e s , anges et démons, Paris 1971 (Sources orientales 7). - Helge Gerndt, Fliegender Holländer u. Klabautermann, Göttingen 1971 (Schriften zu Niederdeutschen Volkskunde 4 ) . - J a k o b Grimm, Dt. Mythologie (1854), Tübingen 1953. - Heinrich Harrer, Geister u. Dämonen, Berlin 1969. - Friedrich Heiler, Erscheinungsformen u. Wesen der Religion, 1961 2 1 9 7 9 (RM l ) . - H I s l 112f. 1 4 4 f . - H W D A 3 , 4 7 2 - 5 5 9 . 7 6 6 - 7 7 1 . - A n drejs Johansons, Der Wassergeist u. der Sumpfgeist, Stockholm 1968. - Günter Lanczkowski, Einf. in die Religionswiss., Darmstadt 1980. - Kurt Latte, Rom. Religionsgesch., München 1960. - Wilhelm Mannhardt, Roggenwolf u. Roggenhund, Danzig 1865. - Ders., Die Korndämonen, Berlin 1868. Ders., Wald- u. Feldkulte, 2 Bde., Berlin 1875 2 1 9 0 4 / 0 5 . - Robert Müller-Sternberg, Die Dämonen.
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Wesen u. W i r k u n g eines U r p h ä n o m e n s , Bremen 1964. - Julius v. Negelein, Weltgesch. des Aberglaubens, 2 Bde., Berlin 1 9 3 1 / 3 5 . - Rudolf O t t o , Das Heilige, M ü n c h e n 2 1 ~ - 5 1 9 3 6 . - Ders., Das Gefühl des Überweltlichen (Sensus Numinis), M ü n c h e n 1932. - Walter F. O t t o , Die M a n e n oder v. den U r f o r m e n des Totenglaubens, Berlin 1923, D a r m s t a d t 2 1 9 5 8 . - Will-Erich Peuckert, Die Sagen vom Berggeist Rübezahl, Jena 1926. - Friedrich Pfister, Die Religionen der Griechen u. R ö m e r , Leipzig 1930. - Carl Heinz R a t s c h o w , Magie u. Religion, Gütersloh 1 9 4 7 2 1 9 5 5 . - Dietrich Seckel, Buddhistische Kunst Ostasiens, Stuttgart 1957. - Bram Stoker, Dracula, L o n d o n 1 8 9 7 1 1 1 9 1 6 ; dt. Leipzig 1908 ' 1 9 2 6 . Dieter Sturm/Klaus Völker (Hg.), Von Vampiren u. M e n s c h e n s ä u g e r n . Dichtungen u. D o k u m e n t e , M ü n c h e n 1968. - Geo Widengren, Die Religionen Irans, Stuttgart 1965. - Ernst Z b i n d e n , Die Djinn des Islam u. der altorientalische Geisterglaube, Bern/Stuttgart 1953.
Günter Lanczkowski Geisteswissenschaften 1. Entwicklung der historischen Disziplinen 2. Rationalismus und Geschichte 3. Historischer Sinn 4. Geisteswissenschaften in neuerer Zeit 4.1. Typologische Betrachtungsweisen 4.2. Individ u u m und Werk 4.3. Verhältnis zu N a t u r w i s s e n s c h a f t e n 4.4. H e r m e n e u t i k und Vorverständnis (Literatur S. 271)
1. Entwicklung
der historischen
Disziplinen
Die Geisteswissenschaften sind in Altertum wie Neuzeit jünger als die —»Naturwissenschaften. Die Griechen entwickelten von den historischen Disziplinen im wesentlichen nur politische -^»Geschichte - die an Schulen bis heute zu Unrecht über Religions-, Kunst-, Wirtschafts-, Rechtsgeschichte usf. dominiert — und Philosophiegeschichte. Letztere leidet bei —»Aristoteles und Theophrast, aber auch noch bei —>Hegel darunter, daß sie das frühere Denken als Vorstufe des eigenen deutet. Analog benutzt die Interpretationskunst—dafür ein Beispiel in —»Piatons Protagoras - den Dichter als Kronzeugen für eine eigene These. Einen beliebten Kunstgriff hierfür bot die allegorische Interpretationsmethode, die, wenn auch von der Alexandrinischen im Unterschied zur Pergamenischen Philologenschule abgelehnt, von der—>Stoa geübt wurde und durch sie auch ins Judentum (—»Philo v. Alexandrien) und Christentum gelangte. Hier schien sie durch die Geschichtslenkung Gottes und seine Inspiration der heiligen Texte doppelt gerechtfertigt: Texte können einen vordeutenden Sinn enthalten, den die Schreibenden selbst nicht hineinlegten. In der Apokalypse, bei Dante bestimmt die Allegorik später sogar die Schaffensmethode. Einen griechischen Wölfflin oder Dehio, Gundolf oder Korff hat es nie gegeben. Herodot, der „ u m der Theorie willen" (1,30) ferne Länder bereist, fragt wie die ionischen Physiker und Ärzte nach der Ursache einer Erscheinung, z.B. des von ihm beschriebenen Krieges; ebenso Thukydides, der zwischen wahrer und äußerer Ursache unterscheidet und — wie schon Hekataios, später dann Polybios - objektive Kritik der Uberlieferung fordert. Thukydides sucht das Typische der Situationen: man kann und soll aus der Geschichte lernen. Der antike Historiker haftet noch philosophisch am Gesetz (typische Abfolgen), an der Gattung (nur Piatons Dialoge werden unter seinem Namen herausgegeben, seine Gedichte muß man in der lyrischen Anthologie suchen), an Sinn und Zusammenhang (Aristoteles nennt die Dichtung philosophischer als die Geschichte, in der reine Zufälle geschehen). Die Geschichte bildet noch nicht, wie im 18. Jh., einen Gegenzug zur Philosophie. Sie gilt, weil sie es nicht mit dem Allgemeinen zu tun hat, obgleich man dieses auch in ihr sucht, noch nicht als Wissenschaft im vollen Sinn. Dagegen entwickeln, wie es griechischer Prinzipiensichtigkeit entspricht, die Sophisten des 5. Jh. und Spätere eine systematisch-normative Grammatik, Metrik, Rhetorik, Poetik, Politik, Ökonomie. Über die letzten vier Gebiete existieren auch Bücher von Aristoteles. Auf ihnen basierte z. T. der Unterricht in den —»Artes liberales an der Artistenfakultät des Mittelalters (das Fach Geschichte wurde erst später durch die Unterrichtsreform der Jesuiten eingeführt). Diese Fakultät vergab den Titel eines magister artium. Sie war innerhalb der Universität der theologischen, juristischen und medizinischen Fakultät, die allein den Doktorgrad verliehen, vorgelagert. Erst im 18. Jh. wurde aus der Artistenfakultät die Philoso-
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Wesen u. W i r k u n g eines U r p h ä n o m e n s , Bremen 1964. - Julius v. Negelein, Weltgesch. des Aberglaubens, 2 Bde., Berlin 1 9 3 1 / 3 5 . - Rudolf O t t o , Das Heilige, M ü n c h e n 2 1 ~ - 5 1 9 3 6 . - Ders., Das Gefühl des Überweltlichen (Sensus Numinis), M ü n c h e n 1932. - Walter F. O t t o , Die M a n e n oder v. den U r f o r m e n des Totenglaubens, Berlin 1923, D a r m s t a d t 2 1 9 5 8 . - Will-Erich Peuckert, Die Sagen vom Berggeist Rübezahl, Jena 1926. - Friedrich Pfister, Die Religionen der Griechen u. R ö m e r , Leipzig 1930. - Carl Heinz R a t s c h o w , Magie u. Religion, Gütersloh 1 9 4 7 2 1 9 5 5 . - Dietrich Seckel, Buddhistische Kunst Ostasiens, Stuttgart 1957. - Bram Stoker, Dracula, L o n d o n 1 8 9 7 1 1 1 9 1 6 ; dt. Leipzig 1908 ' 1 9 2 6 . Dieter Sturm/Klaus Völker (Hg.), Von Vampiren u. M e n s c h e n s ä u g e r n . Dichtungen u. D o k u m e n t e , M ü n c h e n 1968. - Geo Widengren, Die Religionen Irans, Stuttgart 1965. - Ernst Z b i n d e n , Die Djinn des Islam u. der altorientalische Geisterglaube, Bern/Stuttgart 1953.
Günter Lanczkowski Geisteswissenschaften 1. Entwicklung der historischen Disziplinen 2. Rationalismus und Geschichte 3. Historischer Sinn 4. Geisteswissenschaften in neuerer Zeit 4.1. Typologische Betrachtungsweisen 4.2. Individ u u m und Werk 4.3. Verhältnis zu N a t u r w i s s e n s c h a f t e n 4.4. H e r m e n e u t i k und Vorverständnis (Literatur S. 271)
1. Entwicklung
der historischen
Disziplinen
Die Geisteswissenschaften sind in Altertum wie Neuzeit jünger als die —»Naturwissenschaften. Die Griechen entwickelten von den historischen Disziplinen im wesentlichen nur politische -^»Geschichte - die an Schulen bis heute zu Unrecht über Religions-, Kunst-, Wirtschafts-, Rechtsgeschichte usf. dominiert — und Philosophiegeschichte. Letztere leidet bei —»Aristoteles und Theophrast, aber auch noch bei —>Hegel darunter, daß sie das frühere Denken als Vorstufe des eigenen deutet. Analog benutzt die Interpretationskunst—dafür ein Beispiel in —»Piatons Protagoras - den Dichter als Kronzeugen für eine eigene These. Einen beliebten Kunstgriff hierfür bot die allegorische Interpretationsmethode, die, wenn auch von der Alexandrinischen im Unterschied zur Pergamenischen Philologenschule abgelehnt, von der—>Stoa geübt wurde und durch sie auch ins Judentum (—»Philo v. Alexandrien) und Christentum gelangte. Hier schien sie durch die Geschichtslenkung Gottes und seine Inspiration der heiligen Texte doppelt gerechtfertigt: Texte können einen vordeutenden Sinn enthalten, den die Schreibenden selbst nicht hineinlegten. In der Apokalypse, bei Dante bestimmt die Allegorik später sogar die Schaffensmethode. Einen griechischen Wölfflin oder Dehio, Gundolf oder Korff hat es nie gegeben. Herodot, der „ u m der Theorie willen" (1,30) ferne Länder bereist, fragt wie die ionischen Physiker und Ärzte nach der Ursache einer Erscheinung, z.B. des von ihm beschriebenen Krieges; ebenso Thukydides, der zwischen wahrer und äußerer Ursache unterscheidet und — wie schon Hekataios, später dann Polybios - objektive Kritik der Uberlieferung fordert. Thukydides sucht das Typische der Situationen: man kann und soll aus der Geschichte lernen. Der antike Historiker haftet noch philosophisch am Gesetz (typische Abfolgen), an der Gattung (nur Piatons Dialoge werden unter seinem Namen herausgegeben, seine Gedichte muß man in der lyrischen Anthologie suchen), an Sinn und Zusammenhang (Aristoteles nennt die Dichtung philosophischer als die Geschichte, in der reine Zufälle geschehen). Die Geschichte bildet noch nicht, wie im 18. Jh., einen Gegenzug zur Philosophie. Sie gilt, weil sie es nicht mit dem Allgemeinen zu tun hat, obgleich man dieses auch in ihr sucht, noch nicht als Wissenschaft im vollen Sinn. Dagegen entwickeln, wie es griechischer Prinzipiensichtigkeit entspricht, die Sophisten des 5. Jh. und Spätere eine systematisch-normative Grammatik, Metrik, Rhetorik, Poetik, Politik, Ökonomie. Über die letzten vier Gebiete existieren auch Bücher von Aristoteles. Auf ihnen basierte z. T. der Unterricht in den —»Artes liberales an der Artistenfakultät des Mittelalters (das Fach Geschichte wurde erst später durch die Unterrichtsreform der Jesuiten eingeführt). Diese Fakultät vergab den Titel eines magister artium. Sie war innerhalb der Universität der theologischen, juristischen und medizinischen Fakultät, die allein den Doktorgrad verliehen, vorgelagert. Erst im 18. Jh. wurde aus der Artistenfakultät die Philoso-
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phische Fakultät mit eigenem Doktorabschluß. In ihr waren ursprünglich mathematisch-naturwissenschaftliche und philologisch-historische Fächer vereinigt (Geschichte wurde aber auch in anderen Fakultäten getrieben, z. B. als Rechtsgeschichte von Juristen). Die Lehrerausbildung lag nun nicht mehr in der Hand der Theologen. Die Zweiteilung der Philosophischen Fakultät erfolgte vielerorts gegen Ende des 19. Jh., wobei die Zuordnung von Psychologie und Ethnologie oft strittig war, ist aber heute in der Zeit der „Fachbereiche" vielfach auch schon historisch. Die Eingliederung der erst später sog. Geisteswissenschaften in eine „Philosophische" Fakultät entsprach einer Auffassung, gegen die im 19. Jh. L. v. —»Ranke polemisierte. Zu dieser Zeit löste sich die Geschichtswissenschaft von der Geschichtsphilosophie, mit der sie bei Voltaire und —»Hegel noch eins war, so wie sich schon früher auch die empirisch-mathematische Naturwissenschaft von der Philosophie löste. Wie jung die Geisteswissenschaften, zumindest als historische, auch in der Neuzeit sind, in der sie sich dann freilich erst voll entfalten, geht daraus hervor, daß Romanistik ursprünglich die Wissenschaft vom römischen Recht war. Dementsprechend waren Germanisten die Deutschrechtler: ihre heutige Bedeutung erlangten sie erst durch die Brüder Grimm. Jakob Burckhardt lehrte in Basel noch Kunstgeschichte in Verbindung mit allgemeiner Geschichte. Hermann Grimm war dann in Berlin der erste reine Kunstgeschichtsprofessor. 2. Rationalismus
und
Geschichte
Der—»Rationalismus des 17. und 18. Jh. zielt auf den „natürlichen", den „besten" Staat, auf das „Wesen" des Staates sowie aller anderen Kulturdomänen (Kulturplatonismus), wenn auch die Farben dafür vielfach aus der Antike, für die Religion aus dem Urchristentum genommen werden. Auf die vorbildliche Idee hin soll ein Fortschritt stattfinden. Die Geschichtswirklichkeit ist nur Abweichung zum Unvollkommeneren hin. Aus ihr läßt sich nichts Relevantes lernen. Die Geschichtsbetrachtung vermag höchstens zu erklären, wie es zu den Abweichungen kommt (Ignoranz, Schwäche, Bosheit, Verstocktheit; bei —»Montesquieu lebt auch die Klimatheorie von Hippokrates und Poseidonios wieder auf). Sie entspringt darüber hinaus bloß der „curiosité", gehört also zu den Niederungen, nicht zum Pathos des Geistes. Wenn der Rationalismus trotzdem eine Richtung auf die Geschichte hin gewinnt, so deshalb, weil er alle Institutionen aus Vernunft neu gestalten will und deshalb die bisher allbestimmende Macht der Tradition brechen muß. Damit die Menschen von vorn, geschichtslos, zukunftsoffen beginnen können, müssen sie sich von der vorgegebenen geschichtlichen Herkunftswelt emanzipieren. Die Vergangenheit muß von der Gegenwart, mit der sie bisher noch eine kontinuierliche Einheit bildete, abgerückt werden, und das geschieht dadurch, daß sie thematisiert, nüchtern vergegenständlicht und damit aus verbindlicher Tradition zu relativer Geschichte wird (vgl. J. Ritter). Ein erstes Motiv der Zuwendung zur Geschichte ist also ihre Repulsion, weil sie vor der Vernunft nicht besteht (vgl. Nietzsches „kritisch zerbrechende" Historie). Dazu tritt als zweites Motiv bei Vico und Herder, in englischer Präromantik, deutscher Romantik und der aus dieser hervorgehenden sog. Historischen Schule (Moser, Schlegel, Schleiermacher, Humboldt, Creuzer, Görres, Wolf, Niebuhr, Savigny, Bopp, Grimm, Ranke) die Attraktion durch die Geschichte. Gerade im endgültig Entschwundenen erblickt man ein Unmißbares, Höheres, in das man sich daher nun liebend versenkt, das man als wehmütig Bewundertes wieder herbeizieht. Denn die vernunftbestimmte Welt ist zwar gerechter und bequemer, aber auch kalt und gleichförmig. Es fehlt ihr das Hegende und der farbige Reiz der gewachsenen Kulturen. So wächst hier der Historie eine kompensatorische Aufgabe zu. Indem sie das Charakteristische und Mannigfaltige des Einst zurückruft, beschenkt sie den modernen Menschen innerlich mit dem, was seine Realwelt ihm vorenthält (J. Ritter). Freilich fehlt es dieser Art von Historie nicht an Gegnern: während der Rationalismus uns zu revolutionärer Tat rufe, mache sie uns zu bloß ästhetisch-genießerisch und „affirmativ" (Adorno) Betrachtenden. Sie entspringe einem rückwärtsgewandten —»Quietismus, der im Interesse des Bürgertums liege.
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Der Rationalismus blickt auf das vernunftgeborene Eine Ideal, auf das hin er den Fortschritt erstrebt, von dem aus er alles Gewordene bewertet. Demgegenüber glauben J . G . —»Herder und die —»Romantik an das Sinnvollsein von allem an seiner Stelle, aus seinen Bedingungen organisch Gewachsenen. Wie bei Cusanus (vgl. Leibniz, Schleiermacher) das Sein durch und durch individuiert und (umgekehrt wie bei dem darin noch platonisierenden Meister Eckhart) gerade in seiner Individuiertheit eine Offenbarung Gottes ist, so gilt dies nun auch für die Geschichte, deren vielfältiges Immer-anders-sein, für den Rationalismus ein Reich bloßer Kontingenz, gerade auf die Plusseite rückt. Sie wird zum „Gang Gottes" (Herder; vgl. Ranke: Völker sind Gedanken Gottes). Zwischen den Gestaltungen der Geschichte zieht sich keine Fortschrittslinie, sie liegen in einer „mehrgipfligen" Geschichte eher neben einander (Hermann Schmalenbach: die „Gleichgültigkeit der Zeit für die Geschichte"), ja eine besondere Andacht gilt den noch weisheitsvolleren, dichterischen, schöpferischen Frühzeiten. Alles Wirkliche (auch der Geschichte) ist „vernünftig", heißt es bei Hegel. Freilich sucht Hegel, ebenso wie der späte Herder, diese „Eigenwertlehre" (J. Thyssen) dann doch wieder mit Fortschrittstheorie zu verbinden, wenn er diese auch tiefer faßt als Auguste Comte, indem er jeden Schritt der Geschichte an ihrer Stelle sinnvoll und ein bleibend notwendiges Glied des Ganzen („Das Wahre ist das Ganze") sein läßt. Jede Epoche ist bei Ranke, der diese „Mediatisierung" verwirft und damit zum frühen Herder zurückkehrt, „unmittelbar zu Gott" (SW X X I V , 5 - 7 ) . An die Stelle desgedachten wahren Staates tritt die Anschauung der vielen realen Staaten.
Damals kommt auch das Wort Weltanschauung auf, die aber mehr ist als bloße sinnliche Wahrnehmung und Empirie, vielmehr im Gegebenen ein Geisthaftes, Bedeutungshaftes mitsieht und beides nur im Ineinander faßt. Was diese Anschauung lehrt, läßt sich auf keine andere Weise gewinnen. Der Historiker steht gemeinsam mit dem Künstler (und dem homo religiosus, der die Geschichtstatsache der Passion Christi als Heilstatsache nimmt) gegen die Glorifikation des philosophischen Begriffs als höchster Erkenntnisform. Die Legitimation für sein Tun wurde z. T. auf ästhetischem Feld erstritten (A. Bäumler). Hegel hat dann freilich doch wieder versucht, den in die Geschichte eingewobenen Sinn als Gedanken herauszulösen und in einer Formel abstrakt zu fassen. Auch deshalb polemisiert Ranke gegen ihn („Denke dir die Aristokratie nach allen ihren Prädikaten, niemals könntest du Sparta ahnen"). Meinecke sagt in Auseinandersetzung mit Croce, Hegel habe den einen Grundgedanken allen Historismus, das Individuum - sowie auch den andern der nicht zielgerichteten Entwicklung - , nie voll verstanden. 3. Historischer
Sinn
Für die Griechen ist ein Werk Abbild, Realisation eines ewigen Musters, dessen allgemeine Typik in ihm wiederkehrt. Für den Historismus ist es Ausdruck eines Volkes, einer Epoche, einer Persönlichkeit (so aber schon in Pseudo-LonginsSchrift vom Erhabenen, auf die man daher im 18. Jh. zurückgreift), deren Individualität sich ihm mitteilt. Der Psychologismus, der das Werk auf seinen Ursprungsort reduziert, zieht eine falsche Konsequenz aus dieser Entdeckung der „Ausdrucksbeziehung", die unser geschichtliches Verstehen unendlich vertieft hat. Da die sich ausdrückende Lebensgrundlage stets individuell ist, bejaht und sieht man jetzt um so mehr die Individualität auch der kulturellen Gestaltungen. Diese Einsicht und Haltung entbindet im —»Sturm und Drang zugleich die eigene Originalität, die sich jetzt durch keine traditionalen Regeln mehr beengen läßt, wie die Offenheit für den charakteristischen Reiz anderer Originalität, an die man mit keinen ihr ungemäßen Erwartungen mehr herantritt. Die ,querelle des anciens et des modernes', die noch geschichtsenthobengleichbleibende Normen voraussetzte, ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. überwunden. Da andere aufgrund ihrer subjektiven Vorgegebenheiten notwendig verschieden dachten und schufen, stellt der Historiker sein eigenes Sein, Für-wahr-halten, Wertschätzen als Maßstab zurück, löscht sein Ich gleichsam aus (Ranke) und sucht das Fremde aus dessen Mitte in seiner inkommensurabeln Eigenart zu durchdringen. Mit dem „historischen Sinn" wuchs der Menschheit ein neues Organ zu. Friedrich Meinecke spricht von einer „historistischen Revolution", die unser ganzes Erkenntnisvermögen gewandelt habe. Wir verstehen heute ferne Kulturen besser als sie sich selbst verstehen, fühlen uns in ihr unterschiedliches „Kunstwollen" (Alois Riegl: HWP 4,1463 f) ein, akzeptieren eine eigene „mentalite primitive" (Lucien Levy-Bruhl), eine „archaische Logik" (E. Hoffmann), eine Pluralität von
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„Denkformen" (Hans Leisegang), so wie wir uns auch in die spezifischen Denkformen des Kindes, des Träumers, des Schizophrenen, ja des Tiers hineinversetzen. Die Sensibilität für das Fremdindividuelle nimmt bis in unserjahrhundert zu. Der moderne Philologe erkennt— im Unterschied zu den Alexandrinern — die späteren Einschübe bei Homer. Er entdeckt, weil er sie auf das Leben der Autoren bezieht und mit dem Entwicklungsbegriff operiert, die Reihenfolge der Sophokleischen Dramen und der Platonischen Dialoge, wonach kein antiker Philologe je fragte. Mit dem historischen Sinn ist nicht nur eine intellektuelle Fertigkeit erworben. Nach W. von -^Humboldt sollen wir andere Sprachen lernen und Literaturen lesen, weil nur dies uns über die fragmentarische Einzelhaftigkeit und Zufälligkeit unseres Standorts erhebt. Die sympathetische Aneignung der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten „bildet" die Persönlichkeit nicht nur im Sinn bloßen Wissens - das ist erst eine spätere Veräußerlichung —, sondern weitet und bereichert sie. Durch Universalität zur Totalität! Ausdrücklich will Humboldt im von ihm begründeten Humanistischen Gymnasium nicht durch Philosophie, die Ideen und Formen erdenkt und sich an das Denken richtet, sondern durch die farbige Fülle konkreter Geschichte, durch Kunst, durch Sprachen und Literatur erziehen. Erst dem anderen begegnend und ihn verstehend, finden wir uns selbst, weil wir uns an ihm erproben und mit ihm vergleichen. Das scheinbare Abgehen vom eigenen Selbst dient der Selbststeigerung und Selbsterkenntnis (Schleiermacher, Dilthey). Das metaphysische Fundament, das die Geisteswissenschaften in der Romantik noch trug, geht erst im —»Positivismus des 19. Jh. verloren, den Karl Joel deshalb „pervertierte Romantik" nannte. Lag noch für die Historische Schule hinter allem Geschichtlichen ein geheimnisvoller, ungreifbarer Sinn, so häuft man jetzt nur noch Fakten, Stoffmassen. Aus der Pluralität der Absoluta bei Herder wird eine Pluralität der Relativa in einem Historismus, dessen Begriff einen abschätzigen Sinn (= Relativismus) gewinnt. Während bei Hegel die Geschichte der Philosophie ineinandergreifende Wahrheiten enthält und daher mit dem System der Philosophie identisch ist, wird sie jetzt zu einer Geschichte der Irrtümer. Dies war die Situation, in der F. ^ N i e t z s c h e in einer Frühschrift der Historie vorwarf, sie überflute uns mit uns nichts angehendem Wissen, zerstöre durch Allgerechtigkeit den „mythischen Horizont" und lähme so die Produktivität. Doch spricht er auch vom „Nutzen" der Historie, den sie entfaltet, wo sie dem „Leben" dient. Eine Art „monumentalische Historie" in seinem Sinn stellte gegen den Positivismus der George-Kreis. Die —>Existenzphilosophie forderte „Begegnung" und „Dialog" mit der Geschichte: wir sollen uns vor ihr nicht „auslöschen", sondern uns mit ihr auseinandersetzen und das finden, was sie nicht an sich, sondern für uns bedeutet (Gadamers Rehabilitation des Vor-urteils, sein Begriff der „Horizontverschmelzung" [Wahrheit, 2 1965, 286]). Das führte aber vielfach (bei M . —»Heidegger, auch bei K. —> Barth) zu Nostrifikationen und Vergewaltigungen der Geschichte, die hinter den erreichten Stand methodischer Differenzierung und Fähigkeit des Sich-Hineinversetzens zurückfallen. Die Geschichte wird wieder teleologisiert, ja mythisiert. Oppositionsbewegung zum Historismus ist die Existenzphilosophie auch darin, daß sie das auf der objektiven Seite verlorene Absolute wiederzufinden hofft in der subjektiven Freiheit der Entscheidung. Während diese jedoch bei S. A. —»Kierkegaard noch auf die geglaubte Wahrheit Gottes bezogen war, mündet sie ohne Hintergrund von Tradition oder Erkenntnis in willkürlichen Dezisionismus. Antihistorismus setzt aber noch das Problem des Historismus voraus. Heute fühlen viele Jüngere sich nicht mehr aus geschichtlichen Ursprüngen herkommend, deren Kontinuität unterbrochen scheint. Daher geht die „historische Bildung" zurück und eine teils naturwissenschaftliche, teils politische Haltung greift Platz. 4. Geisteswissenschaften
in neuerer Zeit
4.1. Typologische Betrachtungsweisen. Gegen ihre ausschließliche Historisierung holt in unserem Jahrhundert die Geisteswissenschaft selbst zum Gegenschlag aus. Diese Historisierung erfolgte erst im 18. Jh. durch den Wegfall des Vertrauens in die zeitenthobenen Wesensstrukturen und Paradigmen der einzelnen Kulturdomänen. Aus der präskripti ven Poetik
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von Aristoteles bis Gottsched wurde daher neutral-rezeptive Literaturgeschichte. Auch die Theologie historisierte sich damals (Lowth, Herder, Eichhorn), im 19. Jh. die Nationalökonomie nicht erst bei Gustav Schmoller, sondern schon bei Marx, der die angeblich ewigen wirtschaftlichen Gesetze Adam Smith's und Ricardos als solche nur des historisch entstandenen Kapitalismus erweist (über Motive und Phasen von dessen Entstehung s. M. —> Weber, Werner Sombart u.a.). Demgegenüber fordert unser Jahrhundert wieder Kunstwissenschaft neben Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft neben Literaturgeschichte usf. Als Specimen der Kunstwissenschaft galten lange Zeit Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, in denen er unter Verwendung der Kategorien „zeichnerisch" und „malerisch" zwei typische, in dieser Reihenfolge immer wiederkehrende Fundamentalstile unterschied, von denen also der zweite nicht nur Verfallsform des ersten ist. Das eigentliche Thema bildet für Wölfflin — wie schon für Johann Winckelmann - nicht das Werk, sondern der Stil (Kunstgeschichte ohne Künstler, histoire sans noms). Ein nach ästhetischen Maßstäben geringes Werk kann hochbedeutsam sein, wenn in ihm ein Stilumschwung sich ankündigt. Wölfflins angeblich metahistorische Kategorien führen zwar über die positivistische Einzelbetrachtung hinaus, bleiben jedoch andererseits der Geschichte verhaftet und dienen ihrer besseren Erfassung. Dasselbe gilt für die anderen Typologien, die (nach dem Vorgang von Schiller: naiv-sentimentalisch, Nietzsche: dionysisch-apollinisch) zur Großtat der Geisteswissenschaft unseres Jahrhunderts gehören und die die älteren, noch monistisch-teleologischen Evolutionsschemata ablösten, wie z. B. Hegel: Kunst-Religion-Philosophie, A. Comtes Dreistadiengesetz: Religion-Metaphysik-Wissenschaft, W. Wundt: Animismus-Totemismus-Götterzeitalter, W. Roscher: Boden-Arbeit-Kapital. Unter ihnen ragen hervor: Wilhelm Worringers Abstraktion-Einfühlung, Fritz Strichs klassisch-romantisch, Walter Muschgs Dichtertypen, Ferdinand Tönnies' Gemeinschaft-Gesellschaft, Wilhelm Diltheys drei Typen der Weltanschauung, die aber auch eine Charakterologie sind, überhaupt die Charakterologien (Ludwig Klages, C . G . Jung, Ernst Kretschmer), Hans Leisegangs Denkformen, Eduard Sprangers Lebensformen. Manchmal implizieren die Gegensatzpaare eine typische Reihenfolge (Wölfflin, Tönnies), doch nicht notwendig. In nichttypologischer Weise, die sophistisch-aristotelische Tradition erneuernd, sie jedoch aus dem Normativen ins Deskriptive wendend, gibt es heute auch wieder Poetik (Emil Staiger), Allgemeine Linguistik (F. de Saussure, Snell, der Strukturalismus), „dogmatische" Theologie (Karl Barth), systematisch-mathematisierte Nationalökonomie usf. Wenn auch die Methodologie jeder Einzeldisziplin überlassen bleiben muß, so gibt es doch gemeinsame Methoden- wie Sachprobleme aller Geisteswissenschaften (von denen es im übrigen bis heute, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, keine zusammenfassende Geschichte gibt; bedeutendste Ansätze bei Erich Rothacker). Ernst Cassirer deutete die menschlichen Hervorbringungen, die ihr Thema sind, transzendentalistisch als „symbolische Formen". Eine Philosophie der Geisteswissenschaften stellt auch —»Troeltschs Der Historismus und seine Probleme dar. Eine Grundunterscheidung (Freyer, N. Hartmann) ist die zwischen dem objektivem Geist (Sprache, Sitte, Institutionen, die von Menschen gelebt werden) und dem materiell verfestigten objektivierten Geist (Gerät, Kunstwerk). Doch fallen z. B. die Thronbesteigungen und Schlachten der politischen Historie weder in die eine noch die andere Gruppe. Der klassische Historiker erzählt (Dantos „narrative" Wissenschaft), der Historiker von Religion, Philosophie oder Künsten deutet (wenn auch die Erzählung Deutung einschließt). Für diesen ist der zu interpretierende Text das Letzte, für jenen Quelle einer anderen Wirklichkeit, die Interpretation also nur Mittel zum Zweck (J.G. Droysen). Alle sind sie, oft unbewußt, abhängig von Kategorien einer bestimmten Geschichts-, Religionsphilosophie, Ästhetik, ferner von Weltanschauungen des Zeitalters, in dem sie arbeiten. Im —»Positivismus weit verbreitet war die Motivgeschichte, weil das Motiv als das am meisten stoffliche Moment im Kunstwerk erschien: Maria Magdalena auf den Kreuzabnahmen, die schwebende Gestalt (Studnicka), das Greisenalter bei den Dichtern. Entgegen der Motivgeschichte, deren Verdienst immerhin ist, daß sie die nationalen Sonderentwicklungen übergreift, wurde bald Problem- (Unger),
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Stil-, Ideen- (Korff) Geschichte gefordert. Der Stoff sei das zufälligste Element im Kunstwerk (Walzel), es komme darauf an, wie er, der in Antike und Mittelalter noch vorgegeben war, jeweils geformt werde, welche Funktion er versehe. Als organisierendes Prinzip kann man dabei die Gattung selbst ansehen: das Märchen hat sein immanentes Gesetz, nach dem es attrahiert, abstößt und gestaltet (de Boor); oder aber die Künstlerpersönlichkeit resp. Volk (Herders Stimmen der Völker in Liedern), Kultur. Für die einen schlägt der „Zeitgeist" (der als Begriff wie „Volksgeist" noch aus der Romantik stammt) so sehr durch, daß etwa Barockmalerei, -dichtung und -musik näher zusammengehören als Barockmalerei und Renaissancemalerei und daß horizontale Epochenwissenschaft an die Stelle der isolierten Stränge von vertikaler Kunst- und Literaturgeschichte treten müßte (Comtes „Consensus", Lamprechts „Diapason"); für die andern ist der Epochenbegriff ein Phantom (—»Gcschichtsphilosophie). Man kann griechische Plastik zusammen mit griechischer Philosophie und Literatur betrachten: Archäologie als Teil der Klassischen Altertumskunde; man kann sie aber auch als Ausprägung des Weltphänomens Kunst nehmen und mit der Kunst anderer Kulturen vergleichen: Archäologie als Teil der allgemeinen Kunstgeschichte. Eine Zeit lang war es modisch, die Geschichte nach sich regelmäßig ablösenden Perioden oder Generationsabfolgen einzuteilen (Wilhelm Pinder, bei dem auch Architektur-Malerei-Musik eine Abfolge bildet). Lehrer universalhistorischer Periodisierungen wie Karl Lamprecht, Kurt Breysig, Oswald Spengler waren aber Außenseiter der Zunft der Historiker, die nur Quellen- und Detailforschung als wissenschaftlich gelten ließ (—»Geschichtsphilosophie); heute werden sie wiederentdeckt als Vorläufer sozialwissenschaftlicher und strukturalistischer Vorgehensweise, die unter der Oberfläche des fälschlich überbewerteten individuellen Geschehens metahistorisch die gleichbleibenden Elemente und unbewußten Zusammenhänge sucht. Die Analyse eines Dramas wird ergänzt durch Studien über Aufbau und „Technik" (Freytag) der literarischen Gattung Drama. Da es aber heute auch lyrisches und episches Drama gibt, spricht Staiger in seiner Poetik nicht mehr vom Drama, sondern vom „Dramatischen" als „anthropologischer" Haltung.
4.2. Individuum und Werk. Unter der Suggestion der naturalistischen Grundstimmung der zweiten Hälfte des 19. Jh. führten die Geisteswissenschaftler damals das ungreifbare „Epiphänomen" des Geistigen zurück auf das realere Psychische der es schaffenden Menschen, wobei nach seiner Umsetzung und Gestaltung durch das Schaffen, nach dem „kreativen Plus", oft wenig gefragt wurde. Kultur war nur noch „document humain". Religionswissenschaft wurde Religionspsychologie (Wundt, Girgensohn, James; anders erst R. —>Otto: majestas, mysterium tremendum und fascinosum, das Energische als objektive Eigenschaften des Numinosen selbst). Aus dem „Erlebten, Erlernten, Ererbten" (Wilhelm Scherer, aber auch Erich Schmidt) des Dichters leitete der Literaturhistoriker das Werk ab, ja der Text wurde zur bloßen Quelle für die handfestere historische Wirklichkeit des Erlebnisses. Ein Buch über Goethe war eine Goethebiographie (Bielschowsky). In W. —»Diltheys Buch Das Erlebnis und die Dichtung wird demgegenüber das Erlebnis durch die Dichtung geformt und vertieft. Speziell auf das frühkindliche Erleben des Künstlers rekurrierte die Psychoanalyse (Freud über Lionardo; Zeitschrift Imago), während sich bei C.G. —>Jung „kollektiv Unbewußtes" in den Werken niederschlägt (Faust als Archetypus der deutschen Seele fand in Goethe nur ein Sprachrohr). Letzterem verwandt — und gleichfalls letztlich noch romantischen Ursprungs - sind die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Wundt, Lamprechts Sozialpsyche, Spenglers Kulturseele, die allen Äußerungen einer Kultur ihre Form aufprägt (Morphologie der Weltgeschichte). Den Psychologismus zunächst nur hinsichtlich der Logik widerlegte E. —»Husserl in seinen Prolegomena zur reinen Logik (1900), was dann aber einen Antipsychologismus der Geisteswissenschaften nach sich zog. Generell wendet sich die Phänomenologie gegen Reduktionen - auch von Qualitäten, Ethischem, Religiösem — auf „nichts als" Naturales (vgl. Nicolai Hartmanns „Schichtenverfehlung"). Auf literarhistorischem Gebiet traten dem Psychologismus und Biographismus Benedetto Croce und Friedrich Gundolf entgegen, worin damals auch eine weltanschauliche Entscheidung lag. Gundolf erklärte nicht aus dem Leben das Werk, sondern schloß vom Werk, auf das er sich beschränkte (aber können nicht auch Briefe und Tagebücher Wesentliches enthüllen?) zurück auf die geistige Gestalt des Dichters, der als Privatmann gleichgültig ist, gleichsam auf das transzendentale Subjekt — das jedoch im Unterschied zu dem Kants geschichtlich-individuell variiert - der Gestaltung, die Kategorien seiner Weltverarbeitung. Gundolf löst nicht Geistiges in Psychisches auf, auch er behandelt jedoch noch den einzelnen Dichter, den „Genius". Objektivistischer geht Wölfflin
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vor, indem er, von der zeitgenössischen Formästhetik (im Unterschied zur idealistischen Gehaltsästhetik), vielleicht aber auch von der impressionistischen „Emanzipation des Sichtbaren" beeinflußt, aus der Kunst das Moment der Form isoliert, die großen typischen Stile analysiert und den eigengesetzlichen Ablauf des Stilwandels verfolgt. Über die Einzelschaffenden und -werke hinaus greift auch die der formgeschichtlichen Methode Wölfflins entgegenstehende ideengeschichtliche Diltheys. Während Wölfflins Methode maierei-immanent bleibt, kann die Diltheys in jeder Geisteswissenschaft angewandt werden, da alles Kulturelle - auch die Verfassung, auch die Architektur - Ideen spiegelt (vgl. Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte) .In den USA verselbständigte sie sich zu der eigenen Disziplin der „history of ideas" (unter diesem Titel auch ein Nachschlagewerk). In ihrer antimaterialistischen Spitze bedeutet Diltheys Methode in gewisser Weise eine Rückkehr zu Hegel (Selbstbewegung der Idee als Urfaktor der Geschichte). Hatten die Junggrammatiker blind wirkende, rein phonetische Lautgesetze aufgestellt (Lautverschiebungen), so wendet sich der Sprachforscher jetzt dem Bedeutungswandel zu. Nach Vossler führt nicht die Abschleifung der Kasusendungen im Französischen zur festen Wortstellung, vielmehr konnten, nachdem der logische Sinn der Franzosen letztere durchgesetzt hatte, die Endungen wegfallen. Für Karl Kautsky resultierte die Reformation aus der Wirtschaftsgeschichte; umgekehrt erweist M . —»Weber die „innerweltliche Askese" des Calvinismus als einen Anstoß zum Kapitalismus. In seinen Weltanschauungen der Malerei zeigte der Diltheyschüler Herman Nohl, daß Stile Auseinandersetzungen des Menschen mit dem Leben im Medium des Sichtbaren sind (Pinder: Anschauung der Welt ist auch Weltanschauung). Er fand die drei Weltanschauungstypen Diltheys in Stilen wieder. Simmel konfrontierte im Rembrandt nördliche Ausdruckskunst mit klassischer Formkunst. Wölfflins Methode geht von selbst in die ideengeschichtliche über: es gibt keine reine Formentwicklung. Der Manierismus entsteht nicht aus autonomem Stilwachstum, sondern aus der neuen Religiosität der Gegenreformation; Greco gehört zur Mystik der heiligen Therese (Dvorak). Der späte Wölfflin selbst gab zu, daß das Sehen sich wandelt infolge des Wandels des Interesses.
Beide Methoden leiden darunter, daß der Schaffende und sein Werk — wie bei Hegel — fast nur zum Beispiel für ein Allgemeineres herabsinken. Bei Wölfflin vollstreckt der Maler ein von ihm unabhängiges Entwicklungsgesetz, das ohne ihn ein anderer vollstrecken würde. Bei Korff sind die Dichter nur Wortträger des Zeitgeistes, aus dem man sie nahezu deduzieren könnte. An die Stelle beider so wie auch der psychologischen Methode, gegen die alle der Vorwurf erhoben wird, daß sie das Werk aus etwas anderem erklären und so letztlich überspringen, tritt daher heute die interpretative Methode (Staiger), die man auch die phänomenologische nennen könnte. Dichtung ist „sprachliches Kunstwerk" (Kayser), so wie Malerei Farbkunst, Musik Tonkunst. Von diesem unmittelbar Gegebenen ist auszugehen. Die strenge Individualität des Werkes, das einen autonomen Kosmos mit eigener Wahrheit darstellt (R. Ingarden), muß im Vordergrund stehen. Form und Sinngehalt müssen wie in jedem echten Symbol ineins geschaut werden. Auch die psychologische Methode bildet (ebenso im New Criticism der Chicagoer Schule) nur noch eine Hilfsmethode. Ein dichterischer Text — darauf hatten schon die Symbolisten hingewiesen - kann einen Sinn enthalten, der dem Verfasser selbst nicht bewußt war. Eine heutige Methode, die ebenfalls an der Aussageintention kultureller Gebilde vorübergeht, ist der Soziologismus. Er ist weniger naturalistisch als der Psychologismus, da das Gesellschaftliche, auf das er reduziert, immerhin selbst ein Geschichtliches ist. Auch soziologische Betrachtungsweise, Literatursoziologie usf. kann eine Dimension aufschließen (Emile Dürkheim, Lublinski, Georg Lukäcs, Wilhelm Hausenstein, Hauser). Wir verdanken ihr z. B. die Herausarbeitung der Wirkung der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben (Lukäcs, Bertaux u. a.); die Kategorie des gesunkenen Kulturguts: höfische Mode wird auf dem Lande stabile Tracht (Naumann); die Unterscheidung der individuell geprägten, profan-zweckfreien Hochkunst von stilverhafteter, christlich-mythischer Gebrauchskunst der Bauern; die Rezeptionsästhetik (J.P. Sartre, Jauss u. a.). Wie die psychologische, so neigt jedoch die soziologische Sehweise dazu, sich zu verabsolutieren und zum Reduktionismus zu werden (Politizismus schon bei Gervinus). Der Marxismus nennt die Geisteswissenschaften Gesellschaftswissenschaften und neigt wieder zu fortschrittsgläubig-teleologischer Geschichtsbetrachtung. Soziologisierende und politisierende Geistesge-
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schichte steht in der Gefahr, von der objektiven gehaltlichen oder ästhetischen Qualität der Werke abzusehen zugunsten der in ihnen behandelten oder sich ausdrückenden Sachprobleme und des von ihnen ausgehenden Appells. Der „engagierten Literatur" entspricht der engagierte Geisteswissenschaftler. Wie Georg Simmel als Soziologe, Ferdinand de Saussure als Linguist, Edmund Husserl als Logiker, Friedrich Gundolf und Emil Staiger als Literarhistoriker den Psychologismus überwanden, so bedarf es heute einer analogen Garnitur von Wissenschaftlern zur Überwindung des Soziologismus. 4.3. Verhältnis zur Naturwissenschaft. Die zweite Hälfte des 19. Jh. sah den Siegeszug der Naturwissenschaften. Sie und die materialistische Stimmung des Zeitalters trugen dazu bei, daß die Geisteswissenschaft glaubte, auch sie würde erst im vollen Sinn zu Wissenschaft werden und zu ähnlichen Erfolgen gelangen, wenn sie es jenen gleichtäte. Daher wollte sie voraussetzungslos vorgehen (eine Forderung, die im —»Kulturkampf entstand) und nicht werten (letzteres berühmt durch Max Weber). Die Romantik wollte nicht vom Eigenen aus das Fremde, von der Idee aus das Gewachsene bewerten. Immanente Wertränge waren damit jedoch nicht ausgeschlossen. Alles ist sinndurchwaltet. Jetzt dagegen heißt Nichtwertung, daß noch das Kleinste erforscht werden soll (Moritz Haupt: „Die Philologie verachtet, wie die Botanik, kein Unkraut" ). Alles ist gleichmäßig nur Stoff. Simmel und Freyer machten dagegen geltend, daß in den Geisteswissenschaften bei Stoffauswahl und Deutung immer ein „weltanschauliches Apriori" wirksam sei. Nach H. Rickert sind sie zwar nicht wertende, wohl dagegen „wertbeziehende" Wissenschaften; nicht wir fügen ja den Wert aus bloßer Subjektivität hinzu, vielmehr haftet er allem Kulturellen von sich aus an. Darüber hinaus suchte man die Methoden der Naturwissenschaft auch auf die Geisteswissenschaft zu übertragen, was jedoch dazu führte - oder schon dadurch bestimmt war - , daß man auch im Kulturellen nur Natur erblickte (vgl. Wilhelm Heinrich von Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes). Taine, ein Schüler Sainte-Beuves, der sich als ,naturaliste des esprits' bezeichnete, wollte die politische Entwicklung Frankreichs beschreiben wie die Metamorphose eines Insekts. „Laster und Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker." Des näheren bedeutet dies a) Mathematisierung. Schon —»Spinoza will, darin von Hobbes bestärkt, in seiner Ethica ordine geometrico demonstrata die Affekte betrachten, als handle es sich um Linien, Flächen und Körper. H. —»Grotius führte die Mathematik in die Rechtswissenschaft ein. Nach I. —»Kant ist jede Wissenschaft nur so weit Wissenschaft, als sie Mathematik enthält. Dasselbe Programm bei Comte. Indessen hat es Geisteswissenschaft mit Qualitativem, Mathematik mit Quantitativem zu tun. Gegen den „esprit géométrique" stellte Biaise Pascal den „esprit de finesse", b) Kausalismus. „Scire est per causas scire". Während der Deutsche Idealismus noch die Natur aus dem Metaphysisch-Spirituellen entspringen ließ, die Romantik Sprache, Recht usf. aus dem Volksgeist, führt man bald darauf Geistiges auf Materielles zurück: auf den sozioökonomischen „Unterbau" (—»Marx), die Rasse (Gobineau, Chamberlain, Nadler, der Nationalsozialismus), auf die Dreiheit Rasse, Milieu und Situation (Taine, der deshalb Napoleon als Korsen darstellt; gegenüber diesem Methodenbewußtsein ist er als Historiker faktisch reicher). Bei Gottfried Semper hat das Kunstwerk keine Autonomie, sondern ist ein Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik. Man treibt Einfluß- und Beziehungsforschung. Wenn ein Dichter oder Philosoph auf den anderen Einfluß hat, so wirkt hier zwar Geistiges auf Geistiges, doch wird nun der Kausalismus dahin überspannt, daß man das Determinierte auf das Determinierende reduziert, es aus ihm erklärt glaubt. Einwände unseres Jahrhunderts: jede Kultur filtriert aus ihrer Schicksalsidee (Spengler), ihrer Konfiguration (R. Benedict) die von außen kommenden Einflüsse und formt sie in ihrem Sinn um. Soviel Lukrez und Vergil auch von den Griechen übernahmen, sie schmelzen es ein in ein spezifisch Römisches. Die Wirkung ist nicht gleich der Ursache, sondern anderes und mehr. Die Abstammung vom Affen macht den Menschen nicht zum Tier. Es gibt eine „emergent évolution" (Morgan), in jeder Schicht, wie sehr sie auch aus der tieferen hervorging, ein kategoriales Novum (N. Hartmann). Endlich: Deskription der Ei-
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genart des Gegebenen, Analyse der geworden-gegenwärtigen Struktur sind ebenso legitime wissenschaftliche Dimensionen wie die Frage nach der Genesis, die oft zu Konstruktionen verführt (daher Deskriptionen auch in der Phänomenologie). Schon Piaton stellte Wesensschau gegen vorsokratisches à o ^ - D e n k e n . c) Elementarismus oder Atomismus, Zerlegung in kleinste Teile. Nach dem Vorbild der physikalischen Atomistik ließ Hobbes wie schon die Sophistik die Gesellschaft aus einzelnen bestehen, die erst dann einen Vertrag schließen; Herbart das Seelenleben aus Vorstellungen, die sich erst sekundär assoziieren. Dagegen die Romantik: die Gemeinschaft geht den einzelnen immer schon vorher (Synthese bei Tönnies); Dilthey: das Seelische ist ursprünglicher Struktur- und Sinnzusammenhang; Gestalttheorie: das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, d) Gesetzesdenken „Wen kümmert Johann Ohneland", fragt ein Mathematiker bei Carlyle, „er kehrt doch nicht wieder!" (dazu näher Abschn. 4.3). Die Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften ist jung. Francis Bacon hatte als erster in seiner Klassifikation der Wissenschaften, nach der dann Bibliotheken aufgebaut wurden, die Geschichte aufgenommen. Bei Comte gibt es aus naturwissenschaftlichem Vorurteil noch keine Gruppen von Wissenschaften. Geschichte, Philologie und Recht verbergen sich bei ihm unter dem Namen Soziologie. Erst Herbert Spencer fügt die Psychologie hinzu, die bei Comte Phrenologie war. Eine Zweiteilung der Wissenschaften schlug 1 8 2 9 Jeremy Bentham vor. Auf Descartes' beiden Substanzen extensio und cogitatio aufbauend, unterschied Ampère 1 8 3 4 Kosmologie und Noologie. In John St. Mills System of Logic von 1843 findet sich ein Kapitel „ O n the logie of moral sciences" (im Anschluß an die stoische Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik). Ein Ubersetzer (Schiel) gab das 1 8 6 2 in Ubereinstimmung mit dem zeitgenössischen Sprachgebrauch mit „Geisteswissenschaften" wieder (während im Französischen „sciences" strenggenommen nur die Naturwissenschaften sind: „faculté des lettres", aber auch „sciences économiques", „science des moeurs"). Wirksam war dabei die Inflation des Geistbegriffs in der Hegelschule, der hier mehr als den subjektiven —»Geist bedeutete (Einflüsse des hebr. rûâh, des johanneischen logos; vgl. schon Montesquieu De l'esprit des lois), letztlich aber doch wieder Descartes, während bei Hegel auch die Natur eine Selbstdarstellung des Geistes ist. Dadurch bürgerte sich der Begriff im Deutschen ein (Wundts Logik 1 8 8 0 / 8 3 , Diltheys Einleitung in die Geistesivissenschaften 1883). Rudolf Hildebrandt nannte die Geisteswissenschaften Menschenwissenschaften (vgl. heute in Frankreich: „sciences humaines"), Jacob Grimm ungenaue Wissenschaften (auch sie wollten aber streng sein: als Spengler Luther wegen seines Sachsentrotzes mit Widukind verglich, erschien dies als bloßes Analogiedenken, während dergleichen heute wissenschaftsfähig ist). In England spricht man von „liberal arts" oder „humanities", was aber beides mehr auf Bildung als auf Wissenschaft zielt. Verglichen mit den Naturwissenschaften sind die Geisteswissenschaften weniger international. Die Zweiteilung wird aber fragwürdig, seit die Kybernetik beide Bereiche verbindet und die Linguistik hofft, „mathematische Geisteswissenschaft" zu werden. Johannes R. Becher nannte sie beide Realwissenschaften im Unterschied zu Logik und Mathematik als Idealwissenschaften. (Schwierigkeiten bereitet es, an dieser Stelle die Theologie einzuordnen, da sie das —>Dogma miteinschließt.) Manche (Schelsky, Habermas) unterscheiden heute als dritte große Gruppe die Sozialwissenschaften (Jurisprudenz, Nationalökonomie, Soziologie, Psychologie, Politologie, Pädagogik). Aus ihnen folgt wie bei den Naturwissenschaften eine Technik (Soziale Handlungswissenschaften). Die bisherige Zweiteilung beruhe auf dem Vorurteil, Wissenschaft sei reine Theorie. Es gibt aber auch eine sozialwissenschaftliche Perspektive in allen Geisteswissenschaften. Die Verteidigung der methodischen Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften knüpft sich, nach dem Vorgang Droysens in seiner Historik, vor allem an die Namen Dilthey und Rickert. N a c h d e m Kant nur die Kategorien des naturwissenschaftlichen Denkens freigelegt hatte, schwebte ihnen beiden eine „Kritik der historischen V e r n u n f t " vor. Im Unterschied zu dem reinen Methodologen Rickert war Dilthey, ein Spätromantiker, selbst Geisteshistoriker und also von innen mit der Materie vertraut. Er ging von der Psychologie aus, deren damalige naturwissenschaftliche Gestalt (vertreten z. B. von Fechner, W u n d t , Ebbinghaus) er jedoch bekämpfte und die er als erneuerte den Geisteswissenschaften zum Fun-
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dament geben wollte. Das durch ihn berühmt gewordene Begriffspaar ist: Erklären und Verstehen. Die Natur müssen wir erklären, weil wir sie nur von außen kennen. Hier gilt nur Messen und Zählen. Das Seelische dagegen steht uns von vornherein näher, weil es selbst bereits ein Geisthaftes ist. Nicht erst wir stiften hier einen Zusammenhang aus Elementen, vielmehr dürfen wir vom ursprünglichen, weil selbst erlebten Sinnganzen, von der „Struktur", ausgehen. Die Natur kennt nur Kausalität, das Psychische Finalität. Daher können wir es von innen her verstehen (uns in es „einfühlen"). Dasselbe gilt nun auch von der Geschichte, die ja von Menschen getragen wird (ähnlich schon Vico). In der Geschichte „spricht Seele zu Seele". Die Identität von Subjekt und Objekt ermöglicht das Verstehen. Alles Leben ist in sich reflexiv, hermeneutisch, ist sein eigener Text und seine eigene Auslegung. Die Geschichtswissenschaft setzt diese Hermeneutik nur fort. Die Selbstinterpretation des Lebens geschieht aber nicht introspektiv, sondern im Rückblick auf dem Weg über seine Äußerungen (daher arbeitete Diltheys Schüler Misch über die Autobiographie), zu denen auch die kulturellen Objektivationen gehören. Sie alle sind daher, auch wo sie eine vorbegriffliche Sprache sprechen, für die Geistesgeschichte relevant, ja gerade die noch weniger intellektualisierte „Lebensphilosophie" ist die um so gefülltere. Der Ausdruck hebt aus Tiefen, die das Bewußtsein nicht erhellt. Leben, Ausdruck und Verstehen bilden bei Dilthey eine untrennbare Trias. Da sich aber der Ausdruck nach Zeiten und Völkern immer anders gestaltet, bestimmt beim späten Dilthey (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910) der Mensch erst in der Geschichte sein Leben, holt es schöpferisch aus sich heraus. Es gibt keine allgemeine Psychologie und Anthropologie, sondern was der Mensch sei, sagt ihm nur die Geschichte. Religion, Staat, Sitte und Kunst sind das Organon der Aufklärung des Menschen über sich selbst. Sollte ursprünglich die Psychologie Grundlage der Geschichte sein, so wird jetzt die Geschichte zur Grundlage der Psychologie! Trotzdem bleiben die beiden bei Dilthey zu nah benachbart. Dilthey verkennt, daß die Musik Mozarts mehr als Transposition der Seele Mozarts ist, daß sie auch durch objektive Eigengesetze der Tonwelt und des Ästhetischen determiniert wird. Die moderne Geisteswissenschaft ging ihren Weg nicht wegen Dilthey, sondern trotz Dilthey.
Fortsetzer Diltheys waren Eduard Spranger, Hans Freyer, Theodor Litt, Georg Misch, Herman Nohl, Otto Friedrich Bollnow und Erich Rothacker. Letzterer läßt jeder der drei Diltheyschen Weltanschauungen eine geisteswissenschaftliche Methode entsprechen, die alle kooperieren müssen. Der Idealismus der Freiheit begreift aus Allgemeinem, mißt an einer Norm; der Naturalismus erklärt aus Ursache und wertfreiem Gesetz; der Pantheismus versteht das Lebendig-Individuelle als Einheit von Idee und Wirklichkeit. Jeder Historiker wird bestimmt von einer heimlichen, impliziten Geschichtsphilosophie, die in konkreter Vernunft oft sachnäher ist als die Geschichtskonstruktionen der Hochphilosophie und die aus den Historikern herauszuheben eine eigene Aufgabe bildet. Ob einer eine Monographie biographisch mit einer Jugendgeschichte oder ideengeschichtlich mit einer Charakterisierung der Epoche beginnen läßt, ist bereits aufschlußreich für ihn, - Es fehlte Dilthey nicht an Gegnern, zumal seitens der im angelsächsischen Bereich nie aussterbenden Vertreter einer „Einheitswissenschaft" (Popper, Hempel; anders Wright, Erklären und Verstehen 1971/74. Dieses Buch löste eine neue Kontroverse aus). Von den Südwestdeutschen Neukantianern unterschied bereits Wilhelm Windelband nomothetische Natur- und idiographische (nicht: ideographische) Geschichtswissenschaften: die Aristotelische Lehre, Wissenschaft habe es immer mit Allgemeinem zu tun, ist falsch. Rickert nennt jene die generalisierenden — aktualisiert also vom Gesetz nur der Allgemeinheits-, nicht der Determinationscharakter —, diese die individualisierenden Wissenschaften (individualisierende Begriffsbildung). Das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit wird — und hier schlägt der neukantianische Methodenprimat durch — mit Rücksicht auf das Allgemeine betrachtet Natur (homogenes Kontinuum), mit Rücksicht aufs Individuelle betrachtet Geschichte (heterogenes Diskretum). Der Historiker, der Gesetze, typische Abfolgen aufstellt, bedient sich nach Rickert naturwissenschaftlicher Methode. Das mag für die Historiker seiner Zeit (Buckle, Karl Lamprecht) zutreffen, doch stammt die morphologische Zyklentheorie der Antike aus einer Zeit noch vor der Trennung der zwei Bereiche — so wie die Gesetze des Strukturalismus vielleicht schon wieder ihre Annäherung ankündigen —, und nach Spengler durchlaufen zwar alle Kulturen dieselben Phasen (daher spricht er von „Gleichzeitigkeiten"), jede Kultur aber ist ihrem Grundgepräge nach streng individuell. Rickert gab den Historikern das gute Gewissen zurück. Er schien das zu rechtfertigen, was sie schon immer taten. Aber einerseits gibt es auch eine „Geschichte der Natur" (Carl Fried-
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rieh v. Weizsäcker): Sterne erlöschen, Erdformationen und neue Arten entstehen; der Geograph hat es mit dem Individuum Erde zu tun. Darauf Rickert: Naturwissenschaft kennt nur quantitativ, nicht qualitativ Individuelles (die Unterscheidung stammt von Simmel). Andererseits arbeitet auch der Geisteswissenschaftler mit allgemeinen Begriffen: Sonett, Priestertum, Typen von Weltanschauungen oder Stilen; es gibt Renaissancen; Brinkmann fand das Gemeinsame in den „Alterswerken großer Meister". Darauf Rickert mit Goethe: „Wir benutzen es (das Allgemeine), aber wir lieben es nicht." Aus dem unzähligen Individuellen wählt nach Rickert der Historiker dasjenige aus, das Beziehung zu einem kulturellen Wert hat, um dessentwillen allein es hervorgebracht wird. Werte sind für Rickert (anders als bei Hugo Münsterberg, Max Scheler, Nicolai Hartmann) Recht, Staat, Sitte, Wissenschaft, Religion, Kunst (es könnten noch neue solcher Kulturdomänen aufkommen, daher „offenes System"). Der von seinem Schüler Richard Kroner herausgegebene Logos nannte sich im Untertitel „Zeitschrift für Kulturphilosophie". Rickert behält gegenüber Dilthey darin recht, daß er die Kulturphilosophie und nicht die Psychologie zur Grundlage der Geisteswissenschaften erhebt, die er deshalb auch, da er im Begriff des Geistes primär den „subjektiven Geist" hörte, lieber „Kulturwissenschaften" nannte. Das Problem des Auswahlkriteriums beschäftigt auch Simmel. Wollte Nietzsche vom Leben her die belastende und zerstörende Wahrheit weglassen — wir müssen wieder unwissender werden! ja durch Mythen ersetzen, so fragt Simmel nach dem wissenschaftsimmanenten Recht des Weglassens. Geschichtswissenschaft ist nicht bloß aneinanderreihende Reproduktion von Tatsachen, sondern vollzieht eine rangordnende Gliederung, unterscheidet Wesentliches vom Unwesentlichen, das die „historische Schwelle" nicht überschreitet. Dadurch verwandelt sie erst „Geschehen" in „Geschichte". Der Historiker sichtet aber das Material nicht nur, sondern tritt mit Fragen an es heran, ordnet es unter apriorischen Ideen. Erst er unterscheidet „Vorder- und Hintergründe, Akzente und Gleichgültigkeiten, Vorbereitungen und Erfüllungen". Dadurch hält er nicht spiegelbildlich fest, sondern bewirkt eine „historische Formung". Analog wie bei Kant gibt es also Bedingungen der Möglichkeit auch der historischen Erkenntnis, die auf einer Spontaneität des erkennenden Subjekts beruhen. Der Historiker faßt zu größeren, in sich gegliederten Einheiten zusammen. Er läßt z. B., indem er den Gedanken der Einheit der Person heranträgt, von dem her er Zusammengehöriges verbindet und Fehlendes ergänzt, aus zahllosen inkohärenten Details ein Lebensbild erstehen. Doch erhebt sich der Einwand, ob dies nicht auf einer positivistisch-atomistischen Ontologie beruht. Nicht der Erkennende stellt erst die Einheit der Person her, sondern sie bestand bereits, ehe sie entdeckt wurde. Unsere Begriffe müssen dem Gegenstand angemessen sein. Der Zusammenhang liegt schon in der Sache. Simmeis Theorie birgt zumindest die Gefahr, daß man Geschichte mit Theodor Lessing als „Sinngebung des Sinnlosen" ansieht und sich so einen Freibrief ausstellt, sich Vergangenes willkürlich-gewaltsam zurechtzuformen. Schon Barthold Niebuhr hatte seinerzeit betont, daß die Chronisten die Fakten stets in die Beleuchtung eines bestimmten Vorverständnisses stellen. Daher muß der Historiker bei einer Quelle immer fragen, was an ihr authentisch, was Interpretation des Berichtenden ist. Aber Niebuhr glaubte noch, daß wir die Interpretation abziehen und den wahren Sachverhalt ergründen könnten. Ähnlich weiß der Jurist, daß Augenzeugenberichte nicht zuverlässig sind, weil sie nie bei der Erfahrung im strengen Sinn stehenbleiben, sondern sie spontan zu Gesamtdeutungen runden. Trotzdem versucht er, aus vielen Augenzeugenberichten den wirklichen Vorgang zu rekonstruieren. Zumindest müßte man also bei der „historischen Formung" zwischen subjektiver Formung und einer solchen unterscheiden, die bloß der stummen Wirklichkeit Sprache leiht. Nicht von Kantischen Voraussetzungen her kommt Arthur C. Danto zu ähnlichen Ergebnissen wie Simmel: der Historiker selektiert aus Werten, legt den Ereignissen eine Struktur unter, stellt Zusammenhänge her, gibt Erklärungen. Er bildet also nicht ab, sondern ist als Erzähler immer gegenwärtig. Er weiß mehr als die Handelnden selbst. Der wahre geschichtliche Kontext ist im Moment, in dem ein Ereignis geschieht, meist noch nicht erkennbar. Er ergibt sich erst der Historiographie („narrative Erklärung") aus retrospektiver Distanz (vgl. schon Hegel: die Erinnerung legt das Wesen frei), aber nicht,
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weil er erst jetzt e r k e n n b a r wird, s o n d e r n weil er erst jetzt e n t s t a n d e n ist. D a nun a u c h in Z u k u n f t i m m e r N e u e s geschehen w i r d , o r d n e t sich V e r g a n g e n e s i m m e r w i e d e r in a n d e r e Z u s a m m e n h ä n g e ein. W i e es selbst nie definitiv abgeschlossen ist, so ist es a u c h seine D a r s t e l l u n g nicht. Die G e s c h i c h t e m u ß von jeder G e n e r a t i o n neu geschrieben w e r d e n . D a n t o w i e d e r h o l t d a m i t eine s c h o n oft (von Dilthey, C r o c e , Litt, Heussi u. a..) g e m a c h t e B e o b a c h t u n g . Sich w a n d e l n d e G e g e n w a r t w a n d e l t a u c h die V e r g a n g e n heit, die mit ihr eine o r g a n i s c h e G a n z h e i t bildet. Es gibt z w a r a u c h in der G e s c h i c h t e eine G r u n d s c h i c h t feststehender F a k t e n . A b e r ihr Stellenwert wechselt. H ö l d e r l i n und K i e r k e g a a r d beispielsweise w u r d e n e r s t , e n t d e c k t ' , als die Z e i t l a g e ihnen e n t s p r a c h . T e c h n i s c h e E r f i n d u n g e n imponierten lange Z e i t n u r als F o r t s c h r i t t , heute gelten sie a u c h als ö k o l o g i s c h e G e f a h r e n . So enthüllen sich je n a c h d e m S t a n d o r t entgegengesetzte A s p e k t e .
Der Historiker ist kein bloßes Erkenntnissubjekt, sondern hat teil an geschichtlichen Seinssubjekten, die zu einem Vergangenen in jeweils anderen Relationen stehen, sich mit ihm zu neuen Sinneinheiten zusammenschließen. Daß er von der Vergangenheit wechselnde Bilder gewinnt, entspringt nicht seiner Subjektivität, sondern dem realen Anderswerden der Vergangenheit selbst aufgrund neuer, auf sie rückwirkender Entwicklungen. Sie ist wie ein Element, dem verschiedene Gestalten jeweils andere Valenz zustrahlen. 4.4. Hermeneutik und Vorverständnis. Bei seinen Schleiermacher-Studien war Dilthey auf dessen „Hermeneutik" gestoßen. Schleiermacher und Schlegel übertragen die Hermeneutik auf die Gesamtheit der geschichtlichen Objektivationen. Sowohl Dilthey selbst wie sein Schüler Joachim Wach arbeiteten die Geschichte der Hermeneutik auf, die im 17. Jh. in der protestantischen Theologie entstanden war, weil in ihr der einzelne Geistliche für die Auslegung des Bibeltextes freier war als in der katholischen. Nachdem der Begriff der Hermeneutik von Heidegger auf das Verstehen des Daseins, in dessen Geschichtlichkeit die Historie wurzelt (Sein u. Zeit § 76), und seiner Bewandtnisbezüge übertragen und die hermeneutische der apophantischen, objekt-isolierenden Aussage konfrontiert wurde („hermeneutische Logik" bei Georg Misch und Lipps), kehrt Hans-Georg Gadamer auf seiner Basis zur Hermeneutik im Sinn von Auslegung geschichtlicher Objektivationen zurück. Berühmt ist seit Schleiermacher der „hermeneutische Zirkel": schon vom Wort greifen wir unvermeidlich auf den Sinnzusammenhang des Satzes, vom Satz auf das Buch vor und verstehen aus dem Ganzen das einzelne; sobald wir aber mehr Einzelheiten kennen, wird die bisher nur vage, hypothetische Vorhabe des Ganzen korrigiert, wird aus ihr präzises, gefestigtes Wissen. Wir interpretieren den ,Teil' aus dem „Vorverständnis" des Kontexts, den ,Kontext' rückläufig aus dem Teil. Dieser sich oft mehrfach wiederholende methodische Zirkel ist im Gegensatz zum logischen Zirkel gerechtfertigt. Neben der grammatischen (bei den Theologen kam noch die dogmatische hinzu) Interpretation führte Schleiermacher nach dem Vorgang Spinozas die psychologische ein, die Einfühlung in die Individualität und Intention des Autors. Nach Gadamer dagegen verstehen wir den Text nicht, weil wir den Autor verstehen, sondern weil auch wir an der Sache teilhaben, auf die er sich bezieht. Auch der rein ästhetische Bezug bleibt subjektivistisch. Im Dialog mit dem Text tauchen wir gemeinsam in die Sache ein. Wenn die Geistesgeschichte heute von der Wahrheit eines Textes absieht und nur nach dem fragt, was dem Verfasser vorschwebte, so stammt dies nach Gadamer aus einem Bruch mit dem Traditionskontinuum. Demgegenüber will er zu Hegel zurückkehren, bei dem das Frühere immer noch etwas für die Gegenwart bedeutet. Beim geschichtlichen Verstehen bringen wir immer die Gegenwart mit ein, die von der Vergangenheit ebenso wirkungsgeschichtlich geleitet ist wie sie umgekehrt auf diese rückwirkt, indem sie ihr einen Sinnzuwachs bringt. Wir können und sollen nicht von uns selbst absehen. Wir müssen uns erstens offenhalten für den Anspruch, den die Wahrheit des Textes an uns richtet, der uns vielleicht noch verändern oder belehren kann. Zweitens ist die Tatsache, daß wir ihn auf uns beziehen, „von uns" aus, d. h. von unsern Begriffen und Fragestellungen her begreifen, nicht nur unausweichlich, sondern fruchtbar und legitim. Die Hexen in Shakespeares Macbeth werden heute vielfach mit Recht als alte Weiber dargestellt, weil wir nicht mehr an Hexen glauben. Wie bei Husserl das uns Gegebene keine anonyme Welt ist, sondern immer im intentionalen Horizont unserer Lebenswelt steht, so gilt dies auch hinsichtlich der Vergangenheit. Auch hier ist das naturwissenschaftliche Objektivitätsideal fehl am Platze.
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Das schließt freilich ein, daß es für G a d a m e r keine „ r i c h t i g e " Interpretation mehr gibt, sondern immer nur eine Interpretation für uns. Die Hermeneutik des Historikers gewinnt hier V e r w a n d t s c h a f t mit der des Juristen, der das Gesetz nicht nur erkennen, sondern rechtsschöpferisch auf den Einzelfall anwenden m u ß . Eine analoge „ A p p l i k a t i o n " findet auch in der theologischen Hermeneutik statt. Nicht zufällig rühmt G a d a m e r die Schrift über den „ R ö m e r b r i e f " von Karl Barth, für den die Fragen des Paulus auch unsere Fragen sind und der sich deshalb — zeitstilverwandt mit Heidegger — gegen eine exklusiv historisch-kritische M e t h o d e , gegen den bösen „ H i s t o r i s m u s " seit Schleiermacher, wandte. In der N ä h e Gadamers steht auch R . —>Bultmanns „existentielle Begegnung mit der G e s c h i c h t e " , der Versuch, das mythische Sprechen des Neuen T e s t a m e n t s auf seinen authentischen, existentiellen Sinn hin freizulegen, sowie die antihistoristische Hermeneutik der beiden Theologen Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs. Gegen diese „ N e u e H e r m e n e u t i k " wandten Emilio Betti und Eric D o n a l d Hirsch ein, die große Tradition der Hermeneutik seit Schleiermacher sei in ihr verloren. Eine objektiv gültige Interpretation sei doch zu erreichen, während es bei G a d a m e r letztlich keinen Unterschied mehr zwischen w a h r und falsch gebe. Die Übertragung der „ A p p l i k a t i o n " auch auf die Geisteswissenschaft geschehe zu Unrecht. M a n müsse zwischen Auslegung und Sinngebung durch ein Subjekt, zwischen Bedeutung und Bedeutsamkeit, meaning an sich und significance für uns, unterscheiden. G a d a m e r gebe letztlich den Wissenschaftscharakter wieder preis. T r o t z seiner existentialistischen Polemik gegen die geisteswissenschaftliche T r a d i t i o n seit Schleiermacher steht G a d a m e r noch in der romantischen T r a d i t i o n . Neben ihr ist auch die aufklärerische Tradition bis heute lebendig. In seiner T r a u m d e u t u n g z. B. unterscheidet S. —»Freud einen doppelten Sinn des T r a u m s . D e m manifesten Inhalt ist zu mißtrauen, der hinter der Oberfläche verborgene latente Inhalt muß erschlossen werden. V o n Freud geht Paul Ricoeur aus und überträgt seine M e t h o d e auch auf Mythen und Symbole. Er setzt damit die M e t h o d e auch von M a r x und Nietzsche, letztlich B a c o n s und der Aufklärer fort, die darin besteht, das Überlieferte nicht bloß hinnehmend in seinem sich präsentierenden Gehalt auszuschöpfen, sondern mit V e r d a c h t und Zweifel dagegen anzugehen, hinter dem absichtsvoll oder unbewußt ablenkend Verschlüsselten die verschleierte furchtbare Wirklichkeit aufzufinden. Auch Bultmann „ e n t m y t h o l o g i s i e r t " , aber der M y t h o s ist ihm das Fenster für eine heilige Realität, an die er noch näher h e r a n k o m m e n will. M a r x , Nietzsche und Freud dagegen entlarven, um zu zerstören. Zwischen „Hermeneutik und Ideologiekritik", vertrauendem Verstehen und befreiender Geltungsdestruktion, findet heute eine intensive Diskussion statt. Literatur Meyer Howard Abrams, The mirror and the lamp. Romantic theory and the critical tradition, New York 1 9 5 3 . - Karl Acham, Analytische Geschichtsphil. Eine krit. Einf., Freiburg, Br. 1 9 7 4 . - Hans Albert, Traktat über krit. Vernunft, T ü b i n g e n J 1 9 6 9 . - Karl Otto Apel, Die Entfaltung der .sprachanalytischen' Phil. u. das Problem der ,Geisteswiss.': PhJ 7 2 ( 1 9 6 5 ) 2 3 9 - 8 9 . - Ders., Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt,M. 1 9 7 9 . - Ders., Das Verstehen. 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und
N a c h d e m Liber
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Rom
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(492-496)
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s t a m m t G e l a s i u s a u s —»Afrika. Z u seinen L e b z e i t e n r e g i e r -
ten in —»Italien a r i a n i s c h e K ö n i g e , d a s o s t r ö m i s c h e R e i c h w a r p o l i t i s c h u n d religiös g e s p a l t e n . G e l a s i u s ' V o r g ä n g e r F e l i x II. (III.) e x k o m m u n i z i e r t e den P a t r i a r c h e n A c a c i u s v o n K o n s t a n t i n o p e l , weil d i e s e r , d a s U r t e i l R o m s n i c h t a c h t e n d , a n d e r G e m e i n s c h a f t m i t d e n M o n o p h y s i t e n festhielt. D a f ü r w u r d e u m g e k e h r t F e l i x a u s d e n D i p t y c h e n v o n K o n s t a n t i n o p e l ges t r i c h e n . Z u m i n d e s t seit d e r I n t h r o n i s a t i o n v o n F e l i x i m J a h r 4 8 3 w a r G e l a s i u s w e i t g e h e n d f ü r die Politik R o m s i m a c a c i a n i s c h e n Streit v e r a n t w o r t l i c h . D e r S t r e i t blieb a u c h w ä h r e n d seines e i g e n e n P o n t i f i k a t s ein z e n t r a l e s P r o b l e m , o b w o h l A c a c i u s selbst s c h o n t o t w a r , als Gelasius gewählt w u r d e . Im W e s t e n hatte Gelasius mit wiederauflebender Häresie und Heid e n t u m z u k ä m p f e n ; h i n z u k a m e n die w i r t s c h a f t l i c h e n u n d m o r a l i s c h e n P r o b l e m e e i n e r besiegten u n d v o n B a r b a r e n r e g i e r t e n G e s e l l s c h a f t . Ü b e r L e b e n u n d C h a r a k t e r des G e l a s i u s ist w e n i g b e k a n n t . E i n i g e H i n w e i s e k a n n m a n seinen B r i e f e n u n d S c h r i f t e n e n t n e h m e n ; d o c h ist d a b e i V o r s i c h t g e b o t e n . Sein l i t e r a r i s c h e s W e r k m a c h t G e l a s i u s z u m b e d e u t e n d s t e n P a p s t z w i s c h e n —»Leo I. u n d — » G r e g o r I. Ü b e r h u n d e r t e c h t e B r i e f e u n d F r a g m e n t e s i n d v o n i h m ü b e r l i e f e r t , d a z u s e c h s g r ö ß e r e A b h a n d l u n g e n : D i e e r s t e n vier r i c h t e n s i c h g e g e n d e n M o n o p h y s i t i s m u s u n d die o s t k i r c h l i c h e n P r o b l e m e s e i n e r Z e i t , die f ü n f t e g e g e n d e n P e l a g i a n i s m u s (—»Pelagius/Pelag i a n i s m u s ) , die s e c h s t e g e g e n A n d r o m a c h u s u n d die L u p e r e a l i e n . D a z u k o m m e n n o c h die m e i s t e n d e r 1 8 e r h a l t e n e n F e l i x - B r i e f e , die, w i e K o c h u n d E r t l n a c h g e w i e s e n h a b e n , g e l a s i a nische Stilmerkmale aufweisen.
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(492-496)
Werk Pontificalis
s t a m m t G e l a s i u s a u s —»Afrika. Z u seinen L e b z e i t e n r e g i e r -
ten in —»Italien a r i a n i s c h e K ö n i g e , d a s o s t r ö m i s c h e R e i c h w a r p o l i t i s c h u n d religiös g e s p a l t e n . G e l a s i u s ' V o r g ä n g e r F e l i x II. (III.) e x k o m m u n i z i e r t e den P a t r i a r c h e n A c a c i u s v o n K o n s t a n t i n o p e l , weil d i e s e r , d a s U r t e i l R o m s n i c h t a c h t e n d , a n d e r G e m e i n s c h a f t m i t d e n M o n o p h y s i t e n festhielt. D a f ü r w u r d e u m g e k e h r t F e l i x a u s d e n D i p t y c h e n v o n K o n s t a n t i n o p e l ges t r i c h e n . Z u m i n d e s t seit d e r I n t h r o n i s a t i o n v o n F e l i x i m J a h r 4 8 3 w a r G e l a s i u s w e i t g e h e n d f ü r die Politik R o m s i m a c a c i a n i s c h e n Streit v e r a n t w o r t l i c h . D e r S t r e i t blieb a u c h w ä h r e n d seines e i g e n e n P o n t i f i k a t s ein z e n t r a l e s P r o b l e m , o b w o h l A c a c i u s selbst s c h o n t o t w a r , als Gelasius gewählt w u r d e . Im W e s t e n hatte Gelasius mit wiederauflebender Häresie und Heid e n t u m z u k ä m p f e n ; h i n z u k a m e n die w i r t s c h a f t l i c h e n u n d m o r a l i s c h e n P r o b l e m e e i n e r besiegten u n d v o n B a r b a r e n r e g i e r t e n G e s e l l s c h a f t . Ü b e r L e b e n u n d C h a r a k t e r des G e l a s i u s ist w e n i g b e k a n n t . E i n i g e H i n w e i s e k a n n m a n seinen B r i e f e n u n d S c h r i f t e n e n t n e h m e n ; d o c h ist d a b e i V o r s i c h t g e b o t e n . Sein l i t e r a r i s c h e s W e r k m a c h t G e l a s i u s z u m b e d e u t e n d s t e n P a p s t z w i s c h e n —»Leo I. u n d — » G r e g o r I. Ü b e r h u n d e r t e c h t e B r i e f e u n d F r a g m e n t e s i n d v o n i h m ü b e r l i e f e r t , d a z u s e c h s g r ö ß e r e A b h a n d l u n g e n : D i e e r s t e n vier r i c h t e n s i c h g e g e n d e n M o n o p h y s i t i s m u s u n d die o s t k i r c h l i c h e n P r o b l e m e s e i n e r Z e i t , die f ü n f t e g e g e n d e n P e l a g i a n i s m u s (—»Pelagius/Pelag i a n i s m u s ) , die s e c h s t e g e g e n A n d r o m a c h u s u n d die L u p e r e a l i e n . D a z u k o m m e n n o c h die m e i s t e n d e r 1 8 e r h a l t e n e n F e l i x - B r i e f e , die, w i e K o c h u n d E r t l n a c h g e w i e s e n h a b e n , g e l a s i a nische Stilmerkmale aufweisen.
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Gelasius I.
Hinter dem Kampf gegen Acacius stehen tiefere Probleme: die Lehrautorität der römischen Kirche und das Verhältnis von —» Kirche und Staat. Die Stellungnahmen des Gelasius zu diesen Fragen spielen eine wichtige Rolle in der Geschichte der Lehre von den zwei Gewalten (—» Zweischwertertheorie). Es bleibt allerdings fraglich, ob Gelasius in irgendeiner Weise über die Position des —>Ambrosius hinausgegangen ist. Der Caesaropapismus war nicht minder eine Herausforderung als das Verhalten des Acacius. Aber Rom hielt, wenn auch ohne Begeisterung, dem Kaiser die Treue und machte ihm sogar den Schutz des rechten Glaubens zur besonderen Pflicht — eine Geste, die vielleicht nur in der damaligen politischen Situation möglich war: der Kaiser war weit weg, und Italien stand unter der Herrschaft barbarischer Könige. Als Gelasius Papst wurde, wünschten die Patriarchen des Ostens dringend ein Ende des Schismas. Aber Gelasius bestand darauf, daß zuerst der N a m e des Acacius aus den Diptychen von Konstantinopel gestrichen werden müsse, da er unbußfertig und unversöhnt gestorben sei. Doch diese Streichung w a r eine politische Unmöglichkeit. Deswegen blieb die Spaltung bestehen (bis 519). Dem Kaiser gegenüber verhielt sich Gelasius respektvoll, aber deutlich distanziert. Bei seiner Wahl zum Papst sandte er keine Grußbotschaft, obwohl er seinerzeit für Felix einen solchen Brief geschrieben hatte. Zwei Jahre später schickten Gelasius und der Ostgotenkönig Theoderich gemeinsam eine Gesandtschaft nach Konstantinopel; aber Gelasius übermittelte auch jetzt keinen schriftlichen Gruß. Als Anastasius nach einem Brief fragte und einen Kompromiß zur Beilegung des Schismas vorschlug, antwortete Gelasius mit einem Brief, dessen Kernsätze viel diskutiert wurden. „Als gebürtiger Römer liebe, achte und verehre ich den römischen Kaiser." Aber es gibt zwei Herrschaftsformen in dieser Welt: „die geweihte auctoritas der Bischöfe und die königlichepoiestas. Die Verantwortung der Bischöfe ist größer, denn sie müssen dereinst vor Gott auch für die weltlichen Herrscher Rechenschaft ablegen" (Ep. 12, Thiel 350). Einige Historiker (u. a. Ullmann; Caspar) sehen hier eine Unterscheidung in dem Sinn, daß der Kaiser nur ausführende Gewalt hat, während der Priester zumindest Diener der gesetzgebenden Gewalt Gottes ist. Aber Ziegler, Dvornik und Gaudemet haben aufgrund des sonstigen Gebrauchs der Begriffe bei Gelasius gezeigt, daß die Unterscheidung von postestas und auctoritas rein literarisch ist (—»Autorität I). Welcher Ansicht man auch den Vorzug gibt, eindeutig bleibt, daß Gelasius das sacerdotium als verantwortlich vor Gott ansah für das, was der Kaiser tut. In Sachen der Religion ist der Kaiser Lernender, nicht Lehrender. Beachtenswert ist die Zurückhaltung, die sich in diesem Brief zeigt. Gelasius beansprucht zwar wie stets eine Vorrangstellung f ü r die römische Kirche. Aber er versagt sich hier die Gleichsetzung von sacerdotium und päpstlicher Autorität, obwohl er sonst energisch den Primat Roms vertreten kann (—»Papsttum). Es ist eine Botschaft g a n z a d h o m i n e m , in einer bestimmten Situation an diesen Kaiser gerichtet. Gelasius stellt die Liebesgemeinschaft der katholischen Kirche dem Stolz und der Anmaßung aller Häresie gegenüber und beschwört Anastasius, der ein sehr bescheidener Mann war, immer nach der göttlichen Gerechtigkeit zu suchen. Deren Gleichsetzung mit der Auffassung der römischen Kirche von der Gerechtigkeit bleibt aber unausgesprochen. Duchesne sagte über Gelasius, er habe eine Neigung zur Kontroverse und die Begabung zum Polemiker (L'église 12), und Caspar war noch kritischer. Ziegler nahm mit Haacke an, daß die streitbarsten Stellen unecht seien. Aber diese Deutung fand keine allgemeine Zustimmung. Neuerdings gibt es eine Tendenz, die Unterschiede der Ausdrucksweise des Gelasius aus der jeweils wechselnden Situation, aber auch aus seinem eigenen Schwanken zwischen H o f f n u n g und Verbitterung zu erklären. Mit seinen Bemühungen, gegen die kirchlichen und staatlichen Machenschaften im Osten die Wahrheit aufrecht zu erhalten, setzte er sich selbst feindseliger Kritik aus. Ein Brief an den Patriarchen Euphemius wird oft gegen Gelasius angeführt. M a n kann den Brief aber auch zu seinen Gunsten auslegen: „Vor dem höchsten Richter wird es sich zeigen, ob ich, wie ihr meint, rauh, unfreundlich und übermäßig hart und schwierig gegen euch bin" (Ep. 3, Thiel 320).
Gelasius I.
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Zu den Gelasius zugeschriebenen Schriften gehört das sog. Decretum. Es besteht aus fünf Teilen und wird oft unter dem Titel des letzten zitiert: De spiritu saneto, De canone scripturae sanetae, De sedibus patriarchalibus, De synodis oecumenicis und De libris reeipiendis et non reeipiendis. Heute herrscht weitgehende Ubereinstimmung, daß dieses W e r k nicht von Gelasius s t a m m t . Es handelt sich u m eine Kompilation von Material sehr unterschiedlicher H e r k u n f t , das irgendwo in Norditalien o d e r Südgallien im frühen 6. Jh. zusammengetragen w u r d e . Vielleicht v e r d a n k t es seine Zuweisung an Gelasius dem Einfluß von dessen Schriften auf spätere kirchenrechtliche Arbeiten.
Die hinterlassenen Schriften des Gelasius zeugen von einem dauernden Kampf nicht n u r gegen das acacianische Schisma, sondern auch mit Schwierigkeiten im Westen. In Dalmatien und Picenum tauchte der Pelagianismus wieder auf; in R o m wurden die Luperealien und, wie der Liber Pontificalis zeigt, der —>Manichäismus zu brennenden Problemen. Auf der Synode von 494 befaßte man sich umfassend mit den Problemen der Zeit, besonders aber mit —»Bildung und Lebenswandel der Kleriker. Die verschiedenen Ausgaben des Liber Pontificalis berichten alle von der liturgischen Arbeit des Gelasius: Er habe —»Hymnen im Stil des Ambrosius gedichtet und Gebete verfaßt: „sacramentorum praefationes et orationes". Das führte Walafrid Strabo und spätere Schriftsteller zu der Annahme, Gelasius habe ein Sakramentar herausgegeben. In der wissenschaftlichen Literatur der nachreformatorischen Zeit ist häufig die Rede davon, besonders im Z u s a m m e n h a n g mit dem Cod. Vat. Reg. lat.316. Diese M e i n u n g ist inzwischen überholt (Moreton 1—23; —»Agende 5.2.3). Aber einzelne Gebete, vor allem im sog. Sacramentarium Leonianum des Cod. Veronensis 85, werden heute allgemein Gelasius zugeschrieben. Es scheint auch, als habe er mit der Entstehung der sog. Deprecatio Gelasii und der Beseitigung der älteren Form des allgemeinen Kirchengebets im Gottesdienst zu tun. Der römische Canon missae, gelegentlich auch „gelasianischer K a n o n " genannt, ist in seinen Hauptstücken sicher älter. Aber die Untersuchungen von Kennedy und J u n g m a n n machen es wahrscheinlich, daß er in seinen jüngeren Teilen manches Gelasius verdankt. Schließlich war Gelasius b e r ü h m t für seine Frömmigkeit und Güte. Der Liber Pontificalis schildert ihn als einen M a n n , der die Armen liebte, f ü r den Klerus eintrat und bemüht war, N o t zu lindern. Wie —»Dionysius Exiguus ihn zeichnet, w a r es seine Freude, nach der göttlichen Liebe zu streben und sich in Gottes W o r t zu versenken; er strahlte Erbarmen u n d G r o ß m u t aus; sein Sinn war edel, sein Leben beispielhaft, seine Autorität unbestritten. Eine eigene Äußerung des Gelasius über den idealen Priester (frgm. 48, Thiel 508) wirkt wie eine Bestätigung dieses Bildes. 2.
Nachwirkung
Die Wirkung des Gelasius auf die Nachwelt steht der eines Leo und Gregor nicht nach. Sein Kampf für die —»Autorität der Kirche, namentlich die der Kirche von R o m , sein Bemühen u m O r d n u n g und Disziplin, seine liturgische Arbeit — das alles hatte eine große geschichtliche Nachwirkung. Die N a c h w i r k u n g w a r noch größer, als die tatsächlichen Leistungen des Gelasius gerechtfertigt erscheinen lassen. Aber in ihr wird sichtbar, welcher inspirierende Einfluß von den Idealen, der visionären Kraft und der Hingabe des Gelasius an sein Amt auf spätere Generationen ausging. Und im Mittelalter zählte solche Inspiration mehr als jede faktische Leistung.
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Geld I Literatur
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II. H i s t o r i s c h u n d e t h i s c h
I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h D i e r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e B e d e u t u n g d e s G e l d e s b e t r i f f t z u n ä c h s t d e n k u l t i s c h e n Bereich. H i e r tritt in d e r O p f e r p r a x i s a n die Stelle v o n N a t u r a l a b g a b e n für d e n T e m p e l u n d die Priesterschaft d a s G e l d b z w . d i e M ü n z e , ein in F o r m g e b r a c h t e s u n d mit P r ä g e b i l d e r n v e r s e h e n e s Stück M e t a l l , d a s seit s e i n e m A u f k o m m e n u m 6 5 0 v. Chr. i m Bereich d e s ö s t l i c h e n M i t t e l m e e r b e c k e n s d e n N o r m a l t y p u s d e s G e l d e s bis in d i e N e u z e i t h i n e i n darstellte. Ä l t e s t e M ü n z s t e m p e l lassen n o c h die bildliche A b l ö s u n g ursprünglicher Realopfer durch Abbreviat u r e n v o n N a t u r a l g ü t e r n e r k e n n e n , die v o r d e m als O p f e r g a b e n ü b l i c h w a r e n . A u c h als W e r t m e s s e r l ö s t d a m i t d a s G e l d v o r a n g e h e n d e R e c h n u n g s e i n h e i t e n ab, die z u m i n d e s t teilw e i s e e b e n f a l l s religiös legitimiert w a r e n , w i e in G r i e c h e n l a n d d a s R i n d , d a s h e i l i g e O p f e r tier a l s o , d a s d o r t als ältester W e r t m e s s e r galt. A u f d i e s e n B e o b a c h t u n g e n f u ß t die v o r n e h m l i c h v o n B. L a u m v e r t r e t e n e T h e o r i e , d e r Kult h a b e n o r m i e r t e E n t g e l t u n g s m i t t e l e n t s t e h e n l a s s e n , d a s G e l d sei m i t h i n s a k r a l e n Urs p r u n g s . D i e s e r G e l d t h e o r i e s t e h t d i e rein ö k o n o m i s c h e Sicht e n t g e g e n , n a c h der d a s G e l d d i e n o t w e n d i g e S c h ö p f u n g einer a r b e i t s t e i l i g e n G e s e l l s c h a f t sei, d i e n i c h t m e h r a u f d e r rein e n N a t u r a l w i r t s c h a f t , die G ü t e r g e g e n G ü t e r t a u s c h t , a u f b a u e n k ö n n e , s o n d e r n mit d e m Geld die Möglichkeit des indirekten Tausches eröffnen müsse. Beide Geldtheorien stehen unvereinbar und bislang auch unentschieden nebeneinander. D o c h lassen s i c h für d i e s a k r a l e n B e z ü g e d e s G e l d e s n o c h w e i t e r e F a k t o r e n a n f ü h r e n . Sie be-
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Geld I Literatur
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II. H i s t o r i s c h u n d e t h i s c h
I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h D i e r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e B e d e u t u n g d e s G e l d e s b e t r i f f t z u n ä c h s t d e n k u l t i s c h e n Bereich. H i e r tritt in d e r O p f e r p r a x i s a n die Stelle v o n N a t u r a l a b g a b e n für d e n T e m p e l u n d die Priesterschaft d a s G e l d b z w . d i e M ü n z e , ein in F o r m g e b r a c h t e s u n d mit P r ä g e b i l d e r n v e r s e h e n e s Stück M e t a l l , d a s seit s e i n e m A u f k o m m e n u m 6 5 0 v. Chr. i m Bereich d e s ö s t l i c h e n M i t t e l m e e r b e c k e n s d e n N o r m a l t y p u s d e s G e l d e s bis in d i e N e u z e i t h i n e i n darstellte. Ä l t e s t e M ü n z s t e m p e l lassen n o c h die bildliche A b l ö s u n g ursprünglicher Realopfer durch Abbreviat u r e n v o n N a t u r a l g ü t e r n e r k e n n e n , die v o r d e m als O p f e r g a b e n ü b l i c h w a r e n . A u c h als W e r t m e s s e r l ö s t d a m i t d a s G e l d v o r a n g e h e n d e R e c h n u n g s e i n h e i t e n ab, die z u m i n d e s t teilw e i s e e b e n f a l l s religiös legitimiert w a r e n , w i e in G r i e c h e n l a n d d a s R i n d , d a s h e i l i g e O p f e r tier a l s o , d a s d o r t als ältester W e r t m e s s e r galt. A u f d i e s e n B e o b a c h t u n g e n f u ß t die v o r n e h m l i c h v o n B. L a u m v e r t r e t e n e T h e o r i e , d e r Kult h a b e n o r m i e r t e E n t g e l t u n g s m i t t e l e n t s t e h e n l a s s e n , d a s G e l d sei m i t h i n s a k r a l e n Urs p r u n g s . D i e s e r G e l d t h e o r i e s t e h t d i e rein ö k o n o m i s c h e Sicht e n t g e g e n , n a c h der d a s G e l d d i e n o t w e n d i g e S c h ö p f u n g einer a r b e i t s t e i l i g e n G e s e l l s c h a f t sei, d i e n i c h t m e h r a u f d e r rein e n N a t u r a l w i r t s c h a f t , die G ü t e r g e g e n G ü t e r t a u s c h t , a u f b a u e n k ö n n e , s o n d e r n mit d e m Geld die Möglichkeit des indirekten Tausches eröffnen müsse. Beide Geldtheorien stehen unvereinbar und bislang auch unentschieden nebeneinander. D o c h lassen s i c h für d i e s a k r a l e n B e z ü g e d e s G e l d e s n o c h w e i t e r e F a k t o r e n a n f ü h r e n . Sie be-
Geld I
III
treffen vornehmlich die Garantie des Geldwertes. Bleibt nämlich der Materialwert der Münze hinter ihrem Nennwert zurück, so bedarf letzterer, damit kein unterwertiges Geld entsteht, einer Sicherung. Diese Sicherungen sind früh und lange Zeit hindurch religiöser Art. So finden sich häufig Prägungen mit dem Bild einer Gottheit, mit ihrem Symbol oder Attribut, zuweilen mit allen drei sakralen Emblemen. So erscheinen griechische Münzen mit dem Bild der Athena, mit der Eule und dem Lorbeerzweig. Die Römer haben personifizierte abstrakte Begriffe wie Victoria, Fortuna und Abundantia auf ihre Münzen geprägt, ehe sie in der Kaiserzeit das schon vorher im Osten übliche Bild des Sakralherrschers übernahmen. Noch im 18. Jh. haben die Engländer für ihre Untertanen in den ostindischen Besitzungen Münzen mit dem Bild der indischen Gottheiten Vishnu und Lakshml schlagen lassen. Sakrale Umschriften sind ebenfalls häufig. Auf islamischen Münzen enthalten sie Anrufungen Allahs oder das islamische Glaubensbekenntnis. Im christlichen Mittelalter finden sich Aufschriften wie INRI, Pater noster, Ave Maria, Halleluja, Amen, Fax, außerdem Bibelsprüche und Wunschformeln wie „Dieu protège la France" und die noch auf preußischen Talern enthaltene Umschrift „Gott mit uns". Mit den christlichen Umschriften und den typischen Prägebildern des Mittelalters, dem Christusbild der Byzantiner und den abendländischen Bildern —> Marias und der —> Heiligen, ferner dem vorrangigen Prägebild des —»Kreuzes, das zur Bezeichnung von Münzen als „Kreuzer" und „Kreuztaler" beiträgt, wird eine neue Intention im Bereich der Numismatik deutlich. Hier geht es nicht nur um eine sakrale Legitimierung des Geldes, sondern auch um seinen Gebrauch als Mittel zur Verkündigung des Glaubens und außerdem um die Entkräftung der Gefahren, die mit der Einschätzung des Geldes als „ungerechtem M a m m o n " (Mt 6,24; Lk 16,9.13) verbunden sind. Während die unterschiedliche Einschätzung des Geldes in den verschiedenen Religionen der übergeordneten Wertung des Besitzes unterworfen ist und daher bei buddhistischen Mönchen und hinduistischen Asketen absolut negativ ausfällt, spielt das Geld im Aberglauben eine selbständige Rolle. Allerdings ist nicht in jedem Fall eindeutig zu entscheiden, ob erst der geprägten Münze oder bereits dem Metall an sich eine magische Wirkung zugeschrieben wird; dies gilt vornehmlich für die vermeintliche Schutzwirkung des metallenen Amuletts. Eindeutig um das Geldstück handelt es sich bei sehr alten und durch lange Zeiten tradierten Totenbräuchen. Wenn in den Mund des Verstorbenen ein Geldstück unter seine Zunge gelegt wird, so entspricht dies dem griechischen Brauch, dem Toten den Obolos für Charon, den Fährmann der Unterwelt, mitzugeben. Auch andere Lebensstadien sind mit einer abergläubischen Verwendung des Geldes verbunden; so, wenn man eine Münze in das erste Bad eines neugeborenen Kindes legt, damit dieses sparsam werde. Der Bräutigam wirft auf dem Rückweg von der Trauung mit Münzen meist geringen Wertes zugleich das Unglück hinweg; allerdings dürfte hierbei als zweites Motiv die Erinnerung an die Sitte des Freikaufs der Braut mitspielen. Der Heilung von Krankheiten durch Auflegen eines Geldstückes liegt die Ansicht zugrunde, man könne die Krankheit auf das Geld übertragen. Als makaberes Mittel gegen das Trinken dient ein Geldstück, das 2 4 Stunden einem Toten im Mund und dann ebenso lange in Branntwein gelegen hat; der Genuß dieses Trankes heilt jeden Säufer. Weit verbreitet ist im Volksglauben die Vorstellung von einem Geld- oder Heckemännchen, einem kleinen Kobold, der seinem Besitzer Geld verschafft. Literatur Jean Babelon, La numismatique antique, Paris 1 9 4 4 . - Ferdinand Friedensburg, Die Münze in der Kulturgesch., Berlin 1 9 0 9 2 1 9 2 4 . - Wilhelm Gerloff, Die Entstehung des Geldes u. die Anfänge des Geldwesens, Frankfurt a . M . ' 1 9 4 7 . - H W D A 3 ( 1 9 3 0 / 3 1 ) 5 9 0 - 6 2 6 . - Günter Lanczkowski, Art. Münze: R G G ' 4 ( 1 9 6 0 ) 1 1 8 4 - 1 1 8 5 . - Bernhard Laum, Hl. Geld. Hist. Unters, über den sakralen Ur-
278
Geld II
Sprung des Geldes, Tübingen 1924. — Charles Theodore Seltman, Greek Coins, London ' 1 9 5 5 . - Georg Simmel, Phil, des Geldes, Berlin 6 1 9 5 8 . Günter Lanczkowski II. Historisch und ethisch 296)
1. Grundsätzliches
2. Historischer Uberblick
3. Sozialethische Überlegungen
(Literatur S.
2. Grundsätzliches Vom „Geld" ist im allgemeinen vor allem in der Volkswirtschaftslehre (Nationalökonomie) die Rede (^»Wirtschaft). Wenn im folgenden innerhalb der theologischen Ethik das Phänomen „Geld" erörtert wird, so kann das Thema nicht die ökonomische Geldtheorie als solche sein, auch wenn von deren Grundbegriffen nicht völlig abgesehen werden kann. Vielmehr ist Geld ubiquitär, allgegenwärtig. Geld ist ein Grundbegriff des Wirtschaftens. Alle umfassenden Begriffe - wie Leben, Gesundheit, Gerechtigkeit oder auch das Wort Gott — entziehen sich freilich einer exakten Definition. Die religionswissenschaftliche Theorie (z. B. Laum) hat als Ursprung des Geldes den Kultus genannt. Erst nachdem Geld in der sakralen Sphäre gebraucht worden war, wurde es auch zum Mittel des profanen Austausches. Man wird also zu prüfen haben, inwieweit vom Geld überhaupt abgesehen vom religiösen Kontext (religiös im weitesten Sinne!) zutreffend gesprochen werden kann. 1.1. Begriff. Das deutsche Wort Geld wird von „gelten" abgeleitet: was gilt (DWb 4/1/2,2889). „Gild" heißt Steuer. Geld ist das zumeist staatlich anerkannte oder eingeführte Mittel des Zahlungsverkehrs. Das lateinische Wort pecunia wird vonpecus [Vieh] abgeleitet. Die Münze ist Symbol des Opfertieres. Das lateinische Wort moneta [Münze] wird zurückgeführt auf einen Beinamen der Göttin Juno; Moneta bezeichnet die Münzgöttin, die zai aequitas „mahnt" (moneo) und vor falscher Münze warnt. Im Deutschen bezeichnet Geld a) das Opfer b) den Ersatz (z. B. das Wergeid für einen Erschlagenen) c) die Abgabe, die Leistung an den Herrn, die Steuer d) die Gegenleistung (Entgeld) e) die Erstattung. 1.2. Funktionen des Geldes. Von seinem sakralen Symbolgehalt abgesehen, stellt das Geld ein wirtschaftliches Gut dar, das dem Tausch, dem Austausch auf dem Markt dient. Der Nutzen des Geldes als Tauschgut besteht darin, daß es das Bedürfnis nach Tauschbereitschaft befriedigt, also Liquidität schafft. Seine konkrete Funktion ist die eines allgemeinen Tauschmittels. Darüber hinaus hat das Geld eine abstrakte Funktion als Rechnungseinheit. Geld ist Wertmaßstab für ökonomische Güter und Leistungen. Außerdem ist es Wertaufbewahrungsmittel, das zur Wertübertragung tauglich ist. Als gesetzliches Zahlungsmittel dient Geld der Erfüllung privatrechtlicher Verpflichtungen (Kauf, Darlehen, Schadenersatz u.a.) sowie öffentlichrechtlicher Verpflichtungen (Steuern, Strafen). Dazu bedarf es freilich der staatlich verliehenen Rechtskraft des Geldes. Die Ordnung des Geldes in einem Land nennt man Währung. Außer den dem Geld von Theoretikern beigemessenen Funktionen als Zahlungsmittel, als Tauschmittel, als Rechnungsmittel und als Wertaufbewahrungsmittel hebt Gerloff seine Funktion als „soziales Geltungsmittel" hervor (Pentzlin 15). Nach der Substanz des Geldes unterscheidet man entsprechend dem Material: vollwertiges Geld (Geldsubstanz entspricht dem Materialwert, z. B. Gold), unterwertiges Geld, stoffwertloses Geld (Banknoten) und Buch- und Giralgeld. Im Lauf der Geschichte wurde das Geld immer unsinnlicher in der Substanz. 1.3. Die Geldtheorie befaßt sich mit der Theorie des Wesens des Geldes (also mit seiner Wertaufbewahrungsfunktion, Zahlungsmittelfunktion, Tauschmittelfunktion, Rechnungsmittelfunktion), mit der Theorie des Geldwertes (z. B. Metallismus: Der Wert des Geldes beruht auf seinem Metallgehalt an Gold oder Silber, oder: Nominalismus: der Wert des Geldes beruht auf staatlicher Setzung), mit der Theorie der Geldwirkungen und der Geldordnung (Inflation, Deflation, Währungsstabilität, Geld als „Schwungrad" der Wirtschaft). 1.4. Ethische Fragestellungen. Mit der Deutung des Geldes befassen sich sehr verschiedene Wissenschaften: Ökonomie, Numismatik, Rechtswissenschaft, Soziologie, —»Psychologie, Religionswissenschaft. In der Ethik sind zwei Fragenkreise zu unterscheiden, der personalethische und der sozialethische Aspekt. 1.4.1. Die personalethische Fragestellung befaßt sich mit dem Umgang des Menschen, des Christen mit Geld. Sie fragt nach der Einstellung der Person zum Geld. Die Laster der Geldgier, des Geizes, der Habsucht oder der Verschwendung und des Neides werden hier üblicherweise angesprochen. Man redet auch vom „Mammonsdienst". Bildhaft stellt man sich auch Geldgier als Durst, „Gelddurst" vor. Luther vergleicht die Habsucht mit dem Ehrgeiz: „ehergeitz und geldtgeitz ist beydes Geitz" (WA 19,658,14 f). Zur personalethischen Fragestellung zählen in erster Linie Themen des persönlichen Lebensstils, des Luxus in der Lebensführung, des Konsums (Prestigekonsums), der Sparsamkeit, der Aus-
Geld II
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beutung von Mitmenschen (auf Kosten anderer leben), der innerweltlichen Askese, des „Habens als hätte man nicht" (I Kor 7,29). - In der christlichen Tradition wurde vor allem dieser personalethische Aspekt beachtet. 1.4.2. Die sozialethische Fragestellung betrifft nicht nur den persönlichen Umgang mit Geld, sondern die Ordnung des Geldwesens überhaupt. Traditionellerweise ist diese Frage vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit des Zinsnehmens erörtert worden (—>Zins). Die Sozialethik hat die Währungspolitik insgesamt zu bedenken. Es geht dabei um Probleme der Währungsstabilität, der Enteignung durch Währungsverschlechterung (Münzverschlechterung), der Vermögensumschichtung durch Inflation oder der Staatsverschuldung. Im Rahmen einer sozialethischen Wertung des Geldes sind auch die Leitziele der Wirtschaftspolitik (Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, wirtschaftliches Wachstum und ausgeglichene Zahlungsbilanz des Außenhandels), Aufgaben der Konjunkturpolitik und der Vermeidung von Wirtschaftskrisen zu erörtern. Außerdem sind Kriterien des wirtschaftlichen Wachstums und der gesellschaftlichen Ordnung (Lebensstandard, Lebensqualität; ökonomische und soziale Indikatoren) zu beachten. Bei der sozialethischen Fragestellung ist ferner die Bedeutung des Geldes für die Marktwirtschaft und den Welthandel zu berücksichtigen. Die freie Konvertierbarkeit von verschiedenen Währungen ist Voraussetzung eines internationalen Wirtschaftsaustausches. Träger des Handels ist der Kaufmannsstand. Die Fragen einer Wirtschaftsethik sind z. T. Fragen des Berufsethos des Kaufmanns. Sie betreffen aber auch —> Staat und —> Gesellschaft insgesamt. Geld ist immer eine zeitbedingte Kategorie, deren politischer und gesellschaftlicher Kontext zu untersuchen ist. Ein Beispiel dafür ist das Entstehen von Ersatzwährungen oder eines Schwarzmarktes. Geld steht als Abstraktion und Symbol für wirtschaftliche (und gesellschaftliche) Vorgänge. Es ist stets auch Symptom einer Gesellschaftsstruktur. Geld ist das, was im Massenverkehr in einer Gesellschaft „gilt". Die Geltung des Geldes beruht auf der Massengewohnheit der Annahme. Ein geschichtlicher Rückblick hat daher sowohl die Wandlungen im Umgang mit Geld (personalethisch) wie auch die Wandlungen hinsichtlich der Ordnung des Geldes (sozialethisch) darzustellen. 2. Historischer 2.1. Antike
bis
Überblick Reformationszeit
Antike Autoren erklären die Herkunft des Geldes auf doppelte Weise, (einmal) wirtschaftlich mithilfe der Tauschfunktion (Plato, Aristoteles), sie verstehen also Geld als Zahlungs- und Tauschmittel; (zum anderen) sozial, nämlich die Geldmittel als Träger sozialer Wertschätzung (vgl. zum folgenden R. Bogaert, Art. Geld, Geldwirtschaft: R A C 9 [ 1 9 7 6 ] 797-907). 2.1.1. Das Alte Testament kennt Geld in F o r m von Silberais Zahlungsmittel (Gen 3 3 , 1 9 J a k o b ; 3 7 , 2 8 Verkauf Josephs; Jer 3 2 , 9 - 1 4 ; Gen 4 2 , 2 5 - 3 5 ; 4 3 , 1 2 . 1 5 ; I Reg 1 0 , 2 8 f; N u m 3 , 4 4 - 5 1 ; u . ö . ) . Maßeinheit w a r der sekel ( 1 1 , 4 2 4 g.); für dessen Prüfung gab es ein M u stergewicht im Heiligtum (Lev 5 , 1 5 ; 2 7 , 3 . 2 5 ; N u m 3 , 4 7 . 5 0 ; 7 , 1 3 . 1 9 ) . Entscheidend w a r das Gewicht (nicht der Feingehalt) des Silbers. Es gab vermutlich Silberbarren. Münzgeld haben die Israeliten jedoch wohl erst im babylonischen Exil (Ende des 6. Jh.) kennengelernt, und zwar die persischen Dareiken, die sie nach Jerusalem mitbrachten (Esr 2 , 6 9 ; 8 , 2 7 ; Neh 7 , 6 9 — 7 1 ) . Zinsnehmen war in Israel nur gegenüber Fremden zulässig und von Stammesgenossen gesetzlich verboten ( E x 2 2 , 2 4 ; Lev 2 5 , 3 5 - 3 7 ; Dtn 2 3 , 2 0 ; Ez 1 8 , 8 . 1 3 . 1 7 ; 2 2 , 1 2 ; Ps 1 4 [ 1 5 ] , 5). Das Zinsverbot wurde damit begründet, daß Darlehen an Arme nur zu Konsumzwecken vergeben wurden. J a h w e , der Gott der Gerechtigkeit, schützt jedoch in besonderer Weise den Armen. Dem Schutz des Armen soll auch das Sabbatjahr dienen. Die Begründung dieses Gesetzes ist kultisch: das Erlassen der Schuld geschieht zur Ehre Jahwes (Dtn 1 5 , 1 f; vgl. F. Horst, Gottes Recht, 1 9 6 1 , 7 9 - 1 0 3 ) . Von Bürgschaften wird abgeraten (vgl. Prov. 6 , 1 - 5 ; 1 1 , 1 5 ; 1 7 , 1 8 ; 2 0 , 1 6 ; 2 2 , 2 6 ) . Personalethisch ergeht die W a r n u n g vor Habsucht und Reichtum (Hi 2 7 , 1 6 — 1 9 ) . Geld und Reichtum können nämlich den Menschen zu H o c h m u t und Gottvergessenheit verleiten (Dtn 8 , 1 2 - 2 0 ) . Geldgier verführt zu Unrecht und Korruption (Am 2 , 6 ; Mi 3 , 1 1 f). Geld und Reichtum werden in solchem Fall zu Widersachern Jahwes. Andererseits: Geld und Reichtum werden auch als Geschenk Gottes an die Frommen betrachtet und gewürdigt (Dtn 8 , 1 3 f; Hi 2 7 , 1 7 ) und gehören zum Idealbild der Zukunft (Sach 1 4 , 1 4 ) . 2.1.2.
Antikes Judentum.
Seit der Eroberung Palästinas durch Alexander setzt sich dort
280
Geld II
die Geldwirtschaft der Griechen durch: Griechische Münzen kamen in Umlauf. Johannes Hyrcanos I. ( 1 3 5 - 1 0 4 v. Chr.) schlug die ersten jüdischen Bronzemünzen. Im jüdischen Aufstand (66/70; 132/35 n. Chr.) gab es eigene jüdische Prägungen. Ansonsten waren römische Denare und Goldmünzen (aurei) die gängigen Zahlungsmittel. Geld benötigte man in erster Linie für die Steuerzahlungen. Der Talmud ersetzte das alte Talionsrecht durch Festsetzung von Geldstrafen (bBQ 83 b/84 b; tBQ 3,5). Nach talmudischem Eherecht wird eine Geldsumme festgesetzt zur Entschädigung der Frau beim Tod des Mannes oder bei Ehescheidung (bKet 10b). Von den Griechen übernahmen die Juden mit dem Geldhandel auch den Geldwechsler (sulbani, Toane^hrig). Wichtig war das Geldwechseln vor allem bei der Erhebung der Tempelsteuer, die jeder über 20 Jahre alte Jude zu entrichten hatte, und zwar in tyrischen Münzen (sekel). Dabei hatte der Wechsler auch die Münzen zu prüfen, weil viele fremde, falsche und minderwertige Münzen im Umlauf waren. Beim Darlehensgeschäft gab es Umgehungen des Zinsverbotes durch Schuldverschreibungen und den von Hillel erfundenen Prosbul (jiQoaßoXrj = Eigentumszuschlag bei Auktionen, der das Pfand in Eigentum des Gläubigers verwandelte). Neben Darlehensgeschäften gab es Gelddepositen, die im Tempel bis zu dessen Zerstörung durch die Römer aufbewahrt wurden. Außerdem war Scheckverkehr üblich, da das mosaische Gesetz tägliche Lohnauszahlungen vorschrieb (Dtn 24,15), der Arbeitgeber in der Praxis jedoch nicht fortlaufend über die dafür erforderliche Menge Kleingeld verfügte. Mit dem Anwachsen des Geldverkehrs nehmen geldfeindliche Aussagen zu: Ursache waren vornehmlich die Steigerung der Gewinnsucht und Geldgier. Koh 10,19 hebt die Macht des Geldes hervor, die alles ermöglicht, Sir 5,1—3 seine Vergänglichkeit. Wer das Geld liebt, bekommt davon nie genug (Koh 5,9), es gebiert Sorgen (Koh 5,11), führt zur Sünde (Sir 11,10; 2 7 , 1 - 3 ; 3 1 , 5 - 7 ) . Die Gefahren des Reichtums, des ungerechten Mammon werden hervorgehoben. Geldgier verführt zu Götzendienst, entfernt vom Gesetz Gottes und ist Mutter aller Schlechtigkeit (Testjud 18,2f; 19,1; PsPhoc 42,4). Prinzipiell feindlich gesinnt waren dem Geld die —>Essener. Sie lehnten den Handel ab und wollten ohne Geld und Besitz leben. Manche lehnten es sogar ab, Geld überhaupt bei sich zu tragen, herzustellen oder auch nur anzusehen. Die Geldwirtschaft wird also aufgrund des Ideals einer heiligmäßigen und frommen Lebensführung abgelehnt. Die Gemeinde von—>Qumran erlaubt dagegen Handel, aber nur mit Nicht-Mitgliedern des Bundes, den „Söhnen des Verderbens"; üblich war in Qumran Barzahlung. —>Philo von Alexandrien als wohlhabender Jude hingegen lehnte zwar das Streben nach Uberflüssigem ab, sprach sich aber nicht grundsätzlich gegen das Geld aus. Auch die Rabbinen sehen Geld und Reichtum als Lohn der Frömmigkeit und des Gesetzesgehorsams an. Die Rabbinen gehörten zumeist zu den Wohlhabenden und waren überzeugt, daß sie ihren Reichtum aufgrund ihrer Frömmigkeit verdient hätten. Zur Frömmigkeit gehörte jedoch Mildtätigkeit. Wohltätigkeit erwirkt bei Gott besonderen Lohn und befreit vom Endgericht der Hölle (bBB 10a; Pea 2 4 , 1 - 1 1 ) . 2.1.3. Griechen und Römer. Die Geldwirtschaft diente bei den Griechen vor allem dem Handel. Seit dem 6. Jh. v. Chr. ist eine Ausdehnung auf das gesamte wirtschaftliche, soziale und religiöse Leben zu beobachten. Alles wird für Geld käuflich, für alles braucht man Geld. Da jede Polis ihre eigene Münzprägung hatte, entstand als eigener Beruf der des Wechslers und Münzprüfers. Eine sittliche Beurteilung des Geldes ist deshalb schwierig, weil Geld und Reichtum {XQWaTCL u n d Jtkomog, pecunia und divitiae) auswechselbare Begriffe waren. „Viel Geld haben, das ist Reichsein" (Ps.Plato, Eryx. 399e). Ethische Urteile lauten: Geld verleiht Macht. Daneben wird die Vergänglichkeit des Geldes betont: Geld verleitet Gewissen zu schändlichen Taten. Die tpiXagyvgia ist die Ursache vieler Übel. Bei Piaton soll es deshalb im idealen Staat gar kein Geld geben, aber auch nicht Armut und Reichtum (rep. 4,422 a/d; leg. 742 a; 744d). Geldgeschäfte sind von Übel (rep. 8,555 c - 5 5 6 c ) . Der platonische Gesetzesstaat soll nicht Handelsstaat, sondern - vom Meer entfernter - Ackerbaustaat sein. Er soll autark gegenüber dem Außenhandel bleiben. Ebenso wird ein Zinsverbot gefordert.
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Die erste entwickelte Geldlehre findet sich bei —»Aristoteles. Das Münzgeld hat nach ihm seinen Ursprung im Tauschgeschäft (pol. 1,9,1257a 3 1 - 3 4 ) . Das Zinsgeschäft ist widernatürlich, „Wucher", weil der Ertrag (röxog) aus dem Geld selbst hervorkommt (pol.1,10,1258b 2 - 8 ) . Geld ist kraft Gesetzes Wertmesser und Maßstab der Kaufkraft. Es soll den Güterverkehr erleichtern und dabei ausgleichende Gerechtigkeit sichern (eth. Nie. 5,8,1132b 31 — 1133b 28). Die Kyniker lehnen das Geld prinzipiell ab. Zenon von Kition forderte für seinen Weltstaat die Abschaffung des Geldes (SVF 1,268). Chrysipp zählt dagegen das Geld zu den Adiaphora. Plutarch befaßte sich in zwei moralphilosophischen Traktaten mit der Geldwirtschaft. Das Gedankengut in De cupiditate divitiarum ist platonisch und aristotelisch. In De vitando aere alieno rät er den Armen und Reichen vom Borgen ab. In Rom wird 289 v. Chr. mit der Einsetzung der triumviri monetales die Münzprägung staatlich geordnet. In der späteren Kaiserzeit kam es zu einer starken Geldentwertung, die ihren Höhepunkt unter Diokletian erreichte. Schuldenprobleme der Bürger, denen durch Zinsverbot und Zinserlasse begegnet werden sollte, kannte jedoch schon die Republik (vgl. den Aufstand der Plebejer 287 v. Chr. wegen Verschuldung und die Sezession nach Janiculum, Livius, perioch. 11). Am Ende der Republik war die Verschuldung allgemein: Nicht zuletzt Politiker waren hochverschuldet. In den ersten beiden Jahrhunderten der Kaiserzeit besserten Friede und aufblühender Handel zunächst die Wirtschaftslage. Die Wirtschaftskrise im 3. Jh. n. Chr. ist gekennzeichnet durch Geldwertverlust und Kreditkrisen. Die Frage, ob Geld ein bonum oder malum sei, wird in stoischer Tradition offengelassen. Auch Unwürdige können Geld besitzen (Cicero, parad. 6,8). Geld gehört zu denpraeposita (Cicero, fin. 3,56), zu denmedia, indifferentia, potiora (Seneca, ep. 94,7f; 109,12; 117,9;v. beat. 22,4). Die Beurteilung des Geldes ist also abhängig von dem Gebrauch, den der Mensch davon macht. Die Geldgier ist allerdings ein Laster, dessen Unersättlichkeit von lateinischen Schriftstellern regelmäßig als Motiv beschrieben wird. 2.1.4. Das Neue Testament setzt die Geldwirtschaft des Hellenismus voraus. Geldformen und Geldfunktionen des römischen Imperiums sind geläufig (vgl. R. Bogaert: RAC 9, 843). Nach Act 2,44—47; 4 , 3 2 - 3 7 gab es in der Urgemeinde in Jerusalem Gütergemeinschaft, zu deren Gunsten Gemeindeglieder einen Teil ihrer Güter verkauften und das Geld den Aposteln übergaben. Da das Geld nicht nutzbringend angelegt wurde und keine Reserven bestanden, verarmte aber die Gemeinde. Die Urteile über das Geld sind ambivalent. Einerseits wird Geldgier als Sünde gewertet. Anders als das offizielle Judentum seiner Zeit bewertet Jesus Geld und Reichtum nicht als Zeichen der Gnade Gottes. Besonders Matthäus und Lukas tadeln Reichtum und Reiche. Das Logion „Gott oder dem Mammon dienen" (Mt 6,24; vgl. ITim 6 , 1 7 - 1 9 ) ist Ausdruck solcher Einstellung zum Geld: Am Geld — Mammona iniquitatis — haftet nur zu leicht Unrecht. Der Mammon wendet von Gott ab (Lk 16,13; vgl. Mt 1 9 , 1 6 - 3 0 par.): Ausweis der radikalen Nachfolge ist der Besitzverzicht. Für den Reichen ist es äußerst schwierig, in das Himmelreich zu kommen (Mk 1 0 , 2 3 - 2 5 par.). Die Geldliebe ((piXaQyvgia) ist Wurzel aller Übel (ITim 6,6—10; vgl. II Tim 3,1 f). Außer Lukas übt vor allem Jakobus Kritik an den Reichen (Jak 5 , 1 - 6 ) . Die Kritik ist freilich nicht ökonomisch oder sozial begründet, sondern theologisch: Geld und Gut können das Heil der Seele gefährden. V o r allem M t 6 , 2 4 : „Ihr könnt nicht G o t t dienen und dem M a m m o n " stellt vor eine Entscheidung (vgl. F. H a u c k : T h W N T 4 , 3 9 0 - 3 9 2 ) . Seit B u x t o r f (ebd. 3 9 0 , 1 9 f ) wird „ M a m m o n " abgeleitet von '*mät [das, worauf man vertraut]. In Lk 1 6 , 1 0 f läge dann in der aramäischen Urform ein Wortspiel vor. M i t „ M a m m o n " wird das Vermögen bezeichnet, also alles, was Geldwert hat. Daneben bedeutet „ M a m m o n " Gewinn, Profit, vor allem unredlichen Gewinn. Bereits im Judentum erhielt das W o r t einen abwertenden Sinn (ebd. 3 9 1 , 4 2 ff). Es bezeichnet das Unreine, Unedle, „ W e l t l i c h e " - im Gegensatz zum Göttlichen. Dem M a m m o n , das besagt M t 6 , 2 4 , haftet als M a c h t eine dämonische Kraft an.
Andererseits
finden sich auch positive Stellungnahmen zu Geld und Besitz: Lk 16,9:
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„Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon" gibt das Motto, Geld in den Dienst notleidender Mitmenschen zu stellen. Paulus organisiert eine Kollekte für die notleidende Urgemeinde in Jerusalem, entsprechend der Tempelsteuer (Act 1 1 , 2 8 - 3 0 ; 24,17; Rom 15,26; I Kor 16,1—4). Mildtätigkeit ist Zeichen der Dankbarkeit für den von Gott empfangenen Segen. Prinzipiell verwerflich ist nur schändlicher Gewinn (I Tim 3,8). Geldwirtschaftlich interessant ist das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Talenten) M t 2 5 , 1 4 - 3 0 ; Lk 1 9 , 1 9 - 2 7 . Kreditvergabe und Zinsnehmen werden hier nicht als verwerflich dargestellt. Ein Agraphon: yíyveode óóxifiot zoajiE^hai [werdet kluge Wechsler] ist nach J . Jeremias (Unbekannte J e s u s w o r t e , 2 1 9 5 1 , 83 — 8 6 ) authentisch: Es ist vermutlich mit 1 Thess 5 , 2 1 zu verbinden und benutzt die Tätigkeit des Münzprüfers als Gleichnis mit paränetischer Zuspitzung für das Verhalten des Christen. H . Schröder meint, das Agraphon dafür in Anspruch nehmen zu können, daß für Jesus Nachfolge und Bankgewerbe nicht unvereinbar waren, er also anders als weithin die Alte Kirche nicht grundsätzlich Wechselgeschäfte und Zinsnehmen verworfen habe. Insgesamt wird man die Stellung zum Geld im Neuen Testament nur im Rahmen der Beurteilung des —»Eigentums, der Wertung von —»Armut und Reichtum sowie der —•Armenfürsorge und des Almosengebens theologisch interpretieren können (vgl. dazu z . B . Hengel). Dieses Agraphon hat bei den Kirchenvätern vielfache allegorische Deutungen erfahren. Dabei geht es in der Auslegung vornehmlich um die Unterscheidung von Rechtgläubigkeit und Irrlehre, wahren „ D o g m a t a " und falschen (z.B. Orígenes, C o m m . in M t 6 8 ; J o h a n n e s Cassianus, coli.2,9). —»Athanasius (Dion. 9,4) wendet das Gleichnis sogar auf die Person Christi an: Der Theologe soll, wie ein kundiger Geldwechsler, die göttliche von der menschlichen N a t u r Christi unterscheiden lernen.
2.1.5. Die Alte Kirche (vgl. zum Ganzen: R. Bogaert: RAC 9 , 8 9 9 - 9 0 3 ) lehnte die Geldwirtschaft nicht grundsätzlich ab. —»Marcion war ein begüterter Schiffsherr aus Sinope, der der Kirche in Rom 139 n. Chr. 2 0 0 0 0 0 Sesterzen schenkte, die ihm die römische Kirche 144 n. Chr. beim Bruch zurückgab. Bischof —»Calixtus I. war Bankier. Christen betrieben also Handels- und Kreditgeschäfte. Der Bankberuf gehörte nicht zu den den Christen untersagten Berufen. Die Kirche betrieb sogar selbst Geldgeschäfte (-^Wirtschaft). 2.1.5.1. Themen der Wertung des Geldes waren zunächst einmal in der Paränese die Warnung vor Geldgier, Geiz, sowie die Mahnung zur Wohltätigkeit (Did 11,6: Man soll Geld in der Hand „schwitzen" lassen, bis man weiß, wem man es geben soll; 4,6: Almosen sind Lösegeld für Sünden). —»Clemens von Alexandrien verbindet in seiner Schrift Quis dives salveturf Einflüsse stoischer Philosophie (Ablehnung des Materiellen) mit Mt 19. Geld an sich ist jedoch ein Adiaphoron. Nur Geiz und Habsucht sind schädlich. Geldgier ist eine „Akropolis der Sünden" (2,38,3; 39,3). Daher soll ein Christ cuiadriq werden und sich innerlich von den irdischen Gütern lösen (—»Askese). Wichtig ist hingegen die Verwendung des Reichtums zur Wohltätigkeit. Bei Tertullian findet sich, als Zeichen seiner asketischen Grundhaltung, ein contemptus pecuniae. Cyprian empfiehlt in De opere et eleemosyniis Wohltätigkeit: Almosen tilgen Sünde. Breiten Raum in den Erörterungen des Geldes nimmt bei den Kirchenvätern die Frage der Zulässigkeit des Zinsnehmens ein (—»Zins), vor allem wegen des alttestamentlichen Zinsverbotes. Ein striktes Zinsverbot vertritt Tertullian (adv. Marc. 4,17,4). 2.1.5.2. Nach der konstantinischen Wende partizipierte die Kirche selbst am Reichtum: Sie erwirbt Vermögen, Eigentum, vornehmlich durch Schenkungen und Erbschaften. Das Kirchengut rechtfertigt Ambrosius so: possessio ecclesiae sumptus est egenorum (ep. 18,16; vgl. zu Ambrosius auch T R E 9, 416,13 ff). Außerdem erhielt die Kirche seit dem 4. Jh. n. Chr. staatliche Subsidien. Sie betrieb sogar selbst Geldgeschäfte. Zudem war sie Träger einer ausgebreiteten Wohltätigkeit (—»Diakonie). —»Armenfürsorge, der Betrieb von Hospitälern, Witwen- und Waisenhäusern waren ohne Geld nicht möglich. Mit dem Reichtum drangen freilich auch Geldgier, Erbschleicherei und der Ämterkauf (Simonie) in die Kirche ein. Das frühe -^-Mönchtum der Anachoreten war daher auch ein Protest gegen die Verweltlichung und den Reichtum der Kirche. Im frühen Mittelalter wurden freilich auch Klöster reich, selbst wenn dem einzelnen Mönch Privatbesitz und besonders Geldbesitz verboten war. Johannes —»Cassianus widmete das 7. Buch der Instituía coenobiorum ganz der Warnung vor der cptlaQyvQÍa.
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Strittig blieb freilich die Zinsfrage (vgl. das kanonische Zinsverbot seit den Konzilien von Arles 3 1 4 und Nicäa 325, can. 17). —»Basilius von Caesarea und —»Gregor von Nyssa bekämpften den Wucher als Plage ihrer Zeit, lehnten aber nicht Darlehnsgeschäfte überh a u p t ab. Ein striktes Zinsverbot forderte hingegen —»Johannes Chrysostomus. Er nennt das Zinsnehmen ovvdeo/xög ädixiag [Fessel, womit die Ungerechtigkeit bindet]. Verurteilt wurden Luxus und Ausbeutung der Armen, geboten Wohltätigkeit und Armenfürsorge. Gregor von Nyssa rät: xQVoat> A") naQaxQfjot] [brauchen, aber nicht mißbrauchen] (vgl. die Belege bei R. Bogaert: RAC 9, 879). Die ethische Bewertung des Geldes als eines A d i a p h o r o n , das freilich vom Menschen falsch, sündig oder richtig gebraucht werden kann, bewegt sich in den Spuren von Clemens von Alexandrien und —»Origenes (vgl. Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa). Johannes Chrysostomus hat sich in vielen Schriften mit Geld und Reichtum befaßt und besonders die Geldgier gegeißelt. Ambrosius und Hieronymus sind von des Basilius Sicht beinflußt: Reichtum und Geld sind eine Gabe Gottes, die der Mensch freilich oft mißbraucht. Vor allem der Klerus soll Streben nach Geld meiden (Ambrosius), da Geldgier Sünde ist. Pelagius dagegen (Traktat De divitiis) sieht in Geld und Reichtum nicht Gaben Gottes, sondern Produkte menschlicher Ungerechtigkeit. Ein Reicher kann daher schwerlich Christi Worten folgen. —>Augustin anerkennt Reichtum, sofern er rechtmäßig erworben ist. Er ist aber ein alienum, wenn man ihn schlecht gebraucht. Nicht das Geld als solches ist zu tadeln, sondern die Habgier, die unersättlich ist. Er polemisiert gegen die Manichäer, die Geld f ü r etwas an sich Schlechtes halten (serm. 50,8f), wie gegen Pelagianer, die vom Reichen grundsätzlich Besitzverzicht fordern (serm. 85,2; ep. 157,23—39). Der M a m m o n ist mammona iniquitatis, wenn er falscher Reichtum ist. Augustin r ä u m t dem Wohlhabenden ferner das Recht auf ein standesgemäßes Leben ein. Die Reichen sollen aber Almosen geben (vgl. serm. 61,11 — 13). Auch wenn Zinsen gesetzlich erlaubt sind, sagt Augustin: noli fenerare. Der Christ soll ohne Zins leihen. 2.1.5.3. Eine Hochschätzung des Geldes vertraten die Römer: pecunia wird als Gottheit geehrt. Stärker wird aber allgemein die korrumpierende Wirkung des Geldes betont. Eine gänzliche Geld Verneinung findet sich bei Pelagianern, M a n i c h ä e r n , im frühen M ö n c h t u m (hier gibt es n u r ein Wirtschaftsethos der Weltverneinung). Unterschiedlich ausgeprägt ist die Geldfeindlichkeit bei den Kirchenvätern. Geldfeindschaft ist besonders bei Tertullian zu finden. D a ß der Mensch Verwalter des Geldes ist, diesen Gedanken teilen die meisten Kirchenväter mit den Philosophen. Vor allem die Stoa schärft den rechten Umgang mit Geld ein. Guter Gebrauch des Geldes sind: Wohltätigkeit, Almosen. Christen sehen freilich anders als die Philosophen Almosengeben sogar als Tugend an. Das Ideal vieler Kirchenväter war Gütergemeinschaft (—»Eigentum). Die Kritik gilt dem Luxus, der Bestechung, dem ungerechten Gewinn, dem Zinsnehmen. Geldgier ist Ursache mannigfacher Übel. Die stoische Unterscheidung zwischen w a h r e m und falschem Reichtum, zwischen materiellen und immateriellen Gütern wird von manchen Kirchenvätern ü b e r n o m m e n . Geld ist nur Mittel zum Erwerb „ w a h r e r " Güter, v.a. zum Almosengeben. Die N u t z u n g des Geldes als Mittel zur Steigerung der Produktivität, H e b u n g des Lebensstandards bleibt bei den Kirchenvätern außerhalb der Überlegungen. Ihre Betrachtung und Beurteilung des Geldes ist moralisch, nicht ökonomisch orientiert. Ein Interesse an der theoretischen Sicht des Geldes besteht nicht. Der M a ß s t a b der Beurteilung ist die praktische Bedeutung f ü r das Seelenheil. Diese Betrachtungsweise beeinflußt auch das Urteil über das Zinsgeschäft, das die Griechen und Römer rechtlich und gesetzlich geregelt hatten. Die Kirchenväter rügen fast ohne Ausn a h m e das Zinsnehmen als Wucher. Sie stehen unter dem Einfluß des Alten Testaments und der aristotelischen Anschauung von der Unfruchtbarkeit des Geldes. Die kirchlichen Zinsverbote haben freilich nur Konsumkredite, nicht aber produktive Darlehen vor Augen. Erweitert man die Fragestellung, wie die Alte Kirche sich zum Geld im praktischen Um-
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gang mit Vermögenswerten verhalten hat, freilich noch um einen institutionalkirchlichen Gesichtspunkt (worauf Staats hinweist), so zeigt sich eine Verbindung von ekklesiologischem Selbstverständnis und Vermögensverwaltung. Die Alte Kirche setzte ihr Vermögen zur Unterstützung notleidender Gemeindeglieder ein. Sie verstand ihren Umgang mit Geld als „Haushalterschaft" (Staats 7). Der Begriff depositum bzw. nagaOfixt] kennzeichnet die Verwahrung ökonomisch-materiellen Gutes, vor allem Geldes, durch die Kirche (vgl. ebd. 11 f. 14.17ff.21.23 mit Belegen). „Nicht die Tatsache, daß die Kirche über Vermögen verfügte, sondern wie zuverlässig und glaubwürdig sie es im Sinne Jesu Christi verwaltet — das war von Anfang an eine brennende Frage" (ebd. 27). 2.1.6. Mittelalter .Der Untergang des spätrömischen Reiches führte erneut zu einer agrarischen Kultur; die städtische Kultur trat zurück. Das führte zu einer weitgehenden Ersetzung der Geldwirtschaft durch die Naturalwirtschaft (—»Wirtschaft). Das Geld verlor an praktischer Bedeutung. Kulturelle Defizite wie ökonomische Struktur ließen die Thematik des Geldes damit auch theoretisch zurücktreten. Erst ab dem 11. Jh. entfaltete sich die städtische Kultur erneut, in der sich Kaufmanns- und Marktrechte entwickelten. Der Fernhandel, vor allem auf dem Seewege, blühte im Mittelmeerraum (Kreuzzüge, Orienthandel) und im Norden (Hanse, Handel mit Rußland) auf. Am Ende des Mittelalters steht die Entdeckung Amerikas, mit kolonialer Expansion und riesiger Ausweitung des Welthandels. Große Vermögen sammeln sich in Handelshäusern, vor allem in Oberdeutschland (Augsburg, Nürnberg) an. Die Handelshäuser der —>Fugger und Welser seien hier nur als Beispiele erwähnt. Veranlaßt durch diese wirtschaftliche Entwicklung, entsteht im Mittelalter eine neue Diskussion des Geldproblems, die sich konzentriert auf die Frage nach dem —»Zins (vgl. dazu Beutter 5 0 - 9 9 ; Weber, Geld u. Zins). In Anlehnung an des Aristoteles Behauptung von der Unfruchtbarkeit des Geldes definieren katholische Moraltheologie und Kanonistik Geld als res fungibilis et primo usu consumptibilis. Die Kanonistik verbot unter Berufung auf Dtn 23,20—21 Christen das Zinsnehmen: Das Zinsverbot bezog sich auf Konsumtivkredite. Es war als Wucherverbot (2. Laterankonzil 1139) beabsichtigt. Das Zinsverbot galt freilich nicht für Juden, die als Pfandleiher wirtschaftlich in die Lücke traten; diese „Wucher"-geschäfte der Juden trugen zum —»Antisemitismus bei. Außerdem wurden Begründungen zur Umgehung des — formal eingehaltenen — Zinsverbots mithilfe der Begründung einer Entschädigung für entgehenden Gewinn (lucrum cessans) und für entstehenden Schaden (damrtum emergens) gegeben. Mit der Einrichtung von kirchlichen Leihhäusern, montes pietatis, in Italien — Vorläufer der späteren Banken — nahm die Kirche selbst das Bankgewerbe in ihre Hand und hatte darum ein Interesse an der Stabilität des Geldes. Das Thema der Verantwortung des Fürsten für den Geldwert wird im Kapitel Quanto (c. 18,X,2,24, Friedberg II, 365 f), einem Schreiben Papst —»Innozenz' III. aus dem Jahr 1199 an den König von Aragonien, behandelt. Der Papst fordert vom Regenten die Wahrung des richtigen Metallgehaltes bei Münzen, Abwendung von schlechtem Geld und Rückkehr zu gutem Geld. Heinrich von Segusia (vor 1 2 0 0 - 1 2 7 0 ) bezeichnet in seinem Kommentar dazu den König, der das Geld verfälscht, offen als Fälscher. Von —»Bonaventura wird erwähnt, „daß der Wert des Geldes im Willen und in den Meinungen der Menschen seinen Ursprung habe" (Beutter 55; Bonaventura, Sermones de tempore: Op. omnia, IX 1901, 288). —»Thomas von Aquin befaßt sich in seiner Schrift De regimine principum (hg. v. J. Marius, Turin/Rom 2 1948) auch mit der Verantwortung des Herrschers für die Geldordnung. Münzprägung ist Recht des Fürsten. Geldänderungen sollen nur in Maßen vorgenommen werden, weil dadurch dem Volk Schaden erwächst. Dabei beruft er sich auf das Kapitel Quanto von Innozenz III. (und Prov 20,10) (De reg. princ. I, 2,13). —Der erste systematische Traktat zur Frage der Münzverschlechterung stammt von Nikolaus von Oresme (1325—1382, Bischof von Lisieux): Tractatus de origine, natura, iure et mutationibus monetarum (1355; Paris 1503; Neuausg. lat. u. dt. v. E. Schorer). Nikolaus verurteilt die
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Münzverschlechterung: Gewinn aus Geldentwertung ist schlimmer als Wucher und ein großes Ärgernis, denn eine bewußt vorgenommene Geldentwertung ist von Natur aus schlecht (11,20). Die Wurzel solchen Übels ist die ungeordnete Begierde nach Reichtum. - An ihn schließt sich später G. —»Biel bis in die einzelnen Formulierungen hinein eng an (De monetarumpotcstate et utilitate libellus [Nürnberg 1542, concl. 2];Superquattuor librossententiarum [Lyon 1514, IV, d. 15, q. 9, a. 2, concl. 2]; die erstgenannte Schrift ist größtenteils ein wörtlicher Auszug aus dem 4. Buch des Sentenzenkommentars): Geldentwertung ist Fälschung. Fälschung an Substanz, Gewicht und Form des Geldes ist jedoch eine Todsünde, wenn dies zum Schaden des Nächsten und des Staates getan wird. Hingegen kann eine Geldänderung aus einem vernünftigen Grund zum Nutzen des Gemeinwesens (ex rationabili causa ad utilitatem Reipublicae) notwendig werden, wenn zu viel gefälschtes Geld im Umlauf ist, die umlaufenden Münzen zu abgenutzt sind oder ein Mangel an Münzmetall eintritt. An Nikolaus orientiert sich auch Paul Laymann (1574—1635) im Kapitel über Geldänderung und Geldfälschung. Albertus Brunus Astrusis ( 1 4 6 7 - 1 5 4 1 ) hingegen hält eine Geldänderung schon für zulässig, wenn sie aus gerechtem Grund (iusta causa) erfolge, etwa wenn die Goldreserven eines Landes erschöpft seien. Mit der moralischen Bewertung des Problems einer gerechten Schuldentilgung bei Geldverminderung befaßt sich das Kapitel Olim causam (c. 20,X,3,39, Friedberg 11,630f), ein Brief Papst Innozenz' III. aus dem Jahre 1200 an den Bischof von Spoleto. Einen Neuansatz der ökonomischen und ethischen Bewertung des Geldwertes entwickelt die spanische Spätscholastik (vgl. dazu Weber). Der Anlaß dazu war die Neuordnung der spanischen Währung in der Pragmatik der katholischen Könige, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon. Trotzdem kam es zur Preisrevolution und Inflation in Spanien infolge der Entdeckung Amerikas. Darauf reagiert die Schule von Salamanca. Erster Vertreter war Martin von Azpilcueta, genannt Doctor Navarrus ( 1 4 9 3 - 1 5 8 6 ) , der vermutlich auch als erster die Quantitätstheorie im Jahr 1556 formulierte (Weber, Geld u. Zins 97f). Als Hauptvertreter wurde Ludwig —»Molina bekannt. Weber (Geld u. Zins 94) faßt das Ergebnis dieser Überlegungen zusammen: „Von der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts an wird der Begriff aestimatio (span. estima) als Ausdruck für die unterschiedliche Kaufkraft des Geldes Gemeingut fast aller Spanier". Für das Verständnis des Geldes wichtig wurden vor allem die Geldtraktate des Nikolaus von Oresme (s.o.) und des spanischen Spätscholastikers Juan de Maria (gest. 1624) De mutatione monetae (Uber das Kupfergeld: Tractatus Septem, Köln 1609). Weber hat anhand der Texte die von M. —> Weber und E. —»Troeltsch vertretene These von der Kapitalismusfeindlichkeit der scholastischen Wirtschaftsethik widerlegt. Im Zentrum der scholastischen Wirtschaftslehre steht gar nicht das Zinsverbot, sondern der Begriff der —»Billigkeit oder —»Gerechtigkeit bei der Verteilung des wirtschaftlichen Erfolgs. Nach scholastischer Lehre bestimmen im wesentlichen drei Faktoren den Marktpreis: utilitas, raritas, communis aestimatio. „Modern: Gebrauchswert, Knappheit, Nutzenschätzung" (Weber, Geld u. Zins 88). Nicht nur Arbeit (labor) und Kosten (expensae), sondern auch die allgemeine Nutzenschätzung (communis aestimatio) gestalten den Preis einer Ware. Einen Beitrag zur Geldlehre hat ferner N. —»Kopernikus in drei Denkschriften 1517, 1519 und 1526 gebracht. Anlaß war ein Währungsgefälle zwischen Preußen und Polen. Die andauernde Münzverschlechterung führte zum Verfall der preußischen Währung. Kopernikus empfiehlt dagegen, dem polnischen König das Münzmonopol zu übertragen. Er wendet sich vom Metallismus (s.o. Abschn. 1.3) ab und unterscheidet „Bewertung" (aestimatio, achtung) und „Geltung" (valor, wirde). Eine Münze kann höher bewertet werden als ihr Substanzwert ist (und umgekehrt). Bei Kopernikus findet sich bereits das Gresham'sche Gesetz — benannt nach dem englischen Bankier Thomas Gresham (1519—1579) - , wonach eine Münzverschlechterung zur Verdrängung wertvoller Münzen aus dem Geldumlauf führt; aus Silbermünzen wird dann z.B. Tafelsilber. Die scholastische Wirtschaftslehre hat das Geldverständnis im Mittelalter sehr stark bestimmt. In der Spätscholastik hat die spanische Naturrechtslehre Ende des 16. und Anfang
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des 17. Jh. sich bemüht, durch breit angelegte geldtheoretische und wirtschaftsethische Studien auf die sich verändernde wirtschaftliche Lage einzugehen. Probleme der Preisbildung oder der Kaufkraftparität unterschiedlicher Währungen werden auf empirischer Grundlage untersucht. Die spanische Spätscholastik eröffnete damit der katholischen Soziallehre einen Zugang zu den Phänomenen der neuzeitlichen Geldwirtschaft. 2.1.7.
Reformation
2.1.7.1. M. —>Luthers Interesse an der Thematik des Geldes hat vor allem theologische Gründe: In der Auslegung des 1. Gebotes im Großen Katechismus wird dies deutlich, wenn er die Einstellung des Menschen zum Geld, das „Glauben und Vertrauen des Herzens" als Maßstab einsetzt: „Es ist mancher der meinet, er habe Gott und alles genug, wenn er gelt und gut hat, verlest und brüstet sich drauff so steiff und sicher, das er auff niemand nichts gibt. Sihe dieser hat auch einen Gott, der heisset Mammon, das ist gelt und gut, darauff er alle sein hertz setzet, welchs auch der aller gemeynest Abgott ist auff erden. Wer gelt und gut hat, der weys sich sicher, ist frölich und unerschrocken, als sitze er mitten ym Paradis, Und widderumb wer keins hat, der zweyvelt und verzagt, als wisse er von keinem G o t " (WA 30/1, 133,18 ff). Der Gebrauch, den der Mensch vom Geld macht, ist also das Entscheidende. Der Christ soll seinen Besitz in den Dienst des Mitmenschen stellen: „Sol ein Christ geben, so mus er zuvor haben, was nichts hat, das gibt nichts" (WA 5 1 , 3 8 4 , 4 ) . Im Rahmen der —•Zweireichelehre behandelt Luther auch die Berechtigung des Christen, Geld und Gut zu besitzen: „Zum weltlichen regiment gehöret, das man gelt, gut, ehre, gewalt, land und leute habe und kan on dis nicht bestehen. Darumb soll und kan ein herr odder fürst nicht arm sein. Denn er mus allerley solche guter zu seinem ampt und stand haben. Darumb ists nicht die meinung, das man so müsse arm sein, das man gar nicht eigens habe. Denn es kan die wellt nicht so bestehen, das wir alle solten bettler sein und nichts haben. Denn auch kein hausvater sein haus und gesind neeren künde, wenn er selbs gar nichts hette" (WA 3 2 , 3 0 7 , 1 9 ff). - Besitz über das den eigenen Lebensunterhalt und zur Erhaltung des Lebens der Familie Erforderliche hinaus nennt Luther jedoch mit Lk 1 6 , 9 - 1 1 „ungerechten M a m m o n " : „Also auch das mammon also in bösem brauch geet, so nennet ers den unrechten Mammon, das man überig hat, und dem nechsten nit hilfft, das besitzt man mit unrecht und ist gestolen vor got, dann vor got ist man schuldig zu geben, leihen unnd jm nemen lassen. Darumb seind die grosten Hansen die grosten dieb, nach dem gemainen Sprichwort, dann sy haben am maisten überig, und geben am wenigsten" (WA 10/3,275,7ff). Es gibt demnach in der ^ W i r t s c h a f t Fragen, die auch „das gewissen" betreffen (WA 1 5 , 2 9 4 , 2 2 ) und nicht nur „technische" Probleme sind. Nicht nur Diebstahl fremden Eigentums, sondern auch Geldgier und Geiz sind Sünde. In seinen Stellungnahmen zu ökonomischen Fragen spielt das Thema „Geld" bei Luther freilich keine selbständige und besondere Rolle. Es geht ihm um die Freisetzung des weltlichen Lebens auch im ökonomischen Verhalten, so daß er 1 5 2 2 sagen kann: „Darumb kauffen und verkauffen ist eytel haydnisch ding, Aber das das weltlich Regiment hat, das lassen wir geen" (WA 1 0 / 3 , 2 2 7 , 2 f). Die Regelung von Wirtschaftsordnung und Geldwesen ist der Vernunft aufgetragen. Dafür gibt es keine unmittelbar anwendbaren biblischen Vorschriften. Luther hat freilich über die Frage hinaus, die er positiv beantwortete, ob ein Christ Handel treiben und Kaufmann sein könne, durchaus zu Problemen wie dem Zinsnehmen, der Frage des gerechten Lohnes und Preises sich geäußert. In seiner Schrift An den christlichen Adel (1520; WA 6 , 4 6 5 ff) und in seinen Schriften zum Wucher ( 1 5 1 9 , 1520, 1 5 2 4 , 1540) behandelt er die damals aktuelle Frage der Zulässigkeit des —> Zinses und der Höhe des Zinsfußes. Dabei konzentriert sich seine Fragestellung auf den moralischen Gesichtspunkt des erlaubten oder verbotenen Wuchers: Luther erörtert in diesen Schriften nur die Kreditnahme zur Konsumtion. Fragen der Geldentwertung und Inflation, die zu Luthers Zeit ebenfalls aktuell waren, sowie des aufkommenden Fernhandels werden nicht reflektiert. Luther geht aus von einer Tauschwirtschaft auf naturaler Grundlage; die entstehende neuzeitliche
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Geldwirtschaft bleibt ihm fremd. Seine G r u n d h a l t u n g ist im Grundzug antikapitalistisch und antimonetaristisch. Ein Beispiel dafür ist seine Kritik an den M o n o p o l e n (WA 15,365,19; 312,1). Die Handelsgesellschaften, f ü r die als Symbol die Fugger stehen, sind ihm verdächtig. Gegen die freie Preisbildung auf dem M a r k t setzt er den Leitsatz: „Ich mag meyne w a h r so theur geben, als ich soll odder alls recht und billich ist" (WA 15,295,21 f). Kapitaleinsatz nach Rentabilitätserwägungen ist f ü r ihn also unsittlich (anders als später f ü r Calvin). Die einzelnen wirtschaftlichen Urteile Luthers sind durch den Anschauungshorizont der bäuerlichen, handwerklichen und kleinstädtischen Lebenswelt, wie er sie alltäglich vor Augen hatte, begrenzt. Es ist deshalb zweifelhaft, ob er zu Recht als der „älteste deutsche Nationalö k o n o m " (Karl M a r x , Grundrisse der Gesch. der politischen Ö k o n o m i e , 1953, 891) bezeichnet werden darf. Unbestreitbar ist freilich ein Gespür f ü r soziale Folgen und ethische Implikationen der Geldwirtschaft (vgl. Eiert 11,479). Wie Th. —»Morus und T h o m a s Campanella (1568—1639) in ihren Utopien ist Luthers ökonomisches Denken an der Naturalwirtschaft ausgerichtet. Er zieht freilich nicht die Folgerung einer Utopie der geldlosen und sozialistischen Gesellschaft. In seinem Geldverständnis sieht Luther im Geld ausschließlich ein Tauschmittel, wohingegen das Geld als produktives Kapital, als „ W e r t a u f b e w a h r u n g s m i t t e l " von ihm nicht bedacht wurde. Von daher erklärt sich seine Ablehnung des Zinses als Wucher, freilich bei Zulassung eines „ N o t w ü c h e r leins" (WA 51,371 f) f ü r die, welche von den Zinsen leben müssen, sowie die Nichtberücksichtigung des Gewinns, des „Profits" als ökonomischem Faktor in seiner Wirtschaftsethik. 2.1.7.2. Ph. —>Melanchthon hat bei sozialethischen Fragen auf die Geltung des Römischen Rechts verwiesen und damit die Geldwirtschaft faktisch aus der Zuständigkeit der theologischen Ethik entlassen. Er betont folgerichtig schärfer die Rechtsnatur der Wirtschaftsvorgänge. Anders als Luther läßt Melanchthon uneingeschränkt eine Kapitalbeteiligung an Handelsgeschäften gegen Gewinnbeteiligung zu. Es fehlt auch bei ihm die Polemik Luthers gegen Handelsgesellschaften und Monopole. Eine letzte Sicherung stellt die Verpflichtung auf das salus publica, das Gemeinwohl dar (—»Gemeinnutz/Gemeinwohl) (CR 8,84ff. 6 4 3 f f . 6 4 8 f ; l l , 6 3 6 f f . 9 1 3 f . 129ff. 687; 14,624ff; 16,128. 249.428. 4 9 5 f f . 575.589; Eiert 11,487). Das Luthertum hat um 1600 die prinzipielle Absage an das Zinsnehmen unauffällig korrigiert und der entstehenden Geldwirtschaft Rechnung getragen: „ J o h a n n Gerhard spricht mit dürren Worten aus, was bei H u n n i u s zwischen den Zeilen steht: die naturrechtliche Bek ä m p f u n g der Zinswirtschaft mit jenem Satz des Aristoteles ist unhaltbar. M a n muß, sagt er, unterscheiden zwischen dem Gelde an und für sich und seinem Gebrauch im Handel. Außer Gebrauch ist es allerdings u n f r u c h t b a r , aber durch Gebrauch in der bürgerlichen Gesellschaft kann es äußerst reiche Frucht tragen" (Eiert II, 489; vgl. J. Gerhard, Loci XIV, 118). 2.1.7.3. U. —>Zwingli hat in Zürich einen engen Z u s a m m e n h a n g zwischen dem Kampf u m „gots w o r t " gegen das „geytzwort" gesehen: „Es ist ye in gevär und trübsal nichts trostlichers dan gottis w o r t , und herviderum nichts verfuererischer dan das geytzwort; dan dys sieht allein uff sinen nutz und lasst u m b deswillen alle ding u n d e r g o n " (CR 92,425,3 ff). Bei Zwingli findet sich demgemäß eine heftige Polemik gegen den Wucher (CR 8 9 , 4 8 9 , 2 2 f f ; 4 9 0 , 2 1 f f ; 5 1 5 , 1 9 f f ) . Gegen die M e h r u n g des Eigentums der Eidgenossen durch Pensionen, Soldgelder und Beute auf Kriegszügen der Söldner hebt Zwingli den Nutzen der —> Arbeit hervor. 2.1.7.4. Job. —>Calvin ist unter den Reformatoren derjenige, der am meisten Verständnis für das entstehende moderne Geldwesen hat, wenngleich die Theorien über den Zusammenhang zwischen der Entstehung des Kapitalismus und dem Calvinismus als überholt gelten können (vgl. T R E 7,590,11 ff). Aber er hat keine grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber dem Zinsgeschäft u n d dem Beruf des Bankiers oder des K a u f m a n n s (vgl. CR 4 8 , 2 4 4 - 2 4 9 = O p e r a selecta, ed. P. Barth/W. Niesei, I I 2 1 9 7 0 , 3 9 1 - 3 9 6 ; Bieler 4 5 3 - 4 7 6 ) . Nicht die personalethischen oder sozialethischen Aspekte des Geldes, sondern seine ekklesiologische Be-
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deutung stehen im Mittelpunkt der Überlegungen Calvins: Ein Christ wird alles, was er erwirbt, zum gemeinen Nutzen der Mitchristen, der Gemeinde anwenden. Nach der Liebesregel muß der private Nutzen nicht bloß mit dem Streben nach dem Wohl der andern verbunden, sondern diesem untergeordnet werden (Inst. 111,7,5). Der Gedanke der Haushalterschaft (oeconomia) ist leitend: Nicht der Gelderwerb und das Gewinnstreben als solche sind fragwürdig. Fragwürdig kann der Gebrauch sein, den man von seinem Besitz und Vermögen macht. Die Stellung der calvinistischen Gemeinden und Theologie war daher gegenüber der im 16. Jh. beginnenden Geldwirtschaft offener und aufgeschlossener als im Luthertum, auch wenn die Pflicht zur Nächstenliebe und zur Unterstützung der Gemeinde, vor allem der —»Armenfürsorge, dem Streben nach Gewinn übergeordnet bleibt (vgl. dazu Holl, GAufs. 111,385-403). Die moderne Auffassung vom Gelderwerb als Selbstzweck ist Calvin und dem Calvinismus wegen der ekklesiologischen Einordnung des Besitzes fremd geblieben. Calvin erkannte freilich anders als Luther die Bedeutung der Verzinsung von Investitionen für die wirtschaftliche Entwicklung und damit das Recht wirtschaftlichen Gewinns (vgl. Bieler 458). Er steht damit an einem Wendepunkt des ökonomischen Denkens wie der wirtschaftlichen Entwicklung. 2.2. Neuzeit 2.2.1. Geldwirtschaft und Geldtheorie in ökonomischer Sicht. Geldwirtschaft und Geldtheorie verändern sich in der Neuzeit. Dies hat unterschiedliche Ursachen. Die —»Wirtschaft verselbständigt sich — wie andere Lebensgebiete. Das ökonomische Interesse folgt seiner „Eigengesetzlichkeit". Geld und Wirtschaft sind kein Thema der Theologie mehr. Die „Eigengesetzlichkeit" des Lebensgebietes „Wirtschaft" führt zur Herausbildung einer selbständigen Volkswirtschaftslehre. Kirche und Religion verlieren zudem ihren Einfluß auf die Wirtschaftsentwicklung, verstärkt seit der Aufklärung. —»Kapitalismus und —»Sozialismus als Geisteshaltungen und Wirtschaftssysteme emanzipieren sich von der religiösen Wurzel. Die —»Säkularisierung im Sinne einer ausschließlichen Orientierung an diesseitigen Zwekken löst die Geldwirtschaft und ihr folgend die Geldtheorie, oft unmerklich, aus der Beurteilung der Ethik, der Theologie heraus. Die Ausweitung des Welthandels infolge der Entdekkung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien und die Einfuhr von Edelmetallen führen zu einem Anwachsen des Geldverkehrs (und zur Preissteigerung). Der Kameralismus oder Merkantilismus im 17./18. Jh. führt zur Ausdehnung der wirtschaftlichen Staatstätigkeit. Der Begriff „Merkantilismus" stammt von den Kritikern staatlicher Wirtschaftspolitik (F. Quesnay, A. Smith). Der Merkantilismus strebte die Mehrung des Vermögens des Nationalstaates an und richtete das Augenmerk auf den fürstlichen Finanzbedarf. Nicht der Unternehmer, sondern der absolutistische Herrscher ist Träger der Wirtschaft. Die darauf folgende Wirtschaftstheorie und -praxis des —»Liberalismus, welche die Wirtschaft dem freien Spiel der Kräfte des Marktes anvertraute, gab dem Geld als Wirtschaftsfaktor verstärktes Gewicht. Eine Ausdehnung der Kredit- und Geldgeschäfte ist die Folge des Übergangs von der Bedarfdeckungswirtschaft zur angebotsorientierten Produktion von Wirtschaftsgütern und zur Vorfinanzierung von Investitionen. Dies führt zu einer völligen Neubewertung des Zinses: Das kanonische Zinsverbot erscheint der Aufklärung als Zeichen des dunklen Mittelalters, des Aberglaubens. Die wirtschaftliche Dynamik hat auch geistige Ursachen: Die Loslösung der Wirtschaft aus religiösen und sittlichen Bindungen bedingt eine Überschätzung des Geldes als Symbol und Repräsentanten aller irdischen Güter. Parallel zu dieser Entwicklung der Bewertung des Geldes verläuft der Übergang von stoffwertbedingter zu funktionsbedingter Geldsubstanz. Die Gold- und Silbermünzen werden durch Papiergeld (Banknoten) und Buchgeld (Giralgeld) ersetzt. Die A u s w a h l von K. Diehl/P. M o m b e r t d o k u m e n t i e r t klassische Texte der Geldtheorie: D. —»Hume vertritt in seiner A b h a n d l u n g Ofmoney (1742) die auf Jean Bodin zurückgehende Q u a n t i t ä t s theorie des Geldes: Die Geldmenge bestimmt die W a r e n m e n g e ; freilich gilt dies nur f ü r die u m l a u f e n d e , nicht für die v o r h a n d e n e , gehortete Geldmenge. „Geld ist kein eigentlicher Handelsgegenstand; es ist vielmehr n u r das Mittel, das n a c h U b e r e i n k u n f t der Menschen zur Erleichterung des Umtausches einer
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Ware gegen eine andere dient. Es ist kein Rad im Handelsverkehr; es ist nur das ö l , welches den Umlauf der Räder leichter und geschmeidiger macht" (48). Hume meint, „daß Geld nur die Stelle von Arbeit und Waren vertritt und nur das Mittel ist, sie zu zählen und einzuschätzen" (51). (Auch für —»Kant ist Geld keine Ware, sondern „repräsentiert" nur alle Ware; Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 31,1. Was ist Geld?, ed. Weischedel, I V , 4 0 0 - 4 0 4 . ) Von diesem Verständnis des Geldes als Tauschmittel ausgehend, gelangt Hume zur quantitätstheoretischen Auffassung: „Preisbestimmend ist das Verhältnis zwischen dem im Umlauf befindlichen Gelde und den Waren, die auf den Markt kommen" (49). Die Aufgabe staatlicher Politik besteht nur darin, „es, wenn irgend möglich, so einzurichten, daß die Geldmenge in steter Zunahme begriffen ist, denn hierdurch wird im Volke der Geist der Betriebsamkeit rege erhalten, der Vorrat an Arbeit vergrößert, und hierin allein liegt alle wahre Macht und aller wahrer Reichtum" (54). Adam Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) begründete in seinem Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth ofNations (1776 5 1789) die klassische Theorie des—»Liberalismus: Die Arbeitsteilung fördert die Produktivität. Der Preismechanismus steuert den gesamten Prozeß der Produktion, der Verteilung und Kapitalbildung in einer Markt- und Wettbewerbswirtschaft. Das Geld hat seine Funktion als haltbares Tauschmittel. David Ricardo (1772—1823) befaßte sich in seinem Hauptwerk Principles of Political Economy and Taxation (1817) anders als A. Smith nicht mit dem Wohlstandsproblem, sondern mit dem Wertund Verteilungsproblem. Die Arbeitswerttheorie ist die Grundlage seiner Produktionstheorie. Von den ökonomischen Anschauungen Ricardos, vor allem seiner Arbeitswertlehre, geht Marx aus (vor allem in seiner Theorie vom „Mehrwert", durch den Kapital gebildet wird). Mit Ricardo beginnt eine methodologisch streng rational vorgehende und abstrakt-deduktiv denkende ökonomische Theorie. Aus der neuesten Zeit seien noch erwähnt die Werke von John Maynard Keynes (1883—1946): A Treatise on Money (1930); General Theory of Employment, Interest and Money (1936). Keynes empfiehlt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein staatliches Investitionsprogramm und fordert öffentliche Arbeitsbeschaffung. Der Keynesianismus erschütterte die seit Adam Smith in der Nationalökonomie vorherrschende Überzeugung, daß das freie Spiel der Kräfte des Marktes die optimale Koordination der Wirtschaftsentwicklung garantiere; zur Verhinderung einer Beschäftigungskrise, aber auch zur Bekämpfung der Inflation hat nach Keynes der Staat die Instrumente der Wirtschafts-, Geld- und Finanzpolitik einzusetzen. Der richtige Einsatz der Geld- und Finanzpolitik seitens des Staates ist freilich zwischen Keynesianerr. und Monetaristen umstritten. Die Monetärsten wollen zu einer liberalen Laissez-faire-Wirtschaft zurückkehren und auf ein Gegensteuern des Staates verzichten. Der Staat hat nicht kurzfristig Beschäftigung zu schaffen, sondern lediglich langfristig die Geldwertstabilität zu sichern. Damit stellt sich freilich die Frage, inwieweit eine staatliche Geldpolitik gesellschaftlich sich durchsetzen läßt und ob deren soziale Folgen akzeptabel sind (Unterbeschäftigung, Zusammenbrüche von Wirtschaftsunternehmen infolge der staatlichen Kredit- und Zinspolitik). Die staatliche Verantwortung für den Einfluß des Geldes auf die Gesellschaftsordnung wird damit erneut zum sozialethischen Thema. 2.2.2. K. —>Marx und der Marxismus. In der Zentralverwaltungswirtschaft k o m m t dem Geld eine andere Funktion zu als in der Marktwirtschaft. Geld- und Kreditpolitik spielen in der Planwirtschaft nicht die zentrale Rolle, weil direkte Eingriffe und Kontrolle der Behörden eigene finanz- und geldpolitische Maßnahmen ersetzen und überflüssig machen können. Die Gewinnerwartung hat in der Zentralverwaltungswirtschaft auch nicht die steuernde Funktion wie in der Marktwirtschaft. Hier zeigt sich die Abhängigkeit des Geldes von dem wirtschaftlichen Gesamtsystem. M a r x selbst hat in seiner ökonomischen Theorie zu den Problemen der Knappheit und Ressourcenallokation nichts gesagt. Das ist begründet in seiner These von der Abschaffung des Geldes im Sozialismus: „ D a s Geldkapital fällt bei gesellschaftlicher Produktion fort. Die Gesellschaft verteilt Arbeitskraft und Produktionsmittel in die verschiedenen Geschäftszweige. Die Produzenten mögen meinetwegen papierne Anweisungen erhalten, wofür sie den gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihr entsprechendes Q u a n t u m entziehen. Diese Anweisungen sind kein Geld. Sie zirkulieren nicht" ( M E W 2 4 , 3 5 8 ) . Das Ziel von M a r x ist die geldlose Gesellschaft. Darin folgt ihm Lenin. „ W e n n wir dereinst im Weltmaßstab gesiegt haben, dann werden wir, glaube ich, in den Straßen einiger der größten Städte der Welt öffentliche Bedürfnisanstalten aus Gold bauen" (Werke, Berlin, X X X I I I 1 9 6 6 , 9 4 ) . Lenin meint freilich, solange es noch einen Kapitalismus neben dem Sozialismus gebe, müßte man „mit den Wölfen heulen" und „mit dem Gold sparsam umgehen, um es möglichst teuer zu verkaufen und möglichst billig W a r e n dafür einzukaufen". M i t dem Wegfall des Unterschieds von Tauschwert und Gebrauchswert beim W a r e n t a u s c h in
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der kommunistischen Gesellschaft wird das Geld entbehrlich. Marx' Interesse gilt der Distribution der Güter, nicht der Produktion von Waren. „Der Austauschprozeß gibt den Waren, die er in Geld verwandelt, nicht ihren Wert, sondern ihre spezifische Wertform" (MEW 23,105). Daher wird das Geld in seiner Funktion als Wertmesser und sogar als Zahlungsmittel — an dessen Stelle tritt die Zuteilung, der „Bezugsschein" - bedeutungslos. Die Bolschewiki verachten, wie Marx, das Geld und seine Bedeutung für die „Geheimnisse" der Ressourcenallokation: V.l. Lenin meint zum Problem kommunistischer Wirtschaftsführung: „Die Rechnungsführung und Kontrolle darüber ist durch den Kapitalismus bis zum äußersten vereinfacht, in außergewöhnlich einfache Operation verwandelt worden, die zu verrichten jeder des Lesens und Schreibens Kundige imstande ist, er braucht nur zu beaufsichtigen und zu notieren, es genügt, daß er die vier Grundrechnungsarten beherrscht und entsprechende Quittungen ausstellen kann" (ebd. XXV,488). Die ökonomische Praxis mit ihrem wirtschaftlichen Mangel ließ freilich bis heute weder einen Verzicht auf die Geldund Finanzpolitik noch eine grundsätzliche Abschaffung des Marktes zu. Auf die Frage, warum ein sozialistischer Staat überhaupt Geld braucht, gibt es keine überzeugende theoretische Antwort von der marxistischen politischen Ökonomie her. Marx geht in der Kritik des Gothaer Programms zu Recht auf die Gleichheit der Verteilung ein. „Das Recht (darauf) kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft" (MEW 19,21). Es besteht eine Abhängigkeit der Distribution vom Arbeitswert und der außerordentlich strittigen Mehrwertstheorie von Marx. Denn solange kein völliger Überfluß besteht und der Gegensatz von körperlicher und geistiger Arbeit nicht völlig überwunden ist, gilt als Grundsatz der Verteilung: „Jedem nach seiner Leistung" (nicht: „Jedem nach seinem Bedürfnis"). Geld behält also — entgegen der Theorie — faktisch die Funktion eines Maßstabes als Wertmesser und Tauschmittel. Der Geldlohn bleibt so erhalten; es erfolgt nicht einfach eine Güterdistribution. Die ökonomische Theorie des Marxismus hat sich freilich — aus ideologischen Gründen — lange geweigert, den Geldpreis als Richtschnur für eine rationelle Resourcenallokation gelten zu lassen. Die ökonomischen Probleme des Marktes und der Preisbildung sowie die Schwierigkeit der Durchführbarkeit des Planes in der Zentralverwaltungswirtschaft spiegeln sich in der Unsicherheit der Bewertung des Geldes. Der junge Marx bekämpft als Fortsetzer einer antiken Geldfeindlichkeit (Antichrematismus) das Geld als solches, wohingegen der Marx des Kapital eine eher distanzierte, wertneutrale Sicht einnimmt. In seinen Frühschriften verwirft Marx freilich nicht aus Gründen der Staatsräson, sondern aufgrund seiner Anthropologie das Geld: „Was auch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h. was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst". Das Geld ist der „wirkliche Geist aller Dinge", „das wahre Bindungsmittel, die galvanochemische Kraft der Gesellschaft". „Es ist die sichtbare Gottheit, die Verwandlung aller menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil, die allgemeine Verwechslung und Verkennung der Dinge; es verbrüdert Unmöglichkeiten" (MEW Erg. bd. I,1968,564f = Frühschr. ed. S. Landshut, 1953,298 f). Das Geld als Tauschmittel bewirkt in der Warengesellschaft, unter den Verhältnissen der Entfremdung, „die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten" (Frühschr. 301, vgl. 4 7 6 - 4 8 1 ) . Für den jungen Marx ist Geld das Symbol der -^Entfremdung. 2.2.3. Soziologie des Geldes. Eine umfassende, weitausgreifende Philosophie des Geldes hat G. Simmel ( 1 8 5 8 - 1 9 1 8 ) veröffentlicht. Er untersucht das Geld unter kulturphilosophischer Perspektive. Die Analyse des Geldes dient ihm als „Mittel, Material oder Beispiel für die Darstellung der Beziehungen, die zwischen den äußerlichsten, realistischsten, zufälligsten Erscheinungen und den ideellsten Potenzen des Daseins, den tiefsten Strömungen des Einzellebens und der Geschichte bestehen" (VII). Grundgedanke ist hier die Relationalität, Wechselwirkung alles Seienden: „Dies ist die philosophische Bedeutung des Geldes: daß es
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innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse . . . ihr Sein und Sosein a u s m a c h t " (98). Ausgangspunkt ist der Gedanke der Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren Personen. Von diesem „ Z w i s c h e n " sind überpersönliche Gebilde, geistige Gebilde sowie das Geld (in seiner Funktion als Tauschmittel) abzuleiten. Sie haben nicht die Unmittelbarkeit personaler Beziehungen, sondern sind „substanzbezogene Sozialfunktionen" (159f). „Relationalität" ist also ein das gesamte Sein tragendes Prinzip, das bei Simmel in gewisser Weise ein säkular gewendeter Pantheismus ist. Insofern die Dinge ihren Wert gegenseitig bestimmen und das Geld dieser Wechselseitigkeit Ausdruck verleiht, tritt Simmel f ü r ein liberales Wirtschaftsverständnis, f ü r die Selbstregulierung des Marktes ein (vgl. 3 0 f ) . Vorstellungen des Sozialismus benutzt Simmel in diesem Buch nicht; er formuliert im Gedanken des „individuellen Gesetzes" freilich eine Gegenposition zum Marxismus. Simmel will b e w u ß t „dem historischen Materialismus ein Stockwerk" unterbauen und das wirtschaftliche Leben „in die Ursachen der geistigen Kult u r " einbeziehen (VIII). Das Wesen des Geldes ist aus den Bedingungen und Verhältnissen des allgemeinen Lebens zu verstehen, aus dem Lebensgefühl der Individuen und der allgemeinen Kultur. Das Geld h a t positive und negative Auswirkungen auf das menschliche Z u sammenleben: Es ermöglicht einerseits eine großräumige Organisation des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens; andererseits bewirkt es jedoch Entfremdung im zwischenmenschlichen Bereich, im arbeitsteiligen Produktionsprozeß u . a . Eine kulturphilosophisch und ethisch bedenkliche Entwicklung findet sich im Z u s a m m e n h a n g des vom Geld geprägten technisierten Lebens: Der objektive Geist - der die geistigen, wirtschaftlichen, technischen Errungenschaften der Menschen in sich a u f g e n o m m e n h a t — und der subjektive Geist des Menschen geraten in eine Diastase. Der objektive Geist entwickelt eine Eigengesetzlichkeit, die vom subjektiven Geist nicht mehr nachvollzogen und bewältigt werden kann (vgl. 4 8 0 f f : „ D e r Stil des Lebens"). Die „Charakterlosigkeit des Geldes" (483), seine „innere Inadäquatheit" für personale Beziehungen und Werte und die Ausdehnung der Geldwirtschaft bringen eine Verdinglichung der Person hervor. Mit der „Eigengesetzlichkeit" des Geldes hat sich schon C. A. Helvetius 1772 auseinandergesetzt. Helvetius zielt auf die Errichtung h u m a n e r Lebensverhältnisse durch vernünftige Gesetzgebung und rät zur Institutionalisierung eines freien Marktes. Dieser kann freilich seine Funktion nur erfüllen, wenn die Äquivalente von freien und rechtlich gleichen Subjekten getauscht werden. Helvetius w a n d t e sich gegen Reichtum und Verschwendung in den H ä n d e n feudaler Herrschaft. Nicht Luxus an sich ist verwerflich, wohl aber Luxus in den H ä n d e n einiger weniger Herrschender, also die ungleiche Verteilung des Reichtums. Simmeis großangelegter Versuch einer soziologischen Deutung des Geldes h a t wenig wissenschaftliche Nachfolger gefunden (z. B. Heinemann). Denn eine soziologische Betrachtung nötigt dazu, Geldverständnis und Geldtheorie auf die Gesellschaftsform zu beziehen. Dabei stellen sich Fragen der,,Eigengesetzlichkeit" von Geld und Gesellschaft, der Verteilung von Gütern, wenn „Geld Symbol aller Tauschmöglichkeiten, Sublimat des sozial Geltenden" (Heinemann 149) ist. Der Effekt der Geldwirtschaft ist eine Entpersönlichung und Versachlichung der Leistungsbeziehungen. „Insofern ist also Geld nicht n u r Symbol der Gesellschaftsordnung, sondern der Denkweisen und Geisteshaltungen der M e n s c h e n " (Heinemann 150). G. Simmeis schwer zugängliches Werk hat gerade diesen Sachverhalt erstmals umfassend herausgestellt. Auch populäre Literatur h a t die Thematik des Geldes erörtert (vgl. F. Buchholz). Psychologische Überlegungen haben z. B. A. Wagner und G. Schmölders vorgelegt, w ä h r e n d eine breitere psychoanalytische Diskussion vor allem von S. —»Freuds Aufsatz Charakter und Analerotik (1908) ausging. 2.2.4. Theologische Sicht. Mit der Entwicklung des Geldwesens in der Neuzeit verzichtete die Theologie - von Ausnahmen abgesehen (z. B. F. Schleiermacher als Vertreter einer
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umfassenden Kulturtheorie) — immer mehr auf eine Erörterung dieser Thematik, soweit sie nicht den persönlichen Umgang des Christen mit Geld, also den personalethischen Aspekt betraf. Ein Beispiel personalethischer Überlegungen ist J. -^Wesleys Predigt Über den rechten Gebrauch des Geldes. Die Existenz des Geldes ist für Wesley ein „bewundernswerter Beweis der weisen und gnädigen Vorsehung Gottes". Es kommt darum auf den richtigen Gebrauch, die „Haushalterschaft" des Christen beim Umgang mit Geld an. Dafür gibt Wesley drei Regeln: „1. Erwirb, soviel du kannst; 2. Spare, soviel du kannst (also: verschwende nichts); 3. Gib, soviel du kannst." Wesleys puritanisches Ethos dient heute dazu, innerhalb der christlichen Gemeinde die Verantwortung für die richtige Nutzung des Geldes unter Christen bewußt zu machen (vgl. W. Grün, der die freiwillige Gabe des Zehnten in der —»Freikirche nachdrücklich empfiehlt, zur Sparsamkeit und zum Verzicht auf Luxus aufruft, aber vor Gesetzlichkeit im Geldgebrauch warnt). G. Uhlhorns Vortrag befaßt sich vor allem mit dem kanonischen Zinsverbot und der Verwerfung des Wuchers und wendet sich dann der sozialen Frage zu, welche im Gefolge der Industrialisierung und des Kapitalismus entstanden ist, wobei er betont: „und es ist keine gründliche wirtschaftliche Besserung möglich ohne sittliche Besserung" (38). Bei F. D. E. —>Schleiermacher finden sich Andeutungen zur Trennung des Produktes und der Person mithilfe des Geldes und zur Ermöglichung des Tausches als Voraussetzung der Kultur: „Daher (ist), wo noch kein wahres Geld existiert, die Kultur auch gewiß noch in ihrer Kindheit" (38). Die Beachtung des Geldes bei Schleiermacher ist dadurch bedingt, daß er Ethik als umfassende Kulturtheorie versteht. 3. Sozialethische
Überlegungen
Erst in jüngster Zeit hat das Thema Geld erneut die Aufmerksamkeit der Ethik gefunden. S. Wendt hat mehrfach auf die sozialen und politischen Voraussetzungen der Geldwertstabilität und auf den Einfluß des Geldes auf das Ethos des Wirtschaftens hingewiesen. F. Delekat hat das Geld ontologisch als Schicksalsmacht bestimmt und gefordert: „Das ontologische Problem des Geldes muß sogar dem ethischen vorgeordnet werden" (5). Es geht ihm um eine Entmachtung der Schicksalsmacht Geld durch den Glauben an Jesus Christus. Die Frage, inwieweit ein christologischer Ansatz der Sozialethik Zugang zum Phänomen Geld findet, muß freilich offen bleiben. W.F. Kasch hat die Forderung von Delekat aufgenommen, wendet sich aber gegen dessen eschatologische Negation des Geldes. Er nennt die Beziehung zwischen Geld und Glaube „defizitär" und postuliert den christlichen Glauben als ontologische Voraussetzung eines Vertrauens in die Stabilität des Geldes. Die Krise in der Beziehung von Geld und Glaube ist eine wesentliche Ursache, nach Kasch wohl: die wesentliche Ursache der derzeitigen mangelnden Stabilität der Geldordnung. W. Weber weist gegen eine verbreitete Geldkritik — nicht nur in der Kapitalismuskritik — auf die Unersetzbarkeit des Geldes für die Wirtschaft hin. Angesichts der „Wohlstandsfalle" (Geld, Glaube, Gesellschaft 32 ff), die zunehmend Dienstleistungen und soziale Ansprüche nicht mehr finanzierbar werden läßt, plädiert er für eine „Entmonetarisierung der Gesellschaft" (34), eine „Eindämmung der Geldwirtschaft" (35). Dabei geht es nach ihm nicht um eine grundsätzliche Abschaffung des Geldes, wohl aber darum, daß soziale Dienste nicht mehr mit Geld abgegolten werden sollen, sondern auf Gegenseitigkeit, auf Nichtlohnbasis geleistet werden. Die Verteilungsfrage soll also teilweise vom Geld gelöst werden. Man wird angesichts aller derartigen Überlegungen in der Ethik daran festhalten müssen, daß Geld eine zeitbedingte Kategorie ist. Geld ist Mittel, nicht Selbstzweck. Das begrenzt jede ontologische Interpretation. Kriterium der Wertung von Geld kann lediglich die Systemadaequatheit, die Gestaltrichtigkeit sein. Geld ist Symptom für eine Gesellschaftsstruktur. Überdies kann es keine spezifisch christliche Geldtheorie geben, weil Geld keine Erfindung der Christen ist. Das schließt nicht aus, daß es eine christliche Verantwortung für das Geld auch in sozialethischer Hinsicht gibt. Dabei muß man sich freilich der beschränkten erkenntnistheoretischen und begrifflichen Möglichkeiten bewußt sein. Ein Nationalökonom warnt: „Was Geld ist, weiß jedermann, nur nicht der Nationalökonom; zwar kann
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auch er das Geld beschreiben, vielleicht im Rahmen eines längeren Kapitels, aber niemals kann er es in festen Umrissen definieren" (A.H. Quiggin, zit. bei Günter Schmölders, Geldpolitik, 1968,9). Unter Beachtung dieses Vorbehalts kann man verschiedene Fragestellungen und Aufgaben n a m h a f t machen. 3.1. Inflation und Währungsstabilität. In den Mittelpunkt der sozialethischen Überlegungen zum Geld rückte in der neueren Diskussion die Frage der Inflation und der Geldwertstabilität. Die Ursachen von Inflationen sind freilich unterschiedlicher und mannigfacher Art. Daher kann es eine absolute Inflationserklärung nicht geben, solange die Welt sich ändert. M i t Inflation und fehlender Geldwertstabilität befassen sich z.B. W. Weber (Geldwert) und F. Beutter. Dabei können diese katholischen Vertreter der Gesellschaftslehre zurückgreifen auf die mittelalterliche Kritik an der Münzverschlechterung. N a c h Uberzeugung von Ethikern sind Inflationen nicht gottgewollt oder Folgen von Naturgesetzen. Sie sind vielmehr das Ergebnis von menschlichen Handlungen und lassen sich durch menschliches Handeln verhindern. „Inflation ist Diebstahl" (L. A. H a h n , zit. bei Beutter 91). Geldentwertung verstößt gegen die —»Gerechtigkeit. Sie ist Eingriff in das —»Eigentum. Da die O r d n u n g des Geldwesens Teil des Gemeinwohls ist, verstößt Inflation auch gegen das Gemeinwohl: Der Preismechanismus versagt; das betriebliche Rechnungswesen kann frühere Wertansätze nicht übernehmen, weil die Vergleichbarkeit fehlt. Einigkeit besteht also im Blick auf die sittliche Wertung der Inflation und die moralischen Folgen der Geldentwertung, die u. a. zu einer „Inflation der Kriminalität" als Folgeerscheinung dieses monetären Geschehens führen kann. Strittig ist, welches die Ursachen der Inflation sind. Es gibt ökonomische Erklärungen (Uberschußnachfrage nach Gütern u n d Diensten, Kostendruck, Geldmengenwachstum) und gesellschaftliche Inflationstheorien. Alternativ werden auch marktorientierte und angebotsorientierte Deutungen angeboten. Gelegentlich hält man auch Geldentwertung f ü r eine leider unvermeidliche Nebenfolge des Wirtschaftswachstums. Umstritten ist ferner der Z u s a m m e n h a n g von Inflation und Arbeitslosigkeit. Da eine instabile W ä h r u n g sowohl Verteilungswirkungen hat wie wirtschaftliche Unsicherheit schafft und infolgedessen mangelnde oder falsche Investitionen hervorrufen kann, ist sie zurecht sowohl in den Vordergrund der sozialethischen Diskussion des Geldes gerückt als auch Gegenstand zahlreicher, z . T . widersprüchlicher gesellschaftlicher und ökonomischer Vorschläge zur B e k ä m p f u n g von Inflation geworden. Insbesondere die Wurzeln der sog. schleichenden Inflation konnten bislang mit den traditionellen Instrumenten der Wirtschaftspolitik nicht erfaßt werden. Hier zeigen sich auch Z u s a m m e n h ä n g e zwischen Geld und Gesellschaft, die es notwendig machen, Geld als „soziale Erscheinung" und als eine „ S c h ö p f u n g sozialen H a n d e l n s " (Gerloff 13) zu begreifen. 3.2. Geld und —>Gesellschaft. W. Gerloff (7) hat seinem Buch das M o t t o vorangestellt: „ W e r weiß, wie die Menschen zum Geld stehen, der weiß, wie es um ihre Seele steht. Das gilt nicht nur von den einzelnen, sondern auch von den Gesellschaftsklassen und von ganzen Zeitaltern und Völkern". Die Bewertung und Nutzung des Geldes ist auch eine Frage des Lebensstils. Der Besitz von Geld verschafft Prestige, eröffnet Konsummöglichkeiten. Demonstrativer Konsum kann symbolisch Prestigegewinn anstreben. Von F . M . —»Dostojewski stammt der Satz: „Geld ist geprägte Freiheit". Geld sei „ d a r u m für einen seiner Freiheit beraubten Menschen zunehmend so wertvoll" (F. M . Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem toten H a u s , Berlin 1979,499). Das Geld macht unabhängig von Gefälligkeiten: „ D a s Geld kennt kein Ansehen der Person, es leidet nicht an Launen, es hat keine Zeiten, w o es minder zugänglich wäre, es kennt keine Grenze, bei der seine Bereitwilligkeit endete. Der Egoismus hat das lebhafteste Interesse daran - Jedem zu jeder Zeit — in jeder Ausdehnung zu Diensten stehen; je mehr man ihm zumutet, um desto mehr leistet er, je mehr man von ihm begehrt, desto williger wird er. Es gäbe keinen unerträglicheren Zustand, als wenn wir alles, was wir nötig haben, von der Gefälligkeit erwarten müßten, es wäre das Los des Bettlers. Unsere persönliche Freiheit und Unabhängigkeit beruht darauf, d a ß wir zahlen können und müssen - im Geld steckt nicht bloß unsere ökonomische, sondern auch unsere moralische
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Unabhängigkeit" (R. v. Ihering, Der Zweck im Recht, 1 8 7 7 , 1 2 8 ) . Freilich hat solche Befreiung zur Kehrseite eine neue Bindung, nämlich die Bindung an das Geld. Vor Erich Fromm h a t G. Simmel (342) festgestellt, „ d a ß das Geld H a b e n und Sein gegeneinander verselbständigt". Das Geld, das Freiheit der Wahl verschafft, bewirkt zugleich, „ d a ß der Austausch von Besitz und Leistungen gegen Geld das Leben entpersonalisiert" (Simmel 453). M a n spricht deshalb von der auf Geld gegründeten Gesellschaft, der „kapitalistischen" Gesellschaft als „Warengesellschaft", von der „Verdinglichung" der personalen Beziehungen infolge des Geldes. Die Bestrebungen zur „Entmonetarisierung der Gesellschaft" beziehen hieraus einen starken Antrieb (neben den Grenzen finanzieller Belastbarkeit). Freilich wäre der Preis f ü r die Abschaffung des Geldes als Mittel der Freiheit, als jederzeit einsetzbarer, ungebundener Verfügungsmacht, der Verzicht auf Wahlmöglichkeiten und auf eine Dynamisierung und Integration der Gesellschaft mit Hilfe des Geldes. Ambivalent ist das Geld nicht n u r im Blick auf die Freiheit, sondern auch im Blick auf -^Gerechtigkeit. „Zweierlei ist nicht möglich ohne das Geld: Volkswohlstand u n d soziale Gerechtigkeit. Zweierlei ist durch nichts mehr gefährdet als durch das Geld: Volkswohlstand und soziale Gerechtigkeit" (Gerloff 275). Die Debatten um gerechten Zins, gerechten Preis, gerechten Lohn sind d a f ü r beispielhaft. Mit Geld hängen Verteilungsprobleme zusammen, so Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung. Die Deutung des Geldes als „Mittel sozialer Verständigung und sozialen H a n d e l n s " (Gerloff 14) überschreitet folglich die rein wirtschaftliche Fragestellung. 3.3. Geld und —> Wirtschaft. M a n kann sich die neuzeitliche Wirtschaft nicht ohne das Geld vorstellen. Der „Geldschleier" kann nicht von der Wirtschaft weggenommen werden, so d a ß man dann erkennen könnte, wie Wirtschaft „eigentlich" funktioniert. Der „Geldschleier" ist vielmehr in H a u t und Körper der Wirtschaft eingewachsen (so C. Brinkmann, zit. bei Wendt, Einfluß 255). „Neuzeitliches Wirtschaften ist ohne Geld ü b e r h a u p t nicht d e n k b a r " (ebd.). A d a m Smith sagt, die menschliche N a t u r neige dazu, zu tauschen, „ t o truck, to barter and exchange one thing for a n o t h e r " (1. Buch, Kap. 2). O h n e Geld als Tauschmittel gibt es keine Marktwirtschaft. Für Smith ist Geld „das große Schwungrad im Wirtschaftskreislauf und das wichtigste Hilfsmittel im H a n d e l " (240). Rentabilitätsbewußtes Wirtschaften, aber auch der Leistungslohn werden in Zahlen ausgedrückt. Der M a r k t wirkt als „finanzieller Sanktionsmechanismus", „der ohne zentrale Führung, d . h . ohne hierarchische Strukturen und ohne Anweisungsbefugnisse und Gehorsamspflichten, auf der Basis finanziellen Anreizes und finanzieller Belohnung die Steuerung sowohl der einzelnen sozialen Gebilde als auch des gesamten Subsystems Wirtschaft ermöglicht" (Heinemann 108). Die Marktwirtschaft n i m m t das Selbstinteresse, den -h> Egoismus des einzelnen in Anspruch. Sie traut dem Wettbewerb, der Konkurrenz die optimale Steuerung von Bedürfnis und Bedürfnisdeckung zu. Mit Egoismus, Eigeninteresse, Konkurrenzdenken, Neid n i m m t sie Eigenschaften des Menschen als Triebkräfte wirtschaftlichen Handelns in Dienst. Der Erfolg wird dabei als Gewinn in Geldwerten ausgedrückt. Der M a r k t schafft abstrakte Beziehungen; er sichert die größtmögliche Effizienz des Wirtschaftens, da er die Rentabilität des Mitteleinsatzes zum Kriterium macht. Der M a r k t kann aber auch durch Eliminierung von Konkurrenten, durch Vernichtung von Arbeitsplätzen oder durch den A u f b a u von Machtpositionen schädliche soziale Folgen haben. Das Geld wird dadurch zum Herrschaftsmittel, zur absoluten K a u f m a c h t . Es ist vor allem die Aufgabe des Staates, hier steuernd einzugreifen, M i ß b r a u c h des Geldes und Mißstände zu verhindern oder zu beseitigen. Dazu gehören z. B. die Verhinderung von Kartellen durch eine Wettbewerbspolitik, eine Sozialpolitik, welche die Daseinsvorsorge aller Bürger, vor allem der Schwachen sichert. Im Programm der sozialen M a r k t w i r t s c h a f t findet sich eine ordnungspolitische Vorstellung, welche die Effizienz des M a r k t e s und einer auf Geldertrag ausgerichteten Wirtschaft verbinden will mit der V e r a n t w o r t u n g des Staates für das Wohl aller Bürger, das Gemeinwohl, und den Ausgleich zugunsten Benachteiligter. Die soziale Marktwirtschaft sucht persönliche Freiheit, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit in Einklang zu bringen.
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3.4. Geld und —>Staat. Der Staat trägt Verantwortung für die Geldwertstabilität. Er ist allerdings nicht der Alleinverantwortliche: Interessenverbände, Tarifpartner tragen ebenfalls Verantwortung für die Erhaltung der Geldwertstabilität. Dazu kommen Einflüsse der Weltwirtschaft und des Außenhandels. Die Zentralbank ist in manchen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen auch politisch unabhängig und frei von unmittelbaren staatlichen Eingriffen. Sie kann die umlaufende Geldmenge beeinflussen. Es ist also nicht möglich, wie G. F. Knapp ( 1 8 4 2 - 1 9 2 6 ) Geld nur als „gesetzliches Zahlungsmittel", als Ergebnis, „Geschöpf" der Rechtsordnung zu verstehen. Das Geld ist vielmehr mit W. Gerloff eine soziale Erscheinung. Die soziale Funktion ist dabei umfassender als die ökonomische und juristische: Wenn Geld Schöpfung sozialen Handelns ist, so ergibt sich daraus, daß ein sozialer Vorgang der Zahlung zugleich auch als ökonomischer oder rechtlicher Vorgang betrachtet werden kann. Das Phänomen der „Repudiation", der Ablehnung einer Währung, eines Zahlungsmittels, und die Existenz einer Ersatzwährung sind Indizien der Grenzen der Einwirkung des Staates auf Geld und Währung. Gleichwohl trägt der Staat ein hohes Maß Verantwortung für das Ethos des Wirtschaftens: Mit der Finanz-, Sozial-, Steuer- und Währungspolitik gestaltet er Gesellschaft und Wirtschaft. Dem Staat obliegt es, den „Wert", die Kaufkraft des Geldes stabil zu halten und nicht durch staatliches Handeln zu gefährden oder zu zerstören (vgl. o. Abschn. 3.1). Beispielsweise werden als „magisches V i e r e c k " , an dem sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland auszurichten hat, folgende Ziele genannt: Stabiles Preisniveau, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Dabei können freilich Zielkonflikte entstehen. Eine Staatsintervention in Wirtschaft und Finanzen ist heute allgemein üblich. M a n spricht daher gelegentlich von einem Neomerkantilismus, welcher die liberale Marktwirtschaft abgelöst habe. Ein besonderes Problem und eine Streitfrage stellen die Staatsverschuldung und die Ausweitung der Staatsquote am Bruttosozialprodukt dar. Zu den ethischen Aspekten einer Staatsverschuldung ist etwa die Frage zu rechnen, in welchem Ausmaß künftige Generationen durch gegenwärtige staatliche Kreditaufnahme belastet werden dürfen.
3.5. Geld und Kirche. Die Kirche leistet einen Beitrag zu einem Wirtschaftsethos durch die Art und Weise, wie sie selbst mit Geld umgeht. Dabei ist nicht nur die Finanzierung der Ausgaben durch kirchliche —»Abgaben, also das Einkommen der Kirche, etwa mit Hilfe der Kirchensteuer zu beachten, sondern auch, für was und wie die Kirche Geld ausgibt. Nicht nur die Einnahmen einer Kirche, auch deren Ausgabenpolitik hat geistlichem Gebrauch, der —>Gerechtigkeit, dem Dienst der—»Liebe und dem Zeugnis des —»Glaubens zu entsprechen. Das Finanzwesen der Kirche setzt Prioritäten. Das Finanzgebaren der Kirche ist, im Positiven wie im Negativen, beispielhaft für die Gesellschaft. Auf die ekklesiologische Bedeutung des Umgangs mit Geld haben u.a. die Alte Kirche, Calvin und Wesley nachdrücklich aufmerksam gemacht. Die Kritik am Reichtum (und der Geldgier) der Kirche und das Postulat einer Kirche der Armen und der Armut waren und sind aktuell. Der Verzicht auf die Freiwilligkeit der Kollekten- und der Spendenbereitschaft oder der Zwangsbeitrag einer Kirchensteuer prägen das Verhalten der Kirchenmitglieder in je unterschiedlicher Weise. Alle Ermahnungen und Aufforderungen an Staat und Gesellschaft, verantwortlich mit Geld umzugehen und für eine rechte Ordnung des Geldwesens Sorge zu tragen, werden unglaubwürdig, wenn ihnen nicht zuerst die eigene Praxis der Kirche entspricht. Die Kirche beeinflußt mit ihren eigenen Abgaben und der Kirchensteuer überdies die staatliche Steuerpolitik und die Steuergerechtigkeit (vgl. Marré, v.a. 55ff). Man braucht nicht so weit zu gehen wie Joh. Schlemmer (22), welcher „die Kirchensteuerpraxis als Feind der Predigt" bezeichnet. Aber das eigene kirchliche Finanz- und Haushaltswesen ist das Kriterium, an dem kirchliche und theologische Äußerungen zu Geld und Wirtschaft sich messen lassen müssen. 3.6. Geld und Glaube. Geld lebt vom Vertrauen. Das Wort Kredit hat dieselbe sprachliche Wurzel wie das Wort Credo: Vertrauen. Der „Glaube" an den Wert des Geldes und an die Sicherheit des Kredits enthält ein sozialpsychologisches Element, das dem religiösen Glauben verwandt ist (vgl. Simmel 164.165). Der Übergang vom Substanzgeld zum Kreditgeld, das der Vorfinanzierung von Leistungen oder Gütern dienen soll, ist weniger radikal
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als er erscheint, wenn man beachtet, daß Geld ü b e r h a u p t n u r angenommen wird, wenn man von seiner Weiterverwertbarkeit überzeugt ist. Die Annahme von Geld setzt ein Zutrauen zu dessen Werthaltigkeit, zur Stabilität einer W ä h r u n g voraus. Diese soziologische und sozialpsychologische Beobachtung läßt sich theologisch verbinden mit der neutestamentlichen W a r n u n g vor den Gefahren des M a m m o n oder mit Luthers Entgegensetzung von Gottesglaube und Geldglaube. Es ist jedoch eine schiefe Alternative, wenn man entweder den prinzipiellen Verzicht auf Geld, die Abschaffung des Geldes verlangt oder die bestehende Geldwirtschaft als schlechthin unabänderlich hinnimmt. Eine Einschränkung der M a c h t des Geldes erfordert freilich eine Veränderung des Lebensstiles und der Einstellung zum Geld. Sparsamkeit im Umgang mit den Gütern der Welt, Bereitschaft zur —»Askese und Ü b e r p r ü f u n g der Anspruchsinflation können zur Genesung eines kranken sozialen Körpers und damit zur Genesung kranken Geldes beitragen. Das Geld ist nämlich nicht nur vom Gesetz der Gewohnheit der A n n a h m e abhängig, sondern f ü r den Geldgebrauch gilt auch das Gesetz der Genesung. Der soziale Körper hat die Tendenz, krankes Geld wiederherzustellen oder auszuscheiden. „ M a n könnt e . . . von einem antigreshamschen Gesetz sprechen: je schlechter ein Geld geworden ist, desto stärker ist die Tendenz, es auszuscheiden oder seine Gesundung herbeizuführen" (Gerloff 271). Durch entsprechendes Verhalten im Umgang mit Geld kann der Prozeß der „Genesung" des Geldes gefördert und unterstützt werden. Insofern haben die traditionellen Tugenden im Umgang mit Geld und materiellen Gütern einen Sinn, z.B. Bescheidenheit, Mäßigkeit, Freigebigkeit. D. —»Bonhoeffer ist f ü r ein „Qualitätsgefühl" eingetreten. „Adel entsteht und besteht durch Opfer, durch M u t und durch ein klares Wissen um das, was man sich selbst und was man anderen schuldig i s t . . . . " (D. Bonhoeffer, Widerstand u. Ergebung, 1951, 25 = N A 1970, 22). Theologische Ethik, die nicht mehr von Verzicht und O p f e r sprechen würde, hätte in der Tat zum Thema Geld nichts Eigenes zu sagen. Solche Ermutigung zur Distanz setzt freilich voraus, daß menschliches Handeln in der Welt ü b e r h a u p t sinnvoll und sinnhaft ist. Der Streit in der Wirtschaftswissenschaft darüber, was Geld sei, der längst zu einem Glaubenskrieg geworden ist, und die Tendenz, Geld nur noch funktional als bloßes Tauschmittel (ohne Berücksichtigung des Wertmaßstabes) zu begreifen, ist Zeichen eines ontologischen Defizits, das wirtschaftliche Vorgänge nur extrem nominalistisch begreifen kann: Der „ W e r t " des Geldes verdankt sich danach allein staatlicher Proklamation und ist daher auch beliebig und unbegrenzt manipulierbar. Dagegen hat Ethik in Erinnerung zu rufen, daß Geld nicht dem Bereich der Verteilungsgerechtigkeit entzogen ist, vielmehr dem Grundsatz einer der Willkür entzogenen aequitas unter den Menschen und dem Anspruch der Gerechtigkeit zu genügen hat. T h o m a s von Aquin (De reg. princ. 11,13) deutet von hier her das W o r t Moneta etymologisch: „ M o n e t a heißt (das Geld), weil es uns „ m o n i e r t " , daß kein Betrug unter den Menschen v o r k o m m e , da es das geduldete W e r t m a ß ist" (Monetam dici, quod monet, ne quid fraudis in aere pondereve fiat). Literatur Allgemeines: Friedrich Beutter, Zur ethischen Beurteilung v. Inflation, 1965 (FThSt 83). - Ernest Bornemann (Hg.), Psychoanalyse des Geldes, Frankfurt a. M. 1973. - Emil Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 1 9 4 3 , 1 8 6 - 2 0 4 . - Anton Burghardt, Soziologie des Geldes u. der Inflation, Wien/Köln/Graz 1977. - Friedrich Delekat, Der Christ u. das Geld, 1 9 5 7 (TEH N F 57). - Karl Diehl/Paul Mombert (Hg.), Vom Gelde, Jena, 1 2 1 9 1 2 ; II 3 1 9 2 3 ; N A v. R. Hickel, Frankfurt a. M. u.a. 1979. - W. Ehrlicher, Art. Geldtheorie: H D S W 4 (1965) 2 3 1 - 2 5 8 . - Wilhelm Gerloff, Geld u. Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1952. - Willi Grün, Christ u. Geld. Mit einer Predigt v. John Wesley über den rechten Gebrauch des Geldes, Kassel 1963. - Manfred Hättich, Wirtschaftsordnung u. kath. Soziallehre, Stuttgart 1957. Oswald Hahn, Wertmesserfunktion - Aufgabe des Geldes oder der Währungseinheit: Glaube u. Gesellschaft. FS Wilhelm F. Kasch, Bayreuth 1 9 8 1 , 5 3 7 - 5 4 9 . - Klaus Heinemann, Grundzüge einer Soziologie des Geldes, Stuttgart 1969. - Siegfried Heinke, Tagesordnungspunkt Finanzen, Hannover 1979. Jürgen Holz, Das Wirtschafts- u. Finanzsystem der ev. Kirche in Deutschland, Diss. TU Berlin 1979. Josef Hünermann, Konjunkturen u. Krisen im Blick sozialer Verantwortung, Essen 1960. - Hans-Joachim Jarchow, Theorie u. Politik des Geldes, Göttingen 1973. - Wilhelm Friedrich Kasch (Hg.), Geld u. Glaube, Paderborn u. a. 1979. - Franz Keller, Aufwertungsrecht u. Gewissenspflicht, Freiburg 1926.
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Geliert
Zu Abschn. 2.2: Wolfgang Bärtschi, Marxsche Weltgeldtheorie u. sozialistische Währungspolitik: Konjunkturpolitik 9 (Berlin 1973) 1 5 3 - 1 7 4 . — Werner Becker, Dialektik als Methode in der ökonomischen Werttheorie v. Marx: Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik 188 (Stuttgart 1974) 3 3 9 - 3 4 8 . Ludwig Bress, Karl Marx - sein Übergang v. der Spekulation zur Ökonomie: Dt. Studien 11 (Lüneburg 1972) 137—142. - Friedrich Buchholz, Hermes oder über die Natur der Gesellschaft mit Blicken in die Zukunft, Tübingen 1810 = Kronberg, Ts. 1975. - Bruno Fritsch, Die Geld- u. Kredittheorie bei Karl Marx, Köln/Frankfurt 1968. - Georg N. Halm/Abraham S. Becker, Art. Geld: SDG 2 (1968) 8 3 3 - 8 5 1 . - Claude-Adrien Helvetius, Vom Menschen (1772), Frankfurt 1972, Kap. 17. - Friedrich Schleiermacher, Brouillonzur Ethik (1805/06), hg. v. H. J. Birkner, 1981 (PhB 3 3 4 ) . - Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1 7 7 6 5 1 7 8 9 ; dt.: Der Wohlstand der Nationen, übers, u. hg. v. H.C. Recktenwald, 1974. - Gerhard Uhlhorn, Das Christentum u. das Geld, Heidelberg 1882. - Adolf Wagner, Sozialökonomische Theorie des Geldes u. des Geldwesens, Berlin 1909. - John Wesley, Predigt über Lk 16,9: „The Use of Money": The Works of the Rev. John Wesley, London, III 1811, 3 8 0 - 3 9 4 = Wesley's Standard Sermons, ed. E.H. Sugden, London, II 1956, 309-327. Martin Honecker
Geliert, Christian 1.
Fürchtegott
(1715-1769)
Leben
„ E r w a r d geboren,/Er lebte, nahm ein Weib und s t a r b " (Werke, ed. Honnefelder, 1 , 3 4 f). Diese Charakterisierung eines biedermännischen Neunzigjährigen ( D e r Greis) durch Geliert trifft für ihn selbst nicht zu. Der am 4 . 7 . 1 7 1 5 in Hainichen (Erzgebirge) als neuntes von 13 Pfarrerskindern geborene Dichter blieb unverheiratet; als er am 1 3 . 1 2 . 1 7 6 9 in Leipzig starb, hatte er in seinem Leben viel bewirkt. Daß er als Schüler und Pate bei einem Säuglingsbegräbnis mit einer Rede scheiterte, hielt ihn zwar nicht ab, Theologie in —»Leipzig zu studieren, wohl aber, das geistliche A m t anzustreben. Er habilitierte sich 1 7 4 5 in Leipzig an der Fakultät für Schöne Künste, M o r a l und Redekunst; 1 7 5 1 wurde er zum a . o . Professor der Poesie und Beredsamkeit ernannt. Eine Bewerbung um die 1 7 6 1 freiwerdende Professur für Philosophie lehnte er mit der Begründung ab, „es möchte wohl sein, daß er dieses A m t zur Zufriedenheit anderer ausfülle, aber nicht zu seiner eigenen". 2.
Werk
Ein Hauptanliegen und ein großes Verdienst Gellerts war, Anleitung zu geben zum Gebrauch der—»Sprache. W o r u m es ihm ging, sagt er deutlich in dem Gedicht Die beiden Mädchen, die Kunst und N a t u r darstellen: „Die erste prahlt mit weit gesuchtem Schimmer, Sie fesselt nicht; sie blendet nur: Die andre sucht durch Einfalt zu gefallen, Läßt sich bescheiden sehn: und so gefällt sie allen" (Fabeln u. Erzählungen, I, 102f). Das Natürliche (—»Natur), das Eigene und Originale, die Selbstmitteilung aufgrund eigenen Denkens mit der Selbstverständlichkeit, mit der man redet, ist Gellerts Maßstab und Ziel in der Bemühung um die Sprache. Beim geschriebenen Wort besteht der Vorteil und die Verpflichtung, daß mehr Zeit und Sorgfalt auf den einzelnen treffenden Ausdruck angewendet werden kann und soll, Fähigkeiten, die man „im Umgang mit geschickten Leuten" und durch das Lesen guter Bücher erwirbt. Die Sprache ist hier noch nicht das außerordentliche Ausdrucksmittel des Genies, auch nicht das Vorrecht der Gelehrten, sondern eine jedem gegebene Möglichkeit; die Literatur eine bürgerliche Institution. Das alles scheint selbstverständlich, aber gegen welchen Wust des Artifiziellen, gesellschaftlich Reglementierten, Formalistischen und Unnatürlichen es durchgesetzt werden mußte, zeigt ein Blick auf die zahlreichen Anleitungen zum Briefeschreiben, die Geliert kritisierte und durch eigene Beispiele einer natürlichen und von der Sache her bestimmten Schreibweise ersetzt. Gellerts Gedanken von einem guten deutschen Briefe an Herrn F. H. v.W. (1742) und Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen (1751) haben wesentlich zur allgemeinen —»Bildung der Deutschen beigetragen.
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Geliert
Zu Abschn. 2.2: Wolfgang Bärtschi, Marxsche Weltgeldtheorie u. sozialistische Währungspolitik: Konjunkturpolitik 9 (Berlin 1973) 1 5 3 - 1 7 4 . — Werner Becker, Dialektik als Methode in der ökonomischen Werttheorie v. Marx: Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik 188 (Stuttgart 1974) 3 3 9 - 3 4 8 . Ludwig Bress, Karl Marx - sein Übergang v. der Spekulation zur Ökonomie: Dt. Studien 11 (Lüneburg 1972) 137—142. - Friedrich Buchholz, Hermes oder über die Natur der Gesellschaft mit Blicken in die Zukunft, Tübingen 1810 = Kronberg, Ts. 1975. - Bruno Fritsch, Die Geld- u. Kredittheorie bei Karl Marx, Köln/Frankfurt 1968. - Georg N. Halm/Abraham S. Becker, Art. Geld: SDG 2 (1968) 8 3 3 - 8 5 1 . - Claude-Adrien Helvetius, Vom Menschen (1772), Frankfurt 1972, Kap. 17. - Friedrich Schleiermacher, Brouillonzur Ethik (1805/06), hg. v. H. J. Birkner, 1981 (PhB 3 3 4 ) . - Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1 7 7 6 5 1 7 8 9 ; dt.: Der Wohlstand der Nationen, übers, u. hg. v. H.C. Recktenwald, 1974. - Gerhard Uhlhorn, Das Christentum u. das Geld, Heidelberg 1882. - Adolf Wagner, Sozialökonomische Theorie des Geldes u. des Geldwesens, Berlin 1909. - John Wesley, Predigt über Lk 16,9: „The Use of Money": The Works of the Rev. John Wesley, London, III 1811, 3 8 0 - 3 9 4 = Wesley's Standard Sermons, ed. E.H. Sugden, London, II 1956, 309-327. Martin Honecker
Geliert, Christian 1.
Fürchtegott
(1715-1769)
Leben
„ E r w a r d geboren,/Er lebte, nahm ein Weib und s t a r b " (Werke, ed. Honnefelder, 1 , 3 4 f). Diese Charakterisierung eines biedermännischen Neunzigjährigen ( D e r Greis) durch Geliert trifft für ihn selbst nicht zu. Der am 4 . 7 . 1 7 1 5 in Hainichen (Erzgebirge) als neuntes von 13 Pfarrerskindern geborene Dichter blieb unverheiratet; als er am 1 3 . 1 2 . 1 7 6 9 in Leipzig starb, hatte er in seinem Leben viel bewirkt. Daß er als Schüler und Pate bei einem Säuglingsbegräbnis mit einer Rede scheiterte, hielt ihn zwar nicht ab, Theologie in —»Leipzig zu studieren, wohl aber, das geistliche A m t anzustreben. Er habilitierte sich 1 7 4 5 in Leipzig an der Fakultät für Schöne Künste, M o r a l und Redekunst; 1 7 5 1 wurde er zum a . o . Professor der Poesie und Beredsamkeit ernannt. Eine Bewerbung um die 1 7 6 1 freiwerdende Professur für Philosophie lehnte er mit der Begründung ab, „es möchte wohl sein, daß er dieses A m t zur Zufriedenheit anderer ausfülle, aber nicht zu seiner eigenen". 2.
Werk
Ein Hauptanliegen und ein großes Verdienst Gellerts war, Anleitung zu geben zum Gebrauch der—»Sprache. W o r u m es ihm ging, sagt er deutlich in dem Gedicht Die beiden Mädchen, die Kunst und N a t u r darstellen: „Die erste prahlt mit weit gesuchtem Schimmer, Sie fesselt nicht; sie blendet nur: Die andre sucht durch Einfalt zu gefallen, Läßt sich bescheiden sehn: und so gefällt sie allen" (Fabeln u. Erzählungen, I, 102f). Das Natürliche (—»Natur), das Eigene und Originale, die Selbstmitteilung aufgrund eigenen Denkens mit der Selbstverständlichkeit, mit der man redet, ist Gellerts Maßstab und Ziel in der Bemühung um die Sprache. Beim geschriebenen Wort besteht der Vorteil und die Verpflichtung, daß mehr Zeit und Sorgfalt auf den einzelnen treffenden Ausdruck angewendet werden kann und soll, Fähigkeiten, die man „im Umgang mit geschickten Leuten" und durch das Lesen guter Bücher erwirbt. Die Sprache ist hier noch nicht das außerordentliche Ausdrucksmittel des Genies, auch nicht das Vorrecht der Gelehrten, sondern eine jedem gegebene Möglichkeit; die Literatur eine bürgerliche Institution. Das alles scheint selbstverständlich, aber gegen welchen Wust des Artifiziellen, gesellschaftlich Reglementierten, Formalistischen und Unnatürlichen es durchgesetzt werden mußte, zeigt ein Blick auf die zahlreichen Anleitungen zum Briefeschreiben, die Geliert kritisierte und durch eigene Beispiele einer natürlichen und von der Sache her bestimmten Schreibweise ersetzt. Gellerts Gedanken von einem guten deutschen Briefe an Herrn F. H. v.W. (1742) und Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen (1751) haben wesentlich zur allgemeinen —»Bildung der Deutschen beigetragen.
Geliert
299
Friedrich der G r o ß e urteilte über Geliert nach einem Gespräch mit ihm am 1 8 . 1 2 . 1 7 6 0 : „ D a s ist der vernünftigste unter den deutschen Gelehrten." Geliert hatte in diesem Gespräch auf die Natur als seine Lehrmeisterin im Schreiben verwiesen, gegenüber La Fontaine auf seiner eigenen Originalität bestanden und den Vorwurf, daß die Deutschen einen Stylum curiae nicht ließen, mit dem Satz pariert: „Wenn es Ihro M a j e s t ä t nicht ändern können, so kann ich's noch weniger. Ich kann nur raten, w o Sie befehlen!" „ D i e K u n s t sei n o c h s o g r o ß , die dein V e r s t a n d b e s i t z e t , / S i e bleibt d o c h l ä c h e r l i c h , w e n n sie d e r W e l t n i c h t n ü t z e t " (Die S p i n n e : I, 7 0 f ) . E n t s p r e c h e n d d i e s e m G r u n d s a t z b e h a n d e l t e d e r D i c h t e r s e i n e d e r W e l t des B ü r g e r s e n t n o m m e n e n G e g e n s t ä n d e ( — » B ü r g e r t u m II): P r o b l e m e des a l l t ä g l i c h e n L e b e n s u n d C h a r a k t e r t y p e n (vgl. Moralische
Charaktere).
Die M o r a l
u n d die — » T u g e n d h a b e n eine g u t e C h a n c e . B e s c h e i d e n h e i t z . B . z a h l t sich a u s . „ J e m i n d e r sich d e r K l u g e selbst gefällt: / U m d e s t o m e h r s c h ä t z t ihn die W e l t " ( S e h n d e : 1 , 8 3 f f ) . Weil R e i c h t u m a n d e r n G ü t e r n g e g e n ü b e r g e r i n g z u a c h t e n ist, gilt cí&r S a t z : „ D a ß F i t e m ihre K i n d e r h a s s e n , / W o f e r n sie ihnen n i c h t s , als R e i c h t u m , h i n t e r l a s s e n " ( D e r b a r o n i s i e r t c B ü r g e r : I , 9 0 f ) . „ V e r g i ß es n i c h t : D a s w a h r e G l ü c k allein / Ist, ein r e c h t s c h a f f e n e r M a n n zu s e i n " ( D a s T e s t a m e n t : 1 , 2 0 9 f). D a s M e n s c h e n b i l d ist o p t i m i s t i s c h . „ L e b e , w i e d u , w e n n du s t i r b s t , / W ü n s c h e n w i r s t , g e l e b t zu h a b e n " ( V o m T o d e : G e i s t l i c h e O d e n u n d L i e d e r : I , 2 7 0 f ) . A n d e r g r u n d s ä t z l i c h e n M ö g l i c h k e i t u n d F ä h i g k e i t d a z u fehlt es d e m M e n s c h e n o f f e n b a r n i c h t . Das heißt nicht, daß alle Gestalten bei Geliert Tugendbolde wären. Sein Leben der schwedischen Gräfin G hat auf den Schauplätzen Schweden, Rußland, Holland eine wildbewegte Handlung mit M o tiven des höfischen Abenteuerromans: Gefährdung der Ehefrau durch Nachstellungen eines Prinzen, das Todesurteil über ihren Gatten, (unwissentlicher) Inzest, M o r d und Selbstmord; Frau zwischen zwei M ä n n e r n , (unbeabsichtigte) Bigamie, Kriegsgefangenschaft in Sibirien; eine vom Blitz erschlagene Braut. Daneben happy end-Ereignisse: ein von einem Liebhaber ins Unglück gebrachtes und verlassenes Mädchen wird von dem Reuigen geheiratet; der Prinz wandelt seine Gesinnung von der Rache zur Freundschaft. (Literarische Vorbilder waren Samuel Richardsons Briefroman Pamela oder die belohnte Tugend und Prevosts Histoire de M. Cleveland.) Der Grundtenor dieser moralisch gemeinten Erzählung läßt sich mit den Worten des sterbenden Vaters des Grafen wiedergeben: „ L i e b t getreu und genießt das Leben, das uns die Vorsehung zum Vergnügen und zur Ausübung der Tugend geschenkt h a t " (11,22). Ein tugendhaftes Leben ist kein freudloses. Im Gegenteil! „ W i r haben alle eine Pflicht, uns das Leben so vergnügt und anmutig zu machen, als es möglich i s t " (11,32). „ M a n kann fromm und auch vergnügt s e i n " (11,116f). Beiläufig sind hier — ähnlich wie in —>Jung-Stillings Theobald oder die Schwärmer — die Standesgrenzen relativiert: „ W a s geht die Vernünftigen die Ungleichheit des Standes a n ? " (11,33). Im Blick auf die Juden wird die Möglichkeit erwogen, daß wir sie „oft durch unsere Aufführung nötigen, unsere Religion zu h a s s e n " (11,94). Das Lustspiel Die Betschwester enthält eine Kritik jener Frömmigkeit, die Andacht und Geiz, Beten und Singen einerseits und Richten und Schelten andererseits zu verbinden weiß (1,491). W a s dieser Art von Frommen an den Unwiedergeborenen (1,482) mißfällt, ist z . B . , daß sie Romane lesen (1,467) oder sich „die H a a r e verschneiden lassen" (1,468). N a c h Gellerts eigener Überzeugung ist die Andacht „ein Mittel, das uns in der Tugend stärken soll" (1,455). „Stets beten, heißt nicht beten, und den ganzen T a g beten, ist so strafbar, als den ganzen T a g schlafen" (1,447). V o n G e l l e r t s Geistlichen
Oden
(—»Kirchenlied; s. a u c h T R E 4 , 5 3 6 , 9 f f ) , die n a c h s e i n e m
W i l l e n teilweise v o n v o r n e h e r e i n z u m Singen b e s t i m m t w a r e n — s e c h s w u r d e n v o n B e e t h o v e n v e r t o n t , d a r u n t e r Die Himmel
rühmen
— h a b e n einige e i n e n P l a t z i m —> G e s a n g b u c h be-
h a u p t e t , a c h t i m E K G (s. d a z u W e s t p h a l ; H E K G 1 / 2 ; III). 3.
Wertung
In dem Gedicht Der Kranke k o m m t dieser an zwei verschiedene Gräber. Auf dem einen verkündet ein Leichenstein von dem T o t e n : „ E r war das Wunder seiner Zeit, / Das Muster wahrer Frömmigkeit; / Und daß man viel mit wenig Worten sagt: / Er ist's, den Kirch und Schul, und Stadt und Land beklagt." Der andere T o t e bekam kein G r a b m a l , und der Küster gibt auch nicht ohne Scheu Auskunft: , , , A c h ' , hub er endlich seufzend an: / ,Verzeih mir's G o t t , es war ein M a n n , / Dem, weil er Ketzereien glaubte, / M a n kaum ein ehrlich G r a b erlaubte; / Ein M a n n , der lose Künste trieb, / Komödien und Verse schrieb; / Er war, wie ich mit Recht behaupte, / Ein Neuling und ein Bösewicht'. / ,Nein!', sprach der M a n n , ,das war er n i c h t ' " (1,38 f)A u f G e l i e r t trifft g e w i s s e r m a ß e n beides z u . E r g e n o ß zu seinen L e b z e i t e n g r o ß e n R u h m u n d V e r e h r u n g a u s d e n v e r s c h i e d e n s t e n K r e i s e n d e r B e v ö l k e r u n g . E i n B a u e r lieferte i h m a u s
300
Gelübde I
Dankbarkeit für die Fabeln eine Fuhre Holz, Prinz Heinrich von Preußen schenkte ein Reitpferd. Im Siebenjährigen Krieg wurde Hainichen als Geburtsstadt Gellerts von den Preußen schonungsvoll behandelt. Seine unkonventionell allgemeinverständlichen Vorlesungen hielt er im stets vollen Auditorium Maximum mit 400 Sitzplätzen. Er war aufgrund seiner Fabeln als Ratgeber sehr gefragt. Die Auflagenhöhe und die Breitenwirkung seiner Schriften übertraf die mancher deutscher Klassiker. Nach seinem Tod fanden wochenlang „Wallfahrten" zum Johannisfriedhof statt, der Grabhügel wurde als „Reliquie" behandelt, von der jeder ein Stück mit nach Hause nehmen wollte. Es gab aber auch vernichtende Urteile, von denen auf das von Vilmar als Beispiel hingewiesen sei (zu Vilmars Kritik der Oden Gellerts s. Ph. Dietz, Dr. August F. Chr. Vilmar als Hymnolog, Marburg 1899, 96). Das Ausmaß der Rezeption Gellerts wurde zum Negativkriterium. Wo die Theologie Geliert allzu undifferenziert der —»Aufklärung (als „Neuling", Neologe oder „Ketzer") zugerechnet hat, muß man sagen: „Das war er nicht!" Bei einer wertenden Einordnung Gellerts in die Geistes- und Literaturgeschichte und bei der Frage nach dem Wurzelboden seiner Weltweisheit und praktischen Lebensklugheit wird man aus der Sicht des Theologen nie sein eigenes Bekenntnis zum Heilsinhalt der Schrift vergessen und gering veranschlagen dürfen: „Halt fest an Gottes Wort; es ist dein Glück auf Erden, / Und wird, so wahr Gott ist, dein Glück im Himmel werden. / Verachte christlich groß des Bibelfeindes Spott; / Die Lehre, die er schmäht, bleibt doch das Wort aus Gott" (Ermunterung, die Schrift zu lesen 1,282 f). Werke Sämtliche Sehr., 10 T., Leipzig 1 7 6 9 - 7 4 . - Vollst. Ausg., hg. v. J. L. Klee, 10 T., Leipzig 1839. Auswahl: Sämtl. Fabeln u. Erzählungen. Geistl. Oden u. Lieder. Mit einem Nachwort v. Herbert Klinkhardt. Die Fundgrube, o.J. (1956). - Werke, hg. v. G. Honnefelder, 2 Bde., Frankfurt a . M . 1979. Literatur HEKG II/1,264f. - NDB 6,174f. - Helmut de Boor, Gesch. der dt. Lit., München, V 1967, 5 1 5 - 5 2 1 . - Georg Buchwald, Christian Fürchtegott Geliert: Unsere Kirchenliederdichter, Hamburg 1 9 0 5 , 4 4 9 - 4 6 4 . - H. A. u. E. Frenzel, Daten dt. Dichtung, 2 Bde., München 1962,1' 8 1981, II' 9 1981. Heinrich Gebauer, Unser dt. Land u. Volk. Bilder aus dem Sächsischen Berglande der Oberlausitz, Leipzig o.J. (1882), 394 ff. - W. O. v. Horn, Drei Tage aus Gellerts Leben, Herborn 1898. - Gerhard Krause, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm u. Drang (Gesch. der dt. Lit. Bd.3), München 1 9 7 9 , 7 9 - 8 2 u . ö . Heinrich Lenz, Christian Fürchtegott Geliert als geistl. Liederdichter, Mannheim 1979. - Eckhard Meyer-Kreuther, Der andere Roman. Gellerts „Schwedische Gräfin". Von der aufklärerischen Propaganda gegen den „ R o m a n " zur empfindsamen Erlebnisdichtung, Göttingen 1974. - Wilhelm Nelle, Gesch. des dt. ev. Kirchenliedes, Leipzig/Hamburg 1928, 2 4 7 - 2 5 1 . - Karsten Schlingmann, Geliert. Eine literarhist. Revision, Bad Homburg 1967 (Frankfurter Beitr. zur Germanistik 3). - August Friedrich Christian Vilmar, Gesch. der dt. National-Literatur, M a r b u r g / L e i p z i g 1 4 1 8 7 1 , 3 8 9 - 3 9 1 . - J o h a n nes Westphal, Das Ev. Kirchenlied, Berlin 6 1 9 2 5 , 189 f.
Rudolf Mohr Gelübde I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. Judentum IV. Katholische Uberlieferung und Lehre V. Reformationszeit VI. Ethisch VII. Praktisch-theologisch
302 304 305 309 312 313
I. Religionsgeschichtlich Hinsichtlich seiner religiösen und moralischen Bindung ist das Gelübde ein dem —»Eid nahestehendes, jedoch ausschließlich auf Übernahme und Erfüllung sakraler Verpflichtun-
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Gelübde I
Dankbarkeit für die Fabeln eine Fuhre Holz, Prinz Heinrich von Preußen schenkte ein Reitpferd. Im Siebenjährigen Krieg wurde Hainichen als Geburtsstadt Gellerts von den Preußen schonungsvoll behandelt. Seine unkonventionell allgemeinverständlichen Vorlesungen hielt er im stets vollen Auditorium Maximum mit 400 Sitzplätzen. Er war aufgrund seiner Fabeln als Ratgeber sehr gefragt. Die Auflagenhöhe und die Breitenwirkung seiner Schriften übertraf die mancher deutscher Klassiker. Nach seinem Tod fanden wochenlang „Wallfahrten" zum Johannisfriedhof statt, der Grabhügel wurde als „Reliquie" behandelt, von der jeder ein Stück mit nach Hause nehmen wollte. Es gab aber auch vernichtende Urteile, von denen auf das von Vilmar als Beispiel hingewiesen sei (zu Vilmars Kritik der Oden Gellerts s. Ph. Dietz, Dr. August F. Chr. Vilmar als Hymnolog, Marburg 1899, 96). Das Ausmaß der Rezeption Gellerts wurde zum Negativkriterium. Wo die Theologie Geliert allzu undifferenziert der —»Aufklärung (als „Neuling", Neologe oder „Ketzer") zugerechnet hat, muß man sagen: „Das war er nicht!" Bei einer wertenden Einordnung Gellerts in die Geistes- und Literaturgeschichte und bei der Frage nach dem Wurzelboden seiner Weltweisheit und praktischen Lebensklugheit wird man aus der Sicht des Theologen nie sein eigenes Bekenntnis zum Heilsinhalt der Schrift vergessen und gering veranschlagen dürfen: „Halt fest an Gottes Wort; es ist dein Glück auf Erden, / Und wird, so wahr Gott ist, dein Glück im Himmel werden. / Verachte christlich groß des Bibelfeindes Spott; / Die Lehre, die er schmäht, bleibt doch das Wort aus Gott" (Ermunterung, die Schrift zu lesen 1,282 f). Werke Sämtliche Sehr., 10 T., Leipzig 1 7 6 9 - 7 4 . - Vollst. Ausg., hg. v. J. L. Klee, 10 T., Leipzig 1839. Auswahl: Sämtl. Fabeln u. Erzählungen. Geistl. Oden u. Lieder. Mit einem Nachwort v. Herbert Klinkhardt. Die Fundgrube, o.J. (1956). - Werke, hg. v. G. Honnefelder, 2 Bde., Frankfurt a . M . 1979. Literatur HEKG II/1,264f. - NDB 6,174f. - Helmut de Boor, Gesch. der dt. Lit., München, V 1967, 5 1 5 - 5 2 1 . - Georg Buchwald, Christian Fürchtegott Geliert: Unsere Kirchenliederdichter, Hamburg 1 9 0 5 , 4 4 9 - 4 6 4 . - H. A. u. E. Frenzel, Daten dt. Dichtung, 2 Bde., München 1962,1' 8 1981, II' 9 1981. Heinrich Gebauer, Unser dt. Land u. Volk. Bilder aus dem Sächsischen Berglande der Oberlausitz, Leipzig o.J. (1882), 394 ff. - W. O. v. Horn, Drei Tage aus Gellerts Leben, Herborn 1898. - Gerhard Krause, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm u. Drang (Gesch. der dt. Lit. Bd.3), München 1 9 7 9 , 7 9 - 8 2 u . ö . Heinrich Lenz, Christian Fürchtegott Geliert als geistl. Liederdichter, Mannheim 1979. - Eckhard Meyer-Kreuther, Der andere Roman. Gellerts „Schwedische Gräfin". Von der aufklärerischen Propaganda gegen den „ R o m a n " zur empfindsamen Erlebnisdichtung, Göttingen 1974. - Wilhelm Nelle, Gesch. des dt. ev. Kirchenliedes, Leipzig/Hamburg 1928, 2 4 7 - 2 5 1 . - Karsten Schlingmann, Geliert. Eine literarhist. Revision, Bad Homburg 1967 (Frankfurter Beitr. zur Germanistik 3). - August Friedrich Christian Vilmar, Gesch. der dt. National-Literatur, M a r b u r g / L e i p z i g 1 4 1 8 7 1 , 3 8 9 - 3 9 1 . - J o h a n nes Westphal, Das Ev. Kirchenlied, Berlin 6 1 9 2 5 , 189 f.
Rudolf Mohr Gelübde I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. Judentum IV. Katholische Uberlieferung und Lehre V. Reformationszeit VI. Ethisch VII. Praktisch-theologisch
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I. Religionsgeschichtlich Hinsichtlich seiner religiösen und moralischen Bindung ist das Gelübde ein dem —»Eid nahestehendes, jedoch ausschließlich auf Übernahme und Erfüllung sakraler Verpflichtun-
Gelübde I
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gen gerichtetes feierliches Versprechen, das sowohl privat als auch öffentlich geleistet werden kann; im letzteren Fall geschieht dies meist vor einer zu Abnahme des Gelübdes autorisierten Persönlichkeit oder einem entsprechenden Gremium. Der Inhalt des Gelübdes ist personaler Art, wenn er sich auf Handlungen oder Verhaltensweisen des gelobenden Menschen bezieht; er trägt realen Charakter, wenn die Verpflichtung zur Darbringung der auf dem Gelübde (ex voto) beruhender Gaben, sog. Votivgaben, übernommen wird. Im Hinblick auf die Erfüllung eines Gelübdes ist zwischen bedingten Gelübden, die meist zeitlich befristet sind, und unbedingten zu unterscheiden, deren Geltung oft unbefristet ist und die dann als „ewige" Gelübde bezeichnet werden. Bedingte Gelübde, die in kritischen und gefahrvollen Situationen geleistet oder mit der Bitte um Nachkommenschaft, um Genesung, gute Ernte, Erfolg in weltlichen Geschäften, kämpferischen Auseinandersetzungen oder um sonstige Hilfeleistungen seitens der Gottheit verbunden sind, knüpfen die Erfüllung des Gelübdes an die vorherige Verwirklichung derartiger konkreter Bedingungen. Indem sie der Gottheit eine Gabe oder Verhaltensweise nur für den Fall einer zuvor erwarteten Gegenleistung in Aussicht stellen, gleichen sie einem Vertrag auf Gegenseitigkeit, der sie in die Nähe des do-ut-des-Gedankens jener Opferpraxis stellt, bei der der Mensch in der Erwartung einer göttlichen Gegenleistung eine Gabe darbringt. So verspricht Diomedes der Athena für einen zuvor erwarteten Beistand (Homer, II. X, 2 9 1 - 2 9 4 ) : „ S o wollest d u mir n u n beistehn u n d mich b e h ü t e n ! / Dir gelob ich ein jähriges Rind, breitstirnig u n d fehlerlos, / U n g e z ä h m t , das n i m m e r ein M a n n z u m J o c h e g e b ä n d i g t ; / Dieses gelob ich z u m O p f e r , mit G o l d die H o r n e r u m z i e h e n d . "
Typisch für ein derartiges Gelübde ist auch das Versprechen, das Appius Claudius, der römische Censor des Jahres 312 v. Chr., der Kriegsgöttin gibt: „Bellona, wenn du uns heute den Sieg schenkst, dann gelobe ich dir einen Tempel" (Livius X,19,17). Das in ausgeprägter Weise juridische Denken der Römer führte zu einer für ihre Religion charakteristischen Vorrangstellung bedingter Gelübde. So wurden in der Zeit der Republik regelmäßig zu Anfang des Jahres Gelübde für das Wohl des Staates (pro rei publicae salute) von den neuen, ihr Amt antretenden Konsuln geleistet und zugleich die des vorangehenden Jahres eingelöst. In der Kaiserzeit entsprachen ihnen Gelübde für das Wohl des Herrschers. Außerdem hatte die römische Praxis Sonderformen des bedingten Gelübdes herausgebildet. Ein ver sacrum, ein „heiliger Frühling", war das für Hilfe in Notzeiten geleistete Versprechen, den gesamten tierischen Nachwuchs eines Frühlings dem Gotte Jupiter zu opfern. Livius (XXII,9) überliefert aus dem Jahre 217 v.Chr. das Gelöbnis eines derartigen ver sacrum, das die Römer in der Notzeit des 2. Punischen Krieges leisteten. Eine zweite Sonderform war die devotio, die „Aufopferung", das Versprechen des eigenen Opfertodes durch Feindeshand, das ein Feldherr in kritischen Momenten des Kampfes abgeben konnte. Aus dem Samniterkrieg (328—304 v.Chr.) ist uns diese Devotion seitens des damaligen Konsuls Decius bekannt (Livius VIII) .Blieb ein Feldherr, der durch die Devotion Weihender und Geweihter zugleich war, wider Erwarten am Leben, so galt er hinfort als unrein und durfte kein staatliches Amt mehr übernehmen. Als bedingte wie auch als unbedingte Gelübde können Verpflichtungen zu spezifischen religiösen Leistungen wie —»Fasten, —»Wallfahrten oder Beobachtung von —»Keuschheit versprochen werden. Das Ordensgelübde ist die typische Form des unbedingten und zugleich ewigen Gelübdes. Es wird beim Eintritt in eine monastische Gemeinschaft abgelegt (—»Mönchtum; s. a. u. Abschn. IV.5), ist aber auch für die Aufnahme in einen Geheimbund von ausschlaggebender Bedeutung. Charakteristisch hierfür war aus jüngster Vergangenheit der Mau-Mau-Eid; er lautete (Leakey 122): „Möge ich durch diesen meinen Eid getötet werden, wenn ich irgend etwas tue, um diese Organisation dem Feinde zu verraten." Die bedeutendsten außerchristlichen Ordensgelübde sind diejenigen des —»Buddhismus.
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Gelübde II
Beim Eintritt in die monastische Gemeinschaft hat der buddhistische Novize die Formel der „drei Kleinodien" zu geloben: „Ich nehme meine Zuflucht zu Buddha. Ich nehme meine Zuflucht zur Lehre (dharma). Ich nehme meine Zuflucht zur Ordensgemeinschaft (sangba). Im Mahäyäna-Buddhismus wird der Mönch auf das Bodhisattva-Ideal verpflichtet. Er 5 muß geloben, nicht nur nach der eigenen Erleuchtung (bodhi) zu streben, sondern auch anderen Lebewesen aus Mitleid mit ihrer unerlösten Existenzweise dazu zu verhelfen. Auf die Gründung einer Stadt bezog sich das Gelübde, das Echnaton (ca. 1 3 7 0 - 1 3 5 2 v.Chr.), der königliche Reformator—»Ägyptens, ablegte, nachdem er die bisherige Residenz Theben verlassen hatte und an der Stelle des heutigen Teil el-Amarna die Gottesstadt 10 Achet-Aton [Horizont des (Sonnengottes) Aton] errichten lief?. Er gelobte sie dem von ihm verkündeten Gotte Aton als alleinigen Besitz und verpflichtete sich, sie nur an dieser bislang unbewohnten Stätte zu errichten (Erman 118): „Ich mache Achet-Aton für den Aton, meinen Vater, an dieser Stelle und mache ihm Achet-Aton weder südlich davon noch nördlich noch westlich noch östlich." 15
Literatur
Ludwig Deubner, Die Devotion der Decier: A R W 8 ( 1 9 0 5 ) Beih. - Gottfried Dümpelmann, Art. Gelübde II. Moraltheologisch: L T h K 2 4 ( 1 9 6 0 ) 6 4 0 - 6 4 2 . - Adolf Erman, Die Religion der Ägypter, Berlin/Leipzig 1 9 3 4 = 1 9 7 8 . - Friedrich Heiler, Das Gebet, München 5 1 9 2 3 , 7 8 ff. - Ders., Erscheinungsformen u. Wesen der Religion, 1 9 6 1 2 1 9 7 9 ( R M 1). - Kurt Latte, R o m . Religionsgesch., M ü n 20 chen 1 9 6 0 . - Louis S. B. Leakey, M a u - M a u u. die Kikuyus, München 1 9 5 3 . - Gerardus van der Leeuw, Die Do ut des-Formel in der Opfertheorie: A R W 2 0 ( 1 9 2 0 / 2 1 ) 2 4 1 - 2 5 3 . Eine religionsgeschichtlich umfassende Monographie über das Gelübde existiert bislang nicht.
Günter Lanczkowski
II. Altes Testament 25
1. Allgemeines
1.
2. Inhalt und Bewertung
3. Streuung
(Literatur S. 3 0 4 )
Allgemeines
Am Gelübde als einem verbreiteten religiösen Phänomen (zum Alten Orient: Kötting 1 0 5 7 - 1 0 5 9 ; RLA 3,200 f; LÄ 2 , 5 1 9 - 5 2 1 ; THAT 2,39) hatte auch das alttestamentliche Israel teil. So wird innerhalb des Alten Testaments relativ häufig von Gelübden gesprochen, 30 wobei diese mehr als spontane denn als vorgeschriebene begegnen.
35
Die L X X setzt für die dem Phänomen Gelübde zugeordnete Wortgruppe (ndr und Derivate; 'issär = „Enthaltungsgelübde"?; auch s'büäb) fast immer ¿v/o/xat / ev%V ein (Ausnahmen: J e r 4 4 [ 5 1 ] , 2 5 ; Lev 2 2 , 1 8 ) , wodurch die Tatsache, daß ein Gelübde oft mit einem Gebet verbunden w a r (vgl. I S a m 1; Ps 5 4 ; 5 6 ; 6 1 u.ö.), mit Recht, wenn auch isoliert herausgestellt wird. - Für den alttestamentlichen Befund ist auch N u m 6 und daher das zu —>Nasiräer Gesagte heranzuziehen, ferner vielleicht d i e n ' t i n i m (bzw. Sing.) und dazu T H A T 2 , 1 2 1 f ; A O A T 2 2 ( 1 9 7 3 ) 1 0 1 - 1 0 7 und J . P . Weinberg: Z A W 8 7 ( 1 9 7 5 ) 3 5 5 - 3 7 1 . Z u m Wortfeld siehe T H A T 2 , 4 0 f .
2. Inhalt und
Bewertung
Beim Gelübde handelt es sich um ein meist bedingtes (seltener unbedingtes) Versprechen 40 eines oder mehrerer Menschen an Jahwe (wobei ein einzelner auch für eine Gruppe stehen kann), etwas zu tun oder zu unterlassen, was dem Menschen wichtig ist und auch der Gottheit gefällt, damit bzw. wenn diese dem Menschen etwas Gutes tut. In der Form eines „Wenn" im Vordersatz und eines „Dann" im Nachsatz wird als Versprechen eine Gabe gelobt oder ein Verzicht versprochen, wenn bzw. bis der im Kontext genannte oder direkt an45 gesprochene Erfolg eintritt. Gelübde sind dabei auch anderen religiösen Handlungen zugeordnet, wie einem —»Gebet, einem —>Eid, einem —»Opfer, dem —»Fasten oder der —»Askese (Ps 22,26; 50,14; 56,13; 65,2; 6 6 , 1 3 - 1 5 ; 1 1 6 , 1 7 - 1 9 ; Prov 7,14). Als meist bedingte Gelübde handelt es sich zugleich vorwiegend um Gelübde auf Zeit, seltener um solche für immer.
Gelübde II
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Anlaß zu einem Gelübde sind Negativsituationen, wie Kinderlosigkeit (I Sam 1; Prov 3 1 , 2 ) , Fragen um Krieg und Sieg (Jdc 1 1 , 3 0 — 3 9 ; Num 21,1—3: beim einzelnen wie beim Volk), um Verbannung, Gefangenschaft, Reise und Heimkehr (II Sam 1 5 , 7 - 9 ; Gen 2 8 , 2 0 - 2 2 ; Ps 1 1 6 , 1 2 f f ) , um Notlagen (Jon 1 , 1 6 ; 2 , 1 0 ) oder persönliche Rechtsprobleme (Ps 2 7 , 6 ; 5 4 , 8 ; 5 6 , 1 3 ) . Gelübde geschehen unter Fasten wie aus Freude oder Dank (Nah 2,1), am Heiligtum (I Sam 1; Gen 28) wie anderswo. Inhaltlich wird sexuelle Enthaltsamkeit gelobt, Enthaltung von Wein oder vom Schneiden der Haare o . a . , zuweilen auch ein -n»Bann (Jdc 1 1 , 3 0 f f ; Num 2 1 , 2 ; vgl. Lev 2 7 , 2 8 f ) . Meist jedoch ist ein Opfer der Inhalt des Gelübdes, aber auch freiwillige Gaben werden gelobt (Lev 7 , 1 6 ; Num 15,3; Dtn 12,6 u.ö.). Was aus anderen Gründen bereits geboten war, konnte nicht zusätzlich gelobt werden. M a n löst das Gelübde ein, indem man (oft vor der Gemeinde; vgl. die Psalmstellen) das Opfer darbringt, was am Heiligtum geschieht und mit lobpreisendem Dank verbunden ist (Ps 2 2 , 2 6 ; 5 0 , 1 4 ; 5 6 , 1 3 ; 6 1 , 9 ; 1 1 6 , 1 4 . 1 8 f; vgl. J o n 2 , 1 0 ; II M a k k 3 , 3 5 ; 9 , 1 4 ; 1 5 , 2 0 f ) , so daß „ein Gelübde erfüllen" und „Erhörung erfahren haben" bzw. ihrer gewiß sein gleichbedeutend sind (Ps 6 5 , 2 f; 7 6 , 1 2 ; Hi 2 2 , 2 7 ) . Gegenüber fremden Göttern abgelegte Gelübde werden in J e r 4 4 , 2 5 getadelt, in E p j e r 3 4 als sinnlos hingestellt, da diese Götter weder helfen noch die Gelübde einfordern können. Mehrfach wird in den genannten Texten deutlich, daß für alttestamentliche Menschen ein Gelübde absolut bindend war. Daher wird vor leichtfertigen Gelübden gewarnt (so in weisheitlichen bzw. diesen nahestehenden Texten: Prov 2 0 , 2 5 ; Sir 1 8 , 2 3 ; vgl. Dtn 2 3 , 2 2 - 2 4 ) . Talmud und Midrasch vertieften diese Argumentation. Es wird deshalb auch vor dem Opfern eines fehlerhaften Tieres beim Erfüllen eines Gelübdes gewarnt (Lev 2 2 , 2 1 - 2 3 ; vgl. Mal 1,14). Es wird aber auch, weil man vielleicht zeitweilig zu häufig zu Gelübden neigte (Nah 2,1), zum Einhalten der Gelübde gemahnt (Dtn 2 3 , 2 2 - 2 4 ; Sir 1 8 , 2 1 f), und Kohelet meint (Koh 5,3 f), daß man besser erst gar keines ablegen solle. Einige Texte heben schließlich auf die beim Gelübde gehegte Gesinnung ab (Ps 5 0 , 8 - 1 4 ; 6 1 , 6 . 9 ; Mal 1,14; Hi 2 2 , 2 7 ) . Das Ziel eines Gelübdes ist so unterschiedlich wie sein Anlaß. Der Sieg des Volkes oder eines einzelnen steht neben dem Kindersegen, der Nahrung, der Kleidung oder dem Schutz als der Aufhebung der dem Gelübde jeweils vorgegebenen Notlage. In Ps 132,2—5 fungiert das Gelübde als reiner Selbstansporn, was auch in anderen Texten mitschwingen mag, z. B. Ps 1 0 1 , 2 f f . Grundsätzliche Ausführungen über Gelübde bzw. Bestimmungen, die das Gelübde betreffen, finden sich noch nicht im —»Bundesbuch, wohl aber im —»Deuteronomium (Dtn 1 2 , 4 - 6 . 1 1 . 1 7 . 2 6 ; 2 3 , 1 8 f . 2 2 - 2 4 : Einlösung nur am zentralen Kultort, d . h . auch hier Gelübde vornehmlich als Opfer; Untersagung eines Hieroduliegelübdes; Freiheit wie Pflicht zum Gelübde), dann im —»Heiligkeitsgesetz (Lev 2 7 : welche Gelübde sind wann durch einen bestimmten Geldbetrag ablösbar) und schließlich detailliert in dem noch jüngeren T e x t N u m 3 0 , 3 - 1 6 (Verbindlichkeit der Gelübde; Gelübde von Frauen nur bei sofortiger Zustimmung des Ehemannes gültig). Bestimmungen über das mit einem Gelübde verbundene Opfer (bzw. über das Gelübde als Opfer) finden sich in Lev 7 , 1 6 - 2 1 ; 2 2 , 1 7 f f . 2 1 ff; N u m 1 5 , 1 - 1 6 ; 29,39.
Insgesamt wird deutlich, daß Gelübde ein bekannter Brauch waren, der nicht selten geübt wurde, obwohl er nicht als direkt von Jahwe geboten bezeugt ist. Er war ein Bestandteil der Frömmigkeit, den das Alte Testament zu ordnen und in seinen verschiedenen Epochen jeweils neu in seiner Eigenart wie seinen Gefahren zu bestimmen suchte.
3. Streuung Gelübde begegnen in erzählenden Texten der älteren Zeit (Jdc 1 1 , 3 0 - 3 9 ; vgl. auch I Sam 1 und dazu Prov 3 1 , 2 ; dann II Sam 1 5 , 7 - 9 mit dem „ J a h w e von H e b r o n " ; 1 4 , 2 4 ; vgl. Uria in II Sam 1 1 , 9 f f ) . Den älteren Texten sind wohl auch Gen 2 8 , 2 0 - 2 2 (E?) und Num 2 1 , 1 - 3 (J?) zuzurechnen, auch wenn Quellenzugehörigkeit, Einheitlichkeit und Datierung (des Textes wie der „Quelle") umstritten sind. O b aus Gen 2 8 , 2 0 f f hervorgeht, daß der —»Elohist das Gelübde als theologisches Gestaltungsmittel benutzt und die entsprechenden Texte der Jakobserzählungen selbst geschaffen hat, oder ob er auch hier vorgegebenes Gut
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Gelübde III
ausbaut, läßt sich nur im Z u s a m m e n h a n g mit den Fragen nach Alter und Eigenart der Väterverheißungen entscheiden. Die Propheten erwähnen (zu verschiedenen Zeiten) Gelübde o h n e jede Kritik (Hos 1 4 , 3 ; N a h 2 , 1 ; J o n 1 , 1 6 ; 2 , 1 0 ; Jes 1 9 , 2 1 ) . W e n n mit allem auch nicht unbedingt eine Tendenz zur Abschwächung der Verbindlichkeit von Gelübden (so Wendel) festzustellen ist, so zeigt das Alte T e s t a m e n t doch ein zögernd fortschreitendes Problematisieren des Phänomens Gelübde von der Praxis und d . h . von der Person des Gelobenden mit dessen Schwächen und von der damit verbundenen eventuell möglichen Ablösbarkeit her. Die Gemeinschaft von Q u m r a n hingegen praktiziert ungebrochen Eintrittsgelübde wie Enthaltungseid (1 Q S 5 , 8; 1 Q H 1 4 , 1 7 f f ; C D 1 5 , 5 f f ; vgl. aber C D 6 , 1 5 ; 1 6 , 1 3 mit ihren W a r nungen). Literatur Hartwig Amman, Art. Gelübde: EKL 1 (1956) 1 4 6 8 - 1 4 7 0 . - Christian Brekelmans, Art. Gelübde: BL 2 (1968) 5 4 6 f. - Francs Buhl, Art. Gelübde im AT: R E 3 6 ( 1 8 9 9 ) 4 8 5 - 4 8 7 . - Lienhard Delekat, Art. Gelübde: B H H 1 ( 1 9 6 2 ) 5 4 1 f. - Walther Eichrodt, Theol. des AT, Göttingen, 1 8 1 9 6 8 , 8 6 f. - W . H . Gispen, De Gelofte: GThT 61 ( 1 9 6 1 ) 4 - 1 3 . 3 7 - 4 5 . 6 5 - 7 3 . 9 3 - 1 0 7 . - Israel Gold, Das Gelübde nach Bibel u. Talmud (Diss. Würzburg 1925), Berlin 1 9 2 6 . - Heinrich Gross, Art. Gelübde. I. In der Schrift: LThK 2 4 ( 1 9 6 0 ) 6 4 0 . - Friedrich Horst, Der Eid im AT: EvTh 17 ( 1 9 5 7 ) 3 6 6 - 3 8 4 = ders., Gottes Recht, 1961 (TB 12) 2 9 2 - 3 1 4 . - Bernhard Körting (B. Kaiser), Art. Gelübde: RAC 9 ( 1 9 7 6 ) 1 0 5 5 - 1 0 9 9 . - Simon B. Parker, The Vow in Ugaritic and Israelite Narrative Literature: UF 11 ( 1 9 7 9 ) 693—700. - Wolfgang Richter, Das Gelübde als theol. Rahmung der Jakobsüberlieferungen: B Z N F 11 (1967) 2 1 - 5 2 . - A d o l f Wendel, Das israelit.-jüd. Gelübde, Berlin 1 9 3 1 . - D e r s . , Art. Gelübde. II: Im AT u. Judentum: RGG 3 2 ( 1 9 5 8 ) 1 3 2 2 f .
H o r s t Dietrich Preuß
III. J u d e n t u m In der Bibel bedeutet ein Gelübde (nädär) ein an G o t t gerichtetes Versprechen, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, oder eine selbstauferlegte Verpflichtung zur Enthaltung von an sich Erlaubtem. Gelübde werden in der Bibel häufig e r w ä h n t ( z . B . Gen 2 8 , 1 0 ; J d c 1 1 , 3 0 f f ; I S a m 1 4 f f ; N u m 2 1 , 2 ; Ps 6 1 , 6 . 9 ; H o s 1 4 , 3 usw.). Im allgemeinen wird das Gelübde als bindend anerkannt und, abgesehen von den tragischen Folgen im Falle J e p h t h a s , nicht kritisch beurteilt. Es ist unverkennbar ein verbreiteter V o l k s b r a u c h . Die ersten Zweifel melden sich zu Beginn der hellenistischen Zeit. Prov 2 0 , 2 5 und K o h 5 , 4 mahnen, es sei „für die M e n s c h e n ein Fallstrick, unbedacht zu g e l o b e n " , und es sei besser, gar nicht zu geloben, als ein Gelübde hinterher nicht zu halten (vgl. auch Prov 7 , 4 ; Sir 22,27). D a ß G e l ü b d e ein festes Element der jüdischen V o l k s p r a x i s bilden, zeigt sich daran, daß zwei ganze T r a k t a t e aus —»Mischna und —»Talmud (Nedarim und Nazir) diesem T h e m a gewidmet sind. Sie definieren und erörtern verschiedene Arten von Gelübden in einer Fülle verschiedener Situationen, und enthalten auch einen längeren Abschnitt über die Bedingungen, unter denen ein Gelübde widerrufen werden k a n n . Im großen und ganzen lassen die mischnischen Diskussionen keine V o r b e h a l t e gegenüber Gelübden erkennen. Allerdings kann gelegentlich gesagt werden ( m D e m 2 , 3 ) : „Sei nicht leichtfertig mit Gelübden gegenüber einem G e f ä h r t e n " . In der G e m a r a sind dann die W a r n u n g e n strenger, so etwa wenn R . M e i r feststellt: „Besser als beide ist, wer überhaupt nicht g e l o b t " (bNed 9 a ) . N o c h weiter geht b N e d 4 1 b , w o die Ablegung eines Entsagungsgelübdes mit dem eigenmächtigen Erbauen eines Altars verglichen wird. Das A u f k o m m e n solcher Warnungen hatte seinen G r u n d vielleicht in der zunehmenden Verweltlichung von Gelübden sowie in der T a t s a c h e , daß der Tempel als ein O r t , w o Gelübde erfüllt werden k o n n t e n , nicht m e h r existierte. Generell scheint eine Doppelgleisigkeit bestanden zu h a b e n : eine weitverbreitete Praxis auf Seiten des gemeinen V o l k e s , die a u f seifen der gebildeteren Schichten eher mit Skepsis betrachtet wurde. So entwickelte sich auch eine Reihe ausgearbeiteter Lösungsverfahren. N u r ein R i c h t e r
Gelübde IV
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konnte ein Gelübde auflösen, und gewöhnlich war ein Bet Din von dreien erforderlich (bSan 68 a). Lösung vom Gelübde konnte nur gewährt werden, wenn ein „Tor der Reue" (bNed 77b; BerR 91,3) vorhanden war. Die —»Sadduzäer beharrten auf der Unauflöslichkeit von Gelübden. Die —»Pharisäer dagegen mißbilligten nicht nur Gelübde, die einem Gesetz zuwiderliefen, sondern gaben denen, die sie geleistet hatten, eine Möglichkeit zur Rücknahme. Dieser Einstellung scheint sich Jesus anzuschließen, wenn er sagt: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße" (Mt 5,33). Paulus hat gelegentlich ein Gelübde abgelegt; so wird Act 18,18 berichtet, wie er sich im Zusammenhang eines Nasiräats-Gelübdes das Haar schor. Die Tendenz der tannaitischen Zeit, in der das Volk zur Verweltlichung und zum häufigen Gebrauch von Gelübden neigte, während Gelehrte zur Zurückhaltung drängten, setzte sich in der Zeit der Amoräer fort. In der gaonäischen Zeit nahm dann das Gelübdewesen ab. Das späte Midraschwerk BemR bietet z. B. keinen Kommentar zur Num 30, wo von Gelübden die Rede ist. Ein solches Schweigen wäre kaum denkbar, wenn Gelübde zur Zeit der Gaonen noch ein Thema von allgemeinem Interesse gewesen wären, wie sie es etwa in der Entstehungszeit von mNed und mNaz waren. Zur gaonäischen Zeit erfahren wir auch erstmals von der Aufnahme der Kol Nidrei in die Liturgie des Versöhnungstages. Der Gaon Jehudai (Babylonien, 8. Jh.) konnte schreiben: „Es ist nicht die Gewohnheit der Akademie, Gelübde zu Neujahr oder Jom Kippur aufzulösen. Aber wir haben gehört, daß sie in manchen Ländern Kol Nidre feiern" (Halakhot Pessukot [Jehudai Gaon], ed. J. Müller, Krakau 1893, 122). Hier sehen wir die Spannung zwischen Volksbrauch und höherer Gemeindepolitik (—»Gewohnheitsrecht). Im 11. Jh. schon lesen wir bei —»Salomo ben Isaak (Raschi), es sei „nicht der Brauch der Frommen, Gelübde zu leisten" (Komm, zu mNed 9,4); im 12. Jh. erkennt —»Mose ben Maimon Gelübde der Besserung als löblich an, warnt aber vor Übertreibungen, während im 16. Jh. Joseph Karo, der Autor des —»Schulchan Aruch, feststellt: „Wer ein Gelübde ablegt, ist ein Sünder"(Joreh Deah, 203,1). Obwohl der Brauch im Spätmittelalter an Bedeutung verlor, bewahrte die Alltagssprache seine Spuren auf. So wurde es üblich, eine Aussage mit der Wendung bli nädär (ohne Gelübde) einzuleiten, um deutlich zu machen, daß sie nicht als Gelübde gelten sollte, und deutsche Juden pflegten etwas Gesagtes durch das Wort ausser, eine Umbildung von esar (synonym mit nädär) zu verneinen. Bis zum heutigen Tag findet sich im Toragottesdienst in vielen traditionellen Liturgien ein Segen für jemanden, der beim Aufruf zur Toralesung eine Spendenzusage abgibt (she-nadar), und das Jiddische kennt bis heute den Begriff shnodder. Literatur Samuel Belkin, Dissolution o f V o w s : J B L 5 5 ( 1 9 3 6 ) 2 2 7 - 2 3 4 . - J a c o b Zallel Lauterbach, Art. Vows: J E 12 ( 1 9 0 6 ) 4 5 1 f. - Louis Isaac Rabinowitz, Art. V o w s and Vowing: E J 16 ( 1 9 7 1 ) 2 2 7 f. - Zwi Taubes, Die Auflösung des Gelübdes: M G W J 7 3 ( 1 9 2 9 ) 3 3 - 4 6 . - Adolf Wendel, Das israelit.-jüd. Gelübde, Berlin 1 9 3 1 .
Hayim Goren Perelmuter IV. Katholische Überlieferung und Lehre 1. Neutestamentliche Voraussetzungen zeitliche Entwicklung (Literatur S. 3 0 9 )
2 . Alte Kirche
3. Mönchtum
4 . Mittelalter
5 . Neu-
Das katholische Kirchenrecht bestimmt das Gelübde als ein überlegtes, freies und G o t t gemachtes Versprechen, das sich auf ein in sich mögliches und höheres sittliches Gut bezieht und als Akt der Gottesverehrung zu erfüllen ist (CIC 1 3 0 7 , 1 ) . Diese Definition ist einer langen religionsgeschichtlichen Tradition verpflichtet. Sie hat unmittelbar das Leistungsgelübde im Sinne; impliziert ist damit auch das Entsagungsgelübde, denn die versprochene gute Leistung schließt das an sich erlaubte Gegenteil aus. Solche Leistungen können in jedem sittlich guten Werk liegen: Gebet, Werke der Nächstenliebe, asketische Leistungen, besondere Gottesdienste, Wallfahrten usw. Das Gelübde bezieht sich in diesem Fall auf ein ein- oder mehrmaliges Tun. M i t der Erfüllung des Gelobten erlischt die aus dem Gelübde resultie-
Gelübde IV
306
rende Verpflichtung. Die versprochene Leistung kann jedoch auch von der Art sein, daß sie eine lebenslange Verpflichtung meint, die eine ganzheitliche Lebenshingabe, Weihe einer Person und ihres Lebens an G o t t bedeutet. In diesem Sinne bedeutet die —»Taufe ein jeden Christen bindendes Gelübde. Das auffallendste Gelübde dieser Art ist die Ganzhingabe des Menschen an G o t t in einer besonderen Lebensweise, wie sie der M ö n c h s - und Ordensstand mit sich bringt. Die Möglichkeit einer solchen Lebensführung, die freiwillig als Gegenstand eines eigenen Gelübdes angenommen und lebenslang durchgehalten wird, blieb bis in das späte Mittelalter hinein fast unangefochtenes Gemeingut der christlichen Uberlieferung. Im Gang dieser Uberlieferung bedingen sich theologische Deutung und kirchliche Praxis gegenseitig.
1. Neutestamentliche
Voraussetzungen
Die kirchliche Gelübdepraxis beruft sich auf das Neue Testament. Dessen Aussagen sind von der Selbstverständlichkeit und Vertrautheit der jüdischen Frömmigkeit mit dem Gelübde her zu sehen. Das von Jesus angesagte neue Gottesverhältnis wehrt sich gegen jede formalisierte Ethik und Religiosität. Das betrifft auch eine durch Kasuistik in Mißkredit geratene Gelübdepraxis (Mk 7,9—13; Mt 15,4—6). Hingabe an Gott wird von Jesus durch die radikale Umkehrforderung abgelöst. Seine Botschaft vom „nahen Gottesreich" bleibt offen für alle und duldet keine esoterische Abgrenzung, die durch besondere, aus einem Eid oder Gelübde kommende Verpflichtung überwunden werden könnte. Andererseits läßt sich eine grundsätzliche Verwerfung des Gelübdes durch Jesus wohl nicht belegen. Die Praxis der Urgemeinde wenigstens wehrt sich gegen solche Annahmen. Hier spielt das aus dem Alten Testamentüberkommene Nasiräatsgelübde (Num 6,1—21) eine besondere Rolle (—»Nasiräer). Act 18,18 will diese Praxis für Paulus belegen (eix^-votum-, vgl. Philo, SpecLeg 1,247-254: fxeyäXrj £V%rj), die in Act 21,23 für weitere Kreise ausgesagt wird. An diesen Stellen ist evxV als terminus technicus in die Sprache der christlichen Verkündigung übernommen. Daneben kann im Griechischen auch bfiokoyla treten. Dazu kommen andere Texte, die die spätere Gelübdepraxis legitimieren. Mt 19,12 spricht von einem freiwilligen Verzicht auf die—»Ehe „um des Himmelreiches willen". Im Lichte der paulinischen Empfehlung in I Kor 7 rückt die urgemeindliche Praxis wieder an die Gelübde heran: Uber die Ehelosigkeit hat Paulus kein Gebot des Herrn (emzayrj — praeceptum), wohl aber gibt er darüber einen Rat (yvwfxr] consilium, I Kor 7,25; vgl. 7,40). Das Gelübde der Ehelosigkeit wird bald mit diesen Schriftstellen begründet werden, zumal die paulinische Unterscheidung von Gebot und Rat die Auslegung in diesem Sinne steuern muß. Eine solche Deutung erfahren auch die jesuanischen Nachfolgeaufrufe. Die konkrete —»Nachfolge Jesu mit der Aufgabe des eigenen Besitzes und der Absage an die eigene Familie war nicht unerläßliche Bedingung für die Teilnahme am Gottesreich, sondern erging als besondere Aufforderung an einzelne (vgl. Mk 1 0 , 1 7 - 2 2 par.). Auch hier wird eine sich von Jesus entfernende Zeit das Gelübde als eine Möglichkeit entdecken, diese Art einer „engeren" Nachfolge Jesu in der Kirche lebendig zu erhalten. — Gelübdepraxis ist im neutestamentlichen Bereich, vom Hinweis des Nasiräat abgesehen, schwerlich genau zu belegen. Vielleicht darf I Tim 5,12 angeführt werden, wonach die von der Gemeinde anerkannte Witwe sich zum Verzicht auf eine neue Ehe verpflichtet hat; eine neue Ehe wäre ein Treuebruch Christus gegenüber. 2. Alte
Kirche
Die vorbehaltlose Aufnahme einer Gelübdepraxis und die Entfaltung einer eigenen Theorie über das Gelübde bringt die Alte Kirche. Die Praxis ergab sich, als die Nachfolge Christi in verschiedenen Stufen realisierbar erschien. Neben den normalen, alle in gleicher Weise verpflichtenden Weg, stellte sich ein zweiter Weg, der durch freiwilliges Mehr und Höheres gekennzeichnet war (I Clem 38,2; IgnPol 5,2; besonders umfassend Herrn sim 5,2: freiwillige Mehrleistung, der höherer Lohn zugesprochen wird). Diese Aussagen sind zwar nicht mit der Vorstellung eines Gelübdes verbunden, eröffnen ihm jedoch neue Möglichkeiten, zumal im Hermastext der Zusammenhang von höherer Leistung und besonderem Lohn zum Ausdruck gebracht wird, was für das Gelübde mitbestimmend ist. Unter der Mehrleistung ist in dieser Zeit vor allem die „Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen" zu verste-
Gelübde IV
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hen. Sie wird allgemein in der Kirche gefördert und ausgezeichnet. Das läßt sich vorab an —»Tertullian ablesen. Durch die Jungfräulichkeit gelobt man sich Gott an, vermählt sich mit Christus (orat. 22,9; virg. vel. 13,2 u.a.). Das Gelöbnis bedeutet hier Lebenshingabe, Weihe an Gott. Die gleiche Vorstellung und Terminologie findet sich bei —»Cyprian, der besonders die alttestamentliche Gelübdeterminologie wieder aufnimmt (testim. 3,30). Im Osten leistet —»Orígenes einen bedeutenden Beitrag. In orat. 111,2 erklärt erev%rj = Gelübde, als ein Versprechen, dies oder das zu tun, wenn man dies von Gott erlangt. Die alttestamentliche Orientierung führt ihn zu den beiden Elementen des Gelübdes, Versprechen und Bedingung. Doch deutlich zeigt er eine vergeistigte Auffassung des Gelübdes, das nur der homo interior ablegen kann und das die bereitwillige Hingabe des Menschen an Gott meint (in Num. hom. 24,2). Das Versprechen wird nicht mehr an eine Bedingung gebunden, sondern ist freie Darbringung an Gott, Ausdruck der Dankbarkeit und des liebenden Vertrauens Gott gegenüber. Einen wesentlichen Beitrag zur altkirchlichen Gelübdetheologie erbringt —> Augustin, der wieder in Parallelität zur fortgeschrittenen Gelübdepraxis gesehen werden muß. Da ist einmal das ganze Christenleben unter ein Gelübde gestellt (enarr. in Ps. 75,12). Daneben gibt es individuelle Gelübde wie Gastfreundschaft zu üben, auf persönlichen Besitz zu verzichten und sich einer Gemeinschaft anzuschließen und vor allem das Gelübde der Keuschheit (beständige Virginität: isti voverwit plurimum, ebd.). Entsprechend seiner Gnadenlehre betont er, daß ein Gelübde besondere —> Gnade Gottes voraussetzt und nur aus Gnade erfüllt werden kann (De civ. Dei 17,4). Der eigentliche Inhalt des Gelübdes ist immer die Hingabe des eigenen Lebens an Gott: in te est quod voveas (enarr. in Ps. 55,19). Jede äußere, durch ein Gelübde bedingte Tat, ist nur sichtbarer Ausdruck dieser innerlichen Haltung. Ein überzeugender Ausdruck solcher Ganzhingabe an Gott durch das Gelübde ist die monastische vita communis: Magnum votum vovit (enarr. in Ps. 75,16 u.a.). 3.
Mönchtum
Daß das —»Mönchtum von Anfang an die ganze asketisch-monastische Lebenshaltung unter die Verpflichtung eines eigenen Gelübdes gestellt hätte, läßt sich nicht behaupten. Mönch wird man durch einfachen Eintritt in eine Mönchsgemeinschaft, wodurch man sich zu dieser besonderen Form des Christenlebens bekennt. Der Entschluß (ófioloyía, ötaOfjxtj, E7tayyíXía,professio, pactum, propositum) dazu schließt die lebenslange Verpflichtung ein, sich der Gemeinschaft und den dort geltenden Regeln unterzuordnen. Ausdrücklich gilt dabei nur die Virginität als Gegenstand eines Gelübdes (Basilius, reg.fus. 1 4 - 1 5 ; ep. 199,18; 217,60.46; Basilius-Rufinus 11). Da die Virginität nun in die monastische Lebensform eingebettet ist, liegt die Ausdehnung des Gelübdes auf diese in ihrer Gesamtheit nahe. Der Adressat eines solchen Gelübdes ist Gott selbst. Das zeigt sich in der —»Benediktusregel (ebenso Magisterregel). Beide Regeln sprechen zwar nicht von vovere/votum, sondern von promittere. Aber sie lassen das Versprechen vor „Gott und seinen Heiligen" abgelegt werden (RM 89,11; RB 58,17). Der Magister fügt ausdrücklich die zum Gelübde gehörende Verbindung von Bedingung und Verheißung hinzu: „Si ad omnia audieris divinis praeceptis et meis monitis, in die iudicii tu coronam accipies bonorum actuum" [„Wenn du in allem auf die göttlichen Gebote und meine Mahnungen hörst, wirst du am Tag des Gerichts die Krone guter Werke erlangen"] (89,25). Solches Geloben ist für beide Regeln gottgewirktes Tun; sie fügen Ps 119 (118), 116 (RM dazu Ps 68 [67], 29) in den „Profeßritus" ein. Damit ist das ganze Mönchsleben zum Gegenstand eines Gelübdes geworden, das ganzheitliche Lebenshingabe an Gott meint und diese Lebenshingabe in der äußeren Form des Mönchslebens zum Ausdruck bringen will. Die triadische „Profeßformel" der Benediktusregel (stabilitas, conversatio morum, oboedientia) darf jedoch nicht mit der mittelalterlichen Gelübdetrias gleichgesetzt werden. Die genannten Elemente meinen nichts anderes als das monastische Leben sub regula vel abbate in all seinen "Beanspruchungen.
308 4.
Gelübde IV Mittelalter
Die lebendige monastische Praxis des Mittelalters bringt weitere theoretische Darlegungen zum Gelübde. Die monastische Profeß wird nun deutlich zum Gelübde, durch das der Gelobende sich ganz Gott hingibt. Das kommt in üblichen Profeßformeln zum Ausdruck: „Ego frater N. offerens trado meipsum ecclesiae" [„Ich, Bruder N., übergebe mich in Hingabe der Kirche"]. Dem Hingabe-Versprechen folgt die Heils Verheißung: „Wenn du dies halten w i r s t . . . " . Zum anderen wird der Inhalt der Profeß durch die Gelübdetrais —> Gehorsam, —* Keuschheit und —»Armut festgelegt. Die Kanonistik beschäftigt sich mit den äußeren Bedingungen des Gelübdes, ihrem Verpflichtungsgrad, Entbindung, Ablösung eines Gelübdes durch ein anderes usw. Die begleitende Theologie versucht tiefere Begründungen, die das Gelübde vor allem als Akt der Gottesverehrung herausstellen: „Das Geloben ist die Hinordnung des Gelobten zum göttlichen Kult. So ist es klar, daß das Geloben ein Akt der Gottesverehrung ist" (Thomas v. Aquino, S.th. II-II, 38,5). Die Höherwertigkeit des im Gelübde Versprochenen steht allgemein außer jedem Zweifel; freilich liegt dessen höherer Wert nicht einfach in der dinglichen Leistung (bzw. Entsagung), sondern in der Hinordnung auf das Ziel der Liebe und Verehrung Gottes: Die Gelübde sind ein sicherer Weg der Nachfolge Christi, bestgeeignete Mittel zur Vollkommenheit. Daher sind sie im Ordensstand unerläßlich, weil dieser status perfectionis acquirendae ist. Nicht bedeuten die Gelübde tatsächlich subjektive Heiligkeit, sondern sind Ausdruck des ernsten Strebens nach Heiligkeit. Wenn die monastische Profeß als „zweite Taufe" bezeichnet wird, so ist das teilweise erbaulicher Vergleich, zum anderen aber vom Verständnis des Mönchslebens als ständige Buße her zu verstehen. Der Vergleich will nicht besagen, daß die Mönchsprofeß die gleiche sündentilgende und heilsvermittelnde Kraft wie die Taufe in sich trage. Über das Gelübde als Lebenshingabe hinaus, sieht die mittelalterliche Frömmigkeit ein ernstes Anwachsen der Gelübdefreudigkeit im Sinne von dinglichen Gelübden. Das wirkt sich im Ordensstand aus durch die Einführung von Sondergelübden, am bekanntesten das des speziellen Gehorsams gegenüber dem Papst in der Gesellschaft Jesu (—»Jesuiten). 5. Neuzeitliche
Entwicklung
Die scharfe Ablehnung der Gelübde als frommes Tun und als Konstitutive des Ordenslebens durch die Theologen der Reformation, forderte die Verteidigung heraus. In der Auseinandersetzung wurden die Argumente unversöhnlich gegeneinander gestellt. Die Verteidiger des Gelübdes beriefen sich auf die lange Tradition und sahen das Gelübde biblisch begründet. Die Verteidigung beginnt mit der offiziellen Confutatio des —> Augsburger Bekenntnisses. Sie setzt sich bei den privaten Entgegnungen auf das evangelische Bekenntniswerk bis zum —>Tridentinum fort. Das überraschende Erstarken des Ordenslebens in den katholisch gebliebenen Ländern und die außerordentlich selbstbewußte und lebendige Volksfrömmigkeit mit ihrer unbeschwerten Gelübdepraxis bestärkten wiederum die Theorie, die keinen Grund sah, die vertraute Uberlieferung zu korrigieren. Die theologische und vor allem kirchenrechtliche Klarstellung sollte Mißstände hinfort verhindern. Die rechtliche Abklärung führte zu Definitionen: öffentliche Gelübde und auch ewige (für das ganze Leben verpflichtend) und zeitliche. Ausführliche Bestimmungen regeln die Ablegung, die genaue Erfüllung und auch Befreiung vom Gelübde (CIC 1 3 0 7 - 1 3 1 5 ) . Die Pastoral rät in privatem Bereich zum behutsamen Umgang mit dem Gelübde. Nach wie vor gilt es als bevorzugter Akt der Gottesverehrung, in dem der Gelobende etwas von sich (seinem Besitz, seinem Können) oder sich selbst vorbehaltlos Gott übereignet, nachdem er sich von Gottes Gnade zu solchem Tun berufen weiß. Die jüngste Entscheidung über die Gelübde (als Lebenshingabe im Ordensstand) traf die kath. Kirche auf dem II. —> Vatikanum (Dekret Perfectae Caritatis vom 28. Oktober 1965). Darin wird an der Überlieferung festgehalten: Das Leben unter dem Gelübde (nach der klassichen Trias Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam) ist eine christliche Möglichkeit. Wo sie realisiert wird, ist sie nicht Menschenwerk, sondern liebende und dankende Antwort auf einen Anruf Gottes. Die übernommene Lebensform ist nicht mehr Pri-
Gelübde V
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vatsache, sondern öffentlich-kirchliche Angelegenheit. Das Leben unter den Gelübden stellt sich bewußt unter die jeden Christen verpflichtende Nachfolge Christi. Das schöne Wort des —»Basilius von Caesarea verdient aufgenommen zu werden: Das Christenleben ist nur von einer Art, kennt nur einen Weg (ptovôxQOTtoç ßiog reg.fus. 20,2). Freilich kann dieser Weg in verschiedener Form verwirklicht werden. Damit kann das Verhältnis von Taufe und Neuverpflichtung durch ein Gelübde so bestimmt werden: „Das Gelöbnis begründet gleichsam eine besondere Weihe (peculiarem quadam consecrationem), die zutiefst in der Taufweihe wurzelt und diese voller zum Ausdruck bringt" (perf. car. 5,1). Das Leben unter den Gelübden hat also nur den einen Sinn, die Taufweihe voller zum Ausdruck zu bringen, sie in der Weise des Zeichens deutlicher zu machen. Auch der Ordenschrist lebt allein aus der Taufgnade und Taufweihe. Vielleicht läßt sich mit einer Beobachtung —»Bernhards von Clairvaux die Spannung entschärfen: „Wenngleich nicht alle Christen, selbst gute Christen, nicht alles beobachten, was im Evangelium steht, so leben doch alle gemäß dem Evangelium" (secundum Evangelium vivunt, de praec. et dispens. 16,48). Die Taufe verpflichtet jeden zu solchem evangeliumgemäßen Leben: Daß aus dieser Verpflichtung verschiedene Konsequenzen gezogen werden können, daß unter dem Anruf der Gnade freiwillige Verpflichtungen übernommen werden, die vom Evangelium in seiner Gänze gedeckt sind, kann wohl nicht geleugnet werden. Literatur Heinrich Bacht, Die Mönchsprofeß als Zweite Taufe: Cath(M) 23 (1969) 2 4 0 - 2 7 7 . - Aquinata Böckmann, Die Armut in der innerkirchl. Diskussion heute, Münsterschwarzach 1973. - Catherine Capelle, Le vœu d'obéissance des origines au 12 e s., Paris 1959. - Johannes Günter Gerhartz, Insuper promitto. Die feierlichen Sondergelübde kath. Orden, Rom 1966. - Hugo Koch, Virgines Christi. Das Gelübde der gottgeweihten Jungfrauen in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1907. - Bernhard Kötting, Art. Gelübde: RAC 9 (1976) 1 0 5 5 - 1 0 9 9 . - E. Schulz-Flügel, Q. S.F. Tertulliani De virginibus velandis, Göttingen 1977. - P. Séjourné, Art. Voeu: DThC 15 (1950) 3 1 8 2 - 3 2 3 4 . - Adalbert deVogûé, La Règle de S. Benoît, Paris 1 9 7 2 - 7 7 . - Friedrich Wulf, Komm, zu Perfectae Caritatis: LThK.E 2 (1964) 2 5 0 - 3 0 6 . - Josef Zürcher, Die Gelübde im Ordensleben, 3 Bde., Einsiedeln u.a. 1 9 5 6 - 6 0 .
Karl Suso Frank V. Reformationszeit 1. M. Luther
1. M.
(Literatur S. 311)
2. Joh. Calvin
Luther
Die Gelübde, wie sie sich vor allem in der mittelalterlichen Kirche entwickelt hatten, gerieten in der Reformationszeit in die größte Krise ihrer Geschichte. Die Ursache dafür lag in der theologischen Unklarheit über das Wesen der Mönchsgelübde in ihrer Beziehung zur —»'Taufe, aber auch über das Verhältnis von Mönch tum und Weltchristentum. Diese Krise wirkte sich deswegen so nachhaltig aus, weil das Mönchtum in der spätmittelalterlichen Gesellschaft einen außerordentlich wichtigen Platz einnahm. Bei den vielfältigen Fragen, welche seit 1517 zwischen —»Luther und Rom strittig wurden, war das Problem der Gelübde der letzte Streitpunkt. Diese Tatsache mag mit darin begründet sein, daß Luther mit der Verwerfung der Mönchsgelübde zugleich auch seine eigene Existenz als Mönch in Frage stellte. Luthers scharfe Abrechnung mit den Gelübden in der Schrift De votis monasticis iudicium (November 1521) ist jedenfalls zugleich auch eigene Vergangenheitsbewältigung; dies zeigt sich nicht zuletzt in dem Widmungsbrief an den Vater (WA 8 , 5 7 3 - 5 7 6 ) . Das Mönchtum hatte seit seinen Anfängen als der bessere und sicherere Weg zum Heil gegolten. Theologisch begründet wurde diese Auffassung mit der Unterscheidung zwischen —»Geboten und evangelischen Räten (—»Consilia evangelica). Schon in der späteren alten Kirche hatte insbesondere —»Hieronymus das Mönchsgelübde mit einer zweiten Taufe verglichen. Auch die immer weiter entwickelte Mariologie diente dazu, den besonderen Wert
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Gelübde V
des Mönchtums zu begründen. Die vorsichtigere Entfaltung des Ideals der vita monastica, wie sie vornehmlich bei —»Augustin oder —»Thomas von Aquin begegnet, vermochte die massiveren Vorstellungen, die auch in der Theologie begegneten, nicht zu korrigieren. Johann von —»Paltz (gest. 1511), Luthers Ordenslehrer im Erfurter Augustinerkloster, hat das Mönchtum ganz im Zusammenhang der Mariologie gesehen: —»Maria hat kraft ihrer Demut den Herrn vom Himmel „heruntergezogen", sie hat die drei Gelübde ausgehen lassen und alle Klöster, ja den gesamten christlichen Glauben begründet (Belege bei Lohse, Mönchtum u. Reformation 160—171). Angesichts der Geschichte des monastischen Ideals kann eine solche Äußerung nicht als bloße Entgleisung bezeichnet werden. Seine volle Brisanz gewann der Konflikt um die Gelübde jedoch erst aufgrund der Stellung der Klöster in der damaligen Gesellschaft. Die Orden waren durch ihre Zahl, ihren Reichtum, ihre Steuerprivilegien, ihre Bedeutung für Lehre, Ablaßvertrieb und Ketzerbekämpfung bis hin zur Inquisition der mächtigste Teil der damaligen Kirche. Luther war 1505 aus Sorge um sein Seelenheil Mönch geworden. Die Vorstellung von der Höherwertigkeit des mönchischen Lebens gegenüber dem weltlichen mußte seine Anfechtungen noch verstärken. Allerdings hat Luther zu keiner Zeit selbst die Profeß als zweite r a u f e bi eichnet oder dem Mönchtum einen höheren Wert zugeschrieben als dem Leben in "-r Weh Stattdessen hat er schon in der 1. Psalmenvorlesung (1513-1515) in demTaufge.abde d LS entscheidende Gelübde des Menschen gesehen, das über dem Mönchsgelübde steht und von diesem höchstens noch einmal aufgenommen, nicht jedoch erneut in Geltung gesetzt wird. Dabei werden die monastischen Tugenden in neuem Sinne als mit dem Glauben identisch angesehen. Scharf hat Luther damals schon die Werkgerechtigkeit vieler Mönche kritisiert. Trotzdem hat er noch 1519 im Taufsermon gesagt, daß der Mensch, um „seiner Tauf' Vollbringung" zu erlangen, sich an einen Orden binden und sich dort dem realen Vollzug des in der Taufe gleichnishaft geschehenen Sterbens widmen könne (WA 2,736,5-18). Andererseits hat Luther 1520 von seiner Tauftheologie her die Aufhebung aller Gelübde gefordert (WA 6,538,26-37). Die Mönchsgelübde stellten für ihn jedoch ein größeres Problem dar als das priesterliche Zölibatsgelübde, weil dieses von der Kirche widerrechtlich erzwungen, jenes aber freiwillig geleistet sei. Während Luthers Wartburgaufenthalt spitzte sich die Entwicklung in Wittenberg zu. Immer mehr Mönche und Nonnen verließen ihre Klöster, ohne daß theologisch über das Recht dazu Klarheit bestand. Im Juni 1521 äußerte —»Karlstadt in Disputationsthesen, daß ein Mönch, der „brennt" (I Kor 7,9), das Keuschheitsgelübde brechen dürfe; das sei zwar Sünde, aber schlimmer sei der innere Widerstand gegen das Gelübde. Gegen diese Ansicht verfaßte Luther im Herbst 1521 zunächst seine Themata de votis, sodann De votis monasticis iudicium. In dieser sehr systematisch aufgebauten Schrift untersuchte Luther die Frage, welche Gelübde rechte Gelübde sind. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Mönchsgelübde der Sache nach sich nicht auf die Schrift stützen; sie dienten im Grunde der Werkgerechtigkeit. Ewig bindende Gelübde seien darum nicht gültig. Luther wagte es daher, alle Mönche von ihren Gelübden loszusprechen (WA 8,597,1-8). Allerdings ließ er es gelten, wenn jemand „in frommer Gesinnung", nicht um besonderen Lohnes willen, das Mönchsleben erwählt, so wie ein anderer etwa Handwerker wird (WA 8,604,9-21). Aus den Gelübden dürfe jedoch kein Gesetz gemacht werden. Mönche und Nonnen müßten jederzeit das Recht haben, das Kloster zu verlassen und zu heiraten. Die Jungfräulichkeit stehe nicht über dem Ehestand. Diese Ansichten brachten zugleich eine völlige Neubewertung weltlicher Arbeit mit sich. Luthers Schrift verstärkte die Tendenzen zum Verlassen der Klöster. Orden und Klöster gerieten in Deutschland in ihre größte Krise; weithin hörten sie auf zu bestehen. Es gab jedoch auch Mönche und Nonnen, die in den Klöstern blieben. Als nach dem Reichstag zu Speyer 1526 (—> Reichstage der Reformationszeit) der Aufbau des evangelischen Kirchenwesens begann, stellte die Neuordnung der Klöster eine wichtige Aufgabe dar. Die evangelischen Stände waren hierbei freilich zugleich darauf bedacht, sich den umfangreichen Klosterbesitz anzueignen. Der säkularisierte Klosterbesitz wurde ]odoch vorwiegend für den Unterhalt der Pfarrer, der Schulen sowie für das Armenwesen verwen-
Gelübde V
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det. Für eine Übergangszeit blieben m a n c h e Klöster noch erhalten, in denen alte M ö n c h e und N o n n e n ihre T a g e beschließen konnten oder in denen teilweise evangelische Stifte eingerichtet wurden. In keinem Fall wurden jedoch in den umgewandelten Klöstern noch lebenslang bindende Gelübde gefordert oder geleistet. In den evangelischen Gebieten änderte sich d a r u m die gesamte Sozialstruktur auf das nachhaltigste. Die theologische Frage der Gelübde wurde im J a h r e 1 5 3 0 noch einmal intensiv behandelt. Bereits die Torgauer Artikel (—» Augsburger Bekenntnis I) enthielten einen Abschnitt „ V o m K l o s t e r l e b e n " . Hier wurde apologetisch d a r a u f hingewiesen, d a ß nicht der sächsische Kurfürst, sondern die nunmehr als falsch erkannte Höherwertigkeit des Klosterlebens zu der Austrittsbewegung geführt habe. Im Augsburger Bekenntnis sind diese Gedanken in Art. 2 7 aufgenommen und in Anknüpfung an Luthers Schrift De votis monasticis iudicium näher entfaltet worden. M e l a n c h t h o n kritisierte vor allem, daß viele in Unkenntnis ihrer Kräfte die Gelübde geleistet hätten, später aber ihren Beschluß nicht hätten revidieren dürfen. Nicht richtig ist die auch von Luther öfter geäußerte Ansicht, die Klöster seien einst freie co/legia gewesen (CA 2 7 , 2 ) . Wichtiger als die Beanstandung einzelner M i ß s t ä n d e ist freilich die theologische Kritik an den Gelübden. Sie richtete sich vor allem gegen das unzureichend bestimmte Verhältnis von T a u f - und M ö n c h s g e l ü b d e (CA 2 7 , 1 1 ) . Die Auseinandersetzung wurde in der Confutatio (s.o. Abschn. IV. 5) und in der Apologie (—» Augsburger Bekenntnis I I - I I I ) fortgesetzt, o h n e d a ß neue Gesichtspunkte hinzukamen. Literatur Heinrich Bacht, s. o. Abschn. IV. - Rene-H. Esnault, Le „ D e Votis Monasticis" de Martin Luther: E T R 3 1 ( 1 9 5 6 ) Nr. 1, 1 9 - 5 6 ; 3 1 (1956) Nr. 3, 5 8 - 9 1 . - D e r s . , Lutheret le Monachisme aujourd'hui. Lecture actuelle du De votis monasticis judicium, 1 9 6 4 (NSTh 1 7 ) . - J o h a n n e s Haikenhäuser, Kirche u. Kommunität. Ein Beitr. zur Gesch. u. zum Auftrag der kommunitären Bewegung in den Kirchen der Reformation, 1 9 7 8 (KKTS 42). - Karl Holl, Die Gesch. des Worts Beruf: ders., GAufs. zur KG, Tübingen, III 1 9 2 8 , 1 8 9 - 2 1 9 . - B e r n h a r d Lohse, Die Kritik am Mönchtum bei Luther u. Melanchthon: Luther u. Melanchthon. Referate u. Berichte des 2. Int. Kongresses für Lutherforschung, hg. v. Vilmos Vajta, Göttingen 1 9 6 1 , 1 2 9 — 1 4 5 . - Ders., Mönchtum u. Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des M A , 1963 (FKDG 1 2 ) . - Ders., Askese u. Mönchtum in der Antike u. in der alten Kirche, 1 9 6 9 (Religion u. Kultur der alten Mittelmeerwelt in Parallelforschungen 1). - Ders., Mönchtum: Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Unters, luth. u. kath. Theologen, hg. v. Harding Meyer/Heinz Schütte, Frankfurt a . M . 1 9 8 0 , 2 8 1 - 2 9 2 . - Otto Hermann Pesch, Luthers Kritik am Mönchtum in kath. Sicht: Strukturen christl. Existenz. Beitr. zur Erneuerung des geistlichen Lebens. FG Friedrich Wulf S J , Würzburg 1 9 6 8 , 8 1 - 9 6 . 3 7 1 - 3 7 4 . - Heinz-Meinolf Stamm O F M , Luther u. das Ordensleben, Rom 1 9 7 7 . — Robert Stupperich, Luther u. das Fraterhaus in Herford: Geist u. Gesch. der Reformation. FG Hanns Rückert, 1 9 6 6 (AKG 38) 2 1 9 - 2 3 8 . - Ders., Das Herforder Fraterhaus u. die Reformation: J V W K G 6 4 ( 1 9 7 1 ) 7 - 3 7 . - Gustaf Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, 1 9 5 2 (FGLP 1 0 / 3 ) .
Bernhard Lohse
2. Joh.
Calvin
—» Calvin behandelt die Gelübdefrage umfassend und in seiner differenzierenden Haltung bis heute folgenreich für die evangelische Ethik (Inst. I V , 1 3 , 1—21). Gelübde als Versprechen, die in bezug auf —* G o t t abgegeben werden, sind danach zunächst darauf zu prüfen, o b das —» W o r t Gottes sie billigt; sodann ist die jeweilige Lage des Gelobenden, also etwa sein —»Beruf und seine christliche —»Freiheit zu berücksichtigen; schließlich k o m m t es darauf an, o b das Gelübde zu einem vernünftigen Z w e c k e und um dem Herrn zu gefallen, abgelegt wird. Als angemessene Z w e c k e für christliche G e l ü b d e nennt Calvin den D a n k für empfangene W o h l t a t e n , das Bemühen u m Abwendung einer wegen der —»Sünde drohenden —»Strafe und die gewissermaßen pädagogische Absicht, so der Neigung zu einem Laster entgegenzuwirken. M i t diesen Grundsätzen billigt er das Gelübde der Absage an den Satan und der Unterstellung unter den gnädigen G o t t bei der —»Taufe, das durch die Feier des —»Abendmahles bekräftigt wird. D i e Gelübde des katholischen —»Mönchtums lehnt er wie —»Luther (s.o. Abschn. 1) ab. Unrechtmäßige Gelübde sind für ihn ungültig; man darf sie
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Gelübde VI
nicht nur, sondern man muß sie brechen. Diese Gesichtspunkte wirken im —»Heidelberger Katechismus nach (Frage 91). Albert Stein
VI. Ethisch 1. Neuerer Diskussionsstand
1. Neuerer
2. Würdigung
(Literatur S. 313)
Diskussionsstand
Unter Nachwirkung der reformationszeitlichen Grundhaltung lassen —»Pietismus und —»Erweckungsbewegungen die Gelübdefrage wieder mehr unter dem Gesichtspunkt der —»Frömmigkeit des Einzelnen erneut zum Thema der neueren evangelischen Ethik werden. M. —»Kahler beurteilt Gelübde eher kritisch als wegen der allumfassenden sittlichen Verpflichtung unerlaubt oder aber als eine willkürlich der göttlichen Führung gesetzte Schranke; anderes gilt lediglich dem ausdrücklichen Bekenntnis zur Übernahme sittlicher Verpflichtungen im Gemeinschaftsleben. — F. H. R. —»Frank sieht die Möglichkeit solcher christlicher Gelübde unter dem Gesichtspunkt von —»Freiheit und —»Gesetz als sinnvoll an, die sich aus der Beziehung des Christen auf die Welt und die Gemeinschaften ergeben, weiter bei —»Taufe und —»Konfirmation. Freiwillige Gelübde zu Forderungen christlich-sittlichen Lebens begründet er mit dem evangelischen Verhältnis von —»Liebe und Gegenliebe. Den göttlichen Gaben entspricht menschlicher Dank etwa für die Errettung aus schwerer Gefahr; aber auch Einsicht in die eigene Schwachheit beim Kampfe gegen Lieblingssünden kann zu Selbstverpflichtung führen, an sich erlaubte Genüsse als gefährliche —»Versuchung zu meiden. Solche Gelübde könnten heilsam sein, seien aber keineswegs als ein Zeichen höherer christlicher Vollkommenheit anzusehen. Auch ihnen drohe die Gefahr, in ein gesetzlich ängstliches Wesen hineinzugeraten und mehr mit peinlicher Sorgfalt das selbst auferlegte Gesetz zu beobachten, als vielmehr die Quellen der Kraft durch tägliche Buße und Hingabe an Gott zu erneuern. J. —»Köstlin erörtert persönliche Gelübde, die als Ausdruck besonderer innerer Bewegung und Erregung in außerordentlichen Fällen abgelegt werden; als „Gelobgebete" müßten sie aber immer bedingungsweise bleiben und könnten Gottes Verfügung über uns nicht vorgreifen. Er unterscheidet davon eigentliche Gelübde und Gelöbnisse als Zusage an eine menschliche —»Gemeinschaft. — A.D. Müller stellt die Gelübde als geistliche Übungen (—»Exerzitien) mit der —»Askese zusammen. Als nachdrückliche Bestätigung oder Konkretisierung eines sittlichen Grundgebotes können sie für ihn nur in einprägsamer Form feststellen, was sich ohnedies in der gegebenen Lage von selbst versteht. Ihr menschlicher Sinn sei es aber, einen sittlichen Vorsatz einprägsam zu machen, also der Vergeßlichkeit und Flüchtigkeit entgegenzuwirken und die Flucht in eine abstrakte Unverbindlichkeit abzuschneiden. N . H . Soe sieht die Gefahr, daß insbesondere junge Menschen die Reichweite eines übernommenen Gelübdes nicht sofort übersehen. Er erinnert mit Hinweis auf die Reformatoren daran, daß man ein Versprechen brechen muß, das zur Sünde nötigen will.—H. Thielicke betont zum Gelübde bei der —»Ordination, dieses werde nur scheinbar einer Institution, in Wirklichkeit vielmehr dem Herrn der Kirche gegenüber abgelegt. Die Gott gelobte Treue könne nur gehalten werden, insofern Gott mir treu bleibt und mir im —»Glauben die Kindschaft schenkt. — W. Trillhaas bejaht Gelübde bei Konfirmation und —»Trauung, Ordination und Übertragung kirchlicher -H»Ämter, die den Entschluß zur Treue feierlich bestätigen. - H. Arendt sieht die Macht des von Mensch zu Mensch gegebenen „Versprechens" darin, daß durch seine Kraft Gemeinschaft zusammengehalten und gebunden werden kann. Nur das Versprechen mache den Menschen auch für sich selbst „berechenbar" und seine Zukunft durch den guten Willen verfügbar, zu versprechen und Versprochenes zu halten.
313
Gelübde VII
2. Würdigung Evangelische Ethik sollte Gelübde weder als selbstverständlich bejahen noch von vorneherein ablehnen. Bestimmt, geformt und begrenzt durch ihr Wesen als Stück unserer —»Heiligung, können sie nach Gottes Willen nur im Vertrauen auf die durchhaltende Kraft der von ihm geschenkten —»Rechtfertigung und auf die von ihm eröffnete Möglichkeit der Dankbarkeit in guten Werken hin geschehen. Gerade wenn sie von der Einsicht in die Gebrochenheit menschlicher Verhältnisse, in die Grenzen menschlicher Möglichkeiten und das bleibende Angebot der göttlichen Vergebung bestimmt sind, können sie den einzelnen Christen ebenso wie ihren Gemeinschaften im Glauben einen Dienst tun. Die ethische Bedeutung eines christlichen Gelübdes wird nicht schon von dem bloßen Sachverhalt seiner Ablegung, sondern erst vom jeweiligen Anlaß, Zweck und Inhalt abhängen. Dabei läßt sich zwischen höchstpersönlichen, seelsorgerlich veranlaßten und in einem Gemeinschaftsverhältnis begründeten Gelübden unterscheiden. Innerhalb des persönlichen, unter Gottes Augen geführten Christenlebens sollte es förmlicher Selbstverpflichtungen nur aus besonderen Gründen bedürfen. Was von dem Gelöbnis eines bestimmten sittlichen Verhaltens an selbsterzieherischer Wirkung erhofft wird, kann auch von einem im Gebet klar ausgesprochenen Vorsatz ausgehen. Gelübde, die als Mittel seelsorgerlicher Führung im Rahmen einer geistlichen Helferbeziehung angeraten und abgenommen werden, sollten die sittliche Freiheit des Gelobenden achten. Innerhalb einer geordneten christlichen Gemeinschaft, insbesondere beim Eintritt in einen neuen Lebensstand oder bei der Übernahme eines Amtes, kann ein öffentlich abgelegtes Gelübde als Vergewisserung über Ernst und Inhalt des Willens zu der jetzt beginnenden, sich aufeinander einlassenden Zusammenarbeit vor Gottes Angesicht ein zur Gemeinschaft helfendes und sie bekräftigendes Zeichen werden. Solche zeichenhaften Gelübde vorzusehen, kann christliche Ethik dem Recht des —»Staates ebensowenig verwehren wie die Abnahme eines —»Eides; aber auch die christliche Kirche macht in diesen Grenzen Gelübde mit gutem Grund zum Bestandteil ihrer Lebensformen. Literatur Hannah Arendt, Vita activa oder V o m tätigen Leben, Stuttgart 1 9 6 0 , 2 3 9 - 2 4 3 . - Franz Hermann Reinhold F r a n k , System der christl. Sittlichkeit, Erlangen, 1 1 8 8 4 , 3 8 0 - 3 9 2 . - Martin Kahler, Die Wiss. der christl. Lehre, von dem ev. Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Erlangen 1 8 8 3 , Leipzig 3 1 9 0 5 , 5 7 8 - 5 8 0 . - Julius Köstlin, Art. Gelübde in der christl. Kirche, R E 1 6 ( 1 8 9 9 ) 4 8 8 - 4 9 6 . - Franz Lau, Art. Gelübde V . im Protestantismus: R G G 1 2 ( 1 9 5 8 ) 1 3 2 5 . - Alfred Dedo Müller, Ethik. Der ev. Weg der Verwirklichung des Guten, 1 9 3 7 ( S T ö . T 4), 1 8 5 - 1 8 8 . - Niels Hansen Soe, Christi. Ethik, München 1 9 4 9 , 2 1 9 5 7 , 2 7 4 - 2 7 5 . - H e l m u t Thielicke, Theol. Ethik, Tübingen, I I / 2 1 9 5 8 , 4 8 3 - 4 8 4 . - W o l f g a n g Trillhaas, Ethik, 1 9 5 8 ' 1 9 7 0 (GLB).
Albert Stein VII. Praktisch-theologisch 1. Liturgische Fragen
1. Liturgische
2 . Seelsorgerliche Probleme
(Literatur S. 3 1 6 )
Fragen
Gelübde oder gelübdeähnliche Handlungen finden oder fanden sich in den Liturgien der meisten —> Kasualien. Zur Taufe eines Säuglings gehört oft eine Erklärung der Eltern und Paten im Blick auf die christliche Erziehung des Täuflings. Die Problematik herkömmlicher Gelübde anläßlich der —»Konfirmation hat wesentlich zu der Umgestaltung dieser Amtshandlung beigetragen. Seit die kirchliche —»Trauung im Zeitalter der obligatorischen Zivilehe nicht mehr konstitutiv für den rechtlichen Beginn einer—»Ehe ist, wurde das wechselseitige Eheversprechen zu einem tragenden Bestandteil dieser kirchlichen Handlung. Z u r —»Ordination gehört meist die von dem Ordinanden zu erklärende Übernahme seiner Lehrund Amtsverpflichtung. Andere kirchliche Amtsübertragungs-, Einführungs- und Einweisungshandlungen sind von diesem Vorbild beeinflußt. Meist spricht heute bei allen diesen Kasualien der zu Verpflichtende das Gelübde nicht selbst, geschweige legt er es mit eigenen
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Gelübde VII
Worten ab; vielmehr richtet der Liturg an ihn jeweils einen auf die Amtshandlung bezogenen Vorhalt, fordert ihn zur Antwort auf und nimmt seine liturgisch vorgeformte Zusage entgegen. Für Selbstbezeichnung und Charakter der somit abzugebenden Erklärung zeigen —»Agenden und -^Kirchen rechtsquellen drei Haupttypen. Zum Teil bezeichnen sich die Verpflichtungsformeln ausdrücklich als Gelübde und werden die Beteiligten aufgefordert, ein bestimmtes künftiges Verhalten zu geloben. So verfährt etwa die Agende der —»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands bei der Einführung von Kirchenvorstehern, Synodalen, Oberinnen, Äbtissinnen, Kirchenmusikern, Lektoren, Katecheten, Küstern und Diakonen. Auch das Dienstrecht der Kirchenbeamten und der kirchlichen Angestellten der—»Evangelischen Kirche in Deutschland verlangt zum Dienstantritt ein gesetzlich festgelegtes „Gelöbnis" als Grundlage der Amtspflichten, das neben dem Versprechen treuer Pflichterfüllung insbesondere auch die Übernahme der Verschwiegenheitspflicht umfaßt. Solchen ausgesprochenen Gelübdeverpflichtungen steht eine andere Form der Verpflichtung gegenüber, welche die Beteiligten unter Vermeidung einer ausdrücklichen Gelobensformel nur nach Bereitschaft und Willen zu dem für die Amtshandlung vorausgesetzten Verhalten befragt. So fordert der taufende Pfarrer nach der Agende der VELKD die Taufeltern und Paten nach dem Vorhalt ihrer künftigen Pflichten hin nur noch auf: „Seid Ihr dazu bereit, so sprecht ,Ja, mit Gottes Hilfe'!" Ähnlich werden die Konfirmanden unter Verzicht auf ein ausdrückliches Gelübde im Anschluß an das Glaubensbekenntnis gefragt: „Wollt Ihr durch die Gnade Gottes in diesem Glauben bleiben und wachsen, so bezeugt das vor Gott und dieser Gemeinde und sprecht: ,Ja, durch Gottes Gnade'!". Ebenso beschränkt sich die Formel für die Trauung in dieser Agende auf die Frage: „Willst Du diese . . . , die Gott Dir anvertraut, als Deine Ehefrau lieben und ehren?". Vorbild einer solchen Gestaltung scheint das anglikanische —>Book of Common Prayer zu sein, welches bei Taufe und Trauungsliturgie wie bei der Ordination lediglich nach dem aktuellen Willen der Erschienenen fragt. Offenbar soll hier das schwierige und belastende Gebiet der, ein künftiges Verhalten versprechenden Gelübde aus dem gottesdienstlichen Ablauf herausgehalten werden; aber gleichwohl will man in der gottesdienstlichen Handlung vor Gott und der versammelten Gemeinde Klarheit über die Pflichtenseite der zu übertragenden Aufgabe und über die Bereitschaft zu ihrer Erfüllung schaffen. Die meisten Agenden allerdings bilden in der Gestaltung der Kasualien eine dritte Gruppe, indem Fragen nach dem Willen und der aktuellen Bereitschaft der an der Amtshandlung Beteiligten neben ausdrücklichen Gelöbnissen und Verpflichtungen stehen. So fragt etwa die Ordinationsliturgie der VELKD zwar nur nach dem Willen, das angetretene Amt treu zu erfüllen; andererseits wird aber erwähnt, daß eine schriftliche Bekenntnisverpflichtung dem Gottesdienst vorausgegangen ist. Auch in der Ordination nach dem Reformierten Kirchenbuch stehen die Frage nach der Gewißheit über die innere Berufung und ein Gelöbnis zur Erfüllung der Amtspflichten nebeneinander. Die Taufagende der —»Evangelischen Kirche der Union in ihrer zweiten und dritten Form läßt einen theologisch offenbar wohlbedachten Wechsel der Ausdrucksform erkennen: Eltern und Paten bejahen danach zunächst in einfacher Aussage Wunsch und Willen zur Taufe des Kindes; das anschließende Gelöbnis bezieht sich auf die Sorge für die christliche Erziehung des dann im Vertrauen darauf getauften Kindes. Ähnlich fragt das neue römisch-katholische Ordinationsformular von 1971 den Priesteramtsanwärter zunächst nur nach seiner Bereitschaft, sich ordinieren zu lassen und seine künftigen Aufgaben zu erfüllen; die Antwort des Ordinanden auf die Frage nach dieser Bereitschaft lautet jeweils: „Ich bin bereit." Der Ton wechselt erst mit der letzten Frage des ordinierenden Bischofs: „Versprichst Du mir und meinen Nachfolgern Ehrfurcht und Gehorsam?" und der liturgischen Antwort: „Ich verspreche es." Hier bezieht sich das, über die Erklärung einer aktuell vorhandenen Bereitschaft hinausgehende Versprechen auf die ausdrückliche Begründung eines konkreten Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Frager und Befragten. Ähnlich steht es mit der römisch-katholischen Liturgie für die „gemeinsamen Trauungen" durch den katholischen Pfarrer unter Mitwirkung des evangelischen Pfarrers.
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Hier befragt zunächst der die Trauung haltende Priester die Ehegatten nur nach deren Willen und Bereitschaft im Blick auf die beginnende Ehe. Dann aber redet ein Ehegatte jeweils den anderen nach Anleitung des trauenden Priesters an und spricht ihm nicht nur indikativisch zu, daß er ihn zum Ehegatten „nimmt", sondern „verspricht" ihm zugleich Treue, Liebe und Achtung bis zum Tode. Hier ist wiederum das auf ein Gelübde hinauslaufende Versprechen bezogen und begrenzt auf die Begründung eines personalen Gemeinschaftsverhältnisses unter Anwesenden. So könnten auch evangelische Ordinationen und Introduktionen gestaltet werden. Bei der gottesdienstlichen Einführung in Gegenwart des für das Arbeitsfeld zuständigen Leitungsgremiums kann die Vergewisserung über die Bereitschaft zur Erfüllung der übernommenen Pflichten den Charakter eines diesen Anwesenden gemachten Gelübdes tragen. Diese haben sich ja gerade auf den jetzt Einzuführenden eingelassen und beginnen nun ein Gemeinschaftsverhältnis mit ihm. Allerdings sollte ein solches Gelübde nicht einseitig bleiben. Durchaus sachgemäß sehen deshalb Einführungsliturgien der V E L K D und der EKU vor, daß nach der Bereitschaftserklärung des Einzuführenden nun auch die Kirchenvorsteher der Gemeinde oder die sonst für die Zusammenarbeit Zuständigen nach ihrer Bereitschaft gefragt werden, den Einzuführenden auch ihrerseits in seinem Dienst anzunehmen. Erst die Dispensmöglichkeiten heutiger „Gottesdienste in neuer Gestalt" haben auch für den Einzelfall frei formulierte Gelübde zulässig gemacht. So geben Konfirmanden eine gemeinsam erarbeitete Absichtserklärung über ihr künftiges christliches Leben ab, Ehegatten sagen bei der Trauung in Selbstverpflichtung ihr Eheverständnis aus, Ordinanden erklären sich in eigenen Worten über ihre künftige Amtsführung. Solche gemeinsam erarbeiteten Selbstverpflichtungen können für die Beteiligten bedeutsamer sein als vorgefertigte, agendarische Formeln. Allerdings sollten solche Erklärungen auch von allen Beteiligten zuvor gebilligt, verläßlich festgehalten und verwahrt werden. 1. Seelsorgerliche
Probleme
Bei agendarisch vorgeformten Gelübden stellt sich seelsorgerlich vor allem die Frage der rechten Vorbereitung auf ihre Ablegung. Vor der Ordination steht herkömmlich das Ordinationsgespräch, in dem sich Ordinator und Ordinand über ein gemeinsames Verständnis des Gelübdes klar werden sollten. Rigide Pflichtenvorhalte älterer Agenden bedürften dabei wohl der Klarstellung, daß durch die Ordination weder die sittliche Grundforderung nach persönlicher Wahrhaftigkeit im geistlichen Amtsleben wegbedungen, noch die Aufgaben des Ordinanden aus seinem Stande in Ehe und Familie gemindert und erst recht nicht die Grenze seiner eigenen natürlichen Möglichkeiten überspielt werden soll. Auch die vor Trauung, Taufe und Konfirmation geführten seelsorgerlichen Gespräche sollten die Problematik der jeweils abzulegenden Gelübde zu klären bemüht sein. Vor andere Fragen stellen den Seelsorger die von einem Seelsorgebefohlenen aus eigenem Antrieb abgelegten Gelübde zur Gestaltung seiner persönlichen Frömmigkeit. So ist etwa im evangelischen Raum insbesondere die förmliche Selbstverpflichtung zur —»Abstinenz ein erprobtes Verfahren im Kampf gegen den Alkoholismus. Ähnlich arbeiten christliche Gruppen im Bemühen um Fragen der —>Sexualität. Jugendbünde fordern die Annahme bestimmter Regeln christlicher Lebensführung. Christliche Kommunitäten, Schwestern- oder —»Bruderschaften nehmen Gelübde als Grundlage für die Aufnahme in ihre Dienst- und Lebensgemeinschaft ab. Anlaß zu späterer seelsorgerlicher Bemühung kann die Frage werden, in welches Verhältnis die christliche Freiheit des Gelobenden zum Gegenstand seines Gelübdes getreten ist. Hier wird sich evangelische —»Seelsorge als ein beistehendes, beratendes und helfendes Begleiten zu bewähren haben. Auch der im verordneten geistlichen Amt der Kirche stehende Seelsorger wird sich nicht die von der römisch-katholischen Kirche bis heute in Anspruch genommene Vollmacht zuschreiben, Gelübde umwandeln oder aufheben zu dürfen. Auch in evangelischer Seelsorge können jedoch die in das geltende katholische —»Kirchenrecht eingeflossenen seelsorgerlichen Erfahrungen über Grenzfälle der Gelübde bedeutsam werden; etwa daß ein Gelübde niemand als nur den Gelöbnisgeber selber berührt, daß
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Gemeinde I
ein Gelübde von wesentlichen Veränderungen der Umstände seiner Ablegung mit betroffen wird und in einem weiter umgreifenden, auf ein „höheres Gut" gerichteten Gelübde aufgehen kann (CIC 1983 Can. 1193 ff [CIC 1917 Can. 1310ff]). Grenzüberschreitungen heutiger römisch-katholischer Gelübde- und Dispenspraxis (—»Dispens) werden freilich unübersehbar an der neuerdings wieder leidvollen Problematik der „Laisierung" von Priestern und Ordensleuten, die ja der Sache nach die Gewährung oder öfter Versagung eines päpstlichen Dispenses vom Zölibatsgelübde (—»Zölibat) darstellt. Hier muß evangelische Seelsorge auch im Zeitalter ökumenischer Neuannäherung den Mut behalten, zu der Verwerfung der Mönchsgelübde durch die Reformatoren zu stehen und diese auch den heute Betroffenen klar zu bezeugen. Für evangelische Bruder- oder Schwesternschaftsgelübde sollte diese Problematik nicht auftauchen, weil sie in Wahrung des evangelischen Grundansatzes die Möglichkeit eines in Freiheit gewählten späteren Austritts aus der übernommenen Bindung regelmäßig offen lassen. Auch der Verzicht auf die mit der Ordination erworbenen Rechtsund Pflichtenstellung ist im Dienstrecht der evangelischen —»Pfarrer vorgesehen. Im Bereich staatlichen Rechtes ist neuerdings unter dem Druck religiöser und anderer Bedenken gegen das Eideswesen (—»Eid) teilweise neben oder an die Stelle von Zeugeneiden, Offenbarungseiden und Treueeiden die Ableistung von eidesstattlichen Versicherungen, eidesgleichen Bekräftigungen oder Gelöbnissen getreten; auch sie können zu seelsorgerlichen Rückfragen führen. Der gesetzliche Verzicht auf die Eidesform und die Möglichkeit eines Absehens vom Eideszwang ist im Blick auf die Verminderung von Eiden grundsätzlich zu begrüßen. Obgleich solche Ersatzverpflichtungen nicht als christliche Gelübde gemeint sind, kann der Christ sie für seine Person als solche auffassen und sich im Blick auf die neutestamentlichen Weisungen zur Eidesfrage (Mt 5,37; Jak 5,12) bei einer ihm möglichen Wahl für das Gelöbnis entscheiden. Qelleti und
Literatur
Die Ordnungen der Hl. Taufe. Vorabdruck aus dem II. Band der Agende für die EKU, hg. v. Joachim Beckmann, Witten 1961. — Gemeinsame kirchl. Trauung, hg. v. der Dt. Bischofskonferenz u. dem RatderEKD, Regensburg/Kassel, 1971 3 1 9 7 4 . - A g e n d e fürev.-luth. Kirchen u. Gemeinden, hg. v. der Kirchenleitung derVELKD.III. Die Amtshandlungen, Berlin 1962; IV. Ordinations-, Einsegnungs-, Einführungs- u. Einweihungshandlungen, Neuendettelsau 1951. - Kirchenbuch, hg. v. Moderamen des Reformierten Bundes, Neukirchen 2 1 9 5 6 . - Klaus Mörsdorf/Eduard Eichmann, Lb. des Kirchenrechts, München/Paderborn/Wien, II 1 1 1967, 3 8 9 - 3 9 5 . - Johannes Neumann, Grundriß des kath. Kirchenrechts, Darmstadt 1981, 2 7 0 - 2 7 5 . - Frère Roger (Schutz), Die Regel v. Taizé, Gütersloh 1963, Freiburg/Basel/Wien 1970. - Wilhelm Stählin, Die Regel des geistlichen Lebens, Kassel 1946 2 1950. - Albert Stein, Freiheit u. Bindung im ev. Agendenrecht der „Gottesdienste neuer Gestalt": ZEvKR 26 (1981) 279-294.
Albert Stein Gemara —»Talmud/Talmudexegese/Talmudtraktate Gematrie —» Zahlenspekulation/Zahlensymbolik Gemeinde I. Christliche Gemeinde II. Jüdische Gemeinde
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I. Christliche Gemeinde gen zen
1. Begriff 2. Neues Testament 3. Historischer Überblick 4. Neuere theologische Entwicklun5. Empirische Beobachtungen 6. Systematische Orientierungen 7. Praktische Konsequen(Literatur S. 334) 1. Begriff
Das Wort „Gemeinde", das vom Adjektiv „gemein" abgeleitet ist, gehört mit dem griechischen Wort xoLvwvla [Gemeinschaft; Gemeinschaftsbesitz] und dem lateinischen Wort communio (con-
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Gemeinde I
ein Gelübde von wesentlichen Veränderungen der Umstände seiner Ablegung mit betroffen wird und in einem weiter umgreifenden, auf ein „höheres Gut" gerichteten Gelübde aufgehen kann (CIC 1983 Can. 1193 ff [CIC 1917 Can. 1310ff]). Grenzüberschreitungen heutiger römisch-katholischer Gelübde- und Dispenspraxis (—»Dispens) werden freilich unübersehbar an der neuerdings wieder leidvollen Problematik der „Laisierung" von Priestern und Ordensleuten, die ja der Sache nach die Gewährung oder öfter Versagung eines päpstlichen Dispenses vom Zölibatsgelübde (—»Zölibat) darstellt. Hier muß evangelische Seelsorge auch im Zeitalter ökumenischer Neuannäherung den Mut behalten, zu der Verwerfung der Mönchsgelübde durch die Reformatoren zu stehen und diese auch den heute Betroffenen klar zu bezeugen. Für evangelische Bruder- oder Schwesternschaftsgelübde sollte diese Problematik nicht auftauchen, weil sie in Wahrung des evangelischen Grundansatzes die Möglichkeit eines in Freiheit gewählten späteren Austritts aus der übernommenen Bindung regelmäßig offen lassen. Auch der Verzicht auf die mit der Ordination erworbenen Rechtsund Pflichtenstellung ist im Dienstrecht der evangelischen —»Pfarrer vorgesehen. Im Bereich staatlichen Rechtes ist neuerdings unter dem Druck religiöser und anderer Bedenken gegen das Eideswesen (—»Eid) teilweise neben oder an die Stelle von Zeugeneiden, Offenbarungseiden und Treueeiden die Ableistung von eidesstattlichen Versicherungen, eidesgleichen Bekräftigungen oder Gelöbnissen getreten; auch sie können zu seelsorgerlichen Rückfragen führen. Der gesetzliche Verzicht auf die Eidesform und die Möglichkeit eines Absehens vom Eideszwang ist im Blick auf die Verminderung von Eiden grundsätzlich zu begrüßen. Obgleich solche Ersatzverpflichtungen nicht als christliche Gelübde gemeint sind, kann der Christ sie für seine Person als solche auffassen und sich im Blick auf die neutestamentlichen Weisungen zur Eidesfrage (Mt 5,37; Jak 5,12) bei einer ihm möglichen Wahl für das Gelöbnis entscheiden. Qelleti und
Literatur
Die Ordnungen der Hl. Taufe. Vorabdruck aus dem II. Band der Agende für die EKU, hg. v. Joachim Beckmann, Witten 1961. — Gemeinsame kirchl. Trauung, hg. v. der Dt. Bischofskonferenz u. dem RatderEKD, Regensburg/Kassel, 1971 3 1 9 7 4 . - A g e n d e fürev.-luth. Kirchen u. Gemeinden, hg. v. der Kirchenleitung derVELKD.III. Die Amtshandlungen, Berlin 1962; IV. Ordinations-, Einsegnungs-, Einführungs- u. Einweihungshandlungen, Neuendettelsau 1951. - Kirchenbuch, hg. v. Moderamen des Reformierten Bundes, Neukirchen 2 1 9 5 6 . - Klaus Mörsdorf/Eduard Eichmann, Lb. des Kirchenrechts, München/Paderborn/Wien, II 1 1 1967, 3 8 9 - 3 9 5 . - Johannes Neumann, Grundriß des kath. Kirchenrechts, Darmstadt 1981, 2 7 0 - 2 7 5 . - Frère Roger (Schutz), Die Regel v. Taizé, Gütersloh 1963, Freiburg/Basel/Wien 1970. - Wilhelm Stählin, Die Regel des geistlichen Lebens, Kassel 1946 2 1950. - Albert Stein, Freiheit u. Bindung im ev. Agendenrecht der „Gottesdienste neuer Gestalt": ZEvKR 26 (1981) 279-294.
Albert Stein Gemara —»Talmud/Talmudexegese/Talmudtraktate Gematrie —» Zahlenspekulation/Zahlensymbolik Gemeinde I. Christliche Gemeinde II. Jüdische Gemeinde
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I. Christliche Gemeinde gen zen
1. Begriff 2. Neues Testament 3. Historischer Überblick 4. Neuere theologische Entwicklun5. Empirische Beobachtungen 6. Systematische Orientierungen 7. Praktische Konsequen(Literatur S. 334) 1. Begriff
Das Wort „Gemeinde", das vom Adjektiv „gemein" abgeleitet ist, gehört mit dem griechischen Wort xoLvwvla [Gemeinschaft; Gemeinschaftsbesitz] und dem lateinischen Wort communio (con-
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moenia: das durch gemeinsame Mauern gesicherte Gebiet) zu dem gleichen indogermanischen Sprachstamm (Glatzel 59 f). Es hat in der deutschen Sprache eine vielfältige Bedeutung, die vom Gemeindegrund, Gemeindegebiet, Gemeinderecht bis zur Gemeinschaft und den Gemeindegliedern u. a. reicht. Die Bedeutung von Gemeindegrund steht uns heute am fernsten, ist „dem ursprung des ganzen wortes .gemeinde' aber am nächsten, wenn sie ihn nicht selber darstellt" (Grimm 3223). „Die Gemeine" konnte ebenso der Gemeindeplatz heißen, auf dem sich das Gemeindeleben abspielte und „gemeine gehalten" wurde. Der Begriff „Gemeinde" übertrug sich dann auch auf die Menschen, die Anteil am Gemeindegrund haben und dadurch zur Gemeinschaft werden, „wie die gemeinde denn anfangs auch gemeinschaft hieß, einerseits des gemeinsam angebauten grundes oder gebietes, andererseits des eben daran geknüpften gemeinsamen lebens, während wir jetzt dabei zu rasch an die gemeindeglieder im einzelnen denken" (Grimm 3232). Die Worte „Gemeinde" ebenso wie „Gemeinschaft" hatten also ursprünglich einen sachlichen Sinn und meinten „eine soziale Einheit auf einem bestimmten Boden, also eine eigentliche Lokalgruppe" (König 19). Von diesem sachlichen Sinn weiß man heute noch im Allemannischen, wenn von der „Allmende" gesprochen wird. Die Einengung von „Gemeinde" und vor allem „Gemeinschaft" auf einen rein personalen Sinn vollzog sich vor allem im 19. Jh. und ließ oft in Vergessenheit geraten, daß Gemeinde im strengen Sinn ihrer lokalen Bedingtheit Orts-Gemeinde ist und die Gesamtheit derer umfaßt, „die etwas zu gesamter Hand gemeinsam haben" (König 18). Als solche zählt die Gemeinde neben der Familie zu den Grundformen der Gesellschaft.
Für die Aufnahme in die christliche Überlieferung legte sich der Begriff „Gemeinde" schon deshalb nahe, weil das Evangelium von Jesus Christus nicht auf eine Sondergruppe abzielt, sondern darauf, für alle „gemeine" zu werden. In diesem Sinn kann „Gemeinde" einmal die gesamte Christenheit, zum andern nur einzelne Teile, „ortsgemeinde, kirchgemeinde, pfarrgemeinde" bezeichnen, „oft aber mit dem vorigen begriff bewußt gemischt, als Vertreterin der ganzen christlichen gemeinde" (Grimm 3 2 4 1 ) . Überlieferungsgeschichtlich war es von großer Bedeutung, daß Luther bei der Bibelübersetzung kxxXrjaia fast ausschließlich durch „Gemeinde" wiedergab, um das Mißverständnis zu überwinden, bei .Kirche' nur an ein Haus zu denken, während es bei exxktjaia eigentlich auf die versammelte Gemeinde ankomme (s. WA 3 0 / 1 , 1 8 9 , 2 0 - 2 2 ) . Luther hat freilich in seinen eigenen Schriften niemals darauf verzichtet, das „undeutliche Wort ,Kirche'" im Anschluß an den 3. Glaubensartikel weiterhin interpretierend zu gebrauchen, um es weder der Römischen Kirche allein zu überlassen, noch den Begriff „Gemeinde" in einem personalistischen Verständnis von Gemeinschaft aufgehen zu lassen. Mit der Verfestigung des landesherrlichen Kirchenregiments in der Zeit der —> Orthodoxie kam jedoch das Mißverständnis wieder auf, Gemeinde sei nur eine Filiale der übergreifenden Institution .Kirche'. Diesem weit verbreiteten und heute auch von katholischen Theologen (Klostermann u.a.) bekämpften Mißverständnis ist dadurch nicht beizukommen, daß man den Begriff „Kirche" in den Begriff „Gemeinde" aufgehen läßt. Der Begriff „Gemeinde" wäre damit überfordert. Aus der Not der doppelten Begrifflichkeit gilt es vielmehr, die Tugend einer Komplementarität von Gemeinde und Kirche zu entwickeln: Im Begriff —>,Kirche' kommt die rechtliche, institutionelle, geschichtliche und räumliche Gestalt ( x v Q i a x t f , Kluge 3 7 0 f) der christlichen Gemeinde zur Sprache; im Begriff .Gemeinde' kommt die personale, als Versammlung und Gemeinschaft im Evangelium sich ereignende, lokal begrenzte Gestalt von ,Kirche' zur Sprache. Bedeutet ,Ort' so viel wie „Spitze" (Kluge 525), so spitzt sich Kirche in der Gemeinde ,am Ort' zur Gestalt der,Kirchengemeinde' zu und gibt ihr Wesen als,Gemeindekirche' zu erkennen. Es ist nicht zufällig, daß vor allem von der Kirchengemeinde ,am Ort' die Rede sein muß, wenn das geschichtliche Kontinuum und eine wesentliche Realität von christlicher Gemeinde zur Sprache kommen soll. Der Begriff,christliche Gemeinde' wird freilich auch von Gemeinschaften beansprucht, die sich für eine kürzere oder längere Zeit am Rand oder außerhalb der rechtlich verfaßten Kirche als,freie Gemeinde', ,Paragemeinde',,Basisgemeinde',,Funktionsgemeinde' oder in anderer Gestalt gebildet haben. 2. Neues
Testament
Die urchristliche Gemeinde fand vor allem in dem Begriff ixxhjoia zu ihrem Selbstverständnis, der im späteren Hellenismus die Bedeutung einer „provinziell-monarchischen
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Volksversammlung" (Berger) hatte, im hellenistischen Judentum aber statt der vom (Stadt-) König einberufenen Volksversammlung die kultische exxXrjaia Jahwes bezeichnete. Von daher verstand sich die christliche Gemeinde als Volksversammlung iv XQLOTÜ (Berger 186). Während eine hellenistische Volksversammlung „das, was sie ist und sein soll, desto mehr ist, je größer sie ist", spielt die zahlenmäßige Größe für die Versammlung Gottes keine Rolle. „Wie viele es sind, die sich versammeln, liegt bei dem, der ruft und nicht bei denen, die sich rufen lassen" (Schmidt 507). Das Neue Testament begründet diesxxXijoia vor allem christologisch durch die im Sühnetod Christi gewährten Einlaßbedingungen der radikalen Gerechtigkeit und Heiligkeit. ExxXrjoia und ßaaiXsia werden einander zugeordnet als „zwei Aspekte des endzeitlichen Heilsgeschehens", das alsßaatXeia deov von der Perspektive des Herrschers und als ixxXrjaia OEOV von der Perspektive des zugehörigen Volkes her zur Sprache kommt (Berger 207). Am häufigsten taucht der Begriff ixxXrjaia in den paulinischen Briefen auf. Gegenüber dem Anspruch der Jerusalemer Gemeinde als Gesamtkirche arbeitet Paulus ein charismatisches Gemeindeverständnis heraus, das der einzelnen Gemeinde die Möglichkeit gibt, sich von der Gegenwart des Heiligen Geistes in Jesus Christus und nicht von einem Rechtsanspruch der Jerusalemer Gemeinde her als kxxXrjaia Gottes zu verstehen. Die einzelne Gemeinde in Korinth, Rom oder Galatien, ja sogar die Hausgemeinde des Philemon (Phlm2; vgl. auch Kol 4,15) ist für Paulus ExxXrjoia im vollen Sinn des Wortes. Die Grundlage für dieses Gemeindeverständnis sieht der Apostel in der sich konkret versammelnden Gemeinde (IKor 11,18 u.a.). Die versammelte Gemeinde redet Paulus als „Leib Christi" an, weil sie im Herrenmahl Gemeinschaft mit dem Leib Christi empfängt. In der Taufe geschieht Eingliederung in die Gemeinschaft des Leibes Christi, während im Herrenmahl die Gemeinschaft des Leibes Christi je neu empfangen und bestätigt wird. Gemeinde wird also bei Paulus das, was sie von Christus her ist, durch das, was in ihr geschieht (Hainz 265). Der mit communio und Gemeinde sprachlich zusammengehörige Begriff xoivcovia hängt bei Paulus sachlich mit ixxXrjaia aufs engste zusammen. Der Apostel versteht IxxXrjaia nicht als unmittelbare seelische Verbundenheit, sondern als mittelbare Gemeinschaft des Leibes Christi (I Kor 10,16f). So mag es im Neuen Testament wohl die merkwürdige Kombination einer singularischen und pluralischen Verwendung von ixxXrjaia geben, um jeder Gemeinde das Recht der eschatologischen ixxXrjaia Gottes zuzugestehen. Es gibt aber nur eine Gemeinschaft des Leibes Christi, weshalb xoivcuvia auch nur im Singular auftaucht. Hatte Paulus die einzelnen Gemeinden von der Gefahr eines Jerusalemer Zentralismus befreit, indem er jede für sich als ixxXrjaia ansprach, so hatte er sie doch aus der Gemeinschaft des einen Leibes Christi niemals entlassen, ja sogar einen gewissen Vorrang der Jerusalemer Muttergemeinde stets anerkannt. Deshalb tritt der Apostel auch für die Kollekte an Jerusalem in allen Gemeinden ein. Sie ist ihm ein sichtbarer Ausdruck der Gemeinschaft zwischen den Gemeinden, wie ihm auch die Ubereinstimmung mit den ,Geltenden' in Jerusalem und der Hinweis auf die Uberlieferung und die Sitte der Jerusalemer Fragen (z. B. die Stellung der Frau in der Gemeinde, vgl. I Kor 11 und 14) wichtig ist. Daß die Briefe des Apostels in den Gemeinden alsbald ausgetauscht und gesammelt werden, ist ein weiterer Ausdruck für die Gemeinschaft des einen Leibes Christi, in der die Gemeinden füreinander offen sind, ohne von der Vorherrschaft einer Gemeinde erdrückt zu werden. Es ist eine Gemeinschaft, die schon in der einzelnen Gemeinde eingeübt wird, indem weder die Gesinnung des Juden noch des Griechen, weder des Freien noch des Sklaven, weder des Mannes noch der Frau vorherrschend ist, weil alle mit demselben Geist getränkt und deshalb in Christus Jesus einer sind (Gal 3,28; I Kor 12,13). Dieser Geist ist Antrieb und Kraft eines „Bau-Geschehens" (oixodofitj) in der Gemeinde, das sich in gegenseitiger Liebe und nicht in Willkür und Chaos vollzieht, sensibel macht für das Leiden wie die Freude eines anderen Gliedes am Leib Christi, in der Versammlung des Gottesdienstes wie im Herrenmahl seinen Mittelpunkt hat und offen ist für den Ungläubigen, der von außen hereinkommt (I Kor 1 1 - 1 4 ) . Wie sehr der—>Geist die treibende Kraft der christlichen Gemeinde und ihrer Ausbreitung ist, macht auch Lukas in der —»Apostelgeschichte deutlich. Dabei verbündet sich der
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Geist des erhöhten Herrn mit dem Wort seiner Zeugen so eng, daß es summarisch heißen kann, als wären die Gemeinde und das Wort Gottes geradezu identisch: „Und das Wort Gottes wuchs und die Zahl der Jünger ward sehr groß zu Jerusalem" (Act 6,7; 12,24; 19,20). Freilich wird in Act und alsbald auch in I Petr, Jak und Apk eine Gemeindeverfassung sichtbar, die nicht mehr, wie bei Paulus, charismatisch ist, sondern von Ältesten bestimmt wird (—•Amt). Diese Ältestenverfassung dürfte auf judenchristlichen Einfluß zurückgehen und der Gemeinde geholfen haben, die Auseinandersetzung mit der —>Gnosis zu bestehen. Der Presbyter wird zum Hüter rechtmäßiger Uberlieferung, die es vor Irrlehre zu schützen gilt (Act 20,28). Die Ältesten zu ehren und ihnen Untertan zu sein, wird ermahnt (I Petr 5,5). Sie in Krankheitsfällen zu rufen, damit sie den Kranken durch Salbung mit ö l und Gebet im Namen des Herrn wieder gesund machen, wird geraten (Jak 5,14). 2 4 Älteste repräsentieren die christliche Gemeinde vor dem himmlischen Thron (Apk 4,4). — Es dürfte auf eine verschärfte Auseinandersetzung mit gnostischen und anderen Irrlehren zurückgehen, wenn aus der presbyterialen Gemeindeverfassung „sehr rasch der monarchische Episkopat erwächst. Der verliehene Amtsgeist bevollmächtigt zur Verwaltung des apostolischen Erbes und beruft die Träger und Interpreten der heiligen Tradition in eine Sukzessionskette" (Käsemann 264). Hätte die christliche Gemeinde nach dem Tod der Apostel (vgl. I Tim 6 , 2 0 f ) vor der Zerstörung durch Irrlehre wirklich anders bewahrt werden können als durch diese sich in den Pastoralbriefen abzeichnende Entwicklung? Darauf müßte Antwort geben, wer die Entwicklung zur presbyterialen und episkopalen Ordnung als Abfall der christlichen Gemeinde von ihrem Ursprung verurteilt. 3. Historischer
Überblick
Die Entwicklung im 2. und 3. J h . läuft immer deutlicher auf die Bildung einer verfaßten Kirche und auf die Veränderung der Gemeinde zur Parochie im Sinne eines kirchlichen Verwaltungsbezirks zu. Ebenso trat der Unterschied von Klerus und Laien immer mehr hervor. —»Cyprian kann freilich (um 250) noch sagen, daß er nichts ohne den Rat seiner Presbyter und ohne die Zustimmung seiner Gemeinde unternommen habe (ep. 41,4). Es war aber nur eine Frage der Zeit, daß mit der Ausbreitung der Kirche auch das Bischofsamt zentralisiert und von der einzelnen Gemeinde entfernt wurde. Alle Macht ging nun in der Kirche vom —»Bischof aus, bei dem das Taufrecht lag, das für den Eintritt in den Christenstand und bald auch praktisch in den politischen Reichsverband entscheidend war. „Die Bischöfe teilten nur zögernd ihre Vollmachten mit den Presbytern, darum wurde das System der Taufkirche weithin zunächst ein System der Großpfarreien" (Holtz 9). 3.1. Etwa seit dem 6. Jh. entstand mit dem—»Eigenkirchenwesen wieder ein Einfluß von Laien auf die Leitung und Verwaltung der Gemeinde. Es kam zu den Eigenkirchen, als Grundherren ihre Gutsoratorien zu regulären Gottesdienststätten ausweiteten, oder auf Landkirchen des Bistums, die unter maßgeblicher Beteiligung der Grundherren errichtet waren, erheblichen Einfluß nahmen, um sie vor bischöflichen Eingriffs- und Aufsichtsrechten abzuschirmen (Schäferdiek). Waren die Priester auf ein bischöfliches Stipendium angewiesen, so bestritten die Grundherren von Eigenkirchen auch den Unterhalt ihrer Priester von dem „Zehnten", den Besitzer von den im Pfarrbezirk gelegenen Grundstücken an den Pfarrer gemäß dem „Karolingischen Zehntgebot" zu entrichten hatten (—»Abgaben). Das Aachener Kapitular von 818/19 stellte die Eigenkirche unter die Visitation des Bischofs, der auch der Berufung eines Priesters durch den Grundherrn zustimmen mußte. Das Kapitular sicherte die Eigenkirche auch vor der Willkür des Grundherrn, der zu einer ausreichenden Dotierung des Pfarrers verpflichtet wurde. Die römische Synode von 8 2 6 erkannte im 21. Kanon das Eigenkirchenwesen an: „Ein Kloster oder ein Bethaus, das nach den Vorschriften der Kirche erbaut ist, soll gegen den Willen des Erbauers dessen Eigentum nicht entzogen werden." Das Karolingische Zehntgebot zwang nicht nur Eigenkirchen, sondern auch Haupt-, T a u f - und Genossenschaftskirchen zur Anlegung von Zehntregistern und damit zu strenger Umgrenzung der
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Pfarreien, damit jede Kirche eine Grenze dafür habe, von welchen Häusern sie den Zehnten empfange. So entstand die Parochie als ein scharf begrenztes Territorium innerhalb der bischöflichen Diözese. Mittelpunkt der Parochie war die Kirche, in der der Taufbrunnen stand. In Nebenkirchen durfte zwar auch gepredigt und Messe gefeiert, aber nicht getauft werden. V o m Taufrecht her entstand also die territoriale Gemeinde (Holtz 13). Der seit dem 8. Jh. fest begründete Pfarrzwang tat ein Übriges, um die Gemeinde in die Grenzen ihrer Parochie zu bringen. Der Pfarrer mußte vor Beginn des Gottesdienstes fragen, ob Fremde anwesend seien, um Orts- und Gemeindefremde von der Messe fernzuhalten. Nur Durchreisenden war eine Ausnahme gestattet. So entstand ein immer dichter werdendes Netz von Parochien auf dem Land. „Im 9. Jh. beträgt die Zahl der Pfarreien in Deutschland bereits 3 5 0 0 , in ganz Europa etwa 15 0 0 0 . Im weiteren Verlauf des Mittelalters dürfte sie sich mindestens noch verzehnfacht haben" (Stengel 1 5 5 4 ) .
Demgegenüber blieb die Entwicklung der Stadt viel stärker an den Bischof gebunden, unter dessen Leitung der Stadtklerus stand, der als,Kapitel' in der vita communis nach mönchischem Ideal zusammenlebte. Erst der Verfall der vita communis im 11. Jh. und die Verweltlichung des Pfarrklerus brachte die —»Franziskaner und —»Dominikaner in die Städte. Um einzelne Reformprediger und ihre Orden bildeten sich Kloster- und Personalgemeinden. Die Mönchsbewegung kann bis zu einem gewissen Grad auch als Gemeindebewegung angesehen werden, die zur Bildung von Reformgemeinden führte, denen es um Verwirklichung wahrer Frömmigkeit ging. Diese Reform war zwar von Rom aus erwünscht, führte aber zu einer Konkurrenz von Pfarr- und Ordensgemeinden. Zur Bereinigung der Konkurrenzsituation wurde schließlich auch in der Stadt das Parochialsystem durchgeführt. Endgültig forderte das —»Tridentinum die volle Aufgliederung der Diözesen in certas propriasque parochias pro tutiori animarum salute (Sess. X X I V , 13). An dieser Regelung hat sich in der offiziellen Rechtsprechung der Katholischen Kirche bis heute nichts geändert (CIC 216; 451—470): Jeder Getaufte ist durch seinen Wohnsitz Glied einer—»Pfarrei, die als territoriales Glied einer Diözese definiert wird. 3.2. Die —»Reformation knüpfte mit ihrem Gemeindeverständnis nicht, wie es vielleicht nahe gelegen hätte, an der Reformbewegung der Ordensgemeinden an, denn es ging ihr nicht um Verwirklichung einer besonderen, außerordentlichen Frömmigkeit, sondern um das Geschenk des Glaubens im alltäglichen Leben. Deshalb setzte sie das Parochialsystem des Mittelalters fort, kehrte es nur radikal um: Die Gemeinde sollte nicht mehr an unterster Stelle einer hierarchischen Ordnung der Kirche stehen. Im Zeichen des allgemeinen —»Priestertums aller Gläubigen komme der Gemeinde vielmehr der Primat zu, so daß ihr auch das Recht zur Pfarrwahl zugestanden werden müsse. Das begründete Luther auf Anfrage des Stadtrats von Leisnig 1523 in der Schrift Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe, alle lere zu urteylen und lerer zu beruffen, eyn und abzusetzen, Grund und ursach aus der schrifft (WA 1 1 , 4 0 8 - 4 1 6 ) . Aus ihrer Stellung als Objekt priesterlicher Betreuung will Luther die Gemeinde herausführen, indem er sie auf ihre Verantwortung für das Wort Gottes aufmerksam macht. Christliche Gemeinde könne man gewißlich daran erkennen, „wo das lautter Euangelion gepredigt wirt" (408,9f). Was „lautteres Euangelion" ist, sei nicht ohne das Urteil der hörenden Gemeinde zu erfahren, bei der die Predigt „laut" wird. „Darumb sollen und müssen alle lerer dem urteyl der zuhörer unterworffen seyn mit yhrer lere" (410, 19 f). Weil es Luther im Sinne von Jes 55,11 um die Gemeinde als eine Schöpfung des Wortes ging, kam esihm weniger auf neue Gemeindeordnungen als auf den freien, schöpferischen Lauf des Wortes an. Deshalb riet er —»Philipp von Hessen von der Einführung der Reformatio ecclesiarum Hassiae ab, mit der Franz —»Lambert von Avignon 1526 alles nur Erdenkliche in der Gemeinde zu regeln versuchte. Nach Luthers Vorstellung sollten zuerst Pfarren und Schulen mit guten Personen versorgt werden, und dann sollten 3 - 6 - 9 davon versuchen, in 1 - 3 - 5 — 6 Stücken einig zu werden, diese in Schwung zu bringen, um so die anderen Gemeinden zu bewegen, ihnen nachzufolgen: „Eine Gemeinde ahme die andere frei nach oder sie lasse sie bei ihren Bräuchen bleiben, wenn nur die Einheit des Geistes im Glauben und Wort gewahrt wird, wie groß auch die Unterschiedenheit und Mannigfaltigkeit im Fleisch und in den weltlichen Elementen sei" (WA.B 3,373f). Wie eng das reformatorische Gemeindeverständnis mit einer rechten Weise des —»Got-
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tesdienstes zusammenhing, ist aus der Schrift Luthers zu ersehen, die eigentlich der Neuordnung des Gottesdienstes gewidmet war und zugleich die wohl stärksten Impulse für den evangelischen Gemeindeaufbau gab: Deudsche Messe und Ordnung Gottis diensts (WA 19,72-113). Neben der Lateinischen Messe, die vor allem um der Jugend willen nicht abgeschafft werden soll, und der Deutschen Messe, die öffentlich in der Kirche für alles Volk als „eyne öffentliche reytzung zum glauben und zum Christenthum" gehalten werden soll, schlägt Luther eine „dritte weyse" des Gottesdienstes vor, „die rechte art der Euangelischen ordnunge haben solte" (75,3 ff) : Diejenigen, so mit Ernst Christen sein wollen, sollten sich mit Namen einzeichnen und sich in einem Haus allein versammeln, um Gebet, Schriftlesung, Taufe und Abendmahl ebenso wie christliche Praxis miteinander zu halten. In solcher Hausgemeinde könnte man Gemeindezucht und Nächstenliebe nach urchristlichem Vorbild üben, brauchte nicht viel „gesenges", sondern könnte „alles auffs wort und gebet und die liebe richten". Dieser Gedanke wurde bis heute immer wieder aufgegriffen (vgl. Hilbert), selten jedoch in dem Geist einer Freiheit zur Liebe, wie Luther ihn meinte: „Kompts aber, das ichs thun mus und dazu gedrungen werde, das ichs aus gutem gewissen nicht lassen kan, so wil ich das meyne gerne dazu thun" ( 7 5 , 2 1 - 2 3 ) . Den Augenblick solcher Notwendigkeit sah Luther bis zu seinem Tod nicht gekommen, weshalb er seinen Gedanken auch niemals ausführte, „auff das nicht eyne rotterey draus werde, so ichs aus meynem köpf treyben wolte. Denn wyr deutschen sind eyn wild, rho, tobend volck, mit dem nicht leychtlich ist ettwas an zufahen, es trybe denn die höhiste not" (75,27ff). Diese Befürchtungen wurden 1527/28 durch die Kirchenvisitationen noch verstärkt. Angesichts des schlimmen Zustands vieler Gemeinden schlug Luther in der Vorrede zum Unterricht der Visitatoren vor, auf geeignete Personen zu achten, die der Gemeinde das Evangelium predigen und sie im Katechismus unterrichten können. Nur wenig erhoffte sich Luther für den Aufbau der Gemeinden von Ordnungen und Gesetzen, alles aber davon, daß das Wort Gottes „in Schwang komme" durch eine „öffentliche reytzung zum glauben" im Gottesdienst, durch liebevolle Unterweisung der Jugend und durch waches, urteilsfähiges Hören der Gemeinde auf die viva vox evangelii.
Weil bürgerliche und christliche Gemeinde noch zusammenfielen, beteiligte Luther auch die weltliche —»Obrigkeit am Aufbau der christlichen Gemeinde. Die Ordnung eines „gemeinen Kastens", die er dem Stadtrat von Leisnig 1523 vorschlug, war etwa ein solcher Versuch zur Mitbeteiligung. Ebenso mahnte Luther die Fürsten, für eine ordentliche Besoldung der Pfarrer durch die Gemeinden zu sorgen. Man könnte hier schon die Anfänge für ein landesherrliches —»Kirchenregiment sehen, ohne daß man diese Entwicklung im Ansatz verdammen müßte. Sie befreite ja die christliche Gemeinde nicht nur von einer klerikalen römischen Bevormundung, sondern gab ihr auch äußeren Schutz vor Schwärmern und Sektierern, half ihr in Fragen von Pfarrbesoldung und Kirchenbau und beteiligte die bürgerliche Gemeinde an den sozialen Pflichten der christlichen Gemeinde, wie sie auch diese aus ihrer politischen Mitverantwortung nicht entließ. Die eigentliche Gefahr sah Luther in der Vermengung von geistlichem und weltlichem Recht, gegen die es die Freiheit von Gottes Wort durch die Unterscheidung von —»Gesetz und Evangelium in der Wahrnehmung des Predigtamtes zu gebrauchen gilt: „Das Predigtamt ist nicht ein hofe diener oder bauern knecht. Es ist Gottes diener und knecht und sein befehl gehet über herrn und knecht" (WA 3 1 / 1 , 1 9 8 ) . Auch —»Zwingli und —»Calvin beteiligten die Obrigkeit Zürichs und —»Genfs an der Neuordnung des Gottesdienstes vom Rat der Stadt aus. Besondere Bedeutung gewann die Gemeindeordnung, die Calvin 1541 in den Ordonnances Ecclésiastiques und 1542 im Genfer Katechismus herausgab und in Inst. IV, 1 noch einmal systematisch zusammenfaßte. Vier Urämter wies Calvin der christlichen Gemeinde zu: pasteurs, docteurs, anciens, diacres. Alle Mitglieder des Presbyteriums sollen Träger des Lehramtes in Gestalt der Seelsorge sein, wenngleich nur die lehrenden Presbyter, d. h. die Pastoren, als Wort- und Sakramentsverwalter in Frage kommen. Die docteurs sind für den Unterricht zuständig, während die anciens das Leitungsamt innehaben. Die Diakone (diacres) haben in größeren Gemeinden ein besonderes Kollegium zu bilden, das dem Presbyterium untergeordnet ist, während sie in kleineren Gemeinden zum Presbyterium dazugehören. —»Kirchenzucht und kirchlichen —»Bann soll das Kollegium der Ältesten unter Aufsicht und passiver Beteiligung der gesamten Gemeinde ausüben, wobei sich auch die Pastoren unterzuordnen haben. Diese Gemeindeordnung konnte Calvin zwar nicht in Genf durchsetzen, sie wurde aber unter seiner beratenden
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Leitung in den reformierten Gemeinden Frankreichs durchgeführt, kam von dort zu den spanischen Niederlanden und bewährte sich später besonders in den „Gemeinden unter dem Kreuz" am Niederrhein, die im 16. und 17. J h . durch die katholischen Herzöge von JülichKleve-Berg und der Grafschaft M a r k und Ravensberg verfolgt wurden. Vergleicht man das reformatorische Gemeindeverständnis in seinen Anfängen, so fällt auf, daß sowohl Luther wie die Schweizer Reformatoren die weltliche Obrigkeit am Aufbau der christlichen Gemeinde zu beteiligen versuchten. Der systematischen Konsequenz, mit der Calvin die Gemeinde vom vierfachen Amt her ordnet, steht auf Luthers Seite ein Zuwarten auf das Wachstum des Wortes, auf den rechten Augenblick und auf die geeigneten Personen gegenüber. Luthers Angst vor einer neuen Gesetzlichkeit in der christlichen Gemeinde läßt ihn immer wieder die Liebe zum Nächsten und den freien Lauf des Wortes mit Hilfe des Predigtamtes betonen, das sich je nach Aufgabe und Situation nicht nur auf vier-, sondern auf vielfache Weise in anderen Ämtern entfalten kann. Demgegenüber hat Calvin größere Bedenken vor einem zuchtlosen, beliebigen Gemeindeaufbau, der die Heiligung nicht widerspiegelt. Diese Bedenken lassen ihn in systematischer Strenge eine Kirchenordnung entwikkeln, in deren Mittelpunkt neben der Wortverkündigung die Kirchenzucht steht. Uber die Schweiz hinaus gewann auch die Zürcher Einrichtung der „Prophezei" eine Bedeutung. Zwingli hatte seit 1 5 2 5 dafür gesorgt, daß sich im Chor des Zürcher Großmünsters täglich Geistliche und Studenten zu theologischer Arbeit versammeln. Unmittelbar nach jeder Auslegungsstunde wurde das Ergebnis der Exegese dem Volk in einer lectio publica gepredigt. Auf diese Weise sollte die Gemeinde an der Ausbildung der Pfarrer beteiligt werden. Diese Übung, die zur Heranbildung einer in der Bibel wurzelnden Gemeinde diente, brachten protestantische Flüchtlinge mit nach England, wo sie von J . —»Laski für die Flüchtlingsgemeinden in London aufgegriffen und dann auch zum Vorbild für die „prophesyings" des —»Puritanismus wurde. 3.3. Der Zusammenhang von Theologie und Gemeinde, der für die Reformation so entscheidend war, drohte in der Zeit der —»Orthodoxie verloren zu gehen, als sich die Theologen in zahllosen Lehrstreitigkeiten befanden, denen die Gemeinde nur selten folgen konnte. Um so mehr fand sich die Gemeinde mit ihrem Glauben in den Liedern wieder, die ihr von Dichtern wie N. —>Selnecker, Ph. Nicolai, M . Rinckart, J . Rist, J . Heermann, J . Neander, G . —»Tersteegen und vor allem P. —»Gerhardt gegeben wurden. Hatten schon die geistlichen Lieder Luthers u. a. für die Ausbreitung reformatorischer Lehre in den Gemeinden große Bedeutung gehabt, so kam es im 17. und 18. J h . zu einer wahren Blüte des evangelischen —»Kirchenliedes, um das herum sich, abseits von der offiziellen Schultheologie, so etwas wie eine Theologie der Gemeinde bildete. Die erbaulichen Schriften J . —»Arndts (—»Erbauungsliteratur) taten ein übriges, um der Gemeinde zu ihrer Sprache zu verhelfen. Sie fanden eine so weite und wirksame Verbreitung, daß orthodoxe Theologen in der Mitte des 17. J h . die Gemeinden von der Kanzel herab mahnen mußten, „über dem Lesen der Schriften Arndts nicht das Bibellesen zu vergessen" (Wallmann 111). Ph. J . —»Spener suchte in seiner Programmschrift Pia desideria die Kluft zwischen offizieller Theologie und Gemeinde zu überbrücken. Mit ständiger Berufung auf Luther will Spener wieder in Erinnerung bringen, „daß allen Christen insgesamt ohne Unterschied alle geistlichen Ämter zustehen, obwohl deren ordentliche und öffentliche Verrichtung den dazu bestellten Dienern befohlen ist" (Spener 5 9 ) . Um die Gemeinde zu ihrem geistlichen Priestertum zuzurüsten, bedürfe es über die Predigtgottesdienste hinaus collegia pietatis, in denen nach Vorbild der urchristlichen Versammlung (I K o r 14) die Bibel gelesen, brüderlich über jeden T e x t miteinander gesprochen und Zweifel vorgetragen werden können. Auf diese Weise lernten die Prediger, die den Vorsitz der collegia haben sollten, ihre Zuhörer besser kennen. „Auch würde ein für beide Teile zum Besten dienendes Vertrauen zwischen ihnen gestiftet werden" (Spener 5 7 ) . Ziel solcher Versammlung ist die —»Erbauung der Gemeinde, die miteinander lernt, die Lehre mit dem Leben im Glauben zusammenzubringen. Ging von Speners Programm des Pietismus eine langsame, aber stetige Erneuerung der
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Gemeinden aus, so vollzog sich in Herrnhut sehr viel unmittelbarer und rascher die wohl bedeutendste pietistische Gemeindereform im 18. Jh., die zur Gründung der Brüdergemeine führte. Äußerlich veranlaßt durch den Zustrom von Flüchtlingen der Böhmisch-Mährischen —»Brüderunität, innerlich inspiriert durch N. v. —»Zinzendorf, nahm die Erweckung der Brüdergemeine ihren Ausgangspunkt in einer die verschiedenen Gemeindegruppen zusammenfügenden Abendmahlsfeier am 1 3 . 8 . 1 7 2 7 . Ein reiches gottesdienstliches Leben mit vielfältigem Gesang, biblischer Erbauung (Losung!) und Liebesmahlen wurde zum Mittelpunkt der Brüdergemeine und unterschied sie von vielen separatistischen Gemeinschaften des 18. Jh., die keinen Zugang zum Sakrament fanden. Die Gemeinde teilte sich in seelsorgliche Gruppen ( „ B a n d e n " u. „ C l a s s e n " ) . Erste Lebensgemeinschaften von Ledigen bildeten sich. Eine Ämterordnung teilte jedem Gemeindeglied je nach Begabung und Anhörung des Loses einen Dienst zu. Das paulinische Gemeindeverständnis war die Grundlage dafür, um zu einem Ämteraufbau nach biblischem Vorbild zu k o m m e n . Die Brüdergemeine nahm ihre missionarische Aufgabe wahr und sandte bereits 1 7 3 2 die ersten Heidenmissionare aus. Ihrer Erziehungsaufgabe k a m sie in den Pädagogischen Anstalten von Niesky nach und gab in ihrem „geordneten Dienen" (Wollstadt) das Bild einer diakonischen Gemeinde ab. Sie breitete sich rasch in Europa und Ubersee aus. O b w o h l lutherischer Lehre nahestehend und der Augsburger Konfession verwandt, kam es 1 7 7 5 eher aus praktischen Erwägungen zu einer eigenen Kirchenbildung der Brüdergemeine, die freilich bis heute in großer Nähe zur Evangelischen Kirche blieb.
3.4. Es dürfte nicht zuletzt auf F. D.E. —> Schleiermachers Theologie zurückgehen, daß eine für das 19. Jh. typische Form der Gemeindebildung die Personalgemeinde wurde, die sich um einen bedeutenden Prediger sammelte, von dem sie sich angesprochen fühlte. Der soziologische Grund für die Bildung von Personalgemeinden ist in dem rapiden Anwachsen der Großstädte zu suchen, in denen es kaum mehr überschaubare Gemeinden gab, so daß sich in der Persönlichkeit des bekannten Predigers ein Beziehungspunkt für Gemeindebildung anbot. Nach Schleiermacher ist der Prediger einmal „Repräsentant seiner Gemeinde", der dem frommen Bewußtsein in der Gemeinde Ausdruck gibt; zum andern ist er „Organ seiner Kirche", der „das gemeinsame religiöse Gefühl der Kirchengemeinschaft" durch seine Predigt „aufstellt". Der Prediger hat die Aufgabe, „einmal sich in die Gemeinde einzuleben und sich Einfluß bei ihr zu verschaffen, andererseits sie dahin zu führen, wohin er (der Prediger) sie führen will" (zit. b. Niebergall 317f). Daß in einer so starken Ausrichtung der Gemeinde auf den Prediger auch Gefahren liegen, zeigte sich bei der Bildung von sog. „freien Gemeinden". Es brauchte nur eine starke Persönlichkeit wie z.B. H.H. Gräfe in Elberfeld sich Einfluß bei der Gemeinde mit seiner starken Betonung der Kirchenzucht zu verschaffen, so konnte er einen Teil der Gemeinde aus der kirchlichen Gemeinschaft der Landeskirche herausführen (Lenhard 126ff). Die Tendenz zur Freiwilligkeitsgemeinde war freilich schon in der Aufklärungszeit durch den Kollegialismus von Ch.M. Pfaff ( 1 6 8 6 - 1 7 6 0 ) u.a. vorbereitet. Danach komme es weniger auf die Kirche als auf das gemeinsame Wirken freier, gleichberechtigter Individuen in einem Verein an. Es war naheliegend, daß sich gerade in den anonymer werdenden Großstädten des 19. Jh. das aufklärerische Vereinsideal mit dem romantischen Gemeinschaftsgedanken und dem individualistischen Persönlichkeitsprinzip zu einem kirchenfremden Gemeindeverständnis entwickeln konnte, dem schon der spätere Schleiermacher entgegenzuwirken suchte, indem er Kirche und Gemeinde in ein ausgewogenes Verhältnis von eigenständiger Gemeinschaft und kirchlicher Einheit bringen wollte. Dieses ausgewogene Verhältnis von Kirche und Gemeinde versuchte die 1835 eingeführte presbyterial-synodale Kirchenordnung für die Gemeinden des —»Rheinlands und —»Westfalens zu schaffen. Die Zugehörigkeit zu einer Parochialgemeinde sollte nicht mehr allein vom Wohnsitz, sondern auch von einer Aufnahme in die Gemeinde abhängig gemacht werden. Die so entstehende Personalgemeinde wird durch ein auf Zeit von ihr gewähltes Presbyterium für die Predigerwahl und einige wichtigste Akte der Vermögensverwaltung durch eine gleichfalls gewählte größere Gemeindevertretung repräsentiert (Sehling 502). Der kirchliche Zusammenhalt der Gemeinden sollte durch die Synode garantiert werden, die
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sich aus den von den Presbyterien entsandten Vertretern zusammensetzt. Diese 1 8 7 3 / 7 6 auch von der altpreußischen Union übernommene und ebenso in anderen Landeskirchen später zum Vorbild genommene Kirchenordnung hat sich, in freilich vielfach modifizierter Form, bis heute bewährt, um kirchliche Einheit und eigenständige Gemeinschaft der Gemeinde zusammenzuhalten. In —>Dänemark kam es 1855 zu einer noch weitergehenden Auflockerung des Parochialzwangs, als der Pfarrzwang durch Gesetz aufgehoben wurde, so daß sich Wahlgemeinden bilden konnten, die sich ihren Pfarrer frei auswählen konnten. Ursprünglich waren mindestens je 20 Hausstände (seit 1972 je 50 Personen) nötig, um das Recht freier Gemeindebildung um einen Geistlichen der Volkskirche zu bekommen. Auf diese Weise konnten viele Menschen, vor allem Pietisten, die sonst eine freie Gemeinde gebildet hätten, in einer Personalgemeinde innerhalb der Kirche gehalten werden.
Den Bemühungen des Dresdener Pfarrers Emil Sülze, des „Vaters des modernen Gemeindeaufbaus" (Winkler 25), und seiner Programmschrift Die evangelische Gemeinde (1891) ist es vor allem zu verdanken, daß der Entwicklung zu immer anonymeren Großstadtgemeinden gewehrt wurde. In seiner 6 0 0 0 0 Seelen umfassenden Gemeinde von Dresden-Neustadt hatte Sülze erkannt, daß sich ein Gemeindebewußtsein nur bilden kann, wenn eine Gemeinde überschaubar ist. So teilte er seine Gemeinde 1881 in kleinere Seelsorgebezirke und trat dafür ein, daß überschaubare Bezirke entstehen, in denen unter Mithilfe von Laien gegenseitige—»Seelsorge und—»Diakonie geschehen könne. Sülze wollte die Gemeinde in Vereine umwandeln, „deren Mitglieder sich kennen und lieben und ihre Liebe einander durch die Tat, vor allem durch ernste seelsorgerische Arbeit beweisen" (Gemeinde 196). Das sei jedoch völlig unmöglich, wenn eine Gemeinde mehr als 1 0 0 0 0 Menschen umfasse. Sülze bezeichnete schließlich nur noch den Seelsorgebezirk, der nicht mehr als 3 000—5 0 0 0 Menschen umfaßt, als Gemeinde. Auch dieser Bezirk sollte nochmals in drei Abteilungen unterteilt werden. Für jede von ihnen bestellte Sülze eine Reihe geeigneter Persönlichkeiten als verantwortliche Mitarbeiter in der Seelsorge und Armenpflege, die ihrerseits wieder die tüchtigsten Hausväter ihrer Abteilung in einem Hausväterverband zusammenfassen sollten. Sulzes Impulse für den Gemeindeaufbau wurden vielfach aufgegriffen und in der von A. Stock und M. Schian 1901 auf dem Deutschen Evangelischen Gemeindetagin Dresden gegründeten „Konferenz für evangelische Gemeindearbeit" systematisch fortgeführt. In gleicher Richtung arbeitete F. —>Niebergall eine Praktische Theologie (1918) aus, die auf die Gemeinde als Subjekt der Gemeindearbeit abzielt: Die Gemeinde als Ziel der Gemeindearbeit, Die gegebene Gemeinde, Die Gemeinde als Trägerin der Arbeit, Die Gemeinde als Inhaberin der Kräfte — so lauten die Überschriften der vier Hauptteile im grundlegenden Band.
Wurde Sulzes Gemeindeverständnis von der —»Liberalen Theologie aufgegriffen und weitergeführt, so wurde es von einer anderen, eher durch reformatorische Bekenntnisse geprägten Seite mit der Warnung angegriffen, die christliche Gemeinde dürfe nicht unter den Parolen „Seelsorge und Diakonie" eine Art Sonderexistenz bekommen und die Menschen aus ihren alltäglichen Verpflichtungen in Ehe, Familie, Beruf, Staat und Gesellschaft herauslösen, um sie für Sonderaufgaben der Gemeinde einzuspannen. Um des alltäglichen Lebens ihrer Gemeindeglieder willen solle sich die Kirche an der Gemeinschaft des Wortes, an der Verkündigung des Evangeliums und an der Verwaltung der Sakramente genug sein lassen: „Die Kirchenglocken rufen sie (sc. die Gemeinde) aus ihrer Unsichtbarkeit hervor; aber mit dem Segenswunsch kehrt sie wieder in ihr Dunkel zurück. Sie lebt und wirkt auch dann, aber sie wirkt wie das Salz, wie der Sauerteig und muß sich daran genügen lassen, daß Gott ihr Wirken sieht und segnet" (B. Dörries, zit. b. Knospe 115). Die empirische Gemeinde sei nur ein mehr oder weniger willkürlich abgegrenzter Bezirk von Straßen, während die Gemeinde aus ihrer relativ zufälligen Ordnung in die Notwendigkeit als christliche Gemeinde komme, wenn sie um Wort und Sakrament versammelt sei. Zwei verschiedene Gemeindeverständnisse trafen hier aufeinander, die unter den Schlagworten „Seelsorgegemeinde" und „Wortgemeinde" diskutiert wurden, einer freilich unechten Alternative, kommt es doch darauf an, daß Wort und Seelsorge in der Gemeinde zusammenfinden und sich gegenseitig fordern.
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Entwicklungen
4.1. Die —»Dialektische Theologie verschärfte den Protest gegen ein subjektivistisches und romantisches Gemeindeverständnis des 19. Jh., das die Gemeinde zum Verein und zur gleichgesinnten —»Gemeinschaft deformierte. Gemeinschaft oder Gemeinde? war die Frage Gogartens (1923): Christliche Gemeinde glaube nicht an die unmittelbare Gemeinschaft von Ich und Du, sondern wisse sich angewiesen auf das Wort Gottes als das einzige Mittel, das mittelbare Gemeinschaft von Ich und Du in der Gemeinde schaffe. „Ihre Ordnung ist nicht auf innige Gemeinschaft ihrer Glieder eingestellt, damit sie sich gegenseitig mit ihrer Individualität erbauen und zur Kraft werden, sondern auf nicht mehr, aber auch auf nicht weniger, als daß das Wort Gottes in ihr gepredigt wird" (ebd. 168). Dieses „autoritäre, sachliche" Gemeindeverständnis verstärkte K. —»Barth seinerseits, indem er bewußt wieder von der Kirche und ihrer Lehre sprach und seine Dogmatik nicht bloß Christliche sondern Kirchliche Dogmatik (1930) nannte. Von einer anderen Seite her arbeitete D. —»Bonhoeffer mit Sanctorum Communio (1930) in die gleiche Richtung und kam zu einem pointiert christologischen Gemeindeverständnis: „Christus ist die Gemeinde kraft seines pro-me-Seins". Weil Christus Gottes machtvolles Schöpferwort sei, werde die Gemeinde als Schöpfung des Wortes geschaffen, denn dieses Wort wolle „die Gestalt eines geschaffenen Leibes haben" (GS 111,193). Der —»Kirchenkampf war nicht bloß ein Kampf um die Kirche als Institution, sondern zutiefst um die Gemeinde als Schöpfung des Wortes. Die Not, daß die Kirchenleitungen weithin von —»Deutschen Christen besetzt waren, wurde für die Bekennende Kirche zur Tugend, indem sie die Gemeinde neu als Kirche entdeckte. Dieser Entdeckung entsprachen auch die „Gemeindetage unter dem Wort" wie die gegenseitigen Besuche der Gemeinden, die den kirchlichen Zusammenhalt stärken sollten. Gültiger Ausdruck für dieses neue Gemeindebewußtsein wurde die 3. These der Theologischen Erklärung von Barmen (1934), in der die christliche Kirche als „die Gemeinde von Brüdern" bezeichnet wird, „in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt". Gerade von Laien wurde auf der Bekenntnissynode von Barmen gefordert, daß die Kirche von der Gemeinde aus aufgebaut werde und deshalb die geistlichen Gaben der Gemeinde zur Auswirkung gelangen und in den Dienst gestellt werden sollten (Niemöller 83.136). Die „Gemeinde von Brüdern" galt es freilich auch vor dem Mißverständnis einer romantischen Gemeinschaft Gleichgesinnter (vgl. z. B. die Auseinandersetzung mit der Oxfordbewegung bei K. Barth, Kirche oder Gruppe?; D. Bonhoeffer, GS IV,277f) wie vor einem neuen Rigorismus zu schützen, zumal gerade pietistische Gemeinschaften und freikirchliche Gruppen der deutsch-christlichen Ideologie erlegen waren. So warnte D. Bonhoeffer in einem Gutachten zur Tauffrage (1942) vor der Sehnsucht nach einer von der Welt geschiedenen, reinen, echten, wahrhaftigen, einsatz- und kampffähigen Gemeinde der Gläubigen, bei der zu leicht übersehen werde, daß die Reformation „nicht aus dem Versuch der Verwirklichung eines besseren, vielleicht,urchristlichen' Gemeindeideals kam, sondern aus der neuen Erkenntnis des Evangeliums aus der Heiligen Schrift" (GS 111,450). Die bekennenden Gemeinden fanden nicht in der gleichen Frömmigkeit ihre Mitte, sondern in der geordneten Liturgie, in der Predigt von Gottes Wort, in der Feier des Sakraments, in der gemeinsamen Arbeit von Theologen und Laien über der Bibel („Bibelarbeit", „Bibelwochen") und in der gemeinsamen Bemühung um ein bekennendes Kirchenrecht. Als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs die Kirche in Deutschland neu geordnet wurde, erwies sich das Gemeindeverständnis der Bekennenden Kirche nicht als einheitlich, sondern strebte — was schon auf der Barmer Bekenntnissynode 1934 deutlich wurde — in zwei konfessionell geprägte Richtungen auseinander: Nach lutherischem Verständnis sollte die Gemeinde im Amt der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung ihre objektive Mitte haben, um bleibend gegen das Eindringen fremder Weltanschauungen gefestigt zu sein. Deshalb gelte es den Gottesdienst, das Predigtamt und das leitende Bischofsamt um
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der Gemeinde willen so stark wie möglich zu machen (P. Brunner, H. —>Asmussen u.a.). Nach reformiertem Verständnis sollte es nicht auf Ämter, sondern auf Dienste ankommen, die die Gemeinde aus ihrer Mitte heraus zu ordnen habe, indem sie dem Gottesdienst als der Verkündigung der großen Taten Gottes lebe. Diese Art von Gemeinde, die in der Regel Ortsgemeinde sei, genüge dem Begriff von Kirche (K. Barth, O. Weber u.a.). 4.2. Nach dem 2. Weltkrieg setzte auch in der —»Römisch-katholischen Kirche allmählich ein Prozeß der Gemeindewerdung ein. Zwar konnte noch 1 9 6 0 im LThK das Stichwort ,Gemeinde' einzig mit dem Hinweis auf ,Kirche' versehen werden, während sonst nur ein protestantisches ,Glaubensverständnis' von Gemeinde referiert wurde. In Wahrheit hatte längst schon in den Studentengemeinden ein Prozeß der Gemeindewerdung eingesetzt. Es wurden auch die ökumenischen Begegnungen katholischer Pfarreien mit evangelischen Gemeinden durch die Vermischung mit Flüchtlingen intensiver und halfen beiden Seiten zur Gemeindewerdung. Vor allem kam das II. —»Vatikanum einer Dezentralisierung der Kirche entgegen. Um die Bedeutung der Ortsgemeinde für die Kirche herauszustellen, intervenierte Weihbischof Schick auf dem Konzil im Namen der deutschsprachigen und skandinavischen Bischöfe: „Die Gemeinde ist die wahre Vergegenwärtigung und Selbstdarstellung der Gesamtkirche. Es wird in dieser Vergegenwärtigung nicht etwa nur ein Teil von Christus gegenwärtig, sondern der ganze Christus als Herr der Kirche ist in ihr lebendig, spendet Leben und wirkt das Geheimnis des Heils, das die gesamte und ganze Kirche nicht etwa in einem höheren M a ß besitzt" (Hampe 2 5 9 ) . Weil das Konzil solchen Thesen nicht ablehnend gegenüberstand, konnte es schließlich in der Konstitution über die Kirche u. a. heißen, daß die eine Kirche Christi wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinden anwesend sei (Hampe 3 0 8 ) . Durch das II. Vatikanum wurde der Prozeß der Gemeindewerdung in der Katholischen Kirche erheblich intensiviert. Es entstanden ökumenische Schalomgruppen, „integrierte Gemeinden", „brüderliche Gemeinden", „Basisgruppen" u.a.m. Theologisch wurde dieser Prozeß vor allem von F. Klostermann fundiert, der die Impulse des Konzils bereits 1965 aufnahm und als Prinzip Gemeinde artikulierte, in einem großen Spätwerk sogar von der Gemeinde als Kirche der Zukunft (1974) sprach. Hier kam der Wille vieler katholischer Theologen zur Sprache, die einzelne Gemeinde gegen das erdrückende Ubergewicht der römischen Weltkirche stark zu machen, ohne die Möglichkeiten zu verkennen, die der Gemeinde durch die Weite der Weltkirche geboten werden. Auf exegetische (J. Hainz u. a.) und systematische (K. Rahner u. a.) Vorarbeiten gestützt, ging F. Klostermann von der These aus, daß cxxXrjoia nur an einem bestimmten Ort geschehen könne und sich deshalb als Orts- und Einzelgemeinde aktualisiere. Zwischen den einzelnen Ortsgemeinden gelte das „Gesetz der Interkommunikation". Zur Gesamtgemeinde müsse die einzelne Gemeinde einen inneren Bezug bewahren. Das könne praktisch etwa so aussehen, daß die Vorherrschaft des Territorialprinzips aufgegeben und neben den traditionellen Territorialgemeinden „kategorialpersonale" bzw. „kategorialfunktionale" Gemeindebildungen ermöglicht werden, damit sich kurzfristige Spontangruppen, Interessengruppen und Freundesgruppen bilden können, die „wenigstens als Teilgemeinden einer größeren Vollgemeinde anerkannt werden". Die „Gemeinde von morgen" werde größere pastorale Basiseinheiten brauchen, so daß „Großraumpfarreien entstünden, die von Teams qualifizierter Spezialisten mit einem Priester als Primus inter pares an der Spitze geleitet werden". Falls einer „Sprengelgemeinde" ein Priester fehle, solle auch ein Laie ordiniert werden, um den Gemeinden ein volles sakramentales Leben zu garantieren.
Schon vor dem II. Vatikanum hatte in —>Lateinamerika ein Prozeß der Gemeindewerdung eingesetzt, der unter dem Begriff „Basisbewegung" bekannt wurde und sich seit 1 9 6 5 bis nach Europa (Italien, Niederlande, Schweiz, Deutschland u. a.) ausbreitete. Kirchliche Basisgemeinden hatten sich vor allem in der von Elend und Unterdrückung geprägten Lage der Landbevölkerung Brasiliens gebildet, wo die Struktur der „Pfarrei" wegen der riesigen Distanzen und dem seltenen (manchmal nur einmal jährlichen) Auftreten eines Priesters zerbrach. Im kirchlichen Vakuum und im Kontext solidarischer Unternehmungen für elementare Selbsthilfe entstanden Gemeinden, die meist von Laien geleitet wurden. Viele Priester und Bischöfe haben sich nach anfänglichem Zögern mit den Basisgemeinden solidarisiert. Die Bischofskonferenz von Medellin (1968) stellte fest: „Die Basisgemeinde ist der primäre, grundlegende Kern der Kirche, der auf seiner Ebene die Verantwortung auf sich nehmen
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muß für den Reichtum und die Ausbreitung des Glaubens sowie für den Kult, der ihn zum Ausdruck bringt. Sie ist die Initialzelle für die kirchliche Strukturierung, der Herd der Evangelisation und gegenwärtig der hauptsächliche Ausgangspunkt zur Hebung und Entwicklung des Menschen" (Kaufmann 76). Äußerte Papst Johannes Paul II. auf der Bischofskonferenz von Puebla (1979) noch Bedenken gegenüber einer Politisierung der Basisgemeinden, so erkannte er doch auf seiner Brasilienreise (1980) die „enorme Vitalität" der Basisgemeinden an. Sind lateinamerikanische Basisgruppen meist nicht in Spannung oder Konflikt zur Hierarchie, sondern im Kampf ums Dasein und in der Auseinandersetzung mit einer repressiven politischen und sozialen Situation entstanden und haben in der Kirche auch Schutz vor Vereinzelung und Verfolgung erhalten, so ist die europäische Basisbewegung eher in der Auseinandersetzung mit der Hierarchie gewachsen, die das soziale und politische Engagement in einzelnen Gemeinden zu bevormunden und den Aufbruch des 2. Vatikanischen Konzils zu blockieren versuchte („Experiment Isolotto" u. a.). Obwohl der Begriff,Basis' vieldeutig ist und sich deshalb auch zu demagogischen Alternativen mißbrauchen läßt (z. B. „Kirche von oben" contra „Basisgemeinde" als „Kirche von unten"), ist es die Stärke der nachkonziliaren Auseinandersetzung um das rechte Verständnis von christlicher Gemeinde, daß sie von einer geistlichen Erfahrung der Kirche getragen ist und die Eucharistie als die wahre Basis der Gemeinde zur Erfahrung bringen will. 4.3. Auch die Evangelische Kirche wurde durch Erfahrungen in Missionsgemeinden der Dritten Welt dazu gebracht, ein „Dilemma der Volkskirche" (Vicedom) zu beklagen, die noch einen Prozeß der Gemeindewerdung vor sich habe, bei dem sie von Gemeinden der Dritten Welt lernen könne. Hatte B. Gutmann u. a. schon 1925 aus den Erfahrungen in Missionsgemeinden Konsequenzen für den „Gemeindeaufbau" in der Heimatgemeinde gezogen, so wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend die Einsicht, daß —»Mission nur noch in einem gegenseitigen Lernprozeß geschehen könne, in dem sich auch europäische Gemeinden durch Gemeindeerfahrungen von Missionsgemeinden in Frage stellen und bereichern lassen. So wurde z. B. 1980 in Gemeinden Oberhausens eine Visitation durch südafrikanische Theologen durchgeführt. Sie beobachten etwa, daß die Rolle der Musik, die in afrikanischen Gemeinden eine überragende Rolle spielt, in den visitierten Gemeinden unterschätzt wird. Sie stellen Fragen zur altersspezifischen Aufteilung in Erwachsenen- und Kindergesangbuch und geben zu bedenken, „daß beiden Gruppen Gelegenheit gegeben werden müßte, gemeinsam das Lob Gottes zu singen, was ihnen ermöglicht, gemeinsame Erfahrungen zu teilen". Sie stellen fest, daß die Jugendarbeit weithin keine Beziehung zur Ortsgemeinde hat. Sie vermissen neben der pastoralen Arbeit der Kirche den prophetisch-missionarischen Dienst der Gemeinden. Sie erwarten von den deutschen Gemeinden: „Es geht uns nicht so sehr darum, etwas für uns zu tun als vielmehr darum, in einer besonderen Art mit uns Christ zu sein (Visitation 18).
Der Prozeß der Gemeindewerdung in der —»Evangelischen Kirche Deutschlands bekommt ab 1950 besondere Impulse durch die in den USA entstandene Konzeption der Haushalterschaft („stewardship"). Von I Petr 4,10 und dem paulinischen Verständnis der Gemeinde als Leib Christi her wurde danach gefragt, wie die Gaben einer Gemeinde entdeckt werden können. Laien wurden zur Mitarbeit aufgefordert. Es entstand eine „Theologie des Laientums" (Kraemer), die im Laien den Träger des Apostolates, den Zeugen des Evangeliums in der modernen Welt findet. Zur Dienstbereitschaft im Priestertum aller Gläubigen wurde aufgerufen, Erneuerung des Opferdienstes (Abgabe des Zehnten) wurde angeregt, Laien wurden zum Besuchsdienst geschult. Der —»Lutherische Weltbund setzte eine ständige Kommission für Haushalterschaft und Gemeindeleben ein. Der ökumenische Rat der Kirchen gab eine Untersuchung über „die missionarische Struktur der Gemeinde" in Auftrag. In dem Zwischenbericht Mission als Strukturprinzip (1965) heißt es im Anschluß an D. Bonhoeffer, missionarische Gemeinde sei „Gemeinde für andere". Für diese Gemeinde sei nicht die traditionelle Komm- sondern die Gehstruktur wichtig. Entsprechend hatte der Schlußbericht des ÖRK den Titel Die Kirche für andere und die Kirche für die Welt im Rin-
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gen um Strukturen missionarischer Gemeinden (1967). Es wird die Frage gestellt, ob das Parochialsystem heute noch sinnvoll sei oder ob die Gemeinde nicht andere Strukturen brauche, die sie für die Tagesordnung der Welt sensibel machten. Ortsgemeinde habe nur noch eine relative Bedeutung und sollte ihren Platz als eine Form von Gemeinde unter anderen erkennen. Die lokalen Strukturen der Ortsgemeinde müßten durch „zonale Strukturen" ergänzt werden, mit denen „Kirche in der Region" (Simpfendörfer) erfaßt werden könnte. Die Kirchen wurden aufgefordert, an die Uberprüfung ihrer Strukturen zu gehen, um die wirklichen Bedürfnisse der Menschen heute zu erforschen. Viele Landeskirchen setzten nun Strukturausschüsse ein, um „häretische Strukturen" in den Gemeinden zu beseitigen. Umfragen und Gemeindeanalysen wurden erstellt, die die tatsächliche Situation der Gemeinde und die wirklichen Bedürfnisse der Menschen ermitteln sollten. Es wurden Strukturpläne für die Gemeinden erstellt, die von der „Gemeinde in der Raumschaft" (Müller) ausgingen. Umstrukturierung des Pfarramtes zum Teampfarramt wurde versucht. Gemeinden wurden in funktionale Bereiche aufgegliedert und die Gemeindeverwaltung zentralisiert. Die Gemeindearbeit verlagerte sich in kleine Gruppen und Hauskreise einerseits, in Ausschüsse, Kongresse und regionale Kirchentage andererseits. Der an diesen Überlegungen maßgeblich beteiligte W. Krusche (DDR) gab freilich im Zusammenhang der Tagung des Zentralausschusses des ÖRK in Dresden (1981) selbstkritisch zu bedenken, daß die Überlegungen, von der starren Form der Gemeinde am Wohnort loszukommen, sich letztlich als Irrweg erwiesen hätten. Auch wenn die Menschen mobiler geworden seien, hielten sie an der Wohngemeinde als unverrückbarem, verläßlichem Ort fest, in dem man zu Hause sei und in dem man sich von der vielen Bewegtheit in Ruhe zurückziehen könne. Das war wohl auch der Grund, weshalb sowohl das Programm der Haushalterschaft wie die Umstrukturierungen der Gemeinden scheiterten. Sie liefen auf immer mehr Aktivismus hinaus und rechneten nicht mit dem Menschen, der von seinem Beruf erschöpft ist und in seiner Gemeinde nicht noch mehr erschöpft werden, sondern schöpferisch aufatmen möchte. Versandete die ökumenische Frage nach der missionarischen Gemeinde allmählich in unzähligen Umfragen, Statistiken, Analysen, Umstrukturierungen und Beratungen, so wurde sie von evangelikalen Gruppen auf dem Lausanner Kongreß (1974) in neuer Weise gestellt. Es komme nicht auf eine neue Struktur, sondern auf die erneuerte, weil zu Jesus Christus bekehrte Person in der missionarischen Gemeinde an. Dazu brauche es —»Evangelisation, Mitarbeiterschulung, Gebetskreise. Luthers Gedanke von der Sammlung der Menschen, „so mit Ernst Christen sein wollen", wurde wieder aufgegriffen (Sorg 36), um eine bruderschaftliche Sammlung und Zurüstung in der Gemeinde voranzubringen. Um die —> Volkskirche durch missionarische Breitenarbeit zu erneuern, brauche es die Erneuerung von Pfarrern und Mitarbeitern im geistlichen Leben, Aktivierung von Laien, eine Verkündigung, die zur Umkehr wie zur Glaubensentscheidung rufe, einladende Gottesdienstformen, intensive Besuchsdienstarbeit, lebendige Bibelstundenkreise, eine missionarische Ausrichtung des Presbyteriums, Querverbindung zu anderen missionarischen Gruppen wie überhaupt „Durchgliederung der ganzen Gemeinde mit kleinen Zellen (Hausgemeinden) von bruderschaftlich-missionarischer Struktur" (Sorg 54). In die Nähe dieser Forderungen, die durch das Missionarische Jahr 1980 in vielen evangelischen Gemeinden verstärkt wurden, gehören auch Programme zum missionarischen Gemeindeaufbau wie etwa das Konzept aus Herne „Überschaubare Gemeinde" (Schwarz u.a.) und das aus den USA stammende Programm zum „Gemeinde-Wachstum" („Church-Growth"),wie die Bewegung zur „Charismatischen Gemeinde-Erneuerung in der evangelischen Kirche", die in Verbindung mit einer gleichen Bewegung in der katholischen Kirche steht. Ein gemeinsames Merkmal dieser missionarischen Programme, Konzepte und Bewegungen ist, daß es ihnen weniger um horizontale Strukturveränderungen als um vertikale Erneuerung der Gemeinde aus der Kraft des Heiligen Geistes geht. Was das für die Gemeinde mit ihren alltäglichen Erfahrungen und ihrem Glauben bedeutet, gilt es jeweils neu zu prüfen, um die Menschen davor zu bewahren, ständig das Opfer neuer Forderungen und Programme zu werden, die die Gemeinde in tote
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und lebendige, aktive und passive, starke und schwache, gläubige und ungläubige Christen zerteilen. Zu solcher Prüfung, die den Geist nicht dämpfen, sondern das Beste behalten will (I Thess 5,19ff), braucht es empirische Beobachtungen, systematische Orientierungen und praktische Konsequenzen. 5. Empirische
Beobachtungen
Von den Beobachtungen zur empirischen Situation der evangelischen Kirchengemeinde im Jahr 1982 seien drei besonders markante hervorgehoben, die auch durch Meinungsbefragungen und soziologische Überlegungen unterstützt werden: 5.1. „Die Kirche verfügt nur über ein einziges vollentwickeltes und bewährtes Modell der Kommunikation mit den Mitgliedern: das der örtlichen Gemeinde, dessen organisierendes Zentrum der sonntägliche Gottesdienst ist" (Hild 259 f). Sieht man diese an sich negativ gemeinte Feststellung auf dem Hintergrund der Tatsache, daß es eine Fülle an Versuchen der Kirche zu anderen Formen der Kommunikation mit ihren Mitgliedern gegeben hat und noch gibt, die jedoch oft an der Wirklichkeit der Gemeinde wie an der Eigenart des Evangeliums als eines mündlichen und öffentlichen Wortes vorbeigehen, so kann man die Bewährung der Ortsgemeinde auch positiver werten: Es dürfte an der Stetigkeit des siebentägigen Rhythmus, an der Nähe zum Wohnraum, an der Möglichkeit zur Gemeinschaft und an der Öffentlichkeit liegen, daß sich die Ortsgemeinde mit dem sonntäglichen Gottesdienst als ihrem organisierenden Zentrum gegenüber allen anderen Experimenten mit kirchlicher Kommunikation immer wieder als die kommunikativste und stabilste Kraft der Kirche erwiesen hat. Von ihrer Nähe zum Wohnraum und ihrer dichten Begleitung der Menschen kann die Ortsgemeinde zutreffend „die Kirche der kurzen Wege" (Schröer, zit. b. Burgsmüller 81) genannt werden. Gerade für die Landbevölkerung führt die Verbundenheit mit der Kirche fast ausschließlich über die Ortsgemeinde, wie auch in der Stadt das Zugehörigkeitsgefiihl zur örtlichen Gemeinde zumeist Ausdruck einer hohen Verbundenheit mit der Kirche ist. Freilich gilt es auch zu berücksichtigen, daß es vor allem in der Stadtbevölkerung evangelische Christen gibt, die sich zwar mit der „Evangelischen Kirche in Deutschland" verbunden fühlen und sich gesamtkirchlich orientieren, zu ihrer Ortsgemeinde aber kaum einen Kontakt haben. Das kann sowohl Kritik an der Ortsgemeinde bzw. ihrem Pfarrer sein, wie es Zeichen einer großen Erwartung an die Kirche bedeuten mag, die in dem steigenden Besuch von —»Kirchentagen erkennbar wird. 5.2. Verschiedene Verbundenheitsgrade mit der Kirche finden in der Ortsgemeinde meist auch ihren Ausdruck in verschiedenartigen Gruppen und Kreisen. So gibt es die „Kerngemeinde", die vom Pfarrer gern als Mitarbeiterstab gebraucht wird, ihrerseits aber auch den Pfarrer in hohem Maß beansprucht. Daneben gibt es mehr oder weniger distanzierte Gemeindeglieder, die über die Amtshandlungen und Festgottesdienste mit der Kirchengemeinde in Verbindung bleiben. Bezieht man die verschiedenen Alters- und Interessengruppen, die Vereine und Hauskreise in das Geflecht der Gemeinde mit ein, so erscheint die Kirchengemeinde, empirisch gesehen, als ein der vielfachen Interaktion fähiges Handlungssystem von verschiedenen Gruppen und einzelnen Menschen (Lück 8). Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß sich einzelne Gruppen und Schichten wie etwa Intellektuelle und Arbeiter von der Kirchengemeinde entweder bewußt distanzieren oder zurückgestoßen fühlen. Schichtenspezifisch gesehen, bewegt sich das „Handlungssystem" einer Kirchengemeinde zumeist in einer bürgerlichen Mittelschicht. Von einer anderen Perspektive kann man auch das „Ensemble der Opfer" als Teil der Gemeinde ansehen, „Einsame, berufliche Versager, Ehegeschädigte, Deklassierte, die Geltung und Anerkennung suchen, Nestwärme, Zugehörigkeit" (Lange 299). 5.3. Dem —»Pfarrer kommt in der Kirchengemeinde nach wie vor eine Schlüsselrolle zu. Indem sich das Verhältnis zur Gemeinde weitgehend personal vermittelt, fällt dem Pfarrer die Rolle einer personalen Repräsentanz für die Kirche zu. Was z. B. im Konfirmandenunterricht geschehen ist, wird inhaltlich entweder verdrängt oder kritisiert, während der Konfir-
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mator selbst weitgehend in Erinnerung bleibt. Dem Pfarrer wird ein großer Vertrauensvorschuß entgegengebracht. Ihm stehen die meisten Häuser in der Gemeinde offen. Er wird gesucht als Besucher, Berater, Gesprächspartner, Begleiter, als Nachbar, „Bürge für Sinn und Wert, für gute Tradition und gute Zukunft". Das Vertrauen bezieht sich weniger auf die amtliche Funktion des Pfarrers als Gemeindeleiter, Verwalter oder Bürokraft, als vielmehr auf den Seelsorger, der personale Präsenz ausstrahlt, und auf den Pastor, der für das „Ensemble der Opfer" ein Hirte ist. 6. Systematische
Orientierungen
6.1. Eine Komplementarität von —»Kirche und Gemeinde zieht sich wie ein roter Faden durch die Kirchengeschichte und die neueren theologischen Entwicklungen bis hin zu empirischen Beobachtungen (s.o. Abschn. 5.1). Es gibt immer wieder Versuche, diese Komplementarität entweder durch einen universalistischen Kirchenbegriff oder durch einen exklusiven Gemeindebegriff aufzulösen. Bei einem universalistischen Kirchenbegriff wird die Einheit der zentral geleiteten Kirche so stark betont, daß die christliche Gemeinde am Ort zu einer Kirchenfiliale degradiert wird. Bei einem exklusiven Gemeindebegriff wird die versammelte Gemeinde so stark betont, daß eine kirchliche Gemeinschaft mit anderen Gemeinden wie mit der Ökumene des Volkes Gottes aus dem Blickfeld geraten. Vertreter eines universalistischen Kirchenbegriffs sind unfähig zur Wahrnehmung und Würdigung des empirischen Sachverhalts, daß sich für viele Menschen Kirche nur in ihrer Gemeinde am Ort ereignet. Vertreter eines exklusiven Gemeindebegriffs können es nicht verstehen, wenn viele Menschen sich zwar als Glieder der Kirche fühlen und gern zu Kirchentagen fahren, sich in ihrer Gemeinde am Ort aber nicht zu Hause fühlen. Eine Kirche, die ohne Gemeinde bleibt, erstarrt in ihren Traditionen, entleert sich in ihren Gebäuden oder verliert sich auf ihren Kongressen. Eine Gemeinde, die ohne Kirche bleibt, verliert Weite und erstickt allmählich in der Enge ihrer Gemeinschaft. Die Komplementarität von Kirche und Gemeinde kommt in Bewegung, wenn die Erfahrungen der Gemeinde so stark werden, daß selbst eine zentralistische Kirche sich ihnen öffnen muß (vgl. z. B. Basisbewegungen in Lateinamerika), und wenn die Uberlieferungen der Kirche in der Gemeinde so sehr entbehrt werden, daß sich die versammelte Gemeinde ihnen öffnen muß (vgl. z.B. der ökumenische Prozeß der—»Methodistischen Kirche in England). Eine zur Kirche geöffnete Gemeinde wird den Anspruch vertreten: „Wir sind an unserem Teil das Ganze" und dennoch bescheiden hinzufügen: „Wir sind das Ganze nur für unser Teil!" (Geheimnis 42). Die Komplementarität von Kirche und Gemeinde hat sich im Kirchenbau ihren sichtbaren Ausdruck in vielen Gemeinden geschaffen: Es gibt eine Kirche und dicht dabei das Gemeindehaus. Während die Gemeinde in der Kirche öffentlich zum Gottesdienst versammelt ist, um sich gemeinsam mit allen Christen auf Erden zum dreieinigen Gott zu bekennen, Wort und Sakrament zu empfangen und Gott mit Gebet und Lobgesang für die in Jesus Christus geschehene Versöhnung zu danken, sucht sie im Gemeindehaus eher Gemeinschaft untereinander und kommt in Kreisen, Gruppen und Vereinen zum Gespräch, zur Bibelarbeit, zum geselligen Beisammensein, zu gemeinsamen Verabredungen, zur Gebetsgemeinschaft u.a. zusammen. So wird gerade vom Gottesdienst, der in der ,Ekklesiaphase' für alle öffentlich gefeiert wird und sich in der ,Diasporaphase' (Lange) mit dem Gottesdienst im Alltag der Welt fortsetzt, eine Dialektik von Kirche und Gemeinde immer neu in Bewegung gebracht. Die um den Tisch des Herrn versammelte Gemeinde wird von dem in Wort und Sakrament handelnden Herrn zur Gemeinschaft des Leibes Christi versammelt und dadurch für die ganze Weite der Kirche geöffnet. Die im Gottesdienst empfangene Gemeinschaft des Leibes Christi sucht nach Gelegenheit, im Leben der Gemeinde fortgesetzt zu werden, sei es im Gemeindehaus, sei es in der Verborgenheit des Alltags, besonders mit denen, die in der versammelten Gemeinde nicht anwesend sein können oder wollen. Der Geist, der die im Namen Jesu versammelte Gemeinde zur Gemeinschaft des Leibes Christi macht, sprengt durch das Wort Gottes auch die muffige Enge einer selbstbezogenen Kerngemeinde. Er baut die Gemeinde als Schöpfung eines Wortes, das um Jesu willen J a zum Leben und Nein zu-
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gleich zum Tod sagt. Als Schöpfung dieses Ja (II Kor 1,19) lebt die Gemeinde nicht in der Enge kleinlicher Abgrenzungen, sondern in der ökumenischen Weite des Gotteslobs, das ein Geruch des Lebens zum Leben (II Kor 2,16) verbreitet. 6.2. Das Verhältnis von Gemeinde und Gruppe angemessen zu bestimmen, dürfte für das 20. Jh. so schwierig, aber auch so wichtig sein wie für das 19. Jh. das Verhältnis von Gemeinde und Verein, oder für das 18. Jh. das Verhältnis von Gemeinde und collegium. Ein ausschließendes Verhältnis von Gemeinde und Gruppe kommt nicht in Frage, so sehr es die Gefahr eines exklusiven Gemeindeprinzips ist, außer der Gemeinde nichts gelten zu lassen. Gemeinde und Gruppe(n) gleichzusetzen, ist ebenso unhaltbar, so sehr es die Gefahr von elitären Gruppen sein kann, sich mit der Gemeinde gleichzusetzen oder sich als ecclesiola in ecclesia (Hilbert) zu verstehen. Es reicht auch nicht aus, die Gemeinde als Summe verschiedener Gruppen anzusehen, weil sonst diejenigen übersehen wären, die allein sind und bewußt in keiner Gruppe sein wollen. Gemeinde und Gruppe(n) stehen vielmehr in einem Spannungsverhältnis, bei dem es darauf ankommt, daß es so lebendig wie nur möglich ist und gegenseitigen Austausch erlaubt.
Es gehört zum Wesen der Gruppe, auf Grund von gemeinsamen Interessen oder Problemen, gemeinsamer Gesinnung oder gemeinsamen Alters in einer begrenzten Zahl von Personen zusammenzukommen, ob es nun in oder außerhalb der Gemeinde geschieht. Demgegenüber gehört es zum Wesen der christlichen Gemeinde, für alle Menschen an einem Wohnort, in einer Anstalt oder an einem Urlaubsort öffentlich da zu sein, um gemeinsam mit ihnen und für sie das Ja zum Leben im Namen Jesu zu bezeugen und zu feiern. Es ist die Chance der Gruppe, manchen Menschen mehr Geborgenheit zu geben, manche Aufgaben schneller zu sehen und manche Gabe besser zur Entfaltung zu bringen, als das in der für alle geöffneten Gemeinde möglich sein kann. Mit der Chance ist freilich auch die Gefahr der Gruppe verbunden, sich in einem Gruppenbewußtsein des einzig,wahren' Glaubens und der wahrhaft fortschrittlichen' Gesinnung abzukapseln und die anderen Menschen nur noch als missionarische Objekte zu betrachten. Es ist freilich auch die Gefahr der Gemeinde, sich Gaben und Anregungen einzelner Gruppen zu verschließen und nur in einer lauwarmen Mittelmäßigkeit für alle offen bleiben zu wollen, in Wahrheit aber für niemand wirklich da zu sein. Das Spannungsverhältnis von Gemeinde und Gruppe wird lebendig, wenn der Gottesdienst als „Vollversammlung" der Gemeinde so öffentlich gefeiert wird, daß sowohl die Gruppen wie alle übrigen Gemeindeglieder, seien sie anwesend oder nicht, füreinander geöffnet werden, weil Gottes Wort als Ja zur Liebe hörbar wird, die keinen ausschließt, der sich nicht selbst ausschließt, sondern alle miteinander zur Gemeinschaft des Leibes Christi erbaut (I Kor 12f). Die Zusammengehörigkeit, die im Hören auf Gottes Wort entsteht, sensibilisiert die Starken für die Schwachen, die Anwesenden für die Abwesenden, die Glaubenden für die Zweifelnden, die Gruppen für die Einzelnen und macht jeden zu einem einzelnen Glied am Leib Christi. Das heißt mehr und anderes als Mitglied einer Gruppe, einer Partei oder einer Bewegung zu sein. Es heißt, Sünder vor Gott inmitten einer Gemeinde von begnadigten Sündern zu sein. 6.3. Auch das Verhältnis von Gemeinde und ~^>Amt ist komplementär zu bestimmen: „Eine amtlose Gemeinde wäre ebenso unbiblisch wie ein gemeindeloses Amt" (Wolf 1330). Ausgangspunkt für ein recht verstandenes Amt ist nicht eine hierarchische Ordnung, sondern der Dienst der Versöhnung (II Kor 5,18), der in der christlichen Gemeinde von Gott aufgerichtet ist, damit sie das Ja zum Leben gegen eine scheinbare Ubermacht des Todes in der Welt bezeuge. Dieser Dienst darf nicht vorschnell auf das Pfarramt eingeengt werden, denn er ist der ganzen Gemeinde als dem Priestertum aller Glaubenden verliehen, damit jeder Christ an seiner Stelle und in seinem Beruf dem Nächsten das Ja zum Leben um Jesu willen bezeuge. Für die öffentliche Wahrnehmung des Dienstes, der der ganzen Gemeinde gehört, gilt: „Dan weyl wir alle gleich priester sein, musz sich niemant selb erfur thun und sich unterwinden, an unszer bewilligen und erwelen das zuthun, des wir alle gleychen gewalt haben, Den was gemeyne ist, mag niemandt on der gemeyne willen und befehle an sich nehmen" (WA 6 , 4 0 8 , 1 2 - 1 7 ) . Ist der Dienst der Versöhnung inmitten der Gemeinde aufgerichtet, so ist es auch Sache der Gemeinde, Diener am Wort Gottes zu berufen, die das Predigt-
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amt öffentlich wahrnehmen und durch Auslegung der Heiligen Schrift dazu helfen, daß das J a zum Leben nicht heimlich in ein Nein und das Nein zum Tode nicht heimlich in ein J a verkehrt werde. Einer Gemeinde, die sich als Schöpfung des Wortes versteht, wird das öffentliche Predigtamt das Wichtigste sein, dem auch die Sakramentsverwaltung zugeordnet ist. Damit sind andere geordnete Ämter in der Gemeinde keineswegs ausgeschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verdammt. So hat sich als eine geschichtliche Ausprägung des Predigtamtes das Pfarramt bewährt, das freilich nicht notwendig mit dem Predigtamt verbunden sein muß, sondern zuweilen auch nur das Amt der Leitung und der Seelsorge in der Gemeinde öffentlich wahrnehmen kann (z.B. Anstaltspfarrer). Schon in der urchristlichen Gemeinde hat sich das Diakonenamt (Act 6) als Entlastung und Verstärkung des Predigtamtes erwiesen. So wird die christliche Gemeinde immer wieder einzelne ihrer Glieder in ein solches Amt rufen, von dem sie glaubt, daß es durch öffentliche Wahrnehmung dazu hilft, den Dienst der Versöhnung, zu dem die Gemeinde berufen ist, noch deutlicher zu bezeugen. In diesem Zusammenhang wäre nicht nur Calvins Gedanke eines vierfachen Amtes in Erinnerung zu rufen, sondern an eine den Aufgaben und der Situation der Gemeinde möglichst vielfältige Wahrnehmung des einen Dienstes in vielen Ämtern zu denken. So könnte die Gemeinde davor bewahrt werden, den einen Dienst, der die Versöhnung bezeugt, von vornherein mit Predigt- und Pfarramt zu identifizieren. So könnte aber auch der Pfarrer dazu befreit werden, sich mehr der pastoralen Rolle des Seelsorgers, Besuchers und Nachbarn zuzuwenden, die nach empirischen Beobachtungen vor allem von ihm erwartet wird. Dabei wird freilich der eine Dienst, der die Versöhnung bezeugt, immer mit zur Entfaltung kommen, da der Pfarrer dem J a zum Leben verpflichtet bleibt, das ihn zu einem annehmenden Zuhörer macht und ihn zugleich falschen Erwartungen und Vereinnahmungen widerstehen läßt.
7. Praktische
Konsequenzen
Ist der Dienst der Versöhnung, der das J a zum Leben bezeugt, Mitte und Basis einer Gemeinde, die sich als Schöpfung des Wortes versteht, so hat das auch praktische Konsequenzen für Leben und Gestalt der Gemeinde. 7.1. Ist die Gemeinde selber durch das in Christus laut gewordene , J a ' geschaffen, so kann sie gar nicht anders, als sich im Namen Jesu immer wieder zu versammeln, um dankbar in das , J a ' mit ihrem ,Amen' einzustimmen und Gott zu loben (II Kor 1,20). So nimmt sie die Gestalt einer eucharistischen Gemeinde an, für die Wort und Sakrament die Quelle sind, aus der sie das J a zum Leben schöpft, worauf sie dankbar mit ihrem Gebet und Lobgesang antwortet. Es ist eine Gemeinde von Sündern, die das Leben mit ihren Umwelt zerstörenden und ,Inweit' vergiftenden Worten verwirkt hatten und nun das J a zum Leben als eine Gnade erfahren, die sie vom T o d zum Leben umkehrt, obwohl sie sich mit der Todesgestalt eines resignierten Lebens schon abgefunden hatten. So ist jeder —»Gottesdienst in der eucharistischen Gemeinde ein öffentliches Zeugnis für das Leben und gegen den T o d . Die Dankbarkeit dafür, daß überhaupt Gottesdienst gefeiert werden kann, ist der Maßstab für alle Vorschläge, wie er noch schöner, noch einladender, noch wirkungsvoller sein könnte. Kriterium für jede Erneuerung des Gottesdienstes muß sein, ob sie die Gemeinde mit ihrer Danksagung zu denen hin öffnet, die in der Versammlung nicht anwesend sein können oder wollen, den Zweiflern und Verzweifelten, den Behinderten und den Kranken, den noch nicht Geborenen und den schon Gestorbenen, und o b sie die Gemeinde am Ort zur Ökumene des Volkes Gottes öffnet und ihr eineökumenische Gestalt gibt. „Gerade der Gottesdienst ist gestaltete Erinnerung daran, daß Gemeinde, Ortsgemeinde, mehr sein muß als Gemeinde am Ort und für ihn, daß sie Kirche am Ort zu sein berufen ist. Seine festgeformten Stücke stellen diesen ablesbaren Zusammenhang, dieses Hinausweisen über die lokale Besonderheit, heraus. Und seine freien Stücke stellen exemplarisch dar, daß Gemeindewerdung nur geschieht durch sich exponierendes Mühen von Menschen um das für andere glaubensbehilfliche Wort, das aus der alten Botschaft zu lernen versucht, wie es für heute verlauten muß. Er ist in seiner Gesamt-
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heit die Erinnerung daran, daß die Gemeinde als Kirche und die Kirche auch als Gemeinde überall mehr sein muß als die Summe ihrer Tätigkeiten: Lebensraum Gottes für das Leben des Glaubens" (Jetter 17f). 7.2. Das J a zum Leben betrifft nicht nur die Gemeinde insgesamt, sondern trifft als eine befreiende Gnade auch den einzelnen Sünder in der Gemeinde, läßt ihn aufatmen wie einen „Freigelassenen der Schöpfung" und setzt Gaben in ihm frei, die er in sich nie vermutet hätte. So nimmt die Gemeinde die Gestalt einer charismatischen Gemeinde an, die darin realistisch ist, daß sie an Wunder glaubt und dadurch so reich ist, daß sie sich an der Gnade Jesu Christi genügen läßt (II Kor 12,9). Im Gegensatz zu den Pneumatikern sieht sie den —>Geist Gottes nicht bloß in den außerordentlichen, ekstatischen Phänomenen am Werk, sondern vor allem in den unscheinbaren, übergangenen Wundern des Alltags (Möller, Entdeckung 1 f). So läßt sie sich vom Geist Jesu Christi für das Alltägliche begeistern und für die geringen Brüder Jesu öffnen, weil sie weiß, daß die Kraft der Gnade gerade in den Schwachen mächtig ist. Das hat einen Lernprozeß zur Folge, in dem die Gemeinde erkennt, daß sie nicht bloß für Kranke, Alte und Behinderte da ist, sondern auch von ihnen lernend mit ihnen leben kann. Wo nicht Fähigkeiten, sondern Gaben zählen, da haben auch Schwache etwas zu geben, weil sie zuvor schon etwas empfangen haben, eine Gnade nämlich, die sie guten Mutes in Nöten, Verfolgungen und Ängsten sein läßt (II Kor 12,10). So findet das „Ensemble der Opfer" in der charismatischen Gemeinde seinen Raum (—»Charisma/Charismen), der ihm durch das J a zum Leben eingeräumt wird: Den Neugeborenen wird dieses ,Ja' in der Taufe zugesprochen, gegen alle Mächte, die ihr Leben bedrohen; den Liebenden wird es in der Trauung als J a zur Liebe zugesprochen, gegen alle Unsicherheit, ob sie ihre Liebe auch durchhalten können; über den Gestorbenen wird es in der Beerdigung als J a zum ewigen Leben gesprochen, gegen allen Augenschein von Gräbern; den Kranken und Verzweifelten wird es seelsorgerlich zugesprochen gegen allen Zweifel, ob das Leben noch einen Sinn habe. So wird eine charismatische Gemeinde notwendig auch eine diakonische Gestalt bekommen, weil sie weiß, daß das J a zum Leben nicht nur durch ein ermutigendes Wort, sondern ebenso auch durch eine nächstliegende, einfache „Handreichung" bezeugt werden kann. Die Eindeutigkeit, mit der sich die Gemeinde für das J a zum Leben entschieden hat, wird ihr notwendig auch eine politische Dimension geben, weil sie bis in Gemeinwesenarbeit und gesellschaftliche Diakonie hinein deutlich macht, daß sie Partei für das Leben und gegen den Tod ergriffen hat. Weil es der Gemeinde um die diakonische Gestalt der nächstliegenden „Handreichung" (Lk 10,25 ff) geht, hütet sie sich vor Aktionsprogrammen und Diakonie-Konzepten, die ihr den Blick für das bzw. den Nächstliegenden verstellen. So reich eine Gemeinde ist, die sich an der Gnade Jesu Christi genügen läßt, so armselig und verkrampft kann sie werden, wenn sie sich durch ihre diakonischen Erfolge legitimieren will. 7.3. Lebt die christliche Gemeinde zwar nicht von der Welt, aber doch mitten in der Welt, so hat sie das J a zum Leben auch öffentlich vor aller Welt zu bezeugen und zwar gerade für die von Gott geliebte Welt. So bekommt die Gemeinde eine missionarische Gestalt, die mit ihrem J a zum Leben zugleich Nein zu allen Todesgestalten und -mächten in der Welt sagt. Was eine Gemeinde missionarisch macht, sind nicht die flächendeckenden Programme, wonach „die ganze Gemeinde der ganzen Welt das ganze Evangelium bringt" (Lausanner Verpflichtung Art. VI), denn solche Programme lähmen die Gemeinde eher durch ihre viel zu großen Worte. Eine Gemeinde wird vielmehr dadurch missionarisch, daß sie hellhörig und gehorsam dafür ist, wozu der Geist Gottes sie jeweils ruft und wohin er sie sendet. So ein Ruf wie „Komm herüber und hilf uns!" (Act 16,9) mag von einem Kontinent zum anderen reichen, kann aber auch von einer Haustür zur anderen kommen und auf einen naheliegenden Hausbesuch abzielen. Die Hellhörigkeit für den Ruf des Geistes gibt der Gemeinde zugleich eineseelsorgerliche Gestalt, in der sie sensibel dafür ist, wo es so geduldig und annehmend wie nur möglich zuzuhören und wo es so eindeutig und klar wie nur möglich das „ J a zum Leben" zuzusprechen gilt. Dabei gehört es zur seelsorgerlichen Gestalt einer Gemeinde, daß Seelsorge für sie niemals bloß eine Sache des Pfarrers allein, auch nicht bloß eine Sache von
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pastoralpsychologisch ausgebildeten Spezialisten in Beratungsstellen, sondern Sache der ganzen Gemeinde ist, die auf eine ganz alltägliche und unscheinbare ebenso wie auf eine höchst fachliche Weise geschehen kann (Möller, Alltägliche Seelsorge 2 4 1 f). 7.4. Bezeugt die christliche Gemeinde schon durch ihre Gestalt das J a des Lebens, dann kann es ihr nicht gleichgültig sein, in welcher Ordnung und mit welchem Recht sie lebt. Spricht man von einem „Zeugnischarakter kirchlichen Rechts" (Barmen 111,64ff), so wird man freilich auf der H u t sein müssen, daß Ordnungsfragen in der christlichen Gemeinde nicht ein gesetzliches Ubergewicht bekommen und das freie Zeugnis der Gnade mehr verdunkelt als erhellt wird. Gliedert sich die Gemeinde als eine Schöpfung des Wortes bis in den Alltag hinein von ihrem Gottesdienst her, so k o m m t es darauf an, das Gemeinderecht als „liturgisches R e c h t " (Barth) zu ordnen, so daß die Gemeinde in einem umfassenden Sinn die Gestalt eines „gegliederten Gottesdienstes" bekommt. Unter den Regelungen, die sich bewährt haben, sind zu nennen (Stein): Die—»Taufe auf den Namen Jesu Christi ist der christlichen Gemeinde ein so entscheidendes „Wahrzeichen" (Sakrament), daß durch sie das Recht zur Gemeindemitgliedschaft ausgeht, das dann äußerlich vom Wohnort her geregelt wird. Die Zulassung zum —»Abendmahl wird mit Zustimmung des Presbyteriums auch Kindern nach angemessener Vorbereitung zugestanden (—»Kinderkommunion). Das Patenrecht wird mit der—»Konfirmation verliehen. Rechtlich verbindliche Entscheidungen in der Gemeinde werden vom Presbyterium gefällt, das auch bei der Besetzung von Pfarrstellen je nach gliedkirchlichem Recht zumindest Mitspracherecht, wenn nicht gar alleiniges Besetzungsrecht hat. Wurde das Presbyterium bis zum Anfang des 20. Jh. oft nur mit Bau- und Vermögensfragen befaßt, so hat das Ältestenamt durch die Erfahrungen des —»Kirchenkampfes eine wesentliche Aufwertung erfahren, die den Presbyter auch am geistlichen Aufbau der Gemeinde beteiligt. Eine jährlich einzuberufende Gemeindeversammlung ist ein weithin leider nicht wahrgenommenes Recht der Gemeinde geblieben. 7 . 5 . So sehr sich die christliche Gemeinde bemüht, mit ihrer Gestalt und ihrer Ordnung Zeugnis für das J a zum Leben zu geben, so sehr weiß sie sich doch auch als Teil einer „unerlösten W e l t " , in der selbst das deutlichste J a immer wieder von dem Nein des Todes überschattet und verdunkelt wird. Ebenso weiß sie sich verbunden mit einer Kreatur, die der Vergänglichkeit unterworfen ist und deshalb auch die Freiheit der Kinder Gottes nur in irdischer Gebrochenheit erscheinen läßt. Je mehr eine Gemeinde dazu steht, daß sie nicht als Gemeinde der Reinen und Seligen über der Erde schwebt, sondern als Gemeinde am O r t bei den Menschen innerhalb des corpus permixtum einer Volkskirche lebt, desto entschiedener wird sie von der „Erstlingsgabe des Geistes" ( R o m 8 , 2 3 ) , dem J a zum Leben, Gebrauch machen und dadurch eine eschatologische Gestalt bekommen, daß sie auf das Kommen des Reiches Gottes für alle hofft, in dem es nur noch eindeutiges J a und dankbares Amen gibt. Literatur
(soweit
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3. Gemeinden seit der Emanzipa-
Gemeindeformen
Seit d e m f r ü h e n M i t t e l a l t e r ist d e r h e b r ä i s c h e B e g r i f f kehilla
(qedosa)
f ü r (heilige) G e -
m e i n d e in G e b r a u c h . E r b e z e i c h n e t die G e s a m t h e i t d e r j ü d i s c h e n B e w o h n e r eines O r t e s , die als s o l c h e eine s o z i a l e E i n h e i t bilden u n d sich g e w i s s e O r g a n e z u r B e f r i e d i g u n g i h r e r religiösen u n d s o z i a l e n B e d ü r f n i s s e g e b e n . B i s w e i l e n g a b es in e i n e r S t a d t m e h r e r e j ü d i s c h e G e m e i n d e o r g a n i s a t i o n e n jeweils u m eine S y n a g o g e h e r u m , b e s o n d e r s d a n n , w e n n die s t a a t l i c h e n B e h ö r d e n k e i n e n E i n h e i t s z w a n g a u s ü b t e n . Dies s c h e i n t z . B . i m k a i s e r l i c h e n R o m d e r F a l l g e w e s e n zu sein, a b e r a u c h i m o t t o m a n i s c h e n R e i c h des 1 6 . / 1 7 . J h . I m l e t z t e r e n F a l l w u r d e die g e m e i n d l i c h e Vielfalt d a d u r c h g e f ö r d e r t , d a ß s i c h die j ü d i s c h e n E i n w o h n e r in ihr e n Sitten u n d religiösen G e b r ä u c h e n n a c h i h r e r l a n d s m a n n s c h a f t l i c h e n H e r k u n f t u n t e r s c h i e d e n . In I s t a n b u l , Saloniki u n d S a f e d e n t s t a n d e n v o m 1 5 . J h . a n n e b e n a l t e i n g e s e s s e n e n Gemeinden Ansiedlungen der spanisch-portugiesischen E x u l a n t e n ( S e f a r d i m ) und der Einw a n d e r e r a u s d e u t s c h s p r a c h i g e n L ä n d e r n (Aschkenasim).
Diese G e m e i n d e n verhielten sich
zueinander wie solche verschiedener Ortschaften. Ihrer national-religiösen Einheit bewußt, h i e l t e n sie m e h r o d e r w e n i g e r a u s g e p r ä g t e V e r b i n d u n g e n z u e i n a n d e r a u f r e c h t . I m M i t t e l a l t e r u n d a u c h n o c h in d e r N e u z e i t h e r r s c h t e in E u r o p a die
Einheitsgemeinde
v o r . D i e s t a a t l i c h e n I n s t a n z e n b e h a n d e l t e n die J u d e n s c h a f t als ein K o l l e k t i v , d a s d u r c h die O r g a n e d e r G e m e i n d e v e r t r e t e n u n d v o n i h n e n v e r w a l t e t w u r d e . D i e s e w a r e n f ü r die d e n Beh ö r d e n zustehenden A b g a b e n und g e w i s s e r m a ß e n a u c h für das allgemeine Verhalten der e i n z e l n e n J u d e n v e r a n t w o r t l i c h . M a n k a n n s o m i t v o n e i n e m Gemeindezwang
sprechen.
D i e s e n g a b es a u c h n o c h i m 1 9 . J h . , als die J u d e n i m G e f o l g e d e r E m a n z i p a t i o n zu B ü r g e r n g e w o r d e n w a r e n , als a u f ihre k o l l e k t i v e B e s t e u e r u n g v e r z i c h t e t w u r d e u n d als die G e m e i n -
336
Gemeinde II
den nicht mehr als Einheit angesehen werden konnten. Weite Kreise der jüdischen Bevölkerung wurden von religiösen Reformtendenzen erfaßt, während andere traditionsverbunden und orthodox blieben. Das Recht zur Gründung von Sondergemeinden wurde in —»Preußen erst 1876 gewährt, in —»Ungarn einige Jahre früher. In anderen Ländern blieb der Gemeindezwang bis zur völligen Trennung von —»Kirche und Staat. In —»England war wie im gesamten Commonwealth die Zugehörigkeit zur Gemeinde nicht obligatorisch; daher stand dort einer getrennten Gemeindebildung nichts im Wege. Sefardim und Aschkenasim bildeten in London nach der Wiederzulassung der Juden zur Zeit —»Cromwells ihre Sondergemeinden. Ähnlich gründeten dort die Anhänger der religiösen Reform in der Mitte des 19. Jh. ihre eigenen Gemeinden. Auch in den —»Vereinigten Staaten von Amerika war die Gemeindebildung wegen der Trennung von Kirche und Staat durchaus freiwillig. Sie erfolgte in den Jahrzehnten der Einwanderung besonders der russischen Juden (1880—1914) auf der Basis der örtlichen Herkunft. Von deutschen Emigranten getragene Reformgemeinden entstanden in den USA bereits in der Mitte des 19. Jh. Zuletzt bildeten sich drei Hauptströmungen heraus: Reformjudentum, Orthodoxie und konservatives Judentum. Innerhalb dieser drei Hauptgruppen gibt es aber eine noch große Variationsbreite in bezug auf Prinzipientreue und Radikalität. 2. Gemeinden vor der
Emanzipation
Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen den jüdischen Gemeinden der nach-emanzipatorischen Neuzeit (ab ca. 1800) und den traditionellen Gemeindeformen seit der Entstehung der jüdischen —»Diaspora bis zum Beginn der Emanzipation. Die ursprünglichen Diasporagemeinden begriffen sich als Exulanten des Heimatlandes, des Landes Israel. Sie trugen Elemente der religiösen und bürgerlichen Verfassung des Landes Israel mit sich und waren bestrebt, ihr privates und öffentliches Leben nach Möglichkeit danach einzurichten. So gehörte nicht nur die —»Synagoge zur jüdischen Gemeinde, sondern auch das Lehrhaus, wo das Studium der hebräischen Bibel und ihrer Fortentwicklung im talmudischen Schrifttum gepflegt wurde. Diese Pflege war die Sache einer intellektuellen Elite, die sich über die elementare Schulzeit hinaus dem Studium widmete. Zwar konnten sich nicht alle Gemeinden eine Yesiwa leisten, wo talmudisches Gelehrtentum gepflegt wurde. Aber jede Gemeinde sorgte für den Elementarunterricht der Kinder. 2.1. Pflege der Lehre. Die Vermittlung der jüdischen Tradition an die neue Generation (—»Bildung III) galt grundsätzlich als eine religiöse Pflicht der Eltern; sie hatten praktisch und finanziell dafür zu sorgen. Doch war schon zur Zeit des Zweiten Tempels die Errichtung von Schulen in Palästina der öffentlichen Hand, d.h. der Ortsgemeinde, auferlegt worden. In der Diaspora wurde diese Pflicht auf die Synagogengemeinde übertragen. Die munizipale Konstitution Palästinas wurde in der Diaspora zu einer kommunalen, wodurch die Gemeinde entsprechende Rechte und Pflichten erbte. Aber auch nach der Errichtung von Schulen durch die Synagogengemeinde lastete die finanzielle Verpflichtung auf den Eltern. Wenn sie begütert waren, konnten sie ihren Kindern Privatunterricht ermöglichen. Die Gemeinde hatte ein besonderes Auge darauf, daß die Kinder der Unbemittelten nicht ohne Unterricht blieben. Die allgemein vorhandene formale Schulung ergänzte auf intellektueller Ebene den Sozialisierungsprozeß, den die Familie und die anderen Organe der Gemeinde - vor allem die Synagoge — leisteten. Diese Zusammenarbeit sicherte den Weiterbestand der Gemeinde, indem die Nachkommenschaft sich mit der von der Gemeinde getragenen Tradition und ihrem Wertsystem identifizieren konnte. Die Pflege der Lehre (= „Lernen") hört nach jüdisch-religiöser Vorstellung mit dem Abschluß der Schulbildung nicht auf. Sie gilt als religionsgesetzliches Gebot für das ganze Leben. Dieses Gebot konnte durch eigene Beschäftigung mit dem Traditionsstoff der Bibel und des Talmuds samt seiner dialektischen Verzweigungen und mit dem Studium von Kommentaren, Responsen etc. erfüllt werden. Dies geschah in der Tat bei jenen, die es nach Abschluß eines Yesitftf-Studiums zu einer selbständigen Erarbeitung des Stoffes brachten. Der große
Gemeinde II
337
Durchschnitt der Gemeinde war jedoch immer auf einen Lehrer, d.h. einen im Schrifttum Bewanderten, angewiesen. Die Gemeinde suchte stets dafür zu sorgen, daß immer genügend Gelehrte sich in ihrem Gebiet niederließen. Grundsätzlich sollte der Erwachsenenunterricht gratis erteilt werden, was auch oft geschah. Nach talmudischem Verständnis genießt der Gelehrte jedoch eine Sonderstellung in der Gemeinde; ihm kann Steuererlaß u. ä. gewährt werden. Auch eine direkte Besoldung aus der Gemeindekasse wurde legitimiert und akzeptiert. 2.2. Rituelle Praxis. Auch zur Klärung ritueller Zweifel ist die jüdische Gemeinde auf Gelehrte angewiesen. Zwar erwirbt der Jude durch die praktische Einhaltung des —»Gesetzes in der Familie, in der Synagoge und in seiner ganzen Umgebung eine gewisse Routine für das Leben unter dem Gesetz. Im Laufe der religiösen Praxis können jedoch Unsicherheiten, etwa in bezug auf die rituelle Zulässigkeit gewisser Speisen, auftreten. Ferner gibt es Handlungen — wie etwa das Schächten und die Ausstellung eines Ehescheidebriefes — die nur unter der Aufsicht von Gesetzeskundigen durchgeführt werden können. In talmudischer Zeit wurde nicht nur eine Ausbildung, sondern auch eine formelle Autorisierung des Gesetzeskundigen durch das Schuloberhaupt verlangt, damit eine gesetzesgerechte Aufsicht in rituellen Dingen gewährleistet würde. Eine ähnliche Autorisierung wurde auch in den aschkenasischen Gemeinden vom 14. Jh. an üblich. In den stark pietistischen Gemeinden des Rheinlandes wurde im frühen Mittelalter den im Rufe der Gelehrsamkeit und der Integrität Stehenden die Autorität zu religiösen Entscheidungen spontan zugesprochen. Der Dienst der religiösen Funktion wurde hier unentgeltlich geleistet. In den hochentwickelten spanischen, deutschen und polnischen Gemeinden seit dem 16. Jh. wurde die Autorität durch die formelle Wahl zum Ortsrabbiner verliehen. Die Gelehrtenfunktion wurde hier zum besoldeten Amt. 2.3. Rechtsprechung. Ein drittes Gebiet der Gelehrtenleistung für die Gemeinde ist die Rechtsprechung aufgrund der talmudischen Jurisprudenz. Das Bedürfnis dafür entstammte dem Bestreben der Gemeinden, in ihrem Leben die Kontinuität der ehemaligen Staatlichkeit zu wahren. Die Beibehaltung des ererbten Rechtssystems, wenigstens innerhalb der jüdischen Gesellschaft, war wohl der markanteste Ausdruck dieses Bestrebens. Die nichtjüdischen Behörden - auch wenn sie den Mitgliedern der Judenschaft den Zugang zu ihren juristischen Instanzen offen hielten — gewährten den jüdischen Gemeinden das Recht, ihre eigene Gerichtsbarkeit zu behalten. Dieses Zugeständnis gehörte zu den wesentlichsten Zügen der jüdischen Autonomie. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Gemeinden, die unter direkter Herrschaft der Kirche lebten. Die Kirche bestand auf der Aufhebung des mosaischen Gesetzes und der Eigenstaatlichkeit der Juden und verschaffte dieser Auffassung innerhalb ihres Hoheitsgebietes volle und konsequente Geltung. Die Juden ihrerseits betrachteten die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Gerichtsbarkeit als ein religiöses Gebot und verpflichteten ihre Mitglieder, dem Gebot so weit wie möglich zu entsprechen. Der Appell an nichtjüdische Gerichtshöfe, ohne dafür die Erlaubnis der zuständigen jüdischen Instanz eingeholt zu haben, galt als ein religiöses Vergehen undwurde geahndet,soweit den Gemeinden Mittel zur Verfügung standen. Die jüdische Rechtsprechung war grundsätzlich Sache der autorisierten Talmudisten, die im Auftrag der Gemeinde einen dreiköpfigen Gerichtshof bildeten. Ihre Zuständigkeit beschränkte sich auf private und öffentlich-rechtliche Fragen. Die talmudischen Regelungen für Disziplinar- oder gar Todesstrafen waren spätestens seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels außer Geltung. Selbst wo die Gemeinden das Recht zur Ausübung solcher Strafen von den nichtjüdischen Behörden erhielten - z. B. im christlichen Spanien —, wurden sie nicht aufgrund des talmudischen Rechtes gehandhabt. Die Gemeinden sahen sich berechtigt, nach ihrem eigenen, den landläufigen Begriffen entsprechenden Gutdünken zu verfahren. Die Gemeindeverwaltung, nicht der rabbinische Gerichtshof, war dafür zuständig. Sogar bei privat- und öffentlich-rechtlichen Fragen wurden Laiengerichte ernannt. Nicht überall fanden sich die nötigen talmudisch Gebildeten zur Konstituierung eines rabbinischen Gerichtshofes. Überhaupt wurden die am Gewohnheitsrecht sich orientierenden Laiengerichte oft
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Gemeinde II
dem rabbinischen Gericht vorgezogen. Der Autonomie der Gemeinde gegenüber den nichtjüdischen Instanzen wurde auch durch die Laiengerichte Genüge getan. Da die talmudische Gerichtsbarkeit in der Diaspora unabgeschlossen blieb, waren die Gemeinden auf formal autorisierte Hilfsmittel angewiesen. Die Vollstreckung der Gerichtsurteile der rabbinischen wie der Laiengerichtshöfe konnte nur indirekt durch die Verhängung des —»Bannes sichergestellt werden, der erst im Leben der Diasporagemeinden eine zentrale Rolle erhält. Seine Wirkung beruht auf seiner sozialen und religiösen Bedeutung. Der Gebannte wird gesellschaftlich isoliert, ihm werden die ökonomischen und sozialen Hilfeleistungen der Gemeinde versagt. Verkehr und Handel mit ihm werden verboten, der Besuch der Synagoge und sogar ein religiöses Begräbnis werden ihm vorenthalten. Unumgänglich war die Verwendung des Bannes zur Durchsetzung der Verordnungen, die die eigentliche Konstitution der Gemeinde bildeten. Diese betrafen die Abgrenzung gegen Fremde; die Gemeinde beanspruchte das Recht zu bestimmen, wer und unter welchen Bedingungen sich ihr anschließen durfte. Die Bestimmung darüber hieß herem ha-yischuw [Bann der Niederlassung], Die Einhaltung der gegenseitigen Verpflichtungen z.B. in bezug auf die Besteuerung wurde durch den Bann bekräftigt oder beschworen. Das Verhalten gegenüber der nichtjüdischen Umwelt stand unter strenger Kontrolle, da die Gemeinde sich moralisch und oft auch politisch kollektiv zu verantworten hatte. Solche Bestimmungen wurden sehr oft von überkommunalen Organen — Zusammenkünfte der Gemeinderepräsentanten oder ganzen Landesorganisationen (Vierländersynode in Polen) - erlassen. Die Kontrolle über ihre Ausführung oblag der örtlichen Gemeindeleitung. Diese wurde auf verschiedene Art eingesetzt; in der patriarchalisch strukturierten Gemeinde des Hochmittelalters in Frankreich und Deutschland fiel die Führung spontan den reichen, vornehmen und meistens auch gelehrten Familienoberhäuptern zu. In den formal organisierten Gemeinden des späten Mittelalters in Spanien und der Neuzeit in Polen und im Deutschen Reich gab es eine Wahlprozedur, jedenfalls aber einen Apparat zur periodischen Erneuerung der Repräsentanten. Der Zugang zur politischen Führung blieb trotzdem an die Kriterien des Vermögens und der Gelehrsamkeit gebunden, doch eine gewisse Rotation unter den Berechtigten war aufgrund der Gemeindekonstitution gesichert. Trotz der Bedeutung, die dem Vermögen und der Gelehrsamkeit bei der sozialen Schichtung zufiel, begriff die Gemeinde sich als eine national-religiöse Einheit. Die Gesamtheit fühlte sich für die elementaren Bedürfnisse aller Mitglieder verantwortlich — die —»Armenfürsorge gehörte zur Aufgabe der Gemeindeführung. In dem rein religiösen Bezirk gab es keinen Unterschied der Rechte oder der Pflichten. Alle Mitglieder standen unter derselben religiösen Disziplin, und jeder durfte religiöse Funktionen wie vorbeten, aus der Tora vorlesen und dergleichen nach seiner Fähigkeit versehen. Beide Kriterien, Vermögen und Gelehrsamkeit, waren grundsätzlich erwerbbar und eröffneten, wenigstens auf Generationen hin, Aufstiegsmöglichkeiten. Abstammung war nicht ohne Bedeutung, spielte aber keine wesentliche Rolle. Ansätze zur Entstehung einer Aristokratie gab es hie und da, doch das Merkmal der Diaspora-Existenz, nämlich die Ablösung von Boden und Grundbesitz, mußte ihre Entwicklung unterbinden. Die jüdische Gemeinde bis zum Zeitalter der Emanzipation verstand sich als nicht bodenständig und selbst dort, wo sie auf eine jahrhundertelange örtliche Tradition blicken durfte, historisch und ideal als nicht zum Ort, sondern zum fernen Heimatland gehörig. 3. Gemeinden
seit der
Emanzipation
Mit der Einbürgerung der Juden in die Staaten ihres Wohnsitzes, oder vielmehr mit dem Beginn der Entwicklung in diese Richtung, änderte sich dieser Tatbestand auf der ideologischen und praktischen Ebene. Bereits mit der gesteigerten Aufmerksamkeit des absolutistischen Staates gegenüber der inneren Angelegenheit der jüdischen Gemeinden wurden deren Kompetenzen geschmälert. Die Idee der Einbürgerung schloß ein, daß die Juden als einzelne und nicht als ein Kollektiv ihre Pflichten und Rechte gegenüber dem Staat betätigen sollen. Ihr Zusammenschluß in der Gemeinde sollte sich auf Religionsangelegenheiten im engen
Gemeinnutz/Gemeinwohl
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(christlichen?) Sinne des Wortes beschränken. Dies setzte den Verzicht auf wesentliche Attribute der Gemeinden als Zellen der versprengten jüdischen Nation und gleichzeitig eine tiefe Wandlung des Habitus ihrer einzelnen Glieder voraus. Die Leistung der Wandlung wurde, zwar nicht ohne äußeres und inneres Ringen, erbracht, und zwar so, daß nach etwa 100 Jahren, also etwa im letzten Drittel des 19. Jh., die jüdischen Gemeinden in den westlichen Ländern eine völlig veränderte Struktur darboten. Selbst wo die Mitglieder an der orthodoxen Lebensführung festhielten, bestimmte ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde nur Teilaspekte ihres Lebens. In den weniger traditionellen Gemeinden beschränkte sich die Mitgliederschaft auf Steuerzahlung und gelegentliche Inanspruchnahme der Gemeindeinstitutionen. Das schloß nicht aus, daß die Juden gesellschaftlich und berufsmäßig immer noch eine stark unter sich bleibende Sondergruppe bildeten. Dies war aber eher der Familienzugehörigkeit und der gegenseitigen traditionellen Abgrenzung von Juden und Nichtjuden zuzuschreiben und nicht dem vereinenden Rahmen der Kultusgemeinden. Einbußen erlitten die Gemeinden auch in Ländern wie Rußland und Rumänien, wo die Emanzipation nicht stattfand, aber die staatlichen Behörden den jüdischen Institutionen ihre Machtbefugnisse beschnitten. Die Gerichtsbarkeit und der Gebrauch des Bannes wurde in Rußland gleich nach der Einverleibung der Juden infolge der Aufteilung Polens untersagt. Den Gemeinden blieb nur die Pflicht, die finanziellen und sonstigen Leistungen wie die Stellung der jetzt vorgeschriebenen Quote fürs Militär zu sichern. In bezug auf andere Bedürfnisse der Gemeinde war ihre Organisation auf das freiwillige Mittun der jüdischen Bevölkerung angewiesen. Später, im Jahre 1844, wurde die Gemeindeorganisation ganz aufgehoben, und ihre Aufgaben wurden speziell dafür ernannten Kommissionen auferlegt. Die Gemeinden sollten nur solche Rabbiner wählen, die eine von der Regierung vorgeschriebene profane Bildung besaßen. Da aber der größte Teil der Bevölkerung nur dem alten Typ der Talmudisten Autorität zuerkannte, fungierten in vielen Gemeinden zwei Repräsentanten der jüdischen Religion, einer nach außen, der andere nach innen. Solche sich widersprechende Züge charakterisierten das Leben der russischen Gemeinden bis zum Ende des Zarenreiches. Nach der Revolution wurde das öffentliche jüdische Leben völlig gedrosselt und das Wirken der jüdischen Institutionen unterbunden. Die Rudimente jüdisch-religiöser Tätigkeit, wie etwa das Aufrechterhalten einiger Synagogen, sind in Rußland, wie auch in allen kommunistischen Staaten, von den Behörden getragene Veranstaltungen und keineswegs der Ausdruck jüdischen Gemeindelebens. Im Westen fungierte die jüdische Gemeinde in ihren eingangs beschriebenen Varianten und stellte trotz vieler anderer jüdischer Organisationen immer noch den unentbehrlichen Rahmen zum religiösen Leben dar. In vielen Ländern, besonders in den USA und in den südamerikanischen Staaten, erfüllen die Gemeinden auch weitgehende soziale und kulturelle Funktionen. Sie bieten ihren Mitgliedern Gelegenheit, sich auf diesen Gebieten innerhalb ihres Kreises zu betätigen. Im Staat Israel dagegen wurden die Funktionen von den Verwaltungen der Städte und den Siedlungen absorbiert, wie es im vorexilischen Israel der Fall war. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde kehrte hier zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Literatur Salo W. Baron, The Jewish Community, Philadelphia, III 1942. — Louis Finkelstein, Jewish SelfGovernment in the Middle Ages, N e w York 1924. - Samuel D. Goitein, A Mediterranean Society. II. T h e Community, Berkeley, Cal. 1971. — Jacob Katz, Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages, New York 2 1 9 7 1 , Kap. 9 - 1 1 .
Jacob Katz
Gemeinnutz/Gemeinwohl 1. Begriffsbestimmung 2. Geschichtliche Grundlagen 3. Gemeinwohl in der modernen katholischen und evangelischen Soziallehre 4. Gemeinwohl als Leitidee juristischer Entscheidung (Bibliograp h i e / Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 343).
Gemeinnutz/Gemeinwohl
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(christlichen?) Sinne des Wortes beschränken. Dies setzte den Verzicht auf wesentliche Attribute der Gemeinden als Zellen der versprengten jüdischen Nation und gleichzeitig eine tiefe Wandlung des Habitus ihrer einzelnen Glieder voraus. Die Leistung der Wandlung wurde, zwar nicht ohne äußeres und inneres Ringen, erbracht, und zwar so, daß nach etwa 100 Jahren, also etwa im letzten Drittel des 19. Jh., die jüdischen Gemeinden in den westlichen Ländern eine völlig veränderte Struktur darboten. Selbst wo die Mitglieder an der orthodoxen Lebensführung festhielten, bestimmte ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde nur Teilaspekte ihres Lebens. In den weniger traditionellen Gemeinden beschränkte sich die Mitgliederschaft auf Steuerzahlung und gelegentliche Inanspruchnahme der Gemeindeinstitutionen. Das schloß nicht aus, daß die Juden gesellschaftlich und berufsmäßig immer noch eine stark unter sich bleibende Sondergruppe bildeten. Dies war aber eher der Familienzugehörigkeit und der gegenseitigen traditionellen Abgrenzung von Juden und Nichtjuden zuzuschreiben und nicht dem vereinenden Rahmen der Kultusgemeinden. Einbußen erlitten die Gemeinden auch in Ländern wie Rußland und Rumänien, wo die Emanzipation nicht stattfand, aber die staatlichen Behörden den jüdischen Institutionen ihre Machtbefugnisse beschnitten. Die Gerichtsbarkeit und der Gebrauch des Bannes wurde in Rußland gleich nach der Einverleibung der Juden infolge der Aufteilung Polens untersagt. Den Gemeinden blieb nur die Pflicht, die finanziellen und sonstigen Leistungen wie die Stellung der jetzt vorgeschriebenen Quote fürs Militär zu sichern. In bezug auf andere Bedürfnisse der Gemeinde war ihre Organisation auf das freiwillige Mittun der jüdischen Bevölkerung angewiesen. Später, im Jahre 1844, wurde die Gemeindeorganisation ganz aufgehoben, und ihre Aufgaben wurden speziell dafür ernannten Kommissionen auferlegt. Die Gemeinden sollten nur solche Rabbiner wählen, die eine von der Regierung vorgeschriebene profane Bildung besaßen. Da aber der größte Teil der Bevölkerung nur dem alten Typ der Talmudisten Autorität zuerkannte, fungierten in vielen Gemeinden zwei Repräsentanten der jüdischen Religion, einer nach außen, der andere nach innen. Solche sich widersprechende Züge charakterisierten das Leben der russischen Gemeinden bis zum Ende des Zarenreiches. Nach der Revolution wurde das öffentliche jüdische Leben völlig gedrosselt und das Wirken der jüdischen Institutionen unterbunden. Die Rudimente jüdisch-religiöser Tätigkeit, wie etwa das Aufrechterhalten einiger Synagogen, sind in Rußland, wie auch in allen kommunistischen Staaten, von den Behörden getragene Veranstaltungen und keineswegs der Ausdruck jüdischen Gemeindelebens. Im Westen fungierte die jüdische Gemeinde in ihren eingangs beschriebenen Varianten und stellte trotz vieler anderer jüdischer Organisationen immer noch den unentbehrlichen Rahmen zum religiösen Leben dar. In vielen Ländern, besonders in den USA und in den südamerikanischen Staaten, erfüllen die Gemeinden auch weitgehende soziale und kulturelle Funktionen. Sie bieten ihren Mitgliedern Gelegenheit, sich auf diesen Gebieten innerhalb ihres Kreises zu betätigen. Im Staat Israel dagegen wurden die Funktionen von den Verwaltungen der Städte und den Siedlungen absorbiert, wie es im vorexilischen Israel der Fall war. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde kehrte hier zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Literatur Salo W. Baron, The Jewish Community, Philadelphia, III 1942. — Louis Finkelstein, Jewish SelfGovernment in the Middle Ages, N e w York 1924. - Samuel D. Goitein, A Mediterranean Society. II. T h e Community, Berkeley, Cal. 1971. — Jacob Katz, Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages, New York 2 1 9 7 1 , Kap. 9 - 1 1 .
Jacob Katz
Gemeinnutz/Gemeinwohl 1. Begriffsbestimmung 2. Geschichtliche Grundlagen 3. Gemeinwohl in der modernen katholischen und evangelischen Soziallehre 4. Gemeinwohl als Leitidee juristischer Entscheidung (Bibliograp h i e / Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 343).
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Gemeinnutz/Gemeinwohl 1.
Begriffsbestimmung
Gemeinnutz, lat. salus publica, im Gegensatz z u m Eigennutz (commodum privatum) ist seit dem 14. Jh. im Deutschen sprachlich nachweisbar. Der Begriff Gemeinwohl löst im 18. Jh. den älteren des gemeinen Gutes (bonum commune) ab, engl, common weal, vor allem im angelsächsischen Bereich identisch mit dem öffentlichen —>Interesse (public interest). Die Begriffe sind weithin austauschbar u n d meinen inhaltlich „die maximal ideelle und materielle Lebenserfüllung der Gesamtheit von Mitgliedern einer Lebensgemeinschaft" (J. Riedel 240). Eine apriorische Bestimmung von G e m e i n w o h l ist in einer pluralistischen Gesellschaft schwierig, so daß man sich heute meist mit einer f u n k t i o n a l e n Umschreibung zufrieden gibt, bei der das W o h l b e f i n d e n der Gesamtheit u n d die Vermeidung von sozialen Konflikten im M i t t e l p u n k t stehen. Der Begriff teilt mit dem kategorischen Imperativ Kants den formalen C h a r a k t e r , d e m jedoch eine u n v e r k e n n b a r e appellierende Kraft zukommt.
2. Geschichtliche
Grundlagen
Der Begriff des Gemeinwohls geht in seinen Anfängen auf den Idealismus —»Piatos zurück. Dieser entwirft anläßlich der Frage nach der —»Gerechtigkeit ein Bild vom vollkommenen Gemeinwesen, in dem jeder Stand zum Wohle des Ganzen seinen Beitrag leistet. Dabei geht Plato von einer idealen Zuordnung von Individuum und Kollektiv aus, denn indem Jeder das Seine' tut, erfüllt er zugleich seinen persönlichen Lebenszweck und seine Dienstfunktion für die —»Gemeinschaft. Dieses gesellschaftliche Ordnungsbild ist in der —»Stoa und der späteren christlichen Soziallehre herrschend geblieben, zugleich ist es der Kern der römischen Staatsgesinnung (pietas), die bei Cicero (De finibus bonorum et malorum 111,19,64; De officiis 1,7,22; 1,19,62) und in den Gesetzestexten (Paulus, Digest XVII,2,65,5; Justinian, Codex VI,51; Novellae VII,9;XXXIX, 1) so formuliert wird, daß stets dasjenige unserem privaten Nutzen vorzuziehen ist, was gemeinhin allen zum Vorteil dient. Auf römischen Inschriften findet sich die Abkürzung B P N = Bono publico natus als offizieller Titel des Kaisers (CIL, vario loco). Tacitus beklagt es als Verfall der römischen Moral, daß das öffentliche Gute (bonum publicum) dem privaten Nutzen hintangesetzt wird (Annales 6,16). Sozialontologisch betrachtet Seneca den Menschen als das zum Gemeinwohl geschaffene Wesen, das bis an sein Lebensende nicht aufhören soll, sich für das Gemeinwohl einzusetzen (De otio 1 [28] 4). In De dementia 1,3,2; 2,5,3 preist er Milde und Hilfsbereitschaft als Momente der Menschlichkeit und des Gemeinwohls. Über Ambrosius, Augustin und Gregor den Großen wird diese Einstellung dem christlichen Abendland vermittelt. -»Thomas von Aquino stellt fest, daß kein Mensch gut sein könne, der nicht ein gutes Verhältnis zum Gemeinwohl (bonum commune) hat, das schließlich als Endzweck der Gemeinschaft bezeichnet wird (S.th.I,2,q.90,a.2). Auch Thomas geht von einer organischharmonischen Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft aus, denn Teil und Ganzes sind providentiell aufeinander abgestimmt, und es kann kein Privatwohl geben ohne das Wohl des Ganzen (S.th.II,2,q.47,a.l0.2), das letztlich Gott ist (S.contra gent.1,89; S.th. 1/2,19,10). Wenngleich Thomas den Begriff des bonum commune als authenticum = Stück der Lehrtradition kennt und immer wieder in seinen Werken verwendet (vgl. Eschmann 1943), so blieb es doch seinem Schüler Fra Remigio de Girolami von Florenz, dem Lehrer Dantes, vorbehalten, den ersten Tractatus de bono communi (um 1300) zu schreiben. Sowohl im kirchlichen wie im bürgerlichen Bereich spielt der Begriff im Mittelalter eine wichtige Rolle. So überträgt das kanonische Recht die römische Beamtenmaxime, daß die Belange der Öffentlichkeit Vorrang haben vor den privaten Interessen, auf die Träger kirchlicher Ämter, und in den freien Reichsstädten wird dem Magistrat das Eintreten für das Gemeinwohl zur Pflicht gemacht (vgl. die Schwurformel des Ulmer Oberbürgermeisters seit 1379: Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein, in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen, ohne allen Vorbehalt). Dem Gemeinwohl dient in der Reformationszeit die Erhebung eines ,gemeinen Pfennigs' sowie die Einrichtung des,gemeinen Kastens' (vgl. Luther, Ordnung eines gemeinen Kasten, 1523: WA 12,9—30) als erster Ansatz staatlicher Sozial- und Bildungsfürsorge. Luther betont immer wieder, daß ein Fürst Land und Leute nicht als seinen verfügbaren Besitz be-
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Gemeinnutz/Gemeinwohl
trachten dürfe, sondern ,wie es ihnen nutz und gut ist' (Von weltlicher Obrigkeit, WA 1 1 , 2 7 3 ) . Der Hofjurist des Landgrafen Philipp von Hessen, Johannes Eisermann (Ferrarius), setzt in seiner Schrift Von dem gemeinen Nutze ( 1 5 3 3 ) Respublica und Gemeinnutz gleich, denn beides ist „nichts anderes als eine gemeine gute Ordnung einer Stadt oder einer anderen Kommune, darin allein gesucht wird, daß einer neben dem anderen bleiben kann und sich desto stattlicher mit aufrichtigem unverweislichem Wandel im Frieden erhalten". Bei Johann—»Gerhard wechseln die Begriffe bonum publicum, salus reipublicae und nécessitas reipublicae bei der Bestimmung des Staatszwecks, wobei Gerhard die Ehre Gottes als finis principalis etsummus, das bonum publicum als finis intermedius angibt (Loci theol. V I , 3 2 9 ) . Gerhard nimmt eine Identität von Staatswohl und Gemeinwohl an und nähert sich so der Position des Absolutismus. — Auch bei dem Nestor der deutschen Kameralistik, Veit Ludwig von Seckendorff, wird die Zweiteilung des Staatszwecks übernommen - die Ehre Gottes als oberster, die ,geist- und leibliche wolfarth' als nachgeordneter Zweck. Typisch für den fortschreitenden Prozeß der Säkularisierung ist Chr. —»Wolfis Reduktion des Staatszwecks auf immanente Größen. „Die gemeine Wohlfahrt demnach und Sicherheit ist das höchste und letzte Gesetze im gemeinen Wesen, und demnach die Regel, danach man alles im gemeinen Wesen zu entscheiden hat, diese: Thue, was die gemeine Wohlfahrt befördert und die gemeine Sicherheit erhält. Hingegen unterlaß, was die gemeine Wohlfahrt hindert und der gemeinen Sicherheit zuwider ist" (Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen.. . , 1 7 2 1 , 4 2 9 f). Durch den Absolutismus kommt der Begriff des Gemeinwohls in Mißkredit, weil die Fürsten — gemäß dem Grundsatz ,l'état c'est moi' — das ,gemeine Beste' zum Vorwand für ihre eigenen Interessen nahmen (vgl. die Kritik Carl Ludwigs von Haller in seiner Restauration der Staatswissenschaft (1820/21). Die weitere Geschichte des Begriffs ist mit der Entwicklung des neuzeitlichen Liberalismus verbunden, der die optimale Befriedigung der individuellen Konsumbedürfnisse mit dem Gemeinwohl gleichsetzt und eine harmonische Balance zwischen ,enlightened self-interest' und Altruismus annimmt. Gegenspieler zum Liberalismus sind —»Rousseau und —»Marx. Rousseau sucht den Gegensatz von Einzelinteressen und Gesamtinteressen durch die Annahme eines allgemeinen Willens (volonté générale) auszugleichen, während M a r x in der von Klassenkampf und Privategoismus beherrschten bürgerlichen Gesellschaft keine Möglichkeit eines friedlichen Ausgleichs sieht; erst in der klassenlosen Uberflußgesellschaft der Zukunft wird das Gemeinwohl historisch erstmalig verwirklicht. — » H e g e l bemüht sich um eine Synthese der zwei Grundtypen der Legitimation politischer Herrschaft, indem er den Staat sowohl als Sachwalter des Rechts wie als Garant des Gemeinwohls versteht, als Einheit von Legalität und Moralität (Grundlinien der Phil, des Rechts § 3 3 6 ) . Eigennutz und Gemeinnutz ergänzen sich notwendig, denn „meinen Zweck befördernd, befördere ich das Allgemeine, und dieses befördert wiederum meinen Z w e c k " (Rechtsphil. § 186). Zum „tiefen Wesensunterschied zwischen germanischem und römischem R e c h t " gehörte für den —»Nationalsozialismus, daß das römische Recht angeblich das egoistische Eigeninteresse dem Gemeinschaftsinteresse überordne, eine Entwicklung, die der Nationalsozialismus durch sein gesetzgeberisches Programm .Gemeinnutz vor Eigennutz' rückgängig machen wollte. Dieser Satz wurde zum Grundsatz des positiven Rechts wie zur Richtschnur der Gesetzesauslegung. Hier zeigte sich, daß eine Diktatur es versteht, ihr Tun mit Zielformeln wie,Staatswohl, Sicherheit und Ordnung' zu legitimieren; die Generalklausel wird zur politischen Waffe. Enteignung zum ,Wohle der Allgemeinheit', Arbeitsverpflichtung, Bestrafung wegen ,Schädigung des Volkswohls' waren Konsequenzen der Gemeinnutzformel. Die Gemeinwohlformel wurde zur Einengung individueller Rechte mißbraucht.
3. Gemeinwohl
in der katholischen
und evangelischen
Soziallehre
Mit der Renaissance des Thomismus (—»Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus) unter Papst —» Leo XIII. setzt die Entwicklung des modernen Gemeinwohlverständnisses im Raum des Katholizismus ein. Dabei ist es Aufgabe der Sozialenzykliken, den Gemeinwohlbegriff den Anforderungen der neuzeitlichen Gesellschaft und den unterschiedli-
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chen Entwicklungsstufen anzupassen. Die päpstlichen Aussagen wiederholen immer wieder, daß es Aufgabe der Herrschenden und des Staates sei, das Gemeinwohl zu garantieren (Leo XIII. in Immortale Dei vom 1 . 1 1 . 1 8 8 5 ; Benedikt X V . in einem Schreiben an die portugiesischen Bischöfe vom 1 8 . 1 2 . 1 9 1 9 u.ö.). Dabei ist die Staatsform nicht entscheidend, solange sie nur dem allgemeinen Besten dient. In Rerum novarum aktualisiert Leo die Frage nach dem Gemeinwohl als Aufruf zur Lösung der sozialen Frage im Sinne einer Gesetzgebung, die eine gerechte Verteilung des öffentlichen und des privaten Reichtums gewährleistet. In Quadragesimo anno bringt —»Pius X I . als Mittel, die Extreme des Sozialismus und des Liberalismus zu vermeiden, den Gedanken der iustitia commutativa in Verbindung mit der christlichen Liebe, wobei die Regeln der sozialen Gerechtigkeit den Forderungen des Gemeinwohls entsprechen sollten. In dem Rundschreiben Mit brennender Sorge setzt sich Pius X I . mit dem nationalsozialistischen Satz ,Recht ist, was dem Volke nützt' auseinander. „Dieser Satz verkennt, daß das wahre Gemeinwohl letztlich bestimmt und erkannt wird aus der Natur des Menschen mit ihrem harmonischen Ausgleich von persönlichem Recht und sozialer Bindung sowie aus dem durch die gleiche Menschennatur bestimmten Zweck der Gemeinschaft". In der Enzyklika Mater et Magistra sprengt —»Johannes XXIII. erstmalig den nationalen Rahmen und bezieht die internationale Dimension in die Überlegungen über das Gemeinwohl mit ein, wenn er commune cunctarum gentium bonum und eine weltweite Solidarität der Völker fordert, eine Anregung, die Paul VI. in Populorum progressio aufgegriffen und vertieft hat. Im Schreiben vom 9 . 7 . 1 9 6 2 unterscheidet Johannes X X I I I . das Gemeinwohl der Nation und das universale Gemeinwohl. Zugleich setzt sich immer mehr die Erkenntnis von der Geschichtlichkeit und Dynamik des Gemeinwohlbegriffs durch, der im Gegensatz zum statischen Rechtsbegriff nicht nur die bestehende Rechtsordnung bewahren will, sondern den Anforderungen der modernen pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden sucht (Ansprache Pauls VI. zum 75. Jahrestag von Rerum novarum am 2 2 . 5 . 1 9 6 6 ; Vaticanum II, Die Kirche in der Welt von heute, 7 . 1 2 . 1 9 6 5 ) . In der katholischen Sozialtheologie der letzten Jahrzehnte wurden die Beziehungen zwischen Person und Gesellschaft, dem Einzelwohl und dem Gemeinwohl lebhaft diskutiert. Es traten dabei vor allem zwei Richtungen hervor: die Kommunitaristen, die den Primat des Gemeinwohls verteidigten (Welty, de Köninck, Utz), und die Personalisten, die grundsätzlich am Primat des Einzelwohls festhalten (Gundlach, Maritain, Eschmann, Wildmann). Beide Auffassungen lassen sich jedoch integrieren in der Konzeption des Solidarismus, der jenseits von Individualismus und Kollektivismus das Prinzip der Gemeinverhaftung jedes einzelnen als Glied der Gemeinschaft betont (so v.Nell-Breuning). Die ökumenische Losung verantwortliche Gesellschaft', die seit der Vollversammlung des Ö R K in Amsterdam 1948 und in Evanston 1 9 5 4 das Leitbild der sozialethischen Bemühungen bezeichnet, entspricht sachlich dem, was die katholische Lehre mit dem Begriff des Gemeinwohls meint: die verantwortliche Bindung der Person an den Mitmenschen, die Partnerschaft mit dem anderen anstelle der Atomisierung und Funktionalisierung des Menschen in der modernen Industriegesellschaft. Wendland stellt in seiner Einführung in die Sozialethik die Verbindung zwischen beiden Begriffen her und gibt dem Begriff des Gemeinwohls trotz seiner Pervertierung und Ideologisierung eine Chance, weil er zum Ausdruck bringt, daß die Gesellschaft ein System von Stellvertretungen und gegenseitigen Dienstbeziehungen ist. „Will man verantwortliche Demokratie, will man das Gemeinwesen als soziale Einheit in aller Pluralität, so kann man auf den Maßstab des Gemeinwohls nicht verzichten" (von der Gablentz 125). Daher nennt ihn auch v.d. Gablentz einen „zentralen Begriff der politischen Wissenschaft", selbst wenn er nicht als etwas absolut Erkennbares und zu Verwirklichendes gilt, sondern als etwas Aufgegebenes, stets nur in Bruchstücken Erreichbares (328). Daraus dürften sich für die ethische Fragestellung vor allem zwei Forderungen ergeben: Einmal die kritische Hinterfragung politischer Gemeinwohlvorstellungen, ob sie wirklich das Wohl des Ganzen meinen, oder nur Tarnung der Partialinteressen von Gruppen oder einzelnen sind, sodann die Entdeckung neuer Dimensionen, innerhalb derer Gemeinwohl zu
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realisieren ist, so die ökologische und die transnationale Dimension der Entwicklungshilfe für die Dritte Welt.
4. Gemeinwohl
als Leitidee juristischer
Entscheidung
Obwohl die unter dem Einfluß des Positivismus stehende Jurisprudenz den Begriff des Gemeinwohls zu einer ,Allerweltsformel' bzw. zu einer Leerformel erklärt mit bloß ideologischer Funktion, nämlich den Interessenanspruch eines Teils einer politisch organisierten Gesellschaft mit dem Interesse der Gesamtheit identisch zu erklären (Shell 113), oder ihn als ,metarechtliche Illusion' desavouiert, die im Gedankengut autoritärer Gesellschaftsauffassungen wurzelt (Hamann/Lenz 114), kann doch nicht auf ihn verzichtet werden. Wenn auch das Bonner Grundgesetz den Begriff Gemeinwohl kaum explizit verwendet, so sind doch inhaltliche Bestimmungen aufgenommen worden, die das Gemeinwohl betreffen. Art. 2 , 1 fordert die freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit diese nicht die Rechte anderer verletzt; Art. 14,3 läßt Enteignung zu, wenn diese dem Wohle der Allgemeinheit dient; A r t . 2 1 III 4 d gibt als Sinn des Abgeordnetenmandats die „politische Willensbildung im Interesse des Gemeinwohls" an. V o r allem aber ist Sozialstaatlichkeit als Verfassungsprinzip in Art. 2 0 , 1 verankert. — Die Universalität des Gemeinwohls betonen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 1 0 . 1 2 . 1 9 4 8 sowie die auf ihr basierenden UN-Pakte für Menschenrechte. Die in der deutschen Rechtsprechung üblichen Synonyme für Gemeinwohl (Wohl der Allgemeinheit, Wohl der Gesamtheit, öffentliches Wohl, öffentliche Wohlfahrt, allgemeines Wohl, das gemeine Beste, die öffentlichen Belange, die Interessen der Allgemeinheit, das öffentliche Interesse) lassen sich auf zwei gesetzgeberische Absichten reduzieren: Ermächtigung zu staatlichen Eingriffen in den Individualrechtsbereich, sodann Anweisungen für den Inhalt der zu treffenden hoheitlichen Maßnahmen. Insofern sind die rechtlichen Gemeinwohlbestimmungen ermächtigend und auch verpflichtend. Trotzdem bleibt für eine positivistische Jurisprudenz strittig, ob ein verselbständigtet und unaufgeschlüsselter Gemeinwohlbegriff eine zureichende Basis abgibt für die rechtliche Bewertung von Gemeinschaftsinteressen. Bleibt eine Rechtswertfindung mit Rückbezug auf das Gemeinwohl nicht letztlich ein dezisionärer Akt, der anfällig ist für den Einbruch metajuristischer Uberzeugungen? Wird jedoch die Tatsache ins Auge gefaßt, daß es in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine fast unübersehbare Fülle von Privat- und Gruppeninteressen gibt, die einander oft erheblich widersprechen, so ergibt sich, daß Koordination, Schwerpunktbildung und Rangfolge von Interessen eine für Staatsführung und Rechtsprechung unerläßliche Aufgabe ist. Das Gemeinwohl stellt sich dar als die im Dienste des sozialen Friedens notwendige Leitlinie der Konfliktregelung. Im Verwirklichungsprozeß einer demokratischen Gesellschaft haben nicht aus vordemokratischen oder feudalistischen Gesellschaften stammende einzelne oder Gruppen, Monopolträger von Besitz oder Bildung über das Gemeinwohl zu bestimmen, sondern die vom Volk gewählten Vertreter, die keiner einzelnen Gruppe verantwortlich sind, sondern ihrem —»Gewissen. D a ß dieser Prozeß dynamisch ist und sich nicht irrtumsfrei oder ohne menschliche Fehlsamkeit abspielt, verringert keineswegs die Bedeutung des Gemeinwohls. Es hat Residualcharakter, d.h. es ist der Kern sozialer Handlungen als „das nie voll auszuschöpfende Receptaculum oberster M a ß s t ä b e " (Ryffel 2 7 ) . Der Begriff des Gemeinwohls wäre mißverstanden, würde er als Utopie eines vorgegebenen, absolut gültigen Sozialideals verstanden oder als Beschreibung eines sozialen Ist-Zustandes; vielmehr ist er ein Minimum von regulativen Prinzipien, die als uneingeschränkt verbindlich zu respektieren und deren Existenz als nicht-kontroverser Sektor einer Gesellschaft für diese unentbehrlich sind. Mögen auch die den Gesetzgeber bestimmenden Gemeinwohlleitbilder geschichtlich bedingt und darum variabel sein, so sind doch „öffentliches Interesse bzw. Gemeinwohl feste und unverzichtbare Bestandteile der öffentlichen Rechtsordnung" (Häberle 7 2 1 ) . Bibliographie Arthur Utz, Grundsatzfragen des öffentlichen Lebens. Bibliogr. der Sozialethik, Freiburg 1 9 6 0 ff.
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Gemeinschaft
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sein als juristisches Entscheidungsproblem: Der Staat 11 ( 1 9 7 2 ) 3 4 9 - 3 6 6 . - J a n Krucina, C o m m o n G o o d as Fundamental Social Principle: Apoll 4 1 ( 1 9 6 8 ) 4 5 7 - 4 7 6 . - D i e t r i c h Krümmling, Z u r Konkretisierung des Gemeinwohlbegriffs für die politische Bildung, Diss. Mainz 1 9 7 1 . - Emil Küng, Einzelinteresse u. Gesamtinteresse. Individuum u. Gemeinschaft, St. Gallen 1 9 4 9 (St. Galler wirtschaftswiss. Forschungen 7). - T h o m a s Läufer, „ G e m e i n w o h l " u. „öffentliches Interesse" - Summarische Wertsetzung oder unverzichtbare Rechtsprechungshilfe: Juristische Schulung 15 ( 1 9 7 5 ) 6 8 9 - 6 9 4 . - W a y n e A. R . Leys/Charner M . Perry, Philosophy and the Public Interest, Chicago 1 9 5 9 . - Ders., T h e Public Interest and the C o m m o n G o o d : Akten des 14. Internationalen Kongresses für Phil., Wien 1 9 6 8 , 5 ( 1 9 7 0 ) 2 8 0 - 2 8 5 . - Walter L i p p m a n n , Philosophia publica. V o m Geist des guten Staatswesens, München 1 9 5 7 . - Ulrich Lohmar, Gemeinwohl u. Interessen in der pluralistischen Gesellschaft: Der deutsche Baumeister 2 7 ( 1 9 6 6 ) 6 8 3 - 6 8 6 . - Wolfgang Martens, Öffentlichkeit als Rechtsbegriff, Homburg/Berlin/Zürich 1 9 6 9 . - T h e o M a y e r - M a l y , Gemeinwohl u. necessitas: FS Adalbert Erler, Aalen 1 9 7 6 , 1 3 5 - 1 4 5 . — Karl Matthias Meesen, Das Gemeinwohl u. die Verbände - was die Verfassung zuläßt u. verlangt: Die politische Meinung 2 2 ( 1 9 7 7 ) 5 - 1 2 . - Walther M e r k , Der Gedanke des gemeinen Besten in der dt. Staats- u. Rechtsentwicklung, W e i m a r 1 9 3 4 = Darmstadt 1 9 6 8 . - Karl A. M o l l n a u , Der Mythos vom Gemeinwohl. Z u r Kritik der politisch-klerikalen Sozial- u. Staatsideologie, Berlin-Ost 1 9 6 2 . — J o s e f Oelinger, Verbandspluralismus, politische Willensbildung u. Gemeinwohl (Kath. Soziallehre in T e x t u. K o m m e n t a r 11) Köln 1 9 7 9 . - Felix E. Oppenheim, Self-interest and Public Interest: Political Theory 3 ( 1 9 7 5 ) 2 5 9 - 2 7 6 . - T h e o d o r Pütz, Das „ G e m e i n w o h l " als Begriff der theoretischen Wirtschaftspolitik: Z s . f. N a t i o n a l ö k o n o m i e (Wien) 2 6 ( 1 9 6 6 ) 2 6 0 - 2 6 7 . - Kurt L. Shell, Art. Gemeinwohl: Handlexikon zur Politikwiss., M ü n c h e n 1 9 7 0 , 1 1 3 - 1 1 6 . - Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1 9 7 4 (Münchener Abh. zur rechtswiss. Grundlagenforschung 15). - Erich Streissler, Z u r Anwendbarkeit von Gemeinwohlvorstellungen in richterlichen Entscheidungen: Freiburger rechts- u. staatswiss. Abh. 2 7 ( 1 9 6 7 ) 1 - 4 7 . - Alfred Verdross, V o m Gemeinwohl der Staatsbürger zum Gemeinwohl der Menschheit: Der große Entschluß 15 ( 1 9 5 9 / 6 0 ) 4 6 0 - 4 6 2 . - R u d o l f Weiler, Die Sicherung des Gemeinwohls im freiheitlichen Staat: O t t o B. Rögele (Hg.), Die Freiheit des Westens, G r a z / W i e n / K ö l n 1 9 6 7 , 4 4 3 — 4 8 1 . - Gerhard Weisser, Beitr. zur Diskussion über den Begriff „Gemeinnützigkeit": Archiv für öffentliche u. freigemeinnützige Unternehmen 7 ( 1 9 6 5 ) 8 - 1 3 . - D e r s . , W a s heißt „gemeinnützig"?: Offene Welt, Köln 1 9 6 6 / 6 7 , 3 4 7 - 3 5 5 . - Wilfried Weustenfeld, Die Bedeutung des Gemeinwohls im Rechtsstaatsdenken der Gegenwart, Diss. Münster 1 9 6 2 . - Wohl der Allgemeinheit u. öffentliches Interesse, Berlin 1 9 6 8 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer 3 9 ) . - Friedrich von Zezschwitz, Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff, Diss. M a r b u r g 1 9 6 7 . — Valentin Zsifkovits, Wege zur Verwirklichung des internationalen Gemeinwohls: FS J o h a n n e s Messner, 1 9 7 6 , 5 9 1 - 6 0 5 .
Heinz-Horst Schrey Gemeinschaft 1. Sozialphilosophische Voraussetzungen der theologischen Ethik in der Neuzeit Verständnisweisen in der neueren evangelischen Theologie (Literatur S. 3 5 4 )
1. Sozialphilosophische
Voraussetzungen
der theologischen
Ethik in der
2 . Ethische
Neuzeit
1.1. Gemeinschaft als ethische Gesellschaft. Philosophische Grundbegriffe der Liberalität. Erst die moderne Welt läßt nach Hegels Bemerkung (§ 182, Zusatz) allen Bestimmungen der Idee der bürgerlichen —»Gesellschaft ihr Recht widerfahren. Das gilt auch für den Gedanken der ethischen Gemeinschaft. Während seine älteren Sinngehalte nach dem Vorbild des aristotelischen Begriffs xoivcovia und seines rechtlichen Äquivalents societas, das in den lateinischen Texten der katholischen Kirche jedes Sozialgebilde bezeichnet, an die gegebenen Gemeinschaftsformen wie besonders und grundlegend die Polis gebunden blieben, erlangt er in der Neuzeit eine von ihnen unterscheidbare konstitutive Bedeutung für die Verfassung des menschlichen Lebens. Die ursprünglichen Wortbedeutungen enthalten zwei Grundmuster: Das eine beschreibt einen sozialen Zustand des Verbundenseins durch den gemeinsamen Anteil an einer Sache; die älteren Ausdrücke sind —»Gemeinde (Dorf, Stadt; etwas zur gemeinen Hand haben, eine Allmende) und Gemeine (Lutherdeutsch für „ G e m e i n d e " , eine Volks- und Glaubensgemeinschaft), aber auch die Gütergemeinschaft als communio primaeva und nach Act 2 , 4 5 („Liebeskommunismus") ein urchristliches Ideal gehört hierher. Das andere meint darüber hinaus und daneben personale Verbindungen des sach- und zweckfreien Umgangs in gegenseitiger Anteilnahme; dies k o m m t religiös in der „Gemeinschaft der Heiligen" wie profan in Liebes-, Freundschafts- und anderen Vertrautheitsbeziehungen zum Ausdruck und enthält im Keim den späteren emphatischen Klang des Wortes Gemeinschaft besonders im Deutschen.
Gemeinschaft
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sein als juristisches Entscheidungsproblem: Der Staat 11 ( 1 9 7 2 ) 3 4 9 - 3 6 6 . - J a n Krucina, C o m m o n G o o d as Fundamental Social Principle: Apoll 4 1 ( 1 9 6 8 ) 4 5 7 - 4 7 6 . - D i e t r i c h Krümmling, Z u r Konkretisierung des Gemeinwohlbegriffs für die politische Bildung, Diss. Mainz 1 9 7 1 . - Emil Küng, Einzelinteresse u. Gesamtinteresse. Individuum u. Gemeinschaft, St. Gallen 1 9 4 9 (St. Galler wirtschaftswiss. Forschungen 7). - T h o m a s Läufer, „ G e m e i n w o h l " u. „öffentliches Interesse" - Summarische Wertsetzung oder unverzichtbare Rechtsprechungshilfe: Juristische Schulung 15 ( 1 9 7 5 ) 6 8 9 - 6 9 4 . - W a y n e A. R . Leys/Charner M . Perry, Philosophy and the Public Interest, Chicago 1 9 5 9 . - Ders., T h e Public Interest and the C o m m o n G o o d : Akten des 14. Internationalen Kongresses für Phil., Wien 1 9 6 8 , 5 ( 1 9 7 0 ) 2 8 0 - 2 8 5 . - Walter L i p p m a n n , Philosophia publica. V o m Geist des guten Staatswesens, München 1 9 5 7 . - Ulrich Lohmar, Gemeinwohl u. Interessen in der pluralistischen Gesellschaft: Der deutsche Baumeister 2 7 ( 1 9 6 6 ) 6 8 3 - 6 8 6 . - Wolfgang Martens, Öffentlichkeit als Rechtsbegriff, Homburg/Berlin/Zürich 1 9 6 9 . - T h e o M a y e r - M a l y , Gemeinwohl u. necessitas: FS Adalbert Erler, Aalen 1 9 7 6 , 1 3 5 - 1 4 5 . — Karl Matthias Meesen, Das Gemeinwohl u. die Verbände - was die Verfassung zuläßt u. verlangt: Die politische Meinung 2 2 ( 1 9 7 7 ) 5 - 1 2 . - Walther M e r k , Der Gedanke des gemeinen Besten in der dt. Staats- u. Rechtsentwicklung, W e i m a r 1 9 3 4 = Darmstadt 1 9 6 8 . - Karl A. M o l l n a u , Der Mythos vom Gemeinwohl. Z u r Kritik der politisch-klerikalen Sozial- u. Staatsideologie, Berlin-Ost 1 9 6 2 . — J o s e f Oelinger, Verbandspluralismus, politische Willensbildung u. Gemeinwohl (Kath. Soziallehre in T e x t u. K o m m e n t a r 11) Köln 1 9 7 9 . - Felix E. Oppenheim, Self-interest and Public Interest: Political Theory 3 ( 1 9 7 5 ) 2 5 9 - 2 7 6 . - T h e o d o r Pütz, Das „ G e m e i n w o h l " als Begriff der theoretischen Wirtschaftspolitik: Z s . f. N a t i o n a l ö k o n o m i e (Wien) 2 6 ( 1 9 6 6 ) 2 6 0 - 2 6 7 . - Kurt L. Shell, Art. Gemeinwohl: Handlexikon zur Politikwiss., M ü n c h e n 1 9 7 0 , 1 1 3 - 1 1 6 . - Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1 9 7 4 (Münchener Abh. zur rechtswiss. Grundlagenforschung 15). - Erich Streissler, Z u r Anwendbarkeit von Gemeinwohlvorstellungen in richterlichen Entscheidungen: Freiburger rechts- u. staatswiss. Abh. 2 7 ( 1 9 6 7 ) 1 - 4 7 . - Alfred Verdross, V o m Gemeinwohl der Staatsbürger zum Gemeinwohl der Menschheit: Der große Entschluß 15 ( 1 9 5 9 / 6 0 ) 4 6 0 - 4 6 2 . - R u d o l f Weiler, Die Sicherung des Gemeinwohls im freiheitlichen Staat: O t t o B. Rögele (Hg.), Die Freiheit des Westens, G r a z / W i e n / K ö l n 1 9 6 7 , 4 4 3 — 4 8 1 . - Gerhard Weisser, Beitr. zur Diskussion über den Begriff „Gemeinnützigkeit": Archiv für öffentliche u. freigemeinnützige Unternehmen 7 ( 1 9 6 5 ) 8 - 1 3 . - D e r s . , W a s heißt „gemeinnützig"?: Offene Welt, Köln 1 9 6 6 / 6 7 , 3 4 7 - 3 5 5 . - Wilfried Weustenfeld, Die Bedeutung des Gemeinwohls im Rechtsstaatsdenken der Gegenwart, Diss. Münster 1 9 6 2 . - Wohl der Allgemeinheit u. öffentliches Interesse, Berlin 1 9 6 8 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer 3 9 ) . - Friedrich von Zezschwitz, Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff, Diss. M a r b u r g 1 9 6 7 . — Valentin Zsifkovits, Wege zur Verwirklichung des internationalen Gemeinwohls: FS J o h a n n e s Messner, 1 9 7 6 , 5 9 1 - 6 0 5 .
Heinz-Horst Schrey Gemeinschaft 1. Sozialphilosophische Voraussetzungen der theologischen Ethik in der Neuzeit Verständnisweisen in der neueren evangelischen Theologie (Literatur S. 3 5 4 )
1. Sozialphilosophische
Voraussetzungen
der theologischen
Ethik in der
2 . Ethische
Neuzeit
1.1. Gemeinschaft als ethische Gesellschaft. Philosophische Grundbegriffe der Liberalität. Erst die moderne Welt läßt nach Hegels Bemerkung (§ 182, Zusatz) allen Bestimmungen der Idee der bürgerlichen —»Gesellschaft ihr Recht widerfahren. Das gilt auch für den Gedanken der ethischen Gemeinschaft. Während seine älteren Sinngehalte nach dem Vorbild des aristotelischen Begriffs xoivcovia und seines rechtlichen Äquivalents societas, das in den lateinischen Texten der katholischen Kirche jedes Sozialgebilde bezeichnet, an die gegebenen Gemeinschaftsformen wie besonders und grundlegend die Polis gebunden blieben, erlangt er in der Neuzeit eine von ihnen unterscheidbare konstitutive Bedeutung für die Verfassung des menschlichen Lebens. Die ursprünglichen Wortbedeutungen enthalten zwei Grundmuster: Das eine beschreibt einen sozialen Zustand des Verbundenseins durch den gemeinsamen Anteil an einer Sache; die älteren Ausdrücke sind —»Gemeinde (Dorf, Stadt; etwas zur gemeinen Hand haben, eine Allmende) und Gemeine (Lutherdeutsch für „ G e m e i n d e " , eine Volks- und Glaubensgemeinschaft), aber auch die Gütergemeinschaft als communio primaeva und nach Act 2 , 4 5 („Liebeskommunismus") ein urchristliches Ideal gehört hierher. Das andere meint darüber hinaus und daneben personale Verbindungen des sach- und zweckfreien Umgangs in gegenseitiger Anteilnahme; dies k o m m t religiös in der „Gemeinschaft der Heiligen" wie profan in Liebes-, Freundschafts- und anderen Vertrautheitsbeziehungen zum Ausdruck und enthält im Keim den späteren emphatischen Klang des Wortes Gemeinschaft besonders im Deutschen.
Gemeinschaft
347
In beiderlei Hinsicht ist ein gewisser Unterschied von Verbindungen, die einem bestimmten, vereinbarten Zweck dienen, mitgesetzt. Dieser Sachverhalt wird z u m G r u n d m u s t e r des neuzeitlichen Begriffs Gesellschaft, dessen Besonderheit die vertragliche U b e r e i n k u n f t ist. Es beginnt im 17. Jh. im Kontext der neuzeitlich-vernunftrechtlichen Begriffssprache seit J o h n Locke (—»Empirismus) umfassende Bedeutung zu erlangen; die menschlichen G e m e i n s c h a f t s f o r m e n , von denen n u r die —»Familie als „natürlic h e " , primäre, im Unterschied von den sekundären anderen gilt, werden alle auf die Idee ihrer Begründ u n g durch einen Gesellschaftsvertrag bezogen.
Die ethisch-normative Ausgestaltung dieser Vernunftidee im Werk I. —»Kants rechtfertigt es, trotz eines terminologischen Vorbehalts eine Beziehung zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Elementen seiner Theoriebildung herzustellen, um dadurch gegenüber dem romantisch-restaurativen Modell des Verhältnisses von Gemeinschaft und Gesellschaft die Alternative der Aufklärung für die gegenwärtige Orientierung deutlich zu machen. Das geschieht bei Riedel (Gesellschaft II, 824.833.845); ähnlich ist die Wortwahl bei Walther (Typen 28 f, mit Bezug auf Bauch 349, vgl. aber dazu Kant, Religion 752 f). Das tatsächlich von Kant für die (ethische) „Gemeinschaft" verwendete Wort ist das gleiche wie für die (rechtliche) Gesellschaft, nämlich „Gesellschaft". Damit bestätigt sich Riedels Feststellung, daß „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" bis hin zu den idealtypischen Unterscheidungen vor allem nach F. Tönnies synonyme Grundbegriffe sind; das gilt auch noch für die —»Romantik (Riedel, Gesellschaft 830f; gegen Furth 797f). Bedeutsam ist aber bereits der Vorschlag —»Herders, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft zu unterscheiden, um aus der zeitlichen Hülle des Christentums mit seiner Bindung an den Staat zum Zweck des Kirchenregiments den übergeschichtlichen Kern herauslösen zu können: die „Gemeinschaft des Geistes" (Herder 101; Riedel, a.a.O. 821). Dem ist Kants Gedanke vergleichbar: Gegen —»Hobbes unterscheidet er von der Vielzahl faktischer Gesellschaften, die als pactum sociale eine Verbindung vieler zu irgend einem gemeinsamen Zweck (den sie allehaben) darstellen, die Gesellschaft überhaupt als die Verbindung, die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder habenso//) (vgl. Kant, Gemeinspruch 143 ff). Diese ist die „ideale Norm von Gesellschaft' (im Sinne dynamischer Gemeinschaft unter Menschen)" (Riedel, a.a. O. 824). Sie läßt sich aber nach Kant nur in Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen; daher auch der sprachliche Vorrang des Begriffs Gesellschaft. Die Bestimmung der Gesellschaft als „Gemeinschaft", d. h. der Wechselwirkung des vernünftigen Handelns freier Individuen (Riedel, a . a . O . 845), ist in äußerer Hinsicht gleichbedeutend mit der Bestimmung des bürgerlichen Rechts, ein Verhältnis freier Menschen, wenn schon unter Zwangsgesetzen, zu fördern. Eben dies „gemeine Wesen" (ein Begriff, der in der ursprünglichen politischen Bedeutung von res publica zu verstehen ist) soll, wie der Gedanke weiter entfaltet wird (vgl. im folgenden Kant, Religion 7 5 2 - 7 5 5 ) , zu einem „ethischen gemeinen Wesen", oder anders ausgedrückt, die rechtlich-bürgerliche zur ethisch-bürgerlichen Gesellschaft werden. Das kann inmitten eines politischen gemeinen Wesens Zustandekommen. Hervorgebracht wird es aber durch diejenige „ethische Gesellschaft", die eine Verbindung der Menschen unter Tugendgesetzen herstellt, somit ein „ethischer Staat, d. i. ein Reich der Tugend (des guten Prinzips)" ist. Erst diese Entfaltung rechtfertigt es wirklich, den Begriff Gemeinschaft zur Interpretation einzusetzen: Die ethischnormative Prägung der Gesellschaft wird vermittelt durch eine personale, allgemeinmenschliche und daher tendenziell universale Vereinigung, die — mit vereinigten Kräften - dem —»Bösen entgegenwirkt. So verstanden besteht eine Analogie zwischen dieser, dem Selbstzweck menschlicher Gesellschaft in Einhelligkeit nachlebenden und der vorfindlichen politischen Gesellschaft als zwei gemeinen Wesen, aber eben auch eine Differenz zwischen jenem Ideal eines Ganzen aller Menschen im Unterschied von der politisch-partiellen Lebenswirklichkeit. Und weiter: Das absolute ethische Ganze der vollkommenen Gesellschaft ist der Idee nach das Volk Gottes, das Reich Gottes als die Idee der sittlichen Gemeinschaft, deren sichtbare Vorstellung die -»Kirche ausmacht (ebd. 760.797). Besonders bemerkenswert und eben deshalb hier so ausführlich skizziert ist bei Kant, daß die vollkommene „Gemeinschaft" in einem Verhältnis der Analogie und Differenz,
348
Gemeinschaft
nicht aber als der der Überbietung oder des Gegensatzes von Gesellschaft gedacht ist. Sie überbietet, genauer gesagt, die bürgerliche Gesellschaft, indem sie sie ethisch durchdringt; sie durchdringt sie, indem sie das Handeln der Individuen zu einem rechtlichen Verhältnis freier Menschen macht, die ihre Freiheit gegeneinander einzig nach dem Prinzip einschränken, daß die eigene mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Der formalen Moralität entspricht sozialethisch eine liberale Verfassung; „Gemeinschaft" ist, weil der Wille der Menschen auf keine Weise unter ein empirisches gemeinschaftliches Prinzip (z. B. des Wohlwollens einer väterlichen Regierung gegenüber den Untertanen als unmündigen Kindern) gezwungen werden kann (Gemeinspruch 145 f), der ethische Inbegriff von Gesellschaft. Tatsächlich ist es für das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft entscheidend, ob in ihm die Vertragsfreiheit der Individuen grundlegend beibehalten oder „aufgehoben" wird. 1.2. Gemeinschaft als sittliche Ganzheit. Philosophische Grundlagen der Restauration. Der geistesgeschichtliche Punkt des Umschlags von prinzipiell liberalen zu prinzipiell konservativen Verhältnisbestimmungen zeichnet sich bei J. G. —»Fichte (vgl. Riedel, Gesellschaft 826 ff mit Lit.) ab, dessen Werk unter dem Einfluß der romantischen Bewegung Wandlungen aufweist, wie sie ähnlich bei F. D. E. —»Schleiermacher zu sehen sind. Es sind Ubergänge, nicht Brüche; Fichte beginnt damit, daß er die wesentlich normative Differenz zwischen den beiden Gemeinwesen nach Kant empirisch vorstellt, indem er von dem Vertragsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft ein vertragsfreies Verhältnis unterscheidet, das gleichwohl nicht ohne gegenseitige Rechte und Pflichten besteht, sondern sein gemeinschaftliches Gesetz in eben dem von Kant formulierten Freiheitsgesetz hat. Das eröffnet eine legitime Möglichkeit, den jeweils geschichtlich besonderen Bürgervertrag, wie in der —»Französischen Revolution geschehen, zu kündigen. Es enthält aber auch schon die Möglichkeit des späteren Sprachgebrauchs, nach welchem dem gesellschaftlichen Vertragsverhältnis die natürlichen und geschichtlich gewordenen Grundlagen der Gesellschaftsverhältnisse in Volk und Nation vorgeordnet sind. Das entspricht dem Interesse der Romantiker an ursprünglicher Gemeinschaft wie eben den sentimentalisierten Sozialgebilden Familie, Stamm, Volk und Volkstum und der personalen Unmittelbarkeit von Freundschafts- und Liebesbeziehungen, die ihre Kraft aus der Gefühlstiefe schöpfen. Gegenüber der rationalistischen Verrechtlichung der Lebensverhältnisse werden jene vorgegebenen oder die sittlich vorgeordneten Ganzheiten wie in der organischen Staatstheorie betont. Dem Vertrag der Freien und Gleichen wird der Bund gleichwertiger, aber verschiedenartiger, individueller Naturen, die sich aneinander zu Persönlichkeiten bilden, entgegengesetzt. Wahre Gemeinschaft, für die F. Schlegel das Vorbild der mittelalterlichen ständischen Verfassung und Hierarchie findet, ist Wechselwirkung zwischen Ungleichen, unbedingte Gemeinschaft selber eine Persönlichkeit höherer Ordnung, an welcher die einzelnen, gliedhaft eingefügt, teilnehmen. Die Umwertung wird in der Rechtsphilosophie —»Hegels vollendet, indem diese der bürgerlichen Gesellschaft einen notwendigen, aber begrenzten Ort in der geschichtlichen Entwicklung zuweist. Die bürgerliche Gesellschaft ist „die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt". Ein Staat, der sich normativ von ihr her bestimmen würde - „als eine Einheit verschiedener Personen, als eine Einheit, die nur Gemeinsamkeit ist" —, könnte nur ein Not- und Verstandesstaat sein (§ 182, Zusatz; § 183). Hegel definiert die bürgerliche Gesellschaft als das System der Bedürfnisse, in welchem zwar der Mensch als Mensch, so aber in der Maßlosigkeit des Mängelwesens, die sich in der bloßen Vertragsgemeinschaft als Willkür ausdrücken müßte, erscheint (§ 185, Zusatz; §§ 189f. 258). Das gibt ihm die Möglichkeit, auf der einen Seite das sittliche Wesen der Familie (wie auch das der —»Ehe) als substantielle Einheit geltend zu machen und nach ihrem Vorbild auf der anderen Seite den Staat in solcher substantiellen Einheit als den absoluten, unbewegten Selbstzweck oder das sittliche Ganze zu denken (§§ 158.258). Bei den Gemeinschaftsformen gehört das Individuum nicht als Person für sich, sondern als Mitglied bzw. Glied an.
Gemeinschaft
349
Die philosophischen Bestimmungen des Verhältnisses von Gemeinschaft und Gesellschaft beziehen sich auf eine soziale Entwicklung, in deren Verlauf tatsächlich besonders die Familie aus der Gesellschaft (dem —»Haus) herausgelöst, aber auch das Dorf, um nur diese exemplarische Form kleiner, agrarischer Sozialverbände zu nennen, zunehmend seit der 2. Hälfte des 19. Jh. von dem raschen Umbruch zur Industriegesellschaft ergriffen wurde (—»Bürgertum). Die Unterscheidung zwischen der—»Familie als primärer Gemeinschaft von den sekundären anderen hat hierin ihren realen Grund. Gleichzeitig kommt aber die Sorge auf, die Desintegration der sachlich-persönlichen Ganzheit einer vorindustriellen Lebenswelt und mehr noch der menschlichen Ganzheit überhaupt könnte (die Begriffe nach R. König) Desorganisation bedeuten: Auflösung und -»Entfremdung. Bei L. —»Feuerbach findet das im Gedanken einer Einheit des Menschen mit dem Menschen, welche, die Ich-Du-Beziehung bewahrend, das Wesen des Menschen in der Gemeinschaft bezeichnet, seinen Ausdruck, beim jungen K. —»Marx in der Betonung der Gemeinschaft im wahren menschlichen Gemeinwesen gegenüber der der arbeitsteiligen bürgerlichen Tauschgesellschaft. Erst Tönnies hingegen bringt die beiden Grundbegriffe, anknüpfend an die verschiedenen Bedeutungsgehalte im synonymen Gebrauch der deutschen Sprache (vgl. Tönnies 3), in ein sozialphilosophisch formuliertes Verhältnis des Gegensatzes. Lange Zeit kaum beachtet, erlangte sein Werk, dessen 1. Auflage den Untertitel trug: Abhandlung des Kommunismus und Sozialismus als empirische Kulturformen (1887), im 20. Jh. erhebliche Bedeutung nicht nur für die Soziologie, sondern auch für die Theologie, nicht zuletzt infolge der sachlichen Bezüge, die zwischen seiner kulturanalytischen Theorie des Zivilisationsprozesses und dem Interpretationsschema der —»Säkularisierung herzustellen sind (vgl. Lübbe 6 2 - 6 7 ) . Tönnies wollte eine wertneutrale, kritische Theorie der Kulturentwicklung vorlegen (vgl. X I X X ) . In dieser Sicht lösen zwei Zeitalter einander ab: „EinZeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft. Dieses ist durch den sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion bezeichnet, jenes durch den sozialen Willen als Konvention, Politik, öffentliche Meinung" (215). Die idealtypisch (Tönnies: normaltypisch) eingeführten psychologischen Grundbegriffe für die Willensformen sind Wesenswille und Kürwille. Der Wesenswille, Hegels konkreter Substanz des Volksgeistes entsprechend (ebd. X X X I V ) , bejaht das metaphysische Wesen der Gemeinschaft, eine metaphysische Verbundenheit, die von Natur als organische Gesamtsubstanz den Willen ihrer Glieder bestimmt (154.187; Höffners Kritik [463], Tönnies begründe die Gemeinschaft nicht metaphysisch, trifft für die Sphäre des Wesenswillens nicht zu). Bezeichnend sind dafür Konsens und Konkordia als Ausdruck der Einheit menschlicher Willen und Anerkennung väterlicher Herrschaft. Demgegenüber ist Gesellschaft auf den bloßen Kontrakt gegründet; die bürgerliche Gesellschaft wird wie bei Marx nach Adam Smith als der Zustand, in welchem „jedermann ein Kaufmann ist", verstanden (Tönnies 44), so aber eben auch Hegels Definition fortschreibend, „die jedenfalls den Gedanken von Tönnies in erheblich differenzierterer Formulierung vorwegnimmt" (Dahrendorf 153). Gesellschaft ist eine Verfallserscheinung.
Tönnies will aber davon überzeugen, daß der Individualismus, der durch den Auflösungsprozeß des gemeinschaftlichen Lebens entsteht, durch eine Rekonstruktion gemeinschaftlicher Lebensformen auf dem Boden der modernen Welt überwunden werden muß und kann, wobei er große Hoffnungen auf das Prinzip der Genossenschaft setzt, eine Gemeinschaftsökonomie, von der ansatzweise auch die sittlich notwendige Erneuerung des Familienlebens und anderer Gemeinschaftsformen erwartet werden könne (Tönnies 174). Das Interesse, das sich in diesem Erneuerungswillen bekundet, macht die deskriptiven, historisch-genetischen Grundbegriffe der reinen Soziologie, die der Untertitel der weiteren Auflagen anzeigt, zu Werturteilen und wird so zum Motiv einer ideenpolitischen Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs im Kampf gegen die mit dem Begriff der bürgerlichen, industriellen Gesellschaft verknüpfte Liberalität. Das hat seine terminologische Entsprechung in der alten, wertenden Unterscheidung von Kultur und Zivilisation, auf die Tönnies zurückgreift und die er auf die Pointe des Gegensatzes von Familie, Dorf und (Klein-)Stadt auf der einen, Großstadt auf der anderen Seite bringt (216). Die Großstadt als Sinnbild des Verfalls gemeinschaftlicher Bindungen, der Isolation und Anonymität als Formen der Entfremdung vom menschlichen Selbst und Lebenssinn, ist von dauerhafter emotionaler Eindrücklichkeit. Diese bleibt denn auch bestehen trotz der viel-
Gemeinschaft
350
fach bestätigten Kritik Wurzbachers an Tönnies' dichotomischem Denkmodell, daß es weder auf das dörfliche noch das großstädtische Leben in der Komplexität seiner heutigen Formen zutrifft, weil ein vergrößerter Anspruch auf personale Eigenständigkeit das Dorf umprägt und umgekehrt gemeinschaftliche Beziehungen die Stadt durchwirken (vgl. Wurzbacher 4 4 9 f f . 4 6 1 ) . Das ist allerdings ein empirischer Einwand, der die Normbegriffe nur oberflächlich berührt. Er kann niemand hindern, die von Tönnies gebahnten „Pfade rückwärtsgewandter Prophetie" zu beschreiten (Riedel, Gesellschaft 857), wie es die Gemeinschaftsbewegungen und -ideologien der deutschen Reaktion auf das mit dem Ersten Weltkrieg endende 19. Jh. taten. Dabei kam als neues Moment gegenüber der von Tönnies noch vertretenen Gemeinschaft als Verbindung von Menschen mit Menschen und mit Sachen (Genossenschaft) eine Verselbständigung des geistig-personalistischen Gemeinschaftsverständnisses hinzu, wie bei Othmar Spann, M a x Scheler mit dem Sozialideal der „Liebesgemeinschaft", in H. Schmalenbachs — von Tönnies nicht akzeptierter (a. a. O. XLII) — Ergänzungskategorie des Bundes und durch dielch-Du-Philosophie, die besonders von der Theologie beachtet wurde. 2. Ethische
Verständnisweisen
in der neueren
evangelischen
Theologie
2.1. Gemeinschaftsformen und christlicher Geist. Neuprotestantische Interpretationen des Kulturprozesses. Unbeschadet des auch weiterhin synonymen Gebrauchs der Worte Gemeinschaft und Gesellschaft kommt dem ersteren in den Einteilungsprinzipien der neuprotestantischen Ethik bis zu den Neuansätzen der —> Sozialethik nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. dazu Wendland 9—31) die größere, umfassende Bedeutung zu (vgl. z.B. Mayer 177). Beides trotz E. —»Troeltsch, der besonders in F. Schlegel und F. Schleiermacher Vertreter einer allgemein werdenden mystisch-organischen Gesellschaftstheorie kritisierte, „die den einzelnen aus dem Gesamtgeist entspringen und durch bewußte Hingebung wieder in ihn einmünden läßt" (Troeltsch, Aufsätze IV, 5 9 6 ; vgl. aber auch die Kritik an W . Herrmanns „Gemeinschaftsformen" als gegebenen Naturformen: Grundprobleme 5 9 6 f f . 6 0 4 ) . Tatsächlich bringt das theologische Interesse an der Bildung der menschlichen Natur zur sittlichen Persönlichkeit die Frage nach einer Theorie der Kulturgemeinschaft mit sich, in der geklärt werden kann, unter welchen Bedingungen das Eigentümliche, die natürliche Verschiedenheit und geschichtliche Mannigfaltigkeit, so aber auch unterschiedliche soziale Stellung der einzelnen zu rechtfertigen ist. Grundlegende Voraussetzung dafür ist nach Schleiermacher die unbedingte Vorordnung der Gemeinschaft, die das Handeln des einzelnen als Organ des Ganzen übergreift und auf sich bezieht, und zwar geht die ethische Theorie der Gemeinschaft von den natürlichen Begrenzungen aus, wie sie einerseits durch die Familie, andererseits durch Volk und Rasse vorgegeben sind. Sittliche Grundgemeinschaft als natürliche Gegebenheit und sittliche Aufgabe ist die Familie (Birkner 4 1 . 9 5 f). Gleichwohl beruht diese Theorie nicht nur auf den Grundlagen des Rechtsstaats mit dem Prinzip der Öffentlichkeit, sondern wird ethisch erst durch den Begriff des korrektiven Handelns, das vom einzelnen ausgeht und die Bedingung des Fortschritts ist, wobei sich das Wahre im Verhältnis der Wechselwirkung zwischen ihm und der Gemeinschaft herausbildet (ebd.). Insofern bezeichnet die freie Geselligkeit über ihren besonderen Ort im Schema der großen Gemeinschaftssphären hinaus die ideale Norm der Gesellschaft (vgl. Spiegel 60), und es ist erklärlich, wenn auch in der romantischen Umgebung verwunderlich, daß der junge Schleiermacher in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799 anonym) das Wort Gemeinschaft auf Verbindungen bezog, die sich auf gemeinsamen Besitz oder einen äußeren Zweck gründen, das Wort Gesellschaft hingegen auf die zweckfreie, nicht sachvermittelte Geselligkeit. Er gilt als der erste, der zwischen den beiden Begriffen ausdrücklich unterschied, und es bleibt für seine Ethik konstitutiv, daß die freie Wechselwirkung für den eigentlichen Begriff von Gesellschaft maßgeblich sei: als ein kommunikatives Prinzip der Gemeinschaftsstiftung durch gegenseitige Anerkennung und die Beziehung auf die Totalität aller Persönlichkeiten (Schleiermacher, Brouillon 35.43). Weil aber die Persönlichkeit dabei über sich hinausgehen muß, bedarf es der Lebensgemeinschaft mit Christus, um das höchste Gut der Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu erreichen (Glaube §§ 100.110; Sitte 32f.78); die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche als das Reich Gottes, wächst, wie man hoffen darf, bis sie die ihr entgegengesetzte Welt durchdrungen hat (ebd. S 113). Entsprechend lautet in der Erste Lehrsatz (ebd. S 123): „Der heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens
Gemeinschaft
351
mit der menschlichen Natur in der F o r m des das Gesamtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes."
Nach dieser Konzeption stellt die christliche Gemeinschaft, die eine moralische Person ist (Glaube § 116,3), in ihrer Lebenseinheit ein personales Gemeinwesen dar. Der Begriff Gemeinschaft beschreibt die Form menschlicher Beziehungen mit dem Wesensmerkmal der Ungleichheit bei Gleichwertigkeit aller im ganzen. Das bezeichnet gegenüber Kants Verwendung des Begriffs den Ubergang zu einem ganzheitlich-organischen Verständnis, für welches nach der typischen „kulturprotestantischen" Auffassung der Heilige Geist in der von Troeltsch kritisierten äquivoken Bedeutung des Wortes Geist (Troeltsch, Grundprobleme 5 6 8 ) die Kulturform sinnstiftend, stimulierend und integrierend erfüllt. Man muß aber beachten, daß die christliche Gemeinschaft ähnlich wie bei Kant die Funktion hat, den Versuchungen, die aus dem Gesamtleben als dem gesellschaftlichen Leben entstehen und das kulturelle Streben hemmen, zu begegnen: Die Gemeinschaft der Erlösten mit dem Erlöser findet ihren Ausdruck in der Berufstreue, im Berufsethos (Walther, Typen 108 f; —»Beruf). Die optimistische Sicht des Kulturprozesses verhindert noch, daß die ideale Gemeinschaft in ein Gegensatzverhältnis zur Gesellschaft tritt, obwohl auch Schleiermacher die Vorstellung von einem Not- und Vernunftstaat ablehnt (Brouillon 64). Daß dieser von sich aus seine Uberwindung betreibe, hat auch R . —»Rothe (im folgenden zit. nach der 1. Aufl. der Theologischen Ethik) gemeint: die allmähliche Herausbildung nämlich der universellen Humanität aus der ursprünglich partikularen Individualität und den Ubergang von der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem Grundgesetz, der „abstrakten Gleichheit des Rechts aller", zum Staat, dessen Basis das Volk ist, als volkstümlicher Gemeinschaft und schließlich allgemeinem Staatenorganismus (§§ 4 2 5 — 4 3 4 . 4 6 0 ; die ausdrückliche Behandlung der bürgerlichen Gesellschaft als Entwicklungstufe fehlt in der 2. Aufl.) Angelegt in der schöpfungsmäßigen Bestimmung der Individuen, sich gegenseitig zu ergänzen, einander bedürftig zu sein (§ 245), aufgeschlossen für die Gemeinschaft als Anerkennung der anderen, Geben und Nehmen in einem Verhältnis absoluter Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und jedem einzelnen, und integriert zu einer Gesamtpersönlichkeit oder Persönlichkeit höherer Ordnung (§§ 2 4 5 . 2 5 2 f . 2 5 9 ; die Gemeinschaft des sittlichen Handelns aus dem Motiv der Liebe stellte A. —» Ritsehl dann betont in den Mittelpunkt), gelangt der nach dem Modell von Analogie und Differenz sittlich wie religiös bedingte Lebensprozeß des Gemeingeistes zur Einheit im vollendeten Reich Gottes (§§ 2 4 8 . 4 6 4 ) . Rothe nahm damit aber bereits stärker Bezug auf den geschichtlichen Differenzierungs-, d.h. Desintegrationsprozeß der „Auflösung der Gemeinschaft" (§§ 4 2 5 ff). Dies ist der entscheidende Punkt für eine theologiegeschichtlich bedeutsame Gabelung des zunehmenden Differenzbewußtseins im Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft: den restaurativen und den revolutionären Gegensatz, beide zugespitzt auf den ideenpolitischen Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft als Zerfallsprodukt der Aufklärung. Beispielhaft lassen sich für das restaurative Interesse an der Wiederherstellung eines christlichen Gesellschaftsorganismus aus dem Geist der Gemeinschaft der Gläubigen J . H . —»Wiehern oder auch A. von (Dettingen, der ganz ähnlich der „krankhaften Desorganisation" der Gesellschaft das Postulat einer „geordneten Kulturgemeinschaft" entgegenstellt, nennen; der Gemeinschafts- und Organismusgedanke ist hier ein rückwärtsgewandtes romantisches Ideal (vgl. Walther, Theol. 3 3 - 3 9 ) . Für den revolutionären Gegensatz kann beispielhaft L. —»Ragaz genannt werden, der das bürgerlich-kapitalistische Lebensideal des Habens durch das in der Geschichtsdynamik des Reiches Gottes gründende religiöse Ideal einer sozialistischen Kultur der Gemeinschaft abgelöst sieht. Die Genossenschaft gilt als Ansatzpunkt für ein sozialistisches Gemeinschaftsleben (vgl. Tönnies 174), und gegen „die ganze gesellschaftliche Gottlosigkeit unserer Welt" richtet sich die messianische Botschaft des wahren Christentums (Ragaz, Von Christus zu Marx, 1 3 9 - 1 4 2 . 1 9 5 ) .
2.2. Weltliche und christliche Gemeinschaft.
stimmung.
Theologische
Probleme der
Verhältnisbe-
Mit E. —»Troeltsch wird ein neues Problembewußtsein erreicht. Der gesellschaft-
352
Gemeinschaft
liehe Desintegrationsprozeß erscheint theologisch als ein Phänomen der —»Säkularisierung. Diese, begriffen und bejaht als ein Prozeß, der die moderne Welt zu ihren eigenen Gesetzen befreit, aber auch zunehmend gegen den Geist des geschichtlichen Christentums verschließt, wird umgekehrt nun zum Anlaß, das Verhältnis von religiösen und weltlichen Prinzipien der Gesellung soziologisch zu untersuchen und neu zu bestimmen. In beispielhafter Auseinandersetzung mit M . v. Nathusius engt Troeltsch, an Lorenz v. Steins Definition angelehnt, den Begriff der Gesellschaft ein auf „die aus den ökonomischen Phänomenen sich ergebenden Lebenszusammenhänge" (Soziallehren 9). Das ist der Kern weitergehender Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Lebenskreisen, der Familie, des Staates, der Kirchen und all ihrer selbständigen Organisationstriebe. Die kulturprotestantische, von der bloß formalen Gleichheit des „Sozialen" fehlgeleitete Grundannahme, der soziale Geist des Christentums enthalte auch schon die Grundsätze für die natürlichen Gemeinschaftsformen, wird entkräftet (vgl. Soziallehren 1 - 1 5 ) . Im Ergebnis führt die Kritik der Analogien und Äquivokationen zu einem Schema der prinzipiellen Differenz von ursprünglicher religiöser Gemeinschaft und weltlicher Gesellung (vgl. auch Troeltsch, Grundprobleme 6 2 5 ) . Jene stellt sich Troeltsch, kritisch auf R. —»Sohms These zum —»Kirchenrecht bezugnehmend (Soziallehren 5 2 0 , Anm. 2 3 6 ) , als innere, sich aber gemäß der jeweiligen christlichen Gemeinschaftsidee gestaltende Gemeinschaft mit Gott und in der Bruderliebe dar. Das ist der bleibende Gedanke des Gottesreiches, der für die christliche Persönlichkeit die Hoffnung auf eine neue Synthese bewahrt, aber nurmehr auf der Grundlage der nüchternen, realistischen Einsicht, daß „aller Idee die brutale Tatsächlichkeit" entgegensteht (ebd. 9 6 5 - 9 8 6 ) . Die Absage an den Kulturprotestantismus in der konfessionellen Theologie nach Troeltsch radikalisiert das Schema der Differenz; Welt und Glaube werden nach Maßgabe der Grundentscheidung gegen jede idealistisch erscheinende Deutung des menschlichen Lebens neu bestimmt. Das bringt auf der einen Seite eine Auszeichnung derjenigen philosophischen und politischen Wirklichkeitsverständnisse mit sich, die - nüchtern und sachlich—von den durch keinen Fortschrittsoptimismus übersteigbaren Begrenzungen und Bindungen des konkreten geschöpflichen Daseins ausgehen. Unter dem Einfluß der Ich-Du-Philosophie (M. —»Buber, Ferdinand Ebner, Eberhard Grisebach), aber auch mit ausdrücklichem Bezug auf F. Tönnies (bei F. —»Gogarten, A. de Quervain, D. -»Bonhoeffer; vgl. auch Gestrich 9 0 f ; Castanye 1 7 2 f) wird Gemeinschaft zum Grundwort für die eigentliche menschliche Wirklichkeit, und zwar ohne Rücksicht auf theologische Unterschiede durch den Vorrang des Gesetzes oder des Evangeliums als Interpretationsinstanzen. Wirklichkeit erscheint im „deutungslos auszuhaltenden" (Gogarten, Gott 6 9 ff) Anspruch des Du als eines unaufhebbaren Gegenübers (ders., Gemeinschaft 165 f), das Menschliche in der Gemeinschaft als Erfüllung der Verantwortlichkeit (Brunner,Widerspruch 2 7 ) . Gemeinschaft bedeutet hier im Gegensatz zur individualistischen Parole von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die Rückwendung zur Anerkennung der Autorität in Ordnungen, welche die Abhängigkeit voneinander und Angewiesenheit aufeinander verbindlich gestalten. Diese geschichtliche Grundbeziehung echter Kultur hat ihr Gegenbild in der Konvention und Organisation entarteter Gemeinschaft imman (Bultmann, Formen 2 6 5 ) , der Masse (Müller 198) und eben der Zivilisation (Brunner, Christentum 19). Gemeinschaft ist nach dem Modell der Familie, die als Urgemeinschaft an Recht jeder natürlichen Gemeinschaft vorausgeht (Brunner, Gerechtigkeit 160), und des Dorfes mit seinem spontan sich entwikkelnden Leben (de Quervain 1 4 2 f . l 4 6 f f ) ein personales Geschehen zwischen Ungleichen; Gleichheit gilt als Aufhebung von Gemeinschaft (Brunner, Gebot 1 9 6 f ) . Auf der anderen Seite richtet sich aber die Kritik der theologischen Ethik, die exemplarisch der melanchthonischen Gesellschaftsethik (—»Melanchthon) absagen soll (Eiert 28 ff), bei allen erwähnten Autoren auch gegen das romantische Organismusideal. Für Gogarten, der ebenfalls kein restauratives „Programm für eine neue, autoritäre, objektive Kultur" entwickeln will (Gemeinschaft 1 5 7 . 1 6 6 ) , bedeutet die totale Kritik am Geist der Neuzeit, daß „die Scheidelinie . . . hier nicht mehr die Gesellschaft von der Gemeinschaft, die Stadt vom Land, sondern die moderne Welt als ganze - von der Kirche" trennt; was bei Tönnies
Gemeinschaft
353
Gesellschaft hieß, nannte Gogarten gerade Gemeinschaft (Gestrich 9 0 f ) . Weil schöpfungsgemäße Gemeinschaft den Grundsinn der Liebe zum Nächsten hat, also „Gemeinschaft der Liebe" sein soll, kommt das, was in aller menschlichen Gemeinschaft angelegt ist, erst in der durch den Glauben gestifteten neuen „Gemeinschaft im Transzendenten" zur Erfüllung (Bultmann 2 7 1 ff). Die radikale Kritik an der organisatorischen Mittelbarkeit des Menschlichen wie auch der romantischen Unmittelbarkeit sieht im Begriff der Gemeinde den konstitutiven Grundbegriff von Gemeinschaft, aber nur uneigentlich in einem normativen Sinn, denn die Gründung einer autoritären Gemeinde wäre ein Widerspruch: Die einzig denkbare und theologisch begründete mittelbare Gemeinschaft, die Ich und Du ohne die Illusion wesenhafter Gleichheit verbindet, ist die durch das Du Gottes gegründete Gemeinde (Gogarten, Gemeinschaft 1 5 7 . 1 6 5 ff). Den theologischen Grundbegriff der Gemeinde, auf den Gogarten abhebt, hat Bonhoeffer eindrucksvoll herausgearbeitet. Indem er, kritisch gegenüber der Vermengung genetischer und phänomenologischer Darstellung bei Tönnies, rein von den sozialen Willensakten ausgeht, versteht er Gemeinschaft als Willensgemeinschaft, aufgebaut auf der Geschiedenheit und Verschiedenheit der Personen. Es ist jedoch allein die Kirche, in welcher die zerrissene Ursprungsgemeinschaft durch den Akt der geistgewirkten Liebe, in dem die Geistgemeinschaft besteht, neu Verwirklichung findet. „Christus als Gemeinde existierend" verkörpert den soziologisch spezifischen Charakter der christlichen Gemeinschaft. Organisiert zum Zweck der Erreichung des Willens Gottes als Liebesgemeinschaft, ist die Kirche, eine ethische Kollektivperson, in der Gott sich in Christus selbst zum Mittel seines Zweckes setzt, Gemeinschaft als Selbstzweck in der gegenseitigen Liebe der Heiligen. Diese „transzendente Begründung der Gemeinschaft" vermittelt — aus dem Interesse, in einem „konkreten Gemeinschaftsbegriff" die konkrete Person zu bewahren — zwischen den gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Willensakten (Bonhoeffer 5 6 f . 9 3 f . l 2 5 f . l 4 2 - 1 4 5 . 1 9 7 f f ) . Die Frage nach dem wirklichen Menschen, die der Sorge um den ganzen Menschen entspringt, bewegt auch K. - > B a r t h (III/2, § 4 4 , 3 ; vgl. Ringeling, Theol. 2 1 0 - 2 2 2 ) . Das Grundschema der Differenz bleibt vorausgesetzt: Person ist der Mensch im Gegenüber zur modernen Gesellschaft, Personalität ist im Unterschied von der Welt der Objekte und Objektivierungen Ereignis in der Begegnung. Es wird aber auf eine neue Weise theologisch radikalisiert. Bubers Grundwort lch-Du erscheint bei Barth in der Grundformel Ich bin, indem Du bist (III/2, 2 9 6 ) . Sie wird aber nach Maßgabe des Kriteriums der theologischen Anthropologie Barths verstanden (ebd. 3 3 3 f). Leitend ist die Erkenntnis, daß der wirkliche Mensch der Mensch Jesus und die Wirklichkeit des Menschen daher die Wirklichkeit der Gnade ist. Eben deshalb geht es nicht mehr bloß um die Interpretation, sondern die Konstitution der Wirklichkeit. Wohl ist die grundlegende Kategorie der Humanität die Gemeinschaft als Mitmenschlichkeit (III/2, 2 7 4 . 2 9 0 . 2 9 9 ) , jedoch kann sittliche Gemeinschaft erst da entstehen, wo das wirkliche, souveräne Gebot Gottes befreiende Gemeinschaft ermöglicht. Sie besteht darin, daß die Hörer des Gebots sich gegenseitig für diesen Herrn freigeben (II/2, 8 0 0 f); Gott sucht und schafft Gemeinschaft zwischen sich und uns, indem er uns in seine Gemeinschaft aufnimmt, d.h. aber in seinen Schöpfungswillen, der sich in der Tat seiner Liebe offenbart: Der Mensch Jesus ist der Mensch für den Mitmenschen, der Mensch ist der Mensch mit dem Mitmenschen, das Ich mit dem Du nach dem Urbild des Bundes zwischen Jesus Christus und seiner Gemeinde als dem inneren Grund der Schöpfung. Dieser Bund ist das Urbild des alttestamentlichen Bundes zwischen Jahwe und dem Volk Israel und - exemplarisch für menschliche Gemeinschaft - des Verhältnisses von M a n n und Frau (11/1,307; I I I / 2 , 3 6 1 . 3 8 2 ) . Z w a r bleibt für diese personale Beziehung die Ungleichheit konstitutiv, aber doch so, daß jeder den anderen freigibt, damit er werden kann, was er zu sein vermag (111/4,167). Das ist geeignet, den abstrakten Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft zu überwinden; Gemeinschaft kann als innerer Grund der Gesellschaft verstanden werden, allerdings auf verschiedene Weise. Nach dem dogmatischen Modell der Königsherrschaft Christi ist es die Gemeinde der Christen, die den inneren Kreis des weltlichen Gemeinwesens darstellt (Christengemeinde 1.5). Das Schema
Gemeinschaft
354
der Differenz, das darin mitgesetzt bleibt, stützt zwar das missionarische Schema von Sammlung und Sendung, wie es auch die ältere —»Kirchensoziologie, allgemein aber die kirchliche Auszeichnung eines traditionell-familialen vor einem gesellschaftlich-öffentlichen Wertsystem bestimmt (Ringeling, Sozialisation 2 0 0 - 2 0 4 ) . Kritisch weitergedacht, kann Gemeinschaft im Kontext christlicher Gemeinde dann aber als institutionen- und gesellschaftsverändernder Beweggrund der Freiheit begriffen werden. So bei J. Moltmann, der die congregatio sanctorum nach der Interpretation von CA VII in der Barmer Theologischen Erklärung (These 3; —»Kirchenkampf) als „Gemeinde von Brüdern" und „Gemeinschaft der Freunde" versteht, die in der Freundschaft Jesu leben und Freundlichkeit in der Gesellschaft ausbreiten, eine befreiende, messianische Gemeinschaft der Hoffnung (Moltmann, Kirche 251.341 ff; vgl. auch ders., Hoffnung 292—296) — so auch bei Paul L. Lehmann und radikalisiert in der Theologie der Revolution z.B. bei Richard Shaull (Revolutionary Change 2 3 - 4 3 , bes. 3 2 - 3 6 ) , wo die prophetischexoivmvia (nach aristotelischer Definition, aber biblischer Beschreibung) als christliche Glaubens- und Lebensgemeinschaft die dynamische ethische Wirklichkeit der „Politik Gottes" ist (Lehmann, Ethik 76 ff). Das revolutionäre Bundesmodell hat aber sein Gegenstück in einem sektiererischen Rückzug aus der Gesellschaft, gruppendynamisch motivierten Gemeinschaftsformen und enthusiastischen Gemeinschaftsbewegungen, in welchen sich die Gesellschaftskritik der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt. Im Modell einer ethischen Theologie hingegen, die auf die Grundlagen der Lebenswirklichkeit reflektiert, ist es die gegebene Gemeinschaft des Lebens, die den inneren Sinn der Sozialität als Vertrauen zu verstehen lehrt; so nach T. Rendtorff, der auch auf K . E . —»Logstrups Analyse des Vertrauens hinweist. Ähnlich hatte schon W . Herrmann Gemeinschaft als den Entstehungsgrund der sittlichen Haltung beschrieben. Rendtorff leitet daraus die „Mitwirkung an einer vertrauenswürdigen W e l t " (Ethik I, 4 9 ) ab. Indem er diese Aufgabe aber in die äußere Dimension des Vertrauens als die Gerechtigkeit der Rechtsgemeinschaft überträgt, kann er die von A. Gehlen eingeführte Kategorie der Erweiterung des primären Ethos der (Groß-)Familie und ihrer Brüderlichkeit zum Ethos der Institutionen und der Menschheitsfamilie annehmen, gleichwohl aber den von Gehlen kritisierten „abstrakten Humanitarismus" (Gehlen, M o r a l 1 8 1 ) wie auch den Gegensatz zweier Wertsysteme vermeiden (Rendtorff, Ethik 1 , 1 4 f f . 4 8 £.64; II, 1 2 4 ) . Vergleichbar ist G. Winters Interpretation der kommunikativen Kernstruktur von Wir-Beziehungen, deren schöpferische Kraft in der Gesellschaft auf eine Ausweitung in die sekundären Strukturen der Sozialität drängt, d. h. sich im Zusammenhang von Liebe und Gerechtigkeit oder anders: von Gemeinschaft auf dem Grunde von Freiheit und Distanz verwirklicht (Winter 2 4 1 ff; vgl. Ringeling, Dialog 5 0 0 - 5 0 5 ; ähnlich Wendland 2 6 - 2 9 ) . Damit schließt sich die theologische Ethik der soziologischen Relativierung des Denkmodells von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Linie von Henry S. Maine (status und contract; s. ders., Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and Its Relation to Modern Ideas, London 1 4 1 8 9 1 ) und Charles H. Cooley (Primär- und Sekundärgruppen; s. ders., Social Organization, N e w Y o r k 1 9 0 9 ) an. Literatur Eberhard Amelung, Art. 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5
Gemeinschaftsbewegung
355
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Hermann Ringeling
Gemeinschaftsbewegung 1. Begriffsklärung 2. Die geschichtlichen Wurzeln u n d die Entstehungsgeschichte der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g bis zur 1. G n a d a u e r P f i n g s t k o n f e r e n z 1888 3. Die Väter des G n a d a u e r Verbandes u n d die A u f b a u a r b e i t bis zur A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der P f i n g s t b e w e g u n g 1906-1909 4. Die E n t w i c k l u n g bis 1945 5. Arbeit u n d Selbstverständnis der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g von 1945 bis 1983 6. A u ß e r d e u t s c h e G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g (Quellen u n d L i t e r a t u r / P e r i o d i k a S. 367)
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Begriffsklärung
„Gemeinschaften innerhalb der Kirche" sind nach einer Definition von Dieter Lange „freiwillige Vereinigungen von Christen, die regelmäßig neben den kirchlichen Veranstaltungen zusammenkommen zum Zweck der -»Evangelisation und gegenseitigen -»Erbauung mit Hilfe des volkstümlichen Zeugnisses von der persönlichen Heilserfahrung in Jesus Christus und des gemeinsam praktizierten Gebets". Gemeinschaften und Gemeinschaftsarbeit in diesem Sinn hat es im deutschen Protestantismus schon seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. gegeben. Von „Gemeinschaftsbewegung" sollte man aber erst seit der überregionalen Organisation der Gemeinschaftsarbeit mit Beginn der Gnadauer Pfingstkonferenzen im Jahr 1888 sprechen. Heute repräsentiert der Gnadauer Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation e. V. die Gemeinschaftsbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, während im Evangelisch-Kirchlichen Gnadauer Gemeinschaftswerk die Gemeinschaftsbewegung in der DDR zusammengeschlossen ist. Die in R G G 3 verwendete Definition, nach welcher die Gemeinschaftsbewegung „die moderne Gestalt
Gemeinschaftsbewegung
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Hermann Ringeling
Gemeinschaftsbewegung 1. Begriffsklärung 2. Die geschichtlichen Wurzeln u n d die Entstehungsgeschichte der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g bis zur 1. G n a d a u e r P f i n g s t k o n f e r e n z 1888 3. Die Väter des G n a d a u e r Verbandes u n d die A u f b a u a r b e i t bis zur A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der P f i n g s t b e w e g u n g 1906-1909 4. Die E n t w i c k l u n g bis 1945 5. Arbeit u n d Selbstverständnis der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g von 1945 bis 1983 6. A u ß e r d e u t s c h e G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g (Quellen u n d L i t e r a t u r / P e r i o d i k a S. 367)
1.
Begriffsklärung
„Gemeinschaften innerhalb der Kirche" sind nach einer Definition von Dieter Lange „freiwillige Vereinigungen von Christen, die regelmäßig neben den kirchlichen Veranstaltungen zusammenkommen zum Zweck der -»Evangelisation und gegenseitigen -»Erbauung mit Hilfe des volkstümlichen Zeugnisses von der persönlichen Heilserfahrung in Jesus Christus und des gemeinsam praktizierten Gebets". Gemeinschaften und Gemeinschaftsarbeit in diesem Sinn hat es im deutschen Protestantismus schon seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. gegeben. Von „Gemeinschaftsbewegung" sollte man aber erst seit der überregionalen Organisation der Gemeinschaftsarbeit mit Beginn der Gnadauer Pfingstkonferenzen im Jahr 1888 sprechen. Heute repräsentiert der Gnadauer Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation e. V. die Gemeinschaftsbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, während im Evangelisch-Kirchlichen Gnadauer Gemeinschaftswerk die Gemeinschaftsbewegung in der DDR zusammengeschlossen ist. Die in R G G 3 verwendete Definition, nach welcher die Gemeinschaftsbewegung „die moderne Gestalt
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Gemeinschaftsbewegung
des Pietismus" im deutschen Sprachgebiet sei, ist zu weit gefaßt, weil nicht alle Gemeinschaften und Werke, die sich dem —»Pietismus verpflichtet wissen, zur organisierten Gemeinschaftsbewegung gehören. M i t Gemeinschaftsbewegung sind also im folgenden Gemeinschaften gemeint, die sich innerhalb der evangelischen -»Landeskirchen zunächst in den Gnadauer Pfingstkonferenzen, ab 1897 dann auch als Verband eine gemeinsame Arbeitsgrundlage geschaffen haben. 2. Die geschichtlichen Wurzeln und die Entstehungsgeschichte wegung bis zur 1. Gnadauer Pfingstkonferenz 1888
der
Gemeinschaftsbe-
Die Gemeinschaftsbewegung hat im wesentlichen vier Wurzeln: 2.1 die Reformation, 2.2 den Pietismus, 2.3 die Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. J h . und 2.4 die angelsächsische Evangelisations- und Heiligungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. J h . 2.1. Bis heute richtet sich die Gemeinschaftsbewegung in ihrer Theologie an zentralen reformatorischen Grundsätzen aus, die mit den Stichworten sola scriptura, sola gratia und allgemeines -*Priestertum der Gläubigen bezeichnet werden können. In besonderer Weise wird auf Glaubens- und -»Heilsgewißheit sowie auf die „dritte Weise" des Gottesdienstes, wie sie Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe von 1526 skizziert hat, Bezug genommen. Dort heißt es: „Die dritte W e i s e . . . müßte nicht so öffentlich auf dem Platz geschehen unter allerlei Volk, sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und M u n d bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Haus allein sich versammeln zum Gebet, zum Lesen, zum Taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu ü b e n " (vgl. W A 19,75; s. auch T R E 2,6 f). 2.2. Was Luther noch nicht konnte und wollte, „solche Gemeinden oder Versammlungen ordnen", weil er „nicht Leute und Personen dazu" sah, verwirklichte der Pietismus. Sowohl in der reformierten als auch in der lutherischen Kirche entstanden um 1670 Haus- und Gemeindekreise (damals „Konventikel" oder „Collegia" genannt), in denen gemeinschaftliches Gebet und Bibelgespräch praktiziert wurden. Die wichtigsten Träger dieser damals mit großem Unverständnis aufgenommenen Bewegung waren auf reformierter Seite Jean de —»Labadie (1610-1674), Theodor —»Undereyck (1635-1693) und Gerhard-»Tersteegen (1697-1769), auf lutherischer Seite Philipp Jakob —»Spener (1635-1705), August Hermann —»Francke (1663-1727) und Nikolaus Ludwig von -»Zinzendorf (1700-1760). Die Programmschrift des Pietismus, Speners Pia desideria von 1675, kann auch als erste theologische Begründung der Gemeinschaftsidee angesehen werden. Spener schlägt dort die Wiedereinführung der „alten apostolischen Art der Kirchenversammlungen" vor. „Also, daß neben unseren gewöhnlichen Predigten auch andere Versammlungen gehalten würden, auf die Art, wie sie Paulus 1. Korinther 14 beschreibt, wo nicht einer allein auftritt zu lehren, sondern auch andere mit dazu reden, die mit Gaben und Erkenntnis begnadet sind." An anderer Stelle fordert er unter Berufung auf Luther eine neue Gestaltwerdung des allgemeinen Priestertums in den Gemeinden, ferner fleißiges Bibelstudium und tätige Nächstenliebe. Während der Pietismus in der ersten Hälfte des 18. Jh. unter dem aufkommenden Rationalismus seine prägende Kraft verlor, „überwinterte" das Gemeinschaftswesen besonders in Württemberg - durch Impulse von Johann Albrecht -»Bengel (1687-1752), Friedrich Christoph -»Oetinger (1702-1782), Johann Michael -»Hahn (1758-1819), Christian Gottlob Pregizer (1751-1824) u. a. - und am Niederrhein sowie im Siegerland. Auch durch die Herrnhuter Diasporaarbeit blieb eine große Zahl kleiner und kleinster Gemeinschaftskreise lebendig (s. TRE 7, 230-232). 2.3. Einen neuen, entscheidenden Auftrieb erhielt das Gemeinschaftswesen durch die -»Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. J h . An erster Stelle sind hier die mannigfaltigen, die Gemeinschaftsbewegung fördernden Aktivitäten der 1780 gegründeten Deutschen Christentumsgesellschaft (s. T R E 5 , 2 7 7 , 4 f f ) zu nennen. Ihre weit verbreiteten Kreise waren um 1800 ein Sammelbecken für tiefer fragende und verbindliche Gemeinschaft suchende Christen. Aus ihren Reihen kamen die Anstöße zur Gründung von Bibelgesellschaften wie die Württembergische Bibelanstalt (1812) und Missionsgesellschaften wie die Basler Missionsgesellschaft (1815) und die Pilgermission St. Chrischona (1840). Die etwa um 1800 zunächst still einsetzende, dann in den 20er und 30er Jahren fast
Gemeinschaftsbewegung
357
den ganzen deutschen S p r a c h r a u m erreichende E r w e c k u n g s b e w e g u n g k a n n wegen ihrer Vielgestaltigkeit in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht n ä h e r beschrieben werden (vgl. T R E 10, 2 1 0 - 2 1 5 ) . Unbedingt festgehalten werden m u ß a b e r ihr kirchensoziologisches H a u p t m e r k m a l . Sie hat zu einer weitgehend i n n e r k i r c h l i c h e n E r w e c k u n g , a l s o zu einer geistlichen Erneuerung von G e m e i n d e n innerhalb der bestehenden kirchlichen und gemeindlichen S t r u k t u r e n geführt. Eine A u s n a h m e bilden n u r diejenigen lutherischen G e m e i n d e n , die sich infolge ihrer B e k e n n t n i s b i n d u n g aus den unierten K i r c h e n lösten und seit 1 9 7 2 in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche ( S E L K ) z u s a m m e n g e f a ß t sind. Sonst a b e r blieb die E r w e c k u n g s b e w e g u n g des 19. J h . nahezu frei von S e p a r a t i o n e n . Dies ist natürlich weitgehend darin begründet, d a ß ihre T r ä g e r in der M e h r z a h l landeskirchliche P a s t o r e n waren, z . B . Claus - * H a r m s ( 1 7 7 8 - 1 8 5 5 ) in Kiel, Ludwig - > H a r m s ( 1 8 0 8 - 1 8 6 5 ) in Niedersachsen, G o t t f r i e d - > M e n k e n ( 1 7 6 8 - 1 8 3 1 ) in B r e m e n , J o h a n n H e i n r i c h Volkening ( 1 7 9 6 - 1 8 7 7 ) in M i n d e n - R a v e n s b e r g , J o h a n n H i n r i c h - • W i c h e r n ( 1 8 0 8 - 1 8 8 1 ) in H a m b u r g , G o t t f r i e d D a n i e l K r u m m a c h e r (1774—1837) und Friedrich W i l h e l m K r u m m a cher ( 1 7 9 6 - 1 8 6 8 ) im R h e i n l a n d , J o h a n n e s Evangelista - » G o ß n e r ( 1 7 7 3 - 1 8 5 8 ) in Berlin, L u d w i g - > H o f a c k e r ( 1 7 9 8 - 1 8 2 8 ) und J o h a n n C h r i s t o p h - » B l u m h a r d t ( 1 8 0 5 - 1 8 8 0 ) in W ü r t t e m b e r g , Aloys H e n h ö f e r ( 1 7 8 9 - 1 8 6 2 ) in B a d e n , W i l h e l m - • L ö h e ( 1 8 0 8 - 1 8 7 2 ) in B a y e r n . In der Kirchlichkeit der E r w e c k u n g s b e w e g u n g liegt die H a u p t u r s a c h e für das E n t s t e h e n der deutschen G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g . D e r von G o t t e s W o r t erweckte o d e r b e k e h r t e M e n s c h hat das Bedürfnis nach einer engeren G e m e i n s c h a f t , als die landeskirchlichen G e m e i n d e n sie ihm im allgemeinen bieten k ö n n e n . E r sucht W a c h s t u m im G l a u b e n , in der L i e b e und in der H o f f n u n g . E r e r w a r t e t und erhält Hilfe dazu in der G e m e i n schaft. E i n e besondere F r u c h t der E r w e c k u n g s b e w e g u n g ist das um die M i t t e des 19. J h . s t a r k a n w a c h s e n d e Interesse an Volksmission b z w . Evangelisation (damals auch Innere Mission g e n a n n t ) . D a dieses missionarische Interesse bis heute konstitutiv für die G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g ist, sollen die wichtigsten diesbezüglichen Aktivitäten e r w ä h n t werden. Vorreiter der Evangelisation im deutschen S p r a c h r a u m w a r e n die „ E v a n g e l i s c h e n Gesells c h a f t e n " , die in den 3 0 e r und 4 0 e r J a h r e n in D e u t s c h l a n d und in der Schweiz gegründet wurden (1830 in Stuttgart, 1 8 3 1 G e n f und B e r n , 1 8 4 8 Elberfeld). D e r G r ü n d u n g s a u f r u f der letztgenannten läßt deutlich das P r o g r a m m e r k e n n e n : „ W o l l e n wir nicht D e u t s c h l a n d e v a n g e l i s i e r e n ? " K o n k r e t geschah diese Arbeit durch S c h r i f t e n m i s s i o n , Stadtmission und R e i s e p r e d i g t . Einen großen A n s t o ß b e k a m die S a c h e der V o l k s m i s s i o n durch W i c h e r n . In seiner R e d e auf dem 1. W i t t e n b e r g e r K i r c h e n t a g 1 8 4 8 und in seiner D e n k s c h r i f t Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche v o n 1849 forderte und begründete er ein neues, umfassendes missionarisches B e w u ß t s e i n : „Was unsere kirchlichen Zustände vor vielen anderen erfordern, ist die einfache, schlichte, volkstümliche Wieder- und Weiterverbreitung der evangelischen Grund- und Elementarwahrheiten durch solche Personen, die von Haus aus befähigt sind, die Verbindung zunächst des unteren Volkes mit dem kirchlichen Amte und Gottesdienste wieder zu vermitteln" (Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Hamburg 1849, 68). Ludwig Thimme hat in seinem Buch Kirche, Sekte und Gemeinschaftsbewegung zu Recht betont, daß diese Diagnose der geistlichen Situation durch Wiehern ganz erheblich zum Erstarken des missionarischen Engagements in der Gemeinschaftsbewegung beigetragen hat, eine Tatsache, die in den sonst grundlegenden Büchern Paul Fleischs über die Gemeinschaftsbewegung nicht genügend gewürdigt worden ist. Wie stark der geistliche Notstand empfunden wurde, zeigt das sprunghafte Anwachsen von Vereinsgründungen zum Zweck der Inneren Mission bzw. Volksmission in den 50er und 60er Jahren. Sie alle sind Keimzellen der Gemeinschaftsbewegung. Zwei seien stellvertretend für alle genannt: Der Verein für Reisepredigt im Siegerland (1853) und der Verein für Innere Mission in Schleswig-Holstein (1857). Die evangelistische Arbeit der Gemeinschaften fand schließlich in dem 1884 gegründeten Deutschen Evangelisationsverein eine vorläufig überregionale Basis. Die Gründer werden uns als Väter der Gnadauer Pfingstkonferenz wieder begegnen. Die Zeit zwischen 1860 und 1885 bietet ein sehr farbiges Bild. In vielen Gegenden Deutschlands, besonders in Ostpreußen, Schleswig-Holstein, Berlin, im Siegerland, in Baden-Württemberg und in der Pfalz herrscht reges Gemeinschaftsleben. Durch Reisepredigt und Evangelisation entstehen neue
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Gemeinschaftsbewegung
Kreise. Wiederum nur stellvertretend seien der von Johann Seitz (1839-1922) und Martin Blaich (1820-1903) geleitete Evangelische Reichsbrüderbund, der mit Recht so genannte „Bahnbrecher deutscher Evangelisationsarbeit" Elias Schrenk (1831-1913) und die Evangelisationsversammlungen des deutsch-amerikanischen Methodistenpredigers Friedrich von Schlümbach (1842-1901) in Berlin genannt. 2.4. Die vierte Wurzel der Gemeinschaftsbewegung ist die angelsächsische Evangelisations- und Heiligungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. J h . In Nordamerika war durch die Arbeit der Evangelisten Charles Grandison -»Finney und Dwight Lyman M o o d y (1837-1899) eine große geistliche Bewegung entstanden, die ihre Ideale u. a. in dem sogenannten „Erfülltwerden mit dem Heiligen G e i s t " und dem „völligen Sieg über die Sünde" sah. Zwei konsequente Anhänger, der Fabrikant Robert Pearsall Smith (1827-1898) und seine Frau Hannah Whitall (1832-1911) trugen diese „Heiligungsbewegung" 1 8 7 3 - 7 5 nach England und Deutschland. In der Einladung zu der berühmt gewordenen Oxforder Konferenz vom 29. August bis 7. September 1874 heißt es: „In jedem Teil der Christenheit hat der Gott aller Gnade vielen seiner Kinder ein Gefühl tiefer Unzufriedenheit mit ihrem gegenwärtigen geistlichen Stand und eine starke Uberzeugung davon gegeben, daß die Wahrheiten, welche sie glauben, eine Macht über ihre Herzen und ihr Leben ausüben könnten und sollten, die weit über alles hinausgeht, was sie bisher erfahren haben" (Lange 33). Ganz im Sinn dieser Worte bemühten sich Smith und seine Mitarbeiter, die etwa 3000 Konferenzteilnehmer zu dem sogenannten „höheren christlichen Leben", d.h. zu größerer Hingabe, Erkenntnis und Heiligung zu führen. Am 10. Versammlungstag wurde um die „Geistestaufe" gebetet. Von deutschsprachigen Teilnehmern haben in der Folge besonders Theodor-»Jellinghaus (1841-1919), Carl Heinrich Rappard (1837-1909), Inspektor der Missionsschule St. Chrischona, und Otto Stockmayer (1838-1917) die Smith'sche Heiligungstheorie weiterverbreitet. Jellinghaus' Buch Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum, in welchem die Heiligung als notwendige zweite Gnadengabe nach der Rechtfertigung dargestellt wurde, erzielte zwischen 1880 und 1903 fünf Auflagen. Besonders im schwäbischen Pietismus stießen diese Gedanken auf großes Interesse. Wie nahe man mit einer solchen Theologie an einen ganz unbiblischen Heilsperfektionismus kam, der das reformatorische simul iustus et peccator nicht mehr kennt, haben damals leider nur wenige Gemeinschaftsleute gesehen. In der durch die —»Pfingstbewegung verursachten schweren Krise von 1906-09 wirkte es sich dann verhängnisvoll aus, daß die Gemeinschaftsbewegung eine gründliche theologische Abgrenzung zum Enthusiasmus nicht unternommen hatte. Jellinghaus und Stockmayer haben später ihr Eintreten für die Heiligungsbewegung bedauert und ihre diesbezüglichen Äußerungen widerrufen. Die Oxforder Konferenz wurde 1875 im englischen Seebad Brighton mit ca. 8000 Teilnehmern, davon etwa 50 deutsche Pastoren, fortgesetzt. Wie in Oxford dominierte der R u f „Jesus errettet mich jetzt". Offensichtlich erfuhren wieder viele eine bislang noch nicht erlebte Vertiefung ihres Glaubens. - Nach der Konferenz kam es zu einem unerfreulichen Nachspiel. Es war bekanntgeworden, daß Smith in Privatgesprächen eine besondere Lehre von der „Verlobung mit J e s u s " vorgetragen hatte. Dies verursachte eine erhebliche Unruhe, zumal seine Freunde versuchten, die Sache herunterzuspielen. Die Affäre endete schließlich mit dem Ausscheiden des Amerikaners aus der öffentlichen Predigttätigkeit. Die englischen Heiligungsversammlungen fanden ab 1875 in Keswick eine neue Heimstätte. Der Einfluß der angelsächsischen Heiligungsbewegung auf die deutsche Gemeinschaftsbewegung wird seit den Veröffentlichungen Paul Fleischs sehr hoch angesetzt und negativ gewertet. Dieses Urteil muß differenziert werden. Natürlich stieg infolge der englischen Heiligungskonferenzen in den deutschen Gemeinschaftskreisen das Interesse am T h e m a „biblische Heiligung" deutlich an. Doch diese Entwicklung war zunächst mehr ein Nachholbedarf eines in der deutschen Erweckungsbewegung zu kurz gekommenen, legitimen geistlichen Anliegens als eine Überfremdung mit Enthusiasmus. Der Boden war sozusagen schon bereitet, als der Anstoß aus Amerika und England kam. Wo allerdings aus der biblisch legitimen Heiligungsspredigt ein Zwei-Stufen-Heilsweg konstruiert wurde wie bei Jellinghaus und später bei Jonathan Paul (1853-1931) in seiner Lehre vom „reinen H e r z e n " (s. u. 3.2), dort wurde die biblische und reformatorische
Gemeinschaftsbewegung
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Heilsverkündigung einseitig akzentuiert und dogmatisiert und damit die Tür zur Schwärmerei geöffnet. Damit sind die Wurzeln der Gemeinschaftsbewegung im wesentlichen genannt. Eine kurze Zusammenfassung gibt der langjährige Vorsitzende des Gnadauer Verbands Walter Michaelis (1866-1953): „Nach meiner Überschau ist die Frage des Ursprungs der deutschen Gemeinschaftsbewegung so zu beantworten: sie ist teils eine Fortsetzung der alten pietistischen Bewegungen, bzw. hat sie organisatorisch in sich aufgenommen; sie ist außerdem vorwiegend entstanden durch neue örtlich bestimmte Erweckungen an vielen Orten. Der englische und amerikanische Einfluß ist dann eingekommen auf den beschriebenen Wegen und hat in verschiedenem Grade Einfluß gewonnen, am meisten im ostelbischen Bereich. Aber von vornherein hat die von der deutschen Reformation her geprägte Lehre im Kampf mit ungesunden Lehrelementen gestanden" (Michaelis, Erkenntnisse 161 f). 3. Die Väter des Gnadauer Verbandes und die Aufbauarbeit zung mit der Pfingstbewegung 1906—1909
bis zur
Auseinanderset-
3.1. Das erste überregionale Gremium der deutschen Gemeinschaftsbewegung war der Deutsche Evangelisationsverein unter dem Vorsitz Theodor Christliebs. Die volksmissionarische Zielsetzung, die theologische Arbeit und der praktische Einsatz dieses Vereins - er gründete z. B. 1883 die noch heute bestehende Evangelistenschule Johanneum (s. T R E 10,637,7 ff) — wurden richtungsweisend für die Form brüderlicher Zusammenarbeit, die sich die Gemeinschaftsbewegung 1888 in Gestalt der Gnadauer Pfingstkonferenz gegeben hat. Es waren letztlich nicht organisatorische Fragen, sondern der Blick auf die geistliche Not in Deutschland und der Wunsch nach ihrer Überwindung, was die führenden Männer der Gemeinschaftsbewegung zu einer überregionalen Zusammenarbeit bewog. Jasper von Oertzen (1833-1893), Mitarbeiter Wicherns und führender Gemeinschaftsmann in Schleswig-Holstein, bekam 1886 von Jakob Gustav Siebel (1830-1894) im Siegerland die Anregung, eine Besprechung leitender Gemeinschaftsbrüder einzuberufen, auf welcher eine organisierte Zusammenarbeit der Gemeinschaftsbewegung beraten werden sollte. Nach dieser mehr vertraulichen Beratung schrieb v. Oertzen im Herbst 1886 an Graf Eduard von Pückler (1853-1924): „Schreibe umgehend einen Aufruf, mit dem wir in die Öffentlichkeit treten. Du mußt die N o t der Zeit und der Kirche schildern und den Weg der Hilfe zeigen". Nach etlichen weiteren Gesprächen trat dann vom 22. bis 24. Mai 1888 die erste Pfingstkonferenz der Gemeinschaftsbewegung in Gnadau bei Magdeburg zusammen. In der Einladung wurde ein doppelter Zweck der Konferenz angegeben: „I. Auf Grund der biblisch-reformatorischen Grundanschauungen das Recht der gemeinschaftlichen Privaterbauung, der Gemeinschaftspflege, der Evangelisation, sowie der Laienthätigkeit überhaupt in ihrem Verhältnis zum geordneten Amt und den Organen der Kirche klar zu stellen. II. Durch brüderliche Gemeinschaft und Gebet sich neu zu stärken für die vielfachen Aufgaben, welche die Arbeit für das Reich Gottes uns in der Gegenwart vorlegt" (Lange 84).
Die erste Gnadauer Pfingstkonferenz vereinigte 68 Theologen und 74 Gemeinschaftsleute aus anderen Berufen. Fast alle Gegenden Deutschlands waren vertreten. Christlieb bestimmte in seiner Begrüßung den Kurs der Gemeinschaftsbewegung als innerkirchlich, getreu seinem schon vorher geäußerten Wort „Wir wollen in der Kirche sein, wenn möglich mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche". Auch die weiteren Vorträge wirkten programmatisch. Friedrich Fabri (1824—1891), der Inspektor der Rheinischen Mission in Barmen sprach über „Berechtigung, Notwendigkeit und Grenzen der Laientätigkeit", v. Oertzen über „Die Notwendigkeit der organisierten Evangelisation neben dem pastoralen Amt und ihre Bedeutung für das kirchliche Leben", Generalsuperintendent Geß über „Heiligung", Superintendent Schmalenbach über „Gemeinschaft der Heiligen", Elias Schrenk über „Gebetsversammlungen" und Pastor Heinrich Coerper (1863-1936) über
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Gemeinschaftsbewegung
„Bibelstunden". Das ganze Spektrum der Gemeinschaftspraxis und -theologie war damit erfaßt. Die Gnadauer Pfingstkonferenzen fanden in der Folge zunächst alle zwei Jahre statt, ab 1902 in Schönebeck und von 1908 bis zum Ende des 1. Weltkriegs in Wernigerode. Ab 1920 traf man sich jährlich, und zwar zunächst in Halberstadt und von 1934 bis 1940 in Salzuflen. Nach dem 2. Weltkrieg waren Frankfurt/M. und Siegen Konferenzorte. Noch nicht in diesem Zusammenhang erwähnte „Väter Gnadaus" aus den Gründerjahren sind Theodor Haarbeck (1846-1923), Direktor des ]ohanneums, Otto Stockmayer, Rektor Christian Dietrich (1844-1919) aus Stuttgart, Ernst Modersohn (1870-1948) aus Bad Blankenburg und Walter Michaelis. Die Pfingstkonferenzen hatten einen wesentlichen Anteil daran, daß die Gemeinschaftsbewegung in der Zeit von 1888 bis 1903 eine bis heute einmalige Blütezeit erlebte. 1890 wurde das Deutsche Komitee für evangelische Gemeinschaftspflege gebildet, der rechtliche Vorläufer des späteren Verbandes. Ab 1891 erschien das Monatsblatt Philadelphia unter der Schriftleitung Chr. Dietrichs. Es erfreute sich bald großer Beliebtheit, so daß die Auflage 1902 über 8000 Exemplare erreichte. 1897 wurde schließlich die bis heute gültige Rechtsform des Deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflege und Evangelisation geschaffen. 39 Landes- und Provinzialverbände schlössen sich an. 3.2. Besondere Diskussionsthemen in jenen Jahren waren u.a. die Frage der Zusammenarbeit mit den Landeskirchen in der Evangelisation und die Frage der -»Heiligung. Drei Konferenzen in Eisenach in den Jahren 1902 bis 1904, die von einer Reihe von Universitätsprofessoren (Karl Bornhäuser, Hermann ->Cremer, Martin -»-Kahler, Wilhelm -»Lütgert, Adolf -»Schlatter u.a.) und Gemeinschaftstheologen (vor allem Theodor Jellinghaus, Samuel Keller, Johannes Lepsius) besucht waren, führten zur Gründung des Eisenacher Verbandes für kirchliche Evangelisation und für Pflege kirchlicher Gemeinschaft und evangelischen Lebens und ein Jahr später zum Eisenacher Bund. Aus verschiedenen Gründen war diesem Versuch einer geregelten Zusammenarbeit zwischen Gemeinschaftsbewegung und Landeskirche aber kein größerer Erfolg beschieden. Die führenden Gemeinschaftsleute waren nicht dabei; Vorbehalte in der Gemeinschaftsbewegung gegen Lepsius und Keller standen lähmend im Raum und in den landeskirchlichen Synoden war kaum evangelistisches Interesse lebendig. Breiten Raum in den Gemeinschaftskonferenzen und -publikationen nahm auch die Debatte über die rechte Art der Heiligung ein. Seit den englischen Konferenzen war dieses Thema immer wieder besprochen worden. Dabei ging es vorwiegend um die Frage, welche Stellung der Christ zur -»Sünde hat. Um die Jahrhundertwende veröffentlichte der pommersche Pastor Jonathan Paul eine Reihe von einschlägigen Schriften. In immer stärkerem Maße betonte er dort das „unablässige Bleiben in Jesus" und die völlige Erlösung „von jedem Hang zur Sünde". Auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1904 versicherte Paul, daß er seinen alten Menschen nicht mehr sehe und spüre. Obwohl dieser übersteigerten Heiligungslehre auf der Konferenz stark widersprochen wurde, pflanzte sie sich in vielen Gemeinschaftskreisen weiter fort und bereitete den Boden für den Einbruch der Pfingstbewegung 1906. 3.3. In der Blütezeit der Gründerjahre entstanden etliche z.T. heute noch bedeutende freie christliche Werke in der inneren Ausrichtung der Gemeinschaftsbewegung: das Blaue Kreuz als Hilfe für Alkoholkranke (gegründet 1877 in Genf, 1. deutscher Verein 1885); das Weiße Kreuz zur seelsorgerlichen Hilfe besonders bei sexuellen Nöten (gegründet 1883 in England, 1890 in Deutschland); der Jugendbund für entschiedenes Christentum (gegr. 1881 in Portland, USA als Christian endeavour, ersten. E.C.-Kreis in Deutschland 1894), der erste deutsche Christliche Verein junger Männer (gegründet 1883 in Berlin auf Initiative F. v. Schlümbachs); die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (gegründet 1895); Vereinigung christlicher Postbeamten und Eisenbahner (gegründet vor und um 1900); Ausbildungsstätten für Männer, wie das schon genannte Johanneum, das Missionsseminar Neukirchen (gegründet um 1880), das Missionsseminar der Liebenzeller
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Mission (gegründet 1899 von Pastor Heinrich Coerper [ 1 8 6 3 - 1 9 3 6 ] ) , das Evangelische Gemeinschaftsbrüderhaus in Preussisch Bahnau (jetzt Unterweißach; gegründet 1906 von Pastor Carl Lange) und das Brüderhaus Tabor in M a r b u r g (gegründet 1909 von Pastor Theophil Krawielitzki [ 1 8 6 6 - 1 9 4 2 ] ) ; für Frauen die Diakoniehäuser M i e c h o w i t z / O b e r schlesien (gegründet 1890 von Eva v. Tiele-Winckler [ 1 8 6 6 - 1 9 3 0 ] ) , Vandsburg/ Westpreußen (gegründet 1899 von Pastor Carl Ferdinand Blazejewski [ 1 8 6 2 - 1 9 0 0 ] , weitergeführt von Pastor Krawielitzki [s.o.] unter dem Namen Evangelisches Gemeinschaftsschwesternhaus) sowie das Bibelhaus Malche bei Freienwalde/Oder (gegründet 1898 von Pastor Ernst L o h m a n n [ 1 8 6 0 - 1 9 3 6 ] ) . 3.4. Ihre seither schwerste Belastungsprobe mußte die Gemeinschaftsbewegung 1 9 0 6 - 1 9 0 9 in der Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung bestehen. Der Ursprung der modernen Pfingstbewegung liegt in den USA, w o 1 9 0 5 / 0 6 in einer baptistischen Negergemeinde in Los Angeles das sogenannte Zungenreden auftrat, ein Sprechen und Singen in unverständlichen Lauten, z . T . mit ekstatischen Begleiterscheinungen. Der norwegische Methodistenprediger T h o m a s B. Barratt ( 1 8 6 2 - 1 9 4 0 ) brachte die neue Bewegung nach Europa. In weiten Teilen der Gemeinschaftsbewegung herrschte dafür große Aufnahmebereitschaft, die durch ein allgemeines Streben nach vertieftem geistlichen Leben, starkes Interesse an Endzeit- und Heiligungsfragen und eine große Sehnsucht nach Erweckung vorbereitet war. Viele Gemeinschaftsführer beurteilten die Nachrichten über die neue Bewegung positiv. Im Evangelischen Allianzblatt wurde von „Taten G o t t e s " gesprochen, der schlesische Prediger Eugen Edel (1872—1951) sah die Weissagung von J o e l 3 sich erfüllen, der Evangelist Heinrich Dallmeyer (1870—1925) lud zwei norwegische Pfingstlerinnen, denen er in H a m b u r g begegnete, im Juli 1907 zu Vorträgen nach Kassel ein. Dies war die Geburtsstunde der deutschen Pfingstbewegung. Die Kasseler Versammlungen fanden vom 7. Juli bis 2. August 1907 im dortigen Blau-Kreuz-Haus statt. N a c h anfangs betont ernsten und konzentrierten Ansprachen setzte bald das Zungenreden ein, wiederholt mit ekstatischen Begleiterscheinungen. Zungenbotschaften in der ersten Person „Ich, der H e r r . . . " , Fernheilungen und Weissagungen verursachten teils große Erschütterung, teils Empörung. Erfahrene Gemeinschaftsführer wie T h e o d o r H a a r b e c k und Elias Schrenk, beide Augenzeugen, hatten zunächst ein positives Urteil. Erst als die Versammlungen immer tumultuarischer wurden und es zu Straßenaufläufen k a m , so daß schließlich sogar die Polizei einschritt, setzte bei vielen ein gründliches Nachdenken ein. J o h a n n e s Seitz trat mit mehreren Artikeln im Evangelischen Allianzblatt an die Öffentlichkeit, in denen er aus seiner seelsorgerlichen Erfahrung die Pfingstbewegung für schriftwidrig erklärte: „Jedes Zungenreden das die Schrift wider sich hat, das mit dem Zungenreden der Schrift nicht übereinstimmt, das ein schriftwidriges Zungenreden ist, das stammt sicher von einem fremden, argen, bösen Geist, und wenn es auch noch so herrlich und göttlich zu sein s c h e i n t . . . Durch die Zungenredner läßt man Christum selbst in der ersten Person zur Gemeinde reden. Die Zungenredner haben Botschaften an die Gemeinde, geben Weissagungen, die hin und wieder in Wahrsagerei ausarten; anstatt d a ß der Zungenredner nach der Schrift mit G o t t redet, wird jetzt die Gemeinde fortwährend durch den Zungenredner angeredet oder angepredigt; es werden Sünden durch den Zungenredner aufgedeckt - alles Dinge, die schriftwidrig sind und darum dem argen Geist der Unordnung entstammen, der immer die göttlichen Ordnungen verkehrt und auf den K o p f stellt" (Seitz: Kaiser
55).
Die allgemeine Ernüchterung machte sich schon Ende August 1907 auf der Allianzkonferenz in Bad Blankenburg bemerkbar. Das von manchen erwartete Zungenreden blieb aus. H . Dallmeyer widerrief im O k t o b e r 1907 seine vorherige Unterstützung der Pfingstbewegung. Aber die eigentliche Zerreißprobe begann erst. In Großalmerode und in verschiedenen Gegenden Ostdeutschlands begann die Pfingstbewegung sich in den Gemeinschaftskreisen trotz aller Warnungen auszubreiten. Eine im Dezember 1907 von H a a r b e c k und Schrenk nach Barmen einberufene Konferenz, zu welcher auch Pfingstanhänger erschienen, versuchte mit einem Kompromißbeschluß den entstandenen R i ß zu
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überbrücken. Aber die Unterschiede waren zu tief. Die Pfingstvertreter blieben vom göttlichen Ursprung ihrer Bewegung überzeugt und begannen sich zu organisieren. Im Dezember 1908 fand in Hamburg ihre erste Konferenz mit Pfingstlern aus verschiedenen Ländern Europas statt. Ab Februar 1909 erschien ihre Zeitschrift Pfingstgrüße. Die Redaktion lag bei J.Paul. Im Juli 1909 fand die 1. Mülheimer Pfingstkonferenz mit über 1700 Teilnehmern statt. Der Weg in die Separation hatte begonnen. Die Verantwortlichen der Gemeinschaftsbewegung sahen diese Entwicklung mit großer Unruhe. Sie konnten trotz verschiedener Stellungnahmen nicht verhindern, daß besonders im Osten Deutschlands viele Gemeinschaftskreise der Pfingstbewegung zufielen. Im April 1909 stellte Georg von Viebahn (1840-1915) dem Verbandsvorsitzenden W. Michaelis die Frage: „Können wir eigentlich länger zusehen, wie Brüder in immer weiterem Umfange in die Zungenbewegung sich hineinziehen lassen?" Damit löste er einen monatelangen intensiven Austausch und schließlich eine Konferenz führender Gemeinschaftsleute in Berlin aus. Als Ergebnis wurde die sogenannte Berliner Erklärung vom September 1909 veröffentlicht. Sie ist unterschrieben u.a. von Michaelis, v. Rothkirch, Schrenk, Seitz, Stockmayer, v. TieleWinckler und v. Viebahn. Die wichtigsten Sätze lauten: „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten; sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr D ä m o n e n , welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fällen haben sich die sogenannten ,Geistbegabten' als besessen erwiesen... Der Geist in dieser Bewegung bringt geistige und körperliche Machtwirkungen hervor; dennoch ist er ein falscher Geist. Er hat sich als ein solcher e n t l a r v t . . . Der Geist dieser Bewegung führt sich durch das W o r t Gottes ein, drängt es aber in den Hintergrund durch sogenannte ,Weissagungen' (vgl. 2. Chron. 1 8 , 1 8 - 2 2 ) . . . Die Gemeinde Gottes in Deutschland hat Grund sich tief zu beugen darüber, daß diese Bewegung Aufnahme finden konnte. W i r alle stellen uns wegen unsrer Mängel und Versäumnisse, besonders auch in der Fürbitte, mit unter diese Schuld . . . Insonderheit aber ist die unbiblische Lehre vom sogenannten ,reinen Herzen' für viele Kreise verhängnisvoll und für die sogenannte Pfingstbewegung förderlich gewesen. Es handelt sich dabei um den Irrtum, als sei die,innewohnende Sünde' in einem begnadigten geheiligten Christen a u s g e r o t t e t . . . W i r erwarten nicht ein neues Pfingsten, wir warten auf den wiederkommenden H e r r n . . . " .
Die Gemeinschaftskreise standen mit der Berliner Erklärung nun vor der Entscheidung, für oder gegen die Pfingstbewegung Stellung nehmen zu müssen. Abgesehen von einigen neutralen Verbänden in Pommern, Westpreußen und Posen sowie Gemeinschaftsführern wie Modersohn, Vetter und Coerper, welche eine noch abwartende Stellung einnahmen, kam es nun innerhalb weniger Monate in der Gemeinschaftsbewegung zu einer allgemeinen Distanzierung von der Pfingstbewegung. Die durch die Pfingstler selbst begonnene organisatorische Absonderung von der Gemeinschaftsbewegung war zur endgültigen Trennung geworden. Den vorläufigen Schlußpunkt setzte die Gnadauer Pfingstkonferenz 1910, wo der bald 80jährige Elias Schrenk das Hauptreferat über „Das Bedürfnis der Gemeinde Gottes nach einer größeren Ausrüstung mit Geisteskraft und die Bedingungen für eine schriftgemäße Befriedigung desselben" hielt und damit die längst überfällige theologische Antwort auf das Pfingstlertum gab. 4. Die Entwicklung
bis 1945
4.1. Mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1918 war auch die Zeit des landesherrlichen -»Kirchenregiments zu Ende gegangen (vgl. T R E 8,589f). Die evangelischen ->Landeskirchen mußten sich neu ordnen. Auch die Gemeinschaftsbewegung war nach ihrem Selbstverständnis gefragt.. Da und dort wurden Tendenzen zur Separation (-»Separatisten/Separatismus) von der Kirche sichtbar. Aber der Gnadauer Vorstand blieb beim grundsätzlichen Ja zum Verbleiben in der Volkskirche. Der Vorsitzende Michaelis bekannte sich zum Leitwort Christliebs: „In der Kirche, soweit möglich mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche." Von einer Neuordnung der Kirchen erhoffte er sich im wesentlichen die Freigabe des Abendmahls für die Gemeinschaften, die Anerkennung der Verkündigung durch Nichtordinierte und eine Änderung des Parochialrechts.
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Auch Modersohn sprach trotz massiver Kritik an der verweltlichten Kirche sein Ja zum Bleiben. Die Gemeinschaftsbewegung war ihrem Anliegen, Evangelisation und persönliche Gemeinschaft in den bestehenden Kirchen zu fördern, treu geblieben. In verschiedenen Gutachten, u.a. in zehn von den Professoren Otto Schmitz (1883-1957) und Karl ->Heim vorgelegten „Grundsätzen für die Umgestaltung unserer Landeskirche zu einer freien evangelischen Volkskirche" (1919; abgedruckt bei Lange 296 ff) bot die Gemeinschaftsbewegung den Kirchenbehörden ihre Mithilfe am Neubau der evangelischen Landeskirchen an. Leider nahmen die Kirchenleitungen die ausgestreckte Hand kaum an. Die Wünsche der Gemeinschaftsbewegung fanden in den neuen Kirchenverfassungen wenig Beachtung. Eine wertvolle Chance für eine gegenseitige Befruchtung von Gemeinschaftsbewegung und Landeskirche wurde vertan. 4.2. Ein Beispiel für ungeschicktes Verhalten einer Kirchenleitung gegenüber der Gemeinschaftsbewegung ist das „Kirchengesetz über außergewöhnliche Erbauungsstunden", das 1924 vom Bayrischen Landeskirchenamt herausgegeben wurde. Unter Androhung von Kirchenzuchtmaßnahmen wird hier die Anzeigepflicht der Gemeinschaftsstunden beim Pfarramt und jederzeitiges Besuchsrecht des Ortspfarrers bzw. eines Bevollmächtigten des Kirchenvorstandes festgelegt. Es wundert nicht, daß ein Jahr später die Vorsitzenden der 32 Landes- und Provinzialverbände dieses Gesetz bitter beklagen. 4.3. Eine gute Zusammenfassung der theologischen Leitlinien der Gemeinschaftsbewegung war die Schrift des Vorsitzenden Michaelis Das Evangelium in der Wortverkündigung, in der Taufe und im Herrenmahl (Berlin 1929). Der Verfasser bekennt sich uneingeschränkt zum reformatorischen Erbe. Er nimmt Stellung gegen eine zu stark fordernde Bekehrungspredigt und gegen eine zu strenge Abendmahlspraxis, nach welcher das Abendmahl nur von Bekehrten empfangen werden darf. Michaelis stieß mit seiner Auffassung in der Gemeinschaftsbewegung auch auf scharfen Widerspruch, vor allem von Friedrich Heitmüller (1888-1965), welcher den Gemeinschaftskreisen eine zu starke Verkirchlichung vorwarf und konsequenterweise 1934 mit seiner Gemeinschaft am Holstenwall (Hamburg) aus der Landeskirche und dem Gnadauer Verband austrat. 4.4. Die Machtergreifung des Nationalsozialismus im Januar 1933 führte den Gnadauer Vorstand in ein mehrmonatiges hartes Ringen um den künftigen Kurs der Gemeinschaftsbewegung {-*Kirchenkampf). Die Gnadauer Pfingstkonferenz drückte im Juni 1933 noch ihren Dank gegen Gott für den erhofften staatlichen Schutz von Ehe und Familie aus und rief zur Fürbitte für Hindenburg und Hitler auf. Gleichzeitig setzte aber schon durch den Vorstand die Abwehr aller Versuche der -»Deutschen Christen ein, die Gemeinschaftsbewegung zu integrieren. Doch die Auseinandersetzung begann erst. Nachdem die „Kirchenwahlen" vom 23. Juli 1933 den „Deutschen Christen" fast überall die absolute Mehrheit gebracht hatten, drohte die neue „Glaubensbewegung" in die Gemeinschaftskreise einzubrechen. Einzelne Verbände trafen direkte Abmachungen mit ihren D.C.-Kirchenleitungen, Gemeinschaftsprediger schlössen sich den Deutschen Christen an. In einer Vorstandssitzung im August 1933 legte der Beauftragte der „Deutschen Christen" für die Gemeinschaftsbewegung, Pastor Karl Jakubski, 16 Punkte zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Gemeinschaft und Kirche vor. Neben vielen Zugeständnissen an die Gemeinschaftsanliegen forderte er u. a. Anerkennung des „Führerprinzips" und Loyalität zum „Reichsbischof". Wohl unter dem Eindruck des unerwarteten Entgegenkommens stimmten von 35 wahlberechtigten Vorstandsmitgliedern 24 für die Annahme dieser Sätze. Michaelis war damit zum „Reichsgemeinschaftsführer" geworden. Doch wenige Wochen später änderte sich die Lage wieder. Angesichts der Arbeit der preußischen Generalsynode und des Totalitätsanspruchs, den die „Deutschen Christen" immer offener erhoben, stellte er auf einer weiteren Vorstandssitzung sein Amt zur Verfügung. Nun überschlugen sich die Ereignisse. Michaelis, noch kommissarisch im Amt, beschloß noch vor seinem endgültigen Ausscheiden, eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwischen ..Gnadau" und den ..Deutschen Christen" herbeizuführen. Vier Wo-
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chen n a c h der berüchtigten S p o r t p a l a s t v e r s a m m l u n g der „ D e u t s c h e n C h r i s t e n " , am 12. D e z e m b e r 1 9 3 3 , hielt er v o r d e m Vorstand ein R e f e r a t unter dem T h e m a „Weltgeschichtliche Ereignisse o d e r n u r die Heilige Schrift als O f f e n b a r u n g s q u e l l e ? " , w o d u r c h er einen nahezu einstimmigen V o r s t a n d s b e s c h l u ß herbeiführte, der die endgültige Scheidung der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g von den „ D e u t s c h e n C h r i s t e n " zum Inhalt hatte. D a mit h a t t e n die G e m e i n s c h a f t s f ü h r e r wieder zu ihrem unabhängigen, nur der Evangelisation und G e m e i n s c h a f t s p f l e g e verpflichteten K u r s gefunden. 1 9 3 4 wurde die F r a g e eines eventuellen Anschlusses an die B e k e n n e n d e K i r c h e aktuell. M i c h a e l i s formulierte die H a l t u n g des G n a d a u e r V o r s t a n d e s in den Sätzen: „ W i r gehören an die Seite der B e k e n n t nisfront. W i r unterstellen uns n i c h t ihrer L e i t u n g . " D i e grundsätzliche Z u s t i m m u n g zur B e k e n n e n d e n K i r c h e — trotz V o r b e h a l t e n gegen zu stark lehrhafte, s a k r a m e n t a l e und liturgische T e n d e n z e n - zeigte sich a u c h im Beitritt des Gnadauer Verbandes zur Arbeits-
gemeinschaft der missionarischen und diakonischen Verbände der Deutschen Evangelischen Kirche im November 1934. Der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband vollzog diesen A n s c h l u ß n i c h t mit und schied im M a i 1 9 3 5 aus dem Gnadauer Verband aus (Wiedereintritt n a c h dem 2. Weltkrieg). Bis zum Kriegsende ist es „ G n a d a u " gelungen, trotz mannigfaltiger B e h i n d e r u n g e n den E n d e 1933 gefundenen K u r s zu halten. Angesichts des Faktenmaterials, das seit Rüppels Arbeit vorliegt, ist eine undifferenzierte Kritik an der Haltung der Gemeinschaftsbewegung zum 3. Reich nicht mehr zulässig (vgl. W. Hollenweger, der dem Gnadauer Verband pauschal „politische Naivität" und noch größere „theologische Inkompetenz" vorwirft [Art. Evangelisation: T R E 10,638]; vgl. auch TRE 10,637,50ff). Es muß hervorgehoben werden, daß der Gnadauer Vorstand - nach mehrmonatigem Schwanken - noch 1933 sich entschieden von den „Deutschen Christen" und ihrer Ideologie abgewendet hat. Die zentrale theologische Frage, ob politischen Ereignissen Offenbarungscharakter zukommen kann, wurde von Michaelis schon zu dieser Zeit mit einem klaren Nein beantwortet. Damit hat der Gnadauer Verband ein halbes Jahr vor der Barmer Theologischen Erklärung ein mutiges Zeichen kirchlichen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Ideologie gesetzt.
5. Arbeit und Selbstverständnis der Gemeinschaftsbewegung
von 1945 bis 1983
D e r Z u s a m m e n b r u c h des 3 . R e i c h e s b r a c h t e auch für die G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g s c h w e r e Verluste mit sich. E i n e g r o ß e A u f g a b e bestand in der Integration der Flüchtlinge in g a n z anders g e w a c h s e n e n und gearteten G e m e i n s c h a f t s k r e i s e n . Es ergaben sich durch die neuen Impulse Krisen, a b e r a u c h C h a n c e n . D e r H a u p t v o r s t a n d setzte schon 1 9 4 6 seine Arbeit f o r t . W i e schon n a c h dem 1. Weltkrieg kam es zu einer R e i h e von Begegnungstagungen mit V e r a n t w o r t l i c h e n aus G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g und L a n d e s k i r c h e n . Besonders e r w ä h n e n s w e r t sind die beiden Treffen in B a d Boll 1 9 4 7 und 1 9 4 8 , die auf Initiative des Akademieleiters E b e r h a r d M ü l l e r und P a s t o r M a x Fischers aus Unterw e i ß a c h z u s t a n d e k a m e n . E i n e wesentliche A n n ä h e r u n g der theologischen S t a n d p u n k t e h a b e n diese T a g u n g e n allerdings nicht g e b r a c h t . W. M i c h a e l i s h a t zurecht gemeint, d a ß solche G e s p r ä c h e „ b e i den letzten, grundsätzlichen Unterschieden im S c h r i f t v e r s t ä n d n i s " einsetzen m ü ß t e n . A u f der H e r b s t k o n f e r e n z 1 9 4 9 sagte M i c h a e l i s einige p r o g r a m m a t i sche W o r t e , die im G e m e i n s c h a f t s b l a t t unter dem T i t e l Gnadau, Kurs halten! a b g e d r u c k t w u r d e n . Sie h a b e n bis heute den K u r s b e s t i m m t . D e r G n a d a u e r Vorsitzende spricht d o r t von den G a b e n und A u f g a b e n der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g . Als G a b e n nennt er u. a. die lockere O r g a n i s a t i o n s f o r m , die b i b e l g e b u n d e n e T h e o l o g i e und Verkündigung sowie das Wissen um den „ S t a n d der G o t t e s k i n d s c h a f t " . Aus ihnen sieht er im wesentlichen drei A u f g a b e n e r w a c h s e n : die A b w e h r des S c h w a r m g e i s t e s , das Eintreten für die N o t w e n d i g keit des persönlichen G l a u b e n s l e b e n s und für Bibelverbreitung. D a s theologische E n g a gement „ G n a d a u s " hat sich seitdem o f t m a l s gezeigt, s o w o h l in gründlichen R e f e r a t e n a u f den beiden J a h r e s k o n f e r e n z e n als a u c h in öffentlichen Verlautbarungen des Vorstands und Veröffentlichungen. D i e wichtigsten Gnadauer Worte in der N a c h k r i e g s z e i t - s i e sind gleichzeitig ein Spiegel der K i r c h e n - und T h e o l o g i e g e s c h i c h t e - sind folgende: 1951 „Zum Streit um die Entmythologisierung des Neuen Testaments (Gegen die Entleerung der neutestamentlichen Borschaft vom Kreuz und der Auferstehung Christi)". 1956 „Gnadaus Stel-
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lung gegenüber dem Schwärmertum" (Gegen die schwärmerischen Bewegungen um Röckle, Zaiß und Branham; erneute Bekräftigung der „Berliner Erklärung"). 1961 „Erklärung des Gnadauer Vorstandes zur Autorität der Heiligen Schrift" (Bekenntnis zur Bibel als Wort Gottes „gewirkt und durchweht vom Heiligen Geist und unbedingt wahrhaftig und vertrauenswürdig"; gottgewolltes Verständnis der Schrift nur durch den Heiligen Geist; Einheit des Wortes Gottes als „in der Heilsgeschichte" geschehen, „im Zeugnis der Bibel" geschrieben und „in vollmächtiger Evangeliumspredigt" verkündigt). 1962 „Ein helfendes Wort Gnadaus zur Frage nach der ökumenischen Bewegung" (Chancen und Gefahren der ökumenischen Bewegung. Anliegen „Gnadaus": Der ökumenische Weltrat darf keine „Uberkirche" werden, benötigt eine Bekenntnisgrundlage und darf das Missionsanliegen nicht verfälschen). 1976 „Kirche und Gemeinschaft" (Standortbeschreibung der Gemeinschaftsbewegung. Sie weiß sich „von Gott in die Volkskirche gestellt, . . . aber nicht kirchlichen Amtsträgern und Behörden unterstellt." Warnung vor Lehrpluralismus und der wachsenden Annäherung der Evangelischen Kirche in Deutschland an die römisch-katholische Kirche und den ökumenischen Weltrat der Kirchen). 1977 „Manifest zur Frage der Evangelisation in der deutschen Gemeinschaftsbewegung" (Aufruf „zu einer neuen evangelistischen Offensive"). 1979 „Erklärung zum Weg des ökumenischen Rates der Kirchen" (Gegen das „Antirassismus-Programm", Aufforderung an die EKD, die Mitgliedschaft im ÖRK ruhen zu lassen, Vorschlag zur Einberufung einer internationalen kirchlichen Konsultation). 1979 „Wort an Eltern, Lehrer und Erzieher" (Ein fünffaches Ja zu Ehe und bewußter Elternschaft, zur Persönlichkeit des Kindes, zu seiner allmählichen Entwicklung, zu echter Autorität und zu Mitverantwortung in Schule und Bildungspolitik). 1980 „Wort an die Ärzteschaft" (Dank an die Ärzte, welche nicht bereit sind, „die erweiterte Indikationslösung, die die Neufassung des § 218 StGB zuläßt, zu praktizieren"). 1981 „Wort zur Friedensfrage" (gegen tagespolitische Ideologisierung des Wortes Gottes, dringender Hinweis auf die Notwendigkeit vollmächtiger Verkündigung von Christus als eigentlichem Friedensstifter). 1981 „Gunzenhausener Aufruf" (Aufforderung zu umfassender Fürbitte und Evangelisation). Seit 1982 finden theologische Gespräche zwischen der EKD und dem Gnadauer Verband statt. N e b e n diesen theologischen Stellungnahmen hat der G n a d a u e r Verband seit dem 2. Weltkrieg vielfältige Arbeitsformen entwickelt und Aktivitäten entfaltet. Z u den zentralen Pfingstkonferenzen traten dezentralisierte Herbstkonferenzen. Die Mitgliederversammlungen, welche zweimal im J a h r stattfinden, „sind der O r t des gemeinsamen Ringens um den Weg der Gemeinschaftsbewegung". An Arbeitskreisen entstanden u . a . ein Theologischer Beirat, der Gnadauer Arbeitskreis für Evangelisation und der G n a d a u e r pädagogische Arbeitskreis. Dieser veröffentlichte z . B . 1 9 8 0 eine Alternative zu den Rahtnenrichtlinien für die Sekundarstufe I in evangelischer Religion. Außerdem gibt er eine eigene Schriftenreihe heraus. Seit 1978 erscheint der Gnadauer Materialdienst. 1980 w u r d e das Elias-Schrenk-Institut der G n a d a u e r Z e n t r a l e eingegliedert. Ein gelungenes E x p e r i m e n t w a r der 1. Gnadauer Kongreß 1981 in Günzenhausen unter dem Leitwort „Schritte zur M i t t e " . E r soll 1 9 8 4 in Essen als missionarischer Kongreß „Schritte zu den M e n s c h e n " fortgesetzt werden. 1 9 8 3 umfaßt der G n a d a u e r Verband 28 Einzelverbände, 6 Ausbildungsstätten und 6 Missionswerke. Ferner sind der Bund Deutscher Gemeinschafts-Diakonissen-Mutterhäuser (6 M u t t e r h ä u s e r und 1 Schwesternschaft) und der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband Marburg (6 Mutterhäuser) sowie als Werke mit besonderer Aufgabenstellung das Blaue Kreuz, der Deutsche Verband der Jugendbünde für entschiedenes Christentum ( E C ) , der Evangelische Sängerbund, der Gnadauer Posaunenbund, die Reichgottesarbeiter-Vereinigung und der Taschenbibelbund für Deutschland angeschlossen. Über die einzelnen Mitglieder informiert gut die Broschüre Der Gnadauer Verband (1979). Die Vorsitzenden des G n a d a u e r Verbandes waren: E . v. Pückler (1894—1904), W. Michaelis ( 1 9 0 6 - 1 9 1 1 und 1 9 1 9 - 1 9 5 3 ) , T h . H a a r b e c k ( 1 9 1 1 - 1 9 1 9 ) ; seit 1971 K u r t Heimbucher. Zum Verband gehören auf dem Gebiet der Bundesrepublik 1983 etwa 3900 Gemeinschaftskreise, 1300 Kinder- und Jugendkreise, etwa 5100 Diakonissen und über 400 Schüler in den verschiedenen Ausbildungsstätten. In der DDR gibt es fünf Gemeinschaftsverbände, die zum „Evangelisch-Kirchlichen Gnadauer Gemeinschaftswerk" (Sitz in Woltersdorf) gehören. Die Vorsitzenden waren Arthur Mütze (bis 1963), Pastor Frietjof Glöckner (1963-1969) und Helmut Appel (1969-1977); seit 1978 Joachim Mertens. D a s Selbstverständnis der modernen Gemeinschaftsbewegung wird in der schon ge-
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Gemeinschaftsbewegung
nannten Broschüre Der Gnadauer Verband unter folgenden acht Merkmalen ausgedrückt: „Der Ruf zur Bekehrung als der erstmaligen und entscheidenden Umkehr des Menschen aus dem Unglauben zum Glaubensgehorsam aufgrund des Heilsangebotes im Evangelium. 2. Die Lehre von der Wiedergeburt als dem Werk des Heiligen Geistes. 3. Die durch die Gotteskindschaft begründete Gemeinschaft der Glaubenden, die sich im gemeinsamen Hören auf das Wort und im Dienst der Liebe betätigt. 4. Die Bedeutung des persönlichen und gemeinsamen Gebetes (Gebetsgemeinschaft). 5. Der Ruf zur Heiligung, zum Leben in der Nachfolge Jesu. 6. Die Beteiligung der Laien an der Wortverkündigung und die Aktivierung aller Glieder zum Dienst für das Reich Gottes. 7. Anerkennung der ganzen Heiligen Schrift als alleinigen und verbindlichen Maßstabs für Glauben und Leben im Sinne der reformatorischen Bekenntnisse. 8. Bejahung der Innerkirchlichkeit bei Wahrung organisatorischer Unabhängigkeit" (Der Gnadauer Verband. Auftrag und Grundlagen seiner Verbände und Werke. Eine Selbstdarstellung, Dillenburg 1979,7 f). Seit 1983 hat der Gnadauer Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation e. V. eine neue Satzung. Die grundlegenden Abschnitte lauten: ,,(1) Der Verband steht auf dem Boden der Heiligen Schrift, der reformatorischen Bekenntnisse und des biblischen Erbes des Pietismus. Er ist ein freies missionarisches Werk innerhalb der evangelischen Kirchen. (2) Der Verband will a) durch Evangelisation Menschen zum lebendigen Glauben an Jesus Christus rufen, b) durch Gemeinschaftspflege Hilfe zum christlichen Leben und Zurüstung zur Mitarbeit in der Gemeinde geben, c) durch Unterstützung der Mission zur Ausbreitung des Evangeliums in aller Welt beitragen, d) durch diakonische Tätigkeit aus dem Evangelium begründete soziale Verantwortung wahrnehmen, e) durch christliches Schrifttum, Bild und Ton das biblische Zeugnis ausbreiten." 6. Außerdeutsche
Gemeinschaftsbewegung
In -»Österreich waren auf Einladung der Gräfin Elvine de la Tour (1841-1916) schon seit 1893 Evangelisten von Chrischona und Preußisch Bahnau tätig. 1912 wurde die Evangelische Gesellschaft in Österreich und 1922 der Christliche Missionsverein für Österreich gegründet, welcher seit langem dem Gnadauer Werk angeschlossen ist. In der -»Schweiz bilden die St.-Chrischona-Gemeinschaften eine -»Freikirche. Gemeinschaftsarbeit im Sinne der landeskirchlichen Gemeinschaft leisten u. a. die Evangelischen Gesellschaften, das Blaue Kreuz und freie Werke wie das 1916 gegründete Gott-hilft-Werk. Die Evangelisationsarbeit ist seit 1965 in der Schweizer Evangelistenkonferenz koordiniert. In den -»Niederlanden wurde durch Kontakte mit führenden deutschen Gemeinschaftsleuten 1922 der Nederlandse christelijke Gemeenschapsbond gegründet, dem heute neben landeskirchlichen auch freikirchliche Mitglieder angehören. Er ist dem Gnadauer Verband angeschlossen. Die ehemaligen bessarabischen Gemeinschaften konnten nach dem letzten Krieg z. T. im Evangelischen Gemeinschaftsverband Nord-Süd eine neue Heimstätte finden. Auch er gehört seit seiner Gründung zum Gnadauer Werk. Die Evangeliumschristen-Baptisten in der Sowjetunion haben eine ihrer geschichtlichen Wurzeln in der Tradition der Gemeinschaftsstunden ausgewanderter württembergischer Pietisten. In -»Dänemark existiert schon seit 1861 eine organisierte Gemeinschaftsarbeit. Sie wurde von Pastor Johann Vilhelm Beck (1829-1901) begründet und lange geleitet. Die norwegische Gemeinschaftsbewegung (-»Norwegen) geht zurück auf den Erweckungsprediger Hans Nielsen Hauge (1771-1824). Aus der norwegischen Erweckung entstand 1891 die Norwegische lutherische Gesellschaft für innere Mission, welche bis jetzt evangelistisch und diakonisch im Sinn der Gemeinschaftsbewegung arbeitet. In -»Schweden wurde 1856 durch Carl Olof Rosenius (1816-1868) die „Evangelische Vaterlandsstiftung" ins Leben gerufen, welche seit 1878 im „Schwedischen Missionsbund" weiterlebt, der im freikirchlichen Sinn eigene Gemeinden gründet und eine ausgedehnte Missionsarbeit unterhält. -»Finnland hat vom Beginn des 19. Jh. an bis jetzt umfassende kirchliche Erweckungen erlebt, die zu einer starken Gemeinschaftsbewegung geführt haben (zu den Ländern Skandinaviens insgesamt vgl. T R E 10,215 f).
Gemeinschaftsbewegung Quellen und
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Literatur
Theodor Christlieb, Die Ausbildung evangelistisch begabter Männer zum Dienst am Wort, Kassel 1888. - Heinrich Dalimeyer, Die Gemeinschaftsbewegung, ihre Arbeit u. Aufgabe, Neumünster 1914. - Ders., Die Zungenbewegung. Ein Beitr. zu ihrer Gesch. u. einer Kennzeichnung ihres Geistes, Lindhorst 1924. - Christian Dietrich/Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der ev. Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903. - Carl Eichhorn, Die Gemeinschaft nach biblischem Vorbild, Kulmbach 1934. - Paul Fabianke, Die Zukunft der Gemeinschaften. Eine Unters. über Form u. Geist, Bamberg 1933. - Max Fischer/Hans Iwand, Wie wir uns fanden, Stuttgart 1947. - Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. I. Die Gesch. der dt. Gemeinschaftsbewegung bis zum Auftreten des Zungenredens (1875-1907), Leipzig 3 1912; II. Die Zungenbewegung in Deutschland, Leipzig 1914. - Ders., Die innere Entwicklung der dt. Gemeinschaftsbewegung in den Jahren 1906 u. 1907, Leipzig 1908. - Ders., Die Pfingstbewegung in Deutschland, Hannover 1957. - Flugfeuer fremden Geistes, Denkendorf 4 1976. - Glauben - Lehren - Erziehen. Schriftenreihe des Gnadauer pädagogischen Arbeitskreises, Dillenburg 1979f¥. - Gnadauer Materialdienst, Dillenburg 1978 ff. - Der Gnadauer Verband. Auftrag und Grundlagen seiner Verbände und Werke. Eine Selbstdarstellung, Dillenburg 1979. - Hermann Haarbeck, Der Dienst Gnadaus. Ein Wort zum Selbstverständnis u. zur Selbstbesinnung der landeskirchl. Gemeinschaften, Berlin 1968. - Hermann Haarbeck/Arno Pagel (Hg.), Eine offene Tür. Zum 75jährigen Bestehen der Gnadauer Konferenzen, Denkendorf 1963. - Theodor Haarbeck, Die Pfingstbewegung in gesch., bibl. u. psychologischer Beleuchtung, Barmen 1910. - Kurt Heimbucher, Um etliche zu gewinnen. Gedanken zum missionarischen Leben, Neuhausen-Stuttgart 1982. - Ders., Art. Gnadauer Verband: Ev. Gemeindelexikon (1978) 212. 214-227. - Ders. (Hg.), Schritte zur Mitte. Arbeitsbuch Gnadauer Kongreß '81, Dillenburg 2 1982. - Ders. (Hg.), Das bibl. Zeugnis vom Heiligen Geist, Denkendorf 1973. - Ders. (Hg.), Eine Gnade, viele Gaben. Beitr. zum bibl. Zeugnis von den Gnadengaben, Dillenburg 1980. - Friedrich Heitmüller, Die Krisis der Gemeinschaftsbewegung. Ein Beitr. zur Uberwindung, Hamburg 1931. - Theodor Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum, Berlin 1903. - Heinrich Jochums, Unser Auftrag heute. Haben die Gemeinschaften noch eine Zukunft? ( = Aktuelle Fragen Band 1), Wuppertal-Elberfeld 1959. - Otto Kaiser, Erlebnisse u. Erfahrungen mit der Pfingstbewegung, Gießen 1948. - Samuel Keller, Sieben Bitten an die Gemeinschaftsbewegung, Hagen 1901. - Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die dt. Gemeinschaften im ausgehenden 19. u. beginnenden 20. Jh. u. ihre Stellung zur Kirche, Theol. u. Pfingstbewegung, Berlin (DDR) 1979 [Eine Ausgabe in der BRD erschien ebenfalls 1979 in Gießen]. - Walter Michaelis, Das Evangelium in der Wortverkündigung, in der Taufe u. im Herrenmahl, Berlin [um 1929],-Ders., Erkenntnisse u. Erfahrungen aus 50jährigem Dienst am Evangelium, Gießen 2 1949 [Neuhausen-Stuttgart 3 o.J.]. - Ders., Der Weg des Gnadauer Verbandes, Offenbach/M. 1949. Ernst Modersohn, Er führet mich auf rechter Straße, Bad Blankenburg 5 1948. - Ders., Wer wir sind u. was wir wollen, Bad Blankenburg 1931. - Jörg Ohlemacher, Die Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Quellen zu ihrer Gesch. 1887-1914, 1977 (TKTG 23). - Arno Pagel, Der Jugendbund für entschiedenes Christentum - Gesch., Grundsätze, Organisation, Kassel 1954. - Werner Paschko, Art. Gemeinschaftsbewegung: Ev. Gemeindelexikon (1978) 200-204. - Fritz Rienecker, Bibl. Kritik am Pietismus alter u. neuer Zeit, Offenbach/M. 1952. - Alfred Roth, 50 Jahre Gnadauer Konferenz in ihrem Zusammenhang mit der Gesch. Gnadaus, Gießen 1938. - Erich Günter Rüppel, Die Gemeinschaftsbewegung im Dritten Reich. Ein Beitr. zur Gesch. des Kirchenkampfes, 1969 (AGK 22). Max Runge, Johannes Seitz u. der Aufbruch der neueren Gemeinschaftsbewegung, Berlin (DDR) 2 1965. — Hans von Sauberzweig, Er der Meister, wir die Brüder. Gesch. der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung 1888-1958, Offenbach/M. 1959. - Paulus Scharpff, Gesch. der Evangelisation. 300 Jahre Evangelisation in Deutschland, Großbritannien u. den USA, Gießen/Basel 2 1964. - Jakob Schmitt, Die Gnade bricht durch. Aus der Gesch. der Erweckungsbewegung im Siegerland, in Wittgenstein u. den angrenzenden Gebieten, Gießen/Basel 2 1954. - Elias Schrenk, Die Kasseler Bewegung, Kassel 1907. - Ders., Ein Leben im Kampf um Gott (Selbstbiographie), Stuttgart/Basel 1936. Ders., Der biblische Weg zur vermehrter Geistesausrüstung, Kassel 1910. - Johannes Seitz/Bernhard Kühn, Die sogenannte Pfingstbewegung im Lichte der Heiligen Schrift, Gotha 1922. - Walther Alfred Siebel, Vierzig Jahre Gnadauer Konferenz 1888-1928, Bethel 1928. - Stimmen der Väter. Zeugnisse aus den Anfängen der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung, hg. vom Ev.-kirchl. Gnadauer Gemeinschaftswerk, Berlin (DDR) 1958. - Ludwig Thimme, Kirche, Sekte u. Gemeinschaftsbewegung vom Standpunkt einer christl. Soziologie aus, Schwerin 1925. - Ludwig Tiesmeyer, Was jedermann von der christlichen Gemeinschaftsbewegung in Deutschland wissen muß, Berlin 1917. Periodika Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung u. Pflege der Reichgottesarbeit in allen Landen, hg. v. Karl Möbius, Neumünster 1904-1940. - Dt. Gemeinschaftsblatt, hg. von E. Edelhoff/Th. Krawielitzki/L. Thimme, Marburg/Lahn 1910-1940. - Gnadauer Gemeinschaftsblatt. Organ des
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Genf
Deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflege u. Evangelisation, Halbmonatszeitschrift, Bethel 1921 ff. - Gnadauer Mitteilung für die Landeskirchlichen Gemeinschaften in der D D R , Berlin/DDR 1950ff. - Heilig dem Herrn, hg. v. Ernst M o d e r s o h n , Bad Blankenburg 1910ff. - Leben aus dem Wort. Gnadauer Bibellese (früher Gnadauer Bibelleseblatt), Dillenburg [vierteljährlich]. - Licht u. Leben. Ev. Wochenblatt, hg. v. J . D a m m a n n , Elberfeld 1889 ff [jetzt Wuppertal]. - Philadelphia. O r g a n für ev. Gemeinschaftspflege, hg. v. Christian Dietrich, Stuttgart 1 8 9 1 - 1 9 2 1 . - Der Reichsgottesarbeiter. Monatsschrift der Vereinigung von Reichsgottesarbeitern in Deutschland, hg. von A. Dalimeyer, Neumünster 1904 ff [jetzt Denkendorf]. - Sabbathklänge, begr. 1859 v. Inspektor Stursberg, M ü l h e i m / R u h r 1 9 0 3 - 1 9 0 9 [ab 1910: Heilig dem Herrn], - Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz, Stuttgart 1888 ff.
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J o a c h i m Cochlovius
Generalvikar —»Bistum Genesis —>Pentateuch Genf 1. Geschichte bis zur Reformation 2. Kirchliche Organisation seit 1 5 4 1 3. Von Calvins T o d bis zum Ende des 18. Jh. 4 . 19. und 2 0 . Jahrhundert 5. Genf als Zentrum internationaler Aktivitäten (Bibliographien/Quellen//Literatur S. 3 7 4 )
1. Geschichte
bis zur
Reformation
Die Stadt Genf war schon vor der Reformation ein wichtiges geistliches Zentrum. In der Zeit der Auflösung des römischen Reiches kam sie unter die weltliche und geistliche Herrschaft eines Fürstbischofs. Im Hochmittelalter wurde sie Sitz eines großen und reichen kirchlichen Fürstentumes (—»Fürstentümer, Geistliche), das sich nicht nur über den heutigen Schweizer Kanton Genf erstreckte, sondern auch Gebiete im heutigen südöstlichen Frankreich umfaßte, unter Einschluß vieler der Departements, die früher ein Teil des Herzogtums Savoyen waren. Die Genfer Diözese war für die römisch-katholische Kirche während des unruhigen 14. und 15. J h . von großer Bedeutung, besonders zwischen 1 3 7 8 , als mit der Wahl Roberts von Genf zum (Gegen-)Papst Clemens VII. das Große abendländische —»Schisma begann, und 1 4 4 9 , als Papst Felix V . , der frühere Herzog von Savoyen, der vom Konzil von Basel gewählt worden war (—»Basel-Ferrara-Florenz), sein Amt niederlegte. Die weltliche M a c h t des Genfer Bischofs war schon in dieser Periode zurückgegangen, da die Bischöfe 1 2 8 8 einen bestimmten Teil ihrer militärischen und jurisdiktioneilen Macht einem Beauftragten des Herzogs von Savoyen, dem „ V i d o m n e " , zusprachen und andere jurisdiktioneile und administrative Befugnisse dem von den Bürgern gewählten Rat übergaben; diese Machtverteilung wurde in den Bürgerrechten von 1 3 8 7 festgeschrieben. Erst durch die —»Reformation gelangte Genf zu internationaler Bedeutung. Die Reformation begann hier als politische und soziale Revolution. Im städtischen Rat erlangte eine kleine Gruppe die Kontrolle über die örtliche Regierung und vertrieb die Beauftragten des Herzogs von Savoyen, den Bischof, 3 0 0 Geistliche und Ordensangehörige sowie viele Anhänger der bischöflichen Regierung. Den Anstoß zu dieser Revolution gaben einerseits die Predigten W . —»Farels und anderer französischer Protestanten, zum anderen der Wunsch nach politischer Unabhängigkeit und Verbesserung der Handelsbeziehungen zu den deutschsprachigen Landesteilen, die bereits protestantisch geworden waren. Der Bruch mit der katholischen Vergangenheit erfolgte offiziell durch eine Reihe von Gesetzen, die 1 5 3 5 und 1 5 3 6 verabschiedet wurden: Die Messe wurde am 10. 8. 1 5 3 5 abgeschafft, die Reformation am 2 1 . 5. 1 5 3 6 angenommen. Auf diese Weise entstand in Genf ein religiöses und geistiges Vakuum, das durch das Werk von J . —»Calvin ausgefüllt wurde. Calvin war nur auf der Durchreise, als er von Farel zum Bleiben überredet und am 5. 9. 1 5 3 6 zum öffentlichen Sprecher berufen wurde. Er unterstützte Farel bei der Vorbereitung von Entwürfen für die Organisation einer reformierten Kirche, die viele Genfer nicht akzeptieren konnten. Beide wurden deswegen am 2 3 . 4. 1 5 3 8 unerwartet aus der Stadt gewiesen. Lediglich Calvin wurde 1 5 4 1 zur Rückkehr aufgefordert und verbrachte den Rest seines Lebens in Genf, wo
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Genf
Deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflege u. Evangelisation, Halbmonatszeitschrift, Bethel 1921 ff. - Gnadauer Mitteilung für die Landeskirchlichen Gemeinschaften in der D D R , Berlin/DDR 1950ff. - Heilig dem Herrn, hg. v. Ernst M o d e r s o h n , Bad Blankenburg 1910ff. - Leben aus dem Wort. Gnadauer Bibellese (früher Gnadauer Bibelleseblatt), Dillenburg [vierteljährlich]. - Licht u. Leben. Ev. Wochenblatt, hg. v. J . D a m m a n n , Elberfeld 1889 ff [jetzt Wuppertal]. - Philadelphia. O r g a n für ev. Gemeinschaftspflege, hg. v. Christian Dietrich, Stuttgart 1 8 9 1 - 1 9 2 1 . - Der Reichsgottesarbeiter. Monatsschrift der Vereinigung von Reichsgottesarbeitern in Deutschland, hg. von A. Dalimeyer, Neumünster 1904 ff [jetzt Denkendorf]. - Sabbathklänge, begr. 1859 v. Inspektor Stursberg, M ü l h e i m / R u h r 1 9 0 3 - 1 9 0 9 [ab 1910: Heilig dem Herrn], - Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz, Stuttgart 1888 ff.
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J o a c h i m Cochlovius
Generalvikar —»Bistum Genesis —>Pentateuch Genf 1. Geschichte bis zur Reformation 2. Kirchliche Organisation seit 1 5 4 1 3. Von Calvins T o d bis zum Ende des 18. Jh. 4 . 19. und 2 0 . Jahrhundert 5. Genf als Zentrum internationaler Aktivitäten (Bibliographien/Quellen//Literatur S. 3 7 4 )
1. Geschichte
bis zur
Reformation
Die Stadt Genf war schon vor der Reformation ein wichtiges geistliches Zentrum. In der Zeit der Auflösung des römischen Reiches kam sie unter die weltliche und geistliche Herrschaft eines Fürstbischofs. Im Hochmittelalter wurde sie Sitz eines großen und reichen kirchlichen Fürstentumes (—»Fürstentümer, Geistliche), das sich nicht nur über den heutigen Schweizer Kanton Genf erstreckte, sondern auch Gebiete im heutigen südöstlichen Frankreich umfaßte, unter Einschluß vieler der Departements, die früher ein Teil des Herzogtums Savoyen waren. Die Genfer Diözese war für die römisch-katholische Kirche während des unruhigen 14. und 15. J h . von großer Bedeutung, besonders zwischen 1 3 7 8 , als mit der Wahl Roberts von Genf zum (Gegen-)Papst Clemens VII. das Große abendländische —»Schisma begann, und 1 4 4 9 , als Papst Felix V . , der frühere Herzog von Savoyen, der vom Konzil von Basel gewählt worden war (—»Basel-Ferrara-Florenz), sein Amt niederlegte. Die weltliche M a c h t des Genfer Bischofs war schon in dieser Periode zurückgegangen, da die Bischöfe 1 2 8 8 einen bestimmten Teil ihrer militärischen und jurisdiktioneilen Macht einem Beauftragten des Herzogs von Savoyen, dem „ V i d o m n e " , zusprachen und andere jurisdiktioneile und administrative Befugnisse dem von den Bürgern gewählten Rat übergaben; diese Machtverteilung wurde in den Bürgerrechten von 1 3 8 7 festgeschrieben. Erst durch die —»Reformation gelangte Genf zu internationaler Bedeutung. Die Reformation begann hier als politische und soziale Revolution. Im städtischen Rat erlangte eine kleine Gruppe die Kontrolle über die örtliche Regierung und vertrieb die Beauftragten des Herzogs von Savoyen, den Bischof, 3 0 0 Geistliche und Ordensangehörige sowie viele Anhänger der bischöflichen Regierung. Den Anstoß zu dieser Revolution gaben einerseits die Predigten W . —»Farels und anderer französischer Protestanten, zum anderen der Wunsch nach politischer Unabhängigkeit und Verbesserung der Handelsbeziehungen zu den deutschsprachigen Landesteilen, die bereits protestantisch geworden waren. Der Bruch mit der katholischen Vergangenheit erfolgte offiziell durch eine Reihe von Gesetzen, die 1 5 3 5 und 1 5 3 6 verabschiedet wurden: Die Messe wurde am 10. 8. 1 5 3 5 abgeschafft, die Reformation am 2 1 . 5. 1 5 3 6 angenommen. Auf diese Weise entstand in Genf ein religiöses und geistiges Vakuum, das durch das Werk von J . —»Calvin ausgefüllt wurde. Calvin war nur auf der Durchreise, als er von Farel zum Bleiben überredet und am 5. 9. 1 5 3 6 zum öffentlichen Sprecher berufen wurde. Er unterstützte Farel bei der Vorbereitung von Entwürfen für die Organisation einer reformierten Kirche, die viele Genfer nicht akzeptieren konnten. Beide wurden deswegen am 2 3 . 4. 1 5 3 8 unerwartet aus der Stadt gewiesen. Lediglich Calvin wurde 1 5 4 1 zur Rückkehr aufgefordert und verbrachte den Rest seines Lebens in Genf, wo
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er an der Organisation einer reformierten Kirche mitarbeitete, die zum Modell für viele andere wurde. Calvin entwarf unmittelbar nach seiner Rückkehr in Abstimmung mit verschiedenen Ratsmitgliedern eine Reihe von kirchlichen Verordnungen, die, mit kleinen Modifikationen von der Stadtregierung am 2 4 . 11. 1 5 4 1 angenommen, der örtlichen Kirche ihre Verfassung gaben. Diese Verordnungen schufen durch die Einrichtung von vier geistlichen Ämtern die kirchliche Organisationsstruktur: Pfarrer, Lehrer, Älteste und Diakone (vgl. T R E 2 , 5 6 8 - 5 7 2 ; 7,573). 2. Kirchliche
Organisation
seit
1541
Die Hauptaufgabe der Pfarrer war es, das Wort Gottes zu predigen. Darüber hinaus sollten sie die Sakramente der Taufe und des Abendmahls spenden und die Ältesten bei der Aufrechterhaltung der christlichen Disziplin unterstützen. Sie wurden den drei innerhalb der Stadtmauern verbliebenen Pfarreien zugeteilt, einige auch nahegelegenen Orten, die unter der Kontrolle der Stadtregierung verblieben waren. Vier der innerstädtischen Gemeinden waren während der Reformation aufgehoben worden, die meisten Dörfer der Diözese aber der Kontrolle des exilierten Bischofs unterstellt geblieben. Die Pfarrer wurden nach sorgfältiger Prüfung ihres Glaubens, ihrer Moral und ihrer rhetorischen Fähigkeiten durch Zuwahl gewählt und von Calvin und den Pfarrern, die bereits im Amt waren, zugelassen. Jeder erfolgreiche Kandidat wurde daraufhin dem Rat zur Bestätigung und Ernennung empfohlen. Erst die ihnen zugewiesenen Gemeinden aber hatten die endgültige Übernahme zu beschließen, was in der Regel jedoch automatisch erfolgte. Die Pfarrer trafen sich einmal in der Woche in der „Compagnie" (Pfarrkapitel), um gemeinsam zu studieren, sich zu korrigieren und zu planen. Calvin war der Leiter dieser Zusammenkünfte, womit er sein einziges herausragendes Amt in der Kirche bekleidete. Darüber hinaus fungierte er normalerweise bei Verhandlungen mit der Stadtregierung als Sprecher der Geistlichen. Die ersten Genfer Pfarrer kamen durchweg nicht aus der Stadt selbst; die meisten stammten aus Frankreich, einige aus den französischsprachigen Teilen der Schweiz. Nur einem einzigen der vorreformatorischen Priester wurde es erlaubt, Pfarrer zu werden, und es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis ein geborener Genfer als Pfarrer geeignet erschien. Die wichtigste Aufgabe der Lehrer bestand darin, das Wort Gottes zu lehren. Darin hatte auch Calvins erste Aufgabe bei seiner ursprünglichen Berufung von 1536 gelegen, die er bei seiner Rückkehr 1541 wieder aufnahm. Bald danach begann er eine Folge öffentlicher Bibelauslegungen nach der Methode einer Vers-für-Vers Erklärung ausgewählter Bücher sowohl des Alten wie des Neuen Testaments; die Interpretation eines Buches nahm oft ein ganzes Jahr in Anspruch (vgl. T R E 7,580). Einige dieser Lesungen wurden von Calvin für eine Veröffentlichung durchgesehen, andere verblieben als Manuskript in den Sammlungen der Bibliothèque publique et universitaire von Genf. Die Doktoren wurden von den Pfarrern gewählt und vom Rat der Stadt ernannt; sie unterlagen der geistlichen Disziplin. In den ersten Jahren während Calvins Tätigkeit wurde wenig für eine fortgeschrittene theologische Ausbildung getan. Lediglich zur Verbesserung der Schulerziehung wurden kleine Schritte unternommen. So stellten die Pastoren z. B. junge Theologiestudenten in den Schulen an. Aber ein vollständiges Erziehungssystem, wie es in den kirchlichen Vorschriften vorgesehen war, wurde nicht vor 1559 geschaffen. In jenem Jahr erhielt Genf eine Akademie unter ihrem ersten Rektor Th. ->Beza. Sie war geteilt in eineschola privata, die Vorschule, und eineschola publica, die fortgeschrittene Schule auf Universitätsniveau. In mancher Hinsicht folgte diese Schule dem Vorbild des Gymnasiums in —»Straßburg, das von J . —»Sturm eingerichtet worden war. Der Lehrkörper aber kam im wesentlichen aus der benachbarten Akademie von —»Lausanne, die gerade von der Berner Regierung einer Säuberungsaktion unterzogen worden war. Dieschola privata war anfangs in sieben, später in neun Klassen gegliedert und vermittelte Grundkenntnisse in den Geisteswissenschaften (—»Artes liberales) mit einer Einführung in die griechische Sprache. Der Lehrplan war in Form und Gehalt traditionell, mit einem Schwerpunkt auf den Werken des Aristoteles. An der schola publica gab es vier Lehrstühle für: 1) Theologie. Dieser Lehrstuhl war ursprünglich gemeinsam besetzt von Calvin und Beza, die Bibel-Vorlesungen hielten; 2) Hebräisch. Der erste Lehrer war Antoine-Raoul Chevalier; 3) Griechisch. Erster Lehrer war François Berauld, später, 1 5 8 2 - 1 5 9 6 , der berühmte Isaac Casaubon ( 1 5 5 9 - 1 6 1 4 ) ; 4) Geisteswissenschaften. Erster Lehrer war Jean Tagaut, ihm folgte später für kurze Zeit, 1 5 7 2 - 1 5 7 4 , der berühmte Joseph-Juste Scaliger ( 1 5 4 0 - 1 6 0 9 ) . — Auch ein Lehrstuhl für Jurisprudenz wurde wenig später eingerichtet, war aber nicht ständig besetzt, obgleich Gelehrte vom Rang eines Henri Scrimger ( 1 5 6 5 - 1 5 6 8 ) , François Hotman ( 1 5 7 3 - 1 5 7 8 ) oder Denis Godefroy ( 1 5 8 0 - 1 5 8 9 ) dort unterrichteten. Medizinische und naturwissenschaftliche Lehrstühle wurden erst sehr viel später eingerichtet. Die Genfer Akademie war somit in erster Linie ein Seminar für protestantische Pfarrer, und in dieser Funktion war sie von Beginn an erfolgreich. Beza schätzte 1564, daß 1200 Studenten an der schola privata und 300 in der schola publica studierten. Einige unvollständig erhaltene Kandidatenlisten zeigen, daß die große Mehrheit von ihnen aus
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Genf
anderen Ländern kam, vorwiegend aus Frankreich, aber auch aus den Niederlanden, Großbritannien, Deutschland und dem übrigen Mitteleuropa. Die Hauptaufgabe der Ältesten bestand darin, die Aufsicht über den christlichen Lebenswandel (idisciplina christiana) zu führen. Sie wurden aus den in Genf geborenen Bürgern von der Stadtregierung s ausgewählt, und einmal im Jahr nach einer vom Kleinen (exekutiven) Rat in Abstimmung mit den Pfarrern vorbereiteten Kandidatenliste bestimmt. Ihre Amtszeit konnte verlängert werden, was häufig auf viele Jahre hin geschah. Sie wurden so ausgewählt, daß sie die verschiedenen Bezirke, in die die Stadt aufgeteilt war, repräsentierten. Probleme, die ein Ältester nicht allein zu lösen vermochte, wurden dem Konsistorium vorgetragen. Diese Körperschaft bestand aus den Ältesten und den Pfarrern, die sich ein10 mal in der Woche mit einem der vier Syndices oder der regierenden Ratsherren der Stadt als Vorsitzendem trafen. Das Konsistorium war gleichermaßen ein obligatorisches Ratsgremium und Untersuchungsgericht. In jedem Jahr wurden ihm zahlreiche Konflikte vorgetragen, von denen die meisten durch Diskussion und Ermahnung gelöst werden konnten. Häufig betrafen sie Streitigkeiten in den Familien oder zwischen Nachbarn, andere bezogen sich auf Eheprobleme und Sexualvergehen, wieder an15 dere auf mangelnden Respekt vor den Pfarrern und anderen Persönlichkeiten der Gemeinde. Verhandelt wurden auch religiöse Ignoranz und Unglauben - oder „Aberglauben" - , wobei es sich oft um noch vorhandene katholische Riten handelte.
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In Fällen, die besonders ernst erschienen, aber auch dann, wenn die Beteiligten uneinsichtig waren, hatte das Konsistorium das Recht auf Exkommunikation (—»Bann, —»Kirchenzucht). Gegen die AnWendung dieses Rechtes gab es in Genf anfänglich erheblichen Widerstand. Der Kleine Rat beanspruchte das Recht, die auferlegten Kirchenstrafen dann aufzuheben, wenn er den Betroffenen für reumütig hielt. Calvin weigerte sich mit größter Entschiedenheit, diese Form von Intervention zu akzeptieren, und drohte, wegen dieser Streitfrage die Stadt zu verlassen. Nach scharfen Auseinandersetzungen setzte er sich durch. Das Konsistorium wurde danach sehr aktiv, untersuchte in jedem Jahr Hunderte von Fällen und sprach dennoch die Exkommunikation nur selten aus. Das Konsistorium wurde ein Grundpfeiler des puritanischen Lebensstils, der die reformierte Kirche berühmt machte. Es versuchte nicht, andere Arten von Strafen zu verhängen. Wenn Vergehen eine weitere Bestrafung zu rechtfertigen schienen, wurden sie den ordentlichen Gerichten der Stadt übergeben, die normalerweise schnell und hart urteilten. Das Konsistorium protestierte nur dann, wenn deren Urteile zu milde ausfielen, insbesondere bei Anklagen wegen sexueller Verfehlungen. Die Hauptaufgabe der Diakone war die Verwaltung der Wohlfahrtseinrichtungen (s. TRE 8,633). Sie waren Sozialarbeiter mit der Aufgabe, die Verpflichtungen der christlichen Gemeinschaft gegenüber Witwen und Waisen sowie anderen, die sich nicht selbst versorgen konnten, zu erfüllen. Die kirchlichen Vorschriften unterschieden zwei Formen der Unterstützung: zum einen die Schaffung eines Geldfonds und dessen Verteilung, zum anderen die Organisation direkter Hilfsmaßnahmen. Beide waren mit der wichtigsten Wohlfahrtsorganisation von Genf verbunden, dem Zentral-Hospital. Diese Einrichtung ersetzte die sieben Hospitäler und den städtischen Unterstützungsfonds, die sich im vorreformatorischen Genf um die Wohlfahrt gekümmert hatten. Das neue Hospital konnte mehrere Dutzend Waisen und Arme beherbergen und war eingerichtet, um Brot zu backen und es an diejenigen zu verteilen, die keine Unterkunft brauchten. Die Aufsicht besorgten Diakone des obersten Ranges, die gemeinhin die „Prokuratoren" des Hospitals genannt wurden. Sie wurden nach dem gleichen Verfahren wie die Ältesten einmal im Jahr ausgewählt und bestätigt nach der Kandidatenliste, die der Kleine Rat in Abstimmung mit den Pfarrern vorbereitet hatte. Auch ihr Mandat konnte erneuert werden. Es wurde üblich, daß einer von ihnen auch Syndikus war. Sie trafen sich einmal wöchentlich, um den Bericht über die Arbeit des Hospitals entgegenzunehmen und die wöchentliche Verteilungsrate der Lebensmittel an jene festzulegen, die nicht ständig dort untergebracht waren. Die Verwaltung des Hospitals oblag einer anderen Gruppe von Diakonen, die umgangssprachlich „hospitaller" genannt wurden. Ein solcher Diakon lebte mit seiner Frau auf unbestimmte Zeit in dem Gebäude und wurde von einem Mitarbeiterstab unterstützt; dazu zählten ein Lehrer, ein Bader und eine Anzahl von Hausdienern. Das Hospital war schon vor Calvins Ankunft in Genf gegründet worden und arbeitete bereits in der oben beschriebenen Weise. Es wurde durch die neuen kirchlichen Verordnungen nur bestätigt; die beiden Prokuratoren und die „hospitaller" erhielten den Status eines Diakons. Gleichfalls wurde den Pfarrern ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Diakone gegeben. Bald danach schon gab es noch andere Arten von Diakonen in der Stadt. Das Hospital war ursprünglich nur für die städtische Armenhilfe geschaffen worden. Es hatte nicht die Mittel, jenen Armen unter den Tausenden von religiösen Flüchtlingen zu helfen, die schon bald in die Stadt kamen. Zu deren Unterstützung wurden daher verschiedene Fonds für nationale Flüchtlingsgruppen eingerichtet, indem man Geld von den Reichen sammelte, um den Armen in jeder Gemeinde helfen zu können. Am größten war die bourse française, an deren Gründung und Verwaltung Calvin beteiligt war. Große Geldmengen wurden nicht nur für die bedürftigen französischen Flüchtlinge aufgebracht, sondern auch für ein Evangelisationsprogramm in Frankreich. Ähnliche Fonds errichtete man für die deutschen und italienischen
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Gemeinden in Genf; sie waren sowohl als Unterstützung kirchlicher Aktivitäten in den Landessprachen, wie auch als vorsorgliche Wohlfahrtshilfe gedacht. Die Verwalter dieser Fonds waren ebenfalls bekannt als Diakone, in diesem Fall meist w o h l h a b e n d e Laien, die von Pfarrern gleicher Nationalität unterstützt wurden.
Die Ordonnances Ecclésiastiques de l'Église de Genève (1541), in denen dieses Modell festgelegt war, wurden von Calvin 1561 überarbeitet und erweitert sowie durch Beza noch einmal 1576 ergänzt (—»Kirchenordnungen). Aber es gab in keinem Fall wichtige Änderungen. Die Struktur, die diese Vorschriften schufen, galt mit wenigen Abänderungen für Jahrhunderte. Teile davon können auch heute noch in der Genfer Église nationale protestante gefunden werden. Bis zur Französischen Revolution, und in manchen Belangen auch später noch, spielte die Stadtregierung eine wichtige Rolle in der Kirche. Die Pfarrer und Lehrer bekamen ihr Gehalt vom Rat. Obwohl jeder von ihnen seine Ernennung durch die Pfarrer erhielt, mußte sie vom Rat bestätigt werden und jeder Pfarrer oder Lehrer konnte auch aufgrund eines kleinen Hinweises kurzfristig entlassen werden. Calvin und seine Mitarbeiter konnten sich somit niemals auf die berufliche Sicherheit und politische oder ökonomische Macht beziehen, die ihre Vorgänger im katholischen Klerus innehatten. Die Ältesten und die Diakone waren alle Mitglieder der Stadtregierung, die jährlich in besondere Ausschüsse des Rats gewählt wurden, nämlich in das Konsistorium oder den Kreis der Hospital-Prokuratoren. In vieler Hinsicht glichen sie den Ratsherren, die gewählt wurden, um die Stadtbefestigungen zu überwachen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen oder als städtische Richter zu amtieren. 3. Von Calvins Tod bis zum Ende des 18. Jh. Genf erlebte in den Jahren unmittelbar nach Calvins Tod 1564 eine schwierige Zeit. Die militärische Macht Berns, die Genf in den frühen Phasen der Reformation geschützt hatte, verringerte sich, und der katholische Herzog von Savoyen unternahm wiederholt Versuche, die Stadt zurückzugewinnen. Das führte von 1589 bis 1593 zu Krieg und langer Belagerung; 1602 kam es zu dem letzten Versuch, die Stadt durch einen Überraschungsangriff zu erobern. Dieses Ereignis ist als „Escalade" bekannt. Während dieser Jahre wurde Genf auch einige Male von der Pest heimgesucht. Derartige Schläge erschwerten die Arbeit der Akademie besonders. Zeitweise ging die Zahl der Studenten erheblich zurück, und einmal, 1586, wurden sämtliche Professoren mit Ausnahme Bezas vom Stadtrat entlassen. Erhebliche finanzielle Hilfen von befreundeten protestantischen Regierungen in Deutschland, Holland und England halfen Genf und der Reformierten Kirche, während dieser Jahre zu überleben. Beza wurde 1564 Calvins Nachfolger als oberster Pfarrer und Lehrer von Genf. Er widersetzte sich zwar einer offiziellen Benennung zum lebenslangen Leiter des Pfarrkapitels, hatte diese Position aber aufgrund wiederholten Drängens der Pfarrer und des Rates de facto bis 1580 inne. Auch danach predigte und lehrte er noch viele Jahre, bis 1599 in der Akademie, danach von der Kanzel bis zu seinem Tod 1605, obwohl er zunehmend von Altersbeschwerden behindert wurde. Beza übernahm auch an Calvins Stelle die Funktion des Sprechers aller reformierten Kirchen. Genf war erst im 17. Jh. politisch gesichert, aber die Stadt verblieb in der Furcht vor den katholischen Nachbarn und gab einen unverhältnismäßig hohen Anteil ihres Reichtums für die Verteidigung aus. In anderer Hinsicht stagnierte die S t a d t - demographisch, ökonomisch und auch auf geistiger Ebene. Die Akademie wurde zwar wieder als Seminar für reformierte Pfarrer bedeutend, stand aber jetzt in Konkurrenz mit einigen französischen Akademien, von denen besonders Sedan und Saumur nennenswert sind. Auch wurden die Pfarrer und Doktoren zunehmend auf eine besonders rigide Form des Calvinismus festgelegt: Die Genfer Theologieprofessoren bemühten sich, die arminianische Version der Prädestinationslehre (—»Arminius, Jacobus/Arminianismus) und verwandter Doktrinen zu unterdrücken und statt dessen die des F. Gomarus zu etablieren. Zwei von ihnen, Jean Diodati (Johannes Deodatus) und Théodore Tronchin (Theodorus Tronchinus), nahmen an der —»Dordrechter Synode (1618/19) teil und setzten sich dort für eine Verdammung des Arminianismus und
Genf
372
die Übernahme einer modifizierten Form des Gomarismus (—»Niederlande) ein. Ein anderer von ihnen, Bénédict Turretini, erschien 1620 auf der französischen Synode in Alais, wo dieselben Fragen verhandelt wurden und verwendete sich für die Annahme der Dordrechter Beschlüsse. Ihre Nachfolger verteidigten die gomaristische Position gegen eine Anzahl eher liberaler französischer Theologen bis noch weit ins 17. Jh. hinein. Die Übernahme der gomaristischen Position wurde allen Pfarrern und Professoren Genfs aufgezwungen. Die einzigen Lehrverpflichtungen, die den Pfarrern nach der Kirchenordnung von 1541 auferlegt worden waren, hatten in „bonne et saine connaissance de l'Écriture" (Artikel 5) und in der Übernahme von „la doctrine approuvée en l'Église" (Artikel 6) in die Praxis bestanden. 1561 waren diese Vorschriften behutsam dahingehend verändert worden, daß sie „la doctrine approuvée en l'Église, sur tout selon le contenu du Catechisme" umfaßten — Calvins Katechismus also. In der Mitte des 17. Jh. jedoch hielten die Pfarrer diese Vorschriften für zu vage und allgemein. 1647 entschieden sie daher, daß alle Kandidaten für das Pfarramt sich verpflichten müßten, in Übereinstimmung mit den Beschlüssen von Dordrecht und allen dogmatischen Bestimmungen der nationalen französischen Synoden zu lehren und vor allem nicht jene Lehren zu verbreiten, die im Zusammenhang mit dem Arminianismus standen. Der Theologieprofessor Alexandre Morus verfaßte 1649 eine Reihe von Thesen zu diesen umstrittenen Fragen, zu deren Übernahme sämtliche Pfarrer 1669 aufgefordert wurden. Vertreter der Genfer Pfarrer unterzeichneten 1678 einen konservativen Consensus, der die Position aller schweizerischen Reformierten Kirchen festsetzte. Bis 1706 mußten alle angehenden Pfarrer dieses Bekenntnis unterzeichnen, was ein eindeutig konfessionalistisches Zeitalter in der Genfer Kirche kenntlich macht. Jedoch bahnte sich schon während dieser Phase ein Wechsel an, der für das 18. Jh. folgenreich wurde. Die ersten Schritte zur Veränderung unternahm in der Akademie ein Laie, der Philosophie-Professor Jean-Robert Chouet (1642—1731). Er behandelte —»Descartes' Philosophie zwischen 1669 und 1686 in seinen Vorlesungen, zunächst noch andeutend und vorsichtig, aber mit weitreichender Wirkung. Danach gab er seinen Lehrstuhl auf, wurde Ratsmitglied und stieg schließlich in die Position eines regierenden Syndikus auf. Er nutzte seine Amtsstellung, um die Akademie in vieler Hinsicht zu verändern. Ein Senat wurde begründet, der mit der Zeit anstelle der Pfarrer die Kontrolle über die Akademie erlangte. Die Bibliothek der Akademie wurde nach Größe und Vielfalt entscheidend erweitert, neue Lehrstühle für Jura und Mathematik sowie für Philosophie und Kirchengeschichte eingerichtet. Chouet schlug zusätzlich die Gründung einer medizinischen Fakultät vor, die allerdings erst später, nach seinem Tod, neu geschaffen wurde. Damit stieg die Akademie von einem Seminar für protestantische Geistliche in den Rang einer Universität auf. Aber auch im Bereich der Theologischen Fakultät gab es einschneidende Änderungen. Sie begannen mit der Berufung von Jean-Alphonse Turrettini zum Professor für Kirchengeschichte ( 1 6 9 7 - 1 7 0 5 ) , und wurden durch seine Beförderung auf den Lehrstuhl für Theologie (1705 — 1737) beschleunigt (s. T R E 6,381). Turrettini war weitaus toleranter als seine Vorgänger. Er war in der ökumenischen Diskussion mit Führern anderer protestantischer Gemeinschaften engagiert, insbesondere mit Anglikanern und Lutheranern. Er lehrte eine betont rationale Theologie, die den traditionellen Konfessionalismus ignorierte, und zeigte Neigungen zum Sozinianismus (—>Sozzini/Sozinianer) und sogar zum —»Deismus. 1725 wirkte er daran mit, die Pfarrer zu überzeugen, jene ausführlichen Bekenntnisse wieder aufzugeben, die die angehenden Pfarrer ablegen mußten, und zu der eher unbestimmten Formel zurückzukehren, die Calvin 1561 in die Kirchenordnung eingeführt hatte. Als sich —»Voltaire in Genf niederließ, fand er eine Kirche vor, die sich weit von der protestantischen Orthodoxie entfernt hatte.
4 . 1 9 . und 20.
Jahrhundert
Die -»Französische Revolution am Ende des 18. Jh. hatte einen weitreichenden Einfluß auf den Genfer Rat, was sich jedoch überraschend gering auf Kirche und Akademie auswirkte. Eine innere Revolution dagegen führte 1794 zu einem weitaus demokratischer geprägten Rat. In ihrer Folge aber gab es nur relativ geringe Änderungen in der Hochschulerziehung, und noch weniger in der Kirche. Auch nach der Annexion der Stadt durch französische Truppen im Jahre 1798 konnte die Gründung einer Société économique durchgeführt wer-
Genf
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den, die von Patriziern aus dem alten R a t geleitet wurde und die über ausreichende Geldmittel verfügte, um Kirche und Akademie in der gleichen Weise wie vor der Revolution zu unterstützen. Seit der R a t nicht länger die Aufsicht über beide Institutionen innehatte, waren sie tatsächlich einem geringeren äußeren D r u c k ausgesetzt. Die Restaurationsphase nach 1 8 1 4 erbrachte paradoxerweise größere Herausforderungen für die Genfer Kirche und Akademie. Auf institutioneller Ebene kehrten sie zu dem beinahe vorrevolutionären Status zurück. A b e r sie hatten nicht mehr die gleiche öffentliche Unterstützung wie zuvor. Im Zusammenhang mit politischen Veränderungen w ä h r e n d dieser J a h r e ( 1 8 1 5 wurde G e n f Mitglied der Eidgenossenschaft) wurde das Genfer Staatsgebiet erheblich vergrößert; viele benachbarte O r t s c h a f t e n , die bis dahin katholisch geblieben waren, wurden eingemeindet. — Die tolerante und demokratische Haltung w ä h r e n d der Revolutionszeit hatte die katholischen Bürger an der Regierung teilhaben lassen. — D a n e b e n entstand in der protestantischen Gemeinde eine Bewegung gegen den theologischen Rationalismus und gegen die Übermacht der Patrizier in der Kirche der Aufklärungszeit. Eine pietistische Bewegung, Reveil (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen), gewann nicht n u r die Unterstützung einer wachsenden Zahl von gläubigen Laien, sondern auch von Pfarrern. Als das Pfarrkapitel 1 8 1 7 versuchte, die Pietisten zu unterdrücken, indem es einige Theologiestudenten disziplinierte sowie Predigten und Vorlesungen über bestimmte traditionelle theologische T h e m e n verbot, provozierte das eine Revolte. N a c h J a h r e n heftiger D e b a t t e n bildeten die Pietisten 1 8 3 1 eine Soriete evangelique, eröffneten im folgenden J a h r eine eigene theologische Schule und errichteten einige, von der offiziellen Kirche getrennte Gemeinden. Dieses Schisma wurde erst im 2 0 . J h . beendet. Schließlich suchte ein zunehmend weltlich orientierter Teil der Öffentlichkeit den allgemeinen Einfluß der Kirche und besonders ihre Aufsicht über die Erziehung zu vermindern.
25
Die gleichen Kräfte wirkten im 1 9 . J h . , um die T r e n n u n g von Staat und Kirche und die Laisierung der Akademie in einem längerwährenden Prozeß herbeizuführen. Ein Gesetz von 1 8 3 5 löste alle Fakultäten der Akademie aus der K o n t r o l l e des Pfarrkapitels, wovon nur die theologische Fakultät ausgenommen blieb. Eine neue Verfassung übertrug 1 8 4 2 die Aufsicht über die Kirche einem erweiterten Konsistorium aus Pastoren und Ältesten, das indi30 rekt durch eine Gruppe protestantischer Bürger gewählt wurde. Die Kirche w a r nicht mehr direkt abhängig vom Staat. Die neue und demokratischere Verfassung nach der kleinen Revolution von 1 8 4 6 führte zu weiteren Veränderungen. Das Konsistorium, in dem die Ältesten jetzt stärker vertreten waren und das von der gesamten protestantischen Bevölkerung des K a n t o n s gewählt wurde, ü b e r n a h m die administrative Kontrolle über die Kirche. In je35 der Gemeinde bestimmten die Gläubigen ihre Pfarrer. D e m Pfarrkapitel verblieb die Aufgabe, die Theologie-Professoren auszuwählen, aber es verlor die Kontrolle über das allgemeine Schulwesen. Eine Anzahl konservativer Professoren wurde entweder entlassen oder zum Rücktritt gezwungen. Diese Säuberung provozierte starke Proteste von Seiten der Studenten. Die Akademie k o n n t e nach dem Regierungswechsel von 1 8 6 4 wieder geordnet und 40 anschließend auch erheblich vergrößert werden. M o d e r n e Gebäude wurden errichtet und die finanzielle Lage erheblich verbessert. Es entstand die moderne Genfer Universität. Währenddessen drohte der Kirche die Spaltung in einen liberalen und einen strenggläubigen Flügel. Ein Kirchengesetz schränkte 1874 die Macht des Konsistoriums ein und trennte das Pfarrkapitel von der theologischen Fakultät. Schließlich beschlossen 1907 die Einwohner in einem allgemeinen Referen45 dum die Trennung von Staat und Kirche. Im darauffolgenden Jahr wurde eine neue Verfassung für die Eglise nationale protestante von Genf angenommen, die jetzt eine freie und unabhängige, nicht mehr vom Staat kontrollierte oder unterstützte Gemeinschaft war. Die Regierung gestattete zwar weiterhin die Benutzung der traditionellen Kirchengebäude und half sogar bei der Einziehung der Kirchenbeiträge, aber sie konnte nicht länger die Höhe der Kirchenabgaben bestimmen oder die Auswahl der Pfarrer 50 beeinflussen. Diese Entwicklung k a m l 9 2 7 z u m Abschluß, als die Fakultät für protestantische Theologie aus der kantonalen Universität gelöst wurde. Die Benutzung der Universitätseinrichtungen wurde weiter unentgeltlich gestattet, aber für die restliche Finanzierung mußte eine neue Grundlage zwischen Kirche und Staat gefunden werden. Eine Zeitlang hatten die Theologie-Professoren kein Wahlrecht im Aka-
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Genf
demischen Senat, erlangten es erst 1952 endgültig zurück. Ein Professor aus dieser Fakultät, Jacques Courvoisier-Patry, konnte rechtzeitig zum Rektor der Universität gewählt werden, um 1959 die Feierlichkeiten zum 400-jährigen Bestehen dieser Institution zu leiten. 5. Genf als Zentrum
internationaler
Aktivitäten
Im 2 0 . Jh. wurde Genf mehr noch als zuvor ein Z e n t r u m internationaler Aktivitäten. Diese Ausrichtung begann nach dem Ersten Weltkrieg mit der Gründung des Völkerbundes und zugehöriger Institutionen wie der Internationalen Arbeitsorganisation. Die Universität trug dazu 1 9 2 7 durch die Gründung des Institut des Hautes Etudes Internationales bei, das durch amerikanische Beiträge, insbesondere von Seiten der Rockefellers, finanziert wurde. Die Wendung zum Internationalismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg noch deutlicher - begünstigt durch eine außerordentlich gute wirtschaftliche Entwicklung. Weitere internationale Organisationen wie auch international tätige Unternehmen richteten in Genf Niederlassungen ein. Unter diesen waren auch kirchliche Organisationen, die auf jenen Beziehungen aufbauten, die ehedem von Calvin geknüpft worden waren. Der Weltrat der Kirchen errichtete 1 9 4 8 sein Generalsekretariat in Genf und unterstützte die Gründung eines Zentrums für ökumenische Studien im benachbarten Bossey. Auch der —»Lutherische Weltbund fand seine Zentrale in Genf. Die Universität trug zur Funktionsfähigkeit der internationalen Institutionen bei, indem sie die große und vorzüglich arbeitende École d'Interprètes zur Ausbildung von Ubersetzern und Dolmetschern unterstützte. Genf ist nicht länger die école des martyrs, wenn man den Ausdruck gebrauchen will, den der Historiker Michelet in seiner eindrucksvollen Beschreibung der Reformationsperiode in dieser Stadt prägte. Aber es bleibt die vermutlich am stärksten kosmopolitisch geprägte Stadt in E u r o p a , die auf vielen Ebenen zur internationalen Verständigung beiträgt. Bibliographien Paul-F. Geisendorf, Bibliogr. raisonnée de l'histoire de Genève des origines à 1798, Genf 1966 (Mémoires et documents publiés par la Société d'histoire et d'archéologie de Genève [Abk.: MDG] 43). Sie erstellt ein umfassendes Verzeichnis mit wertvollen Auswertungen der Quellen und der bis 1965 publizierten Sekundärliteratur. Es wird ergänzt durch eine jährliche Chronique bibliographique im Bulletin de la Société d'histoire et d'archéologie de Genève, die eine Auswahl von seit 1965 veröffentlichten Titeln bietet und auch die Zeit nach 1798 erfaßt. Quellen Correspondance de Théodore de Bèze, hg. v. H. Meylan/A. Dufour u. a., 10 Bde., 1 9 6 0 - 8 0 (THR 40; 49; 61; 74; 96; 113; 136; 146; 164; 181). - Le Livre du Recteur de l'Académie de Genève, 1 5 5 9 - 1 8 7 8 , hg. v. S. Stelling-Michaud, 6 Bde., Genf 1 9 5 9 - 8 1 . - Registres de la Compagnie des pasteurs de Genève, hg. v. J.-F. Bergier/R.M. Kingdon u. a., 1962ff (THR 55; 107; 137; 153; 180). Literatur Louis Binz, Vie religieuse et réforme ecclésiastique dans le diocèse de Genève 1 3 7 8 - 1 4 5 0 , 1973 (MDG 46). - Olivier Fatio, Méthode et théologie. Lambert Daneau et les débuts de la scolastique réformée, 1976 (THR 147). - Paul-F. Geisendorf, L'Université de Genève 1 5 5 9 - 1 9 5 9 , Genf 1959. - Paul Guichonnet u.a., Histoire de Genève, Toulouse/Lausanne 1974. - Michael Heyd, Cartesianism, Secularization and Academic Reform. Jean-Robert Chouet and the Academy of Geneva, 1 6 6 9 - 1 7 0 4 , Diss. Princeton 1974. - Henri Heyer, L'Église de Genève, 1 5 3 5 - 1 9 0 9 (esquisse historique de son organisation, suivie de ses diverses constitutions, de la liste de ses pasteurs et professeurs, et d'une table biographique), Genf 1909. - Histoire de l'Université de Genève. I. Charles Borgeaud, L'Académie de Calvin, 1 5 5 9 - 1 7 9 8 , Genf 1900; II. L'Académie de Calvin dans l'Université de Napoléon, 1 7 9 8 - 1 8 1 4 , 1 9 0 9 ; III. L'Académie et l'Université au X I X e siècle, 1 8 1 4 - 1 9 0 0 , 1934; IV. Paul-E. Martin, L'Université de 1914 à 1956,1958; Anh.: 1934; 1958. - Marie-Claude Junod/Monique Droin-Bridel/Olivier Labarthe, Polémiques religieuses. Études et textes, 1979 (MDG 48). - Robert M. Kingdon, Geneva and the Consolidation of the French Protestant Movement, 1 5 6 4 - 1 5 7 2 . A contribution to the history of Congregationalism, Presbyterianism, and Calvinist résistance theory, 1967 (THR 92). - Ders., Social Welfare in Calvin's Geneva: AHR 7 6 ( 1 9 7 1 ) 5 0 - 6 9 . - Olivier Labarthe, En marge de l'édition des Registres de la compagnie des pasteurs de Genève. Le changement du mode de présidence de la Compagnie, 1 5 7 8 - 1 5 8 0 : Revue d'histoire ecclésiastique suisse 6 7 ( 1 9 7 2 ) 1 6 0 - 1 8 6 . - Tadataka Maruyama, The Ecclesiology of Theodore Beza. The reform of the true church, 1978 (THR 166). - E. William Monter,
Gennadios Scholarios
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Calvin's Geneva, New York, 1967. - Ders., The Consistory of Geneva, 1 5 5 9 - 1 5 6 9 : BHR 38 ( 1 9 7 6 ) 4 6 7 - 4 8 4 . - Henri Naef, Les origines de la Réforme à Genève, Genf, 1 2 1968, II 1968. - Jearinine Evelyn Oison, The Bourse Française. Deacons and Social Welfare in Calvin's Geneva, Diss. Stanford 1980. - Roger Stauffenegger, Église et Société. Genève au XVII e siècle, Diss. Paris 1975. R o b e r t M . Kingdon G e n n a d i o s Scholarios 1. Leben 1.
2. Werk
(Quellen/Literatur S. 376)
Leben
Georgios mit dem Familiennamen Scholarios, dem in seiner Bedeutung umstrittenen Beinamen Kurteses und dem späteren M ö n c h s n a m e n Gennadios ist zwischen 1 3 9 8 und 1 4 0 5 ( 1 4 0 3 ist nach T u r n e r , 1 4 0 0 nach Zeses am wahrscheinlichsten) in einer wohlhabenden Familie Konstantinopels geboren. Sein bedeutendster Lehrer w a r der Unionsgegner M a r k o s Eugenikos (—»Marcus Eugenicus), später Metropolit von Ephesos. Scholarios erlernte früh die lateinische Sprache. Dies befähigte ihn, das Studium der griechischen Philosophen und T h e o l o g e n durch umfassende Lektüre lateinisch überlieferter Autoren zu ergänzen. Er las die arabischen Aristoteleskommentare in lateinischer Übersetzung, ferner —»Augustin, —»Boethius, —»Thomas von Aquino (für dessen beide Summen ihm auch die griechische Übersetzung des Demetrios —»Kydones vorlag) und Schriften anderer Scholastiker. D e r byzantinische Kaiser J o h a n n e s VIII. Palaiologos bestellte ihn zu seinem Sekretär und nahm ihn 1 4 3 7 / 3 9 mit zum Konzil von Ferrara-Florenz (—»Basel-Ferrara-Florenz). D o r t k o n n t e er aber trotz seiner vorzüglichen Kenntnis der westlichen Theologie keine führende Rolle spielen, weil e r damals noch nicht dem geistlichen Stand angehörte. N a c h der bis in die jüngste Zeit vorherrschenden Uberzeugung war Scholarios in der ersten Phase seines Lebens und so auch w ä h r e n d des Konzils ein Befürworter der Kirchenunion mit R o m und soll seine Einstellung erst im J a h r 1 4 4 4 unter dem Einfluß seines Lehrers Eugenikos geändert haben. Diese Ansicht wird neuestens von Th. Zeses in einer umfangreichen Scholariosmonographie bestritten. Das bisherige Scholariosbild basiert vor allem auf einer Reihe von Texten, die Zeses als gefälscht zu erweisen versucht, insbesondere die folgenden, dem Scholarios zugeschriebenen streng unionistischen Konzilsbeiträge: eine sog. Adhortatio (Paraklesis) über die Notwendigkeit der abendländischen Hilfe für Konstantinopel, drei Reden über den Kirchenfrieden und das sog. Suffragium (Anaphora) an den Kaiser über den Ausgang des Heiligen Geistes (nach Zeses sind diese als Falsifikat des Johannes Plusiadenos, des späteren Bischofs Joseph von Methone, anzusehen) ; ferner die angeblich bald nach dem Konzil von ihm verfaßte Antwort auf die Syllogismen des Markos Eugenikos, deren Echtheit u. a. von H.-G. Beck bestritten wurde, von G. Podskalsky aber energisch verteidigt wird. Obwohl die antirömischen Ressentiments von Zeses und die Tendenz seines Buches, Gennadios als konsequenten Verteidiger der Orthodoxie hinzustellen, unverkennbar sind, verdienen seine Argumente gegen die Echtheit der genannten Schriften einige Aufmerksamkeit. Auch der Hinweis darauf, daß die Konzilsmemoiren des Silvester Syropulos ein anderes (zwar versöhnliches, aber nicht unionistisches) Scholariosbild zeigen, ist von Bedeutung, zumal neuerdings der historische Wert dieser Memoiren positiver beurteilt wird (J.-L. van Dieten: AHC 9 [1977]). In der Wissenschaft unbestritten ist das energische Eintreten des Scholarios für die Ort h o d o x i e und gegen die Union ab 1 4 4 4 , vor allem nach seinem Eintritt in das Charsianiteskloster in Konstantinopel 1 4 5 0 ; er k o n n t e jedoch die vom K a i s e r h o f betriebene P r o k l a m a tion der Union a m 1 2 . 1 2 . 1 4 5 2 in der H a g i a Sophia nicht verhindern. Als M e h m e t II. nach der E r o b e r u n g Konstantinopels ( 2 9 . 5 . 1 4 5 3 ) aus politischen Gründen beschloß, den seit 1 4 5 1 vakanten Patriarchenstuhl von Konstantinopel wiederzubesetzen, fiel seine W a h l auf Scholarios. Die Synode der Bischöfe schloß sich diesem V o t u m an und berief ihn nach Erteilung aller geistlichen Weihen a m 6 . 1 . 1 4 5 4 zum Patriarchen. Sein Ziel einer geistlichen Erneuerung der o r t h o d o x e n Kirche konnte er gegen die Opposition im eigenen Lager nicht verwirklichen; einige Zeit vor dem 1 2 . 5 . 1 4 5 6 trat er von seinem Amt zurück. M i t Ausn a h m e zweier kürzerer Perioden der R ü c k k e h r ins Patriarchat (Ende 1 4 6 3 und 1 4 6 4 / 6 5 ) verbrachte er den Rest seines Lebens in einem Kloster bei Serres. Hier entstanden n o c h einige seiner besten theologischen W e r k e . Er starb im J a h r 1 4 7 2 oder bald danach.
Gennadios Scholarios
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Calvin's Geneva, New York, 1967. - Ders., The Consistory of Geneva, 1 5 5 9 - 1 5 6 9 : BHR 38 ( 1 9 7 6 ) 4 6 7 - 4 8 4 . - Henri Naef, Les origines de la Réforme à Genève, Genf, 1 2 1968, II 1968. - Jearinine Evelyn Oison, The Bourse Française. Deacons and Social Welfare in Calvin's Geneva, Diss. Stanford 1980. - Roger Stauffenegger, Église et Société. Genève au XVII e siècle, Diss. Paris 1975. R o b e r t M . Kingdon G e n n a d i o s Scholarios 1. Leben 1.
2. Werk
(Quellen/Literatur S. 376)
Leben
Georgios mit dem Familiennamen Scholarios, dem in seiner Bedeutung umstrittenen Beinamen Kurteses und dem späteren M ö n c h s n a m e n Gennadios ist zwischen 1 3 9 8 und 1 4 0 5 ( 1 4 0 3 ist nach T u r n e r , 1 4 0 0 nach Zeses am wahrscheinlichsten) in einer wohlhabenden Familie Konstantinopels geboren. Sein bedeutendster Lehrer w a r der Unionsgegner M a r k o s Eugenikos (—»Marcus Eugenicus), später Metropolit von Ephesos. Scholarios erlernte früh die lateinische Sprache. Dies befähigte ihn, das Studium der griechischen Philosophen und T h e o l o g e n durch umfassende Lektüre lateinisch überlieferter Autoren zu ergänzen. Er las die arabischen Aristoteleskommentare in lateinischer Übersetzung, ferner —»Augustin, —»Boethius, —»Thomas von Aquino (für dessen beide Summen ihm auch die griechische Übersetzung des Demetrios —»Kydones vorlag) und Schriften anderer Scholastiker. D e r byzantinische Kaiser J o h a n n e s VIII. Palaiologos bestellte ihn zu seinem Sekretär und nahm ihn 1 4 3 7 / 3 9 mit zum Konzil von Ferrara-Florenz (—»Basel-Ferrara-Florenz). D o r t k o n n t e er aber trotz seiner vorzüglichen Kenntnis der westlichen Theologie keine führende Rolle spielen, weil e r damals noch nicht dem geistlichen Stand angehörte. N a c h der bis in die jüngste Zeit vorherrschenden Uberzeugung war Scholarios in der ersten Phase seines Lebens und so auch w ä h r e n d des Konzils ein Befürworter der Kirchenunion mit R o m und soll seine Einstellung erst im J a h r 1 4 4 4 unter dem Einfluß seines Lehrers Eugenikos geändert haben. Diese Ansicht wird neuestens von Th. Zeses in einer umfangreichen Scholariosmonographie bestritten. Das bisherige Scholariosbild basiert vor allem auf einer Reihe von Texten, die Zeses als gefälscht zu erweisen versucht, insbesondere die folgenden, dem Scholarios zugeschriebenen streng unionistischen Konzilsbeiträge: eine sog. Adhortatio (Paraklesis) über die Notwendigkeit der abendländischen Hilfe für Konstantinopel, drei Reden über den Kirchenfrieden und das sog. Suffragium (Anaphora) an den Kaiser über den Ausgang des Heiligen Geistes (nach Zeses sind diese als Falsifikat des Johannes Plusiadenos, des späteren Bischofs Joseph von Methone, anzusehen) ; ferner die angeblich bald nach dem Konzil von ihm verfaßte Antwort auf die Syllogismen des Markos Eugenikos, deren Echtheit u. a. von H.-G. Beck bestritten wurde, von G. Podskalsky aber energisch verteidigt wird. Obwohl die antirömischen Ressentiments von Zeses und die Tendenz seines Buches, Gennadios als konsequenten Verteidiger der Orthodoxie hinzustellen, unverkennbar sind, verdienen seine Argumente gegen die Echtheit der genannten Schriften einige Aufmerksamkeit. Auch der Hinweis darauf, daß die Konzilsmemoiren des Silvester Syropulos ein anderes (zwar versöhnliches, aber nicht unionistisches) Scholariosbild zeigen, ist von Bedeutung, zumal neuerdings der historische Wert dieser Memoiren positiver beurteilt wird (J.-L. van Dieten: AHC 9 [1977]). In der Wissenschaft unbestritten ist das energische Eintreten des Scholarios für die Ort h o d o x i e und gegen die Union ab 1 4 4 4 , vor allem nach seinem Eintritt in das Charsianiteskloster in Konstantinopel 1 4 5 0 ; er k o n n t e jedoch die vom K a i s e r h o f betriebene P r o k l a m a tion der Union a m 1 2 . 1 2 . 1 4 5 2 in der H a g i a Sophia nicht verhindern. Als M e h m e t II. nach der E r o b e r u n g Konstantinopels ( 2 9 . 5 . 1 4 5 3 ) aus politischen Gründen beschloß, den seit 1 4 5 1 vakanten Patriarchenstuhl von Konstantinopel wiederzubesetzen, fiel seine W a h l auf Scholarios. Die Synode der Bischöfe schloß sich diesem V o t u m an und berief ihn nach Erteilung aller geistlichen Weihen a m 6 . 1 . 1 4 5 4 zum Patriarchen. Sein Ziel einer geistlichen Erneuerung der o r t h o d o x e n Kirche konnte er gegen die Opposition im eigenen Lager nicht verwirklichen; einige Zeit vor dem 1 2 . 5 . 1 4 5 6 trat er von seinem Amt zurück. M i t Ausn a h m e zweier kürzerer Perioden der R ü c k k e h r ins Patriarchat (Ende 1 4 6 3 und 1 4 6 4 / 6 5 ) verbrachte er den Rest seines Lebens in einem Kloster bei Serres. Hier entstanden n o c h einige seiner besten theologischen W e r k e . Er starb im J a h r 1 4 7 2 oder bald danach.
Gennadius von Marseille
376 2.
Werk
Seine theologischen Arbeiten (Podskalsky spricht von einem „in Byzanz beispiellosen" Gesamtwerk) umfassen Beiträge zur Dogmatik, Polemik und Apologetik, Exegese, Pastoral und Askese; Predigten und Gebete; Übersetzungen oder Paraphrasen von Werken des Thomas von Aquino. Umfassende Übersicht einschließlich der in ihrer Echtheit umstrittenen Werke bei Zeses ( 2 4 3 - 4 3 1 ) . Quellen Georges (Gennade) Scholarios, Œuvres complètes, éd. crit. par Louis Petit/X. A. Sidéridès/Martin Jugie, 8 Bde., Paris 1 9 2 8 - 1 9 3 6 . - Georgii Scholarii orationes in concilio Florentino habitae, ed. Iosephus Gill, 1964 (CF1, Documenta et scriptores, Sériés B/VIII/1). Literatur C . J . G . Turner, George-Gennadius Scholarius and the Union of Florence: JThS.NS 18 (1967) 8 3 - 1 0 3 . - Ders., The career of George-Gennadius Scholarius: Byz. 39 (1969) 4 2 0 - 4 5 5 . - Gerhard Podskalsky, Die Rezeption der thomistischen Theol. bei Gennadios II. Scholarios (ca. 1 4 0 3 - 1 4 7 2 ) : ThPh 49 (1974) 3 0 5 - 3 2 2 . - Theodoros N. Zeses, revvâôioç B' XxoXâgioç. Bioç-Ivyygâ^ara AiôaaxaXia, Thessalonike 1980 (Analekta Blatadon 30); s. dazu J. Darrouzès: REByz 39 (1981) 3 5 0 f . Franz Tinnefeld Gennadius von Marseille 1.
Leben
Gennadius w a r Presbyter in Marseille (Massiliae presbyter), wie die ihm gewidmete N o tiz in einem späteren Anhang zu einem seiner Werke bezeugt (vir. ill. 1 0 1 ; Richardson 9 7 ) . Dieselbe Notiz schreibt ihm ein Glaubensbekenntnis an Papst—»Gelasius I. zu, wodurch sich als Zeit seines Wirkens die zweite Hälfte des 5. Jh. bestimmen und der in De viris illustribus durch Anmerkungen zu Persönlichkeiten aus der Zeit Kaiser Zenons (gest. am 9. April 4 9 1 , s. ebd. 9 2 ; Richardson 9 4 ) angedeutete Zeitraum näher umgrenzen läßt. Diese Notiz, die sicherlich das älteste Zeugnis darstellt (Feder, Entstehung 3 8 3 ; dagegen: Czapla 1), wird zum Teil von —>Cassiodor (Inst. div. litt. 17) bestätigt, der Gennadius Massiliensis um die Mitte des 6. Jh. zitiert, und erscheint auch auf Grund der Hinweise in den älteren Handschriften von De viris illustribus (Feder, Semipelagianismus 4 8 4 ) als voll gerechtfertigt. Präziseres läßt sich über das Leben des Gennadius nicht feststellen; weder die Herkunft seiner Bildung noch seine Griechischkenntnisse lassen weitere Schlüsse zu. Auch berechtigt seine oft bekundete Sympathie für das provenzalische M ö n c h t u m nicht zu der Annahme, er habe dem Kloster Saint-Victor in Marseille angehört. 2.
Werk
2.1. Dank jener biographischen Notiz ist hingegen ein Verzeichnis seiner Werke überliefert: (1) Adversus omnes haereses in 8 Büchern (verfaßt nach vir. ill. 36. 54); (2) Adversus Nestorium in 5 Büchern; (3) Adversus Eutychen in 10 Büchern; (4) Adversus Pelagium in 3 Büchern; (5) und (6) ein Tractatus de Mille annis und De Apocalypsi beati Johannis -, (7) De viris illustribus und (8) De fide mea, ein Brief an Gelasius nach Rom. Diese Liste ist allerdings unvollständig, da sie die Übersetzungen von Gennadius nicht berücksichtigt: die Werke von —»Evagrius Ponticus, den Antirrheticus, den Gnosticus, den er als erster übersetzte, und den Practicus, von dem er eine verbesserte lateinische Ubersetzung anfertigte (vir. ill. 11; Richardson 65), sowie einen Libellus des Monophysiten —»Timotheus Aelurus (ebd. 173; Richardson 76). Das Verzeichnis der heute bekannten Werke sieht jedoch ganz anders aus: Die Streitschriften (2,3,4) sowie die Ubersetzungen sind verloren. a) De viris illustribus ist in der handschriftlichen Tradition sicher identifiziert (Feder, Semipelagianismus 484; Richardson LXXIIIf); das ohne Vorwort publizierte Werk schließt an die gleichnamige Schrift von —»Hieronymus an, wie Cassiodor (Inst. div. litt. 17), —»Isidor von Sevilla (Etym. 6,6) und auch die handschriftliche Tradition (Richardson XXIII) bezeugen. Gennadius führte die Arbeit von Hieronymus weiter, indem er sie gelegentlich durch Anmerkungen zum 4. Jh. (1 — 11) ergänzt und in erster Linie das 5. Jh. behandelt; das wahrscheinlich in mehreren Etappen verfaßte Werk (vor 4 6 7 : 1 — 68; 467/468: 6 9 - 8 3 ; 474: 84; 8 6 - 9 2 ) wurde gegen 4 7 7 / 4 7 8 vollendet (Feder, Entstehung 226f). Der
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Werk
Seine theologischen Arbeiten (Podskalsky spricht von einem „in Byzanz beispiellosen" Gesamtwerk) umfassen Beiträge zur Dogmatik, Polemik und Apologetik, Exegese, Pastoral und Askese; Predigten und Gebete; Übersetzungen oder Paraphrasen von Werken des Thomas von Aquino. Umfassende Übersicht einschließlich der in ihrer Echtheit umstrittenen Werke bei Zeses ( 2 4 3 - 4 3 1 ) . Quellen Georges (Gennade) Scholarios, Œuvres complètes, éd. crit. par Louis Petit/X. A. Sidéridès/Martin Jugie, 8 Bde., Paris 1 9 2 8 - 1 9 3 6 . - Georgii Scholarii orationes in concilio Florentino habitae, ed. Iosephus Gill, 1964 (CF1, Documenta et scriptores, Sériés B/VIII/1). Literatur C . J . G . Turner, George-Gennadius Scholarius and the Union of Florence: JThS.NS 18 (1967) 8 3 - 1 0 3 . - Ders., The career of George-Gennadius Scholarius: Byz. 39 (1969) 4 2 0 - 4 5 5 . - Gerhard Podskalsky, Die Rezeption der thomistischen Theol. bei Gennadios II. Scholarios (ca. 1 4 0 3 - 1 4 7 2 ) : ThPh 49 (1974) 3 0 5 - 3 2 2 . - Theodoros N. Zeses, revvâôioç B' XxoXâgioç. Bioç-Ivyygâ^ara AiôaaxaXia, Thessalonike 1980 (Analekta Blatadon 30); s. dazu J. Darrouzès: REByz 39 (1981) 3 5 0 f . Franz Tinnefeld Gennadius von Marseille 1.
Leben
Gennadius w a r Presbyter in Marseille (Massiliae presbyter), wie die ihm gewidmete N o tiz in einem späteren Anhang zu einem seiner Werke bezeugt (vir. ill. 1 0 1 ; Richardson 9 7 ) . Dieselbe Notiz schreibt ihm ein Glaubensbekenntnis an Papst—»Gelasius I. zu, wodurch sich als Zeit seines Wirkens die zweite Hälfte des 5. Jh. bestimmen und der in De viris illustribus durch Anmerkungen zu Persönlichkeiten aus der Zeit Kaiser Zenons (gest. am 9. April 4 9 1 , s. ebd. 9 2 ; Richardson 9 4 ) angedeutete Zeitraum näher umgrenzen läßt. Diese Notiz, die sicherlich das älteste Zeugnis darstellt (Feder, Entstehung 3 8 3 ; dagegen: Czapla 1), wird zum Teil von —>Cassiodor (Inst. div. litt. 17) bestätigt, der Gennadius Massiliensis um die Mitte des 6. Jh. zitiert, und erscheint auch auf Grund der Hinweise in den älteren Handschriften von De viris illustribus (Feder, Semipelagianismus 4 8 4 ) als voll gerechtfertigt. Präziseres läßt sich über das Leben des Gennadius nicht feststellen; weder die Herkunft seiner Bildung noch seine Griechischkenntnisse lassen weitere Schlüsse zu. Auch berechtigt seine oft bekundete Sympathie für das provenzalische M ö n c h t u m nicht zu der Annahme, er habe dem Kloster Saint-Victor in Marseille angehört. 2.
Werk
2.1. Dank jener biographischen Notiz ist hingegen ein Verzeichnis seiner Werke überliefert: (1) Adversus omnes haereses in 8 Büchern (verfaßt nach vir. ill. 36. 54); (2) Adversus Nestorium in 5 Büchern; (3) Adversus Eutychen in 10 Büchern; (4) Adversus Pelagium in 3 Büchern; (5) und (6) ein Tractatus de Mille annis und De Apocalypsi beati Johannis -, (7) De viris illustribus und (8) De fide mea, ein Brief an Gelasius nach Rom. Diese Liste ist allerdings unvollständig, da sie die Übersetzungen von Gennadius nicht berücksichtigt: die Werke von —»Evagrius Ponticus, den Antirrheticus, den Gnosticus, den er als erster übersetzte, und den Practicus, von dem er eine verbesserte lateinische Ubersetzung anfertigte (vir. ill. 11; Richardson 65), sowie einen Libellus des Monophysiten —»Timotheus Aelurus (ebd. 173; Richardson 76). Das Verzeichnis der heute bekannten Werke sieht jedoch ganz anders aus: Die Streitschriften (2,3,4) sowie die Ubersetzungen sind verloren. a) De viris illustribus ist in der handschriftlichen Tradition sicher identifiziert (Feder, Semipelagianismus 484; Richardson LXXIIIf); das ohne Vorwort publizierte Werk schließt an die gleichnamige Schrift von —»Hieronymus an, wie Cassiodor (Inst. div. litt. 17), —»Isidor von Sevilla (Etym. 6,6) und auch die handschriftliche Tradition (Richardson XXIII) bezeugen. Gennadius führte die Arbeit von Hieronymus weiter, indem er sie gelegentlich durch Anmerkungen zum 4. Jh. (1 — 11) ergänzt und in erster Linie das 5. Jh. behandelt; das wahrscheinlich in mehreren Etappen verfaßte Werk (vor 4 6 7 : 1 — 68; 467/468: 6 9 - 8 3 ; 474: 84; 8 6 - 9 2 ) wurde gegen 4 7 7 / 4 7 8 vollendet (Feder, Entstehung 226f). Der
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Text erfuhr später mehrfache Interpolationen (Heumer; Feder, Zusätze 390f): Er wurde mitunter mit Korrekturen versehen(Prosper 85) oder auch durch Zusätze (Johannes Chrysostomus, 30; Caesarius v. Arles, 87; Sidonius, 93) und eine Reihe von Notizen ergänzt, über Gelasius bis über den Autor selbst ( 9 5 - 1 0 1 ) . - b ) Daß Gennadius auch der Verfasser des Lifeer (sive diffinitio) ecclesiasticorum dogmatum ist, wurde von Turner festgestellt (Liber 78 f), zumindest in bezug auf eine oft anonyme, wahrscheinlich gegen 470 entstandene Kurzfassung (Turner; Morin 448; Anspielung auf De statu animae von Claudius Mamertus: Liber 54). In einer überarbeiteten und erweiterten Fassung, die unter dem Namen des Gennadius überliefert ist, jedoch auch Augustin bzw. Isidor zugeschrieben wird, bekennt sich der Text nachdrücklich zum Ausgehen des Heiligen —»Geistes vom Vater und vom Sohn (Turner 89; Morin); auf diese Fassung geht das Glaubensbekenntnis der Statuta Ecclesiae antiqua (Munier 229) zurück. Es wurde ohne sichere Beweise vermutet, daß der Text den Schluß von Adversus omnes haereses darstellen könnte. - cj Vier ergänzende Zusätze zum Itidiculus des Pseudo-Hieronymus bzw. zu Augustins De haer. über diepraedestiniatii, die Schüler von —»Eutyches, —»Nestorius und Timotheus Aelurus, stammen ebenfalls von Gennadius (Morin 451; Bardenhewer; G. Bardy: RSR 19 [1929] 288); möglicherweise handelt es sich dabei um Fragmente von Adv. haer. —d) Für nicht gesichert ist schließlich die Zuschreibung eines Glaubensbekenntnisses an Gennadius zu halten, der darin als Bischof von Marseille bezeichnet wird (Caspari 3 0 1 - 3 0 4 ) ; dieser wegen der vielfachen Anleihen bei Gennadius mit der Epistola de fide identifizierte Text (Jungmann 23; Turner, Supplenda 111; Munier 108) wurde von Caspari ( X I X - X X I I I ) mit überzeugenden Argumenten als aus späterer Zeit stammend beurteilt. - e ) Die dem Tractatus zugeordnete Expositio in Apocalypsim B. Ioannis wird von G. Morin, trotz des in mehreren Handschriften enthaltenen Incipits mit dem Namen Gennadius, —>Caesarius von Arles zugeschrieben (CPL 1016). - f) Obwohl das Werk in der biographischen Notiz in De viris illustribus nicht erwähnt wird, ist nach einem Vorschlag Ch. Muniers Gennadius auch als Verfasser der Statuta Ecclesiae antiqua zu betrachten, eines zwischen 442 und 506 entstandenen, bunt zusammengesetzten Sammelwerks über Kirchenordnung und Seelsorge, das in den gallischen Kanonessammlungen oft mit dem Liber ecclesiasticorum dogmatum verbunden wird. Diese im allgemeinen positiv aufgenommene Hypothese stützt sich insbesondere auf den offenkundigen Einfluß von Gennadius auf das Glaubensbekenntnis derSfatuta (Munier 2 9 0 - 2 3 6 ) . 2 . 2 . Das Werk des Gennadius (vor allem De viris illustribus und Liber ecclesiasticorum dogmatum) zeugt von dem Aufblühen einer neuen Kultur. Gennadius selbst bezeugt ein Wiederaufleben des Hellenismus im südlichen Gallien (P. Courcelle, Lettres grecques en Occident, Paris 1 9 4 8 , 2 2 1 - 2 2 3 ) ; indem er neben den lateinischen und griechischen Autoren auch die syrischen berücksichtigte, deren Sprache er wahrscheinlich nicht kannte (vir. £11.1. 6 7 . 7 5 — 8 2 . 9 2 ) , wollte er den Universalismus einer christlichen Kultur demonstrieren. Hieronymus wollte dieser Kultur mit apologetischer Absicht literarische Würde verleihen (Pricoco 2 2 f). Für Gennadius stellte sich die Frage nicht: E r schrieb eine Literaturgeschichte, in der er die berühmten Autoren jeweils nach ihrem W e r k (70) beurteilt, ohne sich um ihre Biographie zu kümmern (Czapla 2 1 1 ) und ohne an einer historischen Darstellung (vgl. 90) interessiert zu sein. Z w a r unterschied er zwischen einer litteratura humana und einer litteratura divina ( 1 1 . 3 9 u . ö . ) und verachtete weder die dialektischen ( 8 3 . 8 5 usw.) noch die stilistischen Vorzüge (vgl. 6 8 für Salvian; Ph. Badot: RBen 8 4 [ 1 9 7 4 ] 3 5 2 - 3 5 6 ) eines Textes, auf die er gern zurückgriff, um die Echtheit bestimmter Werke zu überprüfen, die einem bestimmten Autor zugeschrieben wurden (33). Doch die Dichter schätzte er kaum ( 1 3 . 4 9 ) : Wenn er C o m m o d i a n wegen seines Stils kritisiert, so wirft er ihm in erster Linie vor, wenig zur Spiritualität bzw. zu einer christlichen Kultur beizutragen (15), die vor allem auf der Meditation und der Auslegung der Heiligen Schrift beruhen müsse ( 6 5 . 6 8 . 7 0 . 8 6 ; Pricoco 4 0 ) . D e viris illustribus spiegelt die Breite seiner auf vielfacher, genau verzeichneter Lektüre beruhenden persönlichen Bildung wider ( 2 4 u. ö.), wobei bestimmte Lücken bedeutsam sind (z.B. über —»Orosius und den Streit zwischen Hieronymus und —>Rufin). 2.3. Gennadius räumt in De viris illustribus den doctores Gallicani (60) einen besonderen Platz ein und belegt somit eine Regionalisierung der Kultur; er gibt den Aufstieg eines gallischen Christentums und insbesondere eines Marseiller Zentrums ( 6 2 . 6 8 . 8 0 ) wieder, das einen dem M ö n c h t u m eng verbundenen, von Presbytern bestimmten Kreis von Geistlichen darstellte (Munier). In diesem Zusammenhang ist seine oft erörterte Verbindung (Czapla; Feder, Semipelagianismus; Pricoco 4 8 ) mit dem Semipelagianismus (—>Pelagius/Pelagianischer Streit) zu prüfen. Gennadius möchte eine mittlere Position zwischen den praede-
Georg der Araberbischof
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stiniani (vgl. seine Auslassungen bei Augustin, 3 9 ; —»Prosper v. Aquitanien, 8 5 ; das Schweigen über Zosimus, 44) und den Pelagianern ( 4 3 . 4 5 . 4 6 . 6 9 ) einnehmen, entsprechend jener mittleren Position, die sich zwischen Nestorius (vgl. 43) und Eutyches abzeichnet. Er zeigt Sympathie für —»Cassian (62), Vinzenz von Lerins (65), —»Eucherius von Lyon (64) und —»Faustus von Reji (86; Feder, Semipelagianismus 4 9 2 ) . In diesem Streit, der erst 5 2 9 durch die Synode von Orange entschieden wurde, scheint Gennadius natürlich Faustus am nächsten zu stehen, obwohl er dessen Rigorismus nicht teilt; für ihn ist das arbitrium des Menschen verletzt, aber nicht zerstört (Liber eccl. dogm. 2 0 . 2 5 ; Feder, Semipelagianismus 514). Gennadius erinnert auch an den Heilswillen Gottes (46), der jedem Betenden sein adiutorium: initium salutis ... Deo largiente (Liber eccl. dogm. 2 5 . 4 8 . 5 2 ) gewährt. 2.4. In der Praxis beschäftigt sich Gennadius besonders damit, in Gallien der Bedrohung durch die triformis bestia, die christologischen Häresien (Nestorius, Eutyches, Timotheus Aelurus), zuvorzukommen, und sammelt zugleich Geld für eine christliche Provinz: eine Synthese der pastoralen Organisation, wenn man die Vermutung Muniers akzeptiert, die vielleicht durch das in De viris illustribus bezeugte Interesse an der liturgischen Literatur (49.80), an der monastischen Bewegung (11.62) und an der ganzen Einrichtung des asketischen Lebens gestützt wird. Doch Gennadius will in De viris illustribus und im Liber ecclesiasticorum dogmatum auch alles zusammentragen, was für die christliche Kultur nach der Vorstellung eines in jener unruhigen Zeit vom monastischen Ideal angezogenen Geistlichen notwendig ist (5.9.17.45 u.ö., necessaria): Sein Liber ecclesiasticorum dogmatum baut die Darstellung der grundlegenden Theologie bereits nach einem Muster auf, das die scholastische Literatur ankündigt (Grillmeier). Quellen De viris illustribus, ed. E . C . Richardson, 1 8 9 6 (TU 1 4 / 1 ) 5 7 - 9 7 . - L i b e r ecclesiasticorum dogmatum, ed. C. H. Turner: JThS 7 ( 1 9 0 6 ) 7 8 - 9 9 ; 8 ( 1 9 0 7 ) 1 0 3 f; lange Rez.: PL 5 8 , 9 7 9 - 1 0 5 4 . - Erg. zu Ps.-Hieronymus, Adversus omnes haereses (CPL 9 5 9 ) : PL 8 1 , 6 4 4 - 6 4 7 . - Statuta Ecclesiae Antiqua, ed. Ch. Munier: BIDC 5 ( 1 9 6 0 ) 7 5 - 1 0 0 . Literatur Otto Bardenhewer, Gesch. der altkirchl. Literatur, Freiburg, IV 1 9 2 4 , 5 9 5 - 5 9 8 . - Carl P. Caspari, Kirchenhist. Anekdota, Cristiania, 1 1 8 8 3 . - B r u n o Czapla, Gennadius als Literarhistoriker. Einequellenhist. Unters, der Schrift des Gennadius, Münster 1 8 9 8 . - Alois Feder, Der Semipelagianismus im Schriftstellerkatalog des Gennadius: Schol. 2 ( 1 9 2 7 ) 4 8 1 - 5 0 4 ; 3 ( 1 9 2 8 ) 2 3 8 - 2 4 3 . - D e r s . , Die Entstehung u. Veröff. desgennadianischen Schriftstellerkatalogs: ebd. 8 ( 1 9 3 3 ) 2 1 6 - 2 3 2 . 3 8 0 - 3 9 9 . - P i e r r e Godet, Art. Gennade de Marseille: D T h C 6 ( 1 9 2 0 ) 1 2 2 4 f . - Alois Grillmeier, Patristische Vorbilder frühscholastischer Systematik: StPatr 6 ( 1 9 6 2 ) (TU 8 1 ) 3 9 8 - 4 0 5 . - Emil Jungmann, Quaestiones Gennadianae, Leipzig 1 8 8 1 . - Johann Heumer, Stud. zu den ältesten christl. lat. Literarhistorikern. II. Gennadius: WSt 2 0 ( 1 8 9 8 ) 1 4 1 - 1 4 9 . - Charles Munier, Les Statuta Ecclesiae Antiqua, s.o. - Ders., Art. Gennade de Marseille: DSp 6 ( 1 9 6 7 ) 2 0 5 - 2 0 9 . - Germain Morin, Le liber dogmatum de Gennade: RBen 2 4 ( 1 9 0 7 ) 4 4 5 - 4 5 5 . - Salvatore Pricoco, Storia letteraria e storia ecclesiastica dal De viris inlustribus di Girolamo a Gennadio, Catania 1 9 7 9 . - Martin Schanz, Gesch. der röm. Literatur, 1 9 2 0 ( H A W 8 / 4 / 2 ) , 5 2 2 - 5 2 4 . - Cuthbert H. Turner, The liber eccl. dogm. attributed to Gennadius: JThS 7 ( 1 9 0 6 ) 7 8 - 9 9 . - Ders., Supplenda . . .: JThS 8 ( 1 9 0 7 ) 1 0 3 - 1 1 4 .
Charles Pietri Geometrie —»Artes liberales Georg der Araberbischof Georg war jakobitischer Bischof der Araber mit Sitz in der berühmten einstigen Hauptstadt der Lahmiden al-HIra (von syrisch Hirta [Lager]) in Euphratnähe im südlichen Mesopotamien. Dieses bedeutende christliche Zentrum, das auch für die Entstehung der arabischen Schrift wichtig wurde, zehrte zu seiner Zeit allerdings nur noch von seinem einstigen Ruhme, zumal da 6 3 6 / 3 8 etwas nördlich 'Äqülä (al-Küfa) als Konkurrentin gegründet wurde. Georg, über dessen Leben wir nur dürftig unterrichtet sind, muß schon früh als kraft-
Georg der Araberbischof
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stiniani (vgl. seine Auslassungen bei Augustin, 3 9 ; —»Prosper v. Aquitanien, 8 5 ; das Schweigen über Zosimus, 44) und den Pelagianern ( 4 3 . 4 5 . 4 6 . 6 9 ) einnehmen, entsprechend jener mittleren Position, die sich zwischen Nestorius (vgl. 43) und Eutyches abzeichnet. Er zeigt Sympathie für —»Cassian (62), Vinzenz von Lerins (65), —»Eucherius von Lyon (64) und —»Faustus von Reji (86; Feder, Semipelagianismus 4 9 2 ) . In diesem Streit, der erst 5 2 9 durch die Synode von Orange entschieden wurde, scheint Gennadius natürlich Faustus am nächsten zu stehen, obwohl er dessen Rigorismus nicht teilt; für ihn ist das arbitrium des Menschen verletzt, aber nicht zerstört (Liber eccl. dogm. 2 0 . 2 5 ; Feder, Semipelagianismus 514). Gennadius erinnert auch an den Heilswillen Gottes (46), der jedem Betenden sein adiutorium: initium salutis ... Deo largiente (Liber eccl. dogm. 2 5 . 4 8 . 5 2 ) gewährt. 2.4. In der Praxis beschäftigt sich Gennadius besonders damit, in Gallien der Bedrohung durch die triformis bestia, die christologischen Häresien (Nestorius, Eutyches, Timotheus Aelurus), zuvorzukommen, und sammelt zugleich Geld für eine christliche Provinz: eine Synthese der pastoralen Organisation, wenn man die Vermutung Muniers akzeptiert, die vielleicht durch das in De viris illustribus bezeugte Interesse an der liturgischen Literatur (49.80), an der monastischen Bewegung (11.62) und an der ganzen Einrichtung des asketischen Lebens gestützt wird. Doch Gennadius will in De viris illustribus und im Liber ecclesiasticorum dogmatum auch alles zusammentragen, was für die christliche Kultur nach der Vorstellung eines in jener unruhigen Zeit vom monastischen Ideal angezogenen Geistlichen notwendig ist (5.9.17.45 u.ö., necessaria): Sein Liber ecclesiasticorum dogmatum baut die Darstellung der grundlegenden Theologie bereits nach einem Muster auf, das die scholastische Literatur ankündigt (Grillmeier). Quellen De viris illustribus, ed. E . C . Richardson, 1 8 9 6 (TU 1 4 / 1 ) 5 7 - 9 7 . - L i b e r ecclesiasticorum dogmatum, ed. C. H. Turner: JThS 7 ( 1 9 0 6 ) 7 8 - 9 9 ; 8 ( 1 9 0 7 ) 1 0 3 f; lange Rez.: PL 5 8 , 9 7 9 - 1 0 5 4 . - Erg. zu Ps.-Hieronymus, Adversus omnes haereses (CPL 9 5 9 ) : PL 8 1 , 6 4 4 - 6 4 7 . - Statuta Ecclesiae Antiqua, ed. Ch. Munier: BIDC 5 ( 1 9 6 0 ) 7 5 - 1 0 0 . Literatur Otto Bardenhewer, Gesch. der altkirchl. Literatur, Freiburg, IV 1 9 2 4 , 5 9 5 - 5 9 8 . - Carl P. Caspari, Kirchenhist. Anekdota, Cristiania, 1 1 8 8 3 . - B r u n o Czapla, Gennadius als Literarhistoriker. Einequellenhist. Unters, der Schrift des Gennadius, Münster 1 8 9 8 . - Alois Feder, Der Semipelagianismus im Schriftstellerkatalog des Gennadius: Schol. 2 ( 1 9 2 7 ) 4 8 1 - 5 0 4 ; 3 ( 1 9 2 8 ) 2 3 8 - 2 4 3 . - D e r s . , Die Entstehung u. Veröff. desgennadianischen Schriftstellerkatalogs: ebd. 8 ( 1 9 3 3 ) 2 1 6 - 2 3 2 . 3 8 0 - 3 9 9 . - P i e r r e Godet, Art. Gennade de Marseille: D T h C 6 ( 1 9 2 0 ) 1 2 2 4 f . - Alois Grillmeier, Patristische Vorbilder frühscholastischer Systematik: StPatr 6 ( 1 9 6 2 ) (TU 8 1 ) 3 9 8 - 4 0 5 . - Emil Jungmann, Quaestiones Gennadianae, Leipzig 1 8 8 1 . - Johann Heumer, Stud. zu den ältesten christl. lat. Literarhistorikern. II. Gennadius: WSt 2 0 ( 1 8 9 8 ) 1 4 1 - 1 4 9 . - Charles Munier, Les Statuta Ecclesiae Antiqua, s.o. - Ders., Art. Gennade de Marseille: DSp 6 ( 1 9 6 7 ) 2 0 5 - 2 0 9 . - Germain Morin, Le liber dogmatum de Gennade: RBen 2 4 ( 1 9 0 7 ) 4 4 5 - 4 5 5 . - Salvatore Pricoco, Storia letteraria e storia ecclesiastica dal De viris inlustribus di Girolamo a Gennadio, Catania 1 9 7 9 . - Martin Schanz, Gesch. der röm. Literatur, 1 9 2 0 ( H A W 8 / 4 / 2 ) , 5 2 2 - 5 2 4 . - Cuthbert H. Turner, The liber eccl. dogm. attributed to Gennadius: JThS 7 ( 1 9 0 6 ) 7 8 - 9 9 . - Ders., Supplenda . . .: JThS 8 ( 1 9 0 7 ) 1 0 3 - 1 1 4 .
Charles Pietri Geometrie —»Artes liberales Georg der Araberbischof Georg war jakobitischer Bischof der Araber mit Sitz in der berühmten einstigen Hauptstadt der Lahmiden al-HIra (von syrisch Hirta [Lager]) in Euphratnähe im südlichen Mesopotamien. Dieses bedeutende christliche Zentrum, das auch für die Entstehung der arabischen Schrift wichtig wurde, zehrte zu seiner Zeit allerdings nur noch von seinem einstigen Ruhme, zumal da 6 3 6 / 3 8 etwas nördlich 'Äqülä (al-Küfa) als Konkurrentin gegründet wurde. Georg, über dessen Leben wir nur dürftig unterrichtet sind, muß schon früh als kraft-
G e o r g der Araberbischof
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volle Persönlichkeit hervorgetreten sein, denn der Patriarch Athanasios II. der Dolmetscher, B a l a d ä j ä (gest. 11. September 6 8 7 ) , befahl zum Z e i t p u n k t seines T o d e s dem Metropoliten Sergios Z e k û n â j â , Bischof von M a r ' a s , seinen Schüler G e o r g zum B i s c h o f der Araberstämme zu ordinieren, was im Tesrin II (November) 9 9 9 ( A . D . 6 8 7 ) geschah. D e r um 6 4 0 in der G ü m a (unteres 'Afrintal nordöstlich von Antiochien) geborene G e o r g galt als eloquent. Er war Schüler eines sonst unbekannten Periodeuten Gabriel und später Freund des berühmten Bischofs J a ' q û b von Edessa (—»Jakob von Edessa). G e o r g trat als bedeutender Schriftsteller hervor. Wie damals auch im arabischen Christentum üblich, bediente er sich des Aramäischen, nämlich der syrischen Sprache bei der Abfassung seiner Schriften. Die Einleitung zu seinem Chronicon (über die Zeitrechnung) zeigt, d a ß er das Syrische über das A r a b i s c h e . stellte und der syrischen Verskunst mehr Eleganz zuschrieb. Ein erheblicher Teil seines umfangreichen schriftstellerischen W e r k e s ist auf uns g e k o m m e n . Auf jeden Fall w a r er ein guter Kenner der aristotelischen Philosophie (—»Aristoteles) und hat zumindest aus dem Organon die \0 xazrjyoQÎai, die Abhandlung IJEQI eQ/xrjveiag und die vollständigen ( !) Ä vaXvzixà JiQÔzeça k o m m e n t i e r t und neu übersetzt. Diese Arbeiten sind Spitzenleistungen der syrischen Philosophie und bieten den umfangreichsten aristotelischen K o m m e n t a r in dieser Sprache (bei ilegi ÈQfit]VEÎaç fehlend). D a n n hat er den unvollendeten siebenten Mëmrâ des Hexaëmerons seines Freundes J a c q ü b von Edessa abgeschlossen und sich ausführlich —»Gregor von Nazianz, „dem T h e o l o g e n " , gewidmet, wie umfangreiche unter seinem N a m e n überlieferte Briefe und ein unter Benutzung zahlreicher syrischer Arbeiten zusammengestellter S c h o l i e n k o m m e n t a r zu Gregors Homilien beweisen. Ein zweiter Schwerpunkt seines Wirkens w a r die praktische Kirchenorganisation. Hier dürften liturgische Fragen, aber auch solche des Anachoretentums sein Hauptaugenmerk gefunden haben. D a b e i w a r die syrische M y s t i k nicht ohne Einfluß auf ihn, wie auch seine Vertrautheit mit dem W e r k des Pseudo-Dionysios (—»Dionysius Areopagita) in diese Geistesrichtung weist. Auch G e o r g deutet in einem Gedicht das heilige Chrisma auf Christus als die ausgegossene Salbe von gutem Geruch. D a ß schließlich astronomische und astrologische Fragen sein Interesse fanden, ist trotz der Echtheitsprobleme eines Teiles der unter seinem N a m e n überlieferten einschlägigen Literatur unzweifelhaft. Hier steht er in ältester syrischer T r a d i t i o n , die mit dem Namen eines Bardaisän (—»Bardesanes) gekennzeichnet ist. D o c h tritt er der —»Astrologie grundsätzlich entgegen und erkennt ihr keinerlei Lebensrecht bei den Christen zu. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß dieses Lebenswerk von einem umfangreichen Briefwechsel begleitet w a r , in dem er auch wichtige philosophische und theologische Probleme zu erörtern pflegte. Er wurde so zu einem geistigen und wissenschaftlichen Mittelpunkt, wie sein Lehrer und Freund J a c q û b von Edessa. Die Briefe aus den J a h r e n 7 1 4 bis 7 1 8 sind erhalten. Bemerkenswert ist, daß G e o r g das Armenierproblem (—»Armenien) nicht nur kennt, sondern in dem 5 . Kapitel des Briefes an den Presbyter J o s u a eine historisch-kritische Darlegung der Lehre und des Lebens G r e g o r s des Erleuchters (Grigor Lusaworitsch) bietet und die Frage aufwirft, o b der Illuminator berechtigt gewesen sei, den Armeniern d e n syrischen Brauch der M i s c h u n g des Weines mit W a s s e r bei der Eucharistie zu untersagen. In dem 8. Kapitel des genannten Briefes tritt er g e m ä ß der östlichen T r a d i t i o n für die Freiheit des menschlichen —»Willens ein, was die Ablehnung des astrologischen Schicksalsglaubens einschließt. D a ß Georg w a c k e r für die dogmatischen Grundlagen seiner Kirche und die Anerkennung der C a n o n e s stritt, versteht sich a m R a n d e . Nur zu bedauern ist, daß wir nicht mehr über seinen Umgang mit seinen zum größten Teil außerhalb seines Sitzes nomadisierenden Gläubigen wissen. I m § e b â t (Februar) 1 0 3 5 ( 7 2 4 A . D . ) starb der große M a n n . Quellen und
Literatur
Anton Baumstark, Gesch. der syr. Lit., Bonn 1922 = Berlin 1968, 757 f. - A.F.L. Beeston/Irfan Shahîd, Art. al-HIra: EI(F) 3 (1971) 478 f. - Rubens Duval, La littérature syriaque, Paris 1907 = Amsterdam 1970, 3 7 7 f . - J . M . Fley O.P., Assyrie Chrétienne, Beirut, III 1968, 203ff. - Georg Graf,
Georg, Heiliger
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Gesch. der christl.arab. Lit., I 1944 (StT 118) 28. - Wolfgang Hage, Die syr.-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit, Wiesbaden 1966. - J. Lippl, Art. Georg der Araberbischof: LThK 4 (1932) 395 f. - Kathleen Elizabeth McVey, The Memra on the Life of Severus of Antioch, Composed by George, Bishop of the Arab Tribes. A Criticai Ed. of the Syriac Text, English Transl., and Literary and Historical Commentary, 2 Bde., Cambridge, Mass. 1977. - V. Ryssel, Art. Georg der Araberbischof: RE 3 6(1899) 5 2 2 - 5 2 9 (Quellen u. Lit.). - Bertold Spuler, Art. Georg, der Araberbischof: RGG 3 2 (1958) 1394. Caspar Detlef Gustav Müller Georg,
Heiliger
H e r k u n f t , Entstehung und ursprüngliche Intention der Georgslegende sind umstritten. Abgelehnt werden können jedoch mythologische und allegorische Deutungsversuche, die in G e o r g T r a n s f o r m a t i o n e n des T a m m u z , des H o r u s , des Perseus oder des Mithras erblickten bzw. seine Legende als Schlüsselroman des 3 6 1 von seinen Glaubensgegnern erschlagenen Bischofs G e o r g von Alexandrien lasen. In diesen Versuchen sind jeweils im R a h m e n der Gesamtlegende untergeordnete Züge überbewertet worden. D e r zweifellos in Griechisch abgefaßte U r t e x t ist in zahlreiche Sprachen übersetzt w o r d e n , u. a. in das Koptische, Äthiopische, Syrische, Armenische, Georgische, Arabische, T ü r k i s c h e , in slawische Sprachen, ins Lateinische und bereits im Mittelalter in die wichtigsten Volkssprachen des Abendlandes. Auch die muslimische W e l t hat G e o r g rezipiert. Der Inhalt der Legende, die man gelegentlich einen ,Roman' genannt hat, ist freilich auch erstaunlich: Georg, aus Kappadozien gebürtig, comes und Befehlshaber über ein großes Kontingent Soldaten, erscheint vor dem Perserkönig und Christenverfolger Datian und bekennt sein Christentum. Im Verlaufe einer Serie von unglaublichen Martern wird der Heilige in immer raffinierterer Weise getötet, stets aber von Gott zum Leben erweckt. Er vollbringt zahlreiche Wunder, darunter Erweckungen erstorbenen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens, bekehrt schließlich die Königin, die von Datian hingerichtet wird. Georg stürzt die Idole des heidnischen Tempels, bekehrt 30 900 Heiden und erleidet das Martyrium durch das Schwert, nicht ohne von Gott vorher das Privileg erbeten und erlangt zu haben, allen denen in jedweder Not helfen zu dürfen, die seinen Namen anrufen und seine Reliquien verehren werden. Dieses Handlungsgerüst ist mit romanhaften Z ü g e n , Details aus dem persischen Strafrecht, gnostischen Erlösungsmotiven, jüdischen Jenseitsvorstellungen, ja sogar mit einem pontischen L o k a l m y t h o s u m den H e r o s S k a m a n d e r und M e d e a gefüllt worden. M a n hat G e o r g , den megalomartyr, und die Helden anderer ähnlich gestalteter, in der Spätantike in Kleinasien und Ägypten produzierter Legendenromane, etwa Katharina oder Cyricus und Julitta, zu R e c h t als „ M ä r t y r e r vom unzerstörbaren L e b e n " typisiert und in ihren Legenden die hypertrophe Feier des christlichen Vitalitätsprinzips, der christlichen Unsterblichkeitshoffnung erkannt. Entstanden ist die Legende w o h l in einem kleinasiatischen (kappadozischen?) Milieu populären Christentums, wahrscheinlich gegen Ende des 4 . J h . Schon bald entstanden V a rianten: D e r unhistorische Verfolger Datian wird in byzantinischer Zeit als Diokletian historisiert; mehrere Versionen von Jugendgeschichten wurden der Legende vorgeschaltet. D e r frühe Kult Georgs im Ostreich ( 4 . - 9 . J h . ) zeigt einen eindeutigen Schwerpunkt in den Provinzen A r a b i a und Palaestina, w o die später berühmteste Georgskirche von LyddaDiospolis sich im Besitze seines Leibes glaubte — wie schon 5 2 0 / 3 0 der nordafrikanische Palästinapilger Theodosius bezeugt —, und in Syrien, w o —»Antiochien zeitweilig als Stätte des M a r t y r i u m s galt. Einige Georgskirchen finden sich auch im östlichen Kleinasien, in Kappadozien und seinen Randprovinzen Pontus und Paphlagonien: Eine kürzende Variante der Legende setzte die H e i m a t Georgs nach Melitene a m oberen Euphrat, an der Militärgrenze R o m s gegen Persien. —»Byzanz ist mit mehreren frühen Georgskultstätten vertreten, der Kult in Ägypten ist dicht, aber schwer zu datieren. Anfangs werden bei der Durchsetzung des Kultes des megalomartyr die M o n s t r o s i t ä t seiner Legende und das Nothelferprivileg mitgewirkt h a b e n , seit dem 6 . J h . ist es zweifellos die in der Legende begründete Qualität als Standesheiliger, als Patron der Soldaten, die seinen Kult im frühbyzantinischen Reich verbreitet.
Georg, Heiliger
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Gesch. der christl.arab. Lit., I 1944 (StT 118) 28. - Wolfgang Hage, Die syr.-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit, Wiesbaden 1966. - J. Lippl, Art. Georg der Araberbischof: LThK 4 (1932) 395 f. - Kathleen Elizabeth McVey, The Memra on the Life of Severus of Antioch, Composed by George, Bishop of the Arab Tribes. A Criticai Ed. of the Syriac Text, English Transl., and Literary and Historical Commentary, 2 Bde., Cambridge, Mass. 1977. - V. Ryssel, Art. Georg der Araberbischof: RE 3 6(1899) 5 2 2 - 5 2 9 (Quellen u. Lit.). - Bertold Spuler, Art. Georg, der Araberbischof: RGG 3 2 (1958) 1394. Caspar Detlef Gustav Müller Georg,
Heiliger
H e r k u n f t , Entstehung und ursprüngliche Intention der Georgslegende sind umstritten. Abgelehnt werden können jedoch mythologische und allegorische Deutungsversuche, die in G e o r g T r a n s f o r m a t i o n e n des T a m m u z , des H o r u s , des Perseus oder des Mithras erblickten bzw. seine Legende als Schlüsselroman des 3 6 1 von seinen Glaubensgegnern erschlagenen Bischofs G e o r g von Alexandrien lasen. In diesen Versuchen sind jeweils im R a h m e n der Gesamtlegende untergeordnete Züge überbewertet worden. D e r zweifellos in Griechisch abgefaßte U r t e x t ist in zahlreiche Sprachen übersetzt w o r d e n , u. a. in das Koptische, Äthiopische, Syrische, Armenische, Georgische, Arabische, T ü r k i s c h e , in slawische Sprachen, ins Lateinische und bereits im Mittelalter in die wichtigsten Volkssprachen des Abendlandes. Auch die muslimische W e l t hat G e o r g rezipiert. Der Inhalt der Legende, die man gelegentlich einen ,Roman' genannt hat, ist freilich auch erstaunlich: Georg, aus Kappadozien gebürtig, comes und Befehlshaber über ein großes Kontingent Soldaten, erscheint vor dem Perserkönig und Christenverfolger Datian und bekennt sein Christentum. Im Verlaufe einer Serie von unglaublichen Martern wird der Heilige in immer raffinierterer Weise getötet, stets aber von Gott zum Leben erweckt. Er vollbringt zahlreiche Wunder, darunter Erweckungen erstorbenen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens, bekehrt schließlich die Königin, die von Datian hingerichtet wird. Georg stürzt die Idole des heidnischen Tempels, bekehrt 30 900 Heiden und erleidet das Martyrium durch das Schwert, nicht ohne von Gott vorher das Privileg erbeten und erlangt zu haben, allen denen in jedweder Not helfen zu dürfen, die seinen Namen anrufen und seine Reliquien verehren werden. Dieses Handlungsgerüst ist mit romanhaften Z ü g e n , Details aus dem persischen Strafrecht, gnostischen Erlösungsmotiven, jüdischen Jenseitsvorstellungen, ja sogar mit einem pontischen L o k a l m y t h o s u m den H e r o s S k a m a n d e r und M e d e a gefüllt worden. M a n hat G e o r g , den megalomartyr, und die Helden anderer ähnlich gestalteter, in der Spätantike in Kleinasien und Ägypten produzierter Legendenromane, etwa Katharina oder Cyricus und Julitta, zu R e c h t als „ M ä r t y r e r vom unzerstörbaren L e b e n " typisiert und in ihren Legenden die hypertrophe Feier des christlichen Vitalitätsprinzips, der christlichen Unsterblichkeitshoffnung erkannt. Entstanden ist die Legende w o h l in einem kleinasiatischen (kappadozischen?) Milieu populären Christentums, wahrscheinlich gegen Ende des 4 . J h . Schon bald entstanden V a rianten: D e r unhistorische Verfolger Datian wird in byzantinischer Zeit als Diokletian historisiert; mehrere Versionen von Jugendgeschichten wurden der Legende vorgeschaltet. D e r frühe Kult Georgs im Ostreich ( 4 . - 9 . J h . ) zeigt einen eindeutigen Schwerpunkt in den Provinzen A r a b i a und Palaestina, w o die später berühmteste Georgskirche von LyddaDiospolis sich im Besitze seines Leibes glaubte — wie schon 5 2 0 / 3 0 der nordafrikanische Palästinapilger Theodosius bezeugt —, und in Syrien, w o —»Antiochien zeitweilig als Stätte des M a r t y r i u m s galt. Einige Georgskirchen finden sich auch im östlichen Kleinasien, in Kappadozien und seinen Randprovinzen Pontus und Paphlagonien: Eine kürzende Variante der Legende setzte die H e i m a t Georgs nach Melitene a m oberen Euphrat, an der Militärgrenze R o m s gegen Persien. —»Byzanz ist mit mehreren frühen Georgskultstätten vertreten, der Kult in Ägypten ist dicht, aber schwer zu datieren. Anfangs werden bei der Durchsetzung des Kultes des megalomartyr die M o n s t r o s i t ä t seiner Legende und das Nothelferprivileg mitgewirkt h a b e n , seit dem 6 . J h . ist es zweifellos die in der Legende begründete Qualität als Standesheiliger, als Patron der Soldaten, die seinen Kult im frühbyzantinischen Reich verbreitet.
Georg,
Heiliger
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5 2 4 / 2 5 erscheint G e o r g neben den Soldaten Longinus und T h e o d o r als Schutzheiliger eines gegen die Perser an der Orontes-Linie eingesetzten Truppenkontingents. Auf dem Schutzkreuz eines 5 8 1 bezeugten, in Syrien wirkenden Generals erscheint der Heilige in militärischem O r n a t ; der Betende ergibt sich ihm in Devotion mit der Anrufung „Heiliger Georg, h i l f ! " . D e r Militärheilige G e o r g wird v o m 6. J h . ab auf vielen Bildzeugnissen der byzantinischen Kunst als Uniform- und Waffenträger oder als H o f b e a m t e r dargestellt. Die griechischen M e n ä e n verleihen ihm den Titel TQcmaicpoQog. Es scheint, daß vor allem Justin I. ( 5 1 9 - 5 2 7 ) und sein Neffe und N a c h f o l g e r —»Justinian I. ( 5 2 7 - 5 6 5 ) , die Begründer des byzantinischen Militär- und Beamtenstaates, den Kult des neuen Soldatenheiligen gefördert haben. Justinian k a n n als Stifter mindestens zweier Georgskirchen namhaft gemacht werden. Nicht zuletzt w a r es die byzantinische H o f a r i s t o k r a t i e , welche den Georgskult verbreitete. Im 1 0 . / 1 1 . J h . enthalten 2 4 Siegel byzantinischer H o f b e a m t e r das Bildnis des hl. Georg, gegenüber 4 3 Bildnissen des hl. N i k o l a u s , 3 3 des hl. M i c h a e l , 1 9 des hl. T h e o d o r und 1 0 des hl. Demetrios. D i e alte Legende wurde den Bedürfnissen der theologisch stärker durchgebildeten Aristokratie angepaßt, gereinigt und höfisch rhetorisiert, einmal im 7 . / 8 . J h . durch einen anonymen A u t o r und n o c h m a l s a m Ende des 9. J h . durch den byzantinischen Hagiographen Niketas David, während der Patriarch N i k e p h o r o s von Konstantinopel 8 1 2 die alte Legende ganz verbot. Im 7. J h . entstand ein Kirchenlied, das Teile der Jugendgeschichte in die Liturgie integrierte. W i e jeder Heilige, besonders aber in Analogie zum Militärheiligen T h e o d o r , k o n n t e G e o r g in der Ikonographie des reitenden victor und als D r a c h e n k ä m p f e r abgebildet werden. D i e erste Darstellung Georgs als eines Reiterheiligen, der gegen die D ä m o n e n kämpft, findet sich auf einer koptischen Textilie des 6. J h . ; einen liegenden M a n n - wie der K a m p f gegen das monstrum aus der antiken Kaiserikonographie stammend — tötet Georg als Reiter mit der Lanze auf einer koptischen Ikone des 7. J h . aus dem Sinaikloster; eine Gußform des 6 . / 7 . J h . aus Smyrna zeigt den Heiligen zuerst als D r a c h e n t ö t e r , gleichzeitig erscheinen G e o r g und Demetrius als Drachensieger auf einem byzantinischen Zierrat aus gestanztem Goldblech. Frühe Darstellungen Georgs als Reiterheiligen finden sich auch in der kappadozischen , H e i m a t ' des Heiligen: in der Kirche von A c h t a m a r a m V a n - S e e ( 9 1 5 / 2 1 ) , in der 1 0 0 6 / 2 1 entstandenen unterirdischen Kirche St. B a r b a r a in Soghanle, in einer georgischen Darstellung von etwa 1 0 5 0 und anderen georgischen Repräsentationen des 1 1 . J h . , schließlich in der Ausmalung der Kapelle N r . 3 8 von G ö r e m e (um 1 0 7 0 ) . Gerade in—»Georgien, das seinen N a m e n dem Heiligen verdankt, tritt an Stelle des besiegten D r a c h e n zunächst ein unterworfener M a n n oder König auf, der den Christenverfolger Datian bzw. Diokletian symbolisiert. Erst in einer zweiten Stufe wird der D r a c h e n k a m p f Georgs literarisch. Seit dem 1 1 . J h . findet er sich in M i r a k e l s a m m l u n g e n , die aus den seit dem 6. J h . an den großen Kultstätten des Heiligen in Lydda-Diospolis, Ägypten und Kleinasien entstandenen M i r a k e l b ü c h e r n zusammenfließen. In den Westen gelangte das D r a c h e n w u n d e r erst im 1 2 . J h . : eine M i r a k e l s a m m l u n g des Regensburger Klosters St. E m m e r a m (Clm 1 4 4 7 3 ) , das G e o r g als ursprünglichen Patron verehrte, enthält es zuerst. Die Zeit der —»Kreuzzüge erst ermöglicht auch den Import der Drachentöterikonographie, zuerst 1 0 9 3 auf einem Siegel des Bamberger Domkapitels (Patrozinium) und dann auf einer M ü n z e des Regenten R o ger von Antiochien ( 1 1 1 2 - 1 1 1 9 ) , der Stadt, an deren Befreiung von muslimischer Herrschaft nach einer Kreuzfahrerlegende der Heilige als Anführer der himmlischen Heerscharen selbst mitgewirkt h a b e n soll. W ä h r e n d in der östlichen Bildtradition G e o r g den D r a c h e n stets mit der Lanze durchbohrt, hat die westliche Ikonographie gelegentlich die W a f f e (Schwert, Streitkolben) variiert. D e r Georgskult ist jedoch im Westen bedeutend älter. Bereits im 5 . J h . wurde die Georgslegende zweimal unabhängig voneinander ins Lateinische übersetzt. Die eine Version ( X ) w a r in wenig mehr als fünfzehn Handschriften in Oberitalien, in der alten Gallia und in Spanien verbreitet, die zweite kürzere (nach der aus St. Gallen stammenden Leithandschrift Sang, benannt) w a r mit nur zwölf Handschriften nahezu ausschließlich im Bereich der alten römischen Provinzen N o r i c u m und R a e t i a , also im süddeutschen R a u m verbreitet. Im 8. J h .
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Georg, Heiliger
erscheint in Rom eine dritte Übersetzung (Y), die auf einer anscheinend nicht erhaltenen, Kappadozien (Melitene) stark akzentuierenden griechischen Bearbeitung beruhte, die inhaltlich stark von X abwich. Sie drang in das römische Passionar ein und erlebte mit der raschen Verbreitung dieser Sammlung nördlich der Alpen seit dem 8. Jh. einen großen Erfolg und bald auch eine variantenreiche Differenzierung. Gegen die Lesung der Georgslegende in der Kirche hatte bereits im 6. Jh. das sog. Gelasianische Dekret Stellung genommen und sie mit ähnlichen Legenden auf einer Liste von Apokryphen plaziert. Es darf wohl diesem Verdikt verdankt werden, daß noch im merowingischen Gallien eine die anstößigen Motive (Auferstehungen und gewisse Martern) beseitigende und rhetorisch glättende Redaktion (Z) von X entstand, neben Y mit über neunzig erhaltenen Handschriften der erfolgreichste abendländische Typ der Georgslegende. Georgskirchen findet man in zahlreichen civitates (z. B. Bordeaux, Soissons, Le Mans, Metz, Regensburg), vici (z. B. Neris) und castella (z. B. Mainz-Kastel, Alzey) der Spätantike und der Merowingerzeit, in Italien und nördlich der Alpen. In mehr als zufälliger Häufung liegen sie extra muros und sind als Coemeterialbasiliken anzusprechen. Der „Heilige vom unzerstörbaren Leben" wurde offensichtlich als geeigneter Totenpatron aufgefaßt. Der Georgskult ist sicherlich noch von den Romanen getragen worden. —»Gregor von Tours, in dessen aus der kultstarken Auvergne stammender senatorischen Familie der Name Georg vorkommt, berichtet im 6. Jh. von wundertätigen Reliquien des Heiligen im Limousin und im Maine. Früh wurde der Kult des orientalischen Heiligen vom merowingischen Königtum und wohl auch bald vom christianisierten Adel aufgenommen. Auf —»Chlodwig ist die Gründung des Georgsklosters Baralle bei Cambrai zurückzuführen, seine Gattin Chrothildis widmete dem Märtyrer eine Kirche bei der bedeutenden Pfalz Chelles (östl. Paris), wo die Königin Balthildis im 7. Jh. ein Kloster errichtete. Die aus dem westgotischen Reich stammende Königin Ultrogotha erbaute das Kloster St. Georges vor 558 bei Le Mans, ihr Gemahl Childebert I. stellte seine Grabkirche St. Germain-des-Pres bei Paris auch unter den Schutz des megalomartyr. Die Agilolfinger haben in Bayern von den norischen Romanen den Kult rezipiert; nur so ist die frühe und starke Präsenz von Georgskirchen auf Herzogsgütern in Bayern zu erklären; das ins 7. Jh. zurückreichende Kloster Weltenburg erhielt sein Patrozinium. Im belgischen Amay an der Maas widmete die aus einer Familie von duces stammende Oda dem Heiligen vor 634 ihre Grabkirche. In Rätien dokumentieren Kirchenkastelle von der Spätantike bis ins 8. Jh. den genuin romanischen Charakter des Kultes, dem sich in einer Kontaktzone um den Bodensee früh auch christianisierter alemannischer Adel anschloß. Der altlateinische Westen besaß ein eigenes Festdatum (24. April), das sich auch in den alten Legenden X und Sang, findet, und dessen liturgischen Spuren und Relikten man — z. T. bis heute — auf dem Boden des römischen Reiches, in Bayern, Rätien, Oberitalien, Spanien, verstreut im frühen Gallien begegnet. Noch im 8. Jh. wird das altlateinische Datum in die fränkische Bearbeitung des gelasianischen Sakramentars übernommen. Daneben kannte die Ende des 6. Jh. in Burgund entstandene Kompilation des sog. Martyrologium Hieronymiartum — man weiß nicht, aus welcher Quelle—den 25 .April als Festdatum. Nur Rom hatte das byzantinische Datum des 23. April: Mit dem Siegeszug der römischen Liturgie seit dem späten 8. Jh. ersetzt dieses Datum zunehmend den alten Festusus. Die Karolingerzeit brachte mit der Kultblüte neuer gallischer Heiliger (—»Martin, Remigius, Dionysius) einen Abschwung des Georgskultes, auch wenn in eng begrenzten Regionen (Bayern, in der Diözese Sens und auf der Halbinsel Cotentin in der Normandie auf Grund von Reliquien) die Verehrung des orientalischen Heiligen weiterblühte. Eine Renaissance des Georgskultes ergibt sich erst während der Normannen- und Ungarnkriege des späten 9. Jh. beim Adel der Kontaktzonen: so im Anjou, im Maine, im Rheinland. Der Verdacht liegt nahe, daß wir es mit einer Aktualisierung des militärischen Charakters des Kultes zu tun haben. Gerade eines der Trägerklöster der Renaissance besaß - aus karolingischem Erbe - byzantinische Reliquien des Soldatenmärtyrerpaares Theodor und Georg. Wahrscheinlich in Prüm ist gegen Ende des 9. Jh. auch das althochdeutsche Georgslied, das erste volkssprachige Lied auf den Heiligen, entstanden, das die Legende nach den Versionen X und Y kon-
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Heiliger
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taminierte und den Heiligen als berühmten Grafen, als eine adlige Projektfigur, schildert, die mit großem Gefolge und Kriegerschar aus seinem Herrenland zum Schauplatz seines Martyriums, der Reichsversammlung des Königs Datian reist. Es ist — nach einer Mailänder Hymne des 8. Jh. — das zweite westliche Lied auf Georg überhaupt; Hymnen und Sequenzen auf den Märtyrer werden erst im 1 0 . / 1 1 . J h . zahlreicher (z. B. Verona, Rom, Vercelli, Regensburg). Im Jahre 8 9 6 erwirbt Erzbischof Hatto von Mainz (891 — 913), Kanzler des fränkischen Reiches in Rom, das angeblich 7 4 5 von Papst Zacharias aufgefundene Haupt des Heiligen und verwendet es zur Heiligtumsausstattung seiner Neugründung ReichenauOberzell. Auch in Mainz hat Hatto den Georgskult neu belebt. Auf der Reichenau entstehen im 10. J h . 2 Sequenzen, 1 Hymnus, 1 Tropus nach der Z-Version der Legende und im 11. J h . ein verlorenes Reimoffizium des Hermannus Contractus (gest. 1054); die seltene Legendenversion Sang, wird gesammelt. Hattos politischer Weggenosse Salomo III. von Konstanz ( 8 9 0 - 9 2 0 ) stiftet Georgskirchen in St. Gallen und in Manzell im Thurgau (vor 897). Unter Salomos Bruder Bischof Waldo (883 - 906) entsteht in Freising eine Georgskirche, ein (aus Y und X kontaminierter) Prozessionshymnus auf den Heiligen findet sich in einer Freisinger Handschrift. Für die mit Hatto politisch paktierende Reichsadelsfamilie der Konradiner ist Georg in dieser Zeit zum Geschlechtsheiligen geworden, dem sie mehrere Kirchen und 9 0 5 das Hauskloster in Limburg a. d. Lahn widmete. Im Laufe des 10. J h . übernahmen die verwandten Adelsfamilien der Hunfridinger in Schwaben und der Ottonen die Verehrung des Heiligen. Herzog Burkhard von Schwaben, verheiratet mit der Ottonin Hadwig, widmete 9 5 4 / 6 3 sein Burgkloster auf dem Hohentwiel dem hl. Georg; eine eigene, an Reichenauer Vorbildern orientierte Festhymne entstand. Im Laufe dieses Rezeptionsprozesses rückte Georg auch in die Heiligenreihe der laudes regiae; zunächst war er Schutzpatron für die königliche proles, die Sippe, später für den exercitus, wurde also damit Militärheiliger. Unter die besonderen Schutzheiligen von König und Reich aufgerückt, wurden ihm im späten 10. und im 11. Jh. zahlreiche im Bannkreis des deutschen Königtums entstandene Kirchen geweiht. Am bekanntesten ist die Georgsverehrung Heinrichs II. (z. B. die Klöster Kaufungen, Seeon), die in der Unterstellung seines neugegründeten Bistums Bamberg unter das Doppelpatronat des Petrus und des Großmärtyrers gipfelte. Gleichzeitig vollzieht sich auch in Frankreich die Diffusion des Kultes in den Hochadel. In diesen Kreisen entsteht im 11. Jh. eine Neubearbeitung (Zc) des Z-Typus der Legende, die im 12. Jh. in das zisterziensische Legendär und in ein rheinisches Legendär aufgenommen wurde und mit beiden im hohen Mittelalter weite Verbreitung fand. Wie in einer Einsiedler Kurzfassung des Z-Typus wird der Heilige adlig stilisiert, wird als vir illuster tituKert, der im Sinne von —»Fürstenspiegeln ingenio alacer, probus
moribus, affatu suavis ist, einen honor aliquantae
dignitatis in sua civitate erwirbt und mit
Unterstützung der cives und des umwohnenden Adels nach d e r p r a e f e c t o r i a dignitas strebt. Der Gedanke der militia Georgs im doppelten Sinne, im weltlichen und geistlichen Gewände, wird hier ebenso akzentuiert wie in einer Veroneser Hymne schon des 10. Jh., die densignifer militiae — deutlich eine Übernahme des byzantinischen Epitheton rQOTtaicpÖQOt; — preist. Die Militarisierung und Feudalisierung des Georgsbildes ist allgemein abendländisch: Eine metrische Legende des 12. Jh. aus dem schwäbischen Kloster Ochsenhausen stellt die adlige Abkunft G e o r g s - e g r e g i u s miles, comes inclitus ipseque dives, progertie magrtus, moribus insignis, fama praeclarus - mehrfach deutlich heraus. Georg ist ihr das Vorbild eines christlichen Adligen, der Kampf zwischen dem heiligen Grafen und dem Heidenkönig wird ihm zum Exempel einer Auseinandersetzung zwischen dem rex aequus und dem rex iniquus. Die erwähnte Einsiedler Kurzlegende des 12. Jh. deutet bereits im Eingangssatz das Leben des Heiligen als Exempel für das richtige Verhalten eines miles Christi, selbst wenn er aus einer nobilissima stirps stamme: Die Vita Georgs zeige die Aufgabe eines jeden miles zu leiden und zu dulden pro conditoris sui nomine. Den endgültigen Durchbruch der neuen Motivik des abendländischen Georgskultes aber besorgen die Ereignisse des ersten Kreuzzugs von 1 0 9 9 , als der byzantinische Militärheilige im Verein mit seinen Kollegen Merkurios und Demetrios die fränkischen Scharen bei Antiochia auf weißem Pferd zum Sieg über die Muslime führt. Das ist nicht nur eine formale Über-
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Heiliger
nähme eines byzantinischen Georgsmirakels, von nun an ist der Heilige auch im Abendland im byzantinischen Sinne Schlachtenhelfer und Militärpatron. Mehrere neugegründete —»Ritterorden unterstellen sich im Laufe des hohen und späten Mittelalters seinem Patronat. Adelsfamilien, Herrscherhäuser nehmen ihn als Schutzheiligen an. Graf Robert von Flandern, ein führender Teilnehmer des ersten Kreuzzugs, dem die Kreuzfahrer den Beinamen filius sancti Georgii gaben, erwarb für seine Neustiftung Anchin 1 1 0 0 eine Armreliquie des Heiligen in Konstantinopel, ließ die griechische Legende des Niketas David übersetzen, ein Korpus der Georgslegenden anfertigen und eine Festsequenz dichten. Der Kreuzfahrer Richard Löwenherz stellte sein Haus und sein Land 1 2 2 2 unter das Patronat des Heiligen; das Georgsfest wird nationaler Feiertag in England. Zwischen 1 2 3 1 und 1 2 5 6 schrieb der deutsche Autor Reinbot von Durne für den Wittelsbacher Herzog Otto von Bayern und seine Gemahlin einen Georgsroman im Stile der klassischen höfischen Artusromane. Es ist die Gesin, sant schichte des Hausheiligen, von dem lieben herrett min, dem wir welln undertaenic Georjen, der uns selten ie in keinen noeten verlies; an dem mit den Tugenden eines höfischen Ritters ausgestatteten miles christianus konnte der Ritter des 13. J h . eine Möglichkeit erfahren, sich, ohne die militia aufzugeben, Form und Inhalt der Heiligkeit anzueignen. Maximilian, der im 15. J h . eine geradezu romantische Renaissance des Rittertums zumindest literarisch und kulturell betrieb, hat es nicht versäumt, Georg unter seine Haus- und Sippenheiligen aufzunehmen, ja hat sich gar eine Geneaologie herstellen lassen, die seine Verwandtschaft mit dem Ritterheiligen der Vorzeit beweisen sollte. Der Georgskult des späten Mittelalters ist in Details wenig erforscht. Dennoch wird man behaupten dürfen, daß ein aus dem Privilegium Georgs entwickeltes Kultmotiv, die universale Nothelferfunktion, in dieser Zeit an Boden gewann und der Verehrung des Heiligen in breiteren Volksschichten zum Durchbruch verhalf. Ein Indiz für diesen Prozeß ist die starke Repräsentation von Zyklen der Georgslegenden unter den gotischen Landkirchenausmalungen. Selbstverständlich ist die Nothelferfunktion nicht säuberlich von der feudalen Komponente zu trennen. Wie sehr auch der feudale Kult auf Universalität zielte, zeigt am besten vielleicht der Schluß der in Anchin verfaßten Legendenredaktion: Er beschwört die Wunderkraft des hl. Georg, den Helfer der christianorum militum im Kampfe, den Helfer in allen anderen Nöten, den Zerstörer des Marterrades als Überwinder der durch das Rad symbolisierten fortuna, schließlich evoziert der T e x t die exempla der bekehrten Nebenfiguren der Legende für alle Schichten des Volkes: Sepultus mala peccatorum consuetudine, curet per martyrem in oppositam virtutum surgere vitam. Si quis meleficus, imitetur Athanasium, oppressus iactura Glicerium, magistros militum milites, reginam sequantur mulieres. Omnes tandem unanimes curramus certatim ad martyrem, pudeat quemque in extremis esse, vel remanere domi. Neminem sexus, neminem etas, neminem fortuna, neminem excuset conditio. Et ut dicam, quod ante me dictum est, tota domus veniat. [ W e r unter den schlimmen Gewohnheiten der Sünder begraben liegt, besorge durch den Märtyrer, daß er in ein gegenläufiges tugendreiches Leben auferstehe. Wer ein Zauberer ist, möge dem Athanasius nacheifern, der von Verlusten zu Boden Gedrückte dem Glicerius, die Ritter den Heermeistern, die Frauen mögen der Königin folgen. Indessen wollen wir alle zusammen um die Wette zum Märtyrer eilen, es schäme sich ein jeder, der zurück oder zu Hause bleibt. Niemanden entschuldigt Geschlecht, Alter, Vermögen oder Lebenslage. Und um zu sagen, was vor mir gesagt wurde: das ganze Haus möge kommen.] Literatur Theofried Baumeister, Martyr invictus. Der Märtyrer als Sinnbild der Erlösung in der Legende u. im Kult der frühen koptischen Kirche, Münster 1 9 7 2 . - Sigrid Braunfels-Esche, St. Georg - Legende, Verehrung, Symbol, München 1 9 7 6 . - F. Cumont, La plus ancienne légende de Saint-Georges: R H R 1 1 4 ( 1 9 3 6 ) 5 - 5 1 . - Eugen Ewig, Die Verehrung orientalischer Heiliger im spätröm. Gallien u. im Merowingerreich: FS. Percy Ernst Schramm, Wiesbaden, I 1 9 6 4 , 3 5 5 - 4 0 0 . - Wolfgang Haubrichs, Georgslied u. Georgslegende im frühen M A , Königstein/Ts. 1 9 7 9 . - Ders., Hero Sancte Gorio. Georgslied u. Georgskult im frühen M A (mit Kultverz.), HabSch. Saarbrücken 1 9 7 5 (im Druck). - Ders., Neue Zeugnisse zur Reichenauer Kultgesch. des 9. Jh.: Z G O 1 2 6 ( 1 9 7 8 ) 1 - 4 3 . - K a r l Krumbacher, Der Hl. Georg in der griech. Überlieferung, 1 9 1 1 ( A B A W . P H 2 5 / 3 ) . - J. E. Matzke, Contributions to the Hi-
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Georg von Sachsen
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Störy o f the Legend o f Saint G e o r g e : P M L A 1 7 ( 1 9 0 2 ) 4 6 4 - 5 3 5 ; 18 ( 1 9 0 3 ) 9 9 - 1 7 1 ; 1 9 ( 1 9 0 4 ) 4 4 9 - 4 7 8 . - G e o r g S c h r e i b e r , D i e 1 4 N o t h e l f e r in V o l k s f r ö m m i g k e i t u. S a k r a l k u l t u r , I n n s b r u c k 1 9 5 9 . - M a y V i e i l l a r d - T r o i e k o u r o f f , S a i n t G e o r g e s distribuant ses biens a u x p a u v r e s . É t u d e i c o n o g r a p h i q u e : C A r 2 8 ( 1 9 7 9 ) 9 5 - 1 0 2 . - K. Z w i e r z i n a , D i e Legenden der M ä r t y r e r v o m u n z e r s t ö r b a r e n Leben: Innsbrucker Festgruß v. der Phil. F a k . d a r g e b r a c h t der 5 0 . V e r s a m m l u n g D t . Philologen u. S c h u l m ä n n e r in Graz, Innsbruck 1 9 0 9 , 1 3 0 - 1 5 8 .
Wolfgang Haubrichs
Georg von Sachsen 1. Leben
(1471-1539)
2. Kirchenpolitik
3. Nachwirkung
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 3 8 8 )
1. Leben G e o r g wurde a m 1 3 . 8. 1 4 7 1 in M e i ß e n g e b o r e n . Sein V a t e r A l b r e c h t der B e h e r z t e (geb. 1 4 4 3 , 1 4 6 4 - 1 5 0 0 ) wurde S t a t t h a l t e r der N i e d e r l a n d e und 1 4 9 8 E r b s t a t t h a l t e r in Friesland. D i e M u t t e r S i d o nia = Z d e n a ( 1 4 4 9 - 1 5 1 0 ) w a r die T o c h t e r G e o r g s von K u n s t a t t a u f P o d i e b r a d ( - » B ö h m i s c h e B r ü d e r ) , der a m 2 2 . 3 . 1 4 7 1 im B a n n starb. Sie g e l o b t e G e o r g dem geistlichen S t a n d und ließ ihn z u m Kleriker erziehen. A l b r e c h t setzte ihn j e d o c h 1 4 8 8 als Stellvertreter in der R e g i e r u n g ein. D e m G e l ü b d e der M u t t e r k a m sein Bruder Friedrich n a c h , der als H o c h m e i s t e r den D e u t s c h e n O r d e n leitete (geb. 1 4 7 4 , 1 4 9 8 - 1 5 1 0 ) . Sidonia erzog G e o r g zur T r e u e g e g e n ü b e r der r ö m i s c h e n K i r c h e , zur F ü r s o r g e für Geistliche, K i r c h e n und K l ö s t e r sowie zur Sittenstrenge, w e c k t e M i ß t r a u e n gegen R ä t e und versuchte, seine übertriebene S p a r s a m k e i t und seine strenge G e r e c h t i g k e i t zu mildern. G e o r g heiratete 1 4 9 6 die p o l n i s c h e K ö n i g s t o c h t e r B a r b a r a ( 1 4 7 8 - 1 5 3 4 ) . M i t „ T h a t k r a f t und U m sicht, a b e r auch S t a r r s i n n " (B. W o l f 4 3 7 ) arbeitete er bei g r u n d s ä t z l i c h e r A n e r k e n n u n g der geltenden R e c h t e für den A u s b a u seines H e r z o g t u m s , das er seit 1 5 0 0 allein regierte (—»Sachsen). E r gliederte es 1 5 0 3 in Kreise und s t ä r k t e die Ä m t e r . Dresden gestaltete er zur Residenz. Sein selbständiges V o r g e h e n in alle W e t t i n e r betreffenden F r a g e n führte seit 1 5 0 1 zu Streitigkeiten, in denen - » F r i e d r i c h der W e i s e das Z u t r a u e n zu G e o r g s Aufrichtigkeit verlor, w a s die beiden sächsischen H e r r s c h a f t e n e n t f r e m d e t e . 1 5 0 5 erhielt sein B r u d e r H e i n r i c h der F r o m m e ( 1 4 7 3 - 1 5 4 1 ) die A m t e r Freiberg und W o l k e n s t e i n . D i e H e r r s c h a f t in Friesland trat G e o r g 1 5 1 5 gegen 1 0 0 0 0 0 G u l d e n an K a r l von B u r g u n d ( - » K a r l V.) a b . Allerdings tilgten die H a b s b u r g e r ihre G e s a m t s c h u l d von 3 0 8 0 0 0 Gulden erst bis 1 5 3 5 . G e s c h i c k t förderte G e o r g das A u f b l ü h e n der W i r t s c h a f t , das die erzgebirgischen Silber- und Z i n n funde b e w i r k t e n . D i e S t ä d t e unterstützte er bei der W a h r u n g der B a n n m e i l e , die B a u e r n gegen unbillige F o r d e r u n g e n ihrer G r u n d h e r r e n . - » M a x i m i l i a n I. g e w ä h r t e 1 4 9 7 ein Privileg — das er 1 5 0 7 b e s t ä t i g t e für eine H a n d e l s m e s s e in Leipzig, d e r —»Leo X . 1 5 1 4 k i r c h l i c h e n S c h u t z g e w ä h r t e . W ä h r e n d G e o r g 1 5 1 3 eine M ü n z v e r s c h l e c h t e r u n g a n s t r e b t e , w a n d t e e r s i e h 1 5 2 5 dagegen und vollzog 1 5 2 8 eine M ü n z t r e n n u n g , m u ß t e a b e r 1 5 3 4 seinen S t ä n d e n n a c h g e b e n und g e m e i n s a m mit —»Johann Friedrich von Sachsen M ü n z e n mit geringerem Silbergehalt prägen. Als 1 5 0 2 in - » W i t t e n b e r g die Universität gegründet w u r d e , fürchtete G e o r g die K o n k u r r e n z zu —»Leipzig und begann i m selben J a h r m i t R e f o r m v e r s u c h e n , die er 1 5 1 1 und 1 5 2 2 wiederholte. Sie erstreckten sich ü b e r w i e g e n d a u f die Beseitigung von M i ß s t ä n d e n und die W i e d e r h e r s t e l l u n g der alten O r d n u n g . D a b e i f ö r d e r t e G e o r g h u m a n i s t i s c h e B e s t r e b u n g e n , die ältere A n g e h ö r i g e der Artistischen F a k u l t ä t und T h e o l o g e n hinderten. D a G e o r g ihre strenge Altgläubigkeit w ü n s c h t e und die h u m a n i s t i schen Studien keine F u n k t i o n für die h ö h e r e n F a k u l t ä t e n e r l a n g t e n , k o n n t e sich Leipzig n e b e n —»Erfurt und W i t t e n b e r g nicht u n v e r m i n d e r t b e h a u p t e n . G e o r g verheiratete 1 5 1 5 seinen S o h n J o h a n n = H a n s ( 1 4 9 8 — 1 5 3 7 ) mit E l i s a b e t h von Hessen ( 1 5 0 2 - 1 5 5 7 ) , die n a c h dem T o d ihres M a n n e s das A m t R o c h l i t z als W i t t u m erhielt und der R e f o r m a t i o n z u f ü h r t e . Ihr B r u d e r - » P h i l i p p v o n H e s s e n erhielt 1 5 2 3 G e o r g s T o c h t e r Christine ( 1 5 0 5 - 1 5 4 9 ) zur F r a u . Ihre S c h w e s t e r M a g d a l e n a ( 1 5 0 7 - 1 5 3 4 ) w a r seit 1 5 2 4 G e m a h l i n des späteren Kurfürsten J o a c h i m II. von —»Brandenburg (geb. 1 5 0 5 , 1 5 3 5 - 1 5 7 1 ) . M i t d e r G r ä f i n Elisabeth von M a n s f e l d (um 1 5 1 7 - 1 5 4 0 / 4 1 ) verheiratete G e o r g a m 2 7 . 1. 1 5 3 9 seinen S o h n Friedrich (geb. 1 5 0 4 ) , der a m 2 6 . 2 . 1 5 3 9 starb. 1 5 1 8 regte ein B e s u c h der G r a b k a p e l l e der —»Fugger G e o r g a n , mit Hilfe der A u g s b u r g e r W e r k s t a t t D a u h e r zwischen 1 5 2 1 und 1 5 2 4 eine schlichte G r a b k a p e l l e a m M e i ß n e r D o m zu errichten. D i e v o n G e o r g geteilte spätmittelalterliche P a s s i o n s f r ö m m i g k e i t p r ä g t e ihre Ausgestaltung. N a c h d e m B a r b a r a beigesetzt w a r , erhielt diese K a p e l l e ein T r i p t y c h o n aus der C r a n a c h w e r k s t a t t . G e o r g w ä h l t e dafür Bib e l s p r ü c h e aus, die die G e h o r s a m s p f l i c h t der F r a u g e g e n ü b e r i h r e m M a n n und der U n t e r t a n e n gegenü b e r der O b r i g k e i t e i n s c h ä r f e n . D a er sich n a c h d e m T o d seiner F r a u den B a r t stehen ließ, erhielt er den B e i n a m e n „ d e r B ä r t i g e " . N a c h e i n e m e n t t ä u s c h u n g s r e i c h e n L e b e n s t a r b er a m 1 7 . 4 . 1 5 3 9 und f a n d seine letzte R u h e n e b e n seiner F r a u in d e r n a c h i h m b e n a n n t e n G e o r g s k a p e l l e .
Georg von Sachsen
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Störy o f the Legend o f Saint G e o r g e : P M L A 1 7 ( 1 9 0 2 ) 4 6 4 - 5 3 5 ; 18 ( 1 9 0 3 ) 9 9 - 1 7 1 ; 1 9 ( 1 9 0 4 ) 4 4 9 - 4 7 8 . - G e o r g S c h r e i b e r , D i e 1 4 N o t h e l f e r in V o l k s f r ö m m i g k e i t u. S a k r a l k u l t u r , I n n s b r u c k 1 9 5 9 . - M a y V i e i l l a r d - T r o i e k o u r o f f , S a i n t G e o r g e s distribuant ses biens a u x p a u v r e s . É t u d e i c o n o g r a p h i q u e : C A r 2 8 ( 1 9 7 9 ) 9 5 - 1 0 2 . - K. Z w i e r z i n a , D i e Legenden der M ä r t y r e r v o m u n z e r s t ö r b a r e n Leben: Innsbrucker Festgruß v. der Phil. F a k . d a r g e b r a c h t der 5 0 . V e r s a m m l u n g D t . Philologen u. S c h u l m ä n n e r in Graz, Innsbruck 1 9 0 9 , 1 3 0 - 1 5 8 .
Wolfgang Haubrichs
Georg von Sachsen 1. Leben
(1471-1539)
2. Kirchenpolitik
3. Nachwirkung
( Q u e l l e n / L i t e r a t u r S. 3 8 8 )
1. Leben G e o r g wurde a m 1 3 . 8. 1 4 7 1 in M e i ß e n g e b o r e n . Sein V a t e r A l b r e c h t der B e h e r z t e (geb. 1 4 4 3 , 1 4 6 4 - 1 5 0 0 ) wurde S t a t t h a l t e r der N i e d e r l a n d e und 1 4 9 8 E r b s t a t t h a l t e r in Friesland. D i e M u t t e r S i d o nia = Z d e n a ( 1 4 4 9 - 1 5 1 0 ) w a r die T o c h t e r G e o r g s von K u n s t a t t a u f P o d i e b r a d ( - » B ö h m i s c h e B r ü d e r ) , der a m 2 2 . 3 . 1 4 7 1 im B a n n starb. Sie g e l o b t e G e o r g dem geistlichen S t a n d und ließ ihn z u m Kleriker erziehen. A l b r e c h t setzte ihn j e d o c h 1 4 8 8 als Stellvertreter in der R e g i e r u n g ein. D e m G e l ü b d e der M u t t e r k a m sein Bruder Friedrich n a c h , der als H o c h m e i s t e r den D e u t s c h e n O r d e n leitete (geb. 1 4 7 4 , 1 4 9 8 - 1 5 1 0 ) . Sidonia erzog G e o r g zur T r e u e g e g e n ü b e r der r ö m i s c h e n K i r c h e , zur F ü r s o r g e für Geistliche, K i r c h e n und K l ö s t e r sowie zur Sittenstrenge, w e c k t e M i ß t r a u e n gegen R ä t e und versuchte, seine übertriebene S p a r s a m k e i t und seine strenge G e r e c h t i g k e i t zu mildern. G e o r g heiratete 1 4 9 6 die p o l n i s c h e K ö n i g s t o c h t e r B a r b a r a ( 1 4 7 8 - 1 5 3 4 ) . M i t „ T h a t k r a f t und U m sicht, a b e r auch S t a r r s i n n " (B. W o l f 4 3 7 ) arbeitete er bei g r u n d s ä t z l i c h e r A n e r k e n n u n g der geltenden R e c h t e für den A u s b a u seines H e r z o g t u m s , das er seit 1 5 0 0 allein regierte (—»Sachsen). E r gliederte es 1 5 0 3 in Kreise und s t ä r k t e die Ä m t e r . Dresden gestaltete er zur Residenz. Sein selbständiges V o r g e h e n in alle W e t t i n e r betreffenden F r a g e n führte seit 1 5 0 1 zu Streitigkeiten, in denen - » F r i e d r i c h der W e i s e das Z u t r a u e n zu G e o r g s Aufrichtigkeit verlor, w a s die beiden sächsischen H e r r s c h a f t e n e n t f r e m d e t e . 1 5 0 5 erhielt sein B r u d e r H e i n r i c h der F r o m m e ( 1 4 7 3 - 1 5 4 1 ) die A m t e r Freiberg und W o l k e n s t e i n . D i e H e r r s c h a f t in Friesland trat G e o r g 1 5 1 5 gegen 1 0 0 0 0 0 G u l d e n an K a r l von B u r g u n d ( - » K a r l V.) a b . Allerdings tilgten die H a b s b u r g e r ihre G e s a m t s c h u l d von 3 0 8 0 0 0 Gulden erst bis 1 5 3 5 . G e s c h i c k t förderte G e o r g das A u f b l ü h e n der W i r t s c h a f t , das die erzgebirgischen Silber- und Z i n n funde b e w i r k t e n . D i e S t ä d t e unterstützte er bei der W a h r u n g der B a n n m e i l e , die B a u e r n gegen unbillige F o r d e r u n g e n ihrer G r u n d h e r r e n . - » M a x i m i l i a n I. g e w ä h r t e 1 4 9 7 ein Privileg — das er 1 5 0 7 b e s t ä t i g t e für eine H a n d e l s m e s s e in Leipzig, d e r —»Leo X . 1 5 1 4 k i r c h l i c h e n S c h u t z g e w ä h r t e . W ä h r e n d G e o r g 1 5 1 3 eine M ü n z v e r s c h l e c h t e r u n g a n s t r e b t e , w a n d t e e r s i e h 1 5 2 5 dagegen und vollzog 1 5 2 8 eine M ü n z t r e n n u n g , m u ß t e a b e r 1 5 3 4 seinen S t ä n d e n n a c h g e b e n und g e m e i n s a m mit —»Johann Friedrich von Sachsen M ü n z e n mit geringerem Silbergehalt prägen. Als 1 5 0 2 in - » W i t t e n b e r g die Universität gegründet w u r d e , fürchtete G e o r g die K o n k u r r e n z zu —»Leipzig und begann i m selben J a h r m i t R e f o r m v e r s u c h e n , die er 1 5 1 1 und 1 5 2 2 wiederholte. Sie erstreckten sich ü b e r w i e g e n d a u f die Beseitigung von M i ß s t ä n d e n und die W i e d e r h e r s t e l l u n g der alten O r d n u n g . D a b e i f ö r d e r t e G e o r g h u m a n i s t i s c h e B e s t r e b u n g e n , die ältere A n g e h ö r i g e der Artistischen F a k u l t ä t und T h e o l o g e n hinderten. D a G e o r g ihre strenge Altgläubigkeit w ü n s c h t e und die h u m a n i s t i schen Studien keine F u n k t i o n für die h ö h e r e n F a k u l t ä t e n e r l a n g t e n , k o n n t e sich Leipzig n e b e n —»Erfurt und W i t t e n b e r g nicht u n v e r m i n d e r t b e h a u p t e n . G e o r g verheiratete 1 5 1 5 seinen S o h n J o h a n n = H a n s ( 1 4 9 8 — 1 5 3 7 ) mit E l i s a b e t h von Hessen ( 1 5 0 2 - 1 5 5 7 ) , die n a c h dem T o d ihres M a n n e s das A m t R o c h l i t z als W i t t u m erhielt und der R e f o r m a t i o n z u f ü h r t e . Ihr B r u d e r - » P h i l i p p v o n H e s s e n erhielt 1 5 2 3 G e o r g s T o c h t e r Christine ( 1 5 0 5 - 1 5 4 9 ) zur F r a u . Ihre S c h w e s t e r M a g d a l e n a ( 1 5 0 7 - 1 5 3 4 ) w a r seit 1 5 2 4 G e m a h l i n des späteren Kurfürsten J o a c h i m II. von —»Brandenburg (geb. 1 5 0 5 , 1 5 3 5 - 1 5 7 1 ) . M i t d e r G r ä f i n Elisabeth von M a n s f e l d (um 1 5 1 7 - 1 5 4 0 / 4 1 ) verheiratete G e o r g a m 2 7 . 1. 1 5 3 9 seinen S o h n Friedrich (geb. 1 5 0 4 ) , der a m 2 6 . 2 . 1 5 3 9 starb. 1 5 1 8 regte ein B e s u c h der G r a b k a p e l l e der —»Fugger G e o r g a n , mit Hilfe der A u g s b u r g e r W e r k s t a t t D a u h e r zwischen 1 5 2 1 und 1 5 2 4 eine schlichte G r a b k a p e l l e a m M e i ß n e r D o m zu errichten. D i e v o n G e o r g geteilte spätmittelalterliche P a s s i o n s f r ö m m i g k e i t p r ä g t e ihre Ausgestaltung. N a c h d e m B a r b a r a beigesetzt w a r , erhielt diese K a p e l l e ein T r i p t y c h o n aus der C r a n a c h w e r k s t a t t . G e o r g w ä h l t e dafür Bib e l s p r ü c h e aus, die die G e h o r s a m s p f l i c h t der F r a u g e g e n ü b e r i h r e m M a n n und der U n t e r t a n e n gegenü b e r der O b r i g k e i t e i n s c h ä r f e n . D a er sich n a c h d e m T o d seiner F r a u den B a r t stehen ließ, erhielt er den B e i n a m e n „ d e r B ä r t i g e " . N a c h e i n e m e n t t ä u s c h u n g s r e i c h e n L e b e n s t a r b er a m 1 7 . 4 . 1 5 3 9 und f a n d seine letzte R u h e n e b e n seiner F r a u in d e r n a c h i h m b e n a n n t e n G e o r g s k a p e l l e .
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Georg von Sachsen 2.
Kirchenpolitik
Georg versuchte, die Kirche in seinem Land zu reformieren, um sie zu einem seiner Frömmigkeit entsprechenden Leben zu nötigen. Georg hatte früh Verbindung zu dem energischen Reformer der —»Augustiner-Eremiten Andreas Proles (1429-1503) und wünschte in allen Bettelorden die Observanz. 1502 gründete er ein Kloster in Annaberg für observante —»Franziskaner, 1516 für Cölestiner auf dem Königstein. 1503 versuchte er vergeblich, ein Recht auf Klostervisitationen zu erhalten. So nötigte er die zuständigen Instanzen, mit seinen Räten Klöster zu reformieren. Er bekämpfte das Umherziehen von Mönchen und Nonnen, was sich infolge der Reformation zur Verfolgung entlaufener Klosterangehöriger erweiterte. Nachdem —»Clemens VII. das auch von Georg geforderte Konzil, von dem er Reformbeschlüsse erhoffte, 1534 wiederum vertagt hatte, ließ er ab 1535 die Klöster von den beiden Leipziger Juristen Georg von Breitenbach (gest. 1541) und Melchior von Ossa (1506/07-1557), seit 1538 mit dem Chemnitzer (Karl-Marx-Stadt) Abt Hilarius Rehberg (gest. 1551) visitieren. Doch der Widerstand der Bischöfe, Mönche und Adligen verhinderte einen Erfolg. 1503 beantragte Georg vergeblich einen von ihm zu berufenden Konservator für die Strafgewalt über alle Geistlichen. Er nötigte die Inhaber der geistlichen Gewalt zum Vorgehen entsprechend seinen Vorschlägen, brachte die Bischöfe „in eine Art Beamtenverhältnis" (Lobeck 38) zu sich und protestierte entschieden gegen Übergriffe der geistlichen Gerichte, an die er andererseits Geistliche, die sich strafbar gemacht hatten, überwies. Dieses intensive Interesse für Geistliche mußte sich gegen Anhänger —»Luthers richten. Um wirkungsvoller eingreifen zu können, begehrte Georg am 4. 1. 1523 - wiederum vergeblich — von Rom das Recht, Geistliche, die Irrtümer lehren oder unordentlich leben, abzusetzen und ihre Nachfolger zu bestimmen. Keine Kosten scheute er, die mit dem Meißner Domkapitel seit 1497 betriebene Kanonisation ihres Bischofs Benno (1066—1106) zu erreichen, was am 31. 5. 1523 gelang. Die Erhebung seiner angeblichen Gebeine am 16. 6. 1524 stieß auf Zurückhaltung und Spott. Mindestens seit 1458 erlaubten die Wettiner den Verkauf von -»Ablaß - soweit möglich — nur unter Bedingungen und im Interesse ihres Hauses. Georg behielt das im albertinischen Sachsen für einen Türkenkreuzzug gesammelte Geld des Jubiläumsablasses von 1500 zur Tilgung der Schulden Maximilians I. Zugunsten des Ablasses vom 5. 7. 1517 für den Kirchbau in Annaberg wollte Georg den durch —»Albrecht von Mainz verbreiteten Ablaß fernhalten. Darum empfahl er zwar im November 1517 dem Bischof Adolf von Merseburg (geb. 1458, 1514—1526), Luthers 95 Thesen an vielen Orten anzuschlagen, erbat aber am 4. 1. 1523 einen Ablaß für den Kirchenbau in Altenberg (Akten I, 423 f). Kritische, zum Teil hinterhältige Einstellung erlebte Luther nach einer Predigt im Dresdner Schloß am 25. Juli 1518 — Georg war in Augsburg — in einem Gespräch bei H. —»Emser. Trotzdem erzwang Georg zum Ruhm seiner Universität gegen den Willen der Theologischen Fakultät und Adolfs von Merseburg die Disputation von J. —»Eck mit A. —»Karlstadt in Leipzig (27. 6 . - 1 6 . 7. 1519), wobei er Luther ungenannt mit Karlstadts Begleitung erst am 10. 6. 1519 freies Geleit gewährte. Während der Disputation stellte Georg erschrocken bei Luther hussitische Anschauungen fest. Wenn Georg auch weiterhin mit einigen Reformvorschlägen Luthers übereinstimmte — so formulierte er auf dem Wormser Reichstag 1521 (—»Reichstage der Reformationszeit) Reformartikel —, war er doch nie heimlich lutherisch, sondern bekämpfte diese Lehre seit dem 27. 12. 1519 entschlossen als hussitisch und aufrührerisch (Lobeck 54—61), wenn auch nicht blutig, wie seine Absicht schien. Georg wandte sich an Luthers Landesfürsten, erwies sich auch in der Religionsfrage als kaisertreu, ergriff auf den Reichstagen entschieden Partei gegen Luther - so am 24. 4. 1521 — und erwirkte am 2 0 . 1 . 1522 ein Mandat des Reichsregimentes gegen die Neuerungen in Wittenberg. Seine Bildung erlaubte ihm, Luthers Schriften zu verfolgen und auch selbst — teilweise anonym gegen Luther zu schreiben, wobei er sich der Hilfe seiner Räte, Theologen und der Leipziger Theologischen Fakultät bedienen konnte. Gleichzeitig regte er andere zu Veröffentlichungen gegen Luther an, so Emser und J. —»Cochläus.
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A m 2. 10. 1 5 2 2 forderte er sein Land auf, entlaufene M ö n c h e und diejenigen, die Luthers Lehre verbreiten oder das —»Abendmahl unter beiderlei Gestalt empfangen, gefangenzunehmen und nicht in Wittenberg zu studieren. Den Augustinereremiten verbot er die Teilnahme an der Kapitelstagung zu Pfingsten 1 5 2 2 . Luther, der gerade jede Gewaltanwendung in Glaubensdingen energisch bekämpfte, konnte Georgs Vorgehen — bei voller Anerkennung seiner Tüchtigkeit in weltlichen Dingen — nur als Tyrannei verstehen. Er verglich Georg im März 1 5 2 2 mit einer Wasserblase (WA 1 0 / 2 , 5 5 , 1 9 - 3 4 ) . Beleidigt ließ sich Georg zu lächerlichen Schritten verleiten (Bornkamm 2 6 6 — 2 6 8 ) . Am 7. 11. 1 5 2 2 verbot er den Verkauf von Luthers Ubersetzung des Neuen Testaments, die er später durch eine von Emser revidierte Ausgabe von 1 5 2 7 verdrängen wollte, und beeinflußte dadurch Luthers Entfaltung seiner Zweiregimentenlehre (—»Zwei reichelehre), der auf Georgs Vorgehen 1 5 2 3 mit Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei antwortete. Georg fühlte sich persönlich angegriffen; ihm wurde damit die Grundlage seiner Kirchenpolitik entzogen. Der —»Bauernkrieg war für ihn eine Frucht der Lehre Luthers. Am 19. 7. 1 5 2 5 schloß er mit Albrecht von Mainz, Joachim I. von Brandenburg (geb. 1 4 8 4 , 1 4 9 9 - 1 5 3 5 ) sowie Erich von Braunschweig-Calenberg (geb. 1 4 7 0 , 1 4 9 5 - 1 5 4 0 ) und Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (geb. 1 4 8 9 , 1 5 1 4 - 1 5 6 8 ) den Dessauer Bund, um die Reformation abzuwehren und schließlich die „vordampt luterisch secten" auszurotten (Akten II, 3 5 2 f) und beteiligte sich 1 5 3 3 am Hallischen und 1 5 3 8 am Nürnberger Bund. Auf den Rat Adliger aus Georgs Herrschaft schrieb Luther diesem a m 2 1 . 12. 1 5 2 5 einen versöhnlichen Brief, auf den Georg rasch antwortete. Er hielt ihm aber lediglich die „Frücht e " seiner Lehre sowie den Bruch seines Mönchsgelübdes vor und forderte ihn zur Unterwerfung auf (WA.B 3 , 6 3 7 - 6 4 4 . 6 4 6 - 6 5 3 ) . Philipp von Hessen versuchte 1 5 2 5 bis 1 5 2 7 in einem interessanten Briefwechsel, Georg für die Reformation zu gewinnen. 1 5 2 7 griff Georg Luthers Abendmahlslehre an. Mit dem Mandat vom 13. 1 2 . 1 5 2 7 eröffnete Georg die Verfolgung der —»Täufer. Zu Unrecht bezichtigte Luther Georg, er habe als Lügner den Geheimvertrag zur Vernichtung der Evangelischen abgestritten, den sein Rat Otto von Pack (um 1 4 8 0 — 1 5 3 7 ) aus Gewinnsucht vorgetäuscht hatte. Veröffentlichungen Luthers zum Augsburger Reichstag 1 5 3 0 (—»Reichstage der Reformationszeit) lösten einen weiteren Streitschriftenwechsel mit Georg aus. Aufgrund des „Grimmaischen Machtspruchs" vom 17. 7. 1 5 3 1 stellten Georg und Luther ihre öffentliche Polemik ein (WA.B 6, 1 5 4 f ) , bis Luthers Brief an die Evangelischen in Leipzig Georg herausforderte und Luther sich 1 5 3 3
mit Verantwortung
der aufgelegten Aufruhr von Herzog Georg samt einen Trostbrief an
die Christen, von ihm aus Leipzig unschuldig verjagt rechtfertigte (WA.B 6, 4 4 4 — 4 4 6 . 4 4 8 - 4 5 2 . 4 6 4 f ; WA 3 8 , 8 6 - 1 2 7 ) . Als Georg 1 5 1 7 versuchte, —»Erasmus für seine Universität zu gewinnen, eröffnete er damit einen Briefwechsel, in dem Erasmus ihm sein Bild eines christlichen Fürsten nahebrachte und Georg diesen seit 1 5 2 2 zum Schreiben gegen Luther drängte. 1 5 3 1 endete dieser Briefwechsel. Nachdem in Kursachsen seit 1 5 2 5 der deutsche Gottesdienst eingeführt wurde, entstand eine evangelische Bewegung unter Georg, die sich im Gottesdienstbesuch in kursächsischen Gemeinden und der Weigerung zur communio sub una manifestierte. Vergeblich versuchte Georg, durch Geld- und Gefängnisstrafen, Versagen einer „ehrlichen" Beerdigung und Ausweisung seine Untertanen vom evangelischen Glauben abzuhalten oder wieder abzubringen. Darum ging sein R a t J . —»Pflug auf von Erasmus vorgeschlagene Ausgleichsverhandlungen (—»Reformationsgespräche) ein. Nachdem Georg 1 5 3 3 etwa 8 0 Leipziger ausgewiesen hatte, befürchtete sein Rat Georg von Karlowitz (um 1 4 8 0 - 1 5 5 0 ) wirtschaftliche Schäden und entschied sich für eine reformkatholische Politik. Er förderte das erste Leipziger Religionsgespräch ( 2 9 . 4 . - 3 . 5 . 1 5 3 4 ) zwischen Kurmainz und den beiden sächsischen Herrschaften, das an der Lehre über die Messe scheiterte. Als J o h a n n am 1 1 . 1 . 1 5 3 7 kinderlos starb, wurde Heinrich der Fromme Georgs Erbe. Dieser hatte Neujahr 1 5 3 7 gegen Georgs ausdrücklichen Willen in seinen Ämtern die Reformation eingeführt. Die Prälaten unterstützten Georgs kompromißlosen Kampf. Dieser ließ im M a i 1 5 3 7 den schwachsinnigen Friedrich für regierungsfähig erklären, wofür er den
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Ständen Mitspracherecht einräumte. 1 5 3 9 verheiratete er ihn, um einen romtreuen Erben zu erhalten (Kroker). Indessen wollte Karlowitz — bestärkt von G. —»Witzel - einige Forderungen der Reformation ( w i z c o m m u n i o sub utraque, Priesterehe, Verringerung der Feiertage) gewähren, damit sich nach Georgs T o d eine Einführung der Reformation erübrige. So fand das zweite Leipziger Religionsgespräch im J a n u a r 1 5 3 9 zwischen den beiden sächsischen Herrschaften und Hessen angeblich ohne Georgs Wissen statt. Es brachte zwar keine Verständigung, aber ein von M . —»Bucer und Witzel erarbeitetes Reformprogramm, das Georg dem Meißner Bischof und dessen Dechanten überwies. Obgleich er energisch für eine Reform der Kirche wirkte und „sich auch vnter steht, die heimlikeit des gewissens zu erforrschen" ( W A . B (j, 4 4 9 , 1 3 f), wollte er sie nur im Rahmen der geltenden Ordnung durchführen. D a die geistlichen Würdenträger sich versagten, mußte er scheitern. Seine Kirchenpolitik bewies, daß die römische Kirche die Reformkräfte erst unterstützte, als sie ihre Existenz von der Reformation bedroht fühlte. 3.
Nachwirkung
Georg starb am 17. 4 . A m 2 5 . 5. 1 5 3 9 predigte Luther in der Leipziger Thomaskirche: Heinrich w a r allen Bemühungen Georgs zum Trotz sein Nachfolger geworden und führte mit kursächsischer Hilfe die Reformation ein. Dennoch blieb Georgs Politik nicht ohne Folgen. Denn obgleich seine M a ß n a h m e n nicht die ganze Breite der lutherischen Bewegung in seinem Land erkennen lassen, darf dennoch nicht übersehen werden, daß ein Teil der Bevölkerung, besonders im Adel, romtreu blieb. Heinrich trug dem Rechnung, als er am 2 0 . 1 2 . 1 5 3 9 die zweite Visitation ohne Wittenberger Unterstützung begann und damit eine selbständige Kirchenpolitik eröffnete, die — verbunden mit einer habsburgfreundlichen Außenpolitik »Moritz von Sachsen im —»Schmalkaldischen Krieg an die Seite des Kaisers führte. Die unter Georg entstandenen reformkatholischen Bestrebungen gewannen Einfluß in der Reichspolitik, w o sie auf den Widerstand der Wittenberger stießen, die aufgrund der Leipziger Religionsgespräche von Ausgleichsverhandlungen nichts erwarteten. Quellen Akten u. Briefe zur Kirchenpolitik Georgs v. Sachsen, hg. v. Filician Geß, 2 Bde., Leipzig 1 9 0 5 - 1 9 1 7 (Ms. III [ 1 5 2 8 - 1 5 3 9 ] v. Elisabeth Werl erstellt).- Paul Arras, Regestenbeiträge zur Gesch. Georgs des Bärtigen v. Sachsen: Neues Lausitzisches Magazin 87 (1912) 2 8 0 - 2 9 4 . - Otto Clemen, Neue Aktenstücke zum Streit zw. Herzog Georg v. Sachsen u. Luther über dessen Brief an Link: BSKG 4 1 / 4 2 (1933) 1 3 - 2 2 . - Staat u. Stände unter den Herzögen Albrccht u. Georg 1 4 8 5 - 1 5 3 9 , bearb. v. Woldemar Goerlitz, Leipzig 1928 (Sächsische Landtagsakten 1). Literatur Bibliographien: BDG 3 3 0 3 0 f . 3 3 0 3 5 e - 3 3 0 8 0 a . 33125 af.-Bibliogr. der sächsischen Gesch., hg. v. Rudolf Bemmann, Leipzig, I 1918, 1 8 0 - 1 8 4 . Eine wissenschaftliche Georgbiographie fehlt. - Hans Becker, Herzog Georg v. Sachsen als kirchl. u. theol. Schriftsteller: ARG 24 (1927) 1 6 1 - 2 6 9 . - Ders., Zur Charakteristik des Herzogs Georg v. Sachsen als kirchl. Schriftsteller: Harnack-Ehrung, Leipzig 1921, 3 0 8 - 3 1 6 . - Heinrich Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Aus dem Nachlaß hg. v. Karin Bornkamm, Göttingen 1979. Ludwig Cardauns, Zur Kirchenpolitik Herzog Georgs v. Sachsen: QFIAB 10 (1907) 1 0 1 - 1 5 1 . - Otto Clemen, Zwei Grabschriften auf Herzog Georg: NASG 32 (1911) 1 3 8 - 1 4 1 . - F r a n z Dibelius, Art. Georg der Bärtige: RE 3 6 (1899) 5 2 9 - 5 3 3 . - T h e o d o r Distel, Der Geburtstag des Herzogs Georg zu Sachsen: NASG 12 (1891) 170 f . - R . Doebner, Aktenstücke zur Gesch. der Vita Bennonis Misnensis: NASG 7 (1886) 1 3 1 - 1 4 4 . - Kurt Dülfer, Die Packschen Händel, 1958 (VHKHW 24/3). - Walter Friedensburg, Beitr. zum Briefwechsel zw. Herzog Georg v. Sachsen u. Philipp v. Hessen. 1 5 2 5 - 1 5 2 7 : NASG 6 (1885) 9 4 - 1 4 5 . - Filician Geß, Habsburgs Schulden bei Herzog Georg: NASG 19 (1898) 2 1 3 - 2 4 3 . Ders., Herzog Georg, Kurfürst Joachim I. u. Kardinal Albrecht: ZKG 13 (1892) 1 1 9 - 1 2 5 . - Ders., Die Klostervisitationen des Herzogs Georg v. Sachsen, Leipzig 1 8 8 8 . - D e r s . , Leipzigu. Wittenberg: NASG 16 (1895) 4 3 - 9 3 . - Woldemar Goerlitz, Herzog Georg v. Sachsen u. seine Stände: Wiss. Beilage der Leipziger Zeitung (1908) 6 5 - 6 7 . - Oswald A. Hecker, Religion u. Politik in den letzten Lebensjahren Herzog Georgs des Bärtigen v. Sachsen, Leipzig 1912. - Herbert Heibig, Die Reformation der Univ. Leipzig im 16. Jh., 1953 (SVRG 171). - Herzog Georg der Bärtige v. Sachsen und die Reformation: HPB1 46 (1860) 2 6 1 - 2 8 0 . 3 4 5 - 3 6 1 . 4 5 0 - 4 6 6 . 5 2 5 - 5 3 5 . - Gustav Kawerau, Hieronymus Emser,
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Helmar Junghans Georgien 1. Allgemeines 2 . Christianisierung 3 . Bis zur Trennung von der armenischen Kirche 4 . Bis zur Einigung Georgiens um das J a h r 1 0 0 0 5 . Bis zur Eingliederung Georgiens ins russische Reich 1801 6 . Entwicklung bis in die Gegenwart (Quellen und Hilfsmittel/Literatur S. 3 9 4 )
1.
Allgemeines
Georgien, zwischen Kaukasus im Norden und dem türkisch-iranischen Bergland im Süden gelegen, wird im Westen durch das Schwarze Meer begrenzt und geht im Osten allmählich in die aserbeidschanische Steppe über, die sich bis zum Kaspischen Meer erstreckt. Durch das nord-südlich verlaufende Suramigebirge wird Georgien in Ost- und Westgeorgien getrennt. Die Landesnatur erschwerte die politische und religiöse Einigung Georgiens, und oft gingen beide Landesteile im Lauf der Geschichte ihre eigenen Wege. Nur im 5 . - 6 . Jh. und dann vom 1 1 . - 1 3 . Jh. war Georgien wirklich geeint. Westgeorgien hieß im Altertum Kolchis, dann, in nicht immer gleichem räumlichen Umfang, Egrisi, in oströmischer Zeit Lasika, heute Imereti mit der Hauptstadt Kutaisi. Früher erstreckte sich das georgische
Georgien
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1 8 9 8 ( S V R G 6 1 ) . - Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzschmar, Sächsische Gesch., Dresden, I 1 9 3 5 . H a n s J o a c h i m Krause, Die Grabkapelle Herzog Georgs v. Sachsen u. seiner Gemahlin am D o m zu Meißen: Das Hochstift Meißen, hg. v. Franz Lau, 1 9 7 3 ( H e r C h r Sonderbd.), 3 7 5 - 4 0 2 . T a f . 2 6 - 4 1 . Ernst Kroker, Georg des Bärtigen letzter T r u m p f : Leipziger Kalender 9 ( 1 9 1 2 ) 8 6 - 9 4 . - O t t o Langer, Bischof B e n n o v. Meißen. Sein Leben u. seine Kanonisation: M i t t . des Vereins für Gesch. der Stadt Meißen 1 ( 1 8 8 6 ) H . 5 , 1 - 3 8 ; 2 ( 18 87) 9 9 - 1 4 4 . - Oscar Lehmann, Herzog Georg v. Sachsen im Briefwechsel mit Erasmus v. Rotterdam u. dem Erzbischof Sadolet, Neustadt i. S. 1 8 8 9 . - Albrecht Lobeck, Das Hochstift Meißen im Zeitalter der Reformation bis zum T o d Herzog Heinrichs 1 5 4 1 , 1 9 7 1 ( M D F 6 5 ) . - Ingetraut Ludolphy, Der K a m p f Herzog Georgs v. Sachsen gegen die Einführung der Reformation: D a s Hochstift Meißen, hg. v. Franz Lau, 1 9 7 3 (HerChr Sonderbd.), 1 6 5 - 1 8 5 . - Dies., Die Ursachen der Gegnerschaft zw. Luther u. Herzog Georg v. Sachsen: Verantwortung. FS Gottfried Noth, Berlin 1 9 6 4 , 1 5 5 - 1 7 0 = LuJ 3 2 ( 1 9 6 5 ) 2 8 - 4 4 . - G e o r g Hermann Müller, Martin Luther u. Dresden: Dresdner Geschichtsbl. 7 ( 1 9 1 7 - 1 9 2 0 ) 4 7 - 6 9 . - Artur Neuberg, Herzog Georg der Bärtige: Tausend J a h r e M e i ß n e r Land, Meißen 1 9 2 9 , 5 7 - 6 5 . - Nicolaus Paulus, Z u r Kirchenpolitik Herzog Georgs v. Sachsen: HPB1 1 3 7 ( 1 9 0 6 ) 4 7 - 5 7 . - Gisela Reichel, Herzog Georg der Bärtige u. Erasmus v. Rotterdam, Diss. T h e o l . Leipzig 1 9 4 7 . - Heinz Scheible, Fürsten auf dem Reichstag: Der Reichstag zu W o r m s v. 1 5 2 1 , hg. v. Fritz Reuter, W o r m s 1 9 7 1 , 3 6 9 - 3 9 8 . - A d o l f Moritz Schulze, Georg u. Luther oder Ehrenrettung des Herzogs Georg v. Sachsen, Leipzig 1 8 3 4 . - Ludwig Schwabe, Herzog Georg. Ewiger Gub e r n a t o r v . Friesland: N A S G 1 2 ( 1 8 9 1 ) 1 - 2 6 . - K u r t - V i c t o r Selge, Der Weg zur Leipziger Disputation zw. Luther u. Eck im J a h r 1 5 1 9 : Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, hg. v. Bernd M o e l ler/Gerhard R u h b a c h , Tübingen 1 9 7 3 1 6 9 - 2 1 0 . - Sponsel, Meister der Bildnismedaille, Georgs des Bärtigen: Bl. f. Münzfreunde 5 2 ( 1 9 1 7 ) 2 9 7 . - Paul Vetter, Neues zu Alexius Krosners Lebensgesch.: N A S G 4 0 ( 1 9 1 9 ) 1 6 4 - 1 7 0 . - H a n s Virck, Die Ernestiner u. Herzog Georg v. 1 5 0 0 bis 1 5 0 8 : N A S G 3 0 ( 1 9 0 9 ) 1 - 7 5 . - O t t o Vossler, Herzog Georg der Bärtige u. seine Ablehnung Luthers: H Z 1 8 4 ( 1 9 5 7 ) 2 7 2 - 2 9 1 . - Paul Wahl, Drei kostbare Porträts der Reformationszeit in der Georgsbibliothek zu Dessau. Georg der Bärtige, Fürst Georg v. Anhalt u. Prediger Nikolaus Hausmann: Anhaltinische Geschichtsbl. 1 0 / 1 1 ( 1 9 3 4 / 3 5 ) 8 3 - 8 9 . - Günther Wartenberg, Die albertinische Kirchenpolitik unter Herzog M o r i t z v. Sachsen ( 1 5 4 1 - 1 5 4 6 ) , 2 Bde., Diss. T h e o l . Leipzig 1 9 8 2 . - Ders., Die Einwirkung Luthers auf die reformatorische Bewegung im Freiberger Gebiet u. auf die Herausbildung des ev. Kirchenwesens unter Herzog Heinrich v. Sachsen: H e r C h r 13 ( 1 9 8 1 / 8 2 ) 9 3 - 1 1 7 . - Ders., Die ev. Bewegung im albertinischen Sachsen nach 1 5 2 5 : Reform Reformation Revolution, hg. v. Siegfried Hoyer, Leipzig 1 9 8 0 , 1 5 1 - 1 5 5 . - Ders., Die Leipziger Religionsgespräche v. 1 5 3 4 u. 1 5 3 9 : Die Religionsgespräche der Reformationszeit, 1 9 8 0 ( S V R G 1 9 1 ) 3 5 - 4 1 . - Ders., Luthers Beziehungen zu den sächsischen Fürsten: Leben u. Werk M a r t i n Luthers von 1 5 2 6 bis 1 5 4 6 , hg. v. Helmar Junghans, Berlin 1 9 8 2 , 5 4 9 — 5 7 1 . - Heinrich Freiherr v. W e l c k , Georg der Bärtige Herzog v. Sachsen, Braunschweig 1 9 0 0 . Elisabeth Werl, Elisabeth, Herzogin zu Sachsen, die Schwester Landgraf Philipps v. Hessen, Weida 1 9 3 8 . - Dies., Georg der Bärtige (oder der Reiche), Herzog v. Sachsen: N D B 6 ( 1 9 5 9 ) 2 2 4 - 2 2 7 . - Dies., Herzog Georg v. Sachsen, Bischof Adolf v. Merseburg u. Luthers 9 5 Thesen: A R G 6 1 ( 1 9 7 0 ) 6 6 - 6 9 . Dies., Herzogin Sidonia v. Sachsen u. ihr ältester Sohn Herzog Georg: H e r C h r 3 ( 1 9 5 9 ) 8 - 1 9 . - Bernhard W o l f , Georg der Bärtige v. Sachsen: Wiss. Beilage der Leipziger Zeitung ( 1 9 0 0 ) 4 3 7 - 4 4 0 . - Gustav W o l f , Die Kirchenpolitik Herzog Georgs v. Sachsen: N J K A 9 ( 1 9 0 6 ) 4 1 3 - 4 3 8 . - Hans Wolter, Früh reformatorische Religionsgespräche zw. Georg v. Sachsen u. Philipp v. Hessen: Testimonium veritati, 1 9 7 1 (FTS 7), 3 1 5 - 3 3 3 .
Helmar Junghans Georgien 1. Allgemeines 2 . Christianisierung 3 . Bis zur Trennung von der armenischen Kirche 4 . Bis zur Einigung Georgiens um das J a h r 1 0 0 0 5 . Bis zur Eingliederung Georgiens ins russische Reich 1801 6 . Entwicklung bis in die Gegenwart (Quellen und Hilfsmittel/Literatur S. 3 9 4 )
1.
Allgemeines
Georgien, zwischen Kaukasus im Norden und dem türkisch-iranischen Bergland im Süden gelegen, wird im Westen durch das Schwarze Meer begrenzt und geht im Osten allmählich in die aserbeidschanische Steppe über, die sich bis zum Kaspischen Meer erstreckt. Durch das nord-südlich verlaufende Suramigebirge wird Georgien in Ost- und Westgeorgien getrennt. Die Landesnatur erschwerte die politische und religiöse Einigung Georgiens, und oft gingen beide Landesteile im Lauf der Geschichte ihre eigenen Wege. Nur im 5 . - 6 . Jh. und dann vom 1 1 . - 1 3 . Jh. war Georgien wirklich geeint. Westgeorgien hieß im Altertum Kolchis, dann, in nicht immer gleichem räumlichen Umfang, Egrisi, in oströmischer Zeit Lasika, heute Imereti mit der Hauptstadt Kutaisi. Früher erstreckte sich das georgische
Georgien
390
Siedlungsgebiet weiter nach Südwesten in die heutige Nordosttürkei hinein mit den Gauen Tao, Klardscheti und Samzche, die heute turkisiert und islamisiert sind, wo sich aber noch zahlreiche Kirchen- und Burgruinen aus dem 9. bis 11. Jh. finden. Ostgeorgien war im Altertum als Iberia bekannt und umfaßte die Gaue Kartli mit der alten Hauptstadt Mzcheta und der neuen Tbilisi und die Ostgaue Kacheti und Hereti. Der Landesname Georgien ist volksetymologisch aus der persisch-arabischen Landesbezeichnung Kurdz, Gurdzistan, Gurzan abgeleitet. Die besonders in Georgien gepflegte Verehrung des Heiligen —»Georg mag die Umformung des Namens erleichtert haben. Die Georgier selbst bezeichnen sich nach einem legendären Stammvater Kartlos als Kartveli, ihr Land als Sakartvelo. Georgien lag an der Nordgrenze und im Einflußbereich zweier Großmächte: Ostgeorgien stand unter dem Einfluß und oft auch unter der Herrschaft des persischen bzw. des iranischen Reiches, Westgeorgien hatte enge Beziehungen zum römischen, byzantinischen und schließlich zum türkischen Reich. Diese geographische Lage führte häufig zu Kriegen und Besetzungen. Doch gelang es den Georgiern immer wieder, ihre politische Unabhängigkeit zurückzugewinnen und ihre kulturelle Eigenart, insbesondere den christlichen Glauben, zu bewahren. Die georgische Sprache gehört zur kleinen Gruppe der südkaukasischen Sprachen und ist weder mit dem Indogermanischen noch mit dem Semitischen noch mit den Turksprachen verwandt. Seit der Erfindung der georgischen Schrift (Anfang des 5. Jh.) ist das Georgische Literatursprache. 2.
Christianisierung
Die Anfänge des Christentums in Georgien liegen im Dunkeln. Die Predigt des Apostels Andreas im Kaukasusgebiet und die Aufbewahrung des Leibrocks Christi in Mzcheta sind legendär. Nach Westgeorgien mit seinen griechischen Kolonien kam das Christentum auf dem Seeweg. Am Konzil von —»Nicäa (325) nahm bereits ein Bischof Stratophilos von Pityounta (Bicvinta) teil. Die westgeorgische Kirche entwickelte sich zunächst in enger Verbindung mit der griechischen. Nach Ostgeorgien gelangte das Christentum hauptsächlich vom Süden (Armenien, Syrien) her. Vielleicht haben auch jüdische Gemeinden eine gewisse Rolle gespielt. Die eigentliche Bekehrung Ostgeorgiens und seines Königshauses erfolgte um 330 durch eine namentlich nicht genannte gefangene Frau, wie —>Rufin von Aquileia unter Berufung auf seinen georgischen Gewährsmann Bakur berichtet (h.e. X,11). Dieser Bericht wurde auch von den Kirchenhistorikern Sokrates (h.e. 1,20), Gelasius von Kyzikos (h.e. 111,10) und —»Theodoret von Kyrrhos (h.e. 11,24) übernommen. Georgisch findet er sich in ausführlicherer Gestalt in den Geschichtswerken Leben der georgischen Könige und Bekehrung Georgiens, w o der Name der Bekehrerin mit Nino und der des Königs mit Mirean angegeben wird. Die Bekehrung Georgiens ist in der georgischen Handschrift S-1141 ( 9 6 0 - 9 7 0 n.Chr.) erhalten, die in Kloster Schatberdi (Nordosttürkei) geschrieben wurde und in der sich auch die älteste Liste der georgischen Oberbischöfe und Katholikoi bis auf Katholikos Arsen (II., ca. 9 5 5 - 9 8 0 ) findet. Gegen die Ansicht von P. Peeters, der Bericht des Rufinus sei erst später nach Georgien gekommen und nachträglich in die Bekehrung Georgiens eingefügt worden, verteidigen u. a. I. Dzavahisvili, K. Kekelidse, M. Tarchnisvili und C. Toumanoff mit guten Gründen die Ursprünglichkeit der einheimischen georgischen Überlieferung, die über das bei Rufinus Berichtete in wichtigen Punkten hinausgeht. N. Marr wies auf eine arabische Version des armenischen Historikers Agathangelos hin, nach der Georgien direkt von Gregor dem Erleuchter, dem Apostel —»Armeniens, bekehrt worden sein soll. Doch gehört diese Nachricht einer späten Redaktion des Agathangelos an, die erst im 6. Jh. greifbar wird. Auf die Legende von der Predigt des Apostels Andreas nehmen die Georgier erst nach der Jahrtausendwende des öfteren Bezug, um den apostolischen Ursprung der georgischen Kirche zu betonen und die Berechtigung der—»Autokephalie der georgischen Kirche gegenüber dem Patriarchen von —»Antiochien zu begründen. So ist an der Bekehrung Ostgeorgiens durch die Heilige Nino festzuhalten. Auf Ninos Rat hin bat König Mirean Kaiser—»Konstantin I. um einen Bischof und Priester. Bald darauf ist Georgien nach Armenien das zweite Land mit dem Christentum als Staatsreligion.
Georgien 3. Bis zur Trennung
von der armenischen
391
Kirche
Die weitere Entwicklung der georgischen Kirche vollzog sich zunächst in enger Anlehnung an die benachbarte armenische Kirche, und die georgischen Oberbischöfe in Mzcheta waren bis ins 6. J h . hinein keine Georgier, sondern Griechen, Armenier, Syrer und Perser. Als Maschtotz (gest. 4 4 0 ) , der Erfinder der armenischen Schrift, an den Hof des georgischen Königs Bakur kam, um nach dem Zeugnis seines Schülers und Biographen Koriun auch für die georgische Sprache eine Schrift zu schaffen, fand er am Königshof einen Bischof Mose, wohl identisch mit dem Moses (ca. 4 1 0 - 4 2 5 ) der traditionellen Liste. Nach der Erfindung der georgischen Schrift entwickelte sich vom 5. Jh. an allmählich die georgische Literatur in Abhängigkeit von der armenischen und syrischen Literatur („Orientalische Periode", etwa bis 6 0 0 ) . Doch entstand bereits um 4 8 0 das erste bedeutende Originalwerk, das Martyrium der Heiligen Schuschanik. Zwar hatten die Konzilien von Nicäa (325), Kan. 6, und von —»Konstantinopel (381), Kan. 2, dem Patriarchen von Antiochien die Oberaufsicht über alle Kirchen des Orients übertragen, aber eine tatkräftige Mitwirkung Antiochiens am Aufbau der frühen georgischen Kirche ist nicht festzustellen. Erst im 11. J h . findet sich bei dem melchitischen Mönch Nikon die Nachricht, Kaiser Konstantin habe den Patriarchen —»Eustathios von Antiochien beauftragt, nach Georgien zu reisen und dort die Hierarchie einzurichten. Während der politischen Abhängigkeit Ostgeorgiens vom Perserreich geriet auch die georgische Kirche in Abhängigkeit von der persischen Reichskirche, so daß im Jahre 4 1 9 auch georgische Bischöfe an einer Synode in Seleukeia-Ktesiphon unter dem Vorsitz von Mar Yahballaha, dem „Haupt der Bischöfe des Orients", teilnahmen. Während der Regierungszeit des wegen seines heldenhaften Kampfes gegen die Perser berühmten Königs Wachtang Gorgasal (447—502) traten für die georgische Kirche bedeutsame Ereignisse ein. Seine Mutter Sagducht, die während seiner Minderjährigkeit die Regierung führte, rief gegen Binkaran, den „Bischof" der Magier in Mzcheta, aus Konstantinopel den Bischof Michael (I., ca. 4 5 2 - 4 6 7 ) nach Mzcheta, der aber nach einem Streit mit Wachtang abgesetzt und nach Konstantinopel zurückgesandt wurde. Wachtang hatte auf Grund einer Vision zwei griechische Mönche unter seinen Schutz genommen. Den einen von ihnen, Petrus (I., ca. 4 6 7 - 4 7 4 ) , machte er zum neuen Oberbischof und erwirkte vom Patriarchen von Antiochien die Verleihung des Titels „Katholikos" an den georgischen Oberbischof und zugleich die Bestellung von 12 neuen Bischöfen auf einmal. Manches spricht dafür, daß Michael chalkedonisch gesinnt war, Petrus aber dem Monophysitismus nahestand, und überhaupt die Erhebung des georgischen Oberbischofs zum Katholikos in Zusammenhang mit den monophysitischen Wirren (—»Monophysiten) auf dem Stuhl von Antiochien zu bringen ist (Tarchnisvili: Kyrios 5, 1 8 2 - 1 8 6 ) . Die weitere Entwicklung der georgischen Kirche ist u. a. daraus zu ersehen, daß die vom armenischen Patriarchen Babgen 5 0 6 einberufene Synode von Dwin, die henotisch, aber nicht erklärt antichalkedonisch gesinnt war, von 2 4 georgischen Bischöfen mit ihrem Katholikos - der Titel ist hier zum ersten Mal belegt - Gabriel (I., ca. 5 0 2 - 5 1 0 ) besucht war, wie das armenische Buch der Briefe und der armenische Historiker Uchtanes berichten. Mit Katholikos Saba I. (523—552) übernimmt erstmals ein Georgier die Leitung der georgischen Kirche. Das 6. Jh. ist weithin von dauernden Kriegen zwischen —»Byzanz und Persien gekennzeichnet, die auch Georgien schwer in Mitleidenschaft zogen. Es wird meist als eine überwiegend monophysitische Periode der georgischen Kirchengeschichte betrachtet, doch spricht manches dafür, daß sich die Georgier schon bald der Änderung der byzantinischen Religionspolitik anschlössen, die der spätere Kaiser —»Justinian 5 1 9 im Auftrag des Kaisers Justin vollzog (van Esbroeck: Bedi Kartlisa 4 0 , 1 9 0 f ) . An der Synode von Dwin um 5 5 5 , die eindeutig antichalkedonensisch gesinnt war, nahm kein georgischer Bischof mehr teil. Die um 6 0 7 entbrannte Kontroverse zwischen dem armenischen Patriarchen Abraham I. ( 6 0 7 - 6 1 5 ) und dem Katholikos Kyrion I. ( 5 9 5 - 6 1 0 ) , die sich an der Lehre des Moses von Zurtavi entzündete, endete um 6 1 0 mit dem endgültigen Bruch zwischen der armenischen und georgischen Kirche, die sich nun der griechischen Orthodoxie zuwandte und ihr bis heute verbunden blieb (—»Orthodoxe Kirchen).
Georgien
392 4. Bis zur Einigung
Georgiens
um das Jahr
1000
Um die Mitte des 7. J h . erfolgte die arabische Invasion ins Kaukasusgebiet, die zur Gründung eines Emirats Tbilisi ( 6 4 5 - 1 1 2 1 ) und zur Einengung des unter christlicher Herrschaft stehenden Ostgeorgien führte. Die Katholikoi dieser Zeit, deren Namen die traditionelle Liste nennt, lassen sich zum Teil auch in anderen Geschichtsquellen (Geschichtswerke, Heiligenleben, Inschriften, Beischriften in Handschriften) nachweisen (van Esbroeck: Bedi Kartlisa 4 0 , 1 9 2 ) . Der letzte dort erwähnte Katholikos ist Arsen II. (955 - 9 8 0 ) , eine auch als Schriftsteller bedeutende Persönlichkeit. Die Katholikoi dieser Zeit wurden offenbar vom Patriarchen von Antiochien geweiht; denn als im 7. J h . wegen der unruhigen politischen Verhältnisse die Reise von Georgien nach Antiochien gefährlich wurde, kamen nach den Berichten des Georgiers Ephraems des Kleinen und des melchitischen Mönches Nikon (beide 11. Jh.) zwei georgische M ö n c h e zu Patriarch Theophylakt von Antiochien (ca. 7 4 4 - 7 5 1 ) , um ihn über diese Schwierigkeiten zu unterrichten und einen neuen Katholikos zu erbitten. Daraufhin weihte er einen der beiden M ö n c h e als Johannes III. ( 7 4 4 - 7 6 0 ) zum Katholikos und erlaubte den georgischen Bischöfen, den Katholikos in Zukunft selbst zu weihen, bestand aber auf der Nennung des antiochenischen Patriarchen in der Liturgie. Aus der um 9 5 1 verfaßten Vita des Klostergründers Gregor von Chandzta (gest. 861) geht hervor, daß z.B. Katholikos Arsen I. (ca. 8 6 0 — 8 8 7 ) vom georgischen Volk und Klerus gewählt und von den georgischen Bischöfen ohne Beteiligung eines auswärtigen kirchlichen Würdenträgers geweiht wurde. Um die Mitte des 9. J h . erwirkten zwei georgische M ö n c h e vom Patriarchen Sergius von Jerusalem ( 8 4 3 - 8 5 9 ) mit Einverständnis des Patriarchen von Antiochien für die georgische Kirche das Recht, das heilige Myron selbst zu weihen. Die Vita des Gregor von Chandzta berichtet um 9 5 1 , Ephraem der Große, Bischof von Azqveri (9. Jh.), habe angeordnet, die Weihe des Myron solle mit Genehmigung des Patriarchen von Jerusalem hinfort in Kartli stattfinden (Tarchnisvili: Kyrios 5 , 1 8 7 f ) . Sollte allerdings der Bericht des Melchiten Nikon (11. Jh.) zutreffen, Katholikos Johannes (Chrysostomus I., 9 8 0 — 1 0 0 1 ) habe auf Wunsch des Kaisers Basileios II. ( 9 7 6 - 1 0 2 5 ) das Myron nicht mehr aus Antiochien, sondern aus Jerusalem erbeten, so wäre die Myronweihe in Georgien erst später eingeführt worden. Aus dem 13. J h . ist ein georgisches Formular für die Myronweihe in Georgien erhalten (van Esbroeck: Bedi Kartlisa 4 0 , 1 9 2 ) . Im Laufe des 8.—10. J h . entstand und erstarkte in Tao-Klardscheti (Nordosttürkei), fern vom arabischen Emirat Tbilisi und angrenzend an das byzantinische Reich, ein georgisches Kultur- und Machtzentrum unter dem Herrscherhaus der Bagratiden, von dem die Einigung Georgiens ausgehen sollte. Hatten die „Dreizehn syrischen V ä t e r " (Mitte 6. Jh.?) das Mönchtum vor allem in den Gauen Kartli und Kacheti begründet und gefördert (z. B. die Klöster Garedscha, Schio-Mghwime, Iqalto), so wirkte in Tao-Klardscheti besonders Gregor von Chandzta von Kloster Opisa aus als Gründer zahlreicher Klöster, wie z. B. Chandzta, Schatberdi, Zqarostavi, Berta u. a. Aber auch im 10. J h . wurden noch so bedeutende Klöster wie Oschki, Chachuli und Parchali gegründet, deren Kirchen z . T . noch erhalten sind und die alle auch Zentren der georgischen Kultur, insbesondere der georgischen Literatur waren („Nationale Periode", ca. 6 0 0 — 9 8 0 ) und bedeutende Skriptorien und Bibliotheken beherbergten. Von diesem politisch erstarkten und kulturell blühenden Gebiet ausgehend, gelang den Bagratiden um die Jahrtausendwende die politische Einigung Georgiens. Sogleich setzte in ganz Georgien eine lebhafte Bautätigkeit ein. Die Kirchen von Kutaisi, Alaverdi, Samtavisi, Nikorzminda und die beiden großen Kirchen von Mzcheta, Samtavro und die Kathedrale „Lebendige Säule" (vollendet 1 0 2 9 ) , gehören in diese Periode. In der Bauurkunde der Kathedrale führt Melchisedek I. ( 1 0 1 2 - 1 0 3 0 , 1 0 3 9 - 1 0 4 5 ) den Titel „Katholikos-Patriarch", wie seine Nachfolger bis auf den heutigen Tag. Damit ist die volle Autokephalie der georgischen Kirche erreicht. Das Jurisdiktionsgebiet des Katholikos-Patriarchen erweitert sich entsprechend der politischen Ausweitung des georgischen Königreiches.
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Quelle: Kleines Wb. des Christi. Orients
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hg. von J . A f i f a l g / P.Krüger
G Bundesbuch verbietet jede Rechtsbeugung (Ex 23,1—3.6—8). Der in ein Gerichtsverfahren verwickelte „Unschuldige" muß saddtq [unschuldig] bleiben; seine „Rechtsangelegenheit" (d e baritn) darf nicht „verkehrt" und er nicht zum Tode verurteilt werden (Ex 2 3 , 7 f ) . Auch das —>Deuteronomium fordert, „den Unschuldigen frei und den Schuldigen schuldig zu sprechen" (25,1; vgl. 16,19). Die eingesetzten Richter sollen das Volk mit einem „gerechten Urteilsspruch" (mispat sxdxq: 16,18) richten und „nach Gerechtigkeit streben" (rdp sxdxq: 16,20). Wer einem verarmten Schuldner das verpfändete Gut zurückgibt, wie es das Recht vorsieht, dem wird das „vor Jahwe als Gerechtigkeit (s*daqä) gelten" (24,13); dasselbe gilt für den, der alle Gebote „vor J^hwe ausführt" (6,25). An diesen beiden Stellen ist man versucht,s'daqä mit „Verdienst" wiederzugeben, denn hier wird „Gerechtigkeit" durch ein gerechtes Tun erworben. „Gerecht" können nach Dtn und -»Heiligkeitsgesetz (Lev 19,36) die von einem Kaufmann verwendeten Waage, Gewicht und Hohlmaß sein (Dtn 2 5 , 1 5 : sxdxq neben i"lemä [voll]). Uber die gerichtlich feststellbare Schuldlosigkeit hinaus geht die „Gerechtigkeit" ( s e d a q ä ) in Dtn 9,4—6: Hier wird Israel davor gewarnt, die Landgabe durch Jahwe seiner eigenen 5 cdaqä zuzuschreiben; hier ist man wieder versucht, den Begriff „Verdienst" und für das Gegenteil (r*sacä) „Mißverdienst" einzuführen. Im Heiligkeitsgesetz kommt nur der Begriff sxdxq im Sinn von „Gerechtigkeit" der Rechtsprechung ohne Ansehen der Person vor (Lev 19,15). Daß das Reden von der „Gerechtigkeit" seinen ursprünglichen Sitz im Leben in der Rechtspflege hat, kann man auch den Geschichtswerken entnehmen. Beim —>Jahwisten stellt Juda im Verfahren gegen Tamar wegen Ehebruch fest, daß die Angeklagte „eher im Recht ist als ich" (sadeqä mimmxnni-.Gen 3 8 , 2 6 ) . Nach Gen 3 0 , 3 3 will J a k o b in einer Art Ordal Laban davon überzeugen, daß „meine Unschuld für mich (als Zeuge) aussagen wird" [w'canetä bisidqati). In Gen 1 8 , 1 9 deutet die Wendung 'asä 5 e d a q ä ümispat [Recht und Gerechtigkeit tun/üben] nicht eine Handlungsweise Abrahams als Richter an, sondern seine allgemeine Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen und gegenüber Gott: er gibt ihnen das, was ihnen zusteht (ähnlich I Reg 3,6 vom Wandel Davids vor Jahwe). Der saddtq [der Gerechte] ist dementsprechend „der Fromme" im Gegensatz zum „Unfrommen" (rasa': Gen 7,1; 18,23—28). Viele theologisch sehr tiefschürfende Interpretationen hat die —» Abraham von Jahwe „angerechnete Glaubensgerechtigkeit" in Gen 15,6 erfahren. Es ist aber
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sehr gewagt, der dortigen Feststellung, daß „Jahwe ihm das (nämlich den Glauben an die Zusage) als s"daqä anrechnete", bereits die paulinische Rechtfertigungstheologie unterzuschieben. Viel näher dürfte auch hier die Übersetzung „Verdienst" oder einfach „Frömmigkeit" liegen. - Eng ist der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Rechtspflege beim Deuter onomisten (—»Deuteronomistisches Geschieh tswerk). Dtn 1,16 fordert von Richtern: „Entscheidet gerecht" (üs e pattxm sxdxq). Eine der wichtigsten Funktionen des Königs ist die Rechtsprechung. Nach II Sam 15,4 verspricht Absalom jedem, der beim König Recht sucht: „Ich werde ihm zu seinem Recht verhelfen" (wchisdaqtiw). David und Salomo werden gelobt, weil sie „Recht und Gerechtigkeit geübt haben" ('asä mispatüsedaqä: II Sam 8,15; I Reg 10,9, übernommen in I Chr 18,14; II Chr 9,8). Salomo betet zu Jahwe, er möge dafür sorgen, daß man in Israel bei Gericht „den Schuldigen schuldig spricht und den Unschuldigen gemäß seiner Unschuld freispricht" (rhasdiq saddiq latet 16 k'sidqatö: I Reg 8,32, vgl. II Chr 6,23). Wenn der Herrscher nach diesem Grundsatz handelt, ist er „gerecht" (saddiq: II Sam 23,3), und Gesetze, die das Recht für alle sicherstellen, sind „gerechte BeStimmungen" (mispatim saddtqim: Dtn 4,8). Ein schweres Unrecht ist es, einen „Unschuldigen" (saddiq) ohne Gerichtsverfahren umzubringen (II Sam 4,11; I Reg 2,32; vgl. auch in E Gen 20,4). Das Nomen sxdxq kann in Dtn 33,19 den Sinn von „Legitimität" bekommen: zibhe sxdxq sind „legitime Opfer". Das Nomen sedaqä erhält in II Sam 19,29 den Sinn von „Anspruch, (An-)Recht auf etwas", in I Sam 26,23 den von „Guttat" (David schont seinen Todfeind Saul). Dagegen erhält saddiq in I Sam 24,18 die Bedeutung „rechtschaffen" im Gegensatz zum „unrecht handelnden" (rasa') Saul, der bekennt, daß David „rechtschaffener ist als ich". — In der P-Erzählung kommt nur saddiq im Sinn von „fromm"(neben tamim [tadellos]) vor (Gen 6,9). - In Neh 2,20 hats*daqä die Bedeutung „Anspruch" (nebenhelxq = ,Anteil', nämlich an Stadt und Mauer). Bei den —»Propheten zeichnet sich deutlich eine Verschiebung des Schwerpunkts im Reden von der Gerechtigkeit vom Bereich des Rechts zum religiös-sittlichen Bereich ab. Die Propheten des 8. Jh. prangern die Bestechlichkeit der Richter und die ungerechte Behandlung der kleinen Leute vor Gericht an (Jes 5,23; 29,21; Am 2,6; 5,7; 6,12). Der saddiq ist hier der „Unschuldige", der im Prozeß freizusprechen wäre (hasdiq), aber von bestechlichen Richtern für „schuldig erklärt" wird (harsi™). Die Nomina sxdxq und scdaqä bezeichnen dann ohne deutlichen Unterschied die „Gerechtigkeit" der Richter und der Rechtsordnung (vgl. noch Jes 1,21.26; Am 5,24). Da der König als oberster Richter und Hüter des Rechts gilt, erhofft man sich einen von Jahwe geschenkten Herrscher, der „in Gerechtigkeit" den kleinen Leuten Recht sprechen (Jes 11,4; vgl. 32,1) und für „Recht und Gerechtigkeit" (mispat üs'daqä/sxdxq) im Land sorgen wird (Jes 9,6; 11,4f; 16,5). Daraus entstehen „Friede und Sicherheit" (32,17). Bei —»Hosea bekommt saddiq bereits die allgemeinere Bedeutung „fromm" (14,10), undsxdxq ist bei ihm das dem Volk von Gott geschenkte „Heil" (10,12); in 2,21 ist dagegen sxdxq ümispat Hendiadyoin für die Rechtsordnung: „Ich traue dich mir an, wie es das Recht fordert." —»Jeremia und seinen Zeitgenossen ist die enge Verbindung von Gerechtigkeit und Rechtspflege noch bewußt. Er wirft —»Jojakim vor, er habe „sein Haus gebaut auf Ungerechtigkeit und Unrecht", weil er das Volk ausbeutet, während sein Großvater —»Josia „Recht und Gerechtigkeit geübt hat" ( 2 2 , 1 3 - 1 6 ) . Jeremia überträgt die Vorstellung von der Gerechtigkeit auf den göttlichen Richter. Jahwe sieht dem saddiq, im Gegensatz zu bestechlichen irdischen Richtern, in „Herz und Nieren", und daher kann man ihm „seine Sache anvertrauen" (20,12). Ein Eid muß vor ihm „in Aufrichtigkeit, nach Recht und Gerechtigkeit" (4,2) geleistet werden. Vor dem göttlichen Richter ist das Nordreich „weniger schuldig als" (sdq D-Stamm) Juda (Jer 3,11). Im Plural bedeutet sedaqä ein Verhalten, das Jahwe keinen Anlaß zum richterlich-strafenden Einschreiten gibt: „Jahwe hat unsere guten Taten (oder: unsere Verdienste?) ans Licht gebracht" (51,10). „Recht und Gerechtigkeit" (mispat üsedaqä: 22,3 und sxdxq: Zeph 2,3) bezeichnen das Verhalten des Menschen, der seinem Mitmenschen das gibt, was ihm zusteht, und auch Gott gegenüber seine Pflicht erfüllt, als „Frömmigkeit". Der saddiq ist „der Fromme, der durch seine Treue/Zuverlässigkeit (*emünä, nicht:,Glaube'!) am Leben bleibt" (Hab 2,4). Deshalb klagt
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H a b a k u k darüber, daß die Übeltäter (r'sa'im) die Unschuldigen im Gerichtsverfahren „ u m zingeln" und „verschlingen" ( 1 , 4 . 1 3 ) . J e r e m i a erwartet einen k o m m e n d e n Davididen als „gerechten S p r o ß " ( 2 2 , 1 3 - 1 6 ; 2 3 , 5 ; 3 3 , 1 5 ) und die Wiederherstellung Jerusalems als „ W o h n s t ä t t e der Gerechtigkeit" 3 1 , 2 3 ; 5 0 , 7 [Echtheit umstritten]). Auch bei —»Ezechiel ist der Z u s a m m e n h a n g mit der Rechtsordnung noch greifbar. Er fordert v o m Kaufmann „ g e r e c h t e " M a ß e ( 4 5 , $ 0 ) und bezeichnet unbestechliche Richter als „gerechte M ä n n e r " ( 2 3 , 4 5 ) . V o r dem göttlichen R i c h t e r stehen S o d o m und G o m o r r h a „ger e c h t e r " , d . h . „weniger schuldig" da als J u d a (sdq Grund- und H - S t a m m : 1 6 , 5 l f ) . „ R e c h t und Gerechtigkeit zu ü b e n " ('asä mispat üs*daqä),\stabe.r nicht nur Pflicht des Richters oder Königs, sondern eines jeden Israeliten gegenüber G o t t und M i t m e n s c h e n ( 1 8 , 5 . 1 9 . 2 1 . 2 7 ; 3 3 , 1 4 . 1 6 . 1 9 ; 4 5 , 9 ) . Der „ G e r e c h t e " ist der F r o m m e ( 3 , 2 0 f ; 1 3 , 2 2 u , ö . ) , s x d x q ( 3 , 2 0 ) bzw. s°daqä ( 1 4 , 1 4 . 2 0 ; 1 8 , 2 2 ; 3 3 , 1 2 f ) ist die „ F r ö m m i g k e i t " und sedaqöt sind die „guten (verdienstlichen?) W e r k e / T a t e n " des F r o m m e n ( 3 , 2 0 ; 1 8 , 2 4 ; 3 3 , 1 3 ) . Bei —>Deutero- und —»Tritojesaja ist für sdq der Z u s a m m e n h a n g mit der Rechtspflege nur noch in Jes 4 3 , 9 . 2 6 und 4 5 , 2 5 erkennbar: I m Rechtsstreit mit G o t t sollen die Völker sich „rechtfertigen" bzw. wird Israel „sein R e c h t f i n d e n " (jisdaqü). „ D a s R e c h t w a h r e n " und „Gerechtigkeit t u n " ist in Jes 5 6 , 1 und 5 8 , 2 wie bei Ez allen Israeliten aufgetragen. Die F r o m m e n sind hier d i e s a d d i q i m ( 5 3 , 1 1 ; 5 7 , 1 ; 6 0 , 2 1 , auch M a l 3 , 1 8 ) , und sedaqöt sind dementsprechend die Guttaten der F r o m m e n (Verdienste?: 6 4 , 5 ) ; s e d a q ä n i m m t öfter die Bedeutung „(von G o t t geschenktes) H e i l " an (Jes 4 5 , 8 ; 4 6 , 1 2 ; 4 8 , 1 8 ; 5 4 , 1 7 ; 5 9 , 9 . 1 4 ; 6 1 , 1 0 f , auch M a l 3 , 2 0 ) , während sxdxq bald als „ H e i l " ( 4 5 , 8 ; 6 2 , 1 f), bald als „ F r ö m m i g k e i t " ( 5 1 , 1 ; 6 1 , 3 ; 6 4 , 4 ) verstanden werden kann. D e r H - S t a m m von sdq in Jes 5 3 , 1 1 dürfte „rechtfertigen" im Sinn von „Heil verschaffen" bedeuten. In M a l 3 , 3 ist f ü r s ' d a q ä noch die N u a n c e „ L e g i t i m i t ä t " belegt: In der Heilszeit wird m a n J a h w e „legitime O p f e r d a r b r i n g e n " . In der kanonischen —> Apokalyptik ist iürsxdxq sowohl die Bedeutung „ F r ö m m i g k e i t " (Jes 2 6 , 9 f , auch a r a m . sidqä: D a n 4 , 2 4 ) , als auch „ R e c h t f e r t i g u n g " (Dan 9 , 2 4 ) , (üts^daqä im Plural „ G u t e T a t e n / W e r k e (Verdienste?)" belegt ( 9 , 1 8 ) . D i e H - F o r m von sdq in Dan 1 2 , 3 ist wohl ähnlich gemeint wie in Jes 5 3 , 1 1 : „ R e c h t f e r t i g u n g / H e i l v e r s c h a f f e n " . Sonderbedeutungen liegen für lis'daqä und saddiq vor. Das erste bedeutet in Hos 10,12 und Joel 2,23 in Zusammenhang mit Aussaat und Ernte „zur rechten Zeit" und das andere in Jes 49,24 im Zusammenhang mit Beute und Gefangenen „der Berechtigte" oder besser „Sieger". Für die —*Weisheitsliteratur ist die enge Verbindung von Gerechtigkeit und Rechtsprechung durch Richter und Herrscher kennzeichnend. Sie fordert gerechtes Urteil ( m i s p a t josxr: Sir 4 , 9 ) für die Armen und Unschuldigen ( s a d d i q : Prov 1 7 , 2 6 ; 1 8 , 5 ) und warnt davor, „einen Unschuldigen schuldig und einen Schuldigen freizusprechen" ( b a r s t ™ - h a s d i q : Prov 1 7 , 1 5 ; Sir 4 2 , 2 , vgl. Prov 1 8 , 5 ; 2 4 , 2 4 ) . Die Handlungsweise des gerechten Richters oder Herrschers istsxdxq = „ G e r e c h t i g k e i t " (Prov 8 , 1 5 f; 1 6 , 1 3 ; 3 1 , 9 , v g l . ö i x a i o o v v r j : Weish 1,1); sie verleiht dem T h r o n eines Königs Bestand (Prov 1 6 , 1 2 ; 2 5 , 5 ) . „Gerechtigkeit und R e c h t " zu üben (sxdxq/s*daqä ümispat), ist aber die Plicht aller M e n s c h e n gegenüber den Mitmenschen (Prov 1 , 3 ; 2 , 9 ; 8 , 2 0 ; 2 1 , 3 ; vgl. 1 6 , 8 ) , \mAs"daqä wird dann in Prov allgemeiner Terminus für das Wohlverhalten oder die Wohltätigkeit gegenüber den Mitmenschen und gegenüber G o t t , so daß m a n es hier wieder mit „ F r ö m m i g k e i t " (Prov 1 0 , 2 ; 1 1 , 4 - 6 . 1 9 u . ö . , fast immer im Gegensatz zu ris'ä, rada' o . ä . [ B o s h e i t , G o t t l o s i g k e i t ] ) , o d e r mit „ W o h l tätigkeit" (Sir 3 , 3 4 ; 7 , 1 0 ; 1 2 , 3 mit Annäherung zu „ A l m o s e n " , in Sir 3 , 1 4 „ P i e t ä t " gegen die Eltern) wiedergeben k a n n , wie der saddiq (im Gegensatz zum rasa') der „ F r o m m e " ist (Prov 2 , 2 0 ; 3 , 3 3 ; 4 , 1 8 ; 1 0 l l m a l u . ö . ) . Dabei gehen die Weisen in Prov, Sir und W e i s h , aber auch die Freunde H i o b s (vgl. Hi 8 , 6 ; 1 7 , 9 ; 2 2 , 1 9 ; 2 7 , 1 7 u. a.) von der Uberzeugung aus, d a ß der saddiq Glück erfahren und d i e s e d a q ä ihren Lohn erhalten wird. V o n einer dadurch geschaffenen „ H e i l s s p h ä r e " (Fahlgren; Koch) oder einer „ W e l t o r d n u n g " (Halbe, H . H . Schmid) braucht man dabei nicht zu sprechen. Die noch deutlich spürbare Verbindung von „ G e r e c h t i g k e i t " und Rechtsprechung läßt eher daran denken, d a ß die Weisen an das unauffällig wirkende Gericht Gottes denken. Die anscheinend immanent sich auswirkende Sanktion der sittlichen O r d n u n g , den „ T a t -
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Folge-Zusammenhang" (v. Rad; Koch) bezweifeln —»Hiob und —»Kohelet, wobei Hiob von der Vorstellung eines Rechtsverfahrens, diesmal zwischen ihm und Gott, ausgeht. Zwar hat saddiq in Hi auch den Sinn „der Fromme", der nach Meinung der Freunde von Gott belohnt und behütet (17,9; 22,19; 27,17; 36,7), nach der Erfahrung Hiobs dagegen betrogen und verspottet wird (12,4), in 32,1 bekommt saddiq aber die Nuance „selbstgerecht". Das Verbum sdq bedeutet „(vor einem unparteiischen Richter) im Recht, unschuldig sein" (4,17; 9,2.15.20 u.ö.), das N o m e n ^ y a ^ ä in 27,6 „(forensische) Unschuld", in 35,7f aber „Frömmigkeit". Kohelet stellt fest, daß bei Gericht, „am Ort des Rechts" (sxdxq), nur Ungerechtigkeit (;rxsa') herrscht (3,16) und „Recht und Gerechtigkeit (mispat wasxdxq) entzogen werden" (5,7) und daß der „Unschuldige (saddiq) an seiner Unschuld (sxdxq) zugrunde geht", während der Schuldige (rasac) am Leben bleibt (7,15). Die Nomina saddiq undsxdxq gebraucht er sonst aber auch im Sinn von „fromm" und „Frömmigkeit". Übertriebene Frömmigkeit ruiniere den Menschen ebenso wie zu große Weisheit (7,16); im Leben ergehe es übrigens den „Frommen" nicht anders als den „Gottlosen" (8,14; 9,2), denn Gott behandelt beide gleich (3,17). Fromme und Weise „stehen in Gottes Hand", aber letztlich weiß niemand, ob er von Gott geliebt wird (9,1), weil es keinen vollkommen Frommen gibt (7,20). So bleibt für Koh das Problem der Gerechtigkeit auf Erden unlösbar. Auch in den —>Psalmen braucht man die „Gerechtigkeit" nicht als eine „Heilssphäre" zu mystifizieren (Fahlgren; Koch). Die forensische Herkunft der sdq-Termini liegt klar zu Tage, wenn Richter aufgefordert werden, Armen zum Recht zu verhelfen (hasdiq: 82,3) und Recht zu sprechen (dibber sxdxq: 58,2f),und der König gemahnt wird, als Richter b'sxdxq üb"' mispat) [nach Recht und Gerechtigkeit] zu fungieren (72,2; vgl. 45,5.8). Im Hinblick auf das göttliche Gericht kann sich „kein Lebender als unschuldig betrachten" (jisdaq: 143,2). Die Wendung sxdxq ümispat tun (119,121) meint auch hier dem Mitmenschen geben, was „Recht und Gerechtigkeit" erfordern. In 106,31 wäre jede andere Ubersetzung als „(was Pinhas getan hat) wurde ihm als Verdienst/verdienstvolle Tat angerechnet" (wattehaseb 16 lis'daqä) gekünstelt. Das Nomen saddiq, auf Menschen bezogen, hat in Ps allerdings immer die weitere Bedeutung von „fromm" (Ps 1,5 f; 32,11; 33,1 u.a.); da es aber sehr oft in Parallele oder Gegensatz zu rasa' steht, ist es wahrscheinlich, daß auch dabei der Gedanke an das göttliche Gericht im Hintergrund steht, der saddiq also als der vor dem göttlichen Richter „Unschuldige" im Gegensatz zum „Schuldigen" gesehen wird. Die Nomina sxdxq und daqä werden relativ selten einem Menschen zugeschrieben. Wenn sie nicht von Richtern und Königen ausgesagt sind (s.o.), meinen sie „das (sittlich) Rechte" (15,2; 23,3) oder „die Unbescholtenheit/Frömmigkeit" (7,9; 17,15; 18,21; 35,27; 112,3.9; 132,9). In 4,6; 51,21 werden mittels sxdxq Opfer als „legitim", weil in rechter Gesinnung dargebracht, bezeichnet. Diesa'*re sxdxq in 118,19 sind die Tore zu dem Ort, wo der Mensch sein Recht vor Gott findet. Zu beachten ist, daß das Alte Testament richterliche Entscheidungen vor allem als erlösende Entscheidungen zugunsten Unterdrückter, Ausgebeuteter, unschuldig Angeklagter und weniger als Strafsentenz für zu Recht Angeklagte betrachtet. Das ist wichtig für die Beurteilung der Gerechtigkeit Gottes. 3. Gerechtigkeit
Gottes
Auch wenn Termini der Wurzel sdq auf Gott bezogen werden, ist vom forensischen Gebrauch auszugehen. Gott wird zunächst als oberster Richter verstanden. Die Rechtstradition kommt nur in Ex 23,7 (Bundesbuch) auf Jahwe als Richter zu sprechen: „Ich spreche den Schuldigen nicht frei" (lo"asdtq rasa0), im Gegensatz zu bestechlichen weltlichen Richtern. In den Geschichtswerken wird Jahwe öfter ausdrücklich als Richter dargestellt, am deutlichsten in Gen 18,18-33: Er geht einer Anklage nach und will sie überprüfen. Abraham appelliert an seine richterliche Pflicht zur Gerechtigkeit, die es verbietet, Unschuldige mit Schuldigen zum Tode zu verurteilen. Doch gerade hier wird deutlich, daß es im Alten Testa-
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ment nicht in erster Linie um die Bestrafung der Schuldigen, sondern um die Rettung der Unschuldigen geht; diese erfordert es manchmal, auch die Schuldigen zu schonen (vgl. Jon 4,11). Nach Ex 9,27 (J) erkennt der Pharao Jahwe als „gerecht" bzw. „im Recht seiend" an. Der Deuteronomist läßt Salomo in I Reg 8,32 ( = II Chr 6,23) zu Jahwe beten, er möge „den Schuldigen schuldig- und den Unschuldigen freisprechen", und der Chronist bezeichnet Jahwe als „gerecht", weil er Rehabeam zu Recht durch Niederlage bestraft hat (II Chr 12,6). Nach Esra 9 , 1 5 und Neh 9,33 ist Jahwe „gerecht", weil er wegen der Sünden Israels soviel Unglück über das Volk bringen ließ, aber ebenso, weil er auch seinen Verheißungen treu blieb und darum Israel jetzt wieder begnadigt (vgl. Neh 9,8). Gnade und Verheißungstreue bilden die andere Seite der Gerechtigkeit Jahwes (Dtn 32,4). Darum sind seines'daqöt seine Israel rettenden „Heilstaten" (Jdc 5 , 1 1 ; I Sam 12,7). Leivestad hat bei den —»Propheten nur drei Stellen gefunden, wo Jahwes „Gerechtigkeit" als Strafgerechtigkeit erscheint: Jes 5 , 1 6 (wenn man V. 17 als Einschub betrachtet); 10,22 und Zeph 3,5; man wird aber zumindest Jes 2 8 , 1 7 hinzufügen müssen. Die vielen prophetischen rife-Texte beweisen, daß man sich Jahwe im Rechtsstreit mit Israel oder den Völkern vorstellte. —»Jeremia weiß, daß sich der Mensch nicht auf einen Rechtsstreit mit Jahwe einlassen kann, weil Jahwe immer „im R e c h t " bleibt ( s a d d i q : 12,1), vertraut aber ihm seine Sache an, weil er als Richter „Herz und Nieren prüft" (11,20). Jeremia erwartet von Jahwe ein gerechtes Urteil, weil er „Recht und Gerechtigkeit tut" (9,23). Aber von —•Micha bis —>Tritojesaja hofft man auch, daß Jahwe gerade wegen seiner „Gerechtigkeit", nämlich weil er auch seinem Heilswort treu bleibt, rettend eingreift und Israel zu Hilfe eilt. Dann ist J a h w e s 5 x d x q (Jes 4 1 , 1 0 ; 4 2 , 6 . 2 1 u.a., manchmal parallel zu jxsa') das „Heil" und s e i n e s c d a q ä seine „Heilstat" (46,13; 56,1 u.a.; Plural Mi 6 , 5 ; in der Nachinterpretation mit V. 17 auch Jes 5 , 1 6 ; vgl. ferner Jer 2 3 , 6 ; 3 3 , 1 6 ; Mi 7 , 9 ; Sach 8,8). Jahwe ist saddiq, weil er rettet (Jes 45,21). Auch in Dan 9 , 7 - 1 6 steht Jahwes rettende „Gerechtigkeit" neben der strafenden. In der Weisheitstradition (—>Weisheit) vertreten vor allem die Freunde —»Hiobs die Lehre von Jahwe als dem gerechten Richter, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Auch Hiob geht davon aus, fühlt sich aber vom göttlichen Richter ungerecht verurteilt. Darum appelliert er an ein unabhängiges Schiedsgericht, das s e i n e s e d a q ä [Unschuld] feststellen und Gott als den rasa' [Schuldigen] deklarieren soll; so interpretiert Elihu Hiobs Reden richtig: „Du willst den Gerechten schuldig sprechen lassen" (harsi a c : 3 4 , 1 7 ) ; er weiß, daß Jahwe „das Recht" ( s c d a q ä ) nicht beugt (37,23),und will seinem Schöpfer „zum Recht verhelfen" (ntn sxdxq: 36,3). Schließlich wird aber Hiob durch Gott selbst belehrt, daß es in dem konkreten Fall seines eigenen Schicksals gar nicht um einen Rechtsfall zwischen ihm und Gott, um ein göttliches Gericht oder dgl. geht. Doch will der Hiobdichter gewiß nicht in Abrede stellen, daß Gott auch als Richter tätig wird, wenn es die Sachlage erfordert. Seine Absicht ist, die herrschende Weisheitslehre, nach der das Leid, das einen Menschen trifft, immer die Folge der strafenden Gerechtigkeit Gottes sei, ad absurdum zu führen und den Versuch der Freunde und Elihus, Gott gegenüber menschlichen Zweiflern als gerechten Richter zu verteidigen, als menschliche Hybris zu entlarven. Der Hiobdichter hat es aber nicht vermocht, diese Ansicht auszurotten. -»Sirach und der Verfasser des Buches der Weisheit Salomos sind noch weithin in der Vorstellung befangen, daß Gott vor allem der Richter ist, der den Guten belohnt und den Bösen bestraft, auch wenn sie den Terminuss e daqä (Sir 3 5 , 1 5 - 1 7 ) bzw. öixaioovvri (Weish 5,18) im Sinn von „rettender Gerechtigkeit" für Unterdrückte oder das eigene Volk gebrauchen. Auch die Dichter der Psalmen sind nicht wesentlich über die Auffassung der traditionellen Weisheit hinausgekommen. Jahwe sitzt auf seinem Thron als „gerechter Richter" (9,5); als solcher verfährt er „nach Recht und Gerechtigkeit" ( 1 1 9 , 1 2 1 ) und „erweist sich gerecht (itisdaq) in seinem Urteil" (51,6). Allerdings ist zu betonen, daß nirgends öfter als in den Psalmen Jahwes „Gerechtigkeit" als rettendes Einschreiten zugunsten der Frommen gegenüber ungerechten Verfolgern oder Ausbeutern bzw. zugunsten Israels gegenüber seinen Feinden gepriesen wird, so daß mit wenigen A u s n a h m e n s x d x q als „(rettende, helfende) Ge-
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rechtigkeit" ( 3 5 , 2 4 . 2 8 ; 4 8 , 1 1 ; 5 0 , 6 u.ö.) und s'daqä als „rettende Heilstat" oder „Heil" ( 2 2 , 3 2 ; 3 6 , 1 1 u . v . a . ) und der Plural als „rettende Heilstaten" ( 1 1 , 7 ; 1 0 3 , 6 ) verstanden werden können. Dabei ist freilich immer mitzubedenken, daß das Alte Testament keinen Menschen als völlig schuldlos betrachtet und immer weiß, daß Gott in seiner Gerechtigkeit sich nicht an die gleichen Regeln wie ein menschlicher Richter hält, so daß man bei ihm nicht im strengen Sinn zwischen justitia vindicativa und distributiva unterscheiden kann, und daß auch menschliche „Gerechtigkeit" im Sinn von Frömmigkeit letztlich immer von Gott geschenkte Gnade ist. 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G e r e c h t i g k e i t II
411
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der Gerechtigkeit
im zwischenmenschlichen
und
innermenschlichen
Bereich S c h o n in d e r biblischen T r a d i t i o n steht sxdxq/s'daqä h u n g z u m i s p a t [ R e c h t , Urteil] u n d zuhxsxd
[Gunst].
[ G e r e c h t i g k e i t ] in e n g e r BezieSxdxq
n i m m t a u s dieser B e z i e h u n g
eine forensische u n d eine e t h i s c h e B e d e u t u n g an. So bildet es eine s e m a n t i s c h e B r ü c k e zwischen d e m
interpersonalen
(zwischenmenschlichen)
und dem
intrapersonalen
(inner-
m e n s c h l i c h e n ) Bereich. I m i n t e r p e r s o n a l e n B e r e i c h , d e r die A u f r e c h t e r h a l t u n g der sozialen O r d n u n g d u r c h G e s e t z g e b u n g u n d R e c h t s p r e c h u n g betrifft, bezeichnet G e r e c h t i g k e i t die ä u ß e r e n G r e n z e n für Schutz- u n d R e h a b i l i t a t i o n s m a ß n a h m e n seitens eines G e r i c h t s . D a s ger e c h t e Urteil (mispat sxdxq)
dient d a z u , die H a r m o n i e z w i s c h e n den M e n s c h e n in der Ge-
m e i n s c h a f t , d a s soziale Ideal des —»Friedens (mispat salôm),
w i e d e r h e r z u s t e l l e n . I m intra-
p e r s o n a l e n B e r e i c h , in d e m es u m d a s Z u s a m m e n k l i n g e n v o n ethischen W e r t e n m i t altruistis c h e r N e i g u n g z u m G u t e n g e h t , bezeichnet 5 x d x q den A u s g a n g s p u n k t , v o n d e m h e r d a s Ind i v i d u u m in einer nicht r e z i p r o k e n L i e b e s b e z e u g u n g h a n d e l t . G e r e c h t sein b e w e g t d e n M e n schen z u m Streben n a c h s i c h t b a r e n L i e b e s w e r k e n igemilût
h*sadim:
mAv 1,2).
Beide B e r e i c h e — G e r i c h t s t ä t i g k e i t u n d persönliches V e r h a l t e n — scheinen der gleichen H a l t u n g d e r G e r e c h t i g k e i t zu e n t s p r i n g e n , die die G r e n z e n des N o r m a t i v e n e r w e i t e r t . D e r
412
Gerechtigkeit II
gerichtliche Bereich begnügt sich nicht mit den Beschränkungen des unparteiischen Rechts, sondern verlangt nach höherem Rechtsniveau. Gerechtigkeit im Urteil betont die Notwendigkeit, Konflikte durch einen Kompromiß (pesarä) und nicht durch das strikte Rechtsverfahren beizulegen. Im letzteren Fall bleibt bei den Prozeßparteien nach der Entscheidung ein Gefühl der Bitterkeit zurück (bSan 6 b; Maimonides, Hilk. San 2 2 , 4 ) . Nach rabbinischer Ansicht sollen Richter „der Gerechtigkeit nachjagen" (Dtn 16,20), d.h. dem Kompromiß, da er friedliche Beziehungen im zwischenmenschlichen Bereich wiederherstellt (bSan 3 2 b). Der jüdische Gerichtshof muß in der alltäglichen Gerichtsbarkeit ausgewogen iyafe) urteilen und erst recht in der kapitalen Gerichtsbarkeit zugunsten des Angeklagten die Gerechtigkeit verteidigen ( l e - l a m m e d zekhüt), um diesen nicht ungerecht der Todesstrafe auszusetzen (mTaan zu Dtn 1 6 , 2 0 ; m M a k 1,10). Das personale Verhalten wird durch den M a ß s t a b der Gerechtigkeit qualifiziert, der zu greifbaren Liebestaten — über die Forderungen des interpersonalen —»Gesetzes hinaus — führt. Um das Verhalten altruistischer Liebe zu fördern, beginnt man mit der konkreten Form der Gerechtigkeit, dem Akt der Wohltätigkeit. Der einzelne Wohltäter, der dem Armen und Bedürftigen hilft, gelangt dadurch zur mitfühlenden Haltung der Gunst ( h x s x d : Sefer Ha-Hinnukh 6 6 ; —>Armenfürsorge). Wer dem Bedürftigen wohltut, empfängt Heil, indem seine Persönlichkeit vervollkommnet wird; die Rabbinen redeten davon, ein solcher Mensch hat „den bösen Trieb besiegt" [kobhe's et yisrö). Andererseits wird Wohltun auch zum konkreten Ausdruck sozialen Heils. Die philanthropische Tätigkeit erreicht ihren Höhepunkt, wenn das Wohlsein in idealer Weise wiederhergestellt ist, so daß der Bedürftige mit den ihm nun zur Verfügung stehenden Mitteln ein würdiges Leben führen kann (Maimonides, Hilk.Mat. c aniyim 10,7). Die Sammlung und Verteilung von Almosen wurde durch ernannte Beauftragte der Gemeinde ( g a b b a y , memünrte) institutionalisiert. Sie galten als diejenigen, die „die Vielen zur Gerechtigkeit führen" (bBB 8 b mit Bezug auf Dan 12,3). Armenfürsorge ( s e d a q ä ) hat im rabbinischen Denken als greifbarer Akt der Liebe im interpersonalen Bereich einen hohen Stellenwert, dem nur noch die frommen Werke der —»Buße und des —»Gebets — die aufrichtigen Formen einer transpersonalen Beziehung — gleichkommen (yTaan II, 1,65 b; BerR 4 4 zu 15,5). Armenfürsorge wurde für den einzelnen zur notwendigen Bedingung für die Erlangung des ewigen Lebens und für die Verwirklichung universaler Erlösung in messianischer Zeit (Yalq 8 2 , S. 4 8 b, zu Gen 18,8).
2. Gott als Gerechter den Menschen gegenüber:
transpersonale
Sicht
Das Prinzip der Gerechtigkeit betrifft in seinem Bezug auf gerichtliche Aktivität wie auf ethisches Verhalten sowohl den zwischen- als auch den innermenschlichen Bereich. Der pädagogische Zweck theokratischer Herrschaft wird in Ex 1 8 , 2 0 formuliert: „Schärfe ihnen die Satzungen und die Weisung ein und lasse sie den Weg wissen, auf dem sie gehen sollen, und die Werke, die sie tun sollen." Von den Rabbinen werden „der W e g " auf das ethische Verhalten der hxsxd und die zu vollbringenden „ W e r k e " auf „die Linie jenseits des Gesetzes" bezogen (TPsJ und M e k h Y z.St.). Die richterlichen Gesetzgeber sollen danach ausgewählt werden, daß ihre Ehrlichkeit und gute Absicht in ihrem öffentlichen Dienst wie in einem Spiegel sichtbar werden. Sie sollen vertrauenswürdig sein und den Kompromiß suchen, selbständig und materiellen Gewinn verschmähend. In ihnen, Männern wie Hanina ben Dosa und seinesgleichen, verkörpert sich der Typus des gütigen Menschen (hasid}. Zwei religiöse Haltungen bestimmen den Gerechten, die —»Furcht vor Gott und die —»Liebe zu Gott. Nach rabbinischer Theologie werden zwei Attribute Gottes mit den zwei wichtigsten biblischen Gottesnamen in Zusammenhang gebracht: Elohim deutet die Eigenschaft des Richtens (middat had-dtn), Y H W H die Eigenschaft des Erbarmens ( m i d d a t ha-rahamtm; z.B. ShemR zu E x 3 , 1 4 ) an. Die Eigenschaft des Richtens verweist in theistischem Denken auf die Immanenz des Schöpfers in der menschlichen Geschichte und postuliert eine Lehre von Lohn und Strafe. Grundlegend für eine Ablehnung dieses Postulats ist die Behauptung: „Es gibt keinen höchsten Richter, und es gibt kein göttliches Gericht", wie sie Kain in der rabbinischen Auslegung
Gerechtigkeit II
413
seines Brudermords zugeschrieben wird (TPsJ und Cod. Neofiti 1 zu Gen 4,8). Denn die Gewißheit, daß Gott als der gerechte Richter handelt, dient in menschlichen Beziehungen als starkes religiöses Abschreckungsmittel. Wenn sich jedoch ein Glaubender in einer Grenzsituation befindet oder im Martyrium dem T o d gegenübersteht, bekundet er seine Zuversicht mit einem Bekenntnis zur Gerechtigkeit Gottes ( s i d d ü q - h a d - d i n : bBer 5 8 a; b A Z 18 a). Dieser äußerste Akt vollkommenen Vertrauens in Gottes Gerechtigkeit basiert auf dem kreatürlichen Grundgefühl der Sterblichkeit, das im Gläubigen die Furcht vor Gott hervorruft. Das biblische Beispiel eines Gottesfürchtigen ist —»Hiob, der schließlich durch Gottes Antwort „aus dem Gewittersturm" (Hi 3 8 - 4 1 ) überwältigt wird. Die Eigenschaft des Erbarmens wird Gott in der anthropopathischen Redeweise der -»Propheten zugeschrieben (—»Barmherzigkeit). In ihr äußert sich das göttliche Pathos der Liebe im Umgang mit der Menschheit. Der Mensch wiederum setzt sein ganzes Vertrauen in Gottes Gnadenhandeln und in seine Heilszusage. Ein Beispiel eines solchen liebenden Vertrauens ist —»Abraham. Sein Vertrauen auf Y H W H wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet (Gen 15,6). Im zwischenmenschlichen Bereich zeigt sich Abrahams Art, „Gerechtigkeit und Recht zu ü b e n " (Gen 18,19) im altruistischen Akt der Güte (Yalq 8 2 zu Gen 1 8 , 1 9 , S. 4 9 b; B e r R 4 9 , zu 1 8 , 1 9 ; 5 0 2 ) . Eine solche nacheifernde Entsprechung zwischen Gott und Mensch in der Praxis der hxsxd wird von den Rabbinen als imitatio Dei vorgestellt. Gott fordert, daß sein Volk „in allen seinen Wegen wandelt" (Dtn 1 0 , 1 2 ) , was von den Rabbinen so ausgelegt wird: „Dies sind die Wege Y H W H s : ein barmherziger und gnädiger Gott (Ex 3 4 , 6 ) ; . . . wie Gott,gerecht' ( s a d d i q ) genannt wird (Ps 11,7), so sollst auch du gerecht sein; wie Y H W H ,huldvoll' (Ipasid) genannt wird (Jer 3 , 1 2 ) , so sollst auch du huldvoll sein" (Sif Dev 4 9 ) . Abraham dient für alle künftigen Generationen als das menschliche Vorbild der Gerechtigkeit, als der ideale saddiq (BerR 4 9 , zu Gen 1 8 , 1 8 ; 5 0 1 ) . Nach rabbinischem Verständnis wurde die Welt nur um Abrahams bzw. um der Gerechten willen erschaffen (BerR 35 zu 9 , 1 2 ; 3 3 0 ) . In b M a k 2 4 a wird darüber diskutiert, in wie viele Grundforderungen man den Inhalt der Tora zusammenfassen könne. Schließlich läßt man es bei nur einer Grundforderung bewenden: ,Der Gerechte wird aus seinem Glauben leben' (Hab 2,4). Damit wird erneut die zentrale Stellung des Gerechten hervorgehoben.
3. Gerechtigkeit
als Ideal des
Frommen
Die Rabbinen charakterisieren den Gerechten als idealen Nachahmer dethxsxd Gottes und als religiöses Individuum, dessen Leben verdienstvoll ist im Lichte des Urteils Gottes. Im liturgischen J a h r wird dies mehrfach zum Ausdruck gebracht. In den zehn Bußtagen zu Jahresbeginn stellt man sich vor, der Gerechte stehe vor dem Richterstuhl Gottes. Ähnlich muß die Seele des Verstorbenen sich einem Urteil Gottes unterziehen. Beide Vorstellungen münden in jene vom „letzten Gericht" ein. Die rabbinische Lehre von den Verdiensten ist jedoch nicht nur forensisch; sie ist nicht nur eine „Lohnordnung" (vgl. Odeberg 3 0 f f gegen Bill. I, 2 5 1 zu M t 5 , 2 0 ) . Nicht nur verlangten die jüdischen Weisen gute Werke ohne jeden Gedanken an Belohnung (mAv 1,3; A R N 5), sondern sie verurteilten die „berechnenden" und „auf Lohn erpichten" —»Pharisäer (bSot 2 2 b; yBer I X , 14 b; ySot V , 2 0 c). Die Hillelschule unterstrich auch das Attribut der Gnade Gottes, das über die Zukunft eines Menschen nach dem Tode mitentscheide (tSan 13,3). So wird der Mensch gerichtet nach der Gesamtsumme alles Guten, das existiert; zu seinen Gunsten zählen nicht nur die Verdienste, die er persönlich erworben hat, sondern auch die seiner Zeitgenossen, Vorfahren und Nachkommen. Die rabbinische Lehre von der Anrechnung der Verdienste erstreckt sich über Zukunft und Vergangenheit (Schechter 1 7 0 ff). Der ideale saddiq ist ein seltener Typus (bSan 1 1 0 b; b Y o m 3 8 b), der sich zu Gott in der doppelten Rolle eines hingebungsvollen Dieners und eines liebenden Sohnes verhält (bBer 3 4 b ; mTaan 3 , 8 ) ; die rabbinischen Beispiele sind Hanina ben Dosa (bSot 4 9 a ) aus dem 1. J h . und der Regenmacher Onias (ca. 8 0 v. Chr.). Die höchste Form der Gottesverehrung besteht für den Gerechten in der Verknüpfung von Furcht und Liebe (yBer I X , 7 , 1 4 b; SifDev 3 2 ) . Der Gerechte personifiziert die Güte (MTeh 7 , 1 0 ; bKid 4 0 a), da er nur durch die „gute
414
Gerechtigkeit III
Neigung" bewegt wird (bBer 6 1 b ; BerR 3 4 , 1 0 ) . Er praktiziert hxsxd im Umgang mit anderen, wie er sich auch im Gebet vor Gott für die anderen verwendet. Sein persönliches Leben bezeugt religiöse Kraft im Kampf gegen den „bösen Trieb" (SER, ed. Friedmann 8). Letzterer ist nach rabbinischer Ansicht identisch mit dem Satan und dem „steinernen Herzen" des Propheten (Ez 3 6 , 2 6 ) ; er wird am Ende der Zeit gänzlich beseitigt werden (bSuk 5 2 a ) . Das Gebet des saddiq beeinflußt sogar die göttliche Eigenschaft des Richtens, indem es die göttliche Antwort der —»Gnade hervorruft (bSuk 14a). Der saddiq vollbringt in der imitatio Dei Werke der Heilung (DevR 10,3): ein rettender Dienst, der zugleich eine physische und eine spirituelle Bedeutung hat - auch beim Akt der Auferweckung von Toten (vgl. bPes 68 a). So lebt der Gerechte in den Augen der Gemeinschaft auch nach seinem Tode weiter (bBer 18b); dementsprechend setzte die Akademie nach dem Tode R. Judas, des Patriarchen, die Vorschrift der Unreinheit außer Kraft (yBer 111,1), und es wird sogar von einer Erscheinung des Verstorbenen in seinem Haus berichtet (bKet 103 a). Denn die letzte Bestätigung des gerechten Lebens durch Gott ist der himmlische Lohn einer persönlichen —»Auferstehung (bTaan 7b). Im himmlischen Reich erhält der saddiq seinen Platz in der strahlenden Nähe des göttlichen Thrones, unter seinem eigenen lichtvollen Baldachin (bBer 17 a; bBB 7 5 a). Von daher gilt ein saddiq, dessen irdisches Leben im Martyrium endet (—»Leiden), als leidender Knecht Gottes, dessen Tod die Sünden vieler entsühnt (bMQ 28 a). Der Gerechte bewirkt durch sein beispielhaftes Leben, daß die Shekhînâ auf Erden weilt (MShir 5,1;). Sein gewaltsamer Tod wird als Sich-Entfernen der Shekhînâ gedeutet, wodurch böse Mächte wieder Auftrieb erhalten (KallaR 6, bezogen auf Jes 57,1). Quellen und Literatur Bill. - Adolf Büchler, Types o f Jewish Palestinian Piety, London 1 9 2 2 = 1 9 6 9 . - Samuel H . Dresner, T h e Zaddik, London/New Y o r k 1 9 6 0 . - Abraham J o s h u a Heschel, G o d in Search of M a n , N e w Y o r k 1 9 5 5 . - L o u i s J a c o b s , Art. Righteousness: E J 1 4 ( 1 9 7 1 ) 1 8 0 - 1 8 3 . - R u d o l f M a c h , Der Zaddik in T a l m u d u. Mxdrasch, Leiden 1 9 5 7 . - George F o o t M o o r e , Judaism, 3 Bde., Cambridge 1 9 2 7 - 1 9 3 0 . H u g o Odeberg, Pharisaiism och Kristendom, Lund 1 9 4 5 = St. Louis 1 9 6 4 . - ' O r h o t h Saddiqim (Ways o f the Righteous), transi, by S. J . Cohen, Jerusalem/New Y o r k 1 9 6 9 . - G . B . Sarfati, Hasîdîm 'anse ma'asè ve-nevi'îm risônîm: T a r b . 2 6 ( 1 9 5 6 / 5 7 ) 1 2 6 — 1 5 3 . —Salomon Schechter, Some Aspects o f Rabbinic Theology, New Y o r k 1 9 0 9 . - Sefer ha-hinnukh, ed. B. Chavel, Jerusalem 1 9 6 7 .
Asher Finkel III. Neues Testament 1. Sprachgebrauch 2. Jesusüberlieferung der Synoptiker 3 . Corpus Paulinum 4. Jakobusbrief 5 . Johanneische Tradition 6 . Hebräerbrief 7. Johannes-Apokalypse 8. Zusammenfassung (Literatur S. 4 1 9 )
1.
Sprachgebrauch
1.1. Das deutsche W o r t Gerechtigkeit steht in der Übersetzung des Neuen Testaments für griechisch dixaioovvri, entsprechend das Adjektiv gerecht und das Substantiv Gerechter für dtxatog. Das griechische Wortdi'x?/ hingegen, den größeren Bedeutungsrahmen Recht und Gerechtigkeit abdeckend, findet sich außer II Thess 1,9 und J u d 7 (im Sinne von gerechter Strafe) nur Act 2 8 , 4 geradezu personifiziert im Munde heidnischer Seeleute, die im Biß der Schlange das Walten der vergeltenden Gerechtigkeit gegenüber Paulus erkennen wollen. 1.2. Als Opposita stehen entsprechend der griechischen Sprachtradition äöixia [Ungerechtigkeit] und äöixog [ungerecht/Ungerechter], daneben aber auch äfiagzia [—»Sünde] und afiaQxioXöq [sündig/Sünder], Das weist auf die jüdische Sondersprache des Griechischen, in der über die L X X - O b e r s e t zung die griechischen W ö r t e r zu Bedeutungslehnwörtern werden für entsprechende hebräische W ö r t e r vor allem der Wurzel sdq. Bezeichnet nämlich in der griechischen Sprache Gerechtigkeit das zwischenmenschliche Verhalten im Unterschied zu öacörrjg oder evoeßeia [beides in etwa „ F r ö m m i g k e i t " ] als dem angemessenen Verhalten gegenüber den Göttern, so gibt es eine solche Differenzierung in jüdischer Tradition an sich nicht, da der Bereich zwischenmenschlichen Verhaltens bestimmt ist durch die vorgegebene Ordnung als Gottes Gerechtigkeit. D a ß dennoch in der Septuaginta sich die Ubersetzung der W ö r t e r der Wurzel sdq nicht differenziert, vielmehr dixcuoovvr] und evoeßeia bzw. äöixia und d.aeßeta [Gottlosigkeit] parallel und annähernd synonym stehen (vgl. Dihle 3 0 4 ) , läßt sich vielleicht daraus
G e r e c h t i g k e i t III
415
erklären, d a ß hier wie d o r t das - » G e s e t z B e z u g s r a h m e n für G e r e c h t i g k e i t ist, so unterschiedlich dieses freilich jeweils n a c h H e r k u n f t und Inhalt b e s t i m m t ist. W i c h t i g für den n e u t e s t a m e n t l i c h e n Sprachgeb r a u c h ist a u c h hierbei die V e r m i t t l u n g zwischen beiden T r a d i t i o n e n in der griechischen S o n d e r s p r a c h e des hellenistischen J u d e n t u m s . 1.3. D a s V e r b u m öixaiovv
[rechtfertigen] u n d d a s d a v o n gebildete S u b s t a n t i v öixaiaioa;
[Recht-
fertigung] sind z w a r a u c h u n t e r d e m S t i c h w o r t G e r e c h t i g k e i t zu b e r ü c k s i c h t i g e n , g e h ö r e n aber wesentlich zu - » R e c h t f e r t i g u n g . T r o t z verschiedener Ü b e r s c h n e i d u n g e n ( v o r a l l e m bei Paulus) geht die Bedeutung von G e r e c h t i g k e i t nicht einfach in R e c h t f e r t i g u n g a u f . A u c h bei e i n e m nicht lediglich an W o r t b e deutungen orientierten Artikel s p e r r t sich die Vielfalt des S p r a c h g e b r a u c h s im N e u e n T e s t a m e n t gegen eine solche S y s t e m a t i s i e r u n g . D a s a b e r weist zugleich a u f das T r a d i t i o n s p r o b l e m des Verhältnisses v o n Gerechtigkeit als sozialer T u g e n d in u n s e r e m heutigen S p r a c h g e b r a u c h zu e i n e m eigentlich nur n o c h religiöser S p r a c h e zugehörigen Begriff R e c h t f e r t i g u n g . 2 . 4 . W e i l das N e u e T e s t a m e n t kein B u c h aus einer H a n d ist, s o n d e r n eine S a m m l u n g v o n Schriften verschiedener A u t o r e n aus unterschiedlichen S i t u a t i o n e n , zeichnen sich verschiedene Sprachkreise a b , die im folgenden je für sich behandelt w e r d e n . G e m e i n s a m ist ihnen n i c h t ein v o r g e g e b e n e r Begriff, w o h l aber, d a ß sie G e r e c h t i g k e i t - in w e l c h e r W e i s e a u c h i m m e r - beziehen a u f d a s in J e s u s erschlossene Heil, dabei in unterschiedlicher W e i s e a n k n ü p f e n d a n T r a d i t i o n e n des J u d e n t u m s .
2 . Jesusüberlieferung der Synoptiker 2.1. Erst M t hat ÖLxaioavvrj zu einem Schlüsselwort der Verkündigung Jesu gemacht, und das besonders im Z u s a m m e n h a n g der —»Bergpredigt, w o er in 5 , 6 . 1 0 ; 6 , 3 3 „Gerechtigk e i t " pointiert in ihm vorgegebene Überlieferung der Logienquelle einfügt sowie in 5 , 2 0 J e sus ein „ M e h r " an Gerechtigkeit fordern läßt gegenüber der Gerechtigkeit von Pharisäern und Schriftgelehrten. Inhaltlich entspricht diese Gerechtigkeit dem T u n des Willens des V a ters ( 7 , 2 1 ) , wie ihn Jesus geboten hat ( 7 , 2 4 . 2 6 ; 2 8 , 2 0 ) . N o r m der Gerechtigkeit ist nach M t demnach das Gesetz in der Auslegung Jesu, die als dessen Angelpunkt das doppelte Liebesgebot ( 2 2 , 4 0 ) bzw. die—»Goldene Regel ( 7 , 1 2 ) sieht; alles andere Verhalten wird a l s ä v o f i i a [Gesetzlosigkeit] qualifiziert ( 7 , 2 3 ) . D a s geschieht wohl nicht gegen sich selbst als Antinomisten bezeichnende Gegner (so B o r n k a m m ; B a r t h ) , denn ihre Selbstdarstellung 7 , 2 2 enthält solche Züge nicht; vielmehr mißt M t von sich aus in dieser Weise an einer von ihm selber postulierten N o r m . Gerechtigkeit bezeichnet also bei M t ein Verhalten derer, die in Jesu —»Nachfolge leben wollen. In der exegetischen Diskussion wird diese öixaioavvrj von B o r n k a m m (28) als „Forderung und eschatologisches Heilsgut zugleich" (vgl. Barth 1 3 0 ) bestimmt, w ä h r e n d Strecker den G a b e c h a r a k t e r bestreitet und Gerechtigkeit allein als „die ethische H a l t u n g der J ü n g e r " versteht ( 1 5 7 ; ähnlich Trilling 1 8 4 ) . Eine solche Verengung hängt zusammen mit der Gesamtinterpretation des M t als „heidenchristlich" und damit auch der Interpretation des Sprachzusammenhangs (vgl. auch F r a n k e m ö l l e 2 8 1 ) . Erschließt jedoch Jesu Auslegung des Willens Gottes Heil, so ist auch die damit ermöglichte Gerechtigkeit Heil, begründet in Jesu eigener Erfüllung der Gerechtigkeit ( 3 , 1 5 ) . 2 . 2 . In ganz anderer Weise als M t hat Lk das Stichwort Gerechtigkeit in die ihm vorgegebene Uberlieferung eingebracht, indem er mit dem Adjektiv „ g e r e c h t " Personen positiv kennzeichnet, die nicht eigentlich Jünger sind: in L k 1,6 Z a c h a r i a s und Elisabeth als solche, die untadelig in allen Geboten und Rechtsvorschriften wandeln, in 2 , 2 5 Simeon, in 2 3 , 5 0 J o s e p h von Arimathia und in Act 1 0 , 2 2 den heidnischen H a u p t m a n n Cornelius. Auffällig sind weiter die Bezeichnung Jesu als „der G e r e c h t e " (Lk 2 3 , 4 7 ; A c t 3 , 1 4 ; 7 , 5 2 ; 2 2 , 1 4 ) , dessen T ö t u n g also Unrecht ist, sowie in Weiterentwicklung des Sprachgebrauchs seiner Quellen die Bezeichnung von Gegnern Jesu als solchen, die meinten, gerecht zu sein (Lk 1 8 , 9 ; 2 0 , 2 0 ) . All das enthält keine Beziehung zur T h e m a t i k eines Heilszusammenhangs von Gerechtigkeit, Sünde, Gesetz und Christologie. 2 . 3 . In den beiden älteren Quellen M k und Q findet sich nur in M k 2 , 1 7 par. die Gegenüberstellung von gerecht und ungerecht; aus Q wäre allenfalls M t 5 , 4 5 diff. L k 6 , 3 5 zu nennen, doch scheint hier eher M t erweitert zu h a b e n , als d a ß m a n annehmen könnte, Lk h a b e gekürzt. W i e in allen anderen Q - T e x t e n dürfte also auch hier das Stichwort gerecht auf einen der Evangelisten zurückgehen. T r o t z dieses Fehlens der Begrifflichkeit bleibt aber die Frage, o b nicht M t mit seiner expliziten Thematisierung der Gerechtigkeit etwas auf den Begriff
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bringt, was schon in der Verkündigung des historischen Jesus angelegt ist, nämlich die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, der Menschen und der Welt, die sich im Zusammenhang der Thematik der —»Herrschaft Gottes traditionsgeschichtlich ergibt und die Jesus in seinen Gleichnissen aufnimmt, indem er in überraschender Weise die Erfahrung der Welt nicht gegen Gottes Gerechtigkeit sprechen läßt, sondern gerade die als ungerecht erfahrene Welt zum Gleichnis für Gottes Herrschaft macht (Lührmann 193 f). Doch hängt eine solche Fragestellung sowohl von der Bestimmung von Gerechtigkeit im Alten Testament (s. o. Abschn. I) wie in der jüdischen Tradition (s.o. Abschn. II) ab als auch von der Bestimmung von —»Herrschaft Gottes. Die matthäische Fassung von Gerechtigkeit wäre dann zu beurteilen als Aufnahme dieses Themas in die christologische Reflexion der Jesusüberlieferung, und zwar als explizites Thema der Verkündigung Jesu. 3. Corpus Paulinum 3.1. Christologisch reflektiert wird die Frage der Gerechtigkeit jedenfalls in der frühchristlichen Überlieferung, die Paulus aufnimmt. Explizit geschieht das in Rom 3,(24)25.26a, wo das in Jesus erschlossene Heil als Erneuerung des Bundes im Blute Christi und damit als Erweis von Gottes Gerechtigkeit beschrieben ist (vgl. dazu bes. Käsemann, Verständnis); durch die Vergebung der Sünden wird Gerechtigkeit hergestellt. Zumeist wird hier V. 24 als nicht zur übernommenen Formel gehörend, sondern als paulinische Uberleitung angesehen. Doch ist gerade in alttestamentlicher und jüdischer Tradition Gottes Gerechtigkeit als Gerecht-Erklärung verstanden, und zwar durchaus als Gnadenhandeln Gottes, so daß durchaus der ganze Vers einer judenchristlichen Tradition entstammen kann. Weiter findet sich das Thema der Gerechtigkeit im Zusammenhang der —»Taufe, z. B. I Kor 6,11 (vgl. 1,30) (vgl. F. Hahn: Rechtfertigung 9 5 - 1 2 4 ) und auch in der neben- oder nachpaulinischen Tradition (Tit 3,4—7; Kol 1,13f; 3 , 1 - 4 ; Eph 2 , 4 - 1 0 ) , von Paulus selber bes. in Rom 6 reflektiert. Implizit ist diese Thematik aber auch mit den christologischen Titeln Gesalbter (Christus im Sinne von messianischer König—zu den Königstraditionen gehört die Erwartung der Durchsetzung von Gerechtigkeit) und Sohn Gottes (als Bezeichnung des von Gott für gerecht Erklärten) gegeben. Ein Motiv der Christologie, die Paulus aufnimmt, ist also schon vor Paulus die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, der Menschen und der Welt (Lührmann: Rechtfertigung 359). 3.2. Jedoch reflektiert diese christologische Tradition nicht grundsätzlich das Verhältnis von Gerechtigkeit und —»Gesetz, obwohl sie im Zusammenhang von Traditionen des Gesetzes entworfen ist (für Rom 3,24—26a vgl. Lev 16) und in I Kor 15,3 b—5 pauschal auf die Schriften {xaxä rag ygatpäg) verweist. Paulus selber hingegen schließt eine positive Verknüpfung von Gerechtigkeit und Gesetz aus und stellt in bewußter Antithese dagegen die exklusive Verbindung von Gerechtigkeit und —» Glaube; er behauptet aber zugleich, daß sich diese Antithese aus dem Gesetz selber ergebe, interpretiere man es nur richtig (vgl. Gal 4,21; Rom 3,21b und vor allem die Interpretation der Abrahamüberlieferung in Gal 3 f und Rom 4; —»Abraham). Paulus steht dabei mit der Aussage über die fehlende Gerechtigkeit in der Tradition alttestamentlicher Klagepsalmen wie dem von ihm zitierten Ps 143 (Gal 2,16; Rom 3,20) oder Ps 14 (Rom 3 , 1 0 - 1 2 ) , faßt aber das Gnadenhandeln Gottes, das dennoch Gerechtigkeit herstellt, anders als solche Psalmen und anders auch noch einmal als die ihm vorliegende christologische Tradition, indem er es allein mit dem Glauben verbindet (Rom 3,26b in Aufnahme der Formel 3,24—26a). Er zeigt dies vor allem an der Auslegung der Abrahamüberlieferung, für die traditionell ein enger Zusammenhang von Gerechtigkeit, Gesetz und Glaube behauptet worden war. Umstritten ist in der neueren exegetischen Diskussion das Verständnis von „Gerechtigkeit Gottes". Ansatzpunkt ist Bultmanns Bestimmung als forensischer Begriff: „von Gott geschenkte, zugesprochene Gerechtigkeit" des Glaubenden (Theol. 2 8 5 ) , grammatisch definiert als Genitivus auctoris. Dagegen hat Käsemann (Gottesgerechtigkeit 1 8 3 ) gestellt: „Die Gabe hat demnach selber M a c h t c h a r a k t e r " , oder er spricht von „der unlöslichen Verbindung von M a c h t und Gabe in unserem Begriff" (ebd. 1 8 7 ) ; grammatisch gesehen ein Genitivus subiectivus. Daß es um mehr als nur ein grammatisches Problem der Bestimmung des Genitivs geht, zeigen die von Käsemann angedeuteten Konsequenzen für die Wertung
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der paulinischen Theologie im ganzen als nicht sich a u f Anthropologie beschränkend (dies ist im K o m mentar zum R o m ausgeführt, vgl. bes. 2 1 - 2 8 ) . Stuhlmacher hat den Ansatz Käsemanns aufgenommen und dahin weitergeführt (Gerechtigkeit), daß er den G a b e c h a r a k t e r ganz bestreitet und Gerechtigkeit Gottes nur noch als M a c h t , „ R e c h t des Schöpfers" (11) versteht. Er begründet das vor allem traditionsgeschichtlich aus einer Untersuchung dieser von ihm sog. „ F o r m e l " , die er als aus der jüdischen —>Apokalyptik (bes. —»Qumran) stammend versteht. Dagegen haben sich insbesondere Bultmann (AIKAI02YNH), Conzelmann, Klein und Lohse gewandt, während sich Wilckens weitgehend der Deutung Stuhlmachers angeschlossen hat ( 2 0 2 - 2 4 3 ) , freilich unter stärkerer Betonung der Christologie. In ähnlichem Sinne hat nun auch Stuhlmacher seine ursprüngliche These korrigiert (Versöhnung 1 0 5 , vgl. dort bes. Anm. 16), daß Gerechtigkeit Gottes bei Paulus weder nur „Glaubensgerechtigkeit, die vor G o t t Anerkennung findet", meine noch stets „ G o t t e s eigenes R e c h t " , „beide Aspekte gehören unlösbar z u s a m m e n " .
Im Anschluß an diese Diskussion sind folgende Punkte bzw. sich aus ihnen ergebende Fragestellungen festzuhalten: 3.2.1. „Gerechtigkeit G o t t e s " ist nicht als „ F o r m e l " zu isolieren, weder bei Paulus selber noch in der schmalen jüdischen und christlichen Tradition. M a n übergeht sonst vor allem Ps-Stellen, die in der Anrede Gottes von seiner Gerechtigkeit sprechen, und man übersieht sonst den thematischen Zusammenhang zwischen —»Galaterbrief, wo es 2 , 2 1 ; 3 , 2 1 nur Gerechtigkeit heißt, und —»Römerbrief mit den eng verwandten Stellen 3 , 2 1 f; 1 0 , 3 - 5 . V o r allem ließen sich verbale Wendungen mnöixaiovv im Passiv, dessen logisches Subjekt Gott ist (Gal 2 , 1 6 u.a.), umsetzen in die substantivische Wendung Gerechtigkeit Gottes. Merkwürdig ist im übrigen, daß in der Diskussion um das Verständnis von Gerechtigkeit Gottes II K o r 9 , 9 f kaum jemals auch nur erwähnt wird (vgl. jedoch Ziesler 1 6 1 ) , immerhin die einzige Stelle, an der bei Paulus von Gottes Gerechtigkeit in einem alttestamentlichen Zitat die Rede ist. Dort steht nun freilich dieser Gerechtigkeit Gottes die Gerechtigkeit der Korinther gegenüber, ohne daß hier das T h e m a der Rechtfertigung im Blick ist. Es geht vielmehr um die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, und Gerechtigkeit ist nach dem entsprechenden Parallelbegriff in II K o r 8 , 1 3 f in durchaus klassischem Sinne als iadrr;g [Gleichmaß, Gleichbehandlung] bestimmt. Immerhin kann die Beachtung von II K o r 9 , 9 f vor der Einengung auf den Begriff „ F o r m e l " bewahren.
3.2.2. Während Gerechtigkeit, Glaube und Gesetz in der jüdischen Überlieferung einen engen Heilszusammenhang bilden, nimmt Paulus das Gesetz aus ihm heraus und bindet Gerechtigkeit exklusiv an den Glauben, damit aber auch an den Inhalt dieses Glaubens, T o d und Auferweckung des Christus. Z w a r gibt es durchaus eine Gerechtigkeit aus dem bzw. im Gesetz (Rom 10,5 in der Textfassung von Nestle/Aland 2 6 , vgl. dazu Lindemann; Phil 3,6); die aber ist nicht Gottes Gerechtigkeit bzw. Gerechtigkeit aus Gott, weil sie nicht aus dem Glauben ist (Rom 1 0 , 3 - 6 ; Phil 3 , 9 ) . Diese exklusive Bindung zeigt sich besonders R o m 1 , 1 7 (ix mozecog gehört zu öixaioavvrj deov bzw. im Zitat von H a b 2 , 4 zu öixaiog) und seiner Wiederaufnahme in 3 , 2 1 mit der Pointierung in 3 , 2 2 . Dann aber hängt vieles an der Bestimmung dessen, was für Paulus Glaube heißt; die Betonung der Christologie bei Wilckens und neuerdings Stuhlmacher verlagert nur die Diskussion und beschwört neue Aporien herauf. 3.2.3. Hängen schon die bisherigen Punkte zusammen mit unterschiedlichen Wertungen traditionsgeschichtlicher Zusammenhänge, so auch die Frage, wie sich Gerechtigkeit (Gottes) verhält zu anderen Heilsbegriffen wie Geist, Leben, Segen usw. Hier ist stärker als bisher der Zusammenhang mit der (dualistischen) Weisheit zu beachten; vgl. nur I K o r 2 , 1 2 : der Geist Gottes, den die Christen empfangen haben, als Geist aus Gott (ex rov Oeov) wie die Gerechtigkeit in Phil 3 , 9 , oder die Parallelität von nvevfia (—»Geist) und öixaioovvrj zur Kennzeichnung des Neuen in II Kor 3 , 7 - 1 8 . 3.2.4. So umstritten also die Bestimmung dessen ist, was Paulus unter Gerechtigkeit Gottes und was unter Rechtfertigung des Sünders versteht, so umstritten müßte eigentlich auch sein, wie seine dem entsprechende —»Ethik zu bestimmen ist. Das wird freilich nirgends wirklich thematisiert, wohl unter dem Eindruck der scheinbar glatten Lösung, paulinische Ethik sei der aus dem Heilsindikativ folgernde Imperativ. Gerechtigkeit ist aber von ihren Opposita Ungerechtigkeit wie Sünde auch ethisch definiert, und Rechtfertigung des Sünders
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ist zugleich Rechtfertigung des Handelnden; andererseits gibt Paulus mit dem Gesetz als Heilsweg auch konkrete Verhaltensnormen auf (vgl. die Fälle in I Kor 5—14, die samt und sonders nicht durch Rekurs auf jeweilige Rechtsbestimmungen des alttestamentlichen Gesetzes entschieden werden). Die Frage nach dem aus der Gerechtigkeit Gottes folgenden ethischen Verhalten in Rom 6,1.12—23 ist also nur konsequent. Paulus kennt dabei durchaus auch Gerechtigkeit als ethischen Leitbegriff (vgl. die traditionelle Verbindung óaímg xal dixaimg [fromm und gerecht] in I Thess 2 , 1 0 ; Phil 4 , 8 ; Rom 14,17), jedoch wird nicht eine in Christus gegründete Gerechtigkeit zum Zentralbegriff seiner Ethik, sondern —»Liebe als Realisierung der durch die Rechtfertigung gewonnenen und ethisches Verhalten erst ermöglichenden —»Freiheit (vgl. das Gegenbild Rom 1,18—3,20). Diese Liebe ist gefaßt im Liebesgebot des Gesetzes Lev 19,18 (Gal 5 , 1 4 ; Rom 13,8—10). Daß in der Auslegungsgeschichte die Vermittlung der Rechtfertigung mit der Frage nach ethischer Gerechtigkeit immer wieder zu einem Problem geworden ist, liegt nicht an einer bloßen Äquivokation, sondern weist auf ein elementares Sachproblem, da Paulus Heil gerade nicht über die ethische Selbstverwirklichung erreichbar sieht, andererseits aber auch die traditionelle Bestimmung der Gerechtigkeit als iaÓTrjg nicht ausreichen kann zur Regelung sozialer Bezüge (vgl. Dihle 2 3 5 ) . Die in Christus gegründete Gerechtigkeit ist also polemisch radikalisierend entworfen nicht nur gegenüber der jüdischen Tradition, sondern auch gegenüber der griechischen; als Gottes Gerechtigkeit ist sie etwas anderes als ein an Normen der Gerechtigkeit und der Frömmigkeit zu messendes Verhalten, nämlich Befreiung zur Liebe. Das Moment der iaórtjg schwingt nur insofern mit, als es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen gibt, alle sind — auch im ethischen Sinn — Sünder (Rom 3 , 2 2 b ; 10,12). 3.3. Deuteropaulinen. Die damit angezeigten Probleme treten schon in der paulinischen Tradition des Neuen Testaments auf, insofern nun ein Ausgleich zwischen Rechtfertigung und Ethik gesucht wird (Kol und Eph erst zeigen wirklich das Schema von Indikativ und Imperativ). Es ist sicher nicht lediglich unreflektierter Anschluß an die traditionelle ökonomische Ethik, wenn in den Haustafeln das Gerechte als £Marcion seine negative Welterfahrung. Er ordnet diese minderwertige Welt einem bloß gerechten Schöpfergott zu, der Böses verursacht, kriegslüstern und launisch ist (Irenaus, haer. 1,25,1; 3,12,15; Tertullian, Marc. 1,6); mit dem gütigen Gott des Evangeliums hat er nichts gemein. Die im Sinne des Schöpfergottes gerechten alttestamentlichen Frommen sind zur Erlösung durch Jesus unfähig (Irenäus, haer. 1,27,3). Gerechtigkeit ist also etwas Negatives. Ausgewogener urteilt der Valentinianer Ptolemäus. Zwischen dem vollkommenen Gott
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und Vater und dem Teufel steht ein gerechter, das Böse hassender Gott, der die ihm entsprechende Gerechtigkeit belohnt (Flor. 3,6; 7,5). 1.3. Wenn die Apologeten (—»Apologetik) das sittenstrenge Leben der Christen schildern, um Diffamierungen und Anklagen entgegenzutreten, fehlt ein Hinweis auf die Gerechtigkeit nicht (Justin, apol. 1,6,2; Theophilus, Autol. 3,15); inhaltlich wird sie durch das Doppelgebot der Liebe bestimmt (Justin, dial. 93; Aristides 16,2; Athenagoras, leg. 32,4). Nach Theophilus ist der Dekalog ausreichend für alle Gerechtigkeit (3,12). Für Athenagoras setzt christliche Gerechtigkeit das Vergeltungsprinzip außer Kraft (34,3). Die menschliche Gerechtigkeit wird im Gericht belohnt (Theophilus 3,34; Tatian, or. 7). Das Prädikat „gerecht" kommt Gott als dem Richter zu (Justin, apol. II, 12,6; Theophilus 1,3); weiteres wird nicht reflektiert. 1.4. Die antihäretischen Väter. Gegenüber der gnostischen Vergleichgültigung betrachtet —»Irenaus die Gerechtigkeit als notwendig (haer. 5,8,2; 4,36,3; 37,2 u.ö.). Zur Gerechtsprechung führt die Beachtung des Naturgesetzes, welches schon die Gerechten vor Abraham und die Erzväter hielten (ebd. 4,13,1.16,2). Christus hat dieses Naturgesetz erweitert und erfüllt (-»Gesetz). Gegenüber der gnostischen Zweigötterlehre legt Irenaus dar, daß Gerechtigkeit und Güte Gottes zusammengehören; Gerechtigkeit ohne Güte widerstrebe der Weisheit, Güte ohne Gerechtigkeit erscheine als schwächlich. Dabei beruft er sich auch auf Piaton (ebd. 3,25,2 ff). Für das Christentum —»Tertullians ist disciplina eher charakteristisch als iustitia. Dennoch weiß er, daß aus der Beachtung des Naturgesetzes Gerechtigkeit kommt (lud. 2; vgl. apol. 21,4). Christus hat das mosaische Gesetz erfüllt, indem er gewisse Lasten weggenommen, die auf die Gerechtigkeit bezüglichen Stücke aber erweitert hat (monog. 7,5 f; pudicit. 6). Vom Christen sind Werke der Gerechtigkeit gefordert (ieiun. 16; Val. 30,2; Marc. 4,15,8). Der montanistische Paraklet führt die Gerechtigkeit zur Reife (virg. vel. 1,7). Gegen Marcion argumentiert Tertullian ähnlich wie Irenaus: Güte und Gerechtigkeit Gottes bedingen einander. Bis zur Sünde Adams war Gott nur gut, von da an war er strenger Richter (Marc. 2,11). Aber schon bei den Schöpfungswerken war sein gerechtes Urteil tätig (ebd. 12). Die strafende Gerechtigkeit Gottes zielt auf die Unterstützung des Guten und ist daher selbst gut (ebd. 13). 2.
Alexandriner
—»Clemens von Alexandrien (vgl.TRE 10,462,34 ff) nennt Gerechtigkeit als höchste der vier Kardinaltugenden (str. 7,17,3; 6,95,4), bringt aber auch stoisierende Definitionen (paed. 1,64,1; str. 2,66,3; 4,163,4; 7,69,7). Der Mensch besitzt eine natürliche Anlage zur Gerechtigkeit (str. 1,34,4.94,2), die Philosophie führt aber nur zu einer minderen Form derselben (str. 1,99,3; 2,7,1). Zur vollkommenen Gerechtigkeit kann nur der Logos führen, weil er selbst völlig gerecht ist (paed. 1,18,4; 89,1 ff). Die vollkommene Gerechtigkeit besitzt erst der wahre Gnostiker; sie steht über dem —»Glauben, da sie in Wort und Tat besteht, im Vermeiden von Bösem und im Tun des Guten (str. 4,102,4-103,5; vgl. 6,164,2; 7,78,7). Christus ist gerecht, weil er der Sohn des absolut gerechten Gottes ist (paed. 1,73). Gegen die Gnostiker betont Clemens unermüdlich, daß Gott Gerechtigkeit und Güte vereine (str. 2,86,1; 91,1; 6,109,5; 7,15,4; 73,3 u.ö.; ausführliche biblizistische Argumentation in paed. 1,62-74). Für —»Origenes ist — dem asketischen Ideal entsprechend - nicht die Gerechtigkeit die höchste Tugend, sondern die Tapferkeit (Völker 151). Aber der Mensch hat schöpfungsmäßig auch Samenkörner der Gerechtigkeit empfangen, um deren Wachstum er sich mühen muß (P. Giss. 17[ed. Glaue 6/8.12];princ. 1,3,6). Allerdings sind diese natürlichen Impulse ungenügend, daher muß man Jesus als dem Lehrer der göttlichen Gerechtigkeit folgen. Gesetz und Propheten weisen auf diese göttliche Gerechtigkeit hin, aber sie steht weit höher als diese (comm. in Rom 3 , 2 1 - 2 4 [ed. Scherer 150/152]). Die bessere Gerechtigkeit Christi
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fordert ein verinnerlichtes Verständnis der Gebote und damit ein Mehr an Leistung (hom. 11,2 in Num.; hom 2 in Luc.). Menschliche Gerechtigkeit ist aber nicht nur an die Lehre Jesu gebunden, sondern auch an seine Person; er verkörpert Weisheit, Gerechtigkeit und die anderen Tugenden, wie in Anspielung auf I Kor 1,30 oft betont wird (Cels. 4,99,38; 8,9,29; 13,28; 75,26; princ. 1,3,8; 2,9,4; 4,4,1), ja er ist die avTodixaioovvt] (hom. in Ier. 17,3; hom. in loh. 6,40). Da sich in jedem Heiligen Christus findet, da die Heiligen seine Nachahmer und nach seinem Bild gestaltet sind (hom. in loh. 6,42), reicht die Tugend der Gerechtigkeit ins Zentrum origeneischer Spiritualität. Nachdem Rom 3,21 auf die von Gott geforderte Gerechtigkeit ausgelegt wurde, kann die Gott eigene Gerechtigkeit nur als iustitia activa verstanden werden. Die dualistische Lösung der Gnosis wird abgelehnt: Der gute Schöpfergott gibt jedem nach Verdienst seine Stelle, ein anscheinend ungerechtes Schicksal ist erzieherische Strafe für Verfehlungen in einem präexistenten Leben (princ. 2,9,5—8) mit dem Ziel der Apokatastasis (—>Eschatologie). 3. Die griechischen Väter des 4. Jh. Für —»Eusebius von Caesarea erneuert das Christentum die vormosaische Religion (demonstr. ev. 1,5), daher waren schon Noah und Hiob gerecht (ebd. 1,6). Zwischenzeitlich ging die Gerechtigkeit verloren (v. C. 2,25), aber Christus hat durch seine Taten und Lehren die Menschen von der Ungerechtigkeit wieder zur Gerechtigkeit gebracht (demonstr. ev. 4,10,14), er bringt eine „ewige Gerechtigkeit", weil er die ganze Menschheit beruft (ebd. 8,2,26-29). Kaiser Konstantin steht im Dienst dieser Gerechtigkeit (v. C. 2,24f); er besitzt selbst Gerechtigkeit und die anderen Kardinaltugenden (l.C. 5). Für—»Athanasius von Alexandrien ist die christologische Ausrichtung der Gerechtigkeit wichtig; Christus ist Typos der Gerechtigkeit für die Menschen (Ar. 1,41 [I Kor 1,30]), er ist die avzoöixaioavvr] (gent. 46); infolge seiner Heilstat können die Menschen die Gerechtigkeit des Gesetzes erfüllen (Ar. 1,51). Insbesondere wird Gerechtigkeit als Mönchstugend hervorgehoben (v. Ant. 17; 42; weiteres zum Mönchtum s. Dihle 3 4 4 - 3 4 7 ) . Die großen Kappadokier gehen wieder stärker vom philosophischen Gerechtigkeitsbegriffaus (Basilius, hom. 12,8; hom. 5 in Ps. 29; Gregor v. Nyssa, beat. 4,5; virg. 18). Gottes Gerechtigkeit ist zumeist als iustitia activa verstanden (Basilius, hom. 7 in Ps. 7; Gregor v. Nyssa, Eun. 3,4,33 ff); auch der christologische Bezug findet sich (Basilius, hom. 12,9; spir. 8,19; Gregor v. Nyssa, beat. 4,7 [I Kor 1,30]; perf. 13). Isoliert steht bei-»Basilius (vgl.TRE 10, 465,26ff) einmal, der Mensch solle sich nicht aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit erheben, sondern sich als der wahren Gerechtigkeit bedürftig wissen und allein durch den Glauben gerechtfertigt werden (hom. 20,3). Nach —»Gregor v. Nyssa zeigt sich die Gerechtigkeit Gottes darin, daß Gott im Erlösungswerk den Teufel nicht gewalttätig behandelt und daß er ihn, der die Menschen betrog, wieder betrügt (or. catech. 20—26). Ein biblisch orientiertes Gesamtbild bringt —»Johannes Chrysostomus. Gerechtigkeit besteht in der Erfüllung aHer Gebote (hom. 12,1 in Matth.) Dem Gesetz fehlte es an Kraft, die Menschen gerecht zu machen (ebd. 16,2). Christus erfüllte alle Gerechtigkeit, d.h. alle Gebote, um das Gesetz auf eine höhere Stufe heben zu können. Seit seinem Erscheinen ist die den Menschen unerreichbare Gerechtigkeit aufgrund eigener Leistung hinfällig geworden (hom. 17,1 in Rom.) Den Erlösten wird die Gerechtigkeit durch Gottes Gnade geschenkt, nach Abrahams Vorbild kann dies nur im Glauben empfangen werden (hom. 11,2 in Phil.). Gerechtigkeit ist der Inbegriff der Tugend (hom. 4,3; 16,3 in Matth.), wird aber mit spezifisch christlichen Verhaltensweisen umschrieben (Frömmigkeit, Glaube, Liebe, Sanftmut: hom. 6,1 in II Tim.; —»Goldene Regel: hom. 16,3 in Matth.). 4. Lateinische Kirchenväter von Cyprian bis
Augustin
Für den handfesten Moralismus —»Cyprians von Karthago ist Gerechtigkeit notwendig, um bei Gott, dem Richter, Verdienst zu erlangen; seinen Geboten und Mahnungen, die im Doppelgebot der Liebe zusammengefaßt sind, muß man gehorchen (unit. eccl. 15). „Werke
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der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit" helfen zur Sündentilgung nach der Taufe (op. et el. 1), Almosen und gerechte Handlungen löschen die Feuersflammen der Hölle (ebd. 2). Als Gerechte par excellence erscheinen die Märtyrer (ep. 5 8 , 2 ; vgl. 6,2). Im Entwurf des —>Lactantius spielt die Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. In der Urzeit herrschte vollkommene Gerechtigkeit und vollkommener Friede, solange der eine Gott verehrt wurde (inst. 5,5). Mit dem Abweichen vom Monotheismus wurde die Gerechtigkeit vertrieben (ebd. 5,6,12). Der Sohn Gottes wurde gesandt, um die Urzeit mit ihrer Gerechtigkeit wieder herbeizuführen (ebd. 5,7,2); er ist der Lehrer der Gerechtigkeit (ebd. 4 , 1 3 , 1 0 . 2 4 , 1 0 ; vgl. 4 , 1 0 , 1 . 1 1 , 7 . 1 2 , 1 5 ) . Gerechtigkeit besteht in der Verehrung des einen Gottes, aufgrund derer sich die Menschen als Brüder verstehen und verhalten. Die soziale Ungleichheit bei Griechen und Römern ließ ebenso wie die fehlende Gotteserkenntnis keine Gerechtigkeit entstehen (5,14,19 f). Die Christen verstehen sich wenigstens im Geist als Brüder (5,15,2ff). Er kann die „ganze Gerechtigkeit" bündig als Liebe zu Gott und zum Nächsten definieren (ira 14,5; vgl. epit. 2 9 , 5 f; 5 4 , 4 f). Nach -^Ambrosius ist Gerechtigkeit die Tugend, die die Pflichten gegen Gott und die Mitmenschen regelt (off. 1 , 1 2 7 . 1 3 0 ) ; sie ist eine der Kardinaltugenden (off. 1,252; in Luc. 5,62), aber auch Mutter der übrigen Tugenden (par. 3 , 2 2 ; Abr. 10,68; vgl. in Luc. 5,65). Der philosophische Ausgangspunkt wird inhaltlich überwunden, wenn das Zufügen von Schaden als unvereinbar mit der Gerechtigkeit erklärt (off. 1,131), die Feindesliebe mit einbezogen (in Luc. 5,76) oder die Weggabe aller Habe zugunsten der Armen als höchste Gerechtigkeit erklärt (exc. fr. 1,60) wird. Die vier Seligpreisungen der Feldrede werden auf die Kardinaltugenden bezogen (in Luc. 5,62). Daneben weiß Ambrosius, daß das Gesetz zwar Gerechtigkeit in sich trägt, sie aber nicht vermitteln kann (in Luc. 5,21); der Christ wird gerechtgesprochen nicht aufgrund der Taten, sondern der Taufe (ep. 73,10). Gottes Gerechtigkeit zeigt sich im -^Gericht (Abr. 1,6,52; in Luc. 2,60); doch bleibt Gott auch da geduldig und milde (interpell. 4 , 2 2 ; fid. 5,64). Der Sohn, dem das Gericht übertragen ist, ist ein gütiger Richter (de fide 2,68), bei ihm fallen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammen (in Luc. 2,90). Auch der —> Ambrosiaster hält den Verzicht auf Vergeltung für ein Merkmal der besseren Gerechtigkeit des Christen, die er als Nachahmung der himmlischen Gerechtigkeit auffaßt (ad Rom. 12,17); die vollkommene Gerechtigkeit besteht in der Feindesliebe (ad Rom. 13,10). Wichtiger ist ihm die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: Sie wird insofern im Christusereignis offenbart, als sich darin Gottes Verheißungen als wahr erweisen (ad Rom. 1.17). Außerdem ist es recht und billig, wenn Gott sich derer annimmt, die zu ihm fliehen (ad Rom. 3,21). Dem Glaubenden wird wie Abraham die Gerechtigkeit geschenkt (ad Gal. 3.18), er hat die Möglichkeit, nicht mehr zu sündigen (ad II Cor 3,5). Alle Linien laufen bei -»Augustin zusammen (vgl. T R E 1 0 , 4 6 9 , 2 3 ff). Er kennt die Gerechtigkeit als Kardinaltugend (lib. arb. 2 , 5 2 ; en. in Ps. 8 3 , 1 1 ; retr. 1,6,3), die alle sozialen Pflichten umfaßt (Gen. ad lit. 12,54; en. in Ps. 8 3 , 1 1 ; Trin. 14,12) und die übrigen Tugenden ordnet (Gen. c. Man. 2,14). Gott selbst ist die unverrückbare Idee der Gerechtigkeit (Trin. 8,13) dasadhaerere Deo ist der Bezugspunkt der vier Kardinaltugenden (de mor. eccl. 1,15; ep. 155,12). Sie läßt sich im Doppelgebot der Liebe zusammenfassen (div. quaest. 83, q. 61,4; cat. rud. 14,1 f; Trin. 9,14). Darüber hinaus hat Augustin Gerechtigkeit Gottes und des Menschen erstmals in einen klar paulinisch bestimmten Zusammenhang gebracht. In Rom 1,17 und 3 , 2 1 meint Gerechtigkeit Gottes nicht dieiustitia activa, sondern die Gerechtigkeit, mit der Gott den Menschen beschenkt, um ihn, den Gottlosen, zum Gerechten zu machen (spir. et lit. 9 ; 1 1 ; 1 8 ; 3 2 ; ep. 1 4 0 , 7 1 f ; in Joh. ev. tr. 26,1). Die Gerechtigkeit des Menschen kommt weder aus dem Gesetz noch aus der Naturanlage, wie die Pelagianer meinten, sondern aus dem Glauben und der—»Gnade Gottes (ep. 177,11). Da kein Mensch auf Erden sündlos ist, wird der Gerechte hier nur sehr nahe an die Gerechtigkeit herankommen (perf. 23); diese relative Gerechtigkeit besteht darin, daß er niemandem böse will, treu für diejenigen sorgt, für welche er sorgen kann, kein Racheverlangen in sich trägt (ebd. 24) und beharrlich gegen Sünde und Begehrlichkeit kämpft (ebd. 27). Da es vollkommene Ge-
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rechtigkeit erst im Reich Gottes gibt (ebd. 8), wird auch die Erwartung ihrer Verwirklichung im staatlich-politischen Bereich abgelehnt (civ. Dei 19,27; 21,24). Literatur N o r b e r t B r o x , M e h r als Gerechtigkeit. Die außenseiterischen Eschatologien des Markion u. Orige5 nes: Kairos 2 4 ( 1 9 8 2 ) 1 - 1 6 . - V i n z e n z Buchheit, Die Definition der Gerechtigkeit bei Laktanzu. seinen Vorgängern: VigChr 3 3 ( 1 9 7 9 ) 3 5 6 - 3 7 4 . - J o h a n n e s Christes, Christi, u. heidnisch-röm. Gerechtigkeit in Augustins W e r k „ D e civitate d e i " : R M P 1 2 3 ( 1 9 8 0 ) 1 6 3 - 1 7 7 . - M . T . Clark, Augustineon J u stice: R E A 9 ( 1 9 6 3 ) 8 7 - 9 4 . - D e r s . , Piatonic Justice in Aristotle and Augustine: D R 82 ( 1 9 6 4 ) 2 5 - 3 5 . - A. Davids, Het begrip gerechtigheid in de oude kerk: N T T h 17 ( 1 9 7 7 ) 1 4 5 - 1 7 0 . - Albrecht Dihle, 10 Art. Gerechtigkeit: R A C 1 0 ( 1 9 7 8 ) 2 3 3 - 3 6 0 . - M e g a s Farantos, Die Gerechtigkeit bei Klemens v. Alexandrien, Diss. Phil. Bonn 1 9 7 2 . - V o l k m a r Hand, Augustin u. das klass.-röm. Selbstverständnis. Eine Unters, über die Begriffe gloria, virtus, iustitia u. res publica in De civitate Dei, 1 9 7 0 (Hamburger philol. Stud. 13). — Karl Holl, Die iustitia dei in der vorluth. Bibelauslegung des Abendlandes: ders., GAufs. zur K G , Tübingen, III 1 9 2 8 = D a r m s t a d t 1 9 6 5 , 1 7 1 - 1 8 8 . - V i n c e n z o L o i , II concetto di „iusti15 t i a " e i fattori culturali dell'etica di Lattanzio: Sal 2 8 ( 1 9 6 6 ) 5 8 3 - 6 2 4 . - Karl Hermann Schelkle, Paulus, Lehrer der Väter. Die altkirchl. Auslegung von R ö m e r 1 - 1 1 , Düsseldorf 1 9 5 6 . — Peter Steinmetz, Polykarp v. Smyrna über die Gerechtigkeit: Hermes 1 0 0 ( 1 9 7 2 ) 6 3 - 7 5 . - J o h a n n e s Stelzenberger, Die Beziehungen der frühchristl. Sittenlehre zur Ethik der Stoa, München 1 9 3 3 . - F . - J . T h o n n a r d , Justice de Dieu et justice humaine Selon Saint Augustin: Augustinus 1 2 ( 1 9 6 7 ) 3 8 7 - 4 0 2 . - Walther Völker, Das 20 Vollkommenheitsideal des Origenes, 1 9 3 1 ( B H T h 7).
Helmut Merkel V. Mittelalter
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1. Gerechtigkeit im philosophisch-theologischen K o n t e x t 1.1. Karolingerzeit 1.2. Frühscholastik 1.3. Hoch- und Spätscholastik 2 . Gerechtigkeit im bibeltheologischen Kontext 2 . 1 . Die Sentenzen des Petrus Lombardus und die K o m m e n t a r e dazu 2 . 2 . Meister Eckharts Theologie vom Gerechten 2 . 3 . Das exegetische Verständnis der „Gottesgerechtigkeit im G l a u b e n " (Quellen/Literatur S.431)
1. Gerechtigkeit
im philosophisch-theologischen
Kontext
In einem breiten Strom der philosophisch-theologischen Bezeugung, der im Laufe der 30 Geschichte immer wieder gespeist wurde durch die neue Aufnahme antiker, philosophischer und patristisch-theologischer Quellen, wurde Gerechtigkeit im philosophisch-theologischen Verständnis zusammen mit den übrigen Kardinaltugenden der Klugheit, Tapferkeit und Maßhaltung behandelt (-»Ethik). In der wechselseitigen Verknüpfung der vier - > T u genden mit den drei Seelenkräften/-teilen ist die Gerechtigkeit Maß und Mitte, Entspre35 chung und Ausgleich (Harmonie) der Kräfte und Tugenden der —»Seele. Ohne Klugheit, Tapferkeit und Maßhaltung kann niemand gerecht sein; Gerechtigkeit ist das Ganze der Tugenden (Beda, De tabernaculo 111,14 [PL 91,772]). Von der Idee des Ganzen her gehören sie zur Heilsoffenbarung (vgl. Weish 8,7), zur Gottesweisheit mehr als zur Weltweisheit. Im Gleichnislicht der vier Paradiesesströme, die schon in der Vätertheologie häufig auf das Tu40 gendviergespann bezogen wurden, ist für den Exegeten Angelomus v. Luxeuil O. S. B. (gest. 895) der Euphrat (Gen 2 , 1 4 b) im Vierstromland der Tugenden die Gerechtigkeit. Für den letztgenannten Strom gibt die Schrift keinen näheren Bestimmungsort an (anders als bei den drei übrigen); er bezeichnet die Gerechtigkeit, Ebenmaß und Fülle der Kräfte der Seele. In diesem umgreifenden Sinn konnten Väter und Theologen den sittlichen Begriff der Gerech45 tigkeit völlig entgrenzen, von der alttestamentlichen Gesetzesgerechtigkeit abheben und auf die Christusgerechtigkeit im Glauben beziehen, Gottes- und Nächstenliebe als deren Erfüllung betrachten (vgl. Paschasius, Expositio in Matthaeum IV, 6 [PL 120,269]). Mit Vorliebe werden seit —»Augustin die Kardinaltugenden mit den göttlichen Tugenden des Glaubens, Hoffens und Liebens kombiniert und in dieser Synopse Gerechtigkeit und Glaube zusam50 mengesehen. W i e die lateinischen V ä t e r entdeckten auch die mittelalterlichen Theologen biblische Vierergruppen, um die Einheit und (heilszeitliche) G r ö ß e der Kardinaltugenden aufzuzeigen. - » H r a b a n u s Maurus, (De laudibus crucis II, 6 [PL 1 0 7 , 2 7 1 ] ) ordnete sie den vier Enden der Kreuzesbalken zu und machte so
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deutlich, daß die Kraft des Kreuzes in den Tugenden (virtutes) wirksam sei. Die sieghafte Gerechtigkeit des Königs am Kreuz ertüchtigt uns, dem Bösen zu widerstehen und Christum nachzufolgen. - Das Gottesgefährt des Propheten Ezechiel ( 1 , 4 - 1 4 ) ist in der Symboltheologie Hrabans (De institutione clericorum III, 27 [PL 107,408]) die Seele samt ihren Kräften und vier Kardinaltugenden, „außen und innen geschmückt, würdig der Gemeinschaft des ewigen Königs und als geistliches Viergespann unterwegs zum ewigen Heil." Z u r heilshaften Sicht der Tugenden tritt die heilspädagogische A c h t in der Theologie der Väter. Z u s a m m e n mit den Tugenden, die ihren Bestimmungsort in den Affekten der Seele h a b e n , werden die ihnen entgegenstehenden Laster (vitia) behandelt. M i t den vielschichtigen Tugenden behandelte —> G r e g o r d. G r . in seinen moraltheologischen Betrachtungen zum Buche H i o b (Moralia in Job) die den Tugenden entgegenstehenden Laster. De virtutibus et vitiis lautet die durchgehende T h e m a t i k der scholastischen Moraltheologie. 1.1. Die Theologen der Karolingerzeit rezipierten aus Ciceros Rhetorik (inv. 11,53,160), aus D e legibus bzw. De officiis direkt oder vermittelt durch des —»Macrobius Commentarius in somnium Scipionis bzw. durch Hieronymus, Augustinus, Prudentius, Isidor v. Sevilla und die anderen Traditionsträger neuplatonischer, stoischer Ethik, Begriff und Unterscheidungslehre über die T u g e n d und die Gerechtigkeit. „ D e r Gerechtigkeit ist der höchste Glanz der T u g e n d eingesenkt, nach ihr werden die Gerechten b e n a n n t " (iustitia in qua virtutis splendor est maximus, ex qua boni viri nominantur, off. I, 7 , 2 0 ) . „Gerechtigkeit ist der seelische H a b i t u s , unter W a h r u n g des Gemeinwohls jedem einzelnen seine W ü r d e zuzuerkenn e n " (inv. II, 5 3 , 1 6 0 ) ; das will heißen: gern und gut jedem anderen sein R e c h t zuerkennen und dabei das G e m e i n w o h l achten, das ist w a h r e Gerechtigkeit. Cicero unterteilte die Gerechtigkeit in eine solche von Natur, vom Gewohnheitsrecht und vom geschriebenen Gesetz her begründete; zur ersteren rechnete er Religion, Frömmigkeit, Dankbarkeit, Vergeltung, Ehrfurcht und Wahrhaftigkeit. Macrobius sah die Aufgabe der Gerechtigkeit darin, jedem das Seine zu wahren (lustitiae est servare unicuique suum, somn. Scip. 1,8). Er gliederte die Gerechtigkeit in Schuldlosigkeit (innocentia), —»Freundschaft, Eintracht, Frömmigkeit, Religion, Zuneigung und Menschlichkeit. Neben diesen Bestimmungen der Gerechtigkeit gewann jene aus den Institutionen und Digesten des Codex Justinianus an Bedeutung: Gerechtigkeit ist der beständige und bleibende Wille, jedem sein Recht zu geben. —»Alkuin übersetzte Ciceros Definition der Gerechtigkeit ins Sachlich-Grundsätzliche und bestimmte Gerechtigkeit als jene Haltung, die jeder Sache ihren W e r t beimißt (rhet. et virt., PL 1 0 1 , 9 4 4 ) . Gerechtigkeit wird so (für Ps. Alkuin, virt. et vit. 3 5 [ebd. 6 3 7 ] ) zur noblen Gesinnung ( a n i m i nobilitas) einer zivilisierten Welt. Solche, Gottesverehrung, M e n schenwürde und Gemeinschaftsordnung bewahrende und in ihr sich bewährende Gerechtigkeit u m f a ß t im einzelnen nach Alkuin (als Arten und Teile der Gerechtigkeit) „ex naturae iure": religio: Gottesverehrung, pietas: Ehrerbietung gegenüber Verwandten und Trägern eines öffentlichen Amtes, gratia: D a n k b a r k e i t gegenüber freundschaftlichem und amtlichem Dienst, vindicatio: Pflicht, das R e c h t zu wahren und das Unrecht zu ahnden, observantia: Achtung vor den Höhergestellten, veritas: Wahrhaftigkeit in der Aussage; „ex consuetudine" u m f a ß t die Gerechtigkeit: pactum: Vertragstreue, iudicatum: Rechtsentscheid und lex: Gesetz. Fraglos fugt Alkuin d&shonestum und utile, das Nützlich-Noble, in das G a n z e des christlichen Glaubens, der allein um das meritum aeternae beatitudinis weiß (Ps.-Alkuin, virt. et vit. 3 5 [ P L 1 0 1 , 6 3 7 B ] ) . In diesem Verständnis des Verdienstes wird n o c h einmal die enge Berührung von R h e t o r i k und Ethik sichtbar, die von Anfang an die abendländische Tradition bestimmte. D a s G u t e und Rechte findet seine Anerkennung und Würdigung. 1.2. Frühscholastik. Im 1 2 . J h . wurden die Schriften der klassischen Moralphilosophen Cicero, Seneca, M a c r o b i u s neu gelesen, in Florilegien und Sentenzensammlungen exzerpiert, in die auch die Sentenzen der lateinischen Kirchenväter und Theologen (des —»Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, —»Cassiodors, G r e g o r d . G r . , Isidors v. Sevilla) Eingang fanden. Das Florilegium Oxoniense schrieb über die Kardinaltugenden die Werke Ciceros, des Apuleius (eines Vertreters des mittleren Piatonismus im 2. Jh. n.Chr.) und des Macrobius aus. In dem um 1141 geschriebenen Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum erklärte Petrus —>Abaelard mit
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Cicero die Gerechtigkeit als Tugend, für jeden das zu wollen, dessen er würdig ist, sofern dies keinen allgemeinen Schaden bringt (ebd. 118). Erscheinungsweisen der Gerechtigkeit sind: Ehrfurcht (einschließlich von Religion und Hochachtung), Wohltätigkeit (Barmherzigkeit), Wahrhaftigkeit und Vergeltung. Abaelard schränkt die richterliche Gerechtigkeit keineswegs ein, wenn er gleichzeitig die Hochachtung vor und für den anderen betont. Das kurz vor 1150 verfaßte Moralium dogma philosophorum, dessen mutmaßlicher Verfasser Wilhelm von Conches (gest. um 1154) ist und das vielfach übersetzt und weit verbreitet wurde, bestimmte Gerechtigkeit als „Hüterin der menschlichen Gesellschaft und des gemeinschaftlichen Lebens" (Iustitita est virtus conservatrix humanae societatis et vitae communitatis, ebd. 12). Sehr eigenständig gliedert dieses Werk die Gerechtigkeit auf in Strenge und Freigebigkeit und unterteilt die austeilende und erwidernde Gütigkeit in: Religion, Frömmigkeit, Schuldlosigkeit, Freundschaft, Ehrfurcht, Eintracht und Barmherzigkeit. Die Tugend- und Gerechtigkeitslehre des Moralium dogma philosophorum hat auch nachhaltig die mittelhochdeutsche Literatur beeinflußt. Im Spiegel des „höfischen Tugendideals" (des sog. „ritterlichen Tugendideals") firmiert Gerechtigkeit in den Tugenden der „triuwe", „milte", „helfe", „güete", „erberme". „Zur iustitia gehören die Herrentugenden milte, Barmherzigkeit, und mit dieser verbunden die erbärmde, wie sie Gurnemanz (im Parzival) lehrt, die Hochherzigkeit gegenüber dem besiegten Feind. Ja, es fällt über die rein kriegerische erbärmde hinaus . . . ein so ungeheuerer Wert durch das Christentum auf die misericordia, die dementia, das Mitleid, daß diese ganz spezifisch christliche Tugend von Wolfram zum Inhalt der Gralsfrage gemacht werden kann" (H. Naumann, Das Tugendsystem: Eifler 95 f). Die frühscholastischen Gelehrten folgten bald dieser, bald jener Bestimmung und Aufgliederung der Gerechtigkeit. Sie stellten immer neue Überlegungen an, Ast und Verästelung der Gerechtigkeit a m B a u m der T u g e n d durchzudifferenzieren. —»Alanus a b Insulis ordnete in seinem um 1 1 6 0 geschriebenem T u g e n d t r a k t a t der Religion als Glied der Gerechtigkeit G l a u b e n , Hoffen und Lieben zu. Umgekehrt n a h m Radulfus Ardens (gest. um 1 2 0 0 ) die Kardinaltugenden zusammen und bezog sie einzeln und insgesamt auf den Glauben. Die fraglose Einheit der sittlichen und gnadenhaften Tugenden mußte in der beginnenden Schultheologie hinterfragt werden, um das Unterscheidende von E t h o s und Gnade herauszuarbeiten. In der Zuordnung der vier Kardinaltugenden zu den von den frühscholastischen T h e o l o gen (Magister M a r t i n u s , —»Stephan L a n g t o n u . a . ) sogenannten „theologischen T u g e n d e n " des Glaubens, H o f f e n s und Liebens und in deren teleologischer Ausrichtung auf das sutnmum bonum, welche bereits von Cicero ins Auge gefaßt, aber nicht weiter ausgeführt wurde, stellte sich der Schule das Problem der gnadenhaften, im Unterschied zur virtus politica (Cicero) von den T h e o l o g e n als virtus catholica bezeichneten T u g e n d , die im Glauben u n d Hoffen gründet, von der Liebe ü b e r f o r m t (oder wie die mittelhochdeutschen Autoren sagen: „ ü b e r g o l d e t " ) wird. In i m m e r wiederkehrenden Quästionen wurde dieses Problem diskutiert (vgl. Lottin 1 1 1 , 1 1 7 - 1 2 5 ) . Im doxographischen Bild der vielfältigen Schulmeinungen standen sich Positionen gegenüber, welche einerseits die (natürlichen) sittlichen Tugenden als W e g zum —»Höchsten G u t anerkannten (z. B. Abaelard, Dialogus, ed. T h o m a s 1 1 5 ) , andererseits aber nur die aufgrund des Glaubens geübte T u g e n d als wahre und wirkliche gelten ließen (so Radulfus Ardens). Allemal waren sich aber die Autoren im 1 2 . J h . einig, daß die T u g e n d der Gerechtigkeit vollendungsfähig und -würdig ist und in der T a t im Glauben und in der Liebe zur Vollendung k o m m t . Die Kardinaltugenden ordnen aus dem Grund des freien Willens die Kräfte der Seele, sie moderieren die Affekte und bestimmen so das Handeln. Die Gerechtigkeit wägt ab im Geben und N e h m e n , hält schuldhaft Böses fern und ist dienstbereit im Guten. Sie ist die M u t t e r aller Tugenden. O h n e sie w ä r e der G l a u b e untätig und müßig, die Klugheit listig, die Tapferkeit gewalttätig, die M a ß h a l t u n g eitel, die Liebe ungeordnet, die Hoffnung leer, die Barmherzigkeit gottlos, die Keuschheit fruchtlos und die D e m u t o h n e Nutzen (Radulfus Ardens). D i e Gerechtigkeit ordnet gleichermaßen das Kräftespiel in der Seele, in der anima hierarchizata, wie auch als virtus politica das gesellschaftliche Leben der Gemeinschaft. Die Gemeinschaftsordnung der Gerechtigkeit spiegelt die sittliche Ordnung der Seele. Es ist ein und dieselbe Tugend, die das Z u s a m m e n l e b e n und das Einzelleben ordnet. Psychologie und Ethik, M o r a l t h e o l o g i e und Sozialordnung gehören zusammen, und zwar im Ganzen einer metaphysisch begründeten Weltanschauung.
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1.3. Durch die lateinischen Ubersetzungen derNikomacbischen Ethik des —»Aristoteles (durch Michael Scotus um 1220 und R. Grosseteste um 1246/47), vor allem des 5. Buches über die Gerechtigkeit, und durch die Ubersetzung der Kommentare des —»Eustratios und des -»Averroes wurden Begriff und Unterscheidungen von Gerechtigkeit als virtus politica herausgenommen aus dem Verbund der Kardinaltugenden und ebenso aus einem moraltheologischen Unterricht, der eng mit Rhetorik und Grammatik verbunden war. Die herkömmliche Tugendlehre wurde zwar das ganze 13. Jh. in Paris fortgeführt, in den Kommentaren und Quästionen zum 5. Buch der Nikomacbischen Ethik wurde der Begriff der,justitia legalis" und damit auch der der Gemeinwohlgerechtigkeit spruchreif. Diese Entwicklung ist für den weiterführenden Gang der Begriffsgeschichte von Gerechtigkeit außerordentlich bedeutsam geworden. -»Albert d.Gr., der als einer der ersten Gelehrten des 13. Jh. um 1250/52 die gesamte Nikomachische Ethik erklärte, hob (Super Eth. V, 3,376 [ed. Colon. XIV/1,320]) mit den moderni gegen die antiqui das Unterscheidende der Gesetzesgerechtigkeit im Vergleich zur Gnadengerechtigkeit hervor. Jene ist eher habitudo als habitus, eher Verhalten zum anderen als Haltung und Gesinnung. Maßstab der legalen Gerechtigkeit ist nicht die Exemplarität in der vertikalen Sicht zu Gott, sondern der Ausgleich im Verhalten zueinander. Albert unterscheidet darum auch zwischen dem Bürger und dem Gerechten. Bürgerliche und sittlich-tugendhafte Gerechtigkeit sind nicht einfach identisch. Sofern allerdings der Gesetzgeber durch die Gesetzgebung den ethisch guten Bürger will, kommen Gesetzesgerechtigkeit und Tugend zusammen. Die iustitia legalis ist Bedingung des Gemeinwohls; sie macht den cives civilis, politisch, gemeinschaftsfähig und gemeinschaftswürdig (vgl. Albert, a . a . O . 4,387 [S. 326 f]; 9,413 [S. 351f]). —»Dante Alighieri, Mon. 1,3,8—11.45—49 hat den Begriff der humana civilitas auf der Grundlage der Gesetzes- und Gemeinwohlgerechtigkeit weiter entfaltet und so der Staatsphilosophie bleibende Impulse vermittelt. Die legale Gerechtigkeit differenzierte Albert in die distributive, zuteilende und in die direktive, ordnende (ausgleichende) Gerechtigkeit (Super Eth. V, 6,398 [S. 337]; 9,413 [S. 351]). Die legale Gerechtigkeit fordert den Ausgleich; das Gleiche ist aber nicht für jeden von gleichem Wert und Nutzen. Die ausgleichende Gerechtigkeit richtet sich darum nach der Verhältnisgleichheit (a.a.O. 7,402 [S. 341Q). —»Thomas v. Aquin, der bereits als Student den Quästionenkommentar Alberts zur Nikomacbischen Ethik mitgeschrieben hatte und seinerseits (wohl noch vor 1270) das aristotelische Werk in einer Textauslegung erklärte, behandelt in S.th. II-II, q q . 5 7 - 7 9 Recht und Gerechtigkeit im überkommenen Zusammenhang der Kardinaltugenden und erörterte (ebenfalls im Sinne der Tradition) vor diesen (qq.l—44) die theologischen Tugenden. In seinen Darlegungen über die Gerechtigkeit rezipierte Thomas den Problem- und Wissensstand des 5. Buches der Nikomacbischen Ethik. Der Gerechtigkeitsbegriff steht darum in S.th. II—II, q.58 im doppelten Kontext der neuplatonischen, stoischen und der aristotelischen Ethik. Ihrem Wesen nach ist die iustitia legalis Gesetzesgerechtigkeit, auf das göttliche und menschliche Recht und Gesetz gegründet. Sie ist der Reflex, der Widerschein der Gerechtigkeit Gottes, die in das ewige Gesetz und in das Naturrecht hinein strahlt. Der Frage über die Gerechtigkeit setzte er jene über das Recht, das —»Naturrecht und das positive Recht voran, denn Thomas konnte sich „das Recht ohne Gesetz und so auch ohne Gesetzgeber nicht vorstellen" (A.F. Utz: Dt. Thomas-Ausg. XVIII, 1953, 455). Die Gesetzesgerechtigkeit ist eine selbständige Tugend, deren Formalobjekt das Gemeinwohl (—»Gemeinnutz/Gemeinwohl) ist, das bonum commune in seiner diesseitigen Ordnung und jenseitigen Ausrichtung (auf das bonum divinum). Die Gemeinwohlgerechtigkeit ist nicht einfach eine besondere Art der sittlichen (Kardinal-)Tugend der Gerechtigkeit, sie verleiht dem sittlichen Leben insgesamt eine neue Zielrichtung hin auf das Gemeinwohl. Sie heißt darum S.th. II—II, q.58 a.5—6 iustitia generalis [Gemeingerechtigkeit]. Als solche ist sie nicht nur eine begrifflich-zusammenfassende Klassifizierung verschiedener Arten von Gerechtigkeit, sondern ethische Bedingung der Möglichkeit gemeinschaftsfähigen und gemeinschaftswürdigen Handelns. Was die
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Liebe hinsichtlich des bonum divinum für die Tugenden ist, das ist die Gemeingerechtigkeit hinsichtlich des bonum commune. Die Tugend der (partikulären) Gerechtigkeit unterschied Thomas (a.a.O. q.61) in die iustitia commutativa und iustitia distributiva, in ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit. Diese ordnet das Verhältnis der Gemeinschaft zum einzelnen Bürger, jene ordnet das Zusammenleben der Bürger unter- und miteinander. Das soziale Leben regelt sich nicht nach einem System von Rechtssätzen, auch nicht im Getriebe der psychologischen und soziologischen Kräfte, vielmehr schafft die Gemeinwohlgerechtigkeit in der doppelten Kraft der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit Ordnung. Die Tugend der Gerechtigkeit hat ihren Sitz im freien -»Willen; sie steuert die konkupiszenten Kräfte der Seele und bestimmt so aus der Tiefe des —»Gewissens das rechte Handeln. Wissen und Gewissen sind die Breitenund Tiefendimension des rechten Handelns. Diese doppelte Unterscheidungslehre des Thomas v. Aquin von der Gesetzes- und Gemeinwohlgerechtigkeit auf der einen Seite und der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit auf der anderen Seite wurde im 13. und 14. Jh. bis zu den großen Thomas-Kommentatoren des 16. Jh., —»Cajetan, Franz v. -»Vitoria, Domingo de-»Soto, immer wieder diskutiert und interpretiert. Die Lehre blieb nicht immer dieselbe. In der Neuzeit wurde aus der zweifach-doppelten Unterscheidung eine dreigliedrige gemacht. Durch die ständige Überlappung der Unterscheidungen wurde die Gesetzes- und Gemeinwohlgerechtigkeit vielfach zu sehr der je gegebenen politischen und ständischen Ordnung angepaßt (vgl. die Stellung der mittelalterlichen Gesellschaftslehre zur Sklaverei und Knechtschaft). Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz wurde so unterlaufen und mußte in revolutionären Bewegungen zur Geltung gebracht werden. In diesen angestrengten Disputationen wurden aber auch die anstehenden wirtschaftlichen und politischen Fragen geklärt: Gerechtigkeit in Geschäften und Verträgen, Gerechtigkeit im Preis und —»Zins, in der Geldwirtschaft (-»Geld), Gerechtigkeit und —»Krieg, Gerechtigkeit und Tyrannenmord. Die kritische Klärung der rechtsphilosophischen Begriffe: debitum: was einer dem anderen als Schuld zu zahlen hat, aequum: was in Forderung und Leistung recht und billig, angemessen ist, mutuum: was als das Meine zu Deinem wird, war unerläßliche Voraussetzung des Erkenntnisfortschrittes. Die verschiedenen Teiltugenden der Gerechtigkeit, wie sie Cicero und Macrobius (und deren Interpreten) lehrten, wurden samt den ihnen entgegenstehenden Lastern von Thomas v. Aquin (S.th. II-II, qq.80-120) sehr ausführlich behandelt. Einzeln und insgesamt sind diese Tugenden partes potentiales der Gerechtigkeit; sie gehören zum Erscheinungsbild der Gerechtigkeit im Gerechten, denn die Tugend kann nicht halbiert werden. Im Unterschied zu den partes subjectivae, der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit treten departes potentiales der Gliedtugenden deutlicher als eigenständige Tugenden hervor. Sie verbleiben aber weiterhin im Kontext von Gerechtigkeit. Die Tugend der Gottesverehrung fächerte Thomas in einem umfänglichen Traktat auf (a.a.O. qq.80—100). — Dem bonum commune ordnete Thomas v. Aquin das bonum divinum zu (a.a.O. q.58 a.6). Weil alle Menschen Teilhaber und Genossen dieses gottgeschenkten, bleibenden Gutes und Heiles sind, schafft das bonum divinum eine consociatio, die in der Nächstenliebe wirklich und offenbar wird (a.a. O. q.26 a.4-5). Sie überhöht und vollendet die virtus política der Gerechtigkeit, läßt sich auf sie ein, nimmt sie auf und bringt sie ins Ziel. In der Teilhabe am —»Höchsten Gut ist jeder Nächste liebenswert und liebenswürdig (a.a.O. a.3). 2. Gerechtigkeit im bibeltheologischen
Kontext
2.1. Die Sentenzen des Petrus Lombardus und die Kommentare dazu. In der Tradition der frühscholastischen Theologie behandelte auch —»Petrus Lombardus in seinem (zwischen 1155 und 1158 verfaßten) Sentenzenbuch, das zum theologischen Lehrbuch des Mittelalters (bis in die Zeit der Reformation) wurde, die Kardinaltugenden nach den gnadenhaften Tugenden des Glaubens, Hoffens und Liebens. Er handelt sie in wenigen Kapiteln der 33. Distinktion des 3. Buches ab. Dabei definiert er die Gerechtigkeit nicht mit den Philosophen,
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sondern nahm aus der Schulüberlieferung eine Augustin-Sentenz (Trin. XIV, 9,12) auf, welche die Gerechtigkeit als Hilfeleistung für die Armen erklärte: Iustitia est in subvertiendo miseris. Augustin wollte damit nicht den Begriff Gerechtigkeit klären, sondern in Beantwortung der Frage, in welchem Sinne die Gerechtigkeit nach Weish 1,15 unsterblich sei, den unterschiedlichen, diesseitigen Charakter der helfenden Gerechtigkeit betonen. Bereits Beda (tabern. II, 8 [PL 91,446]) kannte Augustins Fragestellung und die genannte Sentenz über die Gerechtigkeit. In der Erklärung zu Ps 112,9: „Reichlich teilt er aus und spendet den Armen, seine Gerechtigkeit besteht fest für immer", wiederholt der Magister sein biblisches Verständnis von Gerechtigkeit: „Wer das Seine gibt, wirkt Gerechtigkeit" (Comm. in Ps. 111,8 [PL 191,1014]). Petrus Lombardus stellte die philosophische Definition des suum cuique auf den Kopf und vertritt so eine prosoziale Gerechtigkeit der biblischen Botschaft. Wie P. E. Lio mit vielen Zeugnissen des 12. und 13. Jh. belegt hat, haben die scholastischen Erklärer des Sentenzenbuches diese Bestimmung der Gerechtigkeit nicht abgeschwächt, sondern immer voll zur Geltung gebracht. Richard Fishacre O.P., der vor 1245 in Oxford die Sentenzen erklärte, hat den sozialtheologischen Charakter der Gerechtigkeit außerordentlich scharf betont: „Den Armen hat Gott ebenso wie dir das Lebensnotwendige bereitet. Der Arme hat aber das Ausreichende nicht bei sich. Das Seine, dessen er bedarf, ist also bei dir und den anderen Wohlhabenden". „Was du im Uberfluß hast, ist nicht das Deine, es gehört dem, der nicht das Notwendige hat. Dieses ist dir von Gott nicht (zueigen) gegeben, sondern nur als Verwalter anvertraut." „Alles Gute will sich mitteilen . . . wenn du dieses, wie du sagst, als das Deine zurückbehältst, raubst du dem zurückgehaltenen Gut das Beste. Nicht nur den Armen fügst du Unrecht zu, sondern auch dem Geschöpflichen, weil du zurückhältst bzw. raubst, was sein ist." Von der Mitte des 13. Jh. an konzentrierten sich die Sentenzenerklärungen bei der Auslegung der Textstelle Lib. III, dist. 33 mehr und mehr auf den philosophischen Begriff von Gerechtigkeit und dessen Unterscheidungen. Die -»Barmherzigkeit ist potentiale Gerechtigkeit; die Pflicht des Almosens ist eine Forderung der Gerechtigkeit und des Rechtes. Viele Theologen rechneten die Barmherzigkeit zur Nächstenliebe (vgl. Thomas v. Aquin, S.th. II-II qq.30.32). Der höfische Tugendspiegel hielt an der Gerechtigkeit der Barmherzigkeit fest (vgl. Abschn. 1.2). —»Elisabeth v. Thüringen verkörpert das christliche Ideal dieser Tugend im 13. Jh. 2.2. Meister Eckharts Theologie vom Gerechten. Die theologische Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach nicht eine solche des mathematisch-meßbaren oder geometrisch-wägbaren Ausgleichs; sie hat ihren Maßstab ausschließlich in Gott (vgl. Mt 5,44-48). Er ist Exemplarursache, die „Sonne der Gerechtigkeit" (Mal 4,2). Die Entsprechung (im je noch größeren Abstand) zur Gerechtigkeit Gottes ist das Maß des Gerechten. Albert d. Gr., (Sup.Eth. V, 3,376 [S. 320]) hat den Unterschied zur virtus politica begrifflich scharf herausgestellt; Meister —>Eckhart hat in seiner Theologie vom Gerechten dieses Thema gültig dargestellt. Der Gerechte ist, was er ist, geworden, und zwar auf dem Wege der Tugend der Gerechtigkeit; was er so geworden ist, ist nicht seine Gerechtigkeit. Er wäre aber nicht gerecht, bliebe die Gerechtigkeit außen. Der Gerechte ist vielmehr in der Gerechtigkeit. Sie kommt nicht von außen gebieterisch, gesetzgeberisch oder versprecherisch zu ihm. Sie ist in ihm, im Grunde der Seele und darum mit ihm eins. - Der Gerechte und die Gerechtigkeit sind eins, eins in der Dynamik und Differenz von Zeugen und Gezeugtwerden. In der ihn gebärenden, zeugenden, ausformenden Gerechtigkeit, die der ursprungslose Ursprung seines rechten Seins ist, kann der Gerechte der Gerechtigkeit Gottes nicht einen Augenblick entraten. Er muß sich je und je von ihr zeugen lassen als Sohn der Gerechtigkeit. - Der Gerechte wird nicht die Gerechtigkeit, die sich ihm in der Mächtigkeit, Freiheit und Herrlichkeit der ungeschaffenen Gerechtigkeit mitteilt. Diese leuchtet auf in der Finsternis, in der Andersheit der menschlichen Vorstellung, Sinnenhaftigkeit und Weltlichkeit. Sie erstrahlt aus dem verborgenen Grund der Seele und widerstrahlt im Bewußtsein des Gerechten, der sich von sich selbst, seinen ichbezogenen Vorstellungen, eigenmächtigen Entscheidungen und trügerischen Hoffnungen lossagen muß, um den Glanz der wahren Gerechtigkeit zu finden. - In der Tiefe def Herzens und des Gewissens ist der Gerechte eins mit der Gerechtigkeit. Dort kann ihm kein Leid widerfahren, keine Überraschung zustoßen, nichts Widerwärtiges begegnen. „Schüfe die Gerechtigkeit dem Gerechten Leid, so schüfe sie sich selbst solches Leid. Nichts Unglei-
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ches und Ungerechtes, noch irgendwelches Gemachtes oder Geschaffenes vermöchte den Gerechten in Leid versetzen . . . " (Buch der göttl. Trost. I, Handausg. 104).
Die Gerechtigkeit ist ganz in uns, ganz außer uns, vor und über uns. In der neuplatonischen Spiritualität ist diese Idee vor und nach Eckhart wohl bekannt. 2.3. Das exegetische Verständnis der „Gottesgerechtigkeit im Glauben". Eine überaus lange, wechselnde und folgenschwere Geschichte hatte in der mittelalterlichen Exegese der paulinische Begriff der „Gottesgerechtigkeit aus dem Glauben" (Rom 1,17; 3,21; 10,3 f), der in der reformatorischen Rechtfertigungslehre zum Glaubensartikel wurde, mit dem die Kirche steht und fällt. Soweit dieser Begriff das mittelalterliche Verständnis von Gerechtigkeit betrifft, muß der Gang der Begriffsgeschichte aufgedeckt werden. Die Quellentexte dieser Geschichte stellte H. —»Denifle in seiner Untersuchung zur Verfügung. 2.3.1. Die Exegeten der Karolingerzeit, —»Hrabanus Maurus, Walafrid Strabo (gest. 849), Haimo v. Halberstadt (gest. 908) und auch die frühscholastischen Theologen wie -•Gilbert Porreta erklärten die Gottesgerechtigkeit aus dem Glauben als Gerechtigkeit, die von Gott her in der Bundesgeschichte offenbar geworden ist. Sie ist formal und wesentlich Gerechtigkeit aufgrund der Verheißung, des Evangeliums und darum Gerechtigkeit des Glaubens. Sie ist nicht die Gerechtigkeit, die Gott an und für sich zukommt, sondern jene, die er uns in Jesus Christus zukommen läßt. Sie hat ihren Bestimmungsort in der Verheißung und deren Erfüllung (durch Christus); darum sprechen wir nach Gilbert v. Poitiers von Gottes Gerechtigkeit, die im Kern und Grund der Geschichte Gottes Barmherzigkeit und Liebe für uns ist. Petrus Abaelard begründete in seiner Römerbriefauslegung die Synthese: Gottes Gerechtigkeit ist die —»Liebe. Diese Identität darf nicht im Sinne eines monotonen Einerlei verstanden werden, vielmehr muß sie als dynamische Entäußerungsbewegung der Liebe Gottes, die sich in die Herzen der Glaubenden hinein verströmt, begriffen werden. Solches in und aus Gottes Liebe Gesinntsein und -werden, ertüchtigt den Glaubenden zum guten —»Werk. —»Gnade stammt nicht von den Werken, sie ist in ihnen wirksam. Das gute Werk empfängt seine ganze Güte aus dem Glauben und der Liebe. Vor Gottes Gerechtigkeit darf und muß der Mensch bestehen, denn sie ist und bleibt auch richtende und strafende Gerechtigkeit. Petrus Lombardus nahm in seiner Auslegung des Römerbriefes, die fortan vielfach als glossa zitiert wurde, die verschiedenen Uberlieferungsstränge auf: Gottes Gerechtigkeit zum Glauben ist die Gerechtigkeit der erfüllten Verheißung und des Evangeliums. Die Gnadenkraft des Glaubens in der Tiefe des Herzens, d. h. in der wahren und wirklichen Gottes- und Nächstenliebe, ist der Heilige Geist, der uns durch den Glauben geschenkt ist (Rom 5,5). 2.3.2. Diese doppelte Identitätsthese: „Gerechtigkeit ist Liebe" und: „die Gottes- und Nächstenliebe ist die Offenbarungsbewegung des Heiligen Geistes" wurde in der Folgezeit kritisch differenziert. Die Schrifttheologen des 13. Jh.: Guerricus de S. Quintino (gest. um 1245), Johannes v. Rupella (gest. 1245), Petrus v. Tarantasia (gest. 1276) wandten auch auf den Rechtfertigungsakt den aristotelischen Wissensbegriff an und unterschieden die Gottesgerechtigkeit des Evangeliums von der Gnadengerechtigkeit des Gerechtfertigten. Die Vier-Ursachen-Lehre des Philosophen lenkte die Aufmerksamkeit der Theologen auf Gottesgerechtigkeit im Werden und Entstehen der —» Rechtfertigung. Die Blickwendung von der Gottesgerechtigkeit,,«« esse" zu der,,»« fieri" der Rechtfertigung bestimmt die hochscholastische Theologie. In dieser Sicht gewann für das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes das scholastische Axiom seine große und gültige Bedeutung: „Gott versagt dem seine Gnade nicht, der tut, was an ihm liegt!" (vgl. Artur M. Landgraf, Dogmengesch. der Frühscholastik, Regensburg, 1/1 1952, 2 4 9 - 2 6 4 ) . 2.3.3. Gegen eine Aufteilung und Aufspaltung von Gottesgerechtigkeit und unserer Gnadengerechtigkeit - nicht gegen deren Unterscheidung — setzte sich im 14. Jh. die Augustinerschule, allen voran —»Augustinus Triumphus und —»Aegidius von Rom, entschieden zur Wehr. Sie hielten sich nicht an die Vier-Ursachen-Lehre der Philosophie und nahmen die ursprüngliche Tradition wieder auf: Gottes Gerechtigkeit zur Rechtfertigung des Sünders ist
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die Gerechtigkeit der erfüllten Verheißung. Weil uns Gottes Liebe und Barmherzigkeit im Modus der Verheißung und Erfüllung, des Evangeliums und der Gnade zukommt, darum heißt sie Gerechtigkeit. Dies ist Gottes ewigkeitliche Freiheit und Herrlichkeit, seine Liebe und sein Erbarmen auf dem W e g der Verheißung und der Erfüllung und also im Modus sei5 ner uns geschenkten Gerechtigkeit offenbar zu machen. Quellen Zu 1.1-2: Petrus Abaelard, Dialogus inter Philosophum, Judaeumet Christianum, ed. R. Thomas, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970. - Alanus ab Insulis, Tractatus „De virtutibus et de vitiis et de donis Spiritus Sancti",ed. O. Lottin (s.u.), VI 1 9 6 0 , 4 5 - 9 2 . - D e r s . , Anticlaudianus,ed. R. Bossuat, 1955 (TPMA 10 1). - Alkuin, Disputano de rhetorica et virtutibus sapientissimi régis Karli et Albini magistri, ed. W. S. Howell, The Rhetoric of Alcuin and Charlemagne, Princeton 1941; PL 1 0 1 , 9 1 9 - 9 5 0 . - Ps.-Alkuin, De virtutibus et vitiis: PL 1 0 1 , 6 1 3 - 6 3 8 . - F l o r i l e g i u m Oxoniense Morale, ed. Ph. Delhaye, 1955 (AMNa 5). - Hinkmar v. Reims, De cavendis vitiis et virtutibus exercendis: PL 1 2 5 , 8 5 7 - 930. — Hugo v. St. Victor, Didascalicon. De studio legendi, ed. Ch.H. Buttimer, Washington, D.C. 1939; PL 176f. - Ps.15 Hugo (Konrad v. Hirsau), De fructibus carnis et spiritus: PL 1 7 6 , 9 9 7 - 1 0 0 6 . - M o r a l i u m dogma philosophorum, ed. J. Holmberg, Paris 1929. - Radulfus Ardens, Spéculum Universale (ungedr.) Cod. Vat. lat. 1175. Zu 1.3: Albert d.Gr., Super Ethica commentum et quaestiones Hb. V, ed. Coloniensis, Münster, XIV/1 1972, 306—389. - Zu den scholastischen Kommentaren zur Nikomachischen Ethik vgl. Ch. 20 Lohr, Repertorium Aristotelicum: Trad. 2 3 - 2 9 ( 1 9 6 7 - 7 3 ) partim. 2.1 : Im Aufsatz v. P. E. Lio (s. u.) finden sich großteils bisher ungedruckte Texte von Magister Bandinus, Petrus v. Poitiers, Praepositinus, Stephan Langton, Wilhelm v. Auxerre, Alexander Halesius, Hugo a S. Charo, Roland v. Cremona, Herbert v. Auxerre, Johannes v. Treviso, Richard Fishacre, Ps.Guerricus, Odo Rigaldi, Albert d.Gr., Simon Hinton, Bonaventura und Richardus Rufus. 25 Zu 2.2: Meister Eckhart, Buch der göttlichen Tröstung, hg. v. J. Quint; Dt. Werke, Stuttgart, V 1954, 1 - 1 0 5 ; Handausg. v. dems., München 1 9 6 9 , 1 0 1 - 1 3 9 . - Ders., Predigt 6 u. 39, hg. v. J. Quint: Dt. Werke I, 1936, 1 0 6 - 1 1 4 ; II, 1968, 2 5 2 - 2 6 3 ; Handausg. 1 8 2 - 1 8 7 . 2 6 7 - 2 7 0 . - Expositio libri Sapientiae nn 63 u. 69, ed. J. Koch: Lat. Werke, Stuttgart, II 1954, 392.397. Zu 2.3: Bei H. Denifle (s.u.) finden sich großteils bisher ungedruckte Texte von Hrabanus Maurus, 30 Walafrid Strabo, Haimo v. Halberstadt, Gilbert v. Poitiers, Bruno v. Köln, Petrus Lombardus, Robert v. Mei un, Petrus v. Corbeil, Petrus Cantor, Hugo a S. Charo, Guerricus de S. Quintino, Johannes v. Rupella, Thomas v. Aquin, Petrus v. Tarantasia, Nicolaus v. Gorran, Petrus Johannis Olivi, Augustinus Triumphus, Aegidius Romanus, Alexander v. Alexandria, Petrus Aureoli, Nicolaus v. Lyra, Johannes de Casali, Augustinus Favaroni, Dionysius d. Karthäuser, Marsilio Ficino, Faber Stapulensis, Desi35 derius Erasmus und Martin Luther. Literatur Zu 1.1-2: Günter Eifler (Hg.), Ritterliches Tugendsystem, 1970 (WdF 56). - Johannes Griindel, Die Lehre des Radulfus Ardens v. den Verstandestugenden auf dem Hintergrund seiner Seelenlehre, 1976 (VGI 27). - Hartmut Kokott, Literatur u. Herrschaftsbewußtsein. Wertstrukturen der vor- u. 40 frühhöfischen Literatur, Frankfurt/Bern/Las Vegas 1978. - Odon Lottin, Psychologie et Morale aux XII e et XIII e s., 8 Bde., Gembloux 1 9 4 2 - 6 0 . - Sibylle Mähl, Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgesch. der Karolingerzeit, Köln/Wien 1969. - Klaus-Dieter Nothdurft, Stud. zum Einfluß Senecas auf die Phil. u.Theol. des 12. Jh., Leiden 1 9 6 3 . - J o s e f Pieper, Das Viergespann. Klugheit-Gerechtigkeit - Tapferkeit - Maß, München 1964. - Matthäus Schedler, Die Phil, des Macrobius u. ihr 45 Einfluß auf die Wiss. des MA, 1916 (BGPh 13/1). - Paul Schulze, Die Entwicklung der Hauptlaster- u. Haupttugendlehre v. Gregor d.Gr. bis Petrus Lombardus u. ihr Einfluß auf die frühdt. Literatur, Greifswald 1914. — H. Wasselynck, L'influence des „Moralia in J o b " de s. Grégoire le Grand sur la théologie morale entre le VII e et le XII e s., Lille 1956. Zu 1.3 : Th. Bésiade, La justice générale d'après St. Thomas: Mélanges Thomistes. BThom 3 ( 1934) 50 3 2 7 - 3 4 0 . - O. Capitani, L'incompiuto „Tractatus de iustitia" di fra' Remigio de' Girolami ( f 1319): Bull, istituto storico ital. per il Medio Evo e Archivio Murator. 72 (1960) 9 1 - 1 3 4 . - P . - D . 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zia secondo S. Tommaso (11-11,58), Neapel 1941. - M. Solana, La justicia según la „Somma theologica" deS. Tomás: Ciencia 5 (1940) 795 - 856. - Thomas v. Aquin, Recht u. Gerechtigkeit. II-II, 5 7 - 5 9 , komm. v. A.F. Utz: Dt. Thomas-Ausg., Heidelberg/Graz, XVIII 1953, 5 7 4 - 5 8 9 (Lit.). Zu 2.1: P.E. Lio, II testo di S. Agostino „justitia (est) in subveniendo miseris" in Pier Lombardo e nei suoi glossatori fino a S. Tommaso d'Aquino: Miscellanea Lombardiana, Novara 1956, 1 7 5 - 2 2 2 . Zu 2.2: Maria Bindschedler, Meister Eckharts Lehre v. der Gerechtigkeit: StPh 13 ( 1 9 5 3 ) 5 8 - 7 1 . Alois M. Haas, Sermo mysticus. Stud. zur Theol. u. Sprache der dt. Mystik, Freiburg 1979. - Joachim Kopper, Die Analysis der Sohnesgeburt bei Meister Eckhart: KantSt 57 (1966) 1 0 0 - 1 1 2 . - Dietmar Mieth, Die Einheit v. Vita activa u. Vita contemplativa in den dt. Predigten u. Traktaten M. Eckharts u. bei Johannes Tauler, 1969 (SGKMT 15). Zu 2.3: Heinrich Denifle, Die Abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Dei (Rom 1,17) u. Justificatio, Mainz 2 1 9 0 5 . - Theodor Hesse, Gottes Liebesoffenbarung als Begründung der menschlichen Liebesgerechtigkeit bei Abaelard, Essen 1939. - Rolf Peppermüller, Abaelards Auslegung des Römerbriefes, 1972 (BGPhMA 10).
Ludwig Hödl VI. Reformations- und Neuzeit 1. M. Luther 2. Osiandrischer Streit 3. Joh. Calvin 4. Nachreformatorische lutherische Tradition 5. Altlutherische Orthodoxie 6. Pietismus und Aufklärung 7. F. D. E. Schleiermacher und A. Ritsehl 8. K. Barth 9. Dogmatische Reflexion (Literatur S. 440)
1. M.
Luther
In der Theologie der Reformationszeit spielt der Begriff Gerechtigkeit (iustitia) eine wichtige Rolle, was mit der Konzentration auf die Lehre von der Rechtfertigung zusammenhängt. Um die tatsächliche Bedeutung der biblischen Anwendung dieses Begriffes kreist —»Luthers Reflexion beim sog. Turmerlebnis, das er selbst als für die Entwicklung seiner Theologie entscheidend angesehen hat. Seine eigene Schilderung dieser Neuentdeckung hat in der modernen Forschung eine umfangreiche Literatur mit verschiedenen Lösungsversuchen der mit dem Turmerlebnis verbundenen Datierungsfragen ins Leben gerufen. Uns interessiert in diesem Zusammenhang nur das inhaltliche Problem, wie Luther den paulinischen Begriff „Gerechtigkeit Gottes" verstanden hat. Er beschreibt seine Neuentdeckung oft fälschlich als Ausgangspunkt des reformatorischen Neuansatzes betrachtet — als ein neues Verstehen von Rom 1,17, wonach die Gerechtigkeit Gottes im Evangelium offenbart wird. Vorher hatte Luther die Gerechtigkeit Gottes nur als das aktive, gegen die Sünde gerichtete, strafende Wirken Gottes verstanden. Jetzt begann er, „die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben" (WA 5 4 , 1 8 6 , 5 f). Luther selbst datiert dieses Ereignis in die Zeit seiner Beschäftigung mit dem zweiten Psalmen-Kommentar, d. h. in die Jahre 1 5 1 8 - 1 5 1 9 , und an einer Stelle dieser Auslegung (zu Ps 5,9) hat er sich etwas ausführlicher zum Thema geäußert. Den biblischen Begriff „Gerechtigkeit Gottes" versteht er als die Gerechtigkeit, mit der der barmherzige Gott den Menschen bekleidet, durch die also der Glaubende vor Gott als gerecht gerechnet wird. Dann fügt er hinzu: „Und diese bildliche Weise von der Gerechtigkeit Gottes zu reden hat, weil es andersartig ist als die gewöhnliche menschliche Redeweise, für viele große Schwierigkeiten bereitet, obschon es nicht völlig zu verwerfen ist, daß die Gerechtigkeit Gottes auch in der eben erwähnten bildlichen Rede die Gerechtigkeit ist, durch die Gott gerecht ist, so daß Gott und wir durch dieselbe Gerechtigkeit gerecht sind" (WA 5,144,17-20). Die Definition der „Gerechtigkeit Gottes" in Luthers Selbstzeugnis (in der Vorrede zu seinen lateinischen Schriften von 1 5 4 5 ; W A 5 4 , 1 7 6 ff) begegnet in ähnlicher Form schon in seinem Römerbrief-Kommentar von 1 5 1 6 (die Gerechtigkeit, durch die wir aus ihm gerechtfertigt werden", W A 5 6 , 1 7 2 , 4 f ) wie auch in anderen frühen Texten, was viele Forscher veranlaßt hat, das Turmerlebnis früher zu datieren als Luther selbst es getan hat. Es dürfte aber kein notwendiger Widerspruch zwischen den frühen Ansätzen zum reformatorischen Verständnis von Rom 1,17 und Luthers Selbstzeugnis aus dem Jahre 1545 vorliegen. Er schreibt
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hier, daß er bei erneuter Arbeit mit den Texten ganz neue Zusammenhänge im Kontext des Pauluswortes entdeckte, so daß es ihm als ein Schlüssel zum Verständnis vieler anderer Stellen in der Bibel vorkam. Diese exegetische Entdeckung konnte er so als ein entscheidendes Erlebnis erfahren, wodurch er den Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes" in einem neuen Licht sehen lernte. „Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein" (WA 54,186,8f). Es wäre verfehlt, aus Luthers Deutung von Rom 1,17 eine generelle oder eindeutige Definition des Begriffes Gerechtigkeit herauszulesen, denn der Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes", wie er hier verwendet wird, schließt eine ganze Reihe von Konnotationen ein und wird übrigens nach Luthers eigenem Zeugnis hier in einer tropologischen (bildhaften) Weise verwendet. Das Wort „Gerechtigkeit" behält bei Luther immer die grundlegende ethische und „juridische" Bedeutung, so sehr er auch die sogenannte „christliche Gerechtigkeit" von jeder Gesetzesfrömmigkeit oder „Werkgerechtigkeit" unterscheidet und so sehr er auch die Gerechtigkeit Gottes, die im Evangelium offenbart wird, mit der göttlichen —»Gnade und —»Barmherzigkeit (misericordia) verbindet. Luthers eigene Ubersetzung von dixaioavvt] deov in Rom 1,17 mit „gerechtigkeit, die für Gott gilt" (WA.DB 7,31), trifft nicht ganz, was er selbst unter diesem Ausdruck versteht. Wie wir schon gesehen haben, fallen nämlich für ihn die Gerechtigkeit Gottes und die Gerechtigkeit des Glaubens zusammen. Durch die in Luthers Paulusdeutung vollzogene Gleichstellung der Gottesgerechtigkeit mit der Gerechtigkeit Christi wird dies noch deutlicher. Denn es ist die Gerechtigkeit Christi und damit zugleich die Gerechtigkeit Gottes, die im Glauben, worin Christus selbst wirksam ist, dem Christen als Gabe geschenkt wird. Im Sermon De duplici iustitia (1519) wie schon im Sermon De triplici iustitia (1518) unterscheidet Luther die Glaubensgerechtigkeit von der äußeren, zivilen und ethischen Gerechtigkeit. Wie man mit Erbsünde und Werksünden als zwei Weisen der—»Sünde rechnet, gibt es auch zwei (oder mehrere) Arten von Gerechtigkeit. Die eine ist, wie die Erbsünde „wesentlich" — sie bezieht sich auf die ganze Person und auf den inneren Menschen (iustitia natalis, essentialis, originalis, aliena, quae est iustitia Christi, WA 2,44,32f). Sie besteht nicht in einer Qualität im Menschen, auch nicht in äußeren Werken, sondern ist als „Gerechtigkeit Christi" eine fremde (aliena), im Glauben zugerechnete. Die andere ist die iustitia actualis, d. h. die als Frucht des Glaubens im Wandel eines Christenmenschen entstehenden guten Werke. Eine dritte Art der Gerechtigkeit ist die zivile, die sich nur auf die äußere Tadellosigkeit der Handlungen bezieht und die nach den bürgerlichen Gesetzen gemessen wird. Die Unterscheidung der christlichen, geistlichen Gerechtigkeit von der weltlichen, rein ethischen oder bürgerlichen Gerechtigkeit ist in der Theologie Luthers durchgehend und von fundamentaler Bedeutung. Einen Hauptfehler der scholastischen Gnadenlehre sieht er darin, daß sie die aristotelische Definition der Gerechtigkeit (—»Aristoteles) als einen Habitus, das Gute zu tun, durch wiederholte gute Handlungen erworben, in die Heilslehre übertrage. Nur auf dem äußeren, politischen Gebiet ist diese Definition verwendbar. Die christliche Gerechtigkeit dagegen wächst nicht aus unseren Handlungen hervor und kann nicht als eine bleibende Qualität beschrieben werden, sondern wird — wie wir gesehen haben — von außen her, durch die Gnade Gottes geschenkt und bleibt eine „fremde", durch den Glauben zugerechnete, aber zugleich eine wirksame, von innen her erneuernde Gerechtigkeit (im damaligen Deutsch als „Fromkeyt" bezeichnet, WA 2,43,5). In De servo arbitrio (1525) unterscheidet Luther eine aktive und eine passive Bedeutung des Ausdruckes iustitia Dei, wobei die erstgenannte einer lateinischen, die letztgenannte einer hebräischen Redeweise entsprechen: „Sic iustitia Dei latine dicitur, quam Deus habet, sed Ebraeis intelligitur, quae ex Deo et coram Deo habetur" (WA 18,769,1 f). Der Ausdruck iustitia passiva kehrt dann u. a. im großen Galaterbrief-Kommentar von 1531(1535) wieder. „Das ist unsere Theologie", sagt er, „in der wir lehren, diese beide Formen von Gerechtigkeit wohl zu unterscheiden, die aktive und die passive, damit nicht Moral und Glaube, Werk und Gnade, Politik und Religion miteinander vermenget werden" (WA
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40/1,45,24—26). Die christliche Gerechtigkeit wird als eine passive bezeichnet, weil sie mit dem menschlichen Handeln oder mit der Erfüllung des Gesetzes nichts zu tun hat, sondern als ein verborgenes Wirken Gottes nur im Glauben verwirklicht wird. Sie wird als ein himmlisches Leben, außerhalb der Knechtschaft unter Sünde und Gesetz, bezeichnet. Dem Gedanken einer fides caritate formata gegenüber wird gesagt, daß der Glaube selbst, das „wahre Vertrauen des Herzens" (vera fiducia cordis) die tatsächliche Gerechtigkeit (formaIis iustitia) ist, weil Christus mit seiner Gerechtigkeit in diesem Glauben anwesend ist. Die Auslegung der paulinischen Texte von der Einwohnung Christi im Gläubigen (WA 40/1,228—229) bildet einen Höhepunkt in der Darstellung der christlichen Gerechtigkeit. Die durchgehende Unterscheidung der beiden Arten von Gerechtigkeit wird in verschiedenen Zusammenhängen unterstrichen und weiter entwickelt. Folgende zur Bezeichnung der doppelten Gerechtigkeit verwendeten Begriffspaare können die Vielfalt der Ausführungen andeuten: geistliche — körperliche, innere — äußere, vor Gott — vor Menschen (coram Deo — coram homittibus), der gute Baum — die Früchte, wie auch die schon erwähnten: passive - aktive, himmlische - irdische, wesentliche — aktuale, fremde - eigene Gerechtigkeit (vgl. WA 2 , 4 1 - 4 7 . 1 4 3 - 1 5 2 ; 39/1,92f; 4 0 / 1 , 4 0 - 4 8 ) . 2. Osiandrischer
Streit
Die Frage, wie die Glaubensgerechtigkeit näher verstanden werden sollte, wurde in der Auseinandersetzung mit der Theologie des A. —»Osiander ausführlich erörtert und in einer für die Lehre der evangelischen Kirchen entscheidenden Weise festgelegt. Osiander verstand „Gerechtigkeit" in diesem Zusammenhang nur als einen bildhaften Ausdruck für die göttliche Natur Christi, die dem Menschen im Glauben zuteil werde. Erst die im Glauben zustandegekommene Einwohnung Christi, die zugleich eine Teilhabe an seiner göttlichen Natur bedeute, mache den Menschen vor Gott gerecht. Demgegenüber wurde von lutherischer Seite, sowohl von M. —»Flacius wie auch von Ph. —»Melanchthon betont, daß der Ausdruck Gerechtigkeit auch in diesem Kontext nicht nur bildhaft, sondern als eigentliche Bezeichnung für die Erfüllung des Gesetzes gemeint sei. Die christliche Gerechtigkeit liege zwar nicht im Gesetzesgehorsam des Gläubigen, sondern im tätigen und leidenden Gehorsam Christi; die Gerechtigkeit Christi sei nicht nur ein Ausdruck für seine Gottheit, sondern bezeichne das gesamte Wirken und Leiden, das seiner ganzen Person, sowohl als Gott wie als Mensch, zugeschrieben werde. Darin liege ein Verdienst, das als stellvertretende Genugtuung dem Gläubigen zugerechnet wird. Es ist nicht schwer, im osiandrischen Streit zwei grundlegend verschiedene Deutungen des Gerechtigkeitsbegriffes festzustellen: Im einen Falle wird die Gerechtigkeit als ein inhärenter Habitus, ein konkretes Vermögen, das Gute zu tun, im anderen Falle als eine Nichtanrechnung der Sünde, als Gerechterklärung, verstanden. Im orthodoxen Luthertum wurde durch den osiandrischen Streit die letztgenannte Deutung als die einzig treffende Auslegung des neutestamentlichen Begriffes scharf herausgestellt. Es ist vor allem Flacius, der in Auseinandersetzung mit Osiander diese Deutung in profilierter Weise zum Ausdruck gebracht hat. Osiander, der die Gerechtigkeit mit Christi Gottheit identifizierte, hielt er entgegen, daß auch unsere Gerechtigkeit vor Gott eigentlich die Erfüllung des Gesetzes Gottes sei, „welche nicht wir, sondern Christus warer Gott und Mensch, durch seinen allervolkomensten gehorsam ganz uberschwencklich und uberreichlich geleistet hat, beide mit thun desienigen, so das Gesetz von uns zuthun hat erfordert, und mit Leiden des, das wir von wegen unser Sünden hetten leiden sollen, uns aber durch den glauben von Gott geschenckt und zugerechnet wird, gleich als ob wir selbs ein ieder für sich solches alles gelitten und gethan hetten . . . " (Verlegung des Bekentnis Osiandri...,1552,al). In schärfster Zuspitzung wird hier die Gerechtigkeit als Gesetzesgehorsam definiert, während Osiander sie als die Eigenschaft versteht, durch die wir das Gute und Rechte tun können. Darin verbirgt sich nicht nur eine andere Auffassung von der —»Rechtfertigung, sondern auch ein anderer Gottesbegriff (—»Gott). Nach Osiander wird die Gerechtigkeit
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Gottes in der Bibel nie als strafende und vergeltende Gerechtigkeit verstanden, sondern stets als Barmherzigkeit, Liebe, Wohlwollen usw. Wie Luther verwendet er das Wort „Frömmigkeit" synonym mit „Gerechtigkeit" (vgl. Hirsch 69 f und dort angeführte Texte). Osiander hat nicht die Satisfaktion Christi als Grund der Sündenvergebung verneint, aber er sah in ihr auch nicht die Gerechtigkeit des Menschen begründet. Darin weicht er von Luther ab. Andererseits haben seine Gegner, um die stellvertretende Genugtuung Christi und die fremde Gerechtigkeit, die im Glauben zugerechnet wird, klar als Fundament des Heiles darstellen zu können, die Gerechtigkeit so eindeutig in gesetzlichen Kategorien definiert, daß andere reformatorische, bei Luther oft zum Ausdruck gebrachte Vorstellungen von der Gerechtigkeit Christi in der folgenden Tradition nicht mehr zu ihrem vollen Recht kamen. Da dieiustitia Christi die ganze Person und das ganze Wirken Christi umfaßt, geht sie über die Grenzen des Gesetzes hinaus. Auch die Uberwindung des Gesetzes, Christi Weg zum Vater, seine —»Auferstehung und —»Himmelfahrt, nicht nur den Gehorsam bis zum Tode, rechnet Luther zur „Gerechtigkeit" Christi. 3. Job. Calvin —»Calvin, der die osiandrische Theologie scharf ablehnt (Inst. 111,11,5 u. ö.), betont, daß die Gerechtigkeit Gottes, wie sie in Rom 1,17 verstanden wird, eine doppelte Bedeutung hat: Teils liegt darin die Vorstellung von einer Gerechtigkeit, die vor Gott gilt und nur im Gesetzesgehorsam Christi vollkommen geleistet wird, teils ist die Gerechtigkeit eine Gabe, die nur durch das Evangelium im Glauben geschenkt wird. Die Gerechtigkeit bezieht sich somit auf das Gesetz und ist mit der Erfüllung des Gesetzes identisch; gleichzeitig ist sie aber als Gerechtigkeit Christi, die durch das Evangelium geschenkt wird, etwas, was die Kategorien des Gesetzes weit überschreitet, „eine Gerechtigkeit viel höher als die, die in der Wahrnehmung des Gesetzes besteht" (Inst. 111,12,1). Calvins Lehre von der Gerechtigkeit Gottes und der Gerechtigkeit des Glaubens kombiniert somit die grundlegende legalistische Bedeutung des Begriffes mit der Uberzeugung, daß die im Evangelium offenbarte Gerechtigkeit Gottes nicht mit dem Maß des Gesetzes gemessen werden kann, sondern jede menschliche Vorstellung von Gerechtigkeit übersteigt. 4. Nachreformatorische
lutherische
Tradition
Nach Melanchthons und Flacius' definitiver Ablehnung der osiandrischen Alternative wurde die in der Imputations- und Satisfaktionslehre vorausgesetzte Deutung des Gerechtigkeitsbegriffes vorherrschend. Im dritten Artikel der—»Konkordienformel, „Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott", wird die Auffassung Osianders, daß Christus nur nach seiner göttlichen Natur die Gerechtigkeit Gottes sei, wie auch die entgegengesetzte Meinung, daß Christus nur nach der menschlichen Natur die Gerechtigkeit des Gläubigen sei, verworfen. Demgegenüber wird die Gerechtigkeit mit Christus als wahrem Gott und wahrem Menschen zugleich, d. h. mit der ganzen Person Christi verbunden. Sein vollkommener Gehorsam sei die im Glauben zugerechnete Gerechtigkeit, die also mit der Vergebung der Sünden und der Versöhnung mit Gott identisch sei. Die Gerechtigkeit ist also in erster Linie als die Gesetzeserfüllung und der Gehorsam Christi und auf der Seite des Menschen als eine rein imputative, fremde Gerechtigkeit zu verstehen; „allein die Gerechtigkeit des Gehorsambs, Leidens und Sterbens Christi, so dem Glauben zugerechnet wird, kann für Gottes Gericht bestehen" (BSLK 925,14-17). Die Glaubensgerechtigkeit - und nur sie, nicht der Gerechtigkeitsbegriff überhaupt, wird hier definiert - wird also in der Konkordienformel wie bei Osiander mit der Gerechtigkeit Christi verbunden. Es geschieht aber in ganz anderer Weise: Nicht die mystische Einwohnung der göttlichen Natur, sondern der hier auf Erden wirkende und leidende Christus ist die Gerechtigkeit, die im Glauben zugerechnet wird, „da er für uns dem Gesetz gnuggetan und für unser Sünde bezahlt hat" (BSLK 918,29f). Gegen den Vorwurf, daß diese Auffassung der Gerechtigkeit in den Kategorien des Gesetzes stehen bleibt und deshalb eine im Grunde nomistische Lehrweise fördert, kann gesagt
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werden, daß diese Lehrentscheidung trotz ihrer scheinbar legalistischen Definition der Gerechtigkeit nichts anderes beabsichtigt, als das Evangelium in seinem Vollgehalt zur Geltung zu bringen. Die Gerechtigkeit liegt darin, daß Christus selbst in seinem Leiden und Tod das Gesetz überwunden hat, indem er dessen Anklage zunichte macht. Das die Grenzen des Gesetzes überschreitende Evangelium kommt weiter darin zum Ausdruck, daß die Versöhnung Christi im Glauben dem Menschen übereignet wird. Damit ist die Gerechtigkeit nicht nur „Gesetzeserfüllung", sondern auch die im Evangelium geschenkte Gabe Gottes (vgl. BSLK 917,39). 5. Altlutherische —*Orthodoxie In der voll ausgebildeten lutherischen Dogmatik, wie z. B. bei J. —»Gerhard, wird der Gerechtigkeitsbegriff an verschiedenen Stellen entwickelt, zuerst in der Gotteslehre (—»Gott), wo die iustitia Dei als eine der Eigenschaften Gottes definiert wird, weiter in der Lehre von der ursprünglichen Gerechtigkeit des Menschen im Locus de imagine Dei (—»Bild Gottes). Dann wird selbstverständlich das Thema Gerechtigkeit auch im Kontext der Heilslehre erörtert (—»Heil und Erlösung). Der innere Zusammenhang ist unverkennbar, um so mehr als man unter dem Terminus iustitia nicht so sehr die Mannigfaltigkeit des biblischen Gerechtigkeitsbegriffes, sondern vor allem die Gerechtigkeit in ihrer ethischen Grundbedeutung behandelt. Daß die Lehrsätze über die Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes nicht eine gelehrte Spekulation ohne Zusammenhang mit der Heilslehre bilden, sondern für diese eine grundlegende Bedeutung haben, zeigt die Auseinandersetzung mit den Sozinianern (—»Sozzini). Die Gerechtigkeit als wesentliche Eigenschaft (essentialis proprietas) Gottes ist der gerechte Wille (rectitudo voluntatis) Gottes, der sich darin äußert, daß die opera ad extra gerecht sind (iustitia dispositiva), und darin, daß Gott jedem Menschen nach seinem Werk vergilt, die Guten belohnt und die Bösen bestraft (iustitia distributiva). Daß die Gerechtigkeit Gottes in der Schrift auch als eine Gerechtigkeit der Gnade oder als die im Glauben geschenkte Gerechtigkeit (remissio peccatorum) vorausgesetzt wird, hebt diese grundlegenden Definitionen nicht auf. Die vielfältige Bedeutung des Ausdrucks kommt zwar in der Schematik klar zum Ausdruck, wird aber durch die Verteilung auf verschiedene Loci leicht übersehen. Übersichtlich kann z. B. die bei J . Gerhard begegnende Begriffsanalyse folgendermaßen dargestellt werden: Iustitia I in Deo (essentialis proprietas) A) gratiae = bonitas B) a misericordia distincta 1) universalis = rectitudo voluntatis 2) particularis = voluntas suum cuique tribuere a) erga se b) erga creaturas aa) dispositiva (opera ad extra iuxta normam iustitiae disponit) bb) distributiva (unicuique secundum opus suum reddit) AA) remunerativa (qua bonos praemiis afficit) BB) punitiva (qua malos poenis afficit) II a Deo A) evangelica = remissio peccatorum B) legalis = conformitas cum lege
Die Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes kommt erst im letzten —»Gericht zu ihrem Endziel. Die jetzige Zeit ist die Zeit der Gnade und der Heilsmöglichkeit; die strenge Vergeltung wie auch die Belohnung aus Gnade werden schließlich dem kommenden Leben vorbehalten. Nur vom letzten Akt des Dramas her kann das Geschehen der Geschichte im Lichte der göttlichen Gerechtigkeit beurteilt werden. Die Sozinianer vertreten in diesem Punkt eine diametral entgegengesetzte Auffassung: Sie verneinen die Gerechtigkeit als eine „wesentliche" Eigenschaft Gottes. Eine strafende
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Gerechtigkeit braucht nicht angenommen werden, die Satisfaktion ist weder möglich noch notwendig; „Gott kann ohne irgendwelche Satisfaktion zu empfangen die Sünden vergeben" (Fock 616). Was ist dann „Gerechtigkeit Gottes" nach dem Sozinianismus? Nur eine rectitudo et aequitas (-»Billigkeit) als Wirkung des göttlichen Willens, nicht von der Barmherzigkeit unterschieden und mit der Prädestination und Verhärtung eines Menschen nicht verträglich. Das humanisierte Gottesbild dieser Richtung hat in ihrer Fassung des Gerechtigkeitsbegriffes sein Zentrum. Ein Hauptpunkt der Kritik von Seiten der orthodoxen Theologen lag deshalb darin, daß man, wie wir bei Gerhard schon gesehen haben, die Gerechtigkeit als eine „wesentliche" Eigenschaft bei Gott stark betonte. Der Sozinianismus ist in diesem Punkt radikaler als Osiander (s. o.), indem er auch die Satisfaktion Christi verneint und damit die Struktur der christlichen Heilslehre verändert. Luther redet in seinem Sermo de duplici iustitia von einer iustitia originalis et essentialis als Gegenstück zum peccatum originale et essentiale. Dieselbe Ausdrucksweise findet sich dann wieder in seiner Auslegung der Ebenbildlichkeit Gottes (imago Dei) als einer ursprünglich vollkommenen Gerechtigkeit und Heiligkeit, eine Deutung die er u. a. auf Eph 4,24 stützte. Diese Vorstellung von einer ursprünglichen Gerechtigkeit (iustitia originalis) wurde von der lutherischen Orthodoxie übernommen und weiter entwickelt. Mit dem Ausdruck essentialis wird ausgedrückt, daß die ursprüngliche Gerechtigkeit zum Wesen oder zur Natur des Menschen gehört. Sie wurde nicht mehr wie in der Scholastik als eine zusätzliche Gnadengabe (donum supernaturale, superadditum), sondern als eine mit der Natur gegebene Vollkommenheit, die durch den Sündenfall verlorenging, verstanden. Diese Vorstellung von der ursprünglichen Gerechtigkeit als Unversehrtheit der Menschennatur, ihrer Heiligkeit und Vollkommenheit, und damit als Ausdruck für die Ebenbildlichkeit Gottes wurde in der lutherischen Orthodoxie u. a. gegen die römisch-katholischen Theologen D. de —»Soto und R. —»Bellarmini ausführlich behandelt. Bellarmini argumentierte im 3. Teil seiner Controversiae (Disputationes contra huius temporis haereticos) zugunsten der alten scholastischen Überzeugung von der Ursprungsgerechtigkeit als einer die Natur ergänzenden Gabe (donum supernaturale), bei deren Verlust die Natur unzerstört weiterlebe. Eine Konsequenz der lutherischen Lösung war dagegen, daß der Sündenfall eine Verderbnis der Natur zur Folge hatte, so daß der Mensch unfähig war, zum Heil mitzuwirken. Der Mensch, von dem gesagt werden konnte, daß er in einer ursprünglichen Gerechtigkeit geschaffen wurde, wird nicht nur rein „historisch" als der erste Mensch (—»Adam) verstanden, sondern als der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott, alsfcowo theologicus. Die ursprüngliche Gerechtigkeit und die Erbsünde (peccatum originale) sind korrespondierende Begriffe in dieser theologischen Anthropologie. Dazu kommt noch folgende Bestimmung hinzu. Nach Eph 4,24 wurde der neue Mensch, d. h. der im Glauben Neugeborene, als ein Mensch verstanden, in dem die Ebenbildlichkeit Gottes auf eine beginnende Weise wiederhergestellt wurde. Die Gerechtigkeit des Glaubens war somit eine Parallele zur ursprünglichen Gerechtigkeit, die durch die Sünde verlorengegangen war. Soweit die Gerechtigkeit Gottes im orthodoxen System als eine iustitia distributiva (belohnende und bestrafende Gerechtigkeit) definiert wurde, wurde sie auch von der —»Barmherzigkeit Gottes „distinguiert". Man hat diese Tatsache oft so gedeutet, daß damit in unbiblischer Weise eine tiefe Gegensätzlichkeit von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in die Theologie eingeführt wurde, um dann wieder in der Versöhnungslehre - ebenfalls in unbiblischer Weise - ausgeglichen zu werden. Eine genauere Analyse erweist diese Beurteilung jedoch als oberflächlich und unzutreffend. Die Distinktion der Begriffe ist nicht mit einem logischen Gegensatz zu verwechseln. Sie konnte auch der Tatsache gerecht werden, daß der Gerechtigkeitsbegriff in der Bibel vielfältig ist und nicht auf einen einzigen Nenner gebracht werden kann. Die Synony mität von Gerechtigkeit und Gnade in einigen Fällen hebt nicht die grundlegende nomistische Orientierung des Begriffes auf. Was die orthodoxe Versöhnungslehre in diesem Zusammenhang zum Ausdruck brachte, war, daß die Einheit von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ein erst in Christi Versöhnung verwirklichtes Wunder sei (mirabile
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temperamentum iustitiae et misericordiae), worin die Gerechtigkeit eine wirkliche, dem göttlichen Gesetz gemäße Gerechtigkeit und die göttliche Liebe eine tatsächliche Überwindung der Sünde und Wiederherstellung des Menschen, eine Übermittlung der göttlichen Gerechtigkeit, sei. 6. Pietismus und
Aufklärung
Während im Hauptstrom des -»Pietismus die Satisfaktionslehre und damit die in der Orthodoxie übliche Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes festgehalten wurde (vgl. Spener 1042), folgte man im sogenannten Radikalpietismus (—»Dippel) der sozinianischen Linie (s. o.) und bestritt, daß die Gerechtigkeit eine wesentliche Eigenschaft Gottes war. In seiner Liebe, verbunden mit seiner absoluten —»Freiheit war er imstande, ohne Satisfaktion die Sünden zu vergeben. Gerecht wurde der Mensch erst durch den Zuwachs in der —»Heiligung. Ein Versuch, schon in der Eigenschaftslehre unter dem Titel „Gerechtigkeit Gottes" die biblische Einheit von Liebe und Gerechtigkeit rational zum Ausdruck zu bringen, liegt in der wolffianisch geprägten Theologie vor. Jacob Carpov (—»Aufklärung) definiert in seiner Theologia revelata methodo scientifica adornata (1737) die Gerechtigkeit als bonitas sapienter administrata [die mit Weisheit verwaltete Güte]. Beides, die belohnende und die strafende Gerechtigkeit, gehört zu Gottes freiem Verhalten den menschlichen freien Handlungen gegenüber und bezeichnet eine seiner Güte geziemende Ordnung. Den Sozinianern gegenüber wird auch die Notwendigkeit der Satisfaktion betont. 7. F.D.E.
Schleiermacher
und A.
Ritsehl
—>Schleiermacher kombiniert verschiedene Tendenzen der früheren Theologie, indem er einerseits die Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes nur mit der Sünde verbindet und sie deshalb als strafende Gerechtigkeit definiert, andererseits nicht die Gerechtigkeit, sondern nur die Liebe mit dem Heil verbindet. Nur die Liebe und die Weisheit seien wesentliche Eigenschaften Gottes, die Gerechtigkeit dagegen nicht, da sie nur durch die menschliche Sünde bedingt sei. Von dieser Grundkonzeption her ist der Schritt nicht weit zu der Auffassung A. —»Ritschis, der demgegenüber die Gerechtigkeit mit dem Heil des Menschen verbindet. Er definiert sie nämlich als „die Folgerichtigkeit der göttlichen Leitung zum Heil" (Unterricht 13 f). Unter scharfer Ablehnung der orthodoxen Satisfaktionslehre identifiziert er schließlich die Gerechtigkeit mit der Gnade Gottes, was bedeutet, daß das erstgenannte Glied der Definition Schleiermachers bei ihm weggefallen ist. 8. K. Barth Gegenüber den Tendenzen der Orthodoxie, die iustitia distributiva als die Grundform auch der Gerechtigkeit Gottes zu betonen, aber vor allem gegen Ritschis Konzeption unterstreicht K. -»Barth die fundamentale Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in der biblischen Gotteslehre. „Als ein Verhältnis gegenseitiger Durchdringung und Erfüllung wird sich uns auch das Verhältnis von Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit darstellen, aber auch es so, daß es von der notwendig vorangehenden Barmherzigkeit Gottes her seine Bestimmung empfängt" (KD 11/1,423). Es gibt also in Gott keinen Gegensatz zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, sondern in der sündenvergebenden Gnade wird die Gerechtigkeit, sogar die mit Gesetz und Gericht verbundene, bestätigt. Barth will auch „im Widerspruch gegen ihre modernen Deutungen" (ebd. 439) die Gerechtigkeit Gottes als iustitia distributiva zur Geltung kommen lassen. Die Gerichtstexte im Neuen Testament (z. B. Mt 25,41 f; IIThess 1,6 f) und vor allem der Kreuzestod Christi sind Zeugnisse, die in diese Richtung zeigen. „Die ist die Bedeutung des Todes Jesu Christi, daß dort Gottes verurteilende und strafende Gerechtigkeit losgebrochen ist und die menschliche Sünde, den Menschen als Sünder, das sündige Israel wirklich geschlagen und getroffen hat" (ebd. 446). Indem die Gerechtigkeit Gottes sich als Erbarmen über die Hilflosen und Armen zeigt,
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weist sie auch zur Aufgabe hin, in der menschlichen Gesellschaft für das Recht derer einzutreten, die Unrecht leiden. „Warum? Weil ihm [dem Menschen] in ihnen sichtbar gemacht wird, was er selber vor Gott ist, weil das das liebende, gnädige, barmherzige Tun Gottes an ihm ist, daß Gott ihm als einem Armen und Elenden durch sich selber in seiner eigenen Gerechtigkeit Recht verschafft — weil er, weil alle Menschen vor Gott dastehen als solche, denen nur durch ihn selbst Recht verschafft werden kann" (ebd. 435). Die Gerechtigkeit in Gott wird also hier nicht nur mit der im Glauben geschenkten, sondern auch mit der in der menschlichen Gesellschaft auszuübenden Gerechtigkeit zusammengestellt, was bei Barth wie in der reformatorischen Theologie nur eine Perspektive des reichen Inhalts des Gerechtigkeitsbegriffes ist. 9. Dogmatische
Reflexion
Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß der Begriff Gerechtigkeit in der christlichen Dogmatik eine weitere Bedeutung als die rein ethische oder juridische hat. Dabei soll aber nicht übersehen werden, daß er auch in seiner vielfältigen theologischen Anwendung die ethische Grundbedeutung einer tugendhaften Gerechtigkeit oder einer iustitia distributiva behält. Der elementare Glaube an eine Gerechtigkeit Gottes, auch als eine iustitia remunerativa et punitiva verstanden, wird nicht durch das Evangelium aufgehoben, sondern in seiner Weise bestätigt. Gott ist ein Gott, der „den Erdkreis mit Gerechtigkeit richten will" (Act 17,31; Ps 9,9). Daß Paulus in der Areopagrede, wo er zu Menschen, denen der christliche Glaube unbekannt ist, dieses alttestamentliche Wort zitiert, kann ein Beleg dafür sein, daß wir es hier mit einer grundlegenden Voraussetzung des Gottesglaubens zu tun haben. Gerechtigkeit, auch als Gerechtigkeit Gottes, gehört mit dem Gesetz zusammen, was die Frage hervorgerufen hat, ob das Gesetz eine der Gerechtigkeit übergeordnete Norm oder im Gegenteil die Gerechtigkeit dem Gesetz übergeordnet ist. Die Frage ist in dieser Form überflüssig, da sowohl gesagt werden kann, daß Gott in seiner Gerechtigkeit nach seinem Gesetz handelt, wie auch, daß sein Gesetz ein Abbild seiner Gerechtigkeit ist. Eine andere Frage hinsichtlich der Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes ist, wie sie sich zur Barmherzigkeit und Liebe Gottes verhält. In vielen biblischen Texten ist Gerechtigkeit sogar mit Gnade und Barmherzigkeit synonym, was dem bisher Gesagten teilweise zu widersprechen scheint. Das gewöhnliche Mißverständnis, das hier einen logischen Gegensatz zwischen der strafenden und der vergebenden Gerechtigkeit annimmt, hat zu vielen falschen Urteilen geführt. Um die Antinomie zu vermeiden, hat man z. B. die Gerechtigkeit Gottes mit der Gnade identifiziert und den Ausdruck auf diese uneigentliche Anwendung reduziert. Da es sich hier um Begriffe handelt, die zum persönlichen, psychologischen Bereich gehören, ist es eine Verwechslung der Kategorien, die Gegensätzlichkeit Gerechtigkeit Barmherzigkeit als einen logischen Widerspruch zu bezeichnen. Aus dem Faktum, daß sowohl die mit der Barmherzigkeit zusammenfallende, wie auch die verurteilende und strafende Gerechtigkeit auch im Neuen Testament als Eigenschaften Gottes bezeugt werden, kann eher der Schluß gezogen werden, daß die Gerechtigkeit Gottes nicht nach rationalen, rein menschlichen Maßstäben gemessen werden kann. Die biblische Lösung der Frage von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bei Gott liegt darin, daß die Gerechtigkeit Gottes in Christus verwirklicht ist. Die Gerechtigkeit Christi, in seinem Gehorsam bis zum Tode manifestiert, ist die im Evangelium offenbarte Gerechtigkeit Gottes, die Gericht und Gnade, Verurteilung der Sünden und Vergebung der Sünden zugleich bedeutet. In der —»Versöhnung durch das -»Kreuz Christi ereignet sich eine „wunderbare Einheit der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes" (mirabile temperamentum misericordiae et iustitiae Dei). Im Attribut mirabile liegt, daß diese Einheit rational undurchschaubar ist und nur vom tatsächlichen Geschehen, d. h. von dem was Christus getan und gelitten hat, her beurteilt werden kann. Die Gerechtigkeit Gottes — so wie Paulus diesen Ausdruck verwendet — kann zugleich eine Eigenschaft Gottes und eine dem Menschen im Glauben geschenkte Gerechtigkeit bedeuten (Rom 1,17; 3 , 2 1 - 2 6 ; 10,3; besonders deutlich: II Kor 5,21; s. o. Abschn. III.3.2).
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Diese Gerechtigkeit ist, da sie nicht in Werken oder in der Verhaltensweise den Menschen gegenüber besteht, von anderer Art als die ethische Gerechtigkeit (s. u. Abschn. VII). M a n hat sie nach der Hauptlinie der reformatorischen Theologie als eine imputative, d. h. dem Menschen auf Grund des göttlichen Urteils zugerechnete Gerechtigkeit gedeutet, worin liegt, daß es in der Tat die Gerechtigkeit Christi bleibt. Die Definition der theologischen Gerechtigkeit als eine Nichtanrechnung der Sünde oder als eine reine Gerechterklärung darf nicht so verstanden werden, als o b sie nicht die Person des glaubenden Menschen innerlich bestimmte. Obschon sie von einer Seite her eine „fremde" (aliena iustitia) ist, kann sie andererseits auch als persönliche oder wesentliche Gerechtigkeit bezeichnet werden, die dem menschlichen Handeln gegenüber sich wie der „gute Baum" zu den Früchten verhält. Sie wird auch als eine Wiederherstellung der ursprünglichen, in der Schöpfung mit der Menschennatur integrierten Gerechtigkeit gedeutet (Eph 4,24). Der Zusammenhang der theologischen Gerechtigkeit mit der ethischen kann s o ausgedrückt werden, daß der Glaube den Menschen zu einem neuen Gehorsam den göttlichen Geboten gegenüber auffordert und in den Taten der Liebe dem Nächsten gegenüber wirksam ist. Dieser neue Lebenswandel wird als eine „zweite Gerechtigkeit" (WA 2 , 1 4 6 , 3 6 ) oder als die „Gerechtigkeit der zehn Gebote" (WA 4 0 / 1 , 4 0 , 2 6 ) bezeichnet. Sie wird im Unterschied zm iustitia civilis, der rein bürgerlichen, politischen Gerechtigkeit, als e'meiustitia actualis, d. h. die von dem Glauben herfließende, sich in guten Werken manifestierende Gerechtigkeit definiert. Literatur Karl Barth, KD 11/1-2,1940/42 s 1974/75. - Oswald Bayer, Promissio. Gesch. der reformatorischen Wende in Luthers Theol., Göttingen 1971. - Robert Bellarmin, Disputationes III, Ingolstadii 1593. - Ernst Bizer, Fides ex auditu. Eine Unters, über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 1958 3 1966. — Heinrich Bornkamm, Iustitia Dei in der Scholastik u. bei Luther: ARG 39(1942)1-46. - Ders., Zur Frage der Iustitia Dei beim jungen Luther: ARG 52(1961)16-29; 53(1962)1-60. - Karin Bornkamm, Luthers Auslegung des Galaterbriefs v. 1519 u. 1531,1963(AKG 35). - Martin Brecht, Iustitia Christi. Die Entdeckung Martin Luthers: ZThK 74(1977)179-223. - Ders., Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1 4 8 3 - 1 5 2 1 , Stuttgart 1981. Ragnar Bring, Das Verhältnis v. Glauben und Werken in der luth. Theol., München 1955. — Jacob Carpov, Theologia revelata dogmatica methodo scientifica adornata, Francofurti 1753 ff. — Edward F. Cranz, An Essay on the Development of Luther's Thought on Justice, Law and Society, 1964(HThS 19). - W e r n e r Eiert, Der christl. Glaube, Hamburg 3 1 9 5 6 . - D e r s . , Morphologie des Luthertums, München, I 1931. - Otto Fock, Der Socinianismus, Kiel 1 8 4 7 , - J o h a n n Gerhard, Loci theologici, Jena 1610,hg. v. E. Preuß, Leipzig 2 1885. — Emanuel Hirsch, Die Theol. des Andreas Osiander u. ihre gesch. Voraussetzungen, Göttingen 1919. - Bengt Hägglund, De homine, 1959(STL 18). - Hans Joachim Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, München 2 1951. - Wilfried Joest, Art. Gerechtigkeit Gottes. IV. Dogmatisch: RGG 3 2(1407-1410). - Ole Modalsli, Luthers Turmerlebnis 1515:StTh 22(1968)51-91. — Karl Heinz zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theol. zw. Mystik u. Scholastik, 1972(BHTh 46). - Heiko A. Oberman, „Iustitia Christi" and „Iustitia Dei". Luther and the Scholastic Doctrines of Justification: HThR 59(1966)1-26. - Herbert Olsson, Calvin och reformationens teologi, Lund/Leipzig 1943. - Otto Hermann Pesch, Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende: Cath(M)20(l 9 6 6 ) 2 1 6 - 2 4 3 . 2 6 4 - 2 8 0 . - Albrecht Peters, Glaube u. Werk. Luthers Rechtfertigungslehre im Lichte der hl. Schrift, 1967(AGTL 8). - Lennart Pinomaa, Der Zorn Gottes in Luthers Theol., Helsinki 1938. - Regin Prenter, Der barmherzige Richter, Kopenhagen 1961 (Acta Jutlandica 33). Albrecht Ritsehl, Unterricht in der christl. Religion, Bonn 5 1895. - Erdmann Schott, Die zeitliche u. die ewige Gerechtigkeit. Eine kontroverstheol. Unters, zum Konkordienbuch, Berlin 1955. - Friedrich Schleiermacher, Der christl. Glaube, Berlin 2 1830, Krit. NA, 2 Bde., 1960. - Arvid Sjöstrand, Satisfactio Christi, Stockholm 1937. - Dominicus Soto, De natura et gratia, Antwerpiae 1550. - Philipp Jacob Spener, Dieev. Glaubenslehre, Franckfurt am Mayn 1688. — OsmoTillilä, Das Strafleiden Christi, Helsinki 1941. Bengt Hägglund VII. Ethisch Das Wort Gerechtigkeit wird in so unterschiedlicher Weise verwendet, daß man eher von mehreren Gerechtigkeitsbegriffen als von einer einheitlichen Bedeutung reden kann.
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Nicht nur unterscheidet sich die ethische Anwendung von der früher behandelten theologischen (s. o. Abschn. VI.9), sondern auch innerhalb des ethischen Gebietes hat das Wort mehrere Bedeutungen, je nach dem Sinnzusammenhang, in dem es verwendet wird. —»Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik ein ganzes Buch dem Thema Gerechtigkeit widmet (V; vgl. dazu auch u. Abschn. VIII.2.1), bietet mehrere Definitionen. Bei ihm findet sich die schon von —»Plato und anderen formulierte Bestimmung der Gerechtigkeit als vollkommene —»Tugend, in der alle anderen Tugenden zusammengefaßt sind. Die Gerechtigkeit als Tugend ist nach Aristoteles ein habitus, eine Eigenschaft oder Disposition, „vermöge deren man zur Ausübung der Gerechtigkeit bestimmt wird, gerecht handelt und das Gerechte will" (eth. Nie. V,l) und der durch wiederholte gerechte Handlungen zustande kommt. Eine andere Definition setzt die Gerechtigkeit mit einer objektiven Ordnung, mit dem natürlichen oder positiven Gesetz in Verbindung. „Gerecht ist, wer die Gesetze einhält und wer sich mit der Gleichheit zufrieden gibt" (eth. Nie. V,2). Für die Definition der Gerechtigkeit ist auch entscheidend, daß sie eine Relation zu anderen voraussetzt. Die Gerechtigkeit bezeichnet nach Aristoteles immer etwas, was für andere gut und nützlich ist. So kann er mit Gerechtigkeit auch das verstehen „was in einer staatlichen Gemeinschaft das Glück, und was im einzelnen dazu gehört, hervorbringt und erhält" (ebd.). Die bekannteste Definition des Aristoteles aber ist die, die sich auf die Gerechtigkeit im besonderen, die von der Tugend artverschieden ist, bezieht. Die Gerechtigkeit wird hier nicht als Tugend des einzelnen, sondern als eine objektive Ordnung in der Gesellschaft wie in der interpersonalen Kommunikation überhaupt verstanden und als austeilende bzw. ausgleichende oder korrigierende Gerechtigkeit (justitia distributiva - justitia correctiva) beschrieben (eth. Nie. V,5—7). Die bekannteste Aufnahme dieser Definition stammt vom römischen Juristen Ulpian (gest. 228 n. Chr.), nämlich die FormelSMMWI cuique tribuere [jedem das ihm Gebührende zuzuteilen]. Die „austeilende" Gerechtigkeit besteht in der richtigen Verteilung von Gütern, Ehrenrechten und anderen Dingen, die das Gemeinwesen zu verteilen hat. Diese Verteilung geschieht nach proportionaler Gleichheit, d. h. mit Berücksichtigung der faktisch vorhandenen Ungleichheiten. Die andere Form, die ausgleichende oder korrigierende Gerechtigkeit umfaßt z. B. Kauf und Verkauf, Geldverleihung, Miete wie auch die Wiederherstellung der Gleichheit nach Verbrechen verschiedener Art, wie Diebstahl, Ehebruch, Mißhandlung usw. Diese Gerechtigkeit nennt Aristoteles die arithmetische, weil hier nur die direkte, einfache Gleichheit berücksichtigt wird. Die Reduktion der Gerechtigkeit im spezifischen Sinn auf die Frage der Gleichheit kann als eine Verengung des Gerechtigkeitsbegriffes aufgefaßt werden, muß aber damit zusammengesehen werden, daß die Gerechtigkeit gleichzeitig, wie schon betont wurde, als eine der vier Kardinaltugenden bestimmt wird, was auch bedeutet, daß sie auf die höhere Ordnung des natürlichen Gesetzes bezogen wird. Die aristotelischen Grundsätze wurden für die Diskussion bis in moderner Zeit wegweisend. In der christlichen Tradition hat man die antiken Grundlagen der Gerechtigkeitslehre übernommen (s. o. Abschn. IV u. V). In der Bibel wurde die Gerechtigkeit auch im ethischen Sinn, als Tugend oder als gottgewollte Ordnung aufgefaßt (s. o. Abschn. I u. III). In der theologischen Ethik wurde die Gerechtigkeit oft als Zusammenfassung der ethischen Forderungen dem Nächsten gegenüber verstanden. In Tit 2,11 f wird gesagt, daß die Gnade Gottes erschienen ist, damit „wir verleugnen sollen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt". Die drei Adjektive „züchtig, gerecht und gottselig" werden als eine Zusammenfassung der ethischen Verantwortung uns selbst, dem Nächsten und Gott gegenüber gedeutet. Schon Aristoteles hatte die Gerechtigkeit immer mit der Beziehung zu den anderen Menschen in Verbindung gebracht. Da die Gerechtigkeit als objektive Norm der gesellschaftlichen Ordnung mit der Vorstellung des -»Naturrechtes bzw. einer natürlichen, angeborenen Erkenntnis des —»Gesetzes eng verbunden ist, wird die Auffassung von Gerechtigkeit weithin durch die Wandlungen der Naturrechtslehre bestimmt. In der christlichen Tradition wie auch in entsprechender
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Weise in der Antike wurde die Gerechtigkeit in einer objektiven Ordnung, letztlich im göttlichen Gesetz verankert. Diese O r d n u n g war im Naturrecht konkretisiert. In der neueren, im 18. Jh. entwickelten Naturrechtslehre wurde die Gerechtigkeit auf bestimmte, in der menschlichen Vernunft niedergelegte Rechtsprinzipien gegründet (—>Grotius; —»Pufendorf). Die emanzipierte Naturrechtslehre wurde dann im modernen Rechtspositivismus (—»Positivismus) scharf kritisiert, eine Parallele zu der in der skeptischen Philosophie vollzogenen Kritik an der antiken Gerechtigkeitslehre. Was im Positivismus beanstandet wurde, war aber nicht die Gerechtigkeitsidee überhaupt, sondern ihre Grundlegung in einem ewigen, allen Menschen gemeinsamen Gesetz oder in einer auf gemeinsamen Grundsätzen aufgebauten gesellschaftlichen Rechtsordnung. In moderner Zeit hat sich vor allem in den totalitären Staaten eine Auflösung der auf gemeinsamen Normen aufgebauten Gerechtigkeitsvorstellung vollzogen, was für die Rechtsordnung wie für das Gemeinwesen überhaupt nicht ohne verhängnisvolle Folgen geblieben ist. In einer Situation, die als ein „Zerfall der abendländischen Gerechtigkeitsidee" bezeichnet wurde, schrieb E. —»Brunner während des zweiten Weltkrieges sein Buch Gerechtigkeit (1943 3 1981), worin er die Krise der Gerechtigkeit aufhellen und die Grundlagen der als objektive Ordnung sich manifestierenden Gerechtigkeit aufzeigen wollte. Wenn die Gerechtigkeit — wie schon Aristoteles betonte - mit der Gleichheit zusammenhängt, entsteht die Frage, worin die Gleichheit der Menschen gründet. Brunner gibt die Antwort, daß sie letztlich darin ihr Fundament hat, daß der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen ist, wie auch darin, daß Christus f ü r alle Menschen gelitten hat und gestorben ist. Die Gleichheit und das suum cuique tribuere schließen nicht aus, sondern setzen im Gegenteil voraus, daß die gleiche Menschenwürde mit einer Differenziertheit im äußeren Geschick, Voraussetzungen und Bedürfnissen verbunden ist, was schon durch den Gedanken einer proportionalen „geometrischen" Gleichheit bei Aristoteles ausgedrückt wurde. „Die Verschiedenheit ist die Grundlage der Dienstgemeinschaft" (Brunner 84). Die Gerechtigkeit ist mit dem Gesetz eng verbunden, insofern das Gesetz die N o r m der Gerechtigkeit ist. Sie bezieht sich aber nicht nur auf das Gesetz als Gebot und sagt nicht nur, was sein soll, sondern bezieht sich auch auf das Gesetz als eine objektiv gegebene Ordnung. Die gemeinsame Vorstellung der ethischen Gerechtigkeit setzt auch die Vorstellung eines „natürlichen", d. h. von Anfang an gegebenen Gesetzes voraus. Den positivistischen Einwänden gegenüber muß mindestens eine gemeinsame formale Gesetzeserkenntnis vorausgesetzt werden, wenn man für die ethische Gerechtigkeit als Grundlage des —»Rechtes argumentieren will. Die Gerechtigkeit kann sowohl in individuellen wie in kollektiven Kategorien verstanden werden. Als „ T u g e n d " ist sie individuell gefaßt. Als Ausdruck der zwischenmenschlichen Gleichheit, als das suum cuique tribuere, wird sie aber eher als eine kollektive Ordnung betrachtet, als eine O r d n u n g in —»Gesellschaft, —»Familie usw., durch die die richtigen Relationen, die richtige Verteilung von Gütern etc. definiert werden. M a n redet nicht nur von gerechten Personen, sondern z. B. auch von gerechten und ungerechten Staaten, von gerechter Strafe und von gerechtem Gericht, von gerechten Preisen usw. Gerechtigkeit steht in einer bestimmten Beziehung zur —»Billigkeit, die oft als eine Abmilderung der strengen Gerechtigkeit oder als ihre Modifizierung gemäß der Forderung der Situation oder der individuellen Bedingungen der betreffenden Personen aufgefaßt wird. Das bedeutet nicht, daß die Billigkeit als eine Aufhebung oder Vernachlässigung der Gerechtigkeit erscheint, sondern im Gegenteil, d a ß die Forderungen der Gerechtigkeit eben durch die Billigkeit in einer besseren Weise als durch rigorose Durchführung einer mathematischen Gerechtigkeit erfüllt werden. Die Billigkeit setzt dann auch andere Qualifikationen als rationale Vorstellungen von Gerechtigkeit voraus, z. B. Eigenschaften wie Weisheit, Überblick über die Situation, Rücksicht auf die Personen und auf die Umstände. In einem ähnlichen Verhältnis steht die Gerechtigkeit zur —»Liebe. Die Verschiedenheit ist einerseits groß: Die Liebe bezieht sich immer auf die Person, die Gerechtigkeit auf die
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Sachverhalte, zu denen die Personen sich verhalten. Die Gerechtigkeit richtet sich nach der Gleichheit und gibt jedem, was ihm zukommt, und das, worauf er ein Recht hat. Die Liebe schenkt auch unverdient und unbegründet, nur um ihrer selbst willen. Die Liebe schafft Neues und gibt einem Mitmenschen Wert, während Gerechtigkeit nur nach dem mißt, was einem jeden gerechterweise zukommt. Mit der Liebe (als Agape) ist Vergebung, das Geschenk der Gaben verbunden, die Gerechtigkeit dagegen mißt Belohnung und Bestrafung nach rechtem Maß, nach dem, was jedermann verdient hat, zu. Andererseits fügt sich die Liebe der Gerechtigkeit und erfüllt zuerst die Forderung nach Gerechtigkeit, um erst dann darüber hinaus nach einer höheren Ordnung, nach ihrer Art und Weise zu handeln. „Die echte Liebe ist immer mehr als gerecht; sie erfüllt zuerst das Gesetz der sachlichen Gerechtigkeit. Es gibt darum nie Liebe auf Kosten der Gerechtigkeit oder an der Gerechtigkeit vorbei, sondern immer nur über die Gerechtigkeit hinaus und durch die Gerechtigkeit hindurch" (Brunner 153). In den verschiedenen Formen der sogenannten politischen Theologie (Befreiungstheologie, Theologie der Dritten Welt usw.) werden neue Fragen der Gerechtigkeit ins Zentrum des Interesses gerückt, wie z. B. die rechte Verteilung der Reichtümer der Erde, die Förderung der Rechte der unterdrückten Völker oder Bevölkerungsgruppen. Damit wird oft eine utopische Erwartung eines innerweltlichen Zustandes der Gerechtigkeit verbunden, was auch bedeutet, daß die mit dem christlichen Heil verbundene Gottesgerechtigkeit mit der politischen Befreiung gleichgestellt wird. Man übersieht, daß die Frage von Macht und Gerechtigkeit sich immer aufs Neue meldet (Bühler). Eine andere Gefahr ist, daß die theologischen und die ethischen Aspekte vermischt werden. Die notwendige Verbindung von christlichem Glauben und ethischer Gerechtigkeit setzt die klare Unterscheidung beider voraus. Die schließliche Einheit von Gottesgerechtigkeit und ethisch-politischer Gerechtigkeit gehört nach der Bibel erst der eschatologischen Zukunft an (vgl. II Petr 3,13). Literatur Paul Althaus, Gebot u. Gesetz, 1 9 5 2 ( B F C h T h 4 6 / 2 ) . - Gerhard Bergmann, Das Problem der Gerechtigkeit darg. u. unters, bei Hermann Kutter u. Emil Brunner, Göttingen 1 9 5 1 . - Emil Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 1 9 4 3 ' 1 9 8 1 . - Pierre Bühler, Kreuz u. Eschatologie. Eine Auseinandersetzung mit der politischen Theol. im Anschluß an Luthers theologia crucis, Tübingen 1 9 8 1 . - Jacques Ellul, Le fondement théologique du droit, Neuchätel/Paris 1 9 4 6 ; dt: Die theol. Begründung des Rechtes, 1948(BEvTh 10). - William F. R. Hardie, Aristotle's Ethical Theory, Oxford 1 9 6 8 2 1 9 8 0 . - R. Hauser u. a. Art. Gerechtigkeit: H W P 3 ( 1 9 7 4 ) 3 2 9 - 3 3 8 . - Hans Kelsen, What is Justice?, Berkeley/Los Angeles 1960. - Werner Kägi, Einl.: E. Brunner, Gerechtigkeit, 3 1 9 8 1 . - Franz Lau, Art. Gerechtigkeit. V . Ethisch: R G G 3 2 ( 1 9 5 8 ) 1 4 1 0 - 1 4 1 2 . - J o s é Miranda, M a r x and the Bible, New York 1 9 7 4 = London 1 9 7 7 . - Hans Nef, Gleichheit u. Gerechtigkeit, Zürich 1 9 4 1 . - Reinhold Niebuhr, Love and Justice, 1 9 5 7 . - J o s e p h Pieper, Art. Gerechtigkeit (als Tugend): H T h G 1 ( 1 9 6 2 ) 4 7 9 - 4 8 3 . - D e r s . , Über die Gerechtigkeit, München 1 9 5 3 3 1 9 6 0 . - M a x Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles, Leiden 1 9 3 7 . — Walther Schönfeld, Uber die Gerechtigkeit, Göttingen 1 9 5 2 . - Ders., Uber die Heiligkeit des Rechtes, Göttingen 1 9 5 7 . - Helmut Thielicke, Theol. Ethik, Tübingen, III 1 9 6 4 . - Hans Emil Weber/Ernst Wolf, Gerechtigkeit u. Freiheit, München 1 9 4 9 . - Erik Wolf, Rechtsgedanke u. bibl. Weisung, Tübingen 1 9 4 8 . - Ders., Das Problem der Naturrechtslehre, Karlsruhe 3 1 9 6 4 .
Bengt Hägglund VIII. Philosophisch 1. Gerechtigkeit als Herrschaft des Guten: Piaton 2 . Der Einwand gegen Piaton 2 . 1 . Aristoteles 2 . 2 . Hegel 2 . 3 . Popper 3. Bestätigungen Piatons 3.1. Kant 3 . 2 . Nietzsche 3 . 3 Rawls 4. Ausblicke (Literatur S . 4 4 8 )
1. Gerechtigkeit
als Herrschaft
des Guten:
Piaton
In zweierlei Weise kann die Gerechtigkeit bestimmt werden: 1. Unter Voraussetzung einer Rechtsordnung in einer Gesellschaft und eines wirklichen Rechts- und Pflichtbewußtseins der Einzelnen ist sie die allgemeine Form oder Regel der Handlungsinhalte, die sich die Gesellschaftsmitglieder selbst geben. Sie sei hier die Gerechtigkeit im engeren Sinn genannt.
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Gerechtigkeit VIII
2. Die Gerechtigkeit im weiteren Sinn betrifft die Voraussetzung der Rechtsordnung selbst und bedeutet sie als Gesetzmäßigkeit und ebenso das innere Sich-Bestimmen des Menschen zur Gesetzmäßigkeit bzw. sein Bestimmtsein dazu. Innerhalb der griechischen Sophistik ist (bei Kritias, Kallikles und Trasymachos) ein berechtigter Zweifel daran ausgesprochen worden, daß überhaupt das Gerechte ursprünglich von den Menschen gewollt wird, wenn sie miteinander zusammenleben. Erst dieser Zweifel hat der philosophischen Lehre von der Gerechtigkeit Schärfe und Bestimmtheit gegeben, so daß umgekehrt alle Gerechtigkeitstheorien, die keine Begriffe von Art und Stärke des Ungerechten haben, ungleich weniger sachhaltig sind als jene anderen. Aus der Erfahrung bezweifelten jene Sophisten ein ursprüngliches Wollen des Gerechten zugunsten eines Wollens von Macht und Herrschaft. Macht und Herrschaft über die anderen Menschen ist das eigentlich Erstrebte, so daß die Gerechtigkeit nichts wäre als von diesem Streben abhängig, das heißt eines seiner Mittel (vgl. dazu Wolf). Die Macht ist dabei das, was Vorteile (xä ¡¡vfiqieQovra) bringt. Bei Thukydides halten die Melier, die von den Athenern mit dem Hinweis auf die fvficpegovra annektiert werden sollen, den Athenern die — Thukydides bekannte — somatische Lehre entgegen, daß das wahre ^vfi(pegov nur das öixaiov sei (vgl. Thuk. V, 90 u. dazu Wolf 111/2,124 f). —»Piaton hat auf diese Schwächung des Gerechtigkeitsbegriffes in seiner Politeia geantwortet: 1. Das Gerechte ist das — wenn auch nicht von allen Erstrebte — eigentlich Gute. 2. Dieses Gute ist das an sich Mächtige. 3. Weil das Gute an sich mächtig ist, so muß es diese Macht auch wirklich im Staate besitzen. Auf diese Weise hat Piaton die Machtvorstellung der Sophisten in den Begriff der Gerechtigkeit aufgenommen, indem er ihr statt der Stellung eines Zweckes die eines Mittels gab. Die Herrschaft im Staat ist das Mittel der Verwirklichung des Gerechten. Die Gerechtigkeit ist deshalb das Tun dessen, was jedem wahrhaft als das Seinige zukommt im Hinblick auf Herrschen und Beherrschtwerden (rep. 443b. d). Ist das Gute aber an sich mächtig, so scheint es richtiger, statt von einem Äußeren — dem Mittel — bei der Staatsherrschaft von einer Gleichheit des Guten und des Herrschens zu sprechen, d. h. von einer Existenz des Guten = Gerechten als Herrschaft. In beiden Fällen ist etwas Verschiedenes ausgesagt, denn entweder ist die Gerechtigkeit mit der Staatsherrschaft gleich oder beide sind nicht gleich. Piatons Lösung lautet: Die Staatsherrschaft ist zwar mit der Gerechtigkeit nicht gleich, aber sie soll ihr soweit als möglich ähnlich sein. Er unterscheidet deshalb drei Bereiche des Gerechten bzw. Guten. Der unterste Bereich entspricht der Gerechtigkeit im engeren Sinn, der zweite dem weiteren Sinn der Gerechtigkeit und der dritte schließlich einer Begründung auch noch der ursprünglichen Gerechtigkeit. Der erste Bereich enthält die Betätigung bestimmter Fähigkeiten durch die Regelung des wechselseitigen Brauchens bei dieser Tätigkeit (Arbeitsteilung) als ein Beherrschtwerden. Der zweite Bereich enthält die Festsetzung der Regelung des ersten Bereichs sowie die Bestimmung und Betätigung des zur Herrschaft geeigneten Prinzips. Der dritte Bereich betrifft die Herkunft alles Guten aus der Einheit eines höchsten Guten, dessen Erkenntnis zwar Mühe bereitet, aber dennoch einem Menschen möglich ist. Es scheint nun, daß Piaton ein Prinzip der Ordnung dieser Bereiche formuliert, an das er sich aber selbst nicht hält. Das Prinzip ist die Dreigliederung der menschlichen Seele in a) einen begehrenden Teil {ETiLOvfxtfTiHov, rep. 4 3 9 ) - ihm entspricht der erste Bereich, nämlich als Inbegriff des zur Begierde- und Bedürfnisbefriedigung Notwendigen; b) in einen eifernd-strebenden Teil (rö Ovfioeideg, 4 4 1 a ) - ihm entspricht ebenfalls der erste Bereich als Sicherung und Bewahrung der Bedürfnisbefriedigung; und schließlich c) in einen vernunfthaften Teil {Xoyiorixöv, 4 3 9 ) , dem der zweite Bereich entspricht. Der dritte Bereich ist, entgegen neuzeitlichem Vernunftverständnis, nicht mit dem Xoyiorixöv bezeichnet. Dies liegt an dem für die griechische Philosophie maßgeblichen Vorrang des Seins vor dem Erkennen. Nicht die Vernunft selbst ist das Höchste, sondern das Sein, das von ihr vernommen wird. Zufolge dieses Prinzipes entspricht der Aufbau von Gesellschaft und Staat der Seelenstruktur jedes Einzelnen und müßte deshalb besagen, daß alle Staatsbürger gleichberechtigt sind und daß die Herrschaft (die Beziehung des zweiten auf den ersten Bereich) nichts als die Beherrschung ist, die die Vernunft eines jeden über seine Begierden und Eifer ausübt. Der seine Zeit politisch beobachtende Piaton
Gerechtigkeit VIII
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hält diese Folgerung für wirklichkeitsfremd (zu Piatons Stellung gegen die antike und moderne Demokratie vgl. R. Maurer, Platon's .Staat' u. die Demokratie, Berlin 1 9 7 0 ) . Statt auf die Selbstbeherrschung aller zu hoffen, zieht er das Wahrscheinlichere vor, daß nur wenige wirklich vernunftbeherrscht sind. Diese wenigen sollen deshalb die dem ersten Bereich Zugewiesenen beherrschen, indem sie teils anderen, den Weisen, gehorchen, teils (die Weisen selbst) das Höchste vernehmen und von ihm beherrscht sind. Piaton wird nun seinem Prinzip insofern untreu, als er die Einzelnen den als Ganzen bestimmten Bereichen zuordnet, die selbst nur als Betätigung von Seelen/ei/ew jedes Einzelnen gewonnen wurden. Piaton versteht jedoch das Prinzip anders. Mit der Seele des Einzelnen bezeichnet er nicht eine Individualität in ihrer natürlichen und geschichtlichen Konkretion, sondern bloß das Wesen, dessen Existenz variiert. Ferner versteht er jedes der Seelenglieder als Prinzip. Er kann deshalb Produzenten und Händler auf den engeren Bereich festlegen und von der Teilnahme an der Herrschaft ausschließen.
2. Der Einwand gegen Piaton 2.1. —»Aristoteles versucht, die Gerechtigkeit nicht als Herrschaftsverhältnis, sondern als Regel von Tausch und Verteilung zu denken, d.h. dem engeren Bereich zuzuordnen. Er greift ebenfalls aus der Sophistik des Thrasymachos eine Definition der Gerechtigkeit auf, eth. Nie. nämlich daß die Gerechtigkeit das „ G u t des anderen" sei (TO äkkozQiov ayadöv, 1 1 3 0 a 2 ; vgl. Thrasymachos in: Piaton, rep. 3 4 3 c ) . Die Platonische Gerechtigkeitslehre erfaßt nach seiner Ansicht bloß die Relation von Herr und Sklave, nicht aber die zwischen gleichen Gesellschaftsmitgliedern (eth. Nie. V, 15). Er hält es dementsprechend auch für „bedenklich" [emoipaXeg), daß Piaton immer nur dieselben herrschen lasse. Darin liege ein Grund des Aufstandes (pol. II, 1 2 6 4 b 6 f f ) . Wie Piaton schließt aber auch Aristoteles die Mitglieder des erwerbstätigen Standes von der Herrschaft aus. Dieser Ubereinstimmung entspricht die Auszeichnung der ngä^ig vor der jroirjoig bei Piaton (Charm. 163) und Aristoteles. Die herstellende Arbeit geschieht um eines Zieles willen, das von der —»Arbeit verschieden ist, bei der Handlung aber ist das Ziel nicht von dieser verschieden (eth. Nie. VI, 1 1 4 0 b 6 ff). Erst spät in der Neuzeit wird — beginnend bei J . Locke (Second Treatise of Government §§ 3 9 - 4 5 ) — die Arbeit als R.echt und Wert schaffendes Tun philosophisch entdeckt. Aus dieser Umbewertung ergibt sich das erhöhte Interesse an der Gerechtigkeit im engeren Sinn, d.h. an der Regelung von Tausch und Verteilung unter Voraussetzung eines durch Arbeit gegebenen Anspruches aller auf Gerechtigkeit. 2 . 2 . G. W.F. —»Hegel greift diesen Einwand auf: „Das Prinzip Act Selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit" komme in Piatons Staat „nicht zu seinem R e c h t e " (§ 185 Anm.). Und: „Im Platonischen Staate gilt die subjektive Freiheit noch nichts, indem die Obrigkeit noch den Individuen die Geschäfte zuweist" (§ 2 6 2 Zus.). Nun nimmt zwar Hegel das christliche Prinzip der Innerlichkeit des —»Gewissens auf, ordnet es aber dem Allgemeinen der Staatsmacht unter (etwa § 137). Der von Piaton abweichende allgemeine Zugang zu öffentlichen Ämtern wird bei Hegel durch die absolute Stellung des Erbmonarchen kompensiert. Hegel denkt den engeren Bereich der Gerechtigkeit als die bürgerliche Gesellschaft, die selbst eben nicht zu einer gerechten M a c h t findet (§ 183). Der weitere Bereich der Gerechtigkeit soll aber dann der Staat als Machtgefüge sein, wobei Hegel versucht, von dem Machtcharakter abzulenken, indem er die M a c h t in einen Zusammenhang mit Despotie bringt und von „Souveränität" statt von M a c h t und Herrschaft spricht (§ 2 7 8 ) . 2.3. K. R. Popper tadelt an Piaton, 1. - wie Aristoteles und Hegel - daß im Namen der Gerechtigkeit viele von politischen Entscheidungen ausgeschlossen sind und 2. daß Piaton allen „political change" verhindern wollte ( 8 6 f f . 173). Die .offene Gesellschaft' definiert sich durch die Negation beider Sätze. Soll „political change" jedoch neben dem trivialen Sinn des personellen Wechsels der Regierenden eine Verfassungsänderung bedeuten, so müßte Popper auch das Gegenteil der offenen Gesellschaft zulassen. D a er dies ausschließen möchte, läßt seine Gerechtigkeitsvorstellung ebenfalls keinen grundlegenden „political change" zu!
446 3. Bestätigungen
Gerechtigkeit VIII Piatons
3.1. Die SittenlehreI. -*Kants bestätigt das Platonische Gefüge der Gerechtigkeit als Beherrschtwerden und als Herrschen durch ein höchstes Prinzip, wobei dieses Prinzip im Unterschied zu Piaton nicht mehr auf die Vernunft als Erkennen eines höchsten Seienden, sondern auf die Vernunft als Bewußtsein uneingeschränkter Tätigkeit des menschlichen Handelns gegründet wird. Diese aus Kants Negation jedes erkenntniskonstituierenden Charakters der Vernunft abgeleitete Verschiebung kann jedoch das Recht und die Gerechtigkeit nicht mehr begründen. Der platonischen auxpQoavvrj (Einmütigkeit des von Natur Schlechteren mit dem Besseren darüber, daß dieser herrsche, rep. 432 a - b ) entspricht der Gesellschaftsvertrag, mit dem die freien, gleichen und selbständigen Menschen ein Gesetz aufstellen, dem sie zugleich selbst unterworfen sind. Dem durch das Vernehmen des Wahren legitimierten Herrscher bei Piaton entspricht bei Kant der Souverän, gegen den das Volk kein Recht zur Amtsenthebung hat, weil es in diesem Fall die bestehende Verfassung verletzen müßte. Der Souverän ist die oberste Gewalt im Staate, und zwar als Herrschaft, „dem Gesetze gemäß zu zwingen" (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre B 201). Wäre diese Ordnung des engeren durch den weiteren Gerechtigkeitsbegriff einzig eine Anwendung des kategorischen Imperativs, so wäre erreicht, was Kants Ethik als unerreichbar voraussetzt, nämlich die vollständige Erfüllung der Pflicht in der Erscheinungswelt. Kant behauptet also, daß kein Mensch vollkommen moralisch gut sein könne, wohl aber, daß es eine vollkommene Gerechtigkeit gebe. Deshalb meint er z.B. im Strafrecht eine jeweils der Tat gleiche Strafe angeben zu können (B 255ff). Der Begriff des Rechtes läßt sich laut Kant als wechselseitiger und gegenseitiger Zwang' konstruieren und besagt so das Bestehen der Willkür aller einzelnen miteinander, d. h. negativ die Vereitelung gegenseitiger Behinderungen der Betätigungen und positiv die Ermöglichung der Willkürbetätigung. Die Handlungen innerhalb der Rechtsordnung beruhen also auf Willkür und Zwang. Die moralische Handlung beruht dagegen auf der Achtung vor dem Gesetz. Die Moralität ist dabei die allgemeine Gesetzmäßigkeit von Handlungen als Handlung selbst. Die Achtung vor dem moralischen Gesetz bedeutet Notwendigkeit zu handeln (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten B 14). An die Stelle der Erkenntnis des höchsten Seienden tritt das Bewußtsein des Sollens und der notwendigen Tätigkeit, aus der die Annahme eines höchsten Seienden als Postulat der Existenz eines moralischen (gesetzgebenden, regierenden und richtenden) Gottes folgt (Kritik der praktischen Vernunft A 223 ff). 3.2. F. —*Nietzsches Kampf gegen die Moral kann als Versuch ausgelegt werden, die Ethik wieder der Ontologie unterzuordnen und speziell die Platonische Gerechtigkeitslehre hinsichtlich ihres Machtcharakters zu wiederholen. An die Stelle des moralischen Gesetzes, das bei Kant j a schon die ins Unendliche gehende Tätigkeit des Menschen einschloß, setzt er den Willen zur Macht, der jede Gesetzmäßigkeit zugunsten einer Wiederholung des Zufälligen, das zugleich als notwendig geschehend gedacht wird (die sogenannte ,ewige Wiederkehr'), auflöst. Der Gedanke des Willens zur Macht bedeutet die restlose Subjektivierung der Moral als Zerstörung des moralischen Gesetzes, aber die Absolutsetzung dieser Subjektivierung soll umschlagen in die Ontologie des Seins der Welt als ewiger Wiederkehr. 3.3. John Rawls will mit seiner, seit ihrem Erscheinen viel diskutierten Theory of justice (vgl. dazu Höffe) im Anschluß an Kant (und mittelbar an Piaton) Moral und Gerechtigkeit aneinander binden. Kant, für den die achtende Tätigkeit als Selbstbewegung des guten Willens nicht an einen Erfolg des Tätigseins in der Sinnenwelt geknüpft war, läßt Rawls zufolge eine Lücke, eben in der dem moralischen Wollen entsprechenden oder sie ausdrückenden Gerechtigkeit als Existenz. Diese Lücke meint Rawls dadurch zu schließen, daß er eine Herleitung von Gerechtigkeitsprinzipien aus der Moral unternimmt. Die Moral ist dabei die Qualifikation der Individuen im Urzustand („original position"), in welchem über die Art des Gesellschaftsvertrages beschlossen wird, weil die Individuen hier hinter einem „Schleier des Nichtwissens" (speziell
Gerechtigkeit V i l i
447
über ihre empirische Stellung in der Gesellschaft, über die sie beschließen sollen) stehen: „We think of the original position as a point of view from which noumenal selves see the world" (Nr. 4 0 , 2 5 5 ) . Diese moralisch-noumenal bestimmten Menschen drücken nun das Intelligible aws durch die Festlegung auf das Prinzip 1. der gleichen Rechte und Pflichten für alle und 2. der Zulassung von Ungleichheiten nur zum Wohle aller, besonders der Schlechtestgestellten. Rawls nennt diese beiden Sätze die Definition des moralischen Gesetzes („defining the moral law") und „the principles of justice for institutions and individuals" (Nr. 4 0 , 2 5 5 ) . Die Lücke zwischen dem Intelligiblen bei Kant und der Empirie scheint somit geschlossen, das Ziel erreicht: Die beiden Gerechtigkeitsprinzipien sind sowohl moralisches Gesetz a priori als auch empirisch-allgemeine Form der Gerechtigkeit. In Wahrheit gelingt auch Rawls die seit Kant vergeblich gesuchte Verknüpfung von Moral und Gerechtigkeit nicht. Bereits in seinem Ansatz geschieht eine doppelte Vertauschung: 1. Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze sind nur Teile einer,idealen' Theorie im Unterschied zur nicht-idealen, die den empirischen Anwendungsbereich jener bezeichnet. 2. Der Urzustand, wie ihn Rawls versteht, bezeichnet nicht das intelligible Wollen Kants, sondern bloß das Bewußtsein der Menschen von empirischer Gesetzmäßigkeit, d.h. es wird von allen individuellen empirischen Zügen der Menschen zugunsten ihrer Vorstellung des empirisch Allgemeinen abstrahiert. - Im ersten Fall setzt Rawls also für die empirisch geltende Gerechtigkeit die „ideale", im zweiten Fall für die intelligible Bestimmtheit eine empirische ein. Infolge dieser Vertauschung ist die gesuchte Verknüpfung von Moralität und wirklicher Gerechtigkeit nicht möglich: Erstens entsteht der Unterschied des Idealen und Wirklichen, der nur in der platonischen Form eine Verknüpfung ergäbe. Zweitens wäre Kants Position sinnwidrig umgekehrt, weil aus der empirisch gemeinten Ursituation die .idealen' zwei Grundsätze hergeleitet würden. Unabhängig von diesem Mangel enthält Rawls' Schrift wertvolle Einsichten zu einer nicht-utilitarischen Regelung der Gerechtigkeit. Diese Einsichten sind allerdings insgesamt pragmatisch (.pragmatisch' verstanden als Kennzeichen von Regeln, nämlich als deren Bewährung oder Anwendbarkeit), d. h. sie leisten nicht die philosophisch erforderliche Verknüpfung von Moral und Gerechtigkeit.
W. Kaufmann hat 1 9 7 4 mit seinem Buch Jenseits von Schuld und Gerechtigkeit aus der seit Kant herrschenden philosophischen Schwierigkeit die Konsequenz gezogen, auf die Gerechtigkeit überhaupt zu verzichten. Es lasse sich, so argumentiert er, weder im Bereich der Güterverteilung noch im Strafrecht mit Gewißheit angeben, was jeweils das ,Verdiente' sei. Was Kaufmann übrigläßt, soll Autonomie als individuelles vernünftiges Entscheiden sein, d.h. also weder ein apodiktisches Moralgesetz noch eine Ontologie. Diese Konsequenz ist unhaltbar, weil ein ,individuelles vernünftiges Entscheiden' entweder allgemeine Moralität impliziert oder, im entgegengesetzten Fall, diese auf es anwendbar wäre. Somit wird es möglich, eine Liste der Möglichkeiten aufzustellen, die das Gerechtigkeitsproblem nicht lösen: a) Ein Individualismus oder Egoismus, wie ihn Kaufmann vorschlägt. — b) Ein Pragmatismus als Prinzip ergibt ebenfalls keine Lösung. Dieser Weg bietet sich insofern an, als ja Kant den guten Willen nicht durch seinen Erfolg qualifiziert. Das wirkliche Handeln erfolgt dann nur nach Klugheitsregeln. Soll damit eine gerechte Regelung des Zusammenlebens ermöglicht werden, so liegt im Grundsatz der Klugheit, daß sie gar nicht die Gerechtigkeit will, sondern wesentlich den Vorteil des Klugen. - c) Nicht haltbar ist der schon bezeichnete Weg Kants und - als Umkehrung - Rawls' als ein Nebeneinander einer nicht auf den Erfolg zielenden Moralität und einer konstruktiven Gerechtigkeit. — d) Schließlich ist unhaltbar die Lehre einer durch den Geschichtsverlauf sich ereignenden Versöhnung von Moralität und Gerechtigkeit im Sinne Hegels. Denn die Geschichte als gemeinsames Handeln kann so und anders verlaufen, so daß höchstens ein zufälliges Zusammenkommen beider möglich ist. Es bleiben m. E. zwei Lösungswege übrig: 1. Die Erneuerung der Kantischen Morallehre ohne die konstruktive Gerechtigkeit, 2. die Unterordnung der Moral unter eine Ontologie. Solange diese beiden Möglichkeiten nicht gesehen und von den vier Abwegen unterschieden werden, wird die Philosophie noch lange Zeit brauchen, um eine Lösung bereitzuhalten und damit ihre alte Stellung eines glaubwürdigen Ratgebers in individuellen und politischen Entscheidungen wiederzugewinnen.
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Gerhard, Jobann
Literatur Erich Fechner, Rechtsphil. Soziologie u. Metaphysik des Rechts, Tübingen 1956. - Arnold Gehlen, Moral u. Hypermoral, Frankfurt 3 1973. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. VII. Grundlinien der Phil, des Rechts, Frankfurt 1973. - Otfried Höffe (Hg.), Über J. Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1977. - Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten: ders., Werke, hg. v. W. Weischedel, IV. Sehr, zur Ethik u. Religionsphil., Darmstadt 1956 = 4 1975. - Ders., Kritik der praktischen Vernunft: ebd. - Walter Kaufmann, Jenseits v. Schuld u. Gerechtigkeit. Von der Entscheidungsangst zur Autonomie, Hamburg 1974. - Werner Maihofer, Recht u. Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie, Frankfurt 1954. - Reinhart Maurer, Piatons „Staat" u. die Demokratie, Berlin 1970. - Friedrich Nietzsche, Werke, hg. v. K. Schlechta, 3 Bde., Darmstadt 1966. - Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, München 1976. - Karl R. Popper, The Open Society and its Enemies, London, I 1974. - John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1972. - Bernhard Taureck, Autonomie ohne Gerechtigkeit?: Wiener Jb. 15 ( 1983). - Ders., Die Zukunft der Macht, Würzburg 1983. - Wilhelm Weischedel, Recht u. Ethik, Karlsruhe 1956. - Erik Wolf, Griech. Rechtsdenken, Frankfurt, II o. J. - Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, München "1978. Bernhard Taureck Gerhard, Johann 1. Leben
2. Werk
(1582-1637) 3. Bedeutung und Nachwirkung
(Quellen/Literatur S.452)
1. Leben Joh. Gerhard gilt als der gelehrteste und bekannteste Vertreter der lutherischen - » O r thodoxie. J.B. -»Bossuet meinte 1 6 8 8 , Gerhard sei „der dritte Mann der Reformation nach Luther und Chemnitz" gewesen (Fischer 3 7 0 ; Loci, ed. Cotta, I 1 7 6 2 , Praef. X X X I V ; zit. Baur 99). Gerhard wurde am 17. Oktober 1582 als Sohn einer vornehmen Ratsfamilie in Quedlinburg geboren. Sein Vater Bartholomäus (1554-1598) war Ratskämmerer und Schatzmeister der Fürstäbtissin von Quedlinburg, die Mutter Margareta (1556-1624) Tochter des Halberstädter Bürgermeisters Johannes Bernd. Als 15jähriger erlitt Gerhard eine Krankheit, die ihn auch seelisch sehr bedrängte. Geistlichen Beistand leistete ihm J. —»Arndt, der damals Pfarrer in Quedlinburg war. Auf dessen Einfluß wird die Bereitschaft Gerhards zurückgeführt, Theologe zu werden. 1599 nahm er das Studium in -»Wittenberg auf und studierte zunächst, durch einen vornehmen Verwandten bestimmt, Medizin. Nach dessen Tod studierte er in —»Jena Theologie. Nach Erlangung des philosophischen Magistergrades 1603 hielt er philosophische Privatvorlesungen und danach mit besonderer Erlaubnis der theologischen Fakultät theologische Vorlesungen. 1603 traf ihn erneut eine schwere Krankheit (ein Testament aus dieser Zeit bei Fischer 2 9 - 3 7 ) . 1604 setzte er das theologische Studium in dem damals lutherischen -»Marburg fort. Johannes Winckelmann (1551-1626) und Balthasar Mentzer (1565-1627) wurden seine eigentlichen theologischen Lehrer. Gerhard begleitet Mentzer auf einer Reise nach Stuttgart, Tübingen und Straßburg (15.3.—5.4.1605; vgl. Fischer 40). Als Landgraf Moritz die reformierte Lehre in Hessen-Kassel einführte, siedelten die lutherischen Theologieprofessoren nach -»Gießen über. Gerhard ging auf Wunsch seiner Mutter 1605 nach Jena zum Studium zurück. 1606 berief ihn Herzog Johann Casimir von Coburg zum Superintendenten in Heldburg. Ehe er dieses Amt antrat, verlieh ihm die Jenaer Fakultät die Würde des theologischen Doktors. In Coburg führte er eine Landesvisitation durch. Einmal monatlich hielt er in Coburg theologische Disputationen ab. In vier Jahren nahm er die gesamten theologischen Loci durch. 1615 trat er die Generalsuperintendentur in Coburg an. Die von ihm 1615 verfaßt e Kirchenordnung wurde 1616 veröffentlicht. Herzog Casimir hatte die Annahme an ihn ergangener Berufungen auf eine Professur nach Jena (1610 und 1611) und Wittenberg (1613) untersagt, weil er als Theologe für die Coburgische Landeskirche unentbehrlich sei. Erst 1616 konnte er eine Berufung nach Jena annehmen. Viermal war er Rektor; 24 Berufungen lehnte er ab (u.a. nach Uppsala, vgl. Fischer 184ff). Er lehrte in Jena bis zu seinem Tode am 17. August 1637. Gerhard kam durch fürstliche Geschenke, Gutachten u. a. zu beträchtlichem Wohlstand, so daß sogar Fürsten und Magistrat in der Notzeit des —»Dreißigjährigen Krieges ihn um Darlehen angingen. Eine führende Rolle spielte Gerhard auf den vom Dresdner Oberhofprediger Mathias Hoé von Hoénegg (1580-1645, seit 1613 kursächsicher Oberhofprediger) einberufenen Zusammenkünften. Diese Versammlungen beanspruchten, als lutherische Theologenkonvente, die oberste Lehrkompetenz für die lutherische Kirche. Die erste Zusammenkunft in Jena 1621 verwarf die Helmstedt'sche Theologie und Philosophie (—»Calixt, -»Helmstedt). 1624 wurde in Leipzig in der Decisio Saxonia Stellung genommen zu den zwischen den Tübingern und Gießener Theologen ausgebrochenen christologischen Streitigkei-
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Gerhard, Jobann
Literatur Erich Fechner, Rechtsphil. Soziologie u. Metaphysik des Rechts, Tübingen 1956. - Arnold Gehlen, Moral u. Hypermoral, Frankfurt 3 1973. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. VII. Grundlinien der Phil, des Rechts, Frankfurt 1973. - Otfried Höffe (Hg.), Über J. Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1977. - Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten: ders., Werke, hg. v. W. Weischedel, IV. Sehr, zur Ethik u. Religionsphil., Darmstadt 1956 = 4 1975. - Ders., Kritik der praktischen Vernunft: ebd. - Walter Kaufmann, Jenseits v. Schuld u. Gerechtigkeit. Von der Entscheidungsangst zur Autonomie, Hamburg 1974. - Werner Maihofer, Recht u. Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie, Frankfurt 1954. - Reinhart Maurer, Piatons „Staat" u. die Demokratie, Berlin 1970. - Friedrich Nietzsche, Werke, hg. v. K. Schlechta, 3 Bde., Darmstadt 1966. - Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, München 1976. - Karl R. Popper, The Open Society and its Enemies, London, I 1974. - John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1972. - Bernhard Taureck, Autonomie ohne Gerechtigkeit?: Wiener Jb. 15 ( 1983). - Ders., Die Zukunft der Macht, Würzburg 1983. - Wilhelm Weischedel, Recht u. Ethik, Karlsruhe 1956. - Erik Wolf, Griech. Rechtsdenken, Frankfurt, II o. J. - Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, München "1978. Bernhard Taureck Gerhard, Johann 1. Leben
2. Werk
(1582-1637) 3. Bedeutung und Nachwirkung
(Quellen/Literatur S.452)
1. Leben Joh. Gerhard gilt als der gelehrteste und bekannteste Vertreter der lutherischen - » O r thodoxie. J.B. -»Bossuet meinte 1 6 8 8 , Gerhard sei „der dritte Mann der Reformation nach Luther und Chemnitz" gewesen (Fischer 3 7 0 ; Loci, ed. Cotta, I 1 7 6 2 , Praef. X X X I V ; zit. Baur 99). Gerhard wurde am 17. Oktober 1582 als Sohn einer vornehmen Ratsfamilie in Quedlinburg geboren. Sein Vater Bartholomäus (1554-1598) war Ratskämmerer und Schatzmeister der Fürstäbtissin von Quedlinburg, die Mutter Margareta (1556-1624) Tochter des Halberstädter Bürgermeisters Johannes Bernd. Als 15jähriger erlitt Gerhard eine Krankheit, die ihn auch seelisch sehr bedrängte. Geistlichen Beistand leistete ihm J. —»Arndt, der damals Pfarrer in Quedlinburg war. Auf dessen Einfluß wird die Bereitschaft Gerhards zurückgeführt, Theologe zu werden. 1599 nahm er das Studium in -»Wittenberg auf und studierte zunächst, durch einen vornehmen Verwandten bestimmt, Medizin. Nach dessen Tod studierte er in —»Jena Theologie. Nach Erlangung des philosophischen Magistergrades 1603 hielt er philosophische Privatvorlesungen und danach mit besonderer Erlaubnis der theologischen Fakultät theologische Vorlesungen. 1603 traf ihn erneut eine schwere Krankheit (ein Testament aus dieser Zeit bei Fischer 2 9 - 3 7 ) . 1604 setzte er das theologische Studium in dem damals lutherischen -»Marburg fort. Johannes Winckelmann (1551-1626) und Balthasar Mentzer (1565-1627) wurden seine eigentlichen theologischen Lehrer. Gerhard begleitet Mentzer auf einer Reise nach Stuttgart, Tübingen und Straßburg (15.3.—5.4.1605; vgl. Fischer 40). Als Landgraf Moritz die reformierte Lehre in Hessen-Kassel einführte, siedelten die lutherischen Theologieprofessoren nach -»Gießen über. Gerhard ging auf Wunsch seiner Mutter 1605 nach Jena zum Studium zurück. 1606 berief ihn Herzog Johann Casimir von Coburg zum Superintendenten in Heldburg. Ehe er dieses Amt antrat, verlieh ihm die Jenaer Fakultät die Würde des theologischen Doktors. In Coburg führte er eine Landesvisitation durch. Einmal monatlich hielt er in Coburg theologische Disputationen ab. In vier Jahren nahm er die gesamten theologischen Loci durch. 1615 trat er die Generalsuperintendentur in Coburg an. Die von ihm 1615 verfaßt e Kirchenordnung wurde 1616 veröffentlicht. Herzog Casimir hatte die Annahme an ihn ergangener Berufungen auf eine Professur nach Jena (1610 und 1611) und Wittenberg (1613) untersagt, weil er als Theologe für die Coburgische Landeskirche unentbehrlich sei. Erst 1616 konnte er eine Berufung nach Jena annehmen. Viermal war er Rektor; 24 Berufungen lehnte er ab (u.a. nach Uppsala, vgl. Fischer 184ff). Er lehrte in Jena bis zu seinem Tode am 17. August 1637. Gerhard kam durch fürstliche Geschenke, Gutachten u. a. zu beträchtlichem Wohlstand, so daß sogar Fürsten und Magistrat in der Notzeit des —»Dreißigjährigen Krieges ihn um Darlehen angingen. Eine führende Rolle spielte Gerhard auf den vom Dresdner Oberhofprediger Mathias Hoé von Hoénegg (1580-1645, seit 1613 kursächsicher Oberhofprediger) einberufenen Zusammenkünften. Diese Versammlungen beanspruchten, als lutherische Theologenkonvente, die oberste Lehrkompetenz für die lutherische Kirche. Die erste Zusammenkunft in Jena 1621 verwarf die Helmstedt'sche Theologie und Philosophie (—»Calixt, -»Helmstedt). 1624 wurde in Leipzig in der Decisio Saxonia Stellung genommen zu den zwischen den Tübingern und Gießener Theologen ausgebrochenen christologischen Streitigkei-
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ten über Krypsis oder Kenosts der göttlichen Natur Christi. 1628 und 1630 verwahrte man sich gegen die —»Jesuiten, welche behaupteten, die Evangelischen seien vom Augsburger Bekenntnis abgefallen und damit des Religionsfriedens verlustig gegangen. Beide Versammlungen urteilten auch im Rahtmannschen Streit. Vielfachen Rat erteilte Gerhard auch Fürsten in persönlichen und politischen Angelegenheiten. Zweimal verheiratet, 1608 mit der damals noch nicht vierzehnjährigen Barbara Neumaier, die 1611 starb, und 1614 mit Maria Mattenberg (gest. 1660), hatte er aus der zweiten Ehe 10 Nachkommen. Der Sohn Johannes Ernst Gerhard, gleichfalls Professor der Theologie in Jena, hat Gerhards Nachlaß herausgegeben. 2.
Werk
2.1. Von den Hauptwerken Johann Gerhards ist, vor allen anderen Schriften, wichtig das dogmatische Hauptwerk Loci theologici, cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervöse solide et copiose explicati. Die 3 1 Loci begann Gerhard in Heldburg und vollendete sie in Jena. Sie erschienen in 9 Quartbänden Jena 1 6 1 0 - 1 6 2 2 ; Neuausgaben veranstalteten der Tübinger Professor und Kanzler J . F . C o t t a 1 7 6 2 - 1 7 8 9 in 2 2 Quartbänden sowie E d . P r e u ß , Berlin 1 8 6 3 ff. Die Loci stellen den Standpunkt der lutherischen H o c h o r t h o d o x i e (—»Orthodoxie, Altlutherische) eindrucksvoll und ausführlich dar, sie sind die umfassendste lutherische Dogmatik. Neben dem Bemühen um dogmatische Korrektheit zeigt sich auch Gerhards praktisches Interesse, wenn er jeden Locus mit einem Abschnitt De usu beschließt. Das polemische Hauptwerk ist die Confessio catholica (vollständiger Titel: Doctrina catholica et evangelica, quam ecclesiae Augustanae Cottfessioni addictae profitentur, ex Romano Catholicorum scriptorum suffragiis confirmata, 2 Bücher in 4 Teilen, Jena 1 6 3 3 — 1 6 3 7 ) . D i e C o n f e s s i o catholica enthält einen einbändigen allgemeinen Teil und behandelt in concilii 3 Bänden in 2 4 Artikeln die kontroversen Artikel. N a c h M . —»Chemnitz' Examen Tridentini ist dies die bedeutendste Apologie der lutherischen Theologie gegen die Einwände und Kritik der katholischen Theologen. Schon früher hatte Gerhard sich mit R. —»Bellarmini auseinandergesetzt: Bellarminus ögGodo^iag testis etc. (Jena 1 6 3 1 — 1 6 3 3 ) . Der von M . C h e m n i t z begonnenen und von P. Leyser fortgeführten —»Evangelienharmonie, der sog. Harmonia Chemnitio Lyseriana fügte Gerhard 1 6 2 6 / 2 7 die Erklärung der Leidens- und Auferstehungsgeschichte an (vgl. T R E 1 0 , 6 3 3 f). Außerdem gibt es eine Reihe von Kommentaren und Annotationes zu verschiedenen biblischen Büchern, die nach seinem T o d veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren seines Lebens beteiligte er sich ferner an der Herausgabe des —»Bibelwerkes Herzogs Ernst des F r o m m e n (vgl. T R E 6 , 3 1 1 f); er besorgte eine Zeitlang dessen Redaktion und bearbeitete selbst Genesis, Daniel und Apokalypse. P o s t u m g a b sein Sohn die Patrologia heraus ( 1 6 5 3 ) , deren Stoff bereits in den Hauptwerken verarbeitet ist; der Begriff „Patrologie" ist vermutlich von ihm geprägt worden, freilich nicht aus historischen, sondern aus dogmatischen Interessen, um die evangelische Lehre aus den Kirchenvätern zu belegen. 2.2. Charakteristisch für seine Auffassung von Theologie ist die Jenenser Antrittsschrift Methodus studii theologici (1617), in derer als Einführung in das-»Theologiestudium das Schriftstudium betont. Die Jugendschrift Meditationes sacrae (1610; 51 Betrachtungen, zunächst zum Zweck eigener —»Erbauung verfaßt) steht unter Joh. —»Arndts Einfluß und zeigt eine Neigung zur mystischen Kontemplation (vgl. zur Berufung auf Arndt auch den locus de evangelio VI,195). Die Meditationen wurden weit verbreitet durch verschiedene deutsche Drucke und Übersetzungen in die französische, englische, polnische, schwedische, finnische, italienische, griechische, arabische, ja sogar räto-romanische Sprache (Fischer 445 f). Die Meditationen enthalten außer Schriftbetrachtungen auch Überlegungen aus Augustin, Anselm, Bernhard, Thomas von Kempen. Später distanzierte sich Gerhard von Arndt als Weigelianer (—»Weigel, V.) und Vertreter schwärmerischer Ansichten (fanaticae opiniones, vgl. Fischer 514—516: Gerhards Brief vom 2. Februar 1625 anN. -»Hunniusnach dessen Anfrage wegen Gerhards Stellung zu Arndt). Die umfangreicheSchola pietatis, d.i. christliche und heilsame Unterrichtung zur Gottseligkeit . . . (Jena 1 6 2 2 - 1 6 2 3 ) ist dagegen kühler und nüchterner in ihrer Frömmigkeit und orthodoxer in den Lehraussagen. Gerhard stellt hier auf über 1000 Seiten in 5 Büchern den Weg zur Gottseligkeit (pietas) dar, wobei Buch 3 bis 5 eine ins Einzelne gehende Dekalogauslegung enthält. Die Schola enthält Gerhards Ethik in Form der Paränese zum christlichen Leben (s.u. Abschn. 2.8).
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2.3. In der theologischen Methode folgen Gerhards Loci nicht der reinen Lokalmethode, sondern bemühen sich um stärkere systematische Durchgliederung. Dabei benutzt er die von Cornelius Martini ( 1 5 6 8 - 1 6 2 1 ) , seit 1592 Professor der Philosophie in Helmstedt, und dessen Namensvetter Jakob Martini ( 1 5 7 0 - 1 6 4 9 ) , seit 1602 Professor der Logik, seit 1623 Professor der Theologie in -»Wittenberg, erneuerte aristotelische Schulphilosophie und Metaphysik (vgl. dazu Spam u. T R E 3,794). Die Artikel werden formal gegliedert mit Hilfe des aristotelischer Schulphilosophie entstammenden Schemas der vier causae (Wirkursachen), (causa efficiens, materiatis, formalis, finalis), das freilich mit überlieferten dogmatischen Einteilungen zum Teil kollidiert. Gerhard empfahl im Metbodus studii theologici die aristotelische Philosophie als begriffliches wissenschaftliches Werkzeug im Gebrauch des usus organicus der Vernunft. der lutherischen Orthodoxie ist mehrfach am Beispiel Gerhards untersucht 2.4. DiePrinzipienlehre worden (so von Troeltsch). -»Troeltschs Fragestellung ist geleitet von der Frage nach dem Verhältnis von rationaler, philosophischer Gotteserkenntnis und übernatürlicher, supranaturaler Offenbarung sowie der Verschiedenheit von Altprotestantismus und Neuprotestantismus, von mittelalterlichem Charakter des reformatorischen Denkens und Aufklärung (vgl. E.Troeltsch, Meine Bücher: IV 1925, 7). Dabei tritt die Ausrichtung der Theologie auf das Heil bei Gerhard hinter der erkenntnistheoretischen Fragestellung zurück. Gerhard bestimmt Theologie als habitus deöodorog, eine Haltung, „die vom Heiligen Geist durch das Wort einem Menschen zugebracht wird, durch die er nicht nur in der Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse mittels der Erleuchtung des Geistes herangebildet wird, damit er, was er erkennt, in Bewegungen des Herzens und das Tun der Werke heilsam überführe, sondern auch fähig und beweglich gemacht wird, von jenen göttlichen Geheimnissen und vom Weg des Heils andere prägend zu unterrichten und die himmlische Wahrheit vor den Verderbnissen der Widersprechenden zu schützen, damit Menschen, durch den wahren Glauben und gute Werke ausgezeichnet, zum Himmelreich geführt werden" (Theologia [habitualiter et concretive considerata] est habitus deöodoroi; per verbum a Spiritu sancto homini collatus, quo non solum in divinorum mysteriorum cognitione per mentis illuminationem instruitur, ut quae intelligit in affectum cordis et exsecutionem operis salutariter traducat, sed etiam aptus et expeditus redditur de divinis Ulis mysteriis, ac via salutis alios informandi, ac coelestem veritatem a corruptelis contradicentium vindicandi, ut homines fide vera et bonis operibus rutilantes ad regnum coelorum perducantur [Prooem. § 31, ed Preuß 1,8]). Wallmann hat im Vergleich mit G. —>Calixt, welcher Theologie als rationale, „akademische" Wissenschaft betreiben will, den existentiellen Charakter von Gerhards Verständnis von Theologie herausgearbeitet und deren Eigenart als scientia practica betont. Die Bestimmung der Theologie als habitus OeoadoTOS soll den reformatorischen Ansatz festhalten, wonach Theologie, Glaube und Verkündigung von der Frage nach dem persönlichen Heil, der -»Rechtfertigung veranlaßt und geleitet sind. Eine Spannung zwischen Gotteslehre und Heilslehre besteht freilich bei Gerhard, da er in der Gotteslehre sich auf die aristotelische Metaphysik stützt. 2.5. In der Prinzipienlehre hat vor allem die Lehre von der Heiligen Schrift die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen (—»Schriftauslegung). Gerhard ist, wie die gesamte altprotestantische Orthodoxie, Vertreter einer strengen Inspirationslehre (—»Fundamentalismus). Die Heilige Schrift ist das unicum et proprium theologiae principium (Loci I, l a ; vgl. Hägglund 1 3 6 f f ) . Diese Fassung des Schriftprinzips ist durch die antirömische Polemik, nämlich den Widerspruch gegen das katholische Autoritäts- und Traditionsprinzip geprägt. Die Schrift ist die Grundlage der Kirche, weil sie das unfehlbare W o r t Gottes ist. Den W o r t verbi laut der Schrift und den Umfang des —»Kanons hat Gott selbst festgelegt. Dieauctontas ist durch die Inspiration gesichert. Die efficacia verbi wird v o m testimonium Spiritus sancti internum bewirkt (vgl. Hägglund 9 0 — 9 6 ) . Gerade als objektive Wahrheit und wegen ihrer historischen und sachlichen Richtigkeit ist die Schrift Gnadenmittel. Im Rahtmannschen Streit hat Gerhard die o r t h o d o x e Verbindung des W o r t e s mit dem Geist vertreten (vgl. Hägglund 2 5 3 — 2 5 6 ; Kirste 8 5 — 8 8 ) , so auch in seinem 1 6 2 8 auf Befehl des sächsischen Kurfürsten verfaßten T r a k t a t Von der Natur, Krafft und Wirkung des geoffenbarten und geschriebenen Wortes Gottes. 2.6. V o m gegenwärtigen evangelisch-katholischen Gespräch veranlaßt, sind Vergleiche der Theologie Gerhards mit der des —»Thomas von Aquin (Scharlemann) und mit R. —>Bellarminis Schriftlehre (Kirste). W ä h r e n d Scharlemann die beiden „Klassiker" Gerhard und T h o m a s umfassend, wenn auch fast nur referierend im Blick auf Schöpfung (Gottebenbildlichkeit, „ N a t u r " des Menschen) und Neuschöpfung (Rechtfertigung, Glaube, Liebe) vergleicht, konzentriert sich Kirste auf das Schriftverständnis, und hier vor allem auf den „her-
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meneutisch-polemischen Z e n t r a l b e g r i f f " testimonium spiritus sancti internum, den bereits D. F. —»Strauß die „Achillesferse des protestantischen Systems" (Die christl. Glaubenslehre, Tübingen/Stuttgart, 1 1 8 4 0 , 1 3 6 ) nannte. Die historisch-kritische Schriftforschung mit ihren Einsichten in den differenzierten Prozeß der Traditions- und Kanonbildung und die Strittigkeit der Auslegung stellen die Frage nach der Tragfähigkeit des Schriftprinzips und seiner Abgrenzung gegen das kirchliche Lehramt neu und verändert, zumal nachdem Bellarminis und Gerhards gemeinsame metaphysische und philosophische Grundvoraussetzungen (in Gestalt der aristotelischen Metaphysik) hinfällig wurden. Bereits im 1 7 . J h . bildete freilich die Ekklesiologie (—»Kirche) den eigentlichen Streitpunkt zwischen lutherischer und römisch-katholischer Lehre. Schenke sieht Gerhards Kirchenverständnis durch eine doppelte Abgrenzung bestimmt: einerseits gegen den katholischen Anstaltsgedanken, andererseits gegen das „ S e k t e n i d e a l " (wie er im Anschluß an Troeltsch formuliert) der M y s t i k e r und Spiritualisten. Die sichtbare Kirche ist als coetus vocatorum ein corpus permixtum; d i e e c c l e s i a vera et interna ist die unsichtbare Gemeinschaft der w a h r h a f t Glaubenden (Loci 2 2 , K a p . 7 , ed. C o t t a V , 3 0 7 b ) . Die unsichtbare Kirche ist
der coetus vere renatorum et electorum in illo (externo) coetu, qui Deo cordium et renum
scrutatori cogniti sunt. Die Frage, inwieweit der Glaubensstand der Christen und vor allem der Amtsträger die Kirche als Glaubensgemeinschaft konstituiert (so M . J a c o b s zur Abgrenzung des genuin lutherischen Kirchenbegriffs Gerhards gegen M e l a n c h t h o n s Verständnis der Kirche als Lehranstalt), ist strittig. Gerhards R ü c k g r i f f auf die überlieferte Dreiständelehre in der Lehre von der Kirchenordnung ist als theologisch eigenständiger Ansatz für ein partikularkirchliches Verfassungsprinzip zu deuten (vgl. H o n e c k e r ) : Gemeinde, Amtsträger und Obrigkeit ( m a g i s t r a t u s , ecclesia, oeconomia) sollen bei allen wichtigen Entscheidungen in einer Partikülarkirche zusammen wirken. Die cura religionis magistratus Christiani bleibt freilich als staatsrechlicher Titel unangetastet. D a m i t verteidigt Gerhard das ius reformandi des Landesherrn im Blick auf das Reichsrecht, w ä h r e n d er für die innere Ordnung der evangelischen Kirche keine alleinige und originäre Zuständigkeit des Landesherrn aus den staatlichen Hoheitsrechten herleitet. Dies wird ermöglicht mit Hilfe der Unterscheidung von innerer und äußerer Kirchengewalt (potestas ecclesiastica interna et externa). 2.7. Eine Eigentümlichkeit in der — > E s c h a t o l o g i e Gerhards ist die Behauptung e i n e r a n nihilatio mundi (vgl. Stock; P. Althaus, Die letzten Dinge, Gütersloh, 9 1 9 6 1 , 3 5 3 — 3 6 5 ) , wonach nicht eine Erneuerung der Welt am Ende zu erwarten ist, sondern deren Vernichtung und völlige Neuschöpfung. Althaus sieht in der Preisgabe der W e l t in der Eschatologie „den Einbruch der Mystik in die lutherische T h e o l o g i e " ( 3 5 8 ) und eine Verneinung der W e l t als Schöpfung, wohingegen Stock im Begriff der annihilatio mundi „eine umfassende M e t a pher der F r e i h e i t " findet, welche die Freiheit Gottes gegenüber der Welt und jeder Einordnung in ein System des Seienden wahren soll (Stock 1 8 5 ; vgl. T R E 1 0 , 3 1 7 ) . 2.8. In G e r h a r d s W e r k ist umfassend auch die - > E t h i k enthalten (vgl. T R E 1 0 , 4 8 9 ) . E r hat ein eigenständiges Interesse an der sittlichen Praxis. Leitbegriffe der Individualethik sind —»Buße (vgl. T R E 8 , 4 7 8 ) , —»Sünde, —»Bekehrung, neues Leben; mit ihnen befaßt sich — einseitig - Hupfeld. „ E s ist das Problem der Individualethik, das G e r h a r d beschäftigt" (Hupfeld 2 5 4 ) . Hupfeld rückt dadurch Gerhards Ethik in die N ä h e Arndts, indem er ihm unlutherische Elemente in Gestalt eines religiösen Eudämonismus und der Neigung zur —»Askese zuschreibt (Hupfeld 2 5 6 - 2 6 1 ) . Dabei ist jedoch verkannt, daß poenitentia und sanctificatio auch Grundbegriffe lutherischer -»Dogmatik und in der Rechtfertigungslehre verankert sind (vgl. Leube, Orthodoxie u. Pietismus 33: Hupfeld „sieht Johann Gerhard zu stark von der Ethik Johann Arndts her. In dem religiösen Eudämonismus und der Askese werden unlutherische Elemente nachgewiesen. Auch überschätzte er das individualethische Interesse Gerhards"). Die Theologen des orthodoxen Luthertums haben sich immer nicht nur mit den dogmatischen Grundlagen der Ethik befaßt, sondern sich zu allen Phänomenen der Lebenswelt geäußert und Staat und Kirche Kultur vermittelt. Die Loci 24 (De magistratu politico) und 25 (De conjugio) sind sehr umfangreich. Die Materialfülle und das Streben nach Lebensnähe führen freilich immer wieder zu kasuistischen Einzelregelungen. Grundlage des Sozialethos ist die Lehre vom —»Gesetz, der ethischen Forderung als natürlichem Moralgesetz. Die Konkretion im einzelnen erfolgt
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mit Hilfe der Dreiständelehre und der durch sie festgelegten unterschiedlichen Sozialpflichten. Das Ethos ist im einzelnen zeitgebunden, aber nicht statisch oder gar quietistisch. Paradigmatisch zeigt dies Uhi anhand der Loci, wobei er einseitige Werturteile von Troeltsch (in den Soziallehren) über das orthodoxe Luthertum anhand der Quellen richtigstellt. 3. Bedeutung
und
Nachwirkung
Gerhard ist der „Klassiker der O r t h o d o x i e " (Baur 9 9 ) und repräsentiert als solcher ohne polemische Überspitzungen deren dogmatische Grundaussagen. Die Selbstaussage zu seinem Charakter im Brief an Meisner 1 6 2 5 : Mihi perquam adversum est inter odia etsimultates vivere, quum pacis et quietis sum amantissimus et studiossismus (zit. Tholuck, Lebenszeugen 1 7 9 ) , ist freilich kritisch zu sehen. Ein Ireniker war Gerhard nicht. Nachwirkungen sind dort noch lebendig, w o aufgrund eines auf die Verbalinspirationslehre begründeten Schriftprinzips und eines biblizistischen Ansatzes Theologie im Stil wie vor der Aufklärung betrieben wird (vgl. Preus); dabei ist ein Verzicht auf die aristotelische Schulphilosophie und Metaphysik des Seins durchaus möglich, womit freilich auch auf den Reflexionsanspruch verzichtet wird, den Gerhards theologische Arbeit - unter den Bedingungen ihrer Zeit! - erhebt. Seine eigene Sicht des Luthertums hat er in den Sacrarum Homiliarum in Pericopas Evangeliorum dominicalium et praecipuorum (Jena 1 6 3 4 ) als der Konfession der Mitte zwischen Papsttum und Calvinismus bezeichnet (Fischer 4 5 8 ) . Keine Auseinandersetzung mit Grundlagen, Methode und Anliegen der lutherischen Orthodoxie kann an Gerhards W e r k vorübergehen. Quellen Grundlegend ist für àie Biographie nach wie vor: Erdmann Rudolph Fischer, Vita Joannis Gerhardi, Leipzig 1723. — Der Nach laß Gerhards befindet sich in der Landesbibliothek Gotha-Schloß Friedenstein, mit zahlreichen handschriftlichen Brieftexten. - Aus seinem umfangreichen Briefwechsel ist neben Fischers Wiedergabe von 21 Briefen Gerhards (Fischer 5 0 2 - 5 5 2 ) veröffentlicht: G. M. Raidel, Epistolae virorum eruditorum ad Johannem Gerhardum, Nürnberg 1740. - A. Tholuck (Hg.), Spicilegium ex commercio epistolico Johannis Gerhardi theologi Jenensis, Halle 1864. Eine Gesamtausgabe der Schriften Gerhards gibt es nicht; Werkverzeichnis:
Fischer 3 7 6 - 5 0 1 .
Einzelwerke (in Auswahl): Meditationes sacrae ad veram pietatem excitandam et interioris hominis profectum promovendum accomodatae, Jena 1606; dt. 1607 (K. Kindt [Hg.], Vom Kampf u. Trost der gläubigen Christenheit, 1937—1941). — Tractatus de legitima scripturae sacrae interpretatione, Jena 1610. - Ausführliche schriftmessige Erklerung der beyden Artickel v. der hl. Taufe u. dem hl. Abendmahl, Jena 1610 = Berlin 1868. - Enchiridion Consolatorium, morti ac tentationibus in agone mortis opponendum, Jena 1611 (Handbüchlein . . .).-Aphorismi succincti etselecti in XVIII capitibus totius theologiae nucleum continentes, Jena 1611. — Loci theologici, cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati, 9 Bde., Jena 1610—1622; weitere Editionen u.a.: Frankfurt u. Hamburg 1657; Tübingen 1762—1781 (hg. v. J . F . Cotta; Index: G . H . Müller, Tübingen 1 7 8 7 - 1 7 8 9 ) ; Berlin 1 8 6 3 - 1 8 7 5 (hg. v. E. Preuss); Leipzig 1885. - Methodus studii theologici, Jena 1620. - Disputationes synopticae, in quibus dogmata papalia juxta Seriem a Roberto Bellarmino observatatam succincte expenduntur, sub praesidio Joh. Gerh . . . , Jena 1620. - Schola pietatis. Das ist: christl. u. heilsame Unterrichtung/Was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/auch welcher Gestalt er sich an derselben üben soll, Jena 1 6 2 2 - 1 6 2 3 ; weitere Ausg.: Nürnberg 1700. - Harmonia Evangelistarum ChemnitioLyseriana a Johanne Gerhardo continuata et justo Commentario illustrata, Jena 1626—1627. — Bellarminus orthodoxias testis, Jena 1630. - Confessio Catholica, in qua doctrina catholica et evangelica, quam Ecclesiae Augustanae Confessionis addictae profitentur, ex Romano-Catholicorum Scriptorum suffragiis confirmatur, in quatuor tomos distributa, Jena 1 6 3 4 - 1 6 3 7 . - Commentarius super Genesin, Jena 1637. - Commentarius super epistolam ad Ebraeos, Jena 1641. - Commentarius super epistolas Petri duas, Jena 1641. - Adnotationes ad Priorem D.Pauli ad Timotheum epistolam, Jena 1643. - Adnotationes ad Posteriorem D. Pauli ad Timotheum epistolam, Jena 1643. — Disputationes isagogicae, Jena 1645. — Patrologia, sive de primitivae ecclesiae Christianae doctorum vita ac lucubrationibus opusculum posthumum, Jena 1653, Gera 3 1 6 7 3 . - Disputationes theologicae, 3 T., Jena 1 6 5 5 . - Commentarius super Deuteronomium, Jena 1657. Literatur Jörg Baur, Johann Gerhard: Gestalten der KG. VII. Orthodoxie u. Pietismus, Stuttgart 1982, 9 9 - 1 1 9 . — Georg Karl Bernhard Berbig, D. Johann Gerhards Visitationswerk in Thüringen u. Franken,
Gerhardt, Paul
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Diss. Leipzig 1 8 9 6 . - Carl J . Böttcher, Das Leben Dr. J o h . Gerhards, Leipzig/Dresden 1 8 9 8 . - W . Burkert, J o h . Gerhard als Erbauungsschriftsteller, Diss. Breslau 1 9 3 9 (Teildruck). - Werner Eiert, M o r phologie des Luthertums, M ü n c h e n , I 3 1 9 6 5 . - Bengt Hägglund, Die hl. Schrift u. ihre Deutung in der Theol. J . Gerhards, Diss. Lund 1 9 5 1 . - Karl Heussi, Gesch. der theol. F a k . zu J e n a , W e i m a r 1 9 5 4 . Georg H o f f m a n n , Die Fragen der K O in der T h e o l . J . Gerhards: E L K Z 1 0 ( 1 9 5 6 ) 2 2 6 - 2 2 9 . - Martin Honecker, Die Kirchengliedschaft bei J . Gerhard u. R o b e r t Bellarmin: Z T h K 6 2 ( 1 9 6 5 ) 2 1 - 4 5 . - Ders., Cura religionis magistratus Christiani. Stud. zum Kircherirecht im Luthertum, 1 9 6 8 (JusEcc 7). - Renatus Hupfeld, Die Ethik J . Gerhards, Berlin 1 9 0 8 . - M . J a c o b s , Der Kirchenbegriff bei J . Gerhard, Diss. Theol. H a m b u r g 1 9 5 8 . - Reinhard Kirste, Das Zeugnis des Geistes u. das Zeugnis der Schrift. Das testimonium spiritus sancti internum als hermeneutisch-polemischer Zentralbegriff bei J o h . Gerhard in der Auseinandersetzung mit R o b e r t Bellarmins Schriftverständnis, Göttingen 1 9 7 6 . - J o h a n n e s Kunze, Art. Gerhard, J o h . : R E 3 6 ( 1 8 9 9 ) 5 5 4 - 5 6 1 (ältere Lit.). - Franz Lau, Art. Gerhard, J o h . : R G G 3 2 ( 1 9 5 8 ) 1 4 1 2 f . — Hans Leube, Die Reformideen der dt. luth. Kirche z. Zt. der Orthodoxie, Leipzig 1 9 2 4 . - D e r s . , Die altluth. O r t h o d o x i e . Ein Forschungsbericht: C u W 9 ( 1 9 3 3 ) 3 2 1 - 3 3 7 = ders., O r t h o d o x i e u. Pietismus, 1 9 7 5 ( A G P 13) 1 9 - 3 5 . - J . T . Mueller, J o h . Gerhard als luth. Kirchenlehrer: C T M 8 ( 1 9 3 7 ) 5 9 2 - 6 0 5 . - R o b e r t D . Preus, T h e Theology o f Post-Reformation Lutherism, 2 Bde., St. Louis, M i s s . / L o n d o n , 1 9 7 0 / 7 2 . - W . Radeke, Der Rechtfertigungsbegriff in J . Gerhards Loci theologici, Bonn 1 9 0 0 . - Carl Heinz R a t s c h o w , Luth. Dogmatik zw. Reformation u. Aufklärung, 2 Bde., Gütersloh 1 9 6 4 / 6 6 . - Robert P. Scharlemann, T h o m a s Aquinas and J o h n Gerhard, N e w H ä v e n / L o n d o n 1 9 6 4 . Friedrich Schenke, D e r Kirchengedanke J . Gerhards u. seiner Zeit, Gütersloh 1 9 3 1 . - Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der luth. Theol. des frühen 17. J h . , 1 9 7 6 ( C T h M 4). - Konrad Stock, Annihilatio mundi. J . Gerhards Eschatologie der Welt, München 1 9 7 1 . - August T h o l u c k , Lebenszeugen der luth. Kirche aus allen Ständen, Berlin 1 8 5 9 . - Ders., Vorgesch. des Rationalismus. I—II. Das akademische Leben des 17. J h . , Halle 1 8 5 3 / 5 4 ; II/2. Das kirchl. Leben des 17. J h . , Berlin 18 6 1 / 6 2 . - Ders., Art. Gerhard, J o h a n n : R E 1 5 ( 1 8 5 6 ) 4 0 - 4 5 . - Ernst Troeltsch, Vernunft u. Offenbarung bei J . Gerhard u. M e l a n c h t h o n , Göttingen 1 8 9 1 . — Ernst Uhl, Die Sozialethik J . Gerhards, 1 9 3 2 (FGLP 5 / 4 ) . - H a n s Emil Weber, Das innere Leben der altprot. O r t h o d o x i e : Rechtgläubigkeit u. Frömmigkeit, hg. v. H . Asmussen, Berlin, II 1 9 3 8 = ders., GAufs., 1 9 6 5 ( T B 2 8 ) 1 3 9 - 1 5 3 . - Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei J . Gerhard u. G. Calixt, Tübingen 1 9 6 1 .
Martin Honecker Gerhard von Zütphen —»Zerbolt, Gerhard Gerhardt, Paul 1. Leben
(1607-1676)
2 . Werk
3 . Nachwirkung
(Anmerkungen/Quellen/Literatur S . 4 5 6 )
1. Leben Paulus1 Gerhardt wurde am 12. März 1607 im kursächsischen Gräfenhainichen geboren. Der Vater, Ackerbürger, Gastwirt und Bürgermeister, verstarb bereits 1619; die Mutter, Tochter eines Superintendenten, 1621. Gerhardt besuchte von 1622—27 die Fürstenschule zu Grimma und wurde 1628 in —»Wittenberg als Student der Theologie immatrikuliert; zu seinen Lehrern zählte u. a. Paul Röber. Als Kandidat der Theologie war Gerhardt als Informator tätig, zunächst in Wittenberg bei dem Archidiakonus Fleischhauer, dann von 1 6 4 3 - 5 1 in Berlin in der Familie des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold, dessen Tochter Anna Maria 1655 seine Ehefrau wurde. Die Berufung zum Propst in Mittenwalde (1651—57) brachte dem seit 1647 als Dichter geistlicher Lieder bekannt gewordenen Gerhardt die seiner Ausbildung entsprechende Stellung. Seit 1657 wirkte Gerhardt als Diakonus an St. Nikolai in Berlin in enger Zusammenarbeit mit J. —»Crüger, dessen 1661 in 10. Auflage erscheinendes Gesangbuch bereits 90 Lieder Gerhardts enthielt und mit dessen Amtsnachfolger im Kantorenamt Johann Georg Ebeling ( 1 6 3 7 - 7 6 ) . Als der auf die lutherischen Bekenntnisschriften ordinierte Gerhardt, der bereits in den für das Berliner Religionsgespräch 1662/63 verfaßten Gutachten die lutherisch-orthodoxe Wittenberger Position vertreten hatte, die Unterschrift unter den 1664 vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm geforderten Revers (Lackner 132 ff; s. TRE 7,115) verweigerte, erfolgte am 6. 2. 1666 seine Amtsentsetzung. Da Gerhardt die von der Territorialobrigkeit (ohne Zweifel nicht allein aus Gründen konfessioneller Parität und —»Toleranz, sondern auch im Zuge der Verstärkung der Zentralgewalt und als Ausdruck absolutistischer kir-
Gerhardt, Paul
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Diss. Leipzig 1 8 9 6 . - Carl J . Böttcher, Das Leben Dr. J o h . Gerhards, Leipzig/Dresden 1 8 9 8 . - W . Burkert, J o h . Gerhard als Erbauungsschriftsteller, Diss. Breslau 1 9 3 9 (Teildruck). - Werner Eiert, M o r phologie des Luthertums, M ü n c h e n , I 3 1 9 6 5 . - Bengt Hägglund, Die hl. Schrift u. ihre Deutung in der Theol. J . Gerhards, Diss. Lund 1 9 5 1 . - Karl Heussi, Gesch. der theol. F a k . zu J e n a , W e i m a r 1 9 5 4 . Georg H o f f m a n n , Die Fragen der K O in der T h e o l . J . Gerhards: E L K Z 1 0 ( 1 9 5 6 ) 2 2 6 - 2 2 9 . - Martin Honecker, Die Kirchengliedschaft bei J . Gerhard u. R o b e r t Bellarmin: Z T h K 6 2 ( 1 9 6 5 ) 2 1 - 4 5 . - Ders., Cura religionis magistratus Christiani. Stud. zum Kircherirecht im Luthertum, 1 9 6 8 (JusEcc 7). - Renatus Hupfeld, Die Ethik J . Gerhards, Berlin 1 9 0 8 . - M . J a c o b s , Der Kirchenbegriff bei J . Gerhard, Diss. Theol. H a m b u r g 1 9 5 8 . - Reinhard Kirste, Das Zeugnis des Geistes u. das Zeugnis der Schrift. Das testimonium spiritus sancti internum als hermeneutisch-polemischer Zentralbegriff bei J o h . Gerhard in der Auseinandersetzung mit R o b e r t Bellarmins Schriftverständnis, Göttingen 1 9 7 6 . - J o h a n n e s Kunze, Art. Gerhard, J o h . : R E 3 6 ( 1 8 9 9 ) 5 5 4 - 5 6 1 (ältere Lit.). - Franz Lau, Art. Gerhard, J o h . : R G G 3 2 ( 1 9 5 8 ) 1 4 1 2 f . — Hans Leube, Die Reformideen der dt. luth. Kirche z. Zt. der Orthodoxie, Leipzig 1 9 2 4 . - D e r s . , Die altluth. O r t h o d o x i e . Ein Forschungsbericht: C u W 9 ( 1 9 3 3 ) 3 2 1 - 3 3 7 = ders., O r t h o d o x i e u. Pietismus, 1 9 7 5 ( A G P 13) 1 9 - 3 5 . - J . T . Mueller, J o h . Gerhard als luth. Kirchenlehrer: C T M 8 ( 1 9 3 7 ) 5 9 2 - 6 0 5 . - R o b e r t D . Preus, T h e Theology o f Post-Reformation Lutherism, 2 Bde., St. Louis, M i s s . / L o n d o n , 1 9 7 0 / 7 2 . - W . Radeke, Der Rechtfertigungsbegriff in J . Gerhards Loci theologici, Bonn 1 9 0 0 . - Carl Heinz R a t s c h o w , Luth. Dogmatik zw. Reformation u. Aufklärung, 2 Bde., Gütersloh 1 9 6 4 / 6 6 . - Robert P. Scharlemann, T h o m a s Aquinas and J o h n Gerhard, N e w H ä v e n / L o n d o n 1 9 6 4 . Friedrich Schenke, D e r Kirchengedanke J . Gerhards u. seiner Zeit, Gütersloh 1 9 3 1 . - Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der luth. Theol. des frühen 17. J h . , 1 9 7 6 ( C T h M 4). - Konrad Stock, Annihilatio mundi. J . Gerhards Eschatologie der Welt, München 1 9 7 1 . - August T h o l u c k , Lebenszeugen der luth. Kirche aus allen Ständen, Berlin 1 8 5 9 . - Ders., Vorgesch. des Rationalismus. I—II. Das akademische Leben des 17. J h . , Halle 1 8 5 3 / 5 4 ; II/2. Das kirchl. Leben des 17. J h . , Berlin 18 6 1 / 6 2 . - Ders., Art. Gerhard, J o h a n n : R E 1 5 ( 1 8 5 6 ) 4 0 - 4 5 . - Ernst Troeltsch, Vernunft u. Offenbarung bei J . Gerhard u. M e l a n c h t h o n , Göttingen 1 8 9 1 . — Ernst Uhl, Die Sozialethik J . Gerhards, 1 9 3 2 (FGLP 5 / 4 ) . - H a n s Emil Weber, Das innere Leben der altprot. O r t h o d o x i e : Rechtgläubigkeit u. Frömmigkeit, hg. v. H . Asmussen, Berlin, II 1 9 3 8 = ders., GAufs., 1 9 6 5 ( T B 2 8 ) 1 3 9 - 1 5 3 . - Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei J . Gerhard u. G. Calixt, Tübingen 1 9 6 1 .
Martin Honecker Gerhard von Zütphen —»Zerbolt, Gerhard Gerhardt, Paul 1. Leben
(1607-1676)
2 . Werk
3 . Nachwirkung
(Anmerkungen/Quellen/Literatur S . 4 5 6 )
1. Leben Paulus1 Gerhardt wurde am 12. März 1607 im kursächsischen Gräfenhainichen geboren. Der Vater, Ackerbürger, Gastwirt und Bürgermeister, verstarb bereits 1619; die Mutter, Tochter eines Superintendenten, 1621. Gerhardt besuchte von 1622—27 die Fürstenschule zu Grimma und wurde 1628 in —»Wittenberg als Student der Theologie immatrikuliert; zu seinen Lehrern zählte u. a. Paul Röber. Als Kandidat der Theologie war Gerhardt als Informator tätig, zunächst in Wittenberg bei dem Archidiakonus Fleischhauer, dann von 1 6 4 3 - 5 1 in Berlin in der Familie des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold, dessen Tochter Anna Maria 1655 seine Ehefrau wurde. Die Berufung zum Propst in Mittenwalde (1651—57) brachte dem seit 1647 als Dichter geistlicher Lieder bekannt gewordenen Gerhardt die seiner Ausbildung entsprechende Stellung. Seit 1657 wirkte Gerhardt als Diakonus an St. Nikolai in Berlin in enger Zusammenarbeit mit J. —»Crüger, dessen 1661 in 10. Auflage erscheinendes Gesangbuch bereits 90 Lieder Gerhardts enthielt und mit dessen Amtsnachfolger im Kantorenamt Johann Georg Ebeling ( 1 6 3 7 - 7 6 ) . Als der auf die lutherischen Bekenntnisschriften ordinierte Gerhardt, der bereits in den für das Berliner Religionsgespräch 1662/63 verfaßten Gutachten die lutherisch-orthodoxe Wittenberger Position vertreten hatte, die Unterschrift unter den 1664 vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm geforderten Revers (Lackner 132 ff; s. TRE 7,115) verweigerte, erfolgte am 6. 2. 1666 seine Amtsentsetzung. Da Gerhardt die von der Territorialobrigkeit (ohne Zweifel nicht allein aus Gründen konfessioneller Parität und —»Toleranz, sondern auch im Zuge der Verstärkung der Zentralgewalt und als Ausdruck absolutistischer kir-
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Gerhardt, Paul
chenregimentlicher Ansprüche) erlassenen Verfügungen 2 , die u. a. jedwede Kanzelpolemik untersagten, als Gefährdung der lutherischen Identität auffaßte, weigerte er sich, mit Berufung auf sein Gewissen und seine Verpflichtung auf die —»Konkordienformel, eine durch die Intervention des Magistrats und der märkischen Stände für ihn erwirkte und 1 6 6 7 — unter der Voraussetzung, daß sich Gerhardt auch ohne Unterschrift den Edikten gemäß verhalten werde — vom Kurfürsten gewährte Wiedereinsetzung anzunehmen. Trotz nochmaligen Eintretens des Magistrats für ein von Forderungen der Landesobrigkeit unbelastetes Verbleiben des „fromme(n), geistreiche(n) und in vielen Landen berühmte(n)" Predigers wurde Gerhardts Stelle 1 6 6 8 neu besetzt. Im gleichen J a h r verstarb seine Ehefrau. Sein Wirken als Archidiakonus in Lübben im Spreewald - 1 6 6 8 erfolgte die Berufung, 1 6 6 9 wurde Gerhardt in sein Amt eingeführt — war durch gedrückte äußere Verhältnisse und zunehmenden Verfall seiner Kräfte belastet. Er starb am 2 7 . Mai 1 6 7 6 und wurde in der Kirche zu Lübben beigesetzt. Das Testament für seinen Sohn Paul Friedrich enthält sein geistliches und theologisches Vermächtnis.
2. Werk Als Theologus in cribro Satanae tentatus et devotus — wie ihn die Unterschrift unter seinem Bildnis in der Kirche zu Lübben benennt — reifte Gerhardt, der die Bedrohtheit des menschlichen Daseins und die Nöte der Kriegszeit miterlitten hat, zum „Sänger der Freude und des T r o s t e s " (G. Müller), dessen Lieder sich Jahrhunderte hindurch als tiefwirkende Trostspender erwiesen haben. Im Vertrauen auf die „Treue G o t t e s " (zur Bedeutung der Treue Gottes in der Frömmigkeit Gerhardts: Zeller, Theol. u. Frömmigkeit 11,138 ff) verwandelte sich erlittenes zu überwundenem Leid. Obschon der Ausdruck der Freude sich „weniger im Jauchzen des Triumphes" als in dem „abgeklärten Rückblick auf erfahrene Gnade und G ü t e " kundgibt (Schroeder 1 3 1 ) , bleibt der „heroische" T o n der Worte unüberhörbar: „Das Ethos dieser Dichtung (ist) nicht das irgend einer leicht erworbenen Gottseligkeit. . . , sondern Heldentum" (ebd. 1 4 3 ; zum Typus des Vertrauensliedes s. Brodde 3 4 0 f ) . Gerhardts geistliche Lieder sind durch die Kantoren J . Crüger und J . G. Ebeling (—»Kirchenlied) zusammen mit deren Vertonung bekannt geworden (zur Überlieferung der Lieder: Zeller, a . a . O . 11,132ff; T e x t der lat. Dichtungen: Paul Gerhardt. Dichtungen u. Sehr. 385-394). Von den geistlichen Dichtungen Gerhardts liegen nur wenige in Einzeldrucken (in der Form von Anhängen an Gelegenheitspredigten) vor; die Publikation (s. u. Quellen) erfolgte (1) durch die von Christoph Runge verlegten, in den Ausgaben seit 1 6 4 7 durch J. Criiger sukzessive um Gerhardt-Lieder erweiterten, der „Beförderung sowohl des Kirchen- als Privatgottesdienstes" dienenden Berliner Ge-
sangbücher (Praxis
pietatis melica", s. TRE 8,241 f), (2) in J.G. Ebelings3 Sammlung von Gerhardt-
Liedern, Pauli Gerhardt Geistliche Andachten, die in 1 0 Heften zu je 12 Liedern 1 6 6 6 und 1 6 6 7 in Berlin bzw. Frankfurt a. O. erschien (-»Gesangbuch), (3) durch die nach Gerhardts „eigenhändige(m) revidierten E x e m p l a r " von J . H . Feustking 1 7 0 7 besorgte Gesamtausgabe.
Der Verzicht auf Dichterruhm und -ehre ist offensichtlich im Werk Gerhardts begründet, dessen Lieder nicht Ausdruck einer Dichterpersönlichkeit (im subjektivistisch-individualistischen Sinne) sind. Als existentiell-personale applicatio der Bibel ist die geistliche Dichtung Gerhardts, dem die Stilgesetze barocker Dichtkunst (Martin Opitz) durch Vermittlung des Wittenberger Professors der Poesie und Rhetorik Augustus Buchner ( 1 5 9 1 - 1 6 6 1 ) vertraut waren, streng wort-gebunden. Die stilistischen Mittel der barocken Poetik werden genutzt, um die Heilsbotschaft als meditativ nacherlebbare Heilswirklichkeit zu vergegenwärtigen (zur Relation Christuskreuz und Christenkreuz: Krause 2 8 3 ff). Einem Uberwiegen der Rhetorik (zur Funktion der Rhetorik s. Fechner) wehrte die Verbundenheit mit dem Lied der Reformation und des späteren 16. Jh. Der in Wittenberg gebildete Gerhardt, in dem „die Frömmigkeit des Luthertums ihre höchste, ungebrochene Gestaltung gefunden" hat (Zeller, Lebenszeugen 191), ist als orthodoxer Theologe zu verstehen, für den Schrift und lutherisches Bekenntnis das tragende Fundament sind. Die Formungselemente aus der evangelischen —»Erbauungsliteratur (bes. J .
Gerhardt, Paul
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—> Arndt) sind durchaus dem Bekenntnis integriert: Sie wirken auf Gattung und Stil, beeinflussen Sprache und W o r t s c h a t z der Lieder und bestimmen die Spezifik von Gerhardts F r ö m m i g k e i t 4 (Petrich 1 9 7 f f ; Zeller, T h e o l . u. Frömmigkeit I , 1 5 4 f ; van Andel 1 7 2 f f ; Krause 2 9 7 f ) , o h n e dessen lutherische Grundhaltung umzuprägen. s
Obwohl der durch die Aufnahme der Mystik in die ev. Gebetsliteratur entstandene, dem Wandel zum barocken Lebensgefühl entsprechende neue Typus der Frömmigkeit im Vergleich zur Reformation eine Positionsveränderung5 markiert, bleibt Gerhardt, dessen Lied „Formeln der Lehre" in „Ausdrucksformen der Hingebung und Anbetung" umsetzt, „auch mit seinen mystisch klingenden Wendungen auf dem Boden lutherisch-orthodoxer Frömmigkeit" (W. Krusche, Paul Gerhardt - heute ge10 sungen: Hoffmann 18). Da er „die Erscheinung Christi" als „die zentrale Heilstat Gottes", das „objektive Heil" als „die Bedingung der Gemeinschaft mit Christus" begreift (van Andel 176), werden Krippe und Kreuz „nicht zu Symbolen und Chiffren" (Krusche, a.a.O. 17). Gerhardt, dem das „Distanzbewußtsein von Schöpfer und Geschöpf" (van Andel 175) stets lebendig bleibt, sind Unendlichkeits- und Identitätsmystik fremd (s. T R E 4,533). Die Zueignung des Heilsgeschehens6 beruht auf dem extra nos 15 des Heilshandelns Gottes. Die von Luther und von der Gebets- und Meditationsliteratur (u. a. M. Moller) geprägten Aussagen vom Kreuz weisen auf die paulinische Taufterminologie zurück (Krause 297). Sein lutherischer Schöpfungsglaube durchbricht das barocke yaniias-Motiv, dem keine Eigengesetzlichkeit mehr zukommt. Als der „Sprachmeister und Sangesmeister", dem Weisen „von . . . kristallener Reinheit des Tones 20 und Wortes" zu verdanken sind, bedeutet Gerhardt einen Höhepunkt der geistlichen Dichtung des 17. Jh. (R.A. Schroeder, Das dt. Kirchenlied [1935]: ders., Dichtung 67). Die Vielfalt des Strophenbaus in den 135 Gedichten, die schöpferische Anwendung der Metaphorik (zum Sonnengleichnis s. Ihlenfeld, Huldigung 162 ff) wie Rhythmus und Wohlklang der Verse bestätigen, daß Gerhardt „den hohen Ansprüchen der zeitgenössischen Poetik" (E. Haufe: Hoffmann 56) entsprechen wollte.
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3.
Nachwirkung
Da Gerhardt „eine schon formelhaft verfestigte Lehre", zu der er unbeirrt stand, „in den ursprünglichen . . . Zustand, den sie bei Luther besaß", umgewandelt hat, ist sein Werk „bei aller Neuartigkeit der Instrumentierung und Formgestalt" als „ein reformatorisches Werk" anzusprechen (Ihlenfeld, Huldigung 157f). Durch seine Lieder werden Frömmigkeit und Bekenntnis der lutherischen Reformation zum - auch in der Ökumene lebendigen - geschichtliche Wandlungen und Umbrüche überdauernden Besitz der Gemeinden. Obwohl die Lieder Gerhardts vom gottesdienstlichen Leben der Gemeinde (—»Kirchenjahr) geprägt sind - im lyrischen Ich Gerhardts artikuliert sich nicht „das einsame Ich", sondern „das überpersönliche Ich der Gemeinde" (Goes, Winter 50 f) - , war der unmittelbare ,Sitz im Leben' seiner geistlichen Dichtungen zunächst die „Andacht" der „Hauskirche" (im Sinne einer Ergänzung und Bereicherung des liturgischen Liedgutes). Erst durch den —»Pietismus (Johann Anastasius Freylinghausen, 1 6 7 0 - 1 7 3 9 ) sind die Lieder Gerhardts dem gottesdienstlichen Liedgut endgültig integriert worden (W. Blankenburg, Die Lieder Paul Gerhardts in der Musikgesch.: Jenny/Nievergelt 23 ff). Zur musikgeschichtlichen Wirkung der Lieder bes. in J . S. —»Bachs Kantaten und Oratorien, bei M. Reger, H. Distler, E. Pepping s. W. Blankenburg, a.a.O.; Chr. Albrecht, Die Vertonung der Lieder Paul Gerhardts: Hoffmann 100 ff. Die „unverminderte Lebendigkeit" der Lieder Gerhardts 7 , von denen 30— z.T. allerdings in verkürzter Gestalt - zum Stammteil des EKG gehören, ist „neben der wunderbaren Einfachheit und Schönheit der Verse" und der „Kraft der Melodien" u. a. darin begründet, daß aus Gerhardts Liedern, die „Tiefenbereiche des Emotionalen" berühren, „ein heilsgewisser Glaube von einer ganz erstaunlichen Ungebrochenheit" spricht (W. Krusche: Hoffmann 12ff). In den Beiträgen zum Gedenken an Gerhardts 300. Todestag (Bibliogr.: JLH 12 [1977] u. ff) kommt das Deutungsspektrum der gegenwärtigen Gerhardt-Rezeption zum Ausdruck; als auch im 20. Jh. bleibend relevant erweisen sich u.a. der für Gerhardts Lieder kennzeichnende „unvergleichliche Ton erfahrungsgesättigten Glaubens", die Einheit von „schlichte(r), jedem verständliche(r) Sprache" und „tiefe(m), nicht auslotbare(m) Gedanken", von „Anschauen der Natur" und „Sehnsucht nach der alles überbietenden ewigen Heimat". „Man kann diesen Liedern nicht begegnen . . . , ohne daß Erfahrungen angesprochen, geweckt und neu geschenkt werden: Geborgenheit im Dunkel der N a c h t . . ., Getrostheit in Ausweglosigkeit.. ., Mut inmitten der Angst. . ., Dankbarkeit im Wohlbefinden . . ., Hoffnung angesichts des Todes . . . " „Gelebter Glaube wird in der Sprache dieses Dichters zu einer unerschöpflichen Quelle von Glaubensleben . . ." (G. Ebeling, Erfahrungen mit Liedern v. Paul Gerhardt: Jenny/Nievergelt 57).
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Gerhardt, Paul
Anmerkungen Vgl. zur Namensform Petrich 311: „Bei allen amtlichen und öffentlichen Gelegenheiten unterschreibt er . . . Paulus Gerhardt." Textabdruck der Verordnung v. 2.6.1662 und des Edikts v. 16.9.1664 bei Wolfgang Gericke, Glaubenszeugnisse u. Konfessionspolitik der Brandenburgischen Herrscher bis zur Preußischen Union 1 5 4 0 - 1 8 1 5 , Bielefeld 1977 (Unio u. Confessio 6) 166ff.l72ff. Zur editorischen Leistung und zum Werk J. G. Ebelings: W. Zeller, Theol. u. Frömmigkeit 11,133; W. Blankenburg, J. G. Ebeling: Pauli Gerhardi. Geistliche Andachten, Anh. 4 ff; Chr. Albrecht, J. G. Ebeling: Jenny/Nievergelt 32 ff; ders., Die Vertonung der Lieder Paul Gerhardts, insbes. durch J. G. Ebeling: Hoffmann 83 ff. Die Gebete von J. AmdtsParadies-Gärtlein bilden für 6 Lieder Gerhardts die Grundlage (Zeller, Theol. u. Frömmigkeit 11,127). Aus der von der Erbauungsliteratur rezipierten bernhardinischen Mystik stammen die Vorlagen für Gerhardts Zyklus von Nachdichtungen pseudobernhardinischer (Arnulph von Löwen) Salve-Hymnen (Paul Gerhardt. Dichtungen u. Sehr. Nr. 18 — 24). Uber Tendenzen zur Rationalisierung im Gottesverständnis bzw. Akzentverschiebungen in der Rechtfertigungslehre s. van Andel 180f; Röbbelen 404ff. Zur unio mystica bei Gerhardt: Zeller, Theol. u. Frömmigkeit 11,148. Zum Trostamt der Lieder Gerhardts in den Jahren des 2. Weltkrieges: D. Bonhoeffer, Widerstand u. Ergebung, hg. v. E. Bethge, München 1970; J. Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel, Stuttgart 1956 (s. jew. Reg.).
Quellen Verzeichnis der Erstdrucke: Gerhard Dünnhaupt, Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur, Stuttgart, I 1980, 6 6 0 - 6 6 5 . Werkausgaben (Auswahl): Leben u. Lieder des Paul Gerhardt, hg. v. E. C. G. Langbecker, Berlin 1841. - Gedichte von Paul Gerhardt, hg. v. K. Goedeke, Leipzig 1877 (Dt. Dichter des 17. Jh. 12). Paul Gerhardt. Gedichte, hg. v. A. Ebeling, Hannover/Leipzig 1898. - Albert Fischer, Das dt. ev. Kirchenlied des 17. Jh., hg. v. W. Tümpel, Gütersloh, III 1906, 2 9 5 - 4 4 9 . - Paul Gerhardt. Dichtungen u. Sehr., hg. v. E. v. Cranach-Sichart, München 1957. — Ein Botschafter der Freude. Dokumente u. Gedichte aus Paul Gerhardts Berliner Jahren, ausgew. u. eingel. v. K. Ihlenfeld, Berlin 1957. — Pauli Gerhardi Geistliche Andachten (1667). Faks.-Neudr., hg. v. F. Kemp, Bern/München 1975. Weitere Ausgaben: Fischer(/Tümpel) (s.o.) III, 2 9 5 - 2 9 7 . - Chr. Palmer (s.u.) 5 64 f.-Pauli Gerhardi Geistliche Andachten (s.o.) Anh. 4 1 - 5 6 . — K. Ameln: Hoffmann (s.u.) 115. - Dünnhaupt (s.o.) 659. - Kritische Wertung der Ausgaben: Zeller, Theol. u. Frömmigkeit (s.u.) 11,132ff. Literatur Cornelis Pieter van Andel, Paul Gerhardt, ein Mystiker zur Zeit des Barocks: Traditio-Krisis-Renovatio. FS Winfried Zeller, Marburg 1976, 1 7 2 - 1 8 4 . - Ernst Barnikol, Paul Gerhardt. Seine gesch., kirchl. u. ökum. Bedeutung: WZ(H.)GS 7 (1958) 4 2 9 - 4 5 0 (Lit.). - Friedrich Wilhelm Bautz, . . . und lobten Gott um Mitternacht. Liederdichter in Not u. Anfechtung, Stuttgart/Sillenbuch 1966, 7 8 - 1 5 3 (Lit.). - BBKL 2 (o. J.) 2 1 9 - 2 2 3 (Lit.). - Walter Blankenburg, Art. Gerhardt, Paulus: MGG 4 (1955) 1790-1797. - Otto Brodde, Zur Typologie der Paul-Gerhardt-Lieder: Kerygma u. Melos. FS Christhard Mahrenholz, Kassel/Berlin 1970, 3 3 3 - 3 4 1 . - Robert Daenicke, Paul Gerhardts Berufung nach Lübben u. seine dortige Amtszeit: Niederlausitzische Mitt. 22 (1934) 2 4 4 - 2 7 1 . - W a l t e r Dreß, Warum mußte Paul Gerhardt Berlin verlassen?: ders., Ev.Erbe u. Weltoffenheit. GAufs., hg. v. W. Sommer, Berlin 1980, 1 7 7 - 1 8 6 . - Ders., „Gott ist alleine groß u. schön,. . . unmöglich auszulohen." Paul Gerhardts Glaube in seinen Liedern: ebd. 1 8 7 - 2 0 1 . - Rudolf Eckart, Paul-Gerhardt-Bibliogr., Pritzwalk 1908. — Ders., Paul Gerhardt. Urkunden u. Aktenstücke zu seinem Leben u. Kämpfen, Glückstadt o. J. (1909). - Jörg-Ulrich Fechner, Paul Gerhardts Lied. Tradition u. Innovation: Liturgiewiss. Jb. 17 (1976) 1 - 2 1 . - Ders., Paul Gerhardt: Gestalten der KG. VII. Orthodoxie u. Pietismus, Stuttgart 1982, 1 7 7 - 1 9 0 . - Albrecht Goes, Ein Winter mit Paul Gerhardt, Neukirchen-Vluyn 1976. - Ders., Eine männliche Form des Christentums: EK 9 (1976) 2 9 8 - 2 9 9 . - Karl Hauschild, Die Botschaft der Reformation in den Liedern Paul Gerhardts: Luther 28 (1957) 6 3 - 7 4 . - HEKG. II/l. Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten, bearb. v. W. Lueken, Göttingen/Berlin 1 9 5 7 , 1 8 8 - 1 9 2 (Lit.). - HEKG. Sonderbd. Die Lieder unserer Kirche. Eine Handreichung z. EKG v. J. Kulp, bearb. u. hg. v. A. Büchner/S. Fornaion, Göttingen/Berlin 1958 (s. Reg.).-HEKG. 1/2. Rudolf Köhler, Die bibl. Quellen der Lieder, Berlin 1964 = Göttingen 1965. - HEKG. III. Liederkunde. I. Lied 1 - 1 7 5 , v. E. Weismann u.a., Göttingen 1970. - Jürgen Henkys, Die güldne Sonne: Die Christenlehre 29 (1976) 2 5 2 - 2 5 9 . - Heinz Hoffmann (Hg.), Paul Gerhardt. Dichter - Theologe - Seelsorger 1607-1676, Berlin 1978 (Lit.).-Joachim Hoffmeister, Botschafter der Freude. Paul Gerhardts Lebensweg,1 Berlin 1976. — Kurt Ihlenfeld, Huldigung für Paul Gerhardt, Berlin 1956 2 1957. - Ders., Paul-Gerhardt-Feier der Akademie der Kün-
Gerhoch von Reichersberg
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ste, Berlin 1 9 5 7 . - M a r k u s Jenny/Edwin Nievergelt (Hg.), Paul Gerhardt. W e g u. Wirkung, Zürich 1 9 7 6 = M u G 3 0 ( 1 9 7 6 ) (Lit.). - Wilhelm Kosch, Dt. Literatur-Lexikon 3 1 9 7 8 , 2 3 9 f (Lit.). - Gerhard Krause, Christuskreuz u. Christenkreuz bei Paul Gerhardt: Theologia crucis - Signum crucis. FS Erich Dinkler, Tübingen 1 9 7 9 , 2 8 3 - 3 0 2 . - Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten, 1 9 7 3 ( U K G 8) bes. 1 2 8 ff. - Gerhard Müller, Der Sänger der Freude u. des Trostes: Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern 3 1 ( 1 9 7 6 ) 1 8 4 - 1 8 7 . - N o r b e r t Müller, Schwierigkeiten mit Paul Gerhardt?: Z d Z 3 0 ( 1 9 7 6 ) 1 6 1 - 1 7 0 . - Arnold Niemann, Paul Gerhardts Berufung u. seine Amtszeit in Mittenwalde: H e r C h r 12 ( 1 9 7 9 / 8 0 ) ( 1 9 8 1 ) 6 3 - 8 0 . - Chr. Palmer (C. Bertheau), Art. Gerhardt, Paulus: R E 3 6 ( 1 8 9 9 ) 5 6 1 - 5 6 5 (Lit.). - Ernst Pepping, Liederbuch nach Gedichten v. Paul Gerhardt, Berlin 1 9 4 8 . - Hermann Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Geistes. Auf Grund neuer Forschungen u. Funde, Gütersloh 1 9 1 4 (grundlegend). - R I S M . B / V I I I / 1 . Das dt. Kirchenlied. Krit. G A der Melodien, hg. v. K. A m e l n / M . J e n n y / W . Lipphardt. 1/1. Verz. der Drucke, Kassel u . a . 1 9 7 5 . - I n g e b o r g Röbbelen, T h e o l . u. Frömmigkeit im dt. ev.-luth. Gesangbuch des 17. u. 18. J h . , 1 9 5 7 ( F K D G 6) bes. 4 0 4 ff. - Gerhard Rödding, Paul Gerhardt, Gütersloh 1 9 8 1 . - Waldtraut-Ingeborg Sauer-Geppert, Art. Gerhardt, Paul: N D B 6 ( 1 9 6 4 ) 2 8 6 - 2 8 8 . - D i e s . , „ T r o s t " bei Paul Gerhardt: M u K 4 6 ( 1 9 7 6 ) 5 3 - 6 2 . Günter Schlichting, Paul Gerhardt im Berliner Kirchenkampf: ThBeitr 7 ( 1 9 7 6 ) 2 5 3 - 2 6 4 . - Rudolf Alexander Schroeder, Paul Gerhardt ( 1 9 4 2 ) : ders., Dichtung u. Dichter der Kirche, Witten/Berlin 2 1 9 6 4 , 1 2 8 - 1 6 6 . - Wolfgang Trillhaas, Paul Gerhardt 1 6 0 7 - 1 6 7 6 : ders., Perspektiven u. Gestalten des neuzeitlichen Christentums, Göttingen 1 9 7 5 , 1 0 5 - 1 1 8 . - Susanne T ü r k , Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich: N P 2 8 ( 1 9 4 3 ) 2 2 - 4 2 . 1 2 0 - 1 4 1 . - W a l t e r W e n d l a n d , S i e b e n h u n d e r t J a h r e K G B e r lins, Berlin 1 9 3 0 (s. Reg.). - Winfried Zeller, Luth. Lebenszeugen: Ev. u. orth. Christentum in Begegnung u. Auseinandersetzung, hg. v. E. B e n z / L . A . Zander, H a m b u r g 1 9 5 2 , 1 8 0 - 2 0 2 . 2 4 2 - 2 5 5 . Ders., Paul Gerhardt: ders., Theol. u. Frömmigkeit, GAufs., hg. v. B. Jaspert, Marburg, I 1 9 7 1 , 1 5 4 - 1 6 4 . - Ders., Paul Gerhardt, der Dichter u. seine Frömmigkeit: ebd. II 1 9 7 8 , 1 2 2 - 1 4 9 (Lit.). Ders., Z u r Textüberlieferung der Lieder Paul Gerhardts: ebd. 1 3 2 — 1 3 8 . — J u t t a Z i m m e r m a n n , Luth. Vorsehungsglaube in Paul Gerhardts geistlicher Dichtung, Diss. Theol. Halle 1 9 7 5 .
Eberhard H. Pältz Gerhoch von Reichersberg
(1092/93-1169)
1. Leben Geboren 1 0 9 2 / 9 3 zu Polling, wurde Gerhoch nach Schulbesuch ebendort, in Freising und Moosburg und weiteren drei Jahren an der Domschule zu Hildesheim um 1 1 1 7 Domscholaster in Augsburg, zog sich aber um 1 1 2 0 in das Regularkanonikerstift Rottenbuch zurück. Hier bekehrte er sich unter dem Einfluß eines Eremiten zur vita communis, die als Verwirklichung der vita apostolica sein weiteres Leben maßgeblich bestimmte. 1 1 2 4 legte er in Rottenbuch Profeß ab. Seine Forderung, daß der gesamte Klerus dieser Lebensweise zu unterwerfen sei, führte ihn in fortwährende Konflikte; aber auch in Rottenbuch selbst schon kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Einführung der —»Augustinusregel (regula secunda), die in seinem überfordernden Rigorismus auch persönlichkeitsbedingte Gründe für seine ständigen Schwierigkeiten deutlich machen. Bischof Konrad von Regensburg, an den er sich 1 1 2 4 wandte, weihte ihn zum Priester und übertrug ihm zur Verwirklichung seiner Reformvorstellungen die Pfarrei Cham; doch scheiterte er auch hier bei der Durchsetzung der vita communis im Pfarrklerus. Ohne Amt 1 1 2 6 — 1 1 3 2 in Regensburg lebend, geißelte er in ersten umfangreichen Schriften die Verweltlichung des Klerus, die er u. a. mit dem Eindringen des Geldwesens und mit der Feudalisierung der Kirche im Gefolge des Wormser Konkordats (—>Investiturstreit) in Verbindung brachte (De aedificio Dei, 1128). Irregulär lebende Kleriker sah er als Schismatiker und Häretiker ohne Weihegewalt an, was ihm dann selbst einen Häresieprozeß eintrug, der mit einem Schweigegebot endete. Der sich dagegen verteidigende Dialogus inter clericum saecularem et regulärem an Papst Innozenz II. veranlaßte diesen 1 1 3 1 , Gerhoch dem Salzburger Erzbischof Konrad I. zu empfehlen. Konrad setzte ihn zum Propst des von Salzburg abhängigen Chorherrenstifts Reichersberg (am Inn) ein. Von hier aus wirkte er bis zu seinem Tode am 27. Juni 1 1 6 9 als Reformer und fruchtbarer theologischer Schriftsteller. Für seine radikalen Reformideen suchte er bis zu Beginn der 50er Jahre Rückhalt vor allem auch bei Päpsten und Kardinälen (acht oder neun Reisen nach Rom), die sich aber trotz
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ste, Berlin 1 9 5 7 . - M a r k u s Jenny/Edwin Nievergelt (Hg.), Paul Gerhardt. W e g u. Wirkung, Zürich 1 9 7 6 = M u G 3 0 ( 1 9 7 6 ) (Lit.). - Wilhelm Kosch, Dt. Literatur-Lexikon 3 1 9 7 8 , 2 3 9 f (Lit.). - Gerhard Krause, Christuskreuz u. Christenkreuz bei Paul Gerhardt: Theologia crucis - Signum crucis. FS Erich Dinkler, Tübingen 1 9 7 9 , 2 8 3 - 3 0 2 . - Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten, 1 9 7 3 ( U K G 8) bes. 1 2 8 ff. - Gerhard Müller, Der Sänger der Freude u. des Trostes: Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern 3 1 ( 1 9 7 6 ) 1 8 4 - 1 8 7 . - N o r b e r t Müller, Schwierigkeiten mit Paul Gerhardt?: Z d Z 3 0 ( 1 9 7 6 ) 1 6 1 - 1 7 0 . - Arnold Niemann, Paul Gerhardts Berufung u. seine Amtszeit in Mittenwalde: H e r C h r 12 ( 1 9 7 9 / 8 0 ) ( 1 9 8 1 ) 6 3 - 8 0 . - Chr. Palmer (C. Bertheau), Art. Gerhardt, Paulus: R E 3 6 ( 1 8 9 9 ) 5 6 1 - 5 6 5 (Lit.). - Ernst Pepping, Liederbuch nach Gedichten v. Paul Gerhardt, Berlin 1 9 4 8 . - Hermann Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Geistes. Auf Grund neuer Forschungen u. Funde, Gütersloh 1 9 1 4 (grundlegend). - R I S M . B / V I I I / 1 . Das dt. Kirchenlied. Krit. G A der Melodien, hg. v. K. A m e l n / M . J e n n y / W . Lipphardt. 1/1. Verz. der Drucke, Kassel u . a . 1 9 7 5 . - I n g e b o r g Röbbelen, T h e o l . u. Frömmigkeit im dt. ev.-luth. Gesangbuch des 17. u. 18. J h . , 1 9 5 7 ( F K D G 6) bes. 4 0 4 ff. - Gerhard Rödding, Paul Gerhardt, Gütersloh 1 9 8 1 . - Waldtraut-Ingeborg Sauer-Geppert, Art. Gerhardt, Paul: N D B 6 ( 1 9 6 4 ) 2 8 6 - 2 8 8 . - D i e s . , „ T r o s t " bei Paul Gerhardt: M u K 4 6 ( 1 9 7 6 ) 5 3 - 6 2 . Günter Schlichting, Paul Gerhardt im Berliner Kirchenkampf: ThBeitr 7 ( 1 9 7 6 ) 2 5 3 - 2 6 4 . - Rudolf Alexander Schroeder, Paul Gerhardt ( 1 9 4 2 ) : ders., Dichtung u. Dichter der Kirche, Witten/Berlin 2 1 9 6 4 , 1 2 8 - 1 6 6 . - Wolfgang Trillhaas, Paul Gerhardt 1 6 0 7 - 1 6 7 6 : ders., Perspektiven u. Gestalten des neuzeitlichen Christentums, Göttingen 1 9 7 5 , 1 0 5 - 1 1 8 . - Susanne T ü r k , Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich: N P 2 8 ( 1 9 4 3 ) 2 2 - 4 2 . 1 2 0 - 1 4 1 . - W a l t e r W e n d l a n d , S i e b e n h u n d e r t J a h r e K G B e r lins, Berlin 1 9 3 0 (s. Reg.). - Winfried Zeller, Luth. Lebenszeugen: Ev. u. orth. Christentum in Begegnung u. Auseinandersetzung, hg. v. E. B e n z / L . A . Zander, H a m b u r g 1 9 5 2 , 1 8 0 - 2 0 2 . 2 4 2 - 2 5 5 . Ders., Paul Gerhardt: ders., Theol. u. Frömmigkeit, GAufs., hg. v. B. Jaspert, Marburg, I 1 9 7 1 , 1 5 4 - 1 6 4 . - Ders., Paul Gerhardt, der Dichter u. seine Frömmigkeit: ebd. II 1 9 7 8 , 1 2 2 - 1 4 9 (Lit.). Ders., Z u r Textüberlieferung der Lieder Paul Gerhardts: ebd. 1 3 2 — 1 3 8 . — J u t t a Z i m m e r m a n n , Luth. Vorsehungsglaube in Paul Gerhardts geistlicher Dichtung, Diss. Theol. Halle 1 9 7 5 .
Eberhard H. Pältz Gerhoch von Reichersberg
(1092/93-1169)
1. Leben Geboren 1 0 9 2 / 9 3 zu Polling, wurde Gerhoch nach Schulbesuch ebendort, in Freising und Moosburg und weiteren drei Jahren an der Domschule zu Hildesheim um 1 1 1 7 Domscholaster in Augsburg, zog sich aber um 1 1 2 0 in das Regularkanonikerstift Rottenbuch zurück. Hier bekehrte er sich unter dem Einfluß eines Eremiten zur vita communis, die als Verwirklichung der vita apostolica sein weiteres Leben maßgeblich bestimmte. 1 1 2 4 legte er in Rottenbuch Profeß ab. Seine Forderung, daß der gesamte Klerus dieser Lebensweise zu unterwerfen sei, führte ihn in fortwährende Konflikte; aber auch in Rottenbuch selbst schon kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Einführung der —»Augustinusregel (regula secunda), die in seinem überfordernden Rigorismus auch persönlichkeitsbedingte Gründe für seine ständigen Schwierigkeiten deutlich machen. Bischof Konrad von Regensburg, an den er sich 1 1 2 4 wandte, weihte ihn zum Priester und übertrug ihm zur Verwirklichung seiner Reformvorstellungen die Pfarrei Cham; doch scheiterte er auch hier bei der Durchsetzung der vita communis im Pfarrklerus. Ohne Amt 1 1 2 6 — 1 1 3 2 in Regensburg lebend, geißelte er in ersten umfangreichen Schriften die Verweltlichung des Klerus, die er u. a. mit dem Eindringen des Geldwesens und mit der Feudalisierung der Kirche im Gefolge des Wormser Konkordats (—>Investiturstreit) in Verbindung brachte (De aedificio Dei, 1128). Irregulär lebende Kleriker sah er als Schismatiker und Häretiker ohne Weihegewalt an, was ihm dann selbst einen Häresieprozeß eintrug, der mit einem Schweigegebot endete. Der sich dagegen verteidigende Dialogus inter clericum saecularem et regulärem an Papst Innozenz II. veranlaßte diesen 1 1 3 1 , Gerhoch dem Salzburger Erzbischof Konrad I. zu empfehlen. Konrad setzte ihn zum Propst des von Salzburg abhängigen Chorherrenstifts Reichersberg (am Inn) ein. Von hier aus wirkte er bis zu seinem Tode am 27. Juni 1 1 6 9 als Reformer und fruchtbarer theologischer Schriftsteller. Für seine radikalen Reformideen suchte er bis zu Beginn der 50er Jahre Rückhalt vor allem auch bei Päpsten und Kardinälen (acht oder neun Reisen nach Rom), die sich aber trotz
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Gerhoch von Reichersberg
aller Anmahnungen Gerhochs zurückhaltend zeigten. Unter Papst Hadrian IV. kam es 1156 zur Vertrauenskrise; die römische Kirche wurde nun immer heftiger in seine Kritik an der Verweltlichung einbezogen. Doch allenthalben stieß er auf Bedenken, so etwa bei —»Bernhard von Clairvaux, dem gegenüber er 1135 seine Lehre von der Ungültigkeit der Sakramente simonistischer Priester verteidigte {De simoniacis). Zugleich zog er gegen die christologischen Lehren der französischen Scholastiker und gegen die „moderne" Dialektik überhaupt zu Felde; —»Abaelard und —»Gilbert Porreta, aber auch —»Petrus Lombardus fanden seine teils vehemente Kritik. Deutsche Streitgegner waren der Magister Peter von Wien, Folmar von Triefenstein und Bischof Eberhard II. von Bamberg. Gerhoch sah einen engen Zusammenhang zwischen der Verweltlichung des Klerus und der Dialektik, die alle Heilswahrheiten auflöse. Kontroversen und Konflikte hatten sich in dieser Weise mannigfach zugespitzt, so daß er schließlich in immer stärkere Isolation geriet. Im Schisma von 1159 bezog er eine neutrale Position zwischen —»Alexander III. und -»Friedrich Barbarossa, suchte aber 1163 zugunsten Alexanders III. zu vermitteln. Dabei überschätzte er seine politischen Möglichkeiten erheblich; 1167 mußte er Reichersberg gar vorübergehend verlassen. Seine Alterswerke, u.a. De investigatione Antichristi (1160/62) und De quarta vigilia noctis (1167), sind geprägt durch einen zunehmenden Pessimismus, der den Antichrist überall im Vordringen und das Ende bevorstehen sieht. 2. Werk So rigoros seine Forderungen stets waren (doch baute er ebenso konsequent den weltlichen Besitz seines Reichersberger Stiftes aus), so vielfältig sind die Bereiche, in denen er über seine energische Reformarbeit hinaus (deren Erfolg freilich im wesentlichen auf Reichersberg beschränkt blieb) literarisch tätig wurde. Gegenüber der fortschreitenden Differenzierung im theologischen Denken seiner „modernen" Zeitgenossen verteidigte er Ganzheit und Einheit in der Kohärenz theologischen Verständnisses. Sah er Leben und Denkweise des Klerus in engem Zusammenhang, so ging es ihm in der Theologie um eben diese von der Dialektik bedrohte Totalität christlicher Soteriologie. Das führte ihn in der Frage der Sakramentenwirksamkeit zu einer überzogenen Wertung der priesterlichen Qualität. In der Christologie betonte er, sich auf —»Cyrillus von Alexandrien stützend, die Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi so nachdrücklich, daß er sich den Vorwurf des Monophysitismus zuzog. Die Einheit Christi wurde ihm vor allem gegenwärtig in der Vereinigung von „Wort" und „Fleisch" im Altarssakrament und in dieser Vereinigung heilswirksam. Trotz gewisser Korrekturen in seinen späteren Werken ging es ihm mit seiner These Christus homo aequalis Patri in Abwehr adoptianistischer Verständnisweise auch da um den totus Christus (Degloria et honore Filii hominis [1163], wohl die wichtigste seiner christologischen Schriften, mit einer engagierten Eucharistielehre), dem du lia und latria gebühre (Utrum Christus homo sit Filius DeietDeus natura an gratia, 1164). Unter seinen Gewährsmännern nehmen —»Johannes von Damaskus mit seiner chalcedonensischen Christologie und —»Hilarius von Poitiers eine bedeutende Stellung ein. Die Einheit des Gottmenschen als Voraussetzung für das Heil zu sichern, war das bestimmende Thema seiner Theologie. Angriffe dagegen erhielten für ihn stets auch heilsgeschichtliche Dimension. Sein Denken ist, gerade unter dem Aspekt der Heilswirksamkeit, in starkem Maße historisch geprägt. In seinem Libellus de ordine donorum Spiritus Sancti (1142) entwickelte er, wenngleich in enger, weithin sogar wörtlicher Anlehnung an —»Rupert von Deutz, eine recht geschlossene Geschichtstheologie. Sie gründet auf einer intensiven symbolischen Bibelexegese, die in seiner Geschichtstheologie vor allem typologisch nutzbar gemacht wird. Stärker als Rupert bezieht er die Gegenwart in seine geschichtstypologische Interpretation ein. In seinen Spätwerken stellt er nicht nur Bezüge zwischen Bibel und Geschichte aller Art her, sondern entfaltet in der geschichtlichen Entsprechung von Altem Testament und christlicher Heilsgeschichte eine methodisch schon ganz speziell auf—»Joachim von Fiore vorausweisende Epochentypologie, ohne jedoch Christus als soteriologische Mitte der Geschichte durch eine Geisttheologie zu relativieren.
Gericht Gottes I
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Nicht Sentenzen und sich daran knüpfende „ Q u a e s t i o n e n " bilden den Ausgangspunkt seiner theologischen B e m ü h u n g , sondern der integrale Schrifttext. Die geschlossene T e x t exegese findet ihren H ö h e p u n k t in seinem umfangreichen (wohl überhaupt ausführlichsten mittelalterlichen) P s a l m e n k o m m e n t a r . Bemerkenswert ist sein historisch-kritischer Sinn, der ihn u . a . schon —>Ambrosius und—»Ambrosiaster unterscheiden läßt. Begriffliche Differenzierung als solche stand ihm im Dienste seiner oft vereinseitigenden Zielsetzungen gleichwohl bestens zur Verfügung, wie seine Abgrenzung von regalia und ecclesiastica beim Kirchenbesitz und seine Unterscheidungen in der Eucharistielehre (aktive und passive W i r kung, sacrificium und sacramentum usw.) zeigen. Im Gegensatz zu den scholastischen M a gistern fehlte ihm a b e r formale systematische Strenge und konzise gedankliche Prägnanz; hervorragende Einsichten verlieren in der undisziplinierten, stark assoziativ gelenkten Weitschweifigkeit seiner W e r k e , für die seine emotionale Dynamik mitverantwortlich ist, aus diesem Grunde viel von ihrer Wirkung. 3.
Nachwirkung
D i e handschriftliche Überlieferung seines umfangreichen Opus blieb nicht zuletzt deshalb recht schmal und besteht zum großen Teil aus Reichersberger Kodizes. Abgesehen von flüchtiger Ausgrabung in Renaissance und Barockzeit (u. a. durch Gretser) wird er weiterreichende Beachtung dann doch erst innerhalb des neuen historisch-theologischen Interesses im 1 9 . und 2 0 . J h . finden, das in ihm einen vergessenen Vorläufer neuerer T h e o l o g i e entdeckt. O b seine zeitgeschichtliche W i r k u n g der eigenen, nicht gerade bescheidenen Selbsteinschätzung wie auch der in der jüngsten Geschichtsforschung aufgewendeten Erschließungsarbeit entsprach, ist zwar fraglich. Die Bedeutung seiner Einsichten und Positionen als solcher, zumal in ihrem theologie- und verfassungsgeschichtlich exemplarischen C h a r a k t e r , sowie die Weitgespanntheit seiner Arbeiten lassen ihn jedoch im einhelligen Urteil der Forschung als einen der wichtigsten D e n k e r seiner Z e i t , insbesondere im deutschen Kulturraum, erscheinen. Quellen PL 1 9 3 , 4 6 1 - 1 9 4 , 1 4 9 0 . - MGH. LL 111,131-525. - Gerhohi praepositi Reichersbergensis Opera inedita, cura et studio PP. Damiani ac Odulphi van den Eynde et P. Angelini Rijmersdael O . F . M . , 1955/56 (SPAA 8 - 1 0 ) . - Gerhoch of Reichersberg, Letter to Pope Hadrian about the Novelties of the Day, ed. by Nikolaus M. Häring, S.A.C., 1974, (STPIMS 24). Literatur Peter Classen, Gerhoch v. Reichersberg. Eine Biographie, Wiesbaden 1960. - Peter Classen, Der Häresie-Begriff bei Gerhoch v. Reichersberg u. in seinem Umkreis: The Concept of Heresy in the Middle Ages, Löwen/Den Haag 1976 (Mediaevalia Lovaniensia, 1/4), 2 7 - 4 1 . - Ders., Art. Gerhoch de Reichersberg: DSp 6 (1967) 3 0 3 - 3 0 8 . - Hraban Haacke, Art. Gerhoch v. Reichersberg: VerLex 2 2 (1979) 1 2 4 5 - 1 2 5 9 . - Anna Lazzarino del Grosso, Armut u. Reichtum im Denken Gerhohs v. Reichersberg, 1973 (ZBLG.B 4, R.B). - Dies., Società e potere nella Germania del XII secolo. Gerhoch di Reichersberg, Florenz 1974 (Il pensiero politico. Biblioteca 6). - Erich Meuthen, Kirche u. Heilsgesch. bei Gerhoh v. Reichersberg, 1959 (STGMA 6). -Damien van den Eynde O.F. M., L'Œuvre littéraire de Géroch de Reichersberg, 1957 (SPAA 11) - Paolo Tornea, In merito al concetto di ,Apostolicae sedes' in Gerhoch di Reichersberg: Aevum 4 9 (1975) 7 7 - 9 3 . Erich M e u t h e n
Gericht G o t t e s I. Altes T e s t a m e n t II. J u d e n t u m III. Neues T e s t a m e n t IV. Alte Kirche bis Reformationszeit V. Neuzeit und ethisch
466 469 483 492
Gericht Gottes I
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Nicht Sentenzen und sich daran knüpfende „ Q u a e s t i o n e n " bilden den Ausgangspunkt seiner theologischen B e m ü h u n g , sondern der integrale Schrifttext. Die geschlossene T e x t exegese findet ihren H ö h e p u n k t in seinem umfangreichen (wohl überhaupt ausführlichsten mittelalterlichen) P s a l m e n k o m m e n t a r . Bemerkenswert ist sein historisch-kritischer Sinn, der ihn u . a . schon —>Ambrosius und—»Ambrosiaster unterscheiden läßt. Begriffliche Differenzierung als solche stand ihm im Dienste seiner oft vereinseitigenden Zielsetzungen gleichwohl bestens zur Verfügung, wie seine Abgrenzung von regalia und ecclesiastica beim Kirchenbesitz und seine Unterscheidungen in der Eucharistielehre (aktive und passive W i r kung, sacrificium und sacramentum usw.) zeigen. Im Gegensatz zu den scholastischen M a gistern fehlte ihm a b e r formale systematische Strenge und konzise gedankliche Prägnanz; hervorragende Einsichten verlieren in der undisziplinierten, stark assoziativ gelenkten Weitschweifigkeit seiner W e r k e , für die seine emotionale Dynamik mitverantwortlich ist, aus diesem Grunde viel von ihrer Wirkung. 3.
Nachwirkung
D i e handschriftliche Überlieferung seines umfangreichen Opus blieb nicht zuletzt deshalb recht schmal und besteht zum großen Teil aus Reichersberger Kodizes. Abgesehen von flüchtiger Ausgrabung in Renaissance und Barockzeit (u. a. durch Gretser) wird er weiterreichende Beachtung dann doch erst innerhalb des neuen historisch-theologischen Interesses im 1 9 . und 2 0 . J h . finden, das in ihm einen vergessenen Vorläufer neuerer T h e o l o g i e entdeckt. O b seine zeitgeschichtliche W i r k u n g der eigenen, nicht gerade bescheidenen Selbsteinschätzung wie auch der in der jüngsten Geschichtsforschung aufgewendeten Erschließungsarbeit entsprach, ist zwar fraglich. Die Bedeutung seiner Einsichten und Positionen als solcher, zumal in ihrem theologie- und verfassungsgeschichtlich exemplarischen C h a r a k t e r , sowie die Weitgespanntheit seiner Arbeiten lassen ihn jedoch im einhelligen Urteil der Forschung als einen der wichtigsten D e n k e r seiner Z e i t , insbesondere im deutschen Kulturraum, erscheinen. Quellen PL 1 9 3 , 4 6 1 - 1 9 4 , 1 4 9 0 . - MGH. LL 111,131-525. - Gerhohi praepositi Reichersbergensis Opera inedita, cura et studio PP. Damiani ac Odulphi van den Eynde et P. Angelini Rijmersdael O . F . M . , 1955/56 (SPAA 8 - 1 0 ) . - Gerhoch of Reichersberg, Letter to Pope Hadrian about the Novelties of the Day, ed. by Nikolaus M. Häring, S.A.C., 1974, (STPIMS 24). Literatur Peter Classen, Gerhoch v. Reichersberg. Eine Biographie, Wiesbaden 1960. - Peter Classen, Der Häresie-Begriff bei Gerhoch v. Reichersberg u. in seinem Umkreis: The Concept of Heresy in the Middle Ages, Löwen/Den Haag 1976 (Mediaevalia Lovaniensia, 1/4), 2 7 - 4 1 . - Ders., Art. Gerhoch de Reichersberg: DSp 6 (1967) 3 0 3 - 3 0 8 . - Hraban Haacke, Art. Gerhoch v. Reichersberg: VerLex 2 2 (1979) 1 2 4 5 - 1 2 5 9 . - Anna Lazzarino del Grosso, Armut u. Reichtum im Denken Gerhohs v. Reichersberg, 1973 (ZBLG.B 4, R.B). - Dies., Società e potere nella Germania del XII secolo. Gerhoch di Reichersberg, Florenz 1974 (Il pensiero politico. Biblioteca 6). - Erich Meuthen, Kirche u. Heilsgesch. bei Gerhoh v. Reichersberg, 1959 (STGMA 6). -Damien van den Eynde O.F. M., L'Œuvre littéraire de Géroch de Reichersberg, 1957 (SPAA 11) - Paolo Tornea, In merito al concetto di ,Apostolicae sedes' in Gerhoch di Reichersberg: Aevum 4 9 (1975) 7 7 - 9 3 . Erich M e u t h e n
Gericht G o t t e s I. Altes T e s t a m e n t II. J u d e n t u m III. Neues T e s t a m e n t IV. Alte Kirche bis Reformationszeit V. Neuzeit und ethisch
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Gericht Gottes I 1. Altes Testament
1. Begriff 2. Ansätze in der Friihzeit 3. Die sogenannte Gerichtsprophetie 4. Das Strafgericht an den Völkern 5. Vergeltung und Tun-Ergehen-Zusammenhang 6. Gottesurteil und Gottesgericht 7. Das apokalyptische Endgericht (Literatur S. 465)
1. Begriff Mit der Verwendung des Begriffs „Gericht Gottes" in der Exegese und Theologie des Alten Testaments wird versucht, traditionsgeschichtlich komplexe Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen. Die intendierte Rahmenfunktion ist dadurch gewährleistet, daß der vom Bildgehalt der Metapher hergeleitete Bedeutungsumfang Platz für sehr verschiedene Konzeptionen bietet, die im Laufe der Theologieund Literaturgeschichte des Alten Testaments entwickelt wurden. Unter der Dominanz des Begriffs haben sich - zum Teil gestützt durch die alttestamentlichen Sachverhalte selbst - gewisse feste terminologische Gewohnheiten und Definitionen herausgebildet, die nicht immer mit der nötigen Reflexion gehandhabt werden. So spricht man z. B. von „Gerichtspropheten", „Gerichtswort", „Gerichtsdoxologie", ist geneigt alle negativen Interventionen Gottes „Strafgerichte", „Gerichte" zu nennen und mit Vorstellungen vom Zorn Gottes oder von der —»Gerechtigkeit Gottes zu kombinieren. Die alttestamentlichen Vorstellungen von einem richterlichen Handeln Gottes, die vor allem an die Wortgruppen der Wurzelnspt, rib, din, pll gebunden sind, müssen überlieferungsgeschichtlich gesondert und nach ihren je eigenen Bedeutungsnuancen beschrieben werden, ehe die Leistung des Begriffs ermessen werden kann.
2. Ansätze in der
Frühzeit
Die Ausbildung einer Vorstellung, die man mit dem Theologumenon „Gericht Gottes" bezeichnen kann, ist nach dem alttestamentlichen Zeugnis erst in der Königszeit erfolgt. Sie hat offenbar die Konzeption des —»Königtums Gottes zur Voraussetzung, die in der frühen Königszeit aufkommt (W.H. Schmidt). Dennoch gibt es in der älteren Überlieferung vereinzelt Hinweise darauf, daß man in Israel zuvor schon von einem richterlichen oder rechtskonformen Handeln Jahwes gewußt hat. 2.1. Die ältesten greifbaren Zeugnisse bilden die einigermaßen datierbaren Eigennamen „rechtlichen Inhalts", das sind theophore Namen, die mit den Verben din, spt, rib, pll gebildet sind (Stamm). Es zeigt sich, daß dieser Namentyp - vor allem mit Formen von din (z. B. der Stamm Dan) — relativ alt ist, aber erst in der Davidszeit häufiger wird - dann vorwiegend mitspi zusammengesetzt (z. E.Jchösäpät, der Kanzler Davids, II Sam 8,16; S'patjä, 5. Sohn Davids, II Sam 3,4; Ribaj — vgl. J'ribaj, I Chr 11,46 - Vater eines der 30 Helden Davids, II Sam 23,29 —p//-Namen sind im allgemeinen jünger); daß sie im westsemitischen Umkreis ihre Entsprechungen haben (z.B. ugaritisch Dnil/Dn.il, Vater des Aqht im Epos, oder TptbH, vgl.] e rubba c l, Jdc 6,32, oder Tptnhr-, akkadisch dNN-da/än [Gott NN ist Richter]; amoritisch Da-ni-AN = Dän-ilu/-il/el [Gott/Elhat Recht verschafft]; phönizisch Baclu-sipti, Stadtfürst von Gezer in der Amarnazeit); weiter zeigt sich, daß diese Namen mit „Gott NN hat Recht ge/verschafft, hat zum Recht geholfen" übersetzt werden müssen (Stamm) pll spezieller mit „eintreten für" - , daß also hinter diesen Satznamen Bekenntnisaussagen über das richterliche Handeln Gottes stehen. Exemplarisch ist die Erklärung zu,Dan' in Gen 30,6: „Gott hat mir Recht verschafft, indem er mich erhört und mir einen Sohn gegeben hat". Schließlich zeigt sich, daß solch erfahrbar helfend eingreifendes Handeln Gottes im privaten wie im höfischen Bereich mit dem sonst für alle rechtschaffenden oder rechtsetzenden Funktionen üblichen Zeitwort gekennzeichnet wurde. 2.2. Weniger direkt faßbar und lokalisierbar sind Vorstellungen von Strafen des „Gottes der Väter" (Alt) im Rahmen der Sippenreligion gegenüber seinen „Angehörigen" und von Strafen Jahwes gegenüber seiner Gefolgschaft und den „Israel" genannten Verehrergruppen. Von Strafen dieser Art reden aber die alten Erzählstoffe, ohne daß immer deutlich wäre, auf welcher Basis man diese richterlichen Interventionen, die sich doch wohl aus den jeweiligen Gottesbeziehungen ergaben, begriffen hatte (vgl. Gen 31,53; 16,5). Zwei Erzählmotive sind in diesem Zusammenhang bedeutsam: die sogenannte Gefährdung der Ahnfrau (Gen 12; 20; 26; vgl. auch 4 9 , 3 - 7 ; Dtn 33,20f) und das Murren des Volkes (Num 11; 12; 14; 16; 20; 21).
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2.3. Als drittes Gerichtsmotiv begegnet in der älteren Überlieferung die Feststellung von Jahwes kosmischer oder kriegerischer, als Strafe gedeuteter Intervention gegen seine Feinde und die Feinde Israels, auch hier, ohne daß der Vorstellungskern in seiner Entstehung greifbar wäre. Zu nennen ist vor allem der Bereich der ätiologischen Sagen, die das Geschick von Stämmen, Städten und Völkern außerhalb Israels reflektieren, so z. B. die Sodomsage in Gen 19 (später exemplarisches Gerichtsmodell), die Kenitersage in Gen 4 , die Babelätiologie in Gen 11, dann aber auch die kriegerischen Strafaktionen an den Ägyptern nach E x 1 5 , 2 1 und allen Feinden Gottes in J d c 5 , 3 1 . Das Bild des für Israel eintretenden und strafenden Gottes erhält hier erste Konturen (II Sam 1 8 , 1 9 . 3 1 ; J d c 1 1 , 2 7 ) . 2.4. In der Zeit, als in Israel das aufkommende —»Königtum Gerichtsfunktionen übernahm (vgl. I Sam 8 , 2 0 ; II Sam 1 5 , 2 f f ; I Reg 3), kam es offenbar im Zusammenhang der Gott-König-Vorstellung zu Reflexionen über die richterliche Funktion Jahwes. W a r spt nunmehr Königsaufgabe, erweiterte sich die althergebrachte Bedeutung „Recht schaffen, zum Recht verhelfen" mehr und mehr zu „Recht setzen" und „Recht durchsetzen", ersteres hinsichtlich der legislativen, letzteres hinsichtlich der exekutiven Funktionen eines monarchischen Staates. Doch blieb das Ideal des schiedsrichterlich tätigen, dem Unschuldigen, Rechtsschwachen, Rechtlosen zu seinem Recht verhelfenden König (I Reg 3) auch für das Gottesbild bestimmend (z.B. I Sam 2 4 , 1 3 . 1 6 ; E x 5 , 2 1 ; Ps 8 2 , 2 f f ; Jes 1 1 , 3 f ; 16,5). Zwei Entwicklungen zeichnen sich ab: einmal die Verbindung der Herrschaftsfunktion des „Richtens" mit der Vorstellung der Repräsentanz und Präsenz des königlichen Richters in den sogenannten Theophanietraditionen (so etwa in Ps 8 2 und in älteren Teilen der Jahwe-Königs-Hymnen, Ps 9 8 , 9 ; 9 6 , 1 0 [ 1 3 ] ) , zum andern die Kombination mit der Schöpfungstradition: Gott ('El celjön)/JHWH, „der Schöpfer Himmels und der Erde" (Gen 1 4 , 1 9 ) als der „Richter der ganzen Erde" (Gen 1 8 , 2 5 ) . Aus diesem Zusammenschluß sind die urgeschichtlichen „Erzählungen von Schuld und Strafe" (Westermann, B K 1 / 1 ) Gen 2—11 und ihre Darstellung der Gerichte Jahwes zu erklären (—»Urgeschichte). Der Schöpfer hat alles Recht, über seine Geschöpfe souverän zu bestimmen. Die Strafaktionen bestehen nach Gen 2 ff in der Revision der Grundbedingungen des Daseins in der Welt. Die rezipierte Sintflutgeschichte exemplifiziert die uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Schöpfers, die durch die Ausnahme Noah nur bestätigt wird, und die Selbstbeschränkung für die Zukunft (Gen 8 , 2 1 f J). Beide Entwicklungen entsprechen Jerusalemer Traditionen und sind wohl am Tempelheiligtum zu lokalisieren (vgl. besonders Jes 2 , 4 = M i 4 , 3 ; Jes 3 3 , 2 2 ) . 3. Die sogenannte
Gerichtsprophetie
Die Botschaft der alttestamentlichen —»Propheten bestand in der Ankündigung eines bedingten oder unbedingten Unheilsgeschehens über Israel als Jahwes Volk und über die Völkerwelt. Dem Vorbild der Spätphase der Prophetie entsprechend (z.B. Ez 7 , 3 . 8 . 2 7 ; Jes 6 6 , 1 6 ; Jer 2 5 , 3 1 ; Sach 1 , 2 f f u.a.), hat sich zur Bezeichnung jenes Unheilsgeschehens und seines Begründungszusammenhangs der Begriff „ G e r i c h t " eingebürgert. Die damit umschriebene Struktur des Geschehens beherrscht thematisch die Diskussion um die formgeschichtliche Bestimmung des Prophetenwortes als Gerichtsankündigung, Gerichtsbegründung, Anklage, Schuldaufweis, Plädoyer, Gerichtsszene usw., vor allem in Gestalt der Frage nach der „eigentlich prophetischen Gattung" (Gunkel). Die Frage ist offen, das Problem des theologischen Ortes der Gerichtsprophetie nicht konsensfähig gelöst. Diskutiert werden folgende Lösungsmöglichkeiten: a) Man sieht die eigentlich prophetische Gattung im sogenannten Gerichtswort, bestehend aus Gerichtsbegründung (Scheltwort) und Gerichtsankündigung (Drohwort), die sich wie Anklage und Urteilsspruch im profanen Rechtsleben zueinander verhalten, und die Basis dieses Gerichts entweder im altisraelitischen Recht oder im sogenannten „sakralen Bundesrecht", wobei man sich auf je verschiedene Deutungen der älteren Rechtscorpora im Alten Testament bezieht (—»Bundesbuch, —»Dekalog, -»Heiligkeitsgesetz). Das von den Propheten angekündigte Gericht besteht demnach aus Anklage, Urteilsverkündigung, Strafankündigung einerseits und dem Strafvollzug in Form diverser Katastrophen, die über Könige, Stände, die Staaten Israel und Juda, das Gottesvolk als ganzes kommen sollen, andererseits.
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b) Die prophetische Gerichtsrede hat ihren Ursprung und Sitz im altisraelitischen Kult und wurzelt in einem kultisch dargestellten Gerichtsakt, in dem im Namen Jahwes Anklage gegen Israel erhoben wird. Das „Erscheinen JHWHs zum Richten" - dokumentiert in einigen als Theophanieliturgien gedeuteten Psalmen (z.B. 76; 98; 50; 75) - prägt die prophetische Botschaft nach Form und Inhalt (Würthwein). c) Die prophetische Verkündigung repräsentiert grundsätzlich Heroldsbotschaft und Botenrede, die nach diplomatisch-politischen Kategorien aus der Analogie zwischenstaatlicher („völkerrechtlicher") Beziehungen zu verstehen sind. Sowohl die prophetische Anklage wie die Strafansage haben ihre Logik aus dem unmittelbaren Gott-König-, bzw. Gott-Volk-Verhältnis und sind Konsequenz einseitigen Loyalitätsbruchs („Bundesbruch"). Insofern geht es um das Grundverhältnis, dessen Krise sich allerdings auch in Verstößen gegen das geltende Recht anzeigt. Die Propheten verstehen sich selbst als „Gerichtsboten" (Harvey), die eine Strafexpedition Gottes und die totale Exekution auszurufen und dem Rebellen anzudrohen haben. Aus diesem Zusammenhang wäre zu erklären, weshalb die Propheten sich als Königsboten des Herrn und Richters der Welt ausweisen und legitimieren (sogenannte Berufungstexte), weshalb Anklage und Strafvollzug in derselben Funktion vereinigt sind, weshalb das Gericht vorwiegend in kriegerischen Ereignissen sich vollzieht, weshalb es Israel als Größe sui generis und auch die Völker (Fremdvölkerworte) erfaßt und weshalb der Tag des Gerichts mit dem Tag der Strafe (nicht mit dem Prozeß „im Himmel") zusammenfällt („der Tag Jahwes"). d) Die prophetische Verkündigung beruft sich auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang einer —»Ethik der synthetischen Weltauffassung. Gerichtsterminologie ist von der Interpretation dieses Wirkungsablaufs fernzuhalten (Koch, Profeten). Das Talionsprinzip ist die Grundlage der geschichtlichen Evolution. Die Propheten machen auf diese Zusammenhänge aufmerksam. „Lagehinweis" und „Weissagung" bilden die konstitutiven Teile der „Profezeiung" als der typischen Form mantischer Rede. Keinesfalls „ein pauschales Gericht", vielmehr das „komplexe Gefüge einer .sittlichen Weltordnung'" ist es, was den Propheten vor Augen steht (ebd. 9 ff. 82 ff. 157 ff u.a.). Die zukünftige Katastrophe ereignet sich mit ethischer Notwendigkeit. Die Gerichtsterminologie ist sekundär. Die Diskussion leidet an der gegenwärtigen Unsicherheit in der Zuweisung und Datierung einzelner Überlieferungen. Die Deutung der eigentlich prophetischen Redegattung ( „ G e r i c h t s w o r t " ) entscheidet über das Verständnis der Prophetie und ihrer „ G e r i c h t s b o t schaft:". Wichtig ist, daß bei der vorexilischen Prophetie zu unterscheiden ist zwischen der „Gerichtsverkündigung" der sogenannten Kultprophetie „gegen einzelne Israeliten und Gruppen in Israel" als gegen „Frevler innerhalb Israels", wie sie vom Buch H i o b und einigen kultprophetischen Klageliturgien im Psalter ( z . B . Ps 1 2 ; 1 4 ; 7 5 ; 8 2 ) bezeugt zu sein scheint, und der „Gerichtsverkündigung" der sogenannten Unheilspropheten gegen Israel als ganzes (Jes 6 ; J e r 1; Ez 2 ; Am 8 , 2 z . B . ) , w o b e i Heil nur nach dem Unheil vorstellbar ist. „ D i e Kluft erscheint u n ü b e r b r ü c k b a r " (Jeremias 1 9 4 ff. 1 8 0 ) . O f f e n b a r waren den Kultpropheten Propheten wie - » N a t h a n , —»Elia und andere in der Verkündigung eines individuellen Strafgerichts J a h w e s an Königen (z.B. I l S a m 1 2 ; I R e g 2 1 ) und von M a h n - und Strafaktionen an Israel (I Reg 1 7 ff) vorangegangen. Auch m u ß unter dem Aspekt der Gerichtsthematik als mutmaßlich entscheidender Fakt o r die prophetische Vorstellung v o m Z o r n Gottes einbezogen werden. „ D i e Verkündigung vom Z o r n Gottes ist im A T nicht identisch mit der Darstellung des göttlichen richterlichen Aktes; sie meint nicht nur eine A k t i o n , sondern einen Lebensvorgang in G o t t selbst, einen ,Affekt' G o t t e s " (Fichtner 3 9 7 ) . Insofern die Propheten, vor allem des 7 . / 6 . J h . (—»Jeremia, —»Ezechiel), ihre Unheilsbotschaft mit dem Z o r n Gottes begründet oder motiviert sehen, ist für sie a m wenigsten ein dynamistischer o d e r juristischer Automatismus als Modellvorstellung maßgeblich, als vielmehr die personhafte Realität des verletzten, beleidigten, mißachteten und darum „zu R e c h t " aufgebrachten Herrn seines V o l k e s und der W e l t . N u r dann schließen sich Gottes Z o r n und Gottes Gerechtigkeit nicht aus (Procksch u . a . : T h W N T 5,392ff). Eine Sonderform der Gerichtsrede bilden die Gerichtsszenen in der deuterojesajanischen Überlieferung, in denen J H W H die G ö t t e r anderer V ö l k e r vor G e r i c h t zieht (Jes 4 1 , 1 - 5 . 2 1 - 2 9 ; 4 3 , 8 - 1 5 ; 4 4 , 6 - 8 ; 4 5 , 2 0 - 2 5 [ 1 1 - 1 3 ] ; vgl. Ps 8 2 ; - » D e u t e r o j e s a j a ) . Gerichtlich soll entschieden werden, wer in Wirklichkeit G o t t ist. Aber D t j e s kennt auch die mit der Vorstellung v o m Z o r n Gottes verbundene Gerichtsvorstellung, und zwar anders als die vorexilische Prophetie als Grundlage der Heilsverkündigung. E r verkündet dem V o l k in der V e r b a n n u n g das Ende der Zeit des Gotteszorns, n a c h d e m es, um einer höheren Gerech-
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tigkeit zu genügen, im - > E x i l den „Kelch des Zorns geleert" ( 5 1 , 1 7 . 2 2 ) und als Strafmaß „ein Zwiefaches für seine Sünden empfangen" hat (40,2). Aber auch diese Vorstellung vom Gericht an Israel entspricht ganz den Intentionen der vorexilischen Propheten. Wahrscheinlich unter dem Einfluß der prophetischen Verkündigung sucht das dtr Geschichtswerk die Exilskrise als Resultat göttlichen Gerichtshandelns darzustellen. Es versteht sich offenbar selbst nach Art und Vorbild einer sogenannten Gerichtsdoxologie, wie sie nach sakralrechtlicher Tradition als Reaktion auf Leidenserfahrungen und Schicksalsschläge in Anerkennung des darin manifest gewordenen göttlichen Strafurteils erforderlich und üblich gewesen zu sein scheint (vgl. Hi 1 f als Paradigma des gerichtsdoxologischen Handelns eines Einzelnen in Bekenntnis und Lobpreis; dazu Horst, Doxologien 1 5 5 f). 4. Das Strafgericht
an den
Völkern
Auf der Linie der traditionellen Vorstellung vom Gericht Jahwes an den Feinden Israels und im Anschluß an die Fremdvölkerverkündigung der vorexilischen Prophetie festigt sich während und nach dem Exil die Erwartung eines die Völkerwelt erfassenden Gerichtshandelns, eines „Zorn- oder Abstrafungsgerichts", „wie es der imperiale Oberherr über niedergezwungene Aufrührer hält (vgl. II Reg 2 5 , 6 ; Jer 5 2 , 6 ) " (Horst: R G G 3 2 , 1 4 1 9 ) . Der prophetische Hintergrund ist bei Ezechiel wahrnehmbar, insofern er sowohl das Strafhandeln Jahwes an Israel „nach seinem Wandel" (z.B. 7 , 3 . 8 . 2 7 ; 1 6 , 3 8 ; 1 8 , 3 0 ) , das Gericht, „das er in seiner Mitte hält" (z.B. 5 , 8 . 1 0 . 1 5 ; 11,9 f; 1 4 , 2 1 ) , als auch das Strafgericht an den Nachbarvölkern ( 2 8 , 2 6 ; Sidon 2 8 , 2 2 . 2 6 ; Babel 2 1 , 3 5 ; Ägypten 3 0 , 1 9 ) mit denselben Termini bezeichnet (spt und Derivate). Etwas anders Ez 3 4 , 1 7 . 2 0 . 2 2 , wo vom Rechtschaffen, Rechtsprechen („einem Schaf gegen das andere") zugunsten einzelner die Rede ist. Bemerkenswert ist, daß die —»Priesterschrift dieselbe Terminologie für die an den Ägyptern und ihren Göttern beim Passa und Exodus vollzogenen Strafgerichte gebraucht {'äsä s'pälim, Plural, E x 6,6; 7,4; 1 2 , 1 2 ; Num 3 3 , 4 ) . Hier liegt eine Wurzel für den theologischen Sondergebrauch des Begriffs Gericht im Blick auf die alttestamentliche Prophetie. Von einem Abstrafungsgericht spricht explizit auch das Moselied Dtn 3 2 : „Wenn ich geschärft mein blitzendes Schwert, wenn meine Hand zum Gericht (mispäf) greift, so will ich Rache üben an meinen Drängern und meinen Hassern vergelten (slm pi.)" ( 3 2 , 4 1 ) . Es ist offensichtlich, daß das Bild eines solchen Gerichts auf die prophetischen Völkerorakel in globo anwendbar ist. 5. Vergeltung
und
Tun-Ergehen-Zusammenhang
Nachdem man traditionellerweise „Recht und Religion im Bereich des Alten Testaments" vom „Prinzip der Vergeltung" beherrscht sah in dem Sinne, daß nach dem Richtsatz der Talio menschliche Taten individuell vergolten und Lohn und Strafe verteilt werden, was entsprechend auch für Gottes richterliches Handeln am einzelnen Menschen gilt, wurde von Fahlgren und Koch dieses „ D o g m a " einer pauschalen Vergeltungslehre infragegestellt und durch die These von der „synthetischen Lebensauffassung" bzw. der „schicksalwirkenden Tatsphäre" verdrängt. Danach galt im alten Israel als ethisches Grundprinzip, daß jeder Mensch durch gutes oder böses Tun sich sein Schicksal selbst bestimmt, indem er durch sein Tun sich eine Sphäre schafft, „die ihn bleibend heil- oder unheilwirkend umgibt" und die zu ihm gehört „in ähnlicher Weise wie sein Eigentum" (Koch: Prinzip 1 6 6 f ) . Die immanente Kausalität der Tatsphärewirkung wird nun nach israelitischer Auffassung von Jahwe garantiert, indem er „die Schicksalwirkung der menschlichen T a t " durchsetzt und so über das Funktionieren des Systems wacht. Der Begriff „Vergeltung" ist für dieses Denken in Sphären und Wirkkräften unangemessen, weil er „juristisch" verstanden einen Vorgang bezeichnet, in dem an den Menschen von außen etwas Fremdes herangetragen wird. Er geht zu Lasten der griechischen Übersetzung („hier in der Septuaginta wird die Religion in Rechtsbegriffe gefaßt, nicht schon im Alten T e s t a m e n t ! " [ 1 7 6 ] ) . In der weiteren Diskussion (dokumentiert von Koch: ebd.) wurde diese Sichtweise relativiert. Es wird darauf hingewiesen, daß das Prinzip der schicksalwirkenden Tatsphäre weisheitlicher Erkenntnis entspricht, die versucht, die dynamistische Auffassung von der
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Fluch- bzw. Segenswirkung böser bzw. guter Taten, dem eigenen Ordnungsdenken zu unterwerfen und in seiner Gesetzmäßigkeit festzuhalten (Gese: ebd. 2 1 3 ff). Es wird dargelegt, daß man im Blick auf die souveräne Beteiligung Jahwes an dem Schicksalsprozeß im TunErgehen-Zusammenhang auf theologischer Reflexionsebene zwar nicht in erster Linie den Begriff „Vergeltung", aber immerhin verbreitet rechtliche Kategorien und Termini verwendet hat (Horst: ebd. 181 ff). Offenbar ist die Unterscheidung der Ebenen erforderlich, d.h. der Bereiche, in denen die Vorstellungskomplexe zu Hause waren. Für die theologische Sprache gilt jedenfalls, daß sie, „wenn sie die Beziehung zwischen T a t und Tatfolge dem willentlichen Eingreifen Gottes unterstellt, verdeutlichende Rechtsbegriffe in der Hauptsache dem Bereich der privatrechtlichen Deliktsahndung und Sachverfolgung entnimmt" (Horst 2 1 0 ) . Dazu gehört der Begriff der - » R a c h e (n'qämä z.B. Ps 94,1; 7 9 , 1 0 ; 1 4 9 , 7 ; J e r 15,15; 5 1 , 6 . 3 6 ; Nah 1,2), der Heimsuchung (pequdä, z.B. der Schuld der „Väter" an ihren Großfamilien E x 3 4 , 6 f ; 2 0 , 5 f; dann Am 3 , 2 ; vgl. auch Ps 103,8 ff), der Züchtigung ( Messias, —»Auferstehung, —»Paradies, Gehenna (—»Hölle). In verschiedenen Zeiten und Gemeinschaften hat es eine breite Vielfalt von Auslegungen erfahren. 1. In den —»Apokryphen und —tPseudepigraphen kann das Endgericht die Erinnerung an das erste Gericht wachrufen, die Flut zur Zeit des Noah (äthHen 5 4 ; 9 1 ; 93,4). Es findet entweder zu Beginn der Herrschaft des Messias (äthHen 5 0 - 5 6 ; 90,20—27) oder an ihrem Ende statt (Jub 2 3 , 3 0 ; äthHen 100,4). Gott gilt als wahrhaft unparteiischer und gerechter Richter (Jub 5 , 1 6 ; TestLev 3 , 2 ; Sib 3 , 7 0 4 ) , der sein Urteil nach den Taten des Menschen fällt (Sir 16,12; IV Esr 8 , 3 3 ; syrBar 51,7). Die Gerechtigkeit eines anderen oder dessen Fürbitte vermögen dem einzelnen im Endgericht nicht zu helfen (IV Esr 7,102—105; slHen 53,1). Die einzige wirkliche Ausnahme von Gottes alleinigem Richten begegnet in den Gleichnisreden des Henochbuches: ÄthHen 62 erzählt, daß der Erwählte, der Menschensohn, auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen und das Urteil über die Gerechtigkeit der Menschen sprechen wird, den Sündern zum Tode, den Gerechten und Erwählten zur Rettung (vgl. 4 1 , 9 ;
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4 5 , 3 ; 51; 5 2 , 4 . 9 ; 55,4; 6 9 , 2 6 - 2 9 ) . Diese Beschreibung basiert teilweise auf Jes l l , 3 - 4 u n d der Gerichtsszene mit dem Menschensohnähnlichen in Dan 7. In Ergänzung dazu wird nach IV Esr 13 der Menschengleiche aus dem Meer am Tage des Knechtes des Herrn (V. 52) die Gottlosen überführen und vernichten (VV. 3 7 - 3 8 . 4 9 ) . Auch hier richtet der Messias, wenn die Schilderung auch verhaltener ist. AssMos 10,2 spricht von einer anderen Mittlergestalt, dem Engelfürsten (Israels), der das Volk in der letzten Zeit an seinen Feinden rächen wird. In Anlehnung an Dan 12,1 ist es hier Michael, der Gott, dem Einzigen im Himmel, beim Gericht hilft (vgl. Dan 10,21). Überall hat das Gericht eine paränetische oder parakletische Funktion. Auf Grund der Furcht vor späterer Bestrafung hindert es Menschen daran, hier und jetzt Böses zu tun. Die, die gegenwärtig verfolgt werden, aber tröstet es (syrBar 78,5; 80,7; 8 1 , 1 . 4 ; 82,1; IV Esr 12,8), indem es ihre Zukunft als eine Zeit der Freude, der Erquickung und der Ruhe erscheinen läßt (IV Esr 7 , 3 6 . 3 8 . 7 5 . 9 1 ) . Der Trost der Leidenden besteht zum Teil in der Gewißheit, daß dann ihre Unterdrücker unterdrückt sein werden (VitAd 4 8 , 3 ; äthHen 6 2 , 1 1 — 13; syr Bar 82,3—9). Dies, wie es scheint, von —» Rache bestimmte Denken ist aufs engste mit Gottes —»Gerechtigkeit und seiner siegreichen Herrschaft verknüpft. Ein gerechter Gott läßt unbußfertige Sünder nicht ungestraft bleiben. 2 . Bei —»Philo von Alexandrien deuten möglicherweise einige Stellen auf das endzeitliche Gericht hin. Gott ist der „all-gerechte Richter" (VitMos 2 , 2 7 9 ; Her 2 7 1 ; Praem 87), der Ankläger und Rächer (Virt 174). Der Gerechte wird fraglos später seinen Lohn erhalten (Praem, passim). Gegenwärtiges —»Leiden gilt als göttliche Erziehungsmaßnahme. Der Mensch wird hier und jetzt gezüchtigt, damit er nicht „in Ewigkeit Gottes Zorn und Vergeltung in Gestalt seiner unversöhnlichen Feindschaft ohne Frieden zu erleiden h a t " (Quaest in Gen 2,54). Gottes Aufgabe ist es zu retten; der Bereich des Bösen ist Engeln übergeben (Conf 180—181). Der göttliche Logos überführt den Menschen, indem er in seine Seele einzieht, ihn prüft und erforscht und ihn dazu zwingt, seine Sünde einzugestehen (Quaest in Gen 4,62). Der Logos wurde zum Richter und Mittler bestimmt und wird als „Engel" bezeichnet (Quaest in Ex 2,13). Philo enteschatologisiert die Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem in der Endzeit, indem er sie als eine Hinkehr zur Tugend beschreibt—zur selben Zeit werden die Unterdrücker ihre verdiente Strafe empfangen (Praem 164—172). Der alexandrinische Philosoph ist vornehmlich an der sittlichen Lebensführung in der Gegenwart interessiert.-Flavius ->Josepbus bezieht sich in seinen verschiedenen Werken — dort, wo seine eigene Auffassung klar erhoben werden kann — nicht ausdrücklich auf das Endgericht (Bell 111,362—382 ist sehr verhalten). 3. Die Angehörigen der Gemeinde von —>Qumran glauben, daß sie in der letzten Zeit leben oder in dem Zeitraum unmittelbar vor dem Ende ( l Q S a 1,1; C D 1,12; 4 , 4 ; l Q p H a b 2,7; 7,2.7). Sie sind gewiß, daß Gott die Menschheit in der dafür vorgesehenen Zeit ( 1 Q H 4 , 2 0 . 2 6 ) richten wird ( 4 , 1 8 . 2 5 ; 5,4). Die Guten werden sich dann der Nähe Gottes erfreuen (4,21), die jetzigen Rollen von Unterdrücker und Unterdrückten werden vertauscht sein (4,7). Gott richtet nach der Menge der Sünden des Menschen ( 4 , 1 8 - 1 9 ) . Für die Gemeindeglieder bedeutet der Gedanke an das Gericht Trost, da sie ihrer Rechtfertigung durch Gott gewiß sind (1QS 1 0 - 1 1 ) . Ein wesentliches Moment des Gerichtes besteht in dem Endkrieg der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis, auf den sich die Gemeinde des Bundes sorgfältig vorbereitet ( 1 Q M ) . Diese Phase der Endzeit schließt auch den Tag der Rache ein (1QS 9 , 2 3 ; 10,19; 1 Q M 7,5), die Zeit der Heimsuchung durch Gott (CD 8 , 2 - 3 ; 19,15). In 1QS 10,18 wird das Gemeindeglied angehalten, keinem Übeltäter mit Bösem zu vergelten, ihm vielmehr mit Gutem zu antworten, „denn bei Gott liegt das Gericht über alles Lebende, und er ist es, der einem jeden Menschen vergelten wird". Die Qumran-Leute werden jedoch am Tage des Gerichts Hand an die „Männer der Grube" legen (10,19). Eine Anzahl von Gruppen und einzelnen spielen im Rahmen des Gerichts außer Gott selber eine Rolle. Nach 1 QpHab 5 , 4 (vgl. 1 Q H 8,18 — 19) werden alle Erwählten, d.h. die Gemeindeglieder von Qumran, das Endge-
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Gericht Gottes II
rieht abhalten. 4 QIs (frgm. 1) 1.2.4,5 u. 7 vermerken, daß am Ende der Tage der Sproß Davids erstehen und mit seinem Schwert alle Völker richten wird. Gemeint ist der davidische Messias. Nach l l Q M e l c h (Z. 1 0 - 1 3 ) wird Melchisedek die Rache der Gerichte Gottes ausführen, unterstützt von „Göttern", vielleicht Engeln (Z. 14). In 1 Q M 1 7 , 6 - 7 wird Michael, der „große Engel", erwähnt, durch den Gott der Gemeinde des Bundes Hilfe im Endkrieg senden wird. Nach l Q p H a b 8 , 2 - 3 (vgl. 1 Q H 7,12) schließlich ist der Maßstab, anhand dessen Gott sein Endgericht durchführen wird, die Treue zum Lehrer der Gerechtigkeit. 4. Die —*Samaritaner teilten einiges an gemeinsamem geistlichem Erbe mit ihren südlichen und nördlichen Nachbarn, den Juden. Sie glaubten, daß „sich der Wahre Eine [Gott] am Tag der Rache offenbaren und daß jedem nach seinem Tun vergolten werden wird" (Memar M a r q a h IV,3). Ihrer Erwartung nach wird Mose in der Endzeit wiederkehren. Sofern jemand an ihn glaubt, wird er vor allem Zorn sicher sein; am Tag der Rache wird er Ruhe finden und vom Feuer verschont bleiben (IV,7). Moses Aufgabe, zu richten, wird ebenfalls aus 11,8; 111,3; IV,3; VI, 11 deutlich. Schließlich wird ein Gebet an Gott gerichtet, das den Taheb, wahrscheinlich den Moses redivivus, betrifft: „Laß den Taheb mit Gewißheit kommen und sondere die Erwählten von den Verworfenen ab, und laß dies Leiden in Wohltat verwandelt werden" (1,9). 5. Die Rabbinen vertreten die Auffassung, daß der Tag der Tröstung und die Tiefen des Gerichtes zwei der dem Menschen verborgenen sieben Dinge sind (MekhY Wayassa' 6 zu Ex 16,32). Niemals sollte man jedoch „den Glauben an die [göttliche] Vergeltung fahren lassen" (Av 1,7). Die Welt wurde auf dem Fundament der göttlichen Eigenschaften der Gerechtigkeit und Gnade geschaffen, wie aus den Begriffen „ G o t t " (Elohim) und „ H e r r " (Adonai) in Gen 2,4 (BerR 12/15) hervorgeht. Die zweite Eigenschaft ist zweifelsfrei größer (bSan 100a). Am Tage des Gerichts wird es drei Gruppen von Menschen geben — die vollkommen Gerechten, die vollkommen Bösen und die in der Mitte. Die ersten werden sogleich zu immerwährendem Leben bestimmt (in das Buch des Lebens eingeschrieben),die zweiten wie in Dan 12,2 zur Hölle verdammt. Die dritten, sagt die Schule Schammais, werden zur Hölle hinabsteigen, jedoch dort wie in Sach 13,9 geläutert werden. Die Schule —»Hilleis hingegen meint, sie würden noch nicht einmal zur Hölle hinabsteigen, denn „Er, der von Gnade überfließt, neigt gnädig [die Waagschalen]" (bRHSh 1 6 b - 1 7 a ) . Wie der Jude den irdischen Gerichtshof achten sollte, so wird er gleichfalls ermahnt: „Fürchte den himmlischen Gerichtshof, denn es gibt Zeugen droben, die gegen dich aussagen" (DEZ 4,5). Am Tage des Gerichts gehen die guten Taten, die jemand auf Erden getan hat, ihm in die kommende Welt voran, dasselbe gilt freilich von den Übertretungen (bAZ 5a). Die gegenwärtigen Leiden der Gerechten werden zu jener Zeit in Lohn ohne Ende verwandelt werden (BerR Wayechi 97, neue Version, zu Gen 49,13); sie reinigen den Menschen von Freveltaten (WaR 29/2). Die beste Vorbereitung für die kommende Welt besteht nach R. Jochanan b. Zakkai darin, allezeit weiße Kleider zu tragen (Koh 9,8) - will sagen, Umkehr bereitet den Menschen auf das endzeitliche Festmahl vor (bShab 153a). Eine zusätzliche Zeit der Gnade wird nicht gewährt werden (BemR 14/6 zu N u m 7,54, als Kommentar zu Koh 8,7). Ben Azzai rät dem Menschen, niemals zu vergessen, „woher er gekommen ist, wohin er geht, wer der Richter ist, und was zu werden er bestimmt ist" (DEZ 3,1). Gericht findet nicht nur beim Endgericht statt oder am jährlichen Neujahrstag, vielmehr wird der Mensch auch jeden Tag gerichtet, ja jeden Augenblick (bRHSh 16a). R. —>Akiba vertritt die Auffassung, die „ T h r o n e " (plur.) in Dan 7,9 bedeuteten, daß einer (der Gerichtsthrone) für David, den Messias, bestimmt sei (bHag 14a). Der Messias leistet —in Anspielung auf Jes 11,3—4 - ebenfalls nach bSan 93b sowie nach einigen anderen Passagen Hilfe im Gericht (TJon Jes 1 6 , 4 - 5 ; 2 8 , 5 - 6 ; 53,9; MTeh 2 1 / 5 zu Ps 21,9; 110/4 zu Ps 110,1; PesK 18/6). Ausgiebige Beschreibungen des Endgerichts, in drastischen Farben gemalt, sind bei den Rabbinen die Ausnahme. Mehr und mehr wird, wie vermerkt, die Verantwortung des einzelnen betont. In D E Z 4,9 ermahnt Gott: „Du kannst handeln, wie es dir gefällt, aber sage nicht: ,Ich wurde nicht gewarnt'!"
G e r i c h t G o t t e s III
469
Literatur Bill. IV, 1 0 9 3 - 1 1 1 8 . 1 1 9 9 - 1 2 1 2 . - Ulrich Fischer, Die Eschatologie des hell. Diasporajudentums, 1978 ( B Z N W 44). - Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1 9 3 8 (Index zu „Day of Judgment" u. „ J u d g m e n t " ) . - J o s e p h Klausner, Art. Eschatology: EJ 6 ( 1 9 7 2 ) 8 6 0 - 8 8 0 . - G e o r g e F o o t Moore, Judaism in the First Centuries of the Christian Era. II. The Age of the Tannaim, Cambridge, Mass. 1 9 2 7 , 2 8 7 - 3 2 2 . - Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, hg. v. Geza Vermes/Fergus Millar/Matthew Black, Edinburgh, II 1 9 7 9 , 5 4 4 - 5 4 7 (Lit.). - Paul Volz, Die Eschatologie der jüd. Gemeinde im ntl. Zeitalter, Tübingen 1 9 3 4 , 8 9 - 9 7 . 2 7 2 - 3 0 9 .
R o g e r David Aus
III. Neues T e s t a m e n t 1. Johannes der Täufer 2. Jesus von Nazareth 3. Die frühe Gemeinde der weiteren Entwicklung 6. Johannes (Literatur S. 4 8 2 )
1. —»Johannes
der
4. Paulus
5. Aspekte
Täufer
Als das Unverwechselbare seiner Botschaft läßt sich aus der—vielfach von urchristlichen Interessen überarbeiteten — Überlieferung die Ansage des bereits andringenden Zornes G o t tes erkennen ( M t 3 , 7 par.; 3 , 1 0 b : „ S c h o n ist die A x t an die Wurzel der B ä u m e gelegt"). D e r Z o r n verwirklicht sich als Feuergericht ( 3 , 1 0 b . 1 2 b par.; vgl. Jes 6 6 , 1 5 f ) , vielleicht sogar durch einen dem mit W a s s e r taufenden J o h a n n e s folgenden Feuertäufer ( 3 , 1 1 c par.). Die Spitze solcher Ansage des Vernichtungsgerichts ist, daß es universal ergehen wird, also gerade auch Israel o h n e Ausnahme ihm nicht entrinnen k a n n . Polemisch wird — z . T . analog zur frühen klassischen Prophetie (—>Propheten/Prophetie) — die traditionelle Lehre v o m Heilsgericht zugunsten Israels ( 3 , 7 : „ I h r Otternbrut, wer hat euch g e l e h r t . . . ? " ) sowie die Berufung auf die in —»Abraham begründete Gottessohnschaft ( 3 , 9 par.) abgewiesen. Die einzige Heilsmöglichkeit eröffnet J o h a n n e s mit seiner „ B u ß t a u f e zur Sündenvergebung" ( M k 1,4) und der damit w o h l verbundenen M a h n u n g , fortan „der U m k e h r entsprechende F r ü c h t e " (Lk 3 , 8 . 9 b par.) zu erbringen. D a m i t wird vermutlich auf strenge Gesetzeserfüllung verwiesen, w o r a u f auch die Lebenspraxis des Täufers ( M k 1,4—6; M t 1 1 , 1 8 par.) und seiner Jünger ( M k 2 , 1 8 ff) hindeutet. 2. Jesus
von
Nazareth
Die Gerichtsaussagen der synoptischen T r a d i t i o n sowie der traditionell zugehörige Bußruf (—>Buße) gehen zumeist auf die Überarbeitung der Jesusüberlieferung oder auf Neubildungen durch die (frühe) Gemeinde zurück. Jesu eigene Anschauung vom Gericht Gottes wird z. Z . seiner T a u f e der des Täufers entsprochen h a b e n . Seine spätere Auffassung m u ß im wesentlichen ü b e r das Z e n t r u m seiner Botschaft und deren Spiegelungen in der synoptischen Tradition rückerschlossen werden. Kennzeichnend für das W i r k e n Jesu ist die Ansage der unmittelbar nahenden Königsherrschaft G o t t e s ( ß a o i A e i a rov deov; —»Herrschaft G o t t e s / R e i c h Gottes). G e m ä ß dem leitenden Stichwort „ n a h e g e k o m m e n " ( i j y y i x e v M k 1 , 1 5 ) und den mannigfachen N a c h w i r kungen in der synoptischen Tradition ist diese Ansage als prophetische Heils Verkündigung zu verstehen. N u n setzt der Antritt des Königtums G o t t e s , der die ihm innewohnenden Heilswirkungen entbindet, nach ü b e r k o m m e n e r Denkweise das Ende alles ihm Widerstehenden voraus: sei es, daß dieses die Königsherrschaft gegenwärtig anerkennt, sich ihr unterwirft; sei es, wenn das verweigert wird, d a ß die Ausschaltung des Widerständigen im endzeitlichen Gerichtsgeschehen erfolgt. Im Ergreifen der Heilschance, welche die gnädig k o m m e n d e Gottesherrschaft gewährt, wird zugleich die Existenzorientierung auf alles Sonstige fallen gelassen ( M t 1 3 , 4 4 f ) und jene E x h o m o l o g e s e vollzogen ( M t 8 , 8 ; L k 1 5 , 1 7 - 1 9 . 2 1 ; 1 8 , 1 3 ; v g l . M t 1 1 , 2 5 f; 1 2 , 4 1 f par.), die sonst die im Endgericht erscheinende Herrlichkeit Gottes bewirkt — doch dann o h n e die C h a n c e zum Heil. D i e Heilsansage Jesu hat die Botschaft v o m alle als Sünder bedrohenden Z o r n Gottes (Täufer) zur ferneren Voraussetzung. Demgegenüber sagt Jesus an, d a ß G o t t — seinen Z o r n
470
Gericht Gottes III
zurückstellend — allen als der Gnädige naht. Wirken und Lehre Jesu wollen dem Raum schaffen, ja das gnädige Kommen des Königtums Gottes wohl auch schon einleiten. Das geschieht I ) durch die Aufnahme jener in den Jüngerkreis, die nach gängiger Lehre von Sünde und Heil vom Kommen Gottes nur Unheil zu erwarten hätten (Mk 2 , 1 3 - 1 7 ; Lk 1 5 , 2 — 6 . 8 f . 11 —32), sowie durch eine analoge Lehre über die der gnädig zukommenden Basileia einzig entsprechende Annahme (Mk 1 0 , 1 5 : wie ein Kind); 2 ) durch die Einweisung in solchen Existenzvollzug in der Nachfolge Jesu, der den Bruch mit der bisherigen Existenzorientierung bedeutet (Mt 1 3 , 4 4 - 4 6 : Schatz im Acker, kostbare Perle; M k 9 , 4 3 - 4 8 par.; Lk 9 , 5 7 - 6 2 par.); 3 ) durch die Einschärfung der ungeteilten Hingabe an Gottes Herrsein (Lk 1 6 , 1 3 ; M t 6 , 1 9 - 2 4 ) , durch die Ermunterung, sich zuallererst und gänzlich der Basileia Gottes zu überlassen (Mt 6 , 2 5 - 3 4 ) ; 4 ) durch die Auslegung und Praktizierung des (wahren) Rechtes der Basileia Gottes bzw. der allein Gott und seinem Heils- und Rechtswillen dienenden Rechtheit vor Gott (Mk 2 , 2 3 - 3 , 5 ; M t 5 , 1 3 - 6 , 1 8 ) ; 5 ) (vielleicht auch) durch das Verstehenlehren der charismatischen Heilungen Jesu als Zeichen des nahenden Friedens der Basileia, der Entmächtigung der lebensbedrohenden Kräfte und Mächte (Lk 1 1 , 2 0 par.; Mt 1 1 , 5 f par.; vgl. Lk 1 0 , 1 8 ) .
Wird aber die anstelle des Zornes Gottes nahende Basileia Gottes nicht ihr entsprechend angenommen, greift Gerichtsgeschehen Platz: Wer die Basileia nicht gänzlich als Gnadengeschenk, das die Existenz verwandelt, annimmt, „wird nicht hineinkommen" (Mk 10,15); ebenfalls, wer das Rechtverhalten in der Welt nicht voll und ungeteilt auf Gottes alleiniges Königtum ausrichtet (Mt 5 , 2 0 ; vgl. 7 , 2 6 f ) . Die plötzliche, unerwartete Wegnahme des Lebens (Lk 12,16—20: reicher Kornbauer) ist Zorngeschehen, das die Existenzorientierung am Irdischen als Torheit entlarvt; weise wäre das ungeteilte Trachten nach der nahenden Basileia, in der alles andere aufgehoben ist (Lk 1 2 , 1 9 - 3 1 par.; vgl. 16,13: Entscheidung zwischen Gott und Mammon). Die Weigerung, in der andringenden Basileia Gottes die eingeräumte Gnadenchance gegenüber eigenem (wie aller) Sündersein wahrzunehmen und zu praktizieren (Lk 18,9—14: Pharisäer und Zöllner), führt zur Verweigerung der richterlichen Gerechtsprechung (ebd.), zur Androhung des Umkommens im Gericht (13,1—5). Die nicht angenommene Einladung des Herrn (Lk 1 4 , 1 6 - 2 4 ) führt ebenso zum Zorneswirken wie die Verweigerung des Schuldenerlasses gegen andere, weil ja auf Gottes Schulderlaß das eigene Lebenkönnen beruht (Mt 1 8 , 2 3 - 3 4 ) . Ob Jesus den Gerichtsgedanken auch mit der Menschensohngestalt verbunden hat, ist ungewiß, eher zweifelhaft. Als echtes Jesusgut käme hier allenfalls das Doppellogion Lk 12,8 f (wenn ohne „bekennen - verleugnen" möglich) und M k 8,38 a.b in Frage (Mt 1 0 , 3 2 f ist sekundär): Der von Jesus zu unterscheidende Menschensohn wäre dann Zeuge im himmlischen Gerichtsverfahren. Hingegen liegen in M k 8,38 c; Mt 2 4 , 3 7 - 4 1 ; Lk 17,24. 2 6 — 2 9 . 3 4 f andere, nachösterliche Menschensohnanschauungen vor ( „ T a g " ; Theophaniemotive; zu „mitnehmen - zurücklassen" vgl. I Thess 4 , 1 4 - 1 7 ; Mk 1 3 , 2 6 f ) . 3. Die frühe
Gemeinde
Die Mission an Israel (—»Palästina, —»Diaspora) und unter Heiden, die Reaktionen darauf, die Bedrängnis der Gemeinde in der Welt (Verfolgung, —»Leiden), schließlich die gebotene Bewährung des Wandels in den Versuchungen dieser Weltzeit (Mk 1 4 , 3 7 f f ; I Thess 5,3 ff; Gal 5 , 1 6 ff) bis zum Eintreffen der verheißenen Basileia bzw. bis zum Kommen des Herrn (I Thess 3 , 1 3 ; 5 , 2 3 ; Lk 1 2 , 3 5 - 3 8 ; 1 3 , 2 4 - 2 7 u.a.): all diese Problemsituationen haben den Gerichtsgedanken - auf verschiedene Weise - stark zur Geltung kommen lassen. 3.1. Im palästinischen Raum setzen Wanderprediger das Wirken Jesu — nicht unmittelbar, sondern aufgrund seiner Ins-Recht-Setzung in Auferstehung bzw. Erhöhung - fort: in der Verkündigung der nahenden Königsherrschaft Gottes (Lk 10,9 par.); in wunderbaren Taten (Austreibungen unreiner, Schaden stiftender Geistermächte [—»Exorzismus]; —»Heilungen), die als Nahen der Basileia begriffen werden (Mk 6 , 7 - 1 3 ; Lk 1 0 , 9 . 1 1 . 1 3 par.; 1 1 , 2 0 par.). Damit wird (anders als bei Jesus) nun ausdrücklich die Umkehrforderung verbunden, aber doch so, daß (anders als beim Täufer) die Heil stiftend nahende Basileia und nicht primär der andringende Zorn Gottes die Umkehr begründet (Lk 10,13 par.; spätere Aufnahme in M k 1,15; M t 4 , 1 7 ; Lk passim). W o diese — unter der Perspektive des Jesusge-
Gericht Gottes III
471
schehens neu interpretierte - nahende Basileia in der Verweigerung der Buße zurückgewiesen wird, greift die Gerichtsbotschaft Platz. Wehe (Drohwort) über die galiläischen Städte Chorazin und Bethsaida (Lk 10,13 fpar.)! Die Königin von Süden und die Niniviten werden im Gerichtsverfahren auftreten und „dieses Geschlecht" ( = Israel) verurteilen (11,31 f par.). Über Jerusalem wird das Gericht proklamiert. Irdisch wird es wirksam durch das Weichen der Anwesenheit Gottes (seiner heilschaffenden Herrlichkeit) aus dem Tempelheiligtum, endzeitlich durch die Ferne zum Heilbringer (Jesus), der für die, welche ihn und seine Boten - in der Kette der abgelehnten Propheten (deuteronomistisches Prophetenbild) - verfolgt und getötet haben, nur noch zur Vernichtung kommt (Lk 13,34 fpar.; vgl. 1 1 , 4 9 - 5 1 par.), den verfolgten Boten zum Heil („Lohn": Lk 6,23 par.). Neben der allgemeinen Bezeichnung „Gericht" (xqiois), „Tag" (bes. Lk), ist Lk 17,24.26—30.34 f par. an die Theophanie des Menschensohnes gedacht (und zwar sekundär: bildlich und lehrhaft); ohne Vorkommen von „Menschensohn" auch Lk 13,34 f par. Gegenwärtiges Gerichtsgeschehen meint der bei der Ablehnung der Boten sich wieder entziehende Friede Lk 10,5 f par. (Dahingabe an widergöttliche Kräfte). Der Gestus, den Staub von den Füßen zu schütteln, dient dem anklagenden Zeugnis vor dem Endgerichtsverfahren (Mt 10,14f par.). 3.2. Im hellenistisch-jüdischen Christentum bildet die Ansage des Zornes Gottes den Horizont der Missionspredigt an Heiden. Das ergibt ein Rückschluß aus dem formelhaft zusammengefaßten Missionsgeschehen IThess 1,9 f (vorpaulinisch). Heiden (—»Heidentum) gelten wegen der dem alleinigen Schöpfergott verweigerten Ehre (tätige Anerkennung seiner Königsherrschaft) bzw. wegen des Götterdienstes (Rom 1 , 1 8 - 2 3 ) mit entsprechenden Folgewirkungen ( 1 , 2 4 - 3 2 ) als unrein (Act 10,14.28), als Sünder schlechthin (Gal 2,15). Darum sind sie im Endgericht „des Todes würdig" (Rom 1,32), von Natur dem Zorne Gottes geweiht (Eph 2,3), also davon ausgeschlossen, den Heilszustand der endzeitlich erscheinenden Königsherrschaft Gottes zu „erben" (I Kor 6 , 9 - 1 1 ) . Ziel und Motiv der Missionspredigt — samt Umkehrforderung: Hinwendung zu Gott, Abwendung von den Götzen (Göttern) — ist nach I Thess 1 , 9 f die Annahme der durch Botschaft und Initiationsritus (Taufe) vermittelten Heilschance: in der Ekklesia 1 ) der heilstiftenden Schöpferherrschaft Gottes zu dienen und 2 ) aus den Himmeln seinen — durch Auferweckung ins Recht und damit ins Richteramt eingesetzten — Sohn ( = himmlischer Messiaskönig [ R o m 1 , 4 ; M t 2 5 , 3 4 ] ; ursprünglich: der Menschensohn?) zu erwarten. Er k o m m t für die Gemeinde („uns") als Retter aus dem drohenden Z o r n Gottes. Vermutlich ist dabei an jene Abwandlung des Vernichtungsgerichts vor dem Thron gedacht, bei dessen Verfahren Gott und sein Sohn beide, in abgestufter Weise, Richterfunktionen ausüben (vgl. äthHen 62; Lk 12,8 f; Mk 8,38): Im Gegenüber zu dem von Gott anerkannten Sohn empfängt die Welt ihr Urteil und wird zur Abstrafung (Vernichtung) entfernt. „Die Auserwählten Gottes" (Rom 8,33) hingegen vermögen in der Gemeinschaft des Sohnes („vor" ihm) ohne Strafurteil (xazäxQL^a Rom 8,1.34) zu stehen (Lk 21,36; vgl. äthHen 45,6) und sind damit gerettet. Das „(Kommen) aus den Himmeln", das dieser Gerichtsvorstellung ursprünglich nicht zugehört (äthHen 62; Lk 12,8 f; vgl. Ergänzung Mk 8,38 c zu a/b), stammt aus der Tradition des Erlösungsgerichts (vgl. die Tradition Phil 3,20: Erwartung des aus den Himmeln kommenden Kyrios Jesus als awzriQ-, s.u. Abschn. 3.4). 3.3. Sieht man von den speziell auf Heiden bezogenen Motiven ab, dürfte I Thess l , 9 f auch auf den Grundbestand der Israel-Predigt seitens des hellenistischen Judenchristentums zurückschließen lassen; vgl. die (veränderte) Aufnahme nicht nur R o m 1 , 1 8 — 3 2 , sondern auch in der Wende des Gedankens 2 , 1 — 3 , 2 0 . Auch Israel steht seiner Sünde wegen unter dem Z o r n Gottes ( 2 , 3 ; 3 , 9 - 1 9 ) . Seine Heilschance besteht zum einen im Glauben an den Christus, also in der Anerkennung des ins Recht gesetzten Jesusgeschehens als Heilsweg, zum anderen in der gehorsamen Unterwerfung (Bekenntnisakt) unter ihn als kommenden Richter-Kyrios: Darin ist die Rettung aus dem Z o r n Gottes ermöglicht ( 1 0 , 9 ) . Wenn Israel sich so zum Kyrios „bekehrt", wird die Decke von ihm genommen (II Kor 3 , 1 6 ) . Wird die in Gottes Güte und Langmut begründete Heilschance der „ B u ß e " zurückgewiesen, sammelt sich Israel den Z o r n auf den T a g des Z o r n s ( R o m 2 , 4 f). Solcher Rückschluß - aus vorpaulinischem Überlieferungsgut und zurückliegenden Disputationen mit Paulus - liegt näher als der Rekonstruktionsversuch aufgrund von stark lukanisch stilisierten Acta-Predigten an Juden (dazu -»Buße 3.2). Danach bestünde Israels Sünde, die das Gericht provoziert
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Gericht Gottes III
und von dem Buße und Glaube befreiten, speziell in der Tötung Jesu, und zwar im Rahmen des Motivs vom gewaltsamen Geschick der Propheten (Act 7,52; vgl. 3,19; 5,31). Aber das ist eher späterer Reflexion entsprungen. Das Motiv vom Prophetengeschick weist nicht zwingend auf eine damit motivierte Umkehrpredigt zurück. Das zeigen auch andere Verwendungen dieses Motivs im hellenistischen Bereich (die eher dem in Abschn. 3.1 Dargelegten entsprechen): Die Tötung des Sohnes (Jesus) in der Kette der Prophetenverfolgungen löst nach Mk 1 2 , 1 - 1 2 Gottes Vernichtungsgericht an Israel und die Ubergabe des Weinbergs an die Heiden aus; vgl. den Zorn Gottes über die Ablehnung seiner Einladung im Jesusgleichnis Lk 1 4 , 1 6 - 2 1 . 2 4 . Solche Kette mit christologischer Zuspitzung wird mit dem Verfolgungsgeschick der Apostel weitergeführt und auf die jüdischen Hinderungsversuche der Heidenmission — die zur Rettung der Heiden vom Zorne Gottes erfolgt — neu zugespitzt: Darin wird das Maß der Sünden Israels zur Fülle gebracht, so daß das Zorngericht endgültig über es gekommen ist (I Thess 2,15 f). Das aramäische M a r a n a t h a (I K o r 1 6 , 2 2 ; vgl. Apk 2 2 , 2 0 ; Did 1 0 , 6 ; 3.4. Maranatha. vgl. T R E 3 , 6 0 7 , 3 3 ff; 1 1 , 2 5 7 , 3 4 ff) gehört mit zum ältesten Uberlieferungsgut. Ursprünglich dürfte es sich um einen Anruf, um die sehnliche, dringliche Bitte um das Kommen des Kyrios Jesus gehandelt haben (Apk 2 2 , 1 7 . 2 0 ) . Man darf bezweifeln, daß diese Bitte ihren ursprünglichen Sitz in der Verbindung mit einem Fluchwort hatte (so Wengst 52 ff: als Abschluß eines Satzes heiligen Rechts; zu dessen Bekräftigung durch Anrufung des Richters). Denn zum einen erklärt sich von da kaum der auf das heilschaffende Kommen bezogene Gebrauch in Apk 22,6 f. 12ff. 17.20, also außerhalb des Fluchwortes V.15. Zum anderen bedarf ein Fluchwort (s. Abschn. 3.6), das als solches bereits wirkungsmächtig dem Zorn Gottes überantwortet, ursprünglich keiner gesonderten Bekräftigung (vgl. Gal 1,8 f). Apk 22 spiegelt eher als ursprünglichen Sitz bewegtes gottesdienstliches Geschehen (Müller 203): Prophetenmund verlautbart die Heilsansage des himmlischen Herrn „Siehe, ich komme bald". Dem antwortet der in Bedrängnis geborene, auf das Ende dieser Weltzeit hoffende Ruf „Ja, komm Herr Jesus!" - geradezu als christologische Umformung der Bitte des Unser Vater (Lk 11,2 b) begreifbar. Das gewichtige Motiv des Kommens selbst, seine Verwendung in anderen frühen Traditionen (I Thess 3 , 1 3 ; 4 , 1 6 f; 5 , 1 f; vgl. 1 , 1 0 ; Phil 3 , 2 0 ) , die weitere Ausbildung in urchristlichen Texten wie M k 1 3 , 2 4 — 2 7 (Erlösungsgericht); Apk 1,7 u . ö . , die Korrespondenz zum Motiv des Kommens Gottes Apk 1 , 8 : dies alles spricht dafür, daß schon das frühe formelhafte M a r a n a t h a v o m Theophaniegedanken aus zu begreifen ist, und zwar im Sinne der Heilstheophanie. Mit dem das unentschiedene Weltgeschehen entscheidenden Kommen des Kyrios aus dem himmlischen Thronbereich ereignet sich die endgültige Ausschaltung alles Widergöttlichen und zugleich mit solchem Herrschaftsantritt die heilschaffende Erscheinung des alleinigen Königtums Gottes (vgl. das hymnische Gut Apk l l , 1 5 . 1 7 f ; 1 2 , 1 0 f f ; 1 9 , 1 . 6 f f , und zwar auf dem Hintergrund der Thronbesteigungshymnen Ps 9 6 - 9 9 ) . Da solches weltordnende Einschreiten des Kyrios die Vernichtung des Gott Widerstrebenden einschließt, ist die spätere Zusammenstellung mit dem Fluch I Kor 16,22 a über Ungläubige (noch später: über Irrlehrer etc. Apk 22,15 [Müller 2 0 1 - 2 1 1 ] ) vom zugrunde liegenden Vorstellungszusammenhang her ebenso verstehbar wie die doppelte Bitte Did 10,6: „Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt". Die urchristliche Erwartung Jesu als des vom Himmel kommenden Kyrios, der mit gottheitlichen Herrscherfunktionen ausgestattet ist und diese als endzeitlicher Retter und Richter wahrnimmt, ist in frühjüdischer Messiashoffnung ohne Analogie. Das Verhältnis zwischen dieser Konzeption und Jesus als endzeitlichem Menschensohn ist ungeklärt, gegenseitige Beeinflussung ist zu vermuten. Nun ist der frühjüdische Menschensohn erstens nicht der aus dem Himmel Kommende; sein „Erscheinen" hat anderen Sinn: „vor" dem himmlischen Herrn der Geister (äthHen 52,9). Dabei wird er zweitens auch nicht vom Engelheer begleitet. Da beides aber der Theophanie des Weltenherrn zugehört, dürfte in dieser Hinsicht die Anschauung vom kommenden Kyrios Jesus ursprünglich sein. Die Gerichtsszenerie vor dem Thron und das Motiv vom endzeitlichen Zusammensein mit dem Kyrios (I Thess 4,14.17 f) hingegen stammen aus der Menschensohnvorstellung (äthHen 62,8.13f). 3 . 5 . Die Gerichtsparänese (—»Paränese) hat wohl schon von früh an eine gewichtige Rolle im Binnenraum der urchristlichen Gemeinde gespielt. Das läßt sich aus Stoffen der Logienquelle ( 3 . 5 . 1 ) und aufgrund von vorpaulinischem Traditionsstoff aus dem Bereich des hellenistischen Judenchristentums ( 3 . 5 . 2 ) erschließen. 3.S.1. In Q kommt das gerichtsparänetische Anliegen häufig in Gleichnisstoffen zur Sprache: vom Sklaven, der gegenüber dem nach Hause kommenden Herrn beständig zum Dienst „bereit sein", „wa-
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chen" soll (Lk 1 2 , 3 5 - 3 8 ; vgl. auch Mk 13,35); vom Sklaven, der treu und klug im Dienste seines Herrn das Haus verwaltet (Lk 1 2 , 4 2 - 4 4 ) ; von den Talenten, die dem Sklaven zur Bewährung anvertraut sind (19,12—27); vom klugen, weil wachsamen Verhalten des Hausherrn gegenüber dem unverhofft einbrechenden Dieb, das auf das ständige Bereitsein gegenüber dem kommenden Menschensohn-Richter angewandt werden soll (12,39 f). Solche Stoffe sind teils um die Verarbeitung der Parusieverzögerung sekundär erweitert worden (12,45 f), teils ist der (späte) Stoff erst gänzlich von da aus verständlich (Mt 2 5 , 1 - 1 3 : Sondergut). Die Mahnungen zum Bereitsein und Wachen sowie das Bild vom Dieb in der Nacht gründen aber keineswegs notwendig erst in der Verarbeitung der Parusieverzögerung (vgl. u. Abschn. 3.5.2). Eine ähnliche Funktion haben die Logien vom Eingehen in die Basileia, welche Einlaßbedingungen und Ausschlußgründe im Blick auf die kommende Heilswelt lehrhaft formulieren. Solcher Stoff wird in der Mahnung, um das Eingehen durch die enge Pforte zu ringen (Lk 13,24), vorausgesetzt; ebenso im Dialog mit dem Richter, der den Übeltätern den Eintritt in die Basileia verwehrt ( 1 3 , 2 5 - 2 7 ) . Vorstellungen vom (vernichtenden) Tag und vom (erlösenden) Kommen des Menschensohns sind Lk 1 7 , 2 4 . 2 6 - 3 0 . 3 4 f kombiniert worden. Dabei ist das urzeitliche Sintflutgericht Typos für das endzeitliche Einschreiten und die Scheidung durch den Menschensohn — hier zur Mahnung an die Gemeinde: Einer wird „mitgenommen" zur Gemeinschaft mit ihm, der andere wird zum Verderben „zurückgelassen" werden (vgl. zum Motiv z.T. Mk 1 3 , 2 4 - 2 7 ) . 3.5.2. Auch im hellenistischen Judenchristentum und den von ihm gegründeten heidenchristlichen Gemeinden ist die Gerichtsparänese alles andere als eine Randerscheinung. Das ergibt sich notwendig aus dem Missionskerygma, wie es aus I Thess 1,9 f erschlossen werden kann (s.o. Abschn. 3.2). Sein altertümlicher christologisch-soteriologischer Gedanke entspricht strukturell weithin jener christologischen Konzeption vom kommenden Kyrios oder Menschensohn-Richter, wie sie in Q - und auch sonst in der synoptischen Tradition - neben die Basileia-Verkündigung tritt und diese in eschatologisch orientierter Christologie aufnimmt: Der aus dem Himmel kommende Sohn rettet die Gemeinde im Eschaton vom Zorn Gottes - doch nur sofern sie, auf ihn wartend, die Wende unter die Herrschaft des alleinigen und wahren Weltenkönigs und sein Recht (dovXeveiv dem £(üvn xat äÄrjdivq), I Thess 1,9) durchhält und im Wandel bewährt (I Thess: passim; parallel zur gerichtsparänetischen Aufnahme des Motivs vom „Warten" auf den kommenden Kyrios Lk 12,35 ff; zum traditionellen Stichwort „wachen" I Thess 5,6 ff vgl. o. Abschn. 3.5.1). Solche eschatologische Orientierung bleibt auch erhaiten, wo die Rettung vor dem Zorngericht positiv: die Teilhabe am Endheil, identisch mit der am Leben des Kyrios — durch den Sühnetod Christi vermittelt gilt (I Thess 5,9 f; vgl. Rom 5,9). Die in der Taufe zugeeignete Heiligkeit und Rechtheit muß in den Versuchungen der gegenwärtigen bösen Weltzeit (Gal 1,4) „bewahrt" werden (I Thess 5,23), da sonst der Ausschluß vom Heil der kommenden Königsherrschaft Gottes erfolgt (I Kor 6 , 9 - 1 1 ) . Paränese formuliert darum nicht nur, was Recht und Unrecht ist. Sie bringt auch lehrhaft die Gerichtsfolgen gegenwärtigen Verhaltens mahnend zur Geltung, ruft sie in Erinnerung. Kataloge über konkretes Recht- und Unrechtverhalten (sog. Tugend- und Lasterkataloge) werden mit dem Hinweis auf die entsprechenden endzeitlichen Folgewirkungen verbunden: „Erben" oder „Nichterben" der Königsherrschaft Gottes (I Kor 6,9 f; Gal 5,21; Eph 5,5; vgl. Apk 22,14 f), Leben und Tod (Rom 6 , 2 0 - 2 4 ; vgl. 1 , 2 8 - 3 1 ) , Zorngericht Gottes (Kol 3,5 f; Eph 5,6). Unterstützt wird solche eschatologische Paränese, indem ein Kontrast-Schema die auf Unheil und Heil zulaufenden Existenzweisen - unter Voraussetzung der für die Glaubenden geschehenen Wende - in Erinnerung ruft: Einst waren die Glaubenden, wie die außerhalb der Heilsgemeinde Bleibenden, Kinder des Ungehorsams und damit dem Zorngericht Gottes verfallen - jetzt sind sie zum Erbe der Basileia berufen worden und damit in der Gegenwart auf einen dem Königtum Gottes entsprechenden Wandel verpflichtet (erschlossen aus Fortbildungen wie I Kor 6 , 9 - 1 1 [vgl. Gal 5 , 1 6 - 2 5 ] ; Kol 3 , 1 - 1 1 ; Eph 5 , 1 - 1 3 ; vgl. 2 , 3 - 6 . 1 1 - 1 3 ; I Petr 4 , 3 - 6 ; Tit ,3,3-7). Zu bewahrende Heiligkeit und Untadeligkeit (für Mt 5,20.48 später: Gott voll entsprechende Gerechtigkeit bzw. Vollkommenheit) wird dem richterlichen Kommen des Kyrios Jesus konfrontiert (I Thess 3,13; 5,23). Verfehltem Wandel wird angesagt „Gott ist Rächer" (4,6); „irrt euch nicht!" (I Kor 6,9; vgl. Eph 5 , 6 f). Zu Gott „gefallendem", seinem Herren- und Rechtswillen „angemessenen, entsprechenden" Wandel (iteguiaxEiv ä^iwg) wird ermahnt, ja beschworen, und zwar mit dem konstitutiven Hinweis auf die Berufung zu seiner endzeitlichen Basileia (I Thess 4,1 f; 2,11 f). Das alles ist feste Übung: Neben das die Gemeinde gründende Kerygma mit der Zusage der Basileia (2,12; vgl. in Abwandlung Phil 3,20a; Kol l , 5 . 1 2 f ; E p h 1,18; 2,6 f; 5,5) und der Rettung aus dem Zorne Gottes (I Thess 1,10; 5,9; vgl. Eph 5 , 6 - 8 ) tritt als fester Topos die eschatologische Paränese. Solches im Rahmen der Gemeindegründung durch Unterweisung (Lehre) vermittelte Wissen kann dann erinnernd aktiviert werden (I Thess 2,11 f; 4 , 2 f . 6 ; I Kor 6,9a; Gal 5,21; vgl. I Kor 4,16f; 11,1). Fester Bestandteil dieser Katechese ist (wie in Q) das Einprägen des überraschenden (I Thess 5,3), dem Termin nach nur Gott bekannten (Mk 13,32), Kommens des Kyrios Jesus. Das ist ein traditionelles Motiv apokalyptischer Gerichtsparänese (äthHen 94,6; 97,5 u. ö.; IV Esr 4,51 f)- Es wird nun gegen die
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Gericht Gottes III
Gemeinde gewandt und mit dem häufig verwendeten Bild v o m Dieb in der N a c h t veranschaulicht. Der Sinn: W o der Rechtswille des Weltenherren verkannt wird, k o m m t der Retter auch der Gemeinde gegenüber als ihr Richter (I Thess 5 , 2 f ; vgl. M k 1 3 , 3 2 f f ) . I Thess 5,2 beweist, d a ß jener Gedanke (samt Bild) zur Elementarlehre gehört, sich also nicht erst erfahrener Parusieverzögerung verdankt („Ihr wißt g e n a u " : a u f g r u n d anfänglicher Katechese; vgl. I Kor 6,9). 3.5.3. In den Bereich der Gerichtsparänese gehören im übrigen auch die meisten (fälschlich so genannten) Sätze heiligen Rechts (z.B. I Kor 3,17; M k 8,38; M t 5 , 1 9 ; 6 , 1 4 f ; 1 0 , 3 2 f [ Q ] ) . Sie vermitteln lehrhaft die genau entsprechenden endzeitlichen Ergehensfolgen bestimmten gegenwärtigen Tuns: altes weisheitliches Wissen, das n u n - a u f g r u n d der Krise u n d der skeptischen B e s t r e i t u n g - durch die typisch apokalyptisch-prophetische Weise der Vergewisserung hindurchgegangen ist. All diese gerichtsparänetischen Texte setzen oder proklamieren nicht Recht (Formulierung von Recht- und Unrechtverhalten). D a aber im Weltgeschehen die Ergehensfolgen nicht e r f a h r b a r sind und damit der Sinn des Rechts verborgen oder strittig ist, wird das Recht als Gerichtskriterium und der Richter als sein eschatologisch einschreitender G a r a n t u n d W a h r e r eingeschärft: bestärkend, verheißend, aber auch w a r n e n d u n d d r o h e n d .
3.5.4. Fazit: Stärker als bisher ist zu berücksichtigen, daß nicht nur in dem von Q und sonstiger synoptischer Tradition repräsentierten Überlieferungstyp, sondern auch im hellenistischen Judenchristentum und in heidenchristlichen Gemeinden Basileia-Erwartung und Richterchristologie (erhöhter Sohn = himmlischer Messiaskönig; kommender Kyrios Jesus), z.T. in Umformungen, eine Rolle gespielt haben. Die Gerichtsparänese verdankt sich nicht erst erfahrener und reflektierter Parusieverzögerung. Sie gründet in drei Aspekten: 3 ) Die Eingliederung in die aus der Welt ausgegrenzte Heilsgemeinde („die Heiligen") unterstellt in der Welt dem Recht der Basileia Gottes bzw. dem Dienst und Gehorsam dem heilstiftenden Schöpferherrn gegenüber. 2) Auch im Stadium der Naherwartung lebt die Gemeinde unter den Bedingungen dieser Weltzeit, also versucht, angefochten, in Nöten und Drangsalen.3 ) Jesus ist als der Erhöhte, als soteriologischer Prototyp nicht nur der kommende Retter der Gemeinde. Er bleibt gerade als solcher auch ihr gegenüber der Richter, der Gottes Königtum in seiner Person auf ihre endzeitliche Durchsetzung hin wahrt: in die Basileia einlassend oder sie verschließend, vor dem Zorn Gottes rettend oder an ihn preisgebend. 3.6. Gelegentlich ist die Grenze zwischen lehrhaft vermittelter eschatologischer Ermunterung oder Ermahnung und prophetischer Ansage {nQoXeyw bzw. izqoeltiov) künftigen Heils- oder Gerichtsgeschehens fließend (z.B. I Thess 4,6; Gal 5,21). Dabei spielt mit, daß einerseits weisheitliche Muster der Weltorientierung (Tun-Ergehen-Zusammenhang), auch solche des Rechts (—>Segen und Fluch), nun als endzeitliche, der Welt verborgene Offenbarungsweisheit vergewissert werden. Der so zugekommene Einblick ins endzeitlich klärende und entscheidende Geschehen wird andererseits lehrhaft-paränetisch vermittelt. Auch kann prophetische Ansage (I Thess 3,4) anderwärts im Sinne des apokalyptisch überformten (fingierten) Testaments lehrhaft-mahnend aufgenommen werden (so Mk 13,23). Ankündigungen des Gerichts wegen Fehlverhaltens liegen z.B. Apk 2,22f (über Isebel); 3,16 (über Laodicea) vor. Nach Apk 22,18 f; I Kor 14,38 wird prophetisch proklamiertes Gerichtsgeschehen von Gott in genauer Entsprechung eschatologisch vollzogen werden (talio der Sätze heiligen Rechts). Der formal gleichgebaute Satz I Kor 3 , 1 7 a hat hingegen im Kontext eher eine lehrhaft-ermahnende Funktion. Mehr als prophetische Proklamation von (künftigem) Gerichtsgeschehen ist I Kor 5 , 3 - 5 anvisiert: wohl schon ein durch das wirkungsmächtige Fluchwort (Gerichtsspruch) sichgegenwärtig vollziehendes Fluchhandeln. Eindeutig ist das Act 5 , 1 - 1 1 (Ananias und Saphira); 1 3 , 6 - 1 1 (Zauberer Elymas) der Fall, wie das dem Fluchwort sofort folgende Gerichtsgeschehen (5,5a.lOa; 13,11b) belegt. Etwas anderes als prophetische Ansage künftigen Gerichts liegt auch I Kor 16,22a ( . . . rfzco ävädefia) und Gal 1,8 f (zweimaliges ävaGefia eaico) vor. Hier werden die, welche sich dem Herrn verweigern („nicht lieben"), sowie die in Galatien gegen den Apostel und das von ihm vertretene Evangelium tätigen Agitatoren mittels eines ausdrücklichen Fluchspruches dem wirkenden Zorn Gottes ausgeliefert.
Gericht Gottes III
475
4. Paulus 4.1. Vorstellungs- und Redeweisen. Einheitlichkeit ist wegen verschiedener Traditionen und Abzweckungen nicht gegeben; doch erklärt das nicht alles. Zumeist lassen sich die Vorstellungen und ihr Sinn entschlüsseln. Einiges bleibt aber undeutlich: zu knapp formuliert, verschieden deutbar, ö f t e r liegen Kombinationen und Uberlagerungen verschiedener Traditionsstränge vor. 4.1.1. Der Terminus „Kommen", nur noch auf den Kyrios Jesus angewandt (I Kor 4,5; 11,26; vgl. 16,22 b), erscheint häufig durch das hellenistische nagovaia {= Ankunft) ersetzt (I Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23; I Kor 15,23). Einmal steht dafür axoxMvxptg (fast: Erscheinen aus der himmlischen Verborgenheit I Kor 1,7). Zweimal wird umschrieben mit „aus den Himmeln erwarten" (I Thess 1,10; Phil 3,20; vgl. I Kor 1,7). Angezeigt wird damit die Vorstellung der Heilstheophanie (Erlösungsgericht). Darauf weist auch das Rettermotiv (I Thess 1,10; Phil 3,20) sowie die Heilsteilhabenar der Glaubenden (I Thess 4 , 1 3 - 1 8 ; I Kor 15,23.51 f ) . - M i t der Parusie könnte 1 Thess 4 , 1 4 - 1 7 ; I Kor 15,23 die Vorstellung des Herrscher- und Richteramtes im endzeitlichen (I Kor 15,24 ff schon gegenwärtigen?) Messiasreich verbunden sein. Unsicher ist, ob nach 6,2 f (vgl. Apk 20,4 ff) die Glaubenden an solchem Königsamt teilhaben (vgl. Abschn. 4.1.6). Das „Ende" (1 Kor 15,24.28) wäre jedenfalls-teils analog zu IV Esr 7,31 ff; Apk 20,11 f f - jener Einschnitt, an dem Gottes Basileia Realität wird, traditionell beginnend mit dem universalen Endgericht. Abweichend sind Heilstheophanie des Kyrios Jesus und Zorngericht Gottes in I Thess 1,10; 3,13 kombiniert (s. Abschn. 4.1.5). Anders I Kor 4,4f: Der Kyrios (Jesus) kommt, um selbst das rechtlich vorgehende Endgericht durchzuführen (doch s. V.5c). 4.1.2. Der Terminus „Tag", der 5mal in Proömien auftaucht, ist - wegen der Anwendung auf den kommenden Erretter - ambivalent. Den Ubergang läßt I Kor 1,7f erkennen: Die sehnlich erwartete Heilstheophanie des Herrn ist zugleich sein Tag, der die Heiligkeit der Gemeinde fordert (vgl. 4,3 ff). Dieser Tag weckt Hoffnung, doch so, daß kritische Ermunterung am Platz ist: II Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16. Der Tag des Herrn kann wider Erwarten auch wie ein Dieb in der Nacht kommen (I Thess 5,2). In Aufnahme prophetischer, gegen falsche Heilssicherheit gerichteter Gerichtspredigt meint das: Er kann als Vernichtungsgericht (ÖXEÖQOg) überraschen, vor dem es kein „Entrinnen" gibt (5,3). 4.1.3. Oft (15mal) ist vomZor« (Gottes) die Rede. Gelegentlich meint das den Teilaspekt des im Endgericht zugemessenen bösen Ergehens ( = Abstrafung Rom 2,5.8; 4,14? I Thess 5,9?), sonst immer Gottes Zorn, und zwar - außer Rom 13,4f - sein endzeitliches Vernichtungshandeln. Der Vorstellungsbereich des Vernichtungsgerichts wird auch durch folgende typische Stichwörter und Verbindungen angezeigt: „Tag des Zorns" (2,5); aus ihm kann keiner „entrinnen" (exDenck. So hat die Wittenberger Reformation trotz aller Umprägung des Gerichtsgedankens (vgl. auch BSLK 511 oder E. —>Albers' Lied: „Ihr lieben Christen, freut euch nun", EKG 3) am doppelten Ausgang des Gerichts festgehalten. 3.3. Für U. —*Zwingli steht das Jüngste Gericht am Rande. Im 57. Artikel der Auslegung und Begründung der Schlußreden wird unter Anspielung auf Joh 3,17 f gesagt, die Seligkeit sei dem, der glaubt, schon sofort nach dem leiblichen Tode verliehen; das Gericht macht die Entscheidung nur bekannt und Lohn oder Strafe werden dann dem ganzen Menschen zuteil. Im 12. Artikel der Fidei Ratio betont Zwingli gegen die Wiedertäufer den doppelten Ausgang des Gerichts. Die Aussage des Apostolischen Bekenntnisses „Von dort (sc. der Rechten Gottes) wird er kommen zu richten . . . " dient Zwingli als Argument für seine Abendmahlsauffassung: Nachdem jetzt das Jüngste Gericht noch nicht stattfindet, kann Christus auch nicht leiblich im Brot anwesend sein (Ein klare underrichtung 213). Für J. —>Calvin ist die eschatologische Perspektive wesentlich (Kunz 31 ff). Aber er rechnet doch damit, daß die Seelen der Auserwählten sofort nach dem Tod eine vorläufige Form der Seligkeit, die der Verworfenen Qualen zugeteilt bekommen (De psychopannychia, CR 33,188 ff). Weitere Fragen nach dem Zwischenzustand sind töricht und vermessen (Inst. III, 25,6). Nicht nur die Gleichgestaltigkeit der Christen mit Christus gebietet die Lehre, daß die Auferstandenen mit demselben Leibe umgeben werden, mit dem sie jetzt leben, sondern auch die Gerichtserwartung (ebd. 111,25,7). Der doppelte Ausgang des Gerichts steht fest; aber weder die ewige Seligkeit noch die ewige Strafe ist anders als in Bildern zu beschreiben (ebd. 111,25,10-12). Allerdings hebt Calvin den Heilsaspekt des Gerichts stark hervor; weil der Vater dem Sohn, der der Erlöser ist, das Gericht übertragen hat, müssen die Gläubigen vor dem Gericht nicht zittern (ebd. 11,16,18). Vor dem unerbittlichen Richter hilft kein Prunken mit guten Werken; alle Menschenwerke sind vor ihm nur Unflat und Schmutz (ebd. 111,12,4); so geschieht die Gerechtsprechung allein aus Gnaden (ebd. 111,11,13-23). Die biblischen Lohnverheißungen begründen keinerlei Verdienste (ebd. 111,18). Selbst die matthäische Weltgerichtsdarstellung deutet Calvin in diesem Sinne (CR 45,685ff). Der Gnadenlohn für die Werke besteht also lediglich in einem unterschiedlichen Maß der Herrlichkeit (Inst. 111,25,10). Ganz im Sinne Calvins wird der Heilsaspekt der Parusie auch in der 52. Frage des -*Heidelberger Katechismus in den Vordergrund gestellt.
Gericht Gottes V
492 3.4.
D a s R e c h t f e r t i g u n g s d e k r e t des —>Tridentinums
b e a n t w o r t e t die r e f o r m a t o r i s c h e
H e r a u s f o r d e r u n g mit e i n e m subtilen I n e i n a n d e r v o n g ö t t l i c h e r G n a d e u n d m e n s c h l i c h e r Leistung. D i e guten W e r k e sind jedenfalls a u c h V e r d i e n s t e ( m e r i t a ) des M e n s c h e n , die im E n d g e r i c h t e n t s c h e i d e n d sind (DS 8 0 9 f . 8 4 1 f ) . M a g a u c h die I n t e r p r e t a t i o n des
meritum
u m s t r i t t e n sein ( W . J o e s t : K u D 9 [ 1 9 6 3 ] 5 7 f f ) , s o w i r d m a n d o c h urteilen m ü s s e n , , d a ß der G e r i c h t s g e d a n k e d e m t r i d e n t i n i s c h e n System besser integriert ist als den r e f o r m a t o r i s c h e n L e h r g e b ä u d e n . W e r v o m a b s o l u t e n G e s c h e n k c h a r a k t e r des Heils k ü n d e t , k a n n d e m G e r i c h t n a c h d e n W e r k e n keine e n t s c h e i d e n d e B e d e u t u n g m e h r beimessen. E b e n s o m u ß d a s T r i d e n t i n u m die r e f o r m a t o r i s c h e partícula
exclusiva
meiden.
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V . N e u z e i t u n d ethisch 1. Vorbemerkungen 2. Erkenntnistheoretische Bemerkungen 3. Systematisch-theologische Überlegungen 4 . Gericht Gottes als menschliche Erfahrung 5. Gottes Gericht und der Menschen Macht (Literatur S. 4 9 7 ) 1.
Vorbemerkungen
A u s den biblischen u n d h i s t o r i s c h e n Studien lassen sich zwei w e s e n t l i c h e A s p e k t e des Begriffs e r k e n n e n : a) Als , G e r i c h t n a c h den W e r k e n ' h a t er v o r w i e g e n d eine ethische F u n k t i o n , ist ein m e h r o d e r w e n i g e r w i c h t i g e r Teil eines B e g r ü n d u n g s z u s a m m e n h a n g e s , b) D e r Begriff ist I n s t r u m e n t zur D e u t u n g p e r s ö n l i c h e r o d e r g e m e i n s c h a f t l i c h e r n e g a t i v e r E r f a h rungen. 1.1.
So h o c h d e r Stellenwert dieses A s p e k t e s im K o n t e x t des N e u e n T e s t a m e n t s u n d der
K i r c h e n g e s c h i c h t e ist, s o eine g e r i n g e R o l l e spielt er in d e r heutigen t h e o l o g i s c h e n R e f l e x i o n u n d w o h l a u c h i m G l a u b e n s l e b e n d e r C h r i s t e n . D a s gilt s o w o h l im Sinne eines T u n - E r g e h e n s - Z u s a m m e n h a n g e s als a u c h im Sinne des E n d g e r i c h t s . Die v o m K i r c h e n h i s t o r i k e r i m Blick auf die R e f o r m a t i o n festgestellte T a t s a c h e : „ W e r v o m a b s o l u t e n G e s c h e n k c h a r a k t e r des Heils k ü n d e t , k a n n d e m G e r i c h t n a c h den W e r k e n keine e n t s c h e i d e n d e B e d e u t u n g m e h r b e i m e s s e n " ( H . M e r k e l , s . o . Z . 7 f ) , h a t die F u n k t i o n s l o s i g k e i t des Begriffs z u r F o l g e geh a b t . B e i m A b b a u der „ m e t a p h y s i s c h e n H i n t e r w e l t s w e r t e " ( W . Schulz 7 4 6 ) ist der Begriff
Gericht Gottes V
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aus der theologischen und der Glaubensdiskussion verschwunden. Diese Tatsache reicht über die Grenzen der Konfessionen hinweg, auch wenn der „Gerichtsgedanke dem tridentinischen System besser integriert ist als den reformatorischen Lehrgebäuden" (H. Merkel, ebd.). Das interkonfessionelle 3-bändige Handbuch der christlichen Ethik kennt den Begriff des Gerichts nicht (vgl. Bd. 3 , Kap. 2 , insbesondere den Beitrag von J . Gründel, Das Verständnis von Sünde und Schuld in geschichtlicher Entwicklung, 130£f). 1.2. Der vorwiegend aus dem alttestamentlichen Bereich stammende Aspekt hält sich durch, weil die negativen Erfahrungen von einzelnen und von Kollektiven, die Erfahrung von Entfremdung und Sinnlosigkeit, die Erfahrung von Unglück und Unheil nach transzendentalen Chiffren fragen lassen, um verarbeitet werden zu können. Das gilt z. B. für das mitteleuropäische Bewußtsein seit dem 18. Jh., seitdem ,Geschichte' „als die Krise in Permanenz oder als permanente, unaufhaltsame und nicht zu bändigende Revolution erfahren" wird. „Die Identifizierung dieser Krise, die mit der französischen Revolution und - eng mit ihr verschwistert — mit der industriellen Revolution begann, hat darum überall apokalyptische Bilder herangezogen. Diese Art Weltgeschichte ist das Weltgericht" (J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 6 1 9 6 6 , 2 1 2 . 2 1 4 , vgl. auch die Fortsetzung: „ M i t dieser Art Freiheit steht die ,Furie des Verschwindens' vor der Menschheit. Für revolutionäre Denker tritt in dieser Krise das Reich Gottes oder das Reich der Freiheit und der Humanität in greifbare Nähe. . . . Für konservative Denker, wie de Bonald, de Maistre, später de Tocqueville und J a k o b Burckhardt ertönt aus dieser Krise die Posaune des jüngsten Gerichtes. Beide nehmen die Krise als Vorspiel zum letzten Gefecht"). Es gehört zum Bewußtsein dieser Jahrhunderte allerdings auch die Überzeugung, daß es möglich sei, der Krise und des Gerichts mit Hilfe der Geschichts- und der Gesellschaftswissenschaften habhaft zu werden. Politische Krisen als Gottes Gericht zu deuten, ist ein im Verlauf der Kirchengeschichte ebenso häufig angewandtes wie in seiner theologischen Legitimation bestrittenes Mittel. Dazu zwei Stimmen aus dem Jahre 1 9 1 8 : „ . . . Und dies das Ende, das furchtbare, bittere Ende! Unerforschliches, und doch nicht unverdientes Gericht des großen Gottes, des Allherrn der Welt, der so dem gewaltigen Völkerbeben Stillstand g e b o t . . . " (Ernst Haack: M . Greschat, Der Deutsche Protestantismus im Revolutionsjahre 1 9 1 8 - 1 9 , 1 9 7 4 , 2 6 ) . , , . . . Denn was wir jetzt erfahren, müssen wir verstehen als ein Gericht. Schuld soll uns zum Bewußtsein kommen, und je tiefer der Schmerz über die zerschlagenen Hoffnungen uns durchdringt, desto aufrichtiger wird auch unsere Buße sein. Freilich, um Gottes willen, keine künstliche Übersteigerung der Bußstimmung! Keine unwahrhaftige, unmännliche Zerknirschung! Das wäre das Verderblichste für unser inneres L e b e n . . . " (Karl Holl: ebd. 5 2 ) .
2. Erkenntnistheoretische
Bemerkungen
Bei dem unter 1.2 behandelten Aspekt dient der Begriff zur Deutung von Ereignissen, die nicht in alltags-rationalen und gesellschaftlich akzeptierten Sinnzusammenhängen erklärt werden können, wobei die Deutung eine Metaebene anspricht, der eine eigene und eigenartige Rationalität zuerkannt wird. Es gibt religiöse (z.B. —»Vorsehung, Gottes Fügung), und nichtreligiöse Begriffe (z. B. Schicksal) von ähnlicher Qualität und gleicher Funktion. Es geht um die Deutung von Ereignissen, die grundsätzlich ebenso positiv wie negativ sein können, die im Fall des Gerichts aber natürlich negativ sind. Sie stellen auf jeden Fall eine Krise des bisherigen Lebens dar und machen die Frage danach, wie es weitergehen soll, unausweichlich. Die Ereignisse entziehen sich in ihrer Totalität der Alltagsrationalität - sie sind unvernünftig —, auch wenn partielle rationale Erklärungen möglich sind. Der Historiker kann viele Gründe dafür angeben, warum der Krieg verloren gehen mußte; der Psychologe kann in seinem Kategorienrahmen erklären, wieso ein Mensch dazu kommt, Amok zu laufen; Geologie und Physik können angeben, wieso es an einer bestimmten Stelle und in einer bestimmten Zeit zu einem Erdbeben kommt. Den Wissenschaften bleibt aber verschlossen, warum es diesen Menschen oder diese Menschen tötet oder so trifft, daß ihr bisheriges Leben
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total infrage gestellt wird, und alle Wertungen, alle Rechtfertigungen, alle Sinndeutungen vergehen. Es sind aber auch Ereignisse, die jenseits der von der Gesellschaft akzeptierten Sinnzusammenhänge von Schuld und Sühne liegen. Joh 9,1 ff durchbricht Jesus einen solchen von der Gesellschaft akzeptierten Sinnzusammenhang, um Raum zu machen für die Doxa des Erlösers. Der Begriff operiert auf einer Metaebene mit eigener und eigenartiger Rationalität. Gottes Gedanken und Wege sind nicht willkürlich, sondern Ausdruck der Rationalität seines Willens (Jes 55, 8.9); der Begriff des Schicksals hat nur einen Sinn, wenn ihm Rationalität innewohnt. Sie kann aber gerade nicht einsichtig gemacht und nicht rational vermittelt werden; Gottes Wege und die Rationalität' des Schicksals sind nur dem Glauben zugänglich. Dabei kann der Glaube durchaus eine Kategorie der Resignation sein. Er ist es nicht, wenn das ,dennoch' in ihm impliziert ist. 3. Systematisch-theologische Überlegungen Das Faktum des Gerichts ist für die theologische Ethik irrelevant geworden, weil sich der systematische Kontext des Begriffs verändert hat. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder man läßt den Begriff fallen oder man reflektiert den systematischen Kontext neu im Blick auf die Wirklichkeit, in der der Begriff nach wie vor zur Deutung von Erfahrung gebraucht wird. Dazu sind umfassende theologisch-anthropologische Überlegungen notwendig, die hier nur ansatzweise durchgeführt werden können. (Zwei Beispiele aus der Literatur können die Situation kennzeichnen: W. Kreck, Die Zukunft des Gekommenen, 1961, von dessen Ansatz her der Begriff,Gericht Gottes' in der Ethik nicht gedacht werden kann; Chr. Gremmels, Der Gott der zweiten Schöpfung, 1971, von dessen Ansatz her auch der Gerichtsgedanke relevant bleibt.) 3.1. Die Aussagekraft des Begriffs ,Gericht Gottes' in einem Verstehenszusammenhang menschlichen Handelns und Erleidens steht und fällt mit der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gottes Handeln und des Menschen Tun. Auch hier gibt es im Blick auf unterschiedliche Situationen von Wirklichkeit unterschiedliche Akzentsetzungen. Gott handelt als kosmische Kraft, als causa prima in allen natürlichen Zusammenhängen. Hier erfährt der Mensch heilende und zerstörerische Naturkräfte, die Wirkung von lebenserhaltenden Mineralien und warmen Quellen ebenso wie die zerstörerischen Wirkungen von Viren, Sandstürmen und Kälteeinbrüchen. Es ist einer der Aspekte, der in der traditionellen Dogmatik weithin nicht gedeutet wird. Gott handelt durch sein richtendes und versöhnendes Wort (—>Wort Gottes). Er ist und bleibt Subjekt dieses Handelns sowohl in der Ursache als auch in den Wirkungen des Wortes. Er hat sich aber von der Inkarnation in dem Menschen Jesus von Nazareth an über die Apostel bis zu den Menschen in der Gegenwart, die das richtende und versöhnende Wort weitersagen, an die Mitwirkung der Menschen gebunden. Gott handelt durch Menschen. Es ist ein schwieriges, ein gefährliches, aber ein unumgängliches Thema theologischer Reflexion. Die großen Propheten haben das Thema angeschlagen („Für Jeremia ist der heidnische Weltherrscher Nebukadnezar das Werkzeug zur Vollstreckung eines universalen Gerichts"; E. Jenni, Die Rolle des Cyros bei Deuterojesaja: T h Z 10 [1954] 248), das Neue Testament hat es auf die Person Jesu zentriert, und die Christen haben sich als einzelne, als Gemeinde und als politische Einheiten immer mit dem behaupteten Anspruch oder der Glauben hervorrufenden Wirkung einzelner herumgeschlagen, besondere Werkzeuge Gottes zu sein. 3.2. Das Gerichtshandeln Gottes hat seine Entsprechung in seinem Schöpfungshandeln (—»Schöpfer/Schöpfung). Anfang und Ziel der Geschichte entsprechen einander. Aber gerade im Blick auf die Schöpfung stellt sich die Frage nach dem Handeln Gottes in, mit und unter menschlichem Handeln. Alle theologische Reflexion des Gesamtkomplexes der Schöpfung muß von dem qualitativen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf und der creatio ex nihilo ausgehen.
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Um des Gottesverständnisses willen muß daran festgehalten werden. „Gottes Natur ist, daß er aus nichts etwas macht. Darum wer noch nicht nichts ist, aus dem kann Gott auch nichts machen. Die Menschen aber machen aus etwas ein anderes." (M. Luther, Auslegung der sieben Bußpsalmen, nach WA l,183,39f). Das Verhältnis des Menschen zur Schöpfung ist in doppelter Weise bestimmt. Zum einen partizipiert er an ihr, ist er Geschöpf; zum andern ist er derjenige, der ständig in die ihn umgebende Schöpfung—Kosmos, Natur und Mensch — eingreift und sie verändert, so daß es auf der Erde wohl kaum einen Ort gibt, wo uns Schöpfung nicht als vom Menschen veränderte entgegentritt. Dieser Tatbestand muß in die Rede von der von Gott erhaltenen Schöpfung und in den Begriff der creatio continua aufgenommen werden. Schöpfung, wie wir sie erleben, ist ganz Gottes und ganz des Menschen Tat. Keine Tatsache kann diese Dialektik besser verdeutlichen als der Akt der Zeugung. Nur auf dem Hintergrund der dialektischen Beziehung von Gott und Mensch zur Schöpfung lassen sich Freiheit und Verantwortung ihr gegenüber begründen. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage nach der verfehlten Verantwortung, nach der Sünde des Menschen und schließlich auch nach dem Gericht. 4. Gericht Gottes als menschliche
Erfahrung
4.1. Dem Gedanken des Endgerichts wie dem Gedanken des Gerichts nach den Werken ist es immanent, daß es sich ausschließlich um Gottes Sache handelt. Der Mensch ist ein zu Richtender oder Gerichteter. Der Gedanke des Endgerichtes selbst ist mit dem Faktum Geschichte und dem Faktum Gerechtigkeit als denknotwendig gegeben. (Vgl. P. Tillich, Systematische Theol., III 1966, 449f: „Ihre [sc. der dritten Antwort auf die Beziehung der Geschichte zum ewigen Leben] Grundthese ist, daß das immer gegenwärtige Ende und Ziel der Geschichte den positiven Inhalt der Geschichte in die Ewigkeit erhebt, während es zugleich das Negative von der Teilnahme an ihr ausschließt," und G. Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, III 1979, 469: „Daß diese verkehrte Welt richtiggestellt und zurechtgebracht werde, daß alles ans Licht und zur Wahrheit komme, darin besteht ein geschichtliches Verlangen von eschatologischem Ausmaß.") 4.2. Anders ist die Situation, wenn als Gericht die Erfahrung von Unheil im Leben der einzelnen oder der Kollektive gedeutet wird. Hier werden die Akzente dreifach unterschiedlich gesetzt. Es handelt sich um unverschuldetes Unheil. Naturkatastrophen, Krankheit, Kriege gaben seit Hiobs Zeiten den Anlaß, die Frage der Theodizee zu stellen (—•Theodizeeproblem). Allerdings neigt der moderne Mensch zunehmend dazu, auch in diesen Fällen die Gesellschaft verantwortlich zu machen. Sie tritt an die Stelle des deus absconditus, des unergründlichen göttlichen Ratschlusses. Menschen sind beteiligt. Es handelt sich um selbstverschuldetes Unheil, das der einzelne als Strafe für sein Tun empfindet; Gericht, an dessen Vollzug der einzelne voll beteiligt ist. An alle Formen der Sucht und der Abhängigkeit ist hier zu denken. Es handelt sich um eindeutig von anderen verschuldetes Unheil. Der Tod oder die schwere Verletzung im Straßenverkehr, der Mord an einem Kind wird als Gerichtshandeln Gottes erfahren und läßt die Frage nach seiner Gerechtigkeit aufbrechen, obwohl das Unheil von Menschen verursacht wurde. 4.3. Die Deutung der Erfahrung von —»Entfremdung und Sinnlosigkeit, von Unglück und Unheil als Gericht bedeutet, sie ganz Gott und ganz dem Menschen zuzurechnen. Gericht kann produktiv, d.h. im Sinne einer Neuorientierung des Lebens, biblisch gesprochen im Sinne der Metanoia nur verstanden werden, wenn Gott und Mensch an diesem Punkt nicht auseinanderdividiert, wenn sie beide nicht aus der Verantwortung entlassen werden. 5. Gottes Gericht und der Menschen
Macht
5.1. Das Folgende muß auf dem Hintergrund dessen verstanden werden, was G. Ebeling über das Wirken Gottes und die Geschichte sagt:
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„Gegen die Neigung, Gott und Geschichte auseinanderfallen zu lassen, muß die Allmacht Gottes als eine nicht bloß potentielle, sondern wirkliche mit der T a t vollzogene verstanden werden, sonst wäre Gott, wie Luther meint, ein lächerlicher Gott. Diese in die tiefsten Anfechtungen führende Identifikation Gottes mit der Geschichte kann aber nur dann ausgehalten werden, wenn, wiederum in Spannung dazu, das Wirken Gottes - anscheinend partiell und speziell — an einem bestimmten Geschehen festgemacht und dort erkannt und bekannt wird. So ist es im Credo des Volkes Israel geschehen und entsprechend im christlichen Credo. Daß Gott alles in allem wirkt, wird nicht aufgehoben, sondern allererst erträglich und sagbar, wenn man sein offenbares Wirken an ganz bestimmtem Ort erfahren hat. Deshalb ballt sich der christliche Glaube in den Glauben an Jesus Christus zusammen, diesen winzigen Punkt der Weltgeschichte. Die Omnipräsenz Gottes gilt es also zusammenzudenken mit der Präsenz Gottes an diesem Ort und entsprechend mit der Präsenz Gottes im Christuswort. Ebenso ist die Omnipotenz Gottes zusammenzudenken mit der Ohnmacht Christi am Kreuz. Wird das Verhältnis Gottes zur Geschichte nicht in dieser schier zerreißenden Spannung bedacht, so kann weder dem Christusgeschehen Universalität zugesprochen noch geglaubt werden, daß die Geschichte in den Händen Gottes liegt. Übersetzt man dies wieder in die Sprache des Gebets, so formiert sich jener unverkennbare Klang christlichen Betens, der nur als die Auflösung aus der schrillen Dissonanz in die volle Konsonanz laut werden kann, als das Beieinander von confessio peccati und confessio laudis im Ubergang von der Verzweiflung zum Dank: ,Oh, ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich aus diesem Todesleibe erretten? Gott sei Dank durch Jesus Christus, unseren Herrn.' (Rom 7 , 2 4 f) Diese Kehre ist die vom Gesetz zum Evangelium, vom Gefordertsein des Menschen, dem die ganze W u c h t der Verantwortung für die Geschichte und darum auch für den Umgang mit der Natur auf die Seele fällt, zu dem Befreitsein, das den Menschen zu einem Antagonisten Gottes zu dessen cooperator macht, zu Gottes Mitarbeiter" (G. Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, I 1 9 7 9 , 2 9 3 f).
5.2. Die —»Macht des Menschen entfaltet sich in zwei Richtungen: Sie ermöglicht dem Menschen, Welt zu gestalten; sie ermöglicht ihm, Ziele einer Entwicklung anzugeben und sie durchzusetzen. Beides kann der Mensch in viel höherem M a ß als alle Kreaturen. Diese Fähigkeiten sind Ausdruck seiner Rationalität, seiner Vernünftigkeit, wobei hier offengelassen werden kann, ob sein Menschsein in der Vernünftigkeit besteht. Entscheidend ist, daß die Rationalität immer partielle Rationalität ist. Durch das Organisieren von Erkenntnisprozessen und von sozialen Prozessen im weitesten Rahmen haben die Menschen in der Neuzeit ihre Macht um ein Vielfaches vergrößert. Aber entgegen dem Fortschrittsoptimismus gelang es nicht, die Beschränktheit der rationalen Einsicht und ihrer Durchsetzung zu durchbrechen oder die Vernunft der vielen Vernünftigkeiten umgreifend darzustellen. Im Gegenteil, erfahren wird die Tatsache, daß die Rationalität der Teile die Rationalität des Ganzen verdeckt oder zunehmend infrage stellt. Die einzelnen Menschen und die Weltgesellschaft als Ganzes leben von der durchhaltenden Rationalität der Teile, solange sie durchhält. W o dieses nicht geschieht, werden Erfahrungen gemacht, die als Gottes Gericht zu deuten sind. Die moderne Menschheit macht diese Erfahrung in vielfacher, aber in zweifacher gravierender Hinsicht. 5.3. Die M a c h t der Menschen über die Natur: Über zweieinhalb Jahrtausende haben die Menschen versucht, zu erkennen, welches die Naturgesetze sind, um sich vor der Natur im weitesten Sinn zu schützen und um sie zu beherrschen. Beides ist ihnen in hohem M a ß gelungen. Die Menschen haben allerdings erst spät erkannt, daß Natur zu erkennen und zu beherrschen auch bedeutet, daß sich die Natur dort verändert, wo man es nicht will. Der Eingriff in die Natur wird in zunehmendem M a ß zum Gericht über den Eingreifenden, indem die dem Eingriff zugrundeliegenden Wertungen, Ziele und die mit dem Eingriff verbundenen Hoffnungen in die Krise geraten. Noch wird die Situation weithin bagatellisiert, noch wird die Situation nicht als Gericht gedeutet, weil man meint, sie in der Hand zu haben, noch wird die Hoffnung auf die Wissenschaft gesetzt. 5.4. Die M a c h t der Menschen über die Menschheit: Seitdem es Menschen gibt, gibt es die M a c h t des Menschen über den Menschen, gibt es Herrschaft der Menschen über die Menschen. Seitdem es die Herrschaft der Menschen über die Menschen gibt, gibt es den Drang nach mehr M a c h t und Herrschaft über mehr Menschen. Mit Hilfe ihrer vielen Vernünftigkeiten haben die Menschen das Prinzip von Herrschaft und Schutz vor Herrschaft ausgeweitet und effektiver gestaltet, bis sich die Systeme der gegenseitigen Abschreckung verselbständigten. Heute weiß kein Mensch, was die Menschheit noch vor dem atomaren
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Holocaust bewahrt. Die Rationalität des Militärischen meint, die Antwort läge ausschließlich in der Möglichkeit des Holocaust. Der Glaube wird sagen: „Die Güte des Herrn ist's, daß wir nicht gar aus sind" (Thr 3,22). Daß der Holocaust möglich ist, haben die Jahre 1 9 4 1 - 1 9 4 5 bewiesen. Aber daß diese Ereignisse als Gericht Gottes gedeutet werden dürfen, kann nur der sagen, der sie erfahren hat (vgl. die Diskussion in: Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, hg. G.B. Ginzel, Heidelberg 1980). Den anderen bleibt nur, darum zu bitten, daß sie diese Erfahrungen nicht machen müssen. Literatur Paul Althaus, Die letzten Dinge. Entwurf zu einer christl. Eschatologie, Gütersloh 8 1 9 6 1 . - J e h o shua Amir, Jüdische theol. Positionen nach Auschwitz. Auschwitz als Herausforderung für Juden u. Christen, hg. Günther B. Ginzel, Heidelberg 1 9 8 0 , 4 3 9 - 4 5 5 . - Christoph Blumhardt, Eine Auswahl aus seinen Predigten, Andachten u. Schriften, Leipzig, IV 1 9 3 2 . — Emil Brunner, Das Ewige als Zukunft u. Gegenwart, Zürich 1 9 5 3 . - Gerhard Ebeling, W o r t u. Glaube. Beitr. zur Fundamentaltheologie, Soteriologie u. Ekklesiologie, 3 Bde., Tübingen 1 9 7 5 . - Friedrich Gogarten, Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit, M ü n c h e n 1 9 6 6 . - Christian Gremmels, Der G o t t der zweiten Schöpfung, Stuttgart 1 9 7 1 . — Martin Greschat, Der dt. Protestantismus im Revolutionsjahr 1 9 1 8 / 1 9 1 9 , Witten 1 9 7 4 . - Karl H a m mer, Dt. Kriegstheologie 1 8 7 0 - 1 9 1 8 , M ü n c h e n 1 9 7 1 . - Ernst Jenni, Die Rolle des Cyros bei Deuterojesaja: T h Z 1 0 ( 1 9 5 4 ) 2 4 8 - 2 6 4 . - Walter Kreck, Die Zukunft des G e k o m m e n e n , München 1 9 6 6 . Herrmann Lübbe, Politische Phil, in Deutschland, Stuttgart 1 9 6 3 . - W o l f Dieter M a r s c h , Politische Predigt zum Kriegsbeginn 1 9 1 4 / 1 9 1 5 : EvTh 2 4 ( 1 9 6 4 ) 5 1 3 - 5 2 5 . - Gottfried Mehnert, Ev. Kirche u. Politik 1 9 1 7 - 1 9 1 9 , Düsseldorf 1 9 5 9 . - Heinrich Missalla, G o t t mit uns. Die dt. Kriegspredigt, M ü n chen 1 9 6 8 . — Jürgen M o l t m a n n , Theol. der Hoffnung. Unters, zur Begründung u. zu den Konsequenzen einer christl. Eschatologie, 1 9 6 4 3 1 9 6 5 (BETh 3 8 ) . - Ulrich N e m b a c h , Begründungen des Rechts, Göttingen 1 9 7 7 . - W o l f h a r t Pannenberg, Theol. u. Reich Gottes, Gütersloh 1 9 7 9 . - Ders., Ethik u. Ekklesiologie, GAufs., Göttingen 1 9 7 7 . - Wilhelm Pressel, Die Kriegspredigt 1 9 1 4 - 1 9 1 8 in der ev. Kirche Deutschlands, Göttingen 1 9 6 7 . - Friedrich Schleiermacher, D e r Christi. Glaube, Berlin, II ' i 9 6 0 . Walter Schulz, Phil, in veränderter Welt, Pfullingen 1 9 7 2 . - Helmuth Thielicke, Theol. Ethik, Tübingen, I I / l 3 1 9 6 5 . - Paul Tillich, Syst. Theol., Frankfurt a. M a i n , III 3 1 9 8 1 . - Reinhard Wittram, Anfechtung u. Auftrag der politischen Predigt. Christi. Verkündigung im 19. J h . , Göttingen 1 9 6 2 .
Eberhard Amelung Gerichtsbarkeit, 1. Geschichte
1.
kirchliche 2 . Gegenwartslage
3 . Beurteilung
(Quellen/Literatur S. 5 0 4 )
Geschichte
1.1. Neues Testament. Herrenworte in den Evangelien (Mt 7,1 f; Lk 6,37 ff) ebenso wie Apostelworte (Rom 2,1 ff; 14,4 ff; Jak 4,12) warnen vor verurteilendem Richten unter Christen. Dennoch finden wir im Neuen Testament Anhaltspunkte für ein Schlichten unter Christen im Kreise der „zwei oder drei" wie auch in der Gemeindeversammlung (Mt 18,16 f; Act 15). Paulus weiß sich durch seinen erhöhten Herrn allem menschlichen Richten einschließlich des Selbstrichtens enthoben (I Kor 4,3 f). Gleichwohl kann er nicht nur in prophetischem Spruch das eschatologische Urteil Gottes über öffentliche Sünder verkündigen (I Kor 5,3 f); er weist auch die Christen für ein geistlich verantwortbares Richten zunächst auf ihre Teilhabe beim künftigen Weltgericht des Kyrios hin (I Kor 6,2a.3; dazu Dinkler; Stein; vgl. auch Mt 19,28). Ein Streiten von Gemeindegliedern vor nichtchristlichem Richter brandmarkt er als ganz unmöglich. Stattdessen ermutigt er nicht nur zum Rechtsverzicht durch den Kläger (I Kor 6,7f), sondern auch zum Eingreifen eines christlichen „Weisen" als Richterzwischen Bruder und Bruder (I Kor 6 , 1 - 5 ) . Damit wird nicht nur eine Folgerung aus der eschatologischen Richterwürde der Christen gezogen; aus der Fülle der in der Gemeinde als dem Leib Christi lebendigen Geistesgaben (IKor 12,lff.27ff) erscheintauch die „Steuermannskunst" {xvßegvTjaig, I Kor 12,28) als gottgeschenkte Fähigkeit zur rechten Leitung in den Fragen ihrer Ordnung (Beyer) angesprochen. Als Träger einer solchen Gabe sehen die Pastoralbriefe den Bischof, wenn er die ihm anvertraute Gemeinde durch ein förmliches, über Ermahnungen und Zeugenverhör bis zum Ausschließungsurteil reichendes Verfahren vor Spaltungen bewahren soll (I Tim 5,19f; Tit 3,10).
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kirchliche
Holocaust bewahrt. Die Rationalität des Militärischen meint, die Antwort läge ausschließlich in der Möglichkeit des Holocaust. Der Glaube wird sagen: „Die Güte des Herrn ist's, daß wir nicht gar aus sind" (Thr 3,22). Daß der Holocaust möglich ist, haben die Jahre 1 9 4 1 - 1 9 4 5 bewiesen. Aber daß diese Ereignisse als Gericht Gottes gedeutet werden dürfen, kann nur der sagen, der sie erfahren hat (vgl. die Diskussion in: Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, hg. G.B. Ginzel, Heidelberg 1980). Den anderen bleibt nur, darum zu bitten, daß sie diese Erfahrungen nicht machen müssen. Literatur Paul Althaus, Die letzten Dinge. Entwurf zu einer christl. Eschatologie, Gütersloh 8 1 9 6 1 . - J e h o shua Amir, Jüdische theol. Positionen nach Auschwitz. Auschwitz als Herausforderung für Juden u. Christen, hg. Günther B. Ginzel, Heidelberg 1 9 8 0 , 4 3 9 - 4 5 5 . - Christoph Blumhardt, Eine Auswahl aus seinen Predigten, Andachten u. Schriften, Leipzig, IV 1 9 3 2 . — Emil Brunner, Das Ewige als Zukunft u. Gegenwart, Zürich 1 9 5 3 . - Gerhard Ebeling, W o r t u. Glaube. Beitr. zur Fundamentaltheologie, Soteriologie u. Ekklesiologie, 3 Bde., Tübingen 1 9 7 5 . - Friedrich Gogarten, Verhängnis u. Hoffnung der Neuzeit, M ü n c h e n 1 9 6 6 . - Christian Gremmels, Der G o t t der zweiten Schöpfung, Stuttgart 1 9 7 1 . — Martin Greschat, Der dt. Protestantismus im Revolutionsjahr 1 9 1 8 / 1 9 1 9 , Witten 1 9 7 4 . - Karl H a m mer, Dt. Kriegstheologie 1 8 7 0 - 1 9 1 8 , M ü n c h e n 1 9 7 1 . - Ernst Jenni, Die Rolle des Cyros bei Deuterojesaja: T h Z 1 0 ( 1 9 5 4 ) 2 4 8 - 2 6 4 . - Walter Kreck, Die Zukunft des G e k o m m e n e n , München 1 9 6 6 . Herrmann Lübbe, Politische Phil, in Deutschland, Stuttgart 1 9 6 3 . - W o l f Dieter M a r s c h , Politische Predigt zum Kriegsbeginn 1 9 1 4 / 1 9 1 5 : EvTh 2 4 ( 1 9 6 4 ) 5 1 3 - 5 2 5 . - Gottfried Mehnert, Ev. Kirche u. Politik 1 9 1 7 - 1 9 1 9 , Düsseldorf 1 9 5 9 . - Heinrich Missalla, G o t t mit uns. Die dt. Kriegspredigt, M ü n chen 1 9 6 8 . — Jürgen M o l t m a n n , Theol. der Hoffnung. Unters, zur Begründung u. zu den Konsequenzen einer christl. Eschatologie, 1 9 6 4 3 1 9 6 5 (BETh 3 8 ) . - Ulrich N e m b a c h , Begründungen des Rechts, Göttingen 1 9 7 7 . - W o l f h a r t Pannenberg, Theol. u. Reich Gottes, Gütersloh 1 9 7 9 . - Ders., Ethik u. Ekklesiologie, GAufs., Göttingen 1 9 7 7 . - Wilhelm Pressel, Die Kriegspredigt 1 9 1 4 - 1 9 1 8 in der ev. Kirche Deutschlands, Göttingen 1 9 6 7 . - Friedrich Schleiermacher, D e r Christi. Glaube, Berlin, II ' i 9 6 0 . Walter Schulz, Phil, in veränderter Welt, Pfullingen 1 9 7 2 . - Helmuth Thielicke, Theol. Ethik, Tübingen, I I / l 3 1 9 6 5 . - Paul Tillich, Syst. Theol., Frankfurt a. M a i n , III 3 1 9 8 1 . - Reinhard Wittram, Anfechtung u. Auftrag der politischen Predigt. Christi. Verkündigung im 19. J h . , Göttingen 1 9 6 2 .
Eberhard Amelung Gerichtsbarkeit, 1. Geschichte
1.
kirchliche 2 . Gegenwartslage
3 . Beurteilung
(Quellen/Literatur S. 5 0 4 )
Geschichte
1.1. Neues Testament. Herrenworte in den Evangelien (Mt 7,1 f; Lk 6,37 ff) ebenso wie Apostelworte (Rom 2,1 ff; 14,4 ff; Jak 4,12) warnen vor verurteilendem Richten unter Christen. Dennoch finden wir im Neuen Testament Anhaltspunkte für ein Schlichten unter Christen im Kreise der „zwei oder drei" wie auch in der Gemeindeversammlung (Mt 18,16 f; Act 15). Paulus weiß sich durch seinen erhöhten Herrn allem menschlichen Richten einschließlich des Selbstrichtens enthoben (I Kor 4,3 f). Gleichwohl kann er nicht nur in prophetischem Spruch das eschatologische Urteil Gottes über öffentliche Sünder verkündigen (I Kor 5,3 f); er weist auch die Christen für ein geistlich verantwortbares Richten zunächst auf ihre Teilhabe beim künftigen Weltgericht des Kyrios hin (I Kor 6,2a.3; dazu Dinkler; Stein; vgl. auch Mt 19,28). Ein Streiten von Gemeindegliedern vor nichtchristlichem Richter brandmarkt er als ganz unmöglich. Stattdessen ermutigt er nicht nur zum Rechtsverzicht durch den Kläger (I Kor 6,7f), sondern auch zum Eingreifen eines christlichen „Weisen" als Richterzwischen Bruder und Bruder (I Kor 6 , 1 - 5 ) . Damit wird nicht nur eine Folgerung aus der eschatologischen Richterwürde der Christen gezogen; aus der Fülle der in der Gemeinde als dem Leib Christi lebendigen Geistesgaben (IKor 12,lff.27ff) erscheintauch die „Steuermannskunst" {xvßegvTjaig, I Kor 12,28) als gottgeschenkte Fähigkeit zur rechten Leitung in den Fragen ihrer Ordnung (Beyer) angesprochen. Als Träger einer solchen Gabe sehen die Pastoralbriefe den Bischof, wenn er die ihm anvertraute Gemeinde durch ein förmliches, über Ermahnungen und Zeugenverhör bis zum Ausschließungsurteil reichendes Verfahren vor Spaltungen bewahren soll (I Tim 5,19f; Tit 3,10).
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Gerichtsbarkeit,
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1.2. Alte Kirche. So entwickelte sich in den christlichen Gemeinden kirchliches Strafrecht im Wege der Kirchenzucht zunächst ohne eindeutig abgegrenzte Organisationsformen. Exkommunikationen (—»Bann) ebenso wie die Amtsenthebung geistlicher Amtsträger bedeuteten dabei geistliche Akte aus charismatischer Vollmacht, auch wenn sich allmählich näher umschriebene Formen kirchlicher Straftatbestände und Strafen entwickelten. Im Ortsbereich wurde zunächst der —»Bischof im Zusammenwirken mit Presbytern oder der Gemeindeversammlung tätig. Zusammenkünfte benachbarter Bischöfe und im größeren Verbände als —»Synoden fällten Berufungsentscheidungen in Fragen der Kirchenzucht und übten die Aufsichtsgewalt über die Bischöfe aus. Im Westen bildeten sich allmählich herausragende Stellung und jurisdiktioneller Primatsanspruch des römischen —»Papsttums heraus. Infolge der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion konnten Bischöfe und Synoden ihre disziplinaren Aufgaben in größerem Umfange unter staatlichem Rechtsschutz ausüben. Ihre Rechtsprechung (episcopalis audientia) wurde auch in weltlichen Angelegenheiten anerkannt (Cod. Justiniani I, 4). 1.3. Im frühen Mittelalter wurde die kirchliche Gerichtsbarkeit durch die germanischen Volksrechte beeinflußt. Neben den Bischof selbst traten seine Sendgerichte und Archidiakone. Der Aufstieg des Papsttums zum Amt eines obersten Rechtswalters begründete auch Rechtsprechungsaufgaben im Bereich seines —»Gesandtschaftswesens sowie durch die päpstliche Gerichtsbehörde, die Sacra Romana Rota. Eingehende Prozeßregeln legten die Rechtsstellung von Gerichtsbeamten, Rechtsbeiständen und Parteien fest. Sie wurden für die Entwicklung des modernen Prozeßrechtes bedeutungsvoll. Das kirchliche Strafrecht mit einer wachsenden Zahl unterschiedlicher kirchlicher—»Strafen für Kleriker und Laien war zunächst auf Besserung und Umkehr des Schuldigen ausgerichtet. Zunehmend wurden kirchliche Vergehen aber auch mit schon durch die Tat selbst eintretende Strafen (z. B. Exkommunikation latae sententiae [—»Bann]) bedroht. Neben den ordentlichen Strafprozeß traten, besonders als Ketzerprozeß, das summarische und Inquisitionsverfahren. Die kirchlichen Gerichte entschieden auch im Eherecht sowie über Patronate und Pfründen. Sammlungen von —»Kirchenrechtsquellen, insbesondere des Corpus Iuris Canonici, trugen zur Fortbildung der kirchlichen Gerichtsbarkeit bei. In päpstlichen Konstitutionen spiegelte sich zunehmend sowohl das wachsende Interesse des Papsttums an der hierarchischen Organisation der Kirche als auch sein zeitweiliger Niedergang. 1.4. Die —»Reformation begann durch einen bei der römischen Kurie gegen —»Luther angestrengten Ketzerprozeß. In der Auseinandersetzung mit der päpstlichen Jurisdiktion erfuhr er die alleinige Richtergewalt des göttlichen Wortes über die Gewissen, aber auch die Unterscheidung des in Kraft der Liebe Christi gewaltlos wirkenden Regimentes durch das Wort gegenüber der als Gottes Regiment zur Linken mit dem Schwert richtenden weltlichen Gewalt (—»Zweireichelehre). Luthers Ziel einer gereinigten Kirche unter gewaltfreier Jurisdiktion eines dem Evangelium sich öffnenden, notfalls durch die Gemeinden selbst neubegründeten evangelischen Bischofsamtes (—»Bischof) blieb unerreicht; weltliche Obrigkeiten mußten mit dem „notbischöflichen" Amt des landesherrlichen —»Kirchenregiments auch kirchengerichtliche Aufgaben übernehmen. Dies geschah zunächst, auch unter Luthers persönlicher Mitwirkung, in Visitationskommissionen (—»Visitation) aus Theologen und Juristen, die im Auftrag der —»Obrigkeit Pfarrer und Gemeinden aufsuchten. Entgegen Luthers Absicht stattete die kurfürstliche Instruktion aber die Visitatoren mit obrigkeitlicher Vollmacht aus. Im Fortgang der Reformation überforderten die Folgen der Suspension der bischöflichen Gerichtsbarkeit über die evangelischen Territorien insbesondere für die dann aufbrechenden Fragen eines evangelischen Eherechtes bald Pfarrer und —»Superintendenten. Deshalb wurden, zunächst in Kursachsen, evangelische Konsistorien aus Theologen und Juristen als Ehe- und Zuchtgerichte gebildet. Diese handelten im aktenmäßigen Verfahren neben Verwaltungsfragen auch die Ehesachen, aber auch die Kirchenzucht über die Gemeindeglieder gemeinsam richterlich ab. Der alte Luther geriet in Streit mit dem Wittenberger —»Konsistorium, weil dieses heimliche Verlöbnisse mehr nach dem herkömmlichen kanoni-
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sehen Recht als nach seinen Auffassungen über die —»Ehe beurteilte; der Kurfürst veranlaßte das Konsistorium zum Einlenken (Götze). Bestehen blieb die Gefahr einer Vermischung geistlicher und weltlicher Leitung in der Kirche. Nach —»Melanchthon sollen „Kirchengerichte" als notwendiges Stück christlicher —»Kirchenordnung gegen öffentliche Laster und falsche Lehren einschreiten und die christliche —>Kirchenzucht erhalten. —>Zwingli entwarf eine Züricher Eheordnung mit weltlich-geistlich zusammengesetzten Ehegerichten. —»Calvin sah das wichtigste Stück der kirchlichen Gewalt in einer Gerichtsbarkeit als Kirchenzucht, die allerdings vom Strafrecht der Obrigkeit unterschieden und nicht nur von einem einzelnen ausgeübt werden sollte. Wirkmittel sollte das —» Wort Gottes, Ziel die Beseitigung eingetretenen Ärgernisses und Maßstab die Sanftmut des Geistes Christi sein. Dabei sollten die Prediger dem Kirchenvolk durch strengere Disziplin mit ihrem eigenen Beispiel vorangehen. 1.5. Nachreformatorische evangelische Kirchen. Die Obrigkeiten in den protestantischen Territorien erledigten ihre Obliegenheiten im Blick auf die Kirche zwar mit dem Rat lutherischer Theologen, aber entgegen dem Plan der Reformatoren doch in ähnlicher Weise wie alle anderen Aufgaben ihrer Regierung (M. Heckel). Für die sich nach Wittenberger und württembergischem Vorbild einrichtenden Konsistorien blieb das kanonische —»Kirchenrecht kraft Tradition in Geltung, soweit es nicht der Bibel widersprach (J. Heckel, Decretum). Der Gerichtscharakter der Konsistorien zeigt sich in ihrer kollegialen Arbeitsweise wie in ihrer verhältnismäßigen Eigenständigkeit. Die weltlichen Behörden leisteten ihnen Rechtshilfe, die Superintendenten aufklärende und streitschlichtende Vorarbeit. Mit dem Erstarken des Territorialismus allerdings traten die gerichtlichen Aufgaben der Konsistorien hinter denen der allgemeinen Staatsgerichte zurück; Verhängung schwerer Strafen und Berufungen gegen dienstaufsichtliche Entscheidungen der Konsistorien gingen auf die weltlichen Obergerichte über. Anders verlief die Entwicklung in den reformierten, aber auch lutherischen Gemeinden im —»Rheinland und —»Westfalen, die als „Kirche unter dem Kreuz" ebenso von der Fürsorge einer Landesherrschaft gleichen Glaubens wie von der Leitungsgewalt landesfürstlicher Konsistorien frei waren. Hier wurden die —»Synoden, zwischen ihren Sessionen bald auch die mit interimistischen Vollmachten als collegium qualificatum wirkenden Synodalvorstände, auf Anrufen eines Beteiligten richterlich tätig und überprüften Entscheidungen der ortsnäheren Gremien über Eherecht und Amts- wie Kirchenzucht. Dabei ging der Rechtszug jeweils von den ortsnäheren Synoden zu der ihr vorgeordneten im größeren Bereich. Bei der kurfürstlichen Bestätigung der clevisch-märkischen Kirchenordnungen beider Konfessionen blieben Amtsenthebung von Pfarrern sowie Verhängung des großen —»Bannes der landesfürstlichen Bestätigung vorbehalten. 1.6. Entwicklung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Im 19. Jh. setzte für die öffentliche Strafrechtspflege die Mündlichkeit der Hauptverhandlung das Recht des Beschuldigten auf Gehör und Verteidigung sowie die persönliche Unabhängigkeit der von Verwaltungsaufgaben freien Richter durch. Dies alles ebenso wie das Erstarken der kirchlichen Synoden gegenüber den Konsistorien wirkte sich auch auf das Disziplinarverfahren für Kirchenbedienstete aus. Die altpreußische Landeskirche (—»Evangelische Kirche der Union) erließ im engen Anschluß an entsprechende Bestimmungen des staatlichen Beamtenrechts 1 8 8 6 ein umfassendes Disziplinargesetz. Dieses wies zwar auch weiterhin im ersten Rechtszuge den Provinzialkonsistorien und im Berufungsrechtszuge dem Oberkirchenrat richterliche Aufgaben in der Disziplinargerichtsbarkeit zu, stärkte aber die Rechtsstellung des Angeschuldigten. Auch der Vorstand der Synode wurde teilweise an den Disziplinaraufgaben des Konsistoriums beteiligt. Für—»Mecklenburg und Strelitz wurde 1 8 8 0 als Berufungsinstanz gegen die Entscheidungen der Konsistorien ein Oberes Kirchengericht zu Rostock gebildet, in welchem Richter der öffentlichen Gerichtsbarkeit mit Geistlichen und einem Professor des Kirchenrechts zusammenwirkten. Für Wahlanfechtungen oder Beanstandung der Amtsführung von Pfarrern wegen —»Häresie beschloß die altpreußische Landeskirche 1 9 0 9 ein besonderes Verfahren vor einem vom Oberkirchenrat getrennten Spruchkollegium; auch dieses Vorbild fand Nachahmung in anderen Landeskirchen (—»Lehrverpflichtung).
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Nach Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments wollten die Landeskirchen auch sonstige innerkirchliche Streitigkeiten nicht mehr staatlichen Richtern überlassen. So führte die Evangelische Kirche der altpreußischen Union 1922 Rechtsausschüsse als unabhängige Kirchenbehörden für die Entscheidung von Streitigkeiten der kirchlichen Verwaltung ein. Ihre Zuständigkeit war allerdings nicht durch eine Generalklausel umschrieben, sondern beschränkte sich auf gesetzlich ausdrücklich zugewiesene Fälle wie Vermögensauseinandersetzungen, Einsprüche bei Pfarrerwahlen, ferner zunächst auch das Disziplinarverfahren gegen Pfarrer und sonstige kirchliche Beamte. Dem altpreußischen Beispiel folgten andere Landeskirchen. Während des —> Kirchenkampfes bedrohte und verfolgte das deutschchristliche Kirchenregime bekennende Pfarrer auch mit kirchlichen Disziplinarverfahren. Dadurch verdunkelte sich der rechtstechnische Fortschritt, den 1936 die Schaffung einer einheitlichen, dem Muster staatlichen Beamtenrechts entsprechenden Disziplinarordnung für alle deutschen Landeskirchen bedeutete. Die Bekennende Kirche Altpreußens erkannte die Legitimität der ihr nicht angehörigen Disziplinargerichte nicht an und schuf eine eigene Ordnung brüderlicher Zucht; Verfahren vor den Bruderräten sollten zu Unrecht der Amtspflichtverletzung Bezichtigten Rehabilitierung ermöglichen. 2.
Gegenwartslage
2.1. —»Evangelische Kirche in Deutschland. Die Disziplinargesetzgebung der „Deutschen Evangelischen Kirche" wurde 1946 mit einigen Änderungen zunächst aufrecht erhalten. Die „Evangelisch-lutherische Landeskirche —»Sachsens" wies, Ordnungen der Bekennenden Kirche folgend, die brüderliche Zucht für kirchliche Amtsträger dem Landeskirchenamt zu. Daneben führten die Landeskirchen gemäß besonderen Ordnungen Verfahren zur Wiederherstellung eines bekenntnisgebundenen Pfarrerstandes durch. Am 11. März 1955 wurde ein neues Disziplinargesetz der EKD verabschiedet. Dieses stellt sich die Aufgabe, durch eine Ordnung der kirchlichen Amtsdisziplin „die Gemeinden vor Ärgernis und Unfrieden zu bewahren, eine rechte Amtsführung zu fördern und das Amt vor schlechter Ausübung, Mißbrauch und Entwürdigung zu schützen" (Vorbemerkung). Ihm unterstehen sowohl die Geistlichen (§ 1) wie auch die Kirchenbeamten (§ 123) wegen schuldhafter Pflichtverletzungen innerhalb oder auch außerhalb des Dienstes (§ 2). (Letzteres z. B. Verletzungen der ehelichen Treue oder private Trunkenheitsfahrt.) Mögliche Disziplinarstrafen sind u. a. Warnung, Verweis, Geldbuße, Gehaltskürzung, Verlust der innegehabten Stelle durch Amtsenthebung und Entfernung aus dem Dienst der Kirche, bei Ruheständlern Kürzung oder Aberkennung des Ruhegehalts (§ 5). Strafen bis zur Geldbuße können durch schriftliche Disziplinarverfügung von der Dienstbehörde verhängt werden (§ 17), schwerere nur durch Disziplinargerichte (§ 56 ff) nach vorherigem förmlichen Untersuchungsverfahren (S 49 ff) sowie nichtöffentlicher mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme (§ 70 ff). Die Kammern sind mit einem rechtskundigen Vorsitzenden sowie mit geistlichen und nichtgeistlichen Beisitzern besetzt (§ 58). Der Beschuldigte kann sich eines Verteidigers bedienen; dieser muß das Wahlrecht in einer evangelischen Kirche besitzen (§ 44). Für die Dienstbehörde tritt ein Vertreter auf. Berufung und ggf. Beschwerde sind fristgebunden (§ 87ff). Abweichungen vom Bekenntnis der Kirche fallen nicht unter das Disziplinarverfahren (§ 2 Abs. 2), sondern das besonders geregelte Lehrverfahren. Die hierzu in der ersten Jahrhunderthälfte entstandenen Regelungen wurden nach 1945 in den meisten Kirchen durch stärker auf das Bekenntnis der Kirchen bezogene Ordnungen ersetzt (—»Lehrverpflichtung). Die —»„Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands" hat seit 7. Juli 1965 ein eigenes Amtszuchtgesetz. Dieses sieht bei sonst dem Disziplinarverfahren entsprechendem Aufbau als Folge von Amtspflichtverletzungen nur mehr „Maßnahmen" ohne Strafcharakter vor, die in ihren Auswirkungen für den Betroffenen allerdings Disziplinarstrafen gleichen (§ 78 ff). Auf Antrag der Kirchenbehörde kann statt förmlichen Verfahrens ein Spruchausschuß dem Pfarrer nach Aussprache einen Rat für seine weitere Amtsführung erteilen; nimmt er diesen an, so unterbleibt ein Verfahren vor der Amtszuchtkammer (§§ 17 ff).
Die nach 1945 im Staatsbereich ausgebaute Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit beeinflußte auch die EKD. Ihre Grundordnung sah 1949 einen Schiedsgerichtshof vor, der Streitigkeiten über die Auslegung der Grundordnung und auf Vorlage auch verwaltungsrechtliche Streitigkeiten aus den Gliedkirchen entscheiden soll. Die Landeskirchen besitzen meist kirchliche Verwaltungsgerichte unter verschiedenartigen Bezeichnungen. Diese
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prüfen auf Antrag Wahlanfechtungen, Streitigkeiten zwischen Gemeinden oder Amtsträgern und ihren Anstellungskörperschaften auf die richtige Anwendung kirchlichen Rechtes und kirchenbehördlichen Ermessens. Sie können den obersten kirchlichen Organen auch Rechtsgutachten erteilen. Unzuständig sind sie für Streit über —»Kasualien und —»Ordination; hier können allenfalls die aufsichtsführenden geistlichen Amtsträger oder die bei ihnen gebildeten Leitungsgremien angerufen werden. Kirchliche Verfassungs- oder Verwaltungsrichter, meist von der Synode auf Zeit gewählte Juristen, Theologen und Älteste, sind nicht nur an die kirchlichen Gesetze, sondern ebenso an die Heilige Schrift und oft auch das Bekenntnis gebunden. Das Verfahren entspricht weitgehend staatlichem Recht. In der „Evangelischen Kirche im —»Rheinland" hat die Verwaltungskammer insofern die Stellung eines Ausschusses der Synode praktisch beibehalten, als diese ein vor ihr schwebendes Verfahren an sich ziehen und selbst entscheiden kann.
Verschiedentlich sind in den letzten Jahrzehnten auch kitchlicheSchlichtungsstellen und Schiedsgerichte eingeführt worden, die ohne den Namen eines kirchlichen Gerichtes der Sache nach dessen Aufgaben ausüben. Bereits erwähnt wurde der Schiedsgerichtshof der EKD, dem typische Aufgaben der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit zukommen. Das Pfarrergesetz der VELKD schuf Schlichtungsstellen zur Nachprüfung letztinstanzlicher Entscheidungen kirchlicher Verwaltungsbehörden in dienstrechtlichen Fragen. Sie sind mit einem von der Synode bestimmten rechtskundigen Obmann sowie je einem von Kirchenleitung und Pfarrerschaft bestellten Beisitzer besetzt. Ihr Verfahren ist weitgehend frei; ihre Entscheidungen sind rechtsverbindlich, außer sie lassen die Berufung an das Verfassungsund Verwaltungsgericht zu. Demnach sind sie sachlich besondere kirchliche Verwaltungsgerichte in Personalsachen. Auch neuere landeskirchliche Ordnungen für die Mitarbeitervertretungen in kirchlichen Dienststellen sehen Schlichtungsausschüsse vor, die bei Wahlstreitigkeiten und bei Meinungsverschiedenheiten über das Mitentscheidungsrecht tätig werden. Sie sind mit einem rechtskundigen Vorsitzenden sowie paritätisch bestellten Beisitzern besetzt und entscheiden rechtsverbindlich, wenn ein zunächst unternommener Einigungsversuch fehlschlägt. Damit nehmen sie übliche Aufgaben allgemeiner Arbeits- oder Verwaltungsgerichte wahr (Bietmann). 2.2. Andere evangelische Kirchen. Die „Evangelische Kirche A.u.H.B." in —»Österreich hat die Bestrafung von Pflichtverletzungen ihrer Amtsträger, die früher den Seniorats- und Superintendentialausschüssen sowie dem Oberkirchenrat zustand, 1951 besonderen Disziplinarsenaten und einem Obersenat zugewiesen. Die geltende Disziplinarordnung zählt die als strafwürdig angesehenen Verfehlungen beispielhaft auf. Auch Lehrabweichung wird als Disziplinarstraftatbestand behandelt, wenn nicht der Beschuldigte gemäß Aufforderung eines Begutachtungsausschusses auf sein Amt verzichtet. Seit 1957 besteht ein Revisionssenat als Verfassungs- und Verwaltungsgericht. Die Ordnung des —»„Bundes Evangelischer Kirchen in der D D R " von 1969 kennt keine gesamtkirchliche Gerichtsbarkeit, sondern sieht bei Konflikten zwischen Konferenz (dem Leitungsorgan) und der Synode eine von dieser mit Zweidrittelmehrheit zu treffende Einspruchsentscheidung vor. Die „Niederländisch-reformierte Kirche" (—»Niederlande) kennt keine selbständigen Organe kirchlicher Gerichtsbarkeit. Amtsdisziplin, Kirchenzucht, Beschwerden und andere Streitigkeiten werden durch die Synoden und deren Ausschüsse behandelt, für Lehrverfahren gelten besondere Bestimmungen. In den reformierten Landeskirchen der —»Schweiz ist das Disziplinarwesen unterschiedlich geordnet. Es wird teilweise durch den Kirchenrat als die leitende kirchliche Behörde (Genf, Zürich) ggf. mit Beschwerderecht an eine Rekurskommission (Basel-Land), teils durch die Staatsbehörde auf Anzeige des Synodalrates hin (Bern) ausgeübt. Das Kirchliche Gesetzbuch der reformierten Kirche in —»Ungarn von 1967 leitet das richterliche Amt der Kirche aus dem königlichen Amt Christi her. Die Disziplinargerichtsbarkeit, sowie Entscheidung strittiger Verwaltungsangelegenheiten und Wahlbeschwerden werden durch Senate aus geistlichen Amtsträgern und Ältesten ausgeübt.
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Die deutschen Methodisten (—»Methodistische Kirchen) kennen in ihrer Kirchenordnung ein Kirchenzuchtverfahren, das bei Verfehlungen von Gemeindegliedern wie auch Amtsträgern vor einem Gerichtsausschuß geführt wird. Auch Geschäftsstreitigkeiten zwischen Kirchengliedern werden von fallweise gebildeten Schiedsgerichten behandelt. Ähnliches gilt in der altlutherischen evangelisch-lutherischen Kirche Altpreußens. Die Evangelische —»Brüderunität weist die Gemeindezucht dem Ältestenkreis und der ganzen mündigen Gemeinde zu.
2.3. Die nachreformatorische römisch-katholische Kirche hat ihr Recht zur Ausübung kirchlicher Gerichtsbarkeit weiter betont. Der Codex Iuris Canonici faßte 1 9 1 7 als —»Kirchenrechtsquelle das kirchliche Prozeßrecht systematisch zusammen (Buch IV) und fügte ihm ein kodifiziertes kirchliches Strafrecht an (Buch V). Das Zweite —»Vatikanum hat die richterliche Gewalt des —»Bischofs in seinem —»Bistum ausdrücklich bestätigt. Der neue Codex Iuris Canonici von Johannes Paul II. ordnete 1 9 8 3 im VI. Buch das kirchliche Strafrecht, nunmehr als Recht kirchlicher Sanktionen, und im VII. Buch das kirchliche Prozeß- und Verwaltungsrekursrecht unter erheblichen Vereinfachungen neu. Die kirchliche Gerichtsbarkeit steht im ersten Rechtszug dem Gerichtsvikar (Offizial) und den Synodalrichtern zu, die ihr Richteramt meist neben anderen Aufgaben versehen müssen. Gegen ihre Urteile geht die Berufung an das Metropolitangericht. Die dritte Instanz bildet ein päpstliches Gericht, d. h. die Römische Rota und die Apostolische Signatur oder ein besonders beauftragtes Metropolitangericht. Häufigstes gerichtliches Verfahren ist der kirchliche Ehenichtigkeitsprozeß. Dem förmlichen Strafverfahren kommt geringere Bedeutung zu, da bei Amtspflichtverletzungen von Geistlichen in einem summarischen Verwaltungsverfahren mit Maßnahmen bis hin zur Amtsenthebung eingeschritten werden kann. Besondere Verfahren bestehen für umstrittene Weihen (Weiheprozeß) und als Verwaltungsrekurs für Absetzung oder Versetzung von Pfarrern. Zu der angestrebten allgemeinen kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es nicht gekommen. Die Bischofskonferenzen können lediglich die Einrichtung von besonderen diözesanen Behörden anordnen, die sich im Rekursfalle um Ausgleich gemäß Billigkeit bemühen sollen (can. 1 7 3 3 § 2). Überhaupt schärft das neue Recht dem Richter das Bemühen um Vergleich und Versöhnung ein (can. 1 4 4 6 ; 1 6 7 6 ) . In bestimmten Fällen können auch Laien an der kirchlichen Rechtspflege mitwirken (can. 1 4 2 1 ; 1424). 2.4. Die —»Kirche von England hat auch als Staatskirche besondere kirchliche Gerichte. Die 1 9 6 4 und 1 9 6 9 promulgierten Canons ofthe Church of England sehen bischöfliche und erzbischöfliche Gerichte sowie einen besonderen Gerichtshof für Verhandlungen wegen Verletzungen der —»Lehrverpflichtung und der liturgischen Ordnung vor. Die Richter des bischöflichen Gerichts, Kanzler der Diözese genannt, müssen bewährte Juristen sein; in den erzbischöflichen Gerichten wirken Juristen, geistliche Amtsträger und von dem Unterhaus der zuständigen Convocation gewählte Laienvertreter zusammen. Die Gerichte sind unter anderem zuständig für Strafverhandlungen gegen Geistliche wegen Verletzungen ihrer Amtspflichten und für Streitfälle des Patronatsrechtes. Sie erteilen aber auch die Genehmigung (faculty) für beabsichtigte Veränderungen an Kirchengebäuden und kirchlichen Grundstücken. Ähnliches gilt für die Kirche von —»Wales nach deren Constitutions von 1 9 6 4 . Ein oberster Gerichtshof wird von den Erzbischöfen von —»Canterbury, York, Armagh und Dublin sowie dem Primas der Schottischen Episkopalkirche (—»Schottland) und von diesen bestimmten Beisitzern gebildet. 2 . 5 . —»Altkatholizismus und —»Orthodoxe Kirchen. Das Bistum der Altkatholiken Deutschlands kennt Synodal- und Synodalobergerichte, die strafweise Versetzung oder Absetzung von Pfarrern aussprechen. Ein bischöfliches Ehegericht entscheidet über die kirchliche Erlaubnis zur Trennung eines Geistlichen von seiner Ehefrau und über die Möglichkeit seiner Weiter- oder Wiederverwendung nach Scheidung. In der Altkatholischen Kirche Österreichs übt der Synodalrat die Disziplinargewalt über die Geistlichen aus. Die kirchliche Gerichtsbarkeit der orthodoxen Kirche ist für Disziplinarurteile über Geistliche wie über Laien sowie für Ehesachen zuständig. Sie wird jeweils für die Eparchie, das Bistum, die Metropolie und das Patriarchat durch den Oberhirten und kirchliche Richter ausgeübt. Dem Bischof gebührt die Bestätigung der Urteile und das Recht der Begnadi-
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gung, teilweise ist die Appellation an die Heilige Synode möglich. Der Grundsatz kirchlicher —»Autokephalie der einzelnen Partikularkirchen erfordert entweder eine, auch von den anderen Kirchen anerkannte autokephale Jurisdiktion oder aber die jurisdiktionelle Einordnung in einen anerkannten Verband autokephaler Kirchen. Die Frage einer Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel über die orthodoxe Diaspora ist umstritten (Link).
3. Beurteilung Kirchliche Gerichtsbarkeit wird heute doppelt hinterfragt. Ihre Aufgaben gleichen denen, die öffentliche Gerichte mit dem grundsätzlichen Anspruch auf Rechtsprechungsmonopol erfüllen. Andererseits sprechen sie im Namen eines Glaubens, der zu einem Miteinanderleben in rechtsverzichtender Liebe aufruft. Heutiges Staatskirchenrecht zählt zum verfassungsmäßigen Selbstbestimmungsrecht der Kirchen auch die Befugnis zu Streitentscheidung im Eigenbereich. W o die Kirchen eigene Gerichtsbarkeit schaffen, können sie in Namen und Verfahren kirchliches Selbstverständnis ausdrücken; jedenfalls tritt die Zuständigkeit der öffentlichen Gerichte zurück. Treffen die Kirchen für diese Aufgabe keine Vorsorge, so bleiben die allgemeinen Gerichte zuständig; jedoch ist ihnen als Organen des weltanschaulich neutralen Staates eine eigenständige Sachentscheidung in Glaubensfragen verschlossen. Problem bleibt dabei, ob die Streitentscheidung kirchlicher Gerichte von Staatsgerichten nachgeprüft werden kann. Das wurde öfters im Blick auf den Rechtsschutz kirchlicher Mitarbeiter im staatlichen Rechtsschutzbereich strittig; die dabei gezeigte Selbstbeschränkung hoher Gerichte wurde nicht immer von der Lehre voll gebilligt. Fraglich ist auch, ob staatliche Verfassungsgerichte Entscheidungen kirchlicher Gerichte jedenfalls auf die Wahrung oberster Grundrechte der Betroffenen hin überprüfen können. Die Antwort verlangt Klärung der Grundrechtsbindung oder -freiheit der Kirche im Staate sowie der Frage, ob es zur Anerkennung eines kirchlichen Organs als Gerichtsbarkeit bestimmter Mindestanforderungen von Rechtsförmlichkeit bedarf. Zahlreiche, von staatsgerichtlichen Vorbildern abweichende innerkirchliche Sonderregelungen zeigen, daß hier im Grund die im Kirchenkampf 1 9 3 4 gestellte Frage der Fünften Barmer These weiterwirkt: Soll und kann die Kirche ihren Auftrag nach staatlicher Art erfüllen? Das gilt vor allem für das in seiner heutigen Gestalt vom Staat übernommene Disziplinarrecht. Die fast überall durchgesetzte Verselbständigung des Lehrverfahrens hat die Problematik eines sich an Schuld und —>Strafe orientierenden Disziplinarrechtes deutlicher gemacht. Teilweise wird zur Rechtfertigung kirchlicher Dienststrafen die lutherische —»Zweireichelehre unter dem Gesichtspunkt eines innerhalb der Institution Kirche zu verwaltenden „Regimentes zur Linken" herangezogen. Beachtung fordert aber auch das Bemühen um einen kirchlich verstandenen Amtszuchtgedanken in dem Recht der V E L K D , wenn auch die Frage nach der folgerichtigen Verwirklichung dieses Ansatzes teilweise offen bleibt. Neuerdings wird in wissenschaftlichen Erörterungen und manchmal auch in das Gesetz uminterpretierenden Disziplinarurteilen statt Strafe für Geschehenes die Wiederherstellung gestörter Ordnung sowie die Wahrung gefährdeten Ansehens des Amtes und der dadurch als bedroht empfundenen Glaubwürdigkeit des Amtsträgers zum M a ß s t a b gemacht. Daneben wird geltend gemacht, die von der Kirche gepredigte Vergebung der Sünde um Christi willen sei durch eine grundsätzliche Umwandlung des Disziplinarrechts in ein kirchliches Ordnungsrecht deutlich zu machen, das sich an dem Gesichtspunkt der Vorbeugung gegenüber einer Belastung der Gemeinde durch ein Weiterwirken ungeeignet gewordener Amtsträger ausrichtet (Wolf; Wiesner; Stein). Die längst fällige Aufgabe einer grundsätzlichen Überarbeitung dieses Rechtsbereichs wird nicht leichter dadurch, daß die Anwendungsfälle der noch bestehenden Ordnungen oft auf dem ohnehin emotionsgeladenen Felde pastoraler Ehekonflikte und politischer Betätigung liegen. Die rechtsförmlichen Sicherungen der gegenwärtigen Verfahrensordnungen sollten jedenfalls auch in einem rechtstheologisch fundierten Dienstordnungsrecht beibehalten werden. Für die kirchliche Entscheidung von Streitfällen des verwaltungs-, arbeits- und Verfassungsgericht-
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liehen Bereichs bietet sich die Rechtfertigung aus dem Gesichtspunkt der Diakonie heraus an (Hesse). Es bedeutet zurechthelfenden Dienst, wenn ein am Streit unbeteiligter Mitchrist vermittelt. Problematisch bleibt die Durchsetzung getroffener Entscheidungen; hier stellt sich die Frage der —» Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Kirche.
Die praktische Bedeutung der kirchlichen Gerichtsbarkeit schlägt sich heute nicht in hohen Entscheidungsziffern nieder, ja auch ihr Bekanntheitsgrad im Kirchenvolk und selbst unter Theologen erscheint gering. Allenfalls publizistisch aufbereitete Dienstrechtskonflikte bringen die kirchliche Gerichtsbarkeit in die Öffentlichkeit. Ansehen und wegweisende Wirkung erreicht eine Gerichtsbarkeit jedoch meist erst durch das Zusammenwirken von qualifizierten und kontinuierlich arbeitenden Richtern mit einer am Thema mitinteressierten Rechtswissenschaft. Beide Voraussetzungen sind für die kirchliche Gerichtsbarkeit im evangelischen Deutschland bedroht. Kirchliche Richter sind hier regelmäßig aus dem Pfarrer- und Juristenstand auf Grund ihrer Bewährung in synodalen Ämtern zu einem befristeten Ehrenamt gewählt; das sichert ihnen die erforderliche allgemein-kirchliche Erfahrung, macht allerdings eine Trennung der Rechtssprechung von der Verwaltung der Kirche nicht im Sinne strenger Inkompatibilität möglich. Zu ihrer Vorbildung geschieht außer gelegentlichen Fachtagungen wenig. Fachkenntnisse im —>Kirchenrecht können heute bei deutschen Juristen aber vom Studium her nicht mehr vorausgesetzt werden; bei Theologen ist darüber hinaus mit einer meist unreflektierten Abneigung gegenüber der institutionellen Seite der Kirche zu rechnen. Der Fachwissenschaft ist erst seit 1982 durch die Rechtssprechungsbeilage zum Amtsblatt der EKD ein Überblick über die Tätigkeit der zahlreichen kirchlichen Gerichte in diesem Bereich hoffentlich gesichert. Der Plan zur Errichtung eines Rechtshofes der EKD als gesamtkirchlichen Berufungsgerichts, von dem weiterführende Impulse ausgehen könnten, ist bislang unverwirklicht. So bleibt der deutsche Protestantismus hinter dem, im katholischen Raum von Lehre und Praxis trotz Schwierigkeiten gehaltenen Standard zurück. Theologische Besinnung ebenso wie kirchengeschichtliche Erfahrung sollten Mut dazu machen, auch ohne zu enge Anlehnung an staatlichen Justizbetrieb den Dienst geschwisterlicher Schlichtung unter Christen auch in den Formen des Rechts als kirchliche Aufgabe zu pflegen. Quellen und Literatur Zu 1: Hans Erich Feine, Kirchl. Rechtsgesch. Die kath. Kirche, Weimar 1950, Köln/Graz " 1 9 6 4 = 5 1 9 7 2 . - Paul Hinschius, Art. Gerichtsbarkeit, kirchl.: RE 3 6 (1899) 5 8 5 - 6 0 2 (Lit.). - Willibald M . Plöchl, Gesch. des Kirchenrechts, 5 Bde., Wien/München 1 9 5 3 - 1 9 6 9 . Zu 1.1.-3: Hermann Wolfgang Beyer, Art. xvßeQvrfoig: T h W N T 3 (1938) 1 0 3 4 - 1 0 3 6 . - Erich Dinkler, Zum Problem der Ethik bei Paulus — Rechtsnahme u. Rechtsverzicht: ders., Signum crucis, Tübingen 1967, 2 0 4 - 2 4 0 . - Alexander Dordett, Der geistliche Charakter der kirchl. Gerichtsbarkeit, Wien 1954. - Ernst Käsemann, Sätze hl. Rechts im NT: ders., Exegetische Versuche u. Besinnungen, Göttingen, II 2 1 9 6 5 , 6 9 - 8 2 . - Eduard Schweizer, Gemeinde u. Gemeindeordnung im NT, 2 1 9 6 9 (AThANT 35). - Rudolph Sohm, Das altkath. Kirchenrecht u. das Dekret Gratians, Leipzig 1918. - Albert Stein, Wo trugen die korinthischen Christen ihre Rechtshändel aus?: Z N W 5 9 (1968) 8 6 - 9 0 . Zu 1.4.: Josef Bohatec, Calvins Lehre v. Staat u. Kirche mit bes. Berücksichtigung des Organismusgedankens, Breslau 1 9 3 7 (Unters, zur dt. Staats- u. Rechtsgesch. Alte Folge 147) = Aalen 2 1 9 6 8 , 5 3 9 - 5 6 3 - Johannes Calvin, Institutio religionis christianae IV, 11, 1 . 3 - 5 ; dt., hg. v. Otto Weber, Neukirchen 1955, 828 ff. - Alfred Farner, Die Lehre v. Kirche u. Staat bei Zwingli, Tübingen 1930 = Darmstadt 1973 (Libelli 318). - Ruth Götze, Wie Luther Kirchenzucht übte, 1959 (ThA 9) - Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Unters, über das Recht in der Theol. Martin Luthers, 1 9 5 3 , Köln/Wien 2 1 9 7 3 . - Walther Köhler, Zürcher Ehegerichte u. Genfer Konsistorium, 2 Bde., Leipzig 1 9 3 2 - 1 9 4 2 . - Martin Luther, Vorrede zum Unterricht der Visitatoren (1528): WA 2 6 , 1 9 5 - 2 0 1 . Ders., Instruction und befelch dorauf die visitatores abgefertigt sein (1527): EKO 1 / 1 , 1 9 0 2 , 1 4 2 - 1 4 8 . - Philipp Melanchthon, Examen ordinandorum (1552): ders., Werke in Auswahl, hg. v. Robert Stupperich, Gütersloh, VI 1955, 1 6 8 - 2 5 9 . - Daniel Olivier, Der Fall Luther, Stuttgart 1972. Zu 1.5.: Johann Victor Bredt, Neues ev. Kirchenrecht f. Preußen, Berlin, 1 1 9 2 1 . - Benedict Carpzov, Opus definitionum ecclesiasticarum seu consistorialium, Leipzig, III 1649, 1673, 6 5 3 - 8 8 4 . - Johannes Heckel, Das Decretum Gratiani u. das dt. ev. Kirchenrecht: ders., Das blinde, undeutliche Wort ,Kirche', Köln/Graz 1964, 1 - 4 8 . - Martin Heckel, Art. Reformation III: EStL 2 , 1975, 2 1 3 0 - 2 1 5 9 . Peter Wilhelmi, Der Präses der Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1963.
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Lehrverfahrens, dargestellt insbes. an dem Lehrverfahren Dr. Paul Schulz: W P K G 6 8 ( 1 9 7 9 ) 5 0 5 - 5 2 2 . - Ders., Kirchenrechtliche Probleme ev. Lehrbeanstandung: M d K I . B . 1 ( 1 9 8 1 ) 1 6 - 1 9 . - G u s t a v Adolf Vischer, Kirchl. f. staatliche Gerichte?: E L K Z 1 0 ( 1 9 5 6 ) 2 1 - 2 5 . - Hans Wiesner, Grundfragen aus dem kirchl. Disziplinarrecht, Düsseldorf 1 9 6 0 . Zu 2.2.: Disziplinarordnung der Ev. Kirche A . u . H . B . in Österreich v. 2 9 . S e p t . 1 9 5 1 i.d.F. v. 2 5 . M ä r z 1 9 7 6 : ABI 1 9 6 5 , 8 9 ; 1 9 7 6 , 3 7 ; Richtlinien für die Begutachtungskommission v. 2 0 . F e b r . 1 9 4 9 : ABI, 1 1 ; Verfassung der Ev. Kirche A.u.H.B. in Österreich i.d.F. v. 2 1 . Dez. 1 9 7 6 : ABI 1 9 7 7 , 1, §§ 2 2 6 - 2 4 4 . - O r d n u n g des Bundes der Ev. Kirchen in der D D R v. 10. Juni 1 9 6 9 : A B l E K D 4 1 0 , Art. 1 2 A b s . 4 . - O t t o Weber, Die Kirchenordnung der Niederländischen Ref. Kirche v. 1 9 5 0 : Z E v K R 2 ( 1 9 5 2 / 5 3 ) 2 2 5 - 2 6 9 . - Verfassung der Ev.-ref. Kirche des Kantons Basel-Landschaft vom 1 4 . D e z . 1 9 5 2 , Basel 1 9 5 2 , Art. 15 Abs. 7 . Art. 2 0 ; Kirchenordnung der Ev.-Ref. Landeskirche des Kantons Bern vom 2 8 . J a n . 1 9 5 3 , Bern 1 9 5 9 , Art. 1 5 0 ; Eglise Nationale Protestante de Genève, G e n f 1 9 8 0 , Art. 4 6 ; Kirchenordnung der ev.-ref. Landeskirche des Kantons Zürich v. 2 . Juli 1 9 6 7 , Zürich 1 9 6 7 , Art. 2 0 1 - 2 0 4 . - Verfassung u. Kirchenordnung (Gesetzbuch) der Ref. Kirche v. Ungarn, Art. VI v. der Kirchenzucht u. der Rechtspflege der Kirche, Budapest 1 9 6 7 ( M s . ) . - Das Kirchenzuchtverfahren, N a c h trag zur K O der Ev.-luth. Kirche Altpreußens, Wuppertal o. J . , §§ 1 7 7 - 2 1 8 . - Die Grundsätze der Ev. Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine). I . T . der K O , Bad Boll 1 9 6 1 , §§ 5 2 - 6 0 . Zu 2.3.: H a n s Barion, Art. Gerichtsbarkeit, kirchl. I: R G G 3 2 ( 1 9 5 8 ) 1 4 2 3 - 1 4 2 6 (Lit.). - Eduard Eichmann/Klaus Mörsdorf, Lb. des Kirchenrechts auf Grund des C o d . Iuris Canonici, Paderborn, III 1 0 1 9 6 4 - Heribert Heinemann, Neue Verfahrensordnung zur Prüfung v. Lehrfragen-Lehrbeanstandungsverfahren bei der Dt. Bischofskonferenz, Trier 1 9 7 4 (Nachkonziliare Dokumentation 3 7 ) . - Ansprache Papst J o h a n n e s Pauls II. vom 1 7 . Febr. 1 9 7 9 an den Dekan u. die Mitglieder der Sacra R o m a n a R o t a zur Eröffnung des neuen Gerichtsjahres (dt. Ubers.): A K a t h K R 1 4 8 ( 1 9 7 9 ) 1 4 2 - 1 4 7 . - Ansprache dess. vom 4 . F e b r . 1 9 8 0 : A K a t h K R 1 4 9 ( 1 9 8 0 ) 1 2 4 - 1 3 0 . - H a r t m u t Maurer, Art. Gerichtsbarkeit, kirchl. I: EStL 2 1 9 7 5 , 8 2 2 - 8 2 3 . 8 2 7 ( L i t . ) . - K l a u s M ö r s d o r f , Rechtsprechung u. Verwaltung im kanonischen Recht, Freiburg 1 9 4 1 . - J o h a n n e s N e u m a n n , Grundriß des kath. Kirchenrechts, Darmstadt
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1981, 1 2 3 - 1 2 9 . 1 5 1 - 1 5 2 . - Pius XII, Der Unterschied zw. der kirchl. u. der staatlichen Gerichtsbarkeit: Aufbau u. Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., hg. v. Arthur Utz/Joseph F. Groner, Freiburg/Schw. III 1954, 1 3 4 3 - 1 3 6 9 . Zu2.4.: The Canons of the Church of England, London 1969, F 14, G 1 - 6 . - T h e Constitution of the Church in Wales, 1964, 9 4 - 1 1 4 . - Hermann Lutz, Das Canon Law der Kirche v. England, Berlin 1975 (Abh. zur rechtswiss. Grundlagenforschung 20). - E. Garth Moore, An Intr. to English Canon Law, Oxford 1967, 1 2 5 - 1 4 8 . - Arthur Phillips/Jill Aussant/Rupert Bursell/Robert Wakefield, Ecclesiastical Law: Halsbury's Laws of England, hg. v. Lord Hailsham of St. Marylebone XIV, London "1975, 1 2 9 - 8 6 1 . - Stefan Schloßhauer-Selbach, Staat u. Kirche in England, 1976 (EHS. 11/153). Zu 2.5.: Kath. Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland, Kirchl. Ordnungen u. Satzungen, Bonn 1967 ff, Kirchl. Personenrecht § 2 0 u. Gesetz über das bischöfl. Ehegericht. - Christoph Link, Die Russ. Orth. Exilkirchen in Deutschland u. ihr Kirchengut: ZEvKR 23 (1978) 8 9 - 1 3 4 (bes. 108 f. 1 1 3 - 1 1 5 ) . — Nikodemus Milas, Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirche nach den allg. Kirchenrechtsquellen u. nach den in den autokephalen Kirchen geltenden Gesetzen, übers, v. Alexander R. v. Pessic, Mostar 2 1 9 0 5 , 2 3 1 - 2 3 4 . 4 7 1 - 6 4 2 . - Karl Schwarzlose, Grundzüge des dt. ev. Kirchenrechts u. des orth.-morgenländischen Kirchenrechts, Bonn 1924, 2 8 3 - 2 8 9 . Zu 3.: Kristlieb Adloff, Die schlechtere Gerechtigkeit: ThPr 6 (1971) 2 3 2 - 2 4 5 . - Heinz Brunotte, Grundfragen der Kirchenverfassung nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes: ders., Bekenntnis u. Kirchenverfassung, Göttingen 1977, 1 7 6 - 1 8 4 (Arbeiten zur kirchl. Zeitgesch. B 3). - Axel Freiherr v. Campenhausen, Staatliche Rechtsschutzpflicht u. kirchl. Autonomie: ZEvKR 17 (1972) 1 2 7 - 1 4 9 . Ders., Staatskirchenrecht, München 1 9 7 3 , 1 7 0 - 1 8 5 . - Hanns Engelhardt, Kirche u. Amtszucht: AÖR 86 (1961) 3 3 2 - 3 4 8 . - Hans Ulrich Evers, Das Verhältnis der kirchl. zur staatlichen Gerichtsbarkeit: FS Erich Ruppel, Hannover 1968, 3 2 9 - 3 5 3 . - Johann Frank, Das Amtszuchtgesetz der Vereinigten Kirche (VELKD): LM 5 (1966) 2 4 - 3 0 . - Ders., Kirchl. Körperschaftsstatus u. neuere staatliche Rechtsentwicklung: ZEvKR 26 (1981) 5 1 - 7 6 (bes. 6 3 - 7 6 ) . - Götz Harbsmeier, Gerechtigkeit u. Erbarmen in der Kirche: RKZ 120 (1979) 2 0 5 - 2 1 0 . - Konrad Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchl. Bereich, 1956 (GRWS 19). - Hans-Gernot Jung, Gesichtspunkte zur Problematik der kirchl. Disziplinargerichtsbarkeit in theol. Sicht u. kirchenleitender Verantwortung: ZEvKR 26 (1981) 140—155. - Achim Krämer, Verfassungsrechtliche u. staatskirchenrechtliche Probleme kirchl. Gerichtsbarkeit: Dt. Verwaltungsblatt 96 (1981) 1 - 4 . - Martin Pabst, Zum Rechtsschutz im kirchl. Amtsrecht: ZEvKR 17 (1972) 1 1 6 - 1 2 7 . - Wolfgang Rüfner, Rechtsschutz gegen kirchl. Rechtshandlungen u. Nachprüfung kirchl. Entscheidungen durch staatliche Gerichte: HdbStKirchR Berlin, 11974, 7 5 9 - 7 9 0 . - Erich Ruppel, Fragen des kirchl. Disziplinarwesens im Lichte der Zweireichelehre: Staatsverfassung u. Kirchenordnung. FS Rudolf Smend, Tübingen 1962, 3 4 9 - 3 7 5 . - Ulrich Scheuner, Art. recursusab abusu: RGG 3 5 (1961) 8 5 5 - 8 5 6 . - A l b e r t Stein, Schuld u. Vergebung im kirchl. Amtsrecht: EvTh 36 (1976) 8 5 - 9 4 . - D e r s . , Ev. Kirchenrecht, Neuwied 1 9 8 0 , 1 5 6 f . - D e r s . , Anm. zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts v. 4 . 3 . 1 9 8 0 : Arbeitsrechtliche Praxis 1980, 9 5 8 - 9 6 4 . - Ders., Braucht die Kirche noch ein Disziplinarrecht?: Amt u. Gemeinde 32 (Wien 1981) 1 0 7 - 1 1 2 . - Dietrich Stollberg, Von der Glaubwürdigkeit des Predigers: WPKG 68 (1979) 9 - 2 1 . - Wolfgang Volker, Die neuen Disziplinargesetze der dt. ev. Kirche unter bes. Berücksichtigung des luth. Verständnisses, Düsseldorf o. J. (Diss. Jur. Köln 1965). - Ernst Wolf, Usus legis zw. Strafrecht und Kirchenzucht: Begegnung u. Vermittlung. Gedenkschr. f. Ingeborg Röbbelen, Dortmund 1972, 2 7 3 - 2 8 3 . Albert Stein Germanen —»Alamannen, —»Bayern, —»Dänemark, —»England, —»Franken, —»Friesen, —»Germanenmission (arianische),—»Germanische Religion, —»Hessen, —»Island,—»Normannen, —»Norwegen, —»Sachsen, —»Schweden, —»Thüringen
Germanenmission, arianische Die sogenannte „arianische" Germanenmission stellt ein eigenes Kapitel innerhalb der spätantiken Ausbreitungsgeschichte des Christentums dar. Ihre Ausgangsbasis ist das gotische Christentum des 4 . Jh., näherhin die in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts reichsansässig werdende, um den Bischof —»Wulfila sich scharende gotische Kirchengemeinschaft. Ursprünglich gehörten diese Christen dem gotischen Volksverband der Terwingen zu, der sich seit dem letzten Drittel des 3. Jh. in dem alsbald Gotien genannten Gebiet zwischen unterer Donau, Alt und Dnjestr festgesetzt hatte. Fuß gefaßt hatte das Christentum unter den Terwingen durch Vermittlung römischer, insbesondere kappadokischer Christen, die bei den gotischen Raubzügen nach der Mitte des 3. Jh. verschleppt worden waren. In konstantinischer Zeit war es bereits unter einem Bischof kirchlich
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1981, 1 2 3 - 1 2 9 . 1 5 1 - 1 5 2 . - Pius XII, Der Unterschied zw. der kirchl. u. der staatlichen Gerichtsbarkeit: Aufbau u. Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., hg. v. Arthur Utz/Joseph F. Groner, Freiburg/Schw. III 1954, 1 3 4 3 - 1 3 6 9 . Zu2.4.: The Canons of the Church of England, London 1969, F 14, G 1 - 6 . - T h e Constitution of the Church in Wales, 1964, 9 4 - 1 1 4 . - Hermann Lutz, Das Canon Law der Kirche v. England, Berlin 1975 (Abh. zur rechtswiss. Grundlagenforschung 20). - E. Garth Moore, An Intr. to English Canon Law, Oxford 1967, 1 2 5 - 1 4 8 . - Arthur Phillips/Jill Aussant/Rupert Bursell/Robert Wakefield, Ecclesiastical Law: Halsbury's Laws of England, hg. v. Lord Hailsham of St. Marylebone XIV, London "1975, 1 2 9 - 8 6 1 . - Stefan Schloßhauer-Selbach, Staat u. Kirche in England, 1976 (EHS. 11/153). Zu 2.5.: Kath. Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland, Kirchl. Ordnungen u. Satzungen, Bonn 1967 ff, Kirchl. Personenrecht § 2 0 u. Gesetz über das bischöfl. Ehegericht. - Christoph Link, Die Russ. Orth. Exilkirchen in Deutschland u. ihr Kirchengut: ZEvKR 23 (1978) 8 9 - 1 3 4 (bes. 108 f. 1 1 3 - 1 1 5 ) . — Nikodemus Milas, Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirche nach den allg. Kirchenrechtsquellen u. nach den in den autokephalen Kirchen geltenden Gesetzen, übers, v. Alexander R. v. Pessic, Mostar 2 1 9 0 5 , 2 3 1 - 2 3 4 . 4 7 1 - 6 4 2 . - Karl Schwarzlose, Grundzüge des dt. ev. Kirchenrechts u. des orth.-morgenländischen Kirchenrechts, Bonn 1924, 2 8 3 - 2 8 9 . Zu 3.: Kristlieb Adloff, Die schlechtere Gerechtigkeit: ThPr 6 (1971) 2 3 2 - 2 4 5 . - Heinz Brunotte, Grundfragen der Kirchenverfassung nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes: ders., Bekenntnis u. Kirchenverfassung, Göttingen 1977, 1 7 6 - 1 8 4 (Arbeiten zur kirchl. Zeitgesch. B 3). - Axel Freiherr v. Campenhausen, Staatliche Rechtsschutzpflicht u. kirchl. Autonomie: ZEvKR 17 (1972) 1 2 7 - 1 4 9 . Ders., Staatskirchenrecht, München 1 9 7 3 , 1 7 0 - 1 8 5 . - Hanns Engelhardt, Kirche u. Amtszucht: AÖR 86 (1961) 3 3 2 - 3 4 8 . - Hans Ulrich Evers, Das Verhältnis der kirchl. zur staatlichen Gerichtsbarkeit: FS Erich Ruppel, Hannover 1968, 3 2 9 - 3 5 3 . - Johann Frank, Das Amtszuchtgesetz der Vereinigten Kirche (VELKD): LM 5 (1966) 2 4 - 3 0 . - Ders., Kirchl. Körperschaftsstatus u. neuere staatliche Rechtsentwicklung: ZEvKR 26 (1981) 5 1 - 7 6 (bes. 6 3 - 7 6 ) . - Götz Harbsmeier, Gerechtigkeit u. Erbarmen in der Kirche: RKZ 120 (1979) 2 0 5 - 2 1 0 . - Konrad Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchl. Bereich, 1956 (GRWS 19). - Hans-Gernot Jung, Gesichtspunkte zur Problematik der kirchl. Disziplinargerichtsbarkeit in theol. Sicht u. kirchenleitender Verantwortung: ZEvKR 26 (1981) 140—155. - Achim Krämer, Verfassungsrechtliche u. staatskirchenrechtliche Probleme kirchl. Gerichtsbarkeit: Dt. Verwaltungsblatt 96 (1981) 1 - 4 . - Martin Pabst, Zum Rechtsschutz im kirchl. Amtsrecht: ZEvKR 17 (1972) 1 1 6 - 1 2 7 . - Wolfgang Rüfner, Rechtsschutz gegen kirchl. Rechtshandlungen u. Nachprüfung kirchl. Entscheidungen durch staatliche Gerichte: HdbStKirchR Berlin, 11974, 7 5 9 - 7 9 0 . - Erich Ruppel, Fragen des kirchl. Disziplinarwesens im Lichte der Zweireichelehre: Staatsverfassung u. Kirchenordnung. FS Rudolf Smend, Tübingen 1962, 3 4 9 - 3 7 5 . - Ulrich Scheuner, Art. recursusab abusu: RGG 3 5 (1961) 8 5 5 - 8 5 6 . - A l b e r t Stein, Schuld u. Vergebung im kirchl. Amtsrecht: EvTh 36 (1976) 8 5 - 9 4 . - D e r s . , Ev. Kirchenrecht, Neuwied 1 9 8 0 , 1 5 6 f . - D e r s . , Anm. zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts v. 4 . 3 . 1 9 8 0 : Arbeitsrechtliche Praxis 1980, 9 5 8 - 9 6 4 . - Ders., Braucht die Kirche noch ein Disziplinarrecht?: Amt u. Gemeinde 32 (Wien 1981) 1 0 7 - 1 1 2 . - Dietrich Stollberg, Von der Glaubwürdigkeit des Predigers: WPKG 68 (1979) 9 - 2 1 . - Wolfgang Volker, Die neuen Disziplinargesetze der dt. ev. Kirche unter bes. Berücksichtigung des luth. Verständnisses, Düsseldorf o. J. (Diss. Jur. Köln 1965). - Ernst Wolf, Usus legis zw. Strafrecht und Kirchenzucht: Begegnung u. Vermittlung. Gedenkschr. f. Ingeborg Röbbelen, Dortmund 1972, 2 7 3 - 2 8 3 . Albert Stein Germanen —»Alamannen, —»Bayern, —»Dänemark, —»England, —»Franken, —»Friesen, —»Germanenmission (arianische),—»Germanische Religion, —»Hessen, —»Island,—»Normannen, —»Norwegen, —»Sachsen, —»Schweden, —»Thüringen
Germanenmission, arianische Die sogenannte „arianische" Germanenmission stellt ein eigenes Kapitel innerhalb der spätantiken Ausbreitungsgeschichte des Christentums dar. Ihre Ausgangsbasis ist das gotische Christentum des 4 . Jh., näherhin die in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts reichsansässig werdende, um den Bischof —»Wulfila sich scharende gotische Kirchengemeinschaft. Ursprünglich gehörten diese Christen dem gotischen Volksverband der Terwingen zu, der sich seit dem letzten Drittel des 3. Jh. in dem alsbald Gotien genannten Gebiet zwischen unterer Donau, Alt und Dnjestr festgesetzt hatte. Fuß gefaßt hatte das Christentum unter den Terwingen durch Vermittlung römischer, insbesondere kappadokischer Christen, die bei den gotischen Raubzügen nach der Mitte des 3. Jh. verschleppt worden waren. In konstantinischer Zeit war es bereits unter einem Bischof kirchlich
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organisiert und auf dem Konzil von —»Nicaea 325 vertreten. Während der vierziger Jahre des 4. Jh. kommt es, wohl in sachlichem Zusammenhang mit einem Versuch, die von —»Konstantin begründete römische Oberherrschaft abzuwerfen, zu einer —»Christenverfolgung (s. T R E 8,29,37ff). Vor ihr weicht die erwähnte größere Gruppe gotischer Christen, die später den Namen Kleingoten erhält, auf römisches Gebiet aus und wird im Bereich von Nikopolis (Stari Nikub nördlich Turnovo in Bulgarien) im nördlichen Balkanvorland angesiedelt. Ihr geistlicher und weltlicher Leiter Wulfila war wohl 336 zum Bischof für Gotien geweiht worden und setzte jetzt seine kirchliche Tätigkeit eben als Bischof dieser Exulantengemeinde fort. Kirchlich organisiertes Christentum hat sich aber auch in Gotien behauptet und war hier 369 bis mindestens 372 erneut Ziel einer antirömisch motivierten Verfolgung. Von den reichskirchlichen Lehrauseinandersetzungen des 4. Jh. dürfte es jedoch kaum berührt worden sein. Der gotische „Arianismus" erhielt seine Formung vielmehr in der Wulfila-Gruppe. M i t seiner gotischen Bibelübersetzung und der dazu erforderlichen Schaffung einer gotischen Schriftsprache, die auch die Möglichkeit der Fixierung und Tradierung einer gotischen Liturgie bot, hat Wulfila einmal dem gotischen Christentum die Möglichkeit seiner nationalsprachlichen Ausformung gegeben. Z u m anderen hat er seine Gemeinschaft auf die „ h o m ö i s c h e " theologische Leitlinie eingeschworen, die der von Konstantius ( 3 3 7 - 3 6 1 ) in den letzten Jahren seiner Herrschaft verfolgten und von Valens ( 3 6 4 — 3 7 8 ) fortgeführten Kirchenpolitik zugrundelag und die in Gestalt der Formel von Nike der Reichssynode von Rimini und Seleukia ( 3 5 9 ) aufgenötigt worden war (—»Arianismus). Die beiden Momente, die das Kirchentum des „gotischen Arianismus" definieren, sind damit gegeben. Seinem Entstehungsraum entsprechend zeigt es mit der Liturgiefähigkeit der Nationalsprache (—»Kirchensprache), der Übung der Häretikertaufe (—»Taufe) und dem Fehlen einer Zölibatsverpflichtung (—»Zölibat) ostkirchliche Züge. Seine theologische Prägung entspringt dem reichskirchlichen Umfeld, in das hinein Wulfilasich und seine Gemeinde gestellt sah. Nichts berechtigt demgegenüber zu der Annahme, daß diese Theologie vermeintlichen germanischen Auffassungen und Voraussetzungen entgegenkomme oder an sie anknüpfe (K. D. Schmidt nach Vorgang älterer; deutschgläubig ideologisch übersteigert Giesecke). Auf der anderen Seite kann man sie aber auch nicht dem durch seine philosophisch-systematische Durchreflexion gekennzeichneten, einen relativ kleinen Kreis bildenden und als Sondergemeinschaft sich organisierenden Neuarianismus zurechnen (Simonetti). Sachliche Berührungen des Referates des Wulfilaschülers Auxentius über die Theologie seines Lehrers mit Aussagen des —»Eunomios lassen sich aus einem gemeinsamen Traditionshintergrund erklären, das Fehlen der Eunomianer in einer Aufzählung der von Wulfila bestrittenen theologischen Gegner (SC 267, 240) entspricht dem, daß die reichskirchlich-homöische Abgrenzung dieser neuarianischen Gemeinschaft gegenüber sich auf kirchenpolitischer Ebene vollzog, und der „arianischen" (homöischen), nicht der eunomianischen Gemeinschaft weiß sich das balkangotische Christentum auch nach der reichskirchlichen Wende unter Theodosius unverändert zugeordnet. Der überzeitliche Gottessohn ist nach dieser Theologie dem Vater „gleich gemäß der Schrift" (ö/ioiog ttarä rag ygacpcu;, daher „Homöer"), dabei in seiner Göttlichkeit aber doch auch wieder von der des Vaters unterschieden. Er teilt nicht dessen Unbedingtheit und ist im Gegensatz zu ihm „sichtbar", und das heißt, er ist wesenhaft darauf angelegt, aus der Transzendenz herauszutreten und Gott in der Begrenztheit der Welt kundzutun. Mit einem menschlichen Leib vereinigt er sich, darin die Stelle der Seele einnehmend, zur Person —»Jesu Christi und wird so auch der Erfahrung menschlichen Leidens zugänglich. Der Heilige —»Geist dagegen steht außerhalb der göttlichen Seinssphäre, ist vom Vater durch den Sohn erschaffen und diesem dienend untergeordnet. Zumindest in Teilen der gotisch-arianischen Uberlieferung scheint später der Gedanke der Zeitlosigkeit des Sohnes durch die Vorstellung eines Anfangs seines Daseins verdrängt worden zu sein. Seinem Selbstverständnis nach stellt sich dieses Christentum als katholisch dem von ihm als häretisch angesehenen „römischen" Glauben der seit Theodosius d. Gr. reichskirchlich verbindlichen nizänischen Lehre gegenüber. Mit seiner Bibelübersetzung (—»Bibelübersetzungen 1.10; III. 1.2) hat Wulfila eine spezifisch christlich-kirchliche schriftgotische Sprachform geschaffen und so den Grund für eine christliche gotische Literatur gelegt. Zu ihrem Elementarbestand gehört auf jeden Fall eine im unteren Donauraum möglicherweise noch bis ins 9. Jh. sich behauptende Liturgie. Außer der versprengten Formel * f r a u j a armais (xvgie e^erjaov, in lat. Transkription als froja armes, allerdings handschriftlich entstellt, bei Ps.-Augustin, coli. c. Pasc., PL 33,1163) ist von ihr eine Seite eines nach 4 1 9 redigierten liturgischen Kalenders balkangotischen Ursprungs erhalten; in ihm ist ein traditioneller Grundbestand durch sowohl national gotische als auch konfessionell homöische Heiligenkommemorationen ergänzt. Schließlich sind mit acht Palimpsestblättern Reste eines in den modernen Ausgaben Skeireins (gesprochen skirins, Auslegung) genannten Johanneskommentars erhalten, bei dem es sich um eine Ubersetzung der auch griechisch nur in Katenenzitaten erhaltenen Johanneserklärung des „eusebianischen" Exegeten Theodor von Herakleia (gest. 351/55) handeln dürfte. Ob es darüber hinaus weitere, eventuell auch den Rahmen
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G e r m a n e n m i s s f o n , arianische
der Ubersetzungsliteratur sprengende gotische christliche Literaturwerke gegeben hat, bleibt unbekannt. Bedeutsam für die weitere Entwicklung ist die offizielle Übernahme dieses Christentums durch einen Teilverband der terwingischen G o t e n unter dem Fürsten Fritigern gegen 3 7 5 . Sie ist Folge einer Anlehnung Fritigerns an das oströmische Reich, die ihm ermöglichte, sich in einem innergotischen M a c h t k a m p f mit dem mehrfach als Führer des terwingischen Gesamtverbandes auftretenden Römerfeind und Christengegner Athanarich zu behaupten. Ü b e r n o m m e n wurde das Christentum selbstverständlich in der seinerzeit für die östliche Reichskirche offiziell gültigen homöischen Bekenntnisgestalt, und daß zur kirchlichen Realisierung des Schrittes Fritigerns a u f Kräfte der wulfilanischen Gotengemeinde zurückgegriffen wurde, darf man annehmen. D a s Modell Wulfilas griff damit über deren Grenzen hinaus. Die weiterführende Bedeutung dieses Geschehens liegt darin, d a ß Fritigern bald nach 3 7 6 die Führung der damals unter dem D r u c k des Hunnensturms auf römischen Reichsboden übergehenden terwingischen Hauptmasse zufiel und seine Stammesgruppe damit zum Kristallisationszentrum des jetzt als neue Einheit sich bildenden westgotischen Volksverbandes wurde. T r o t z der Wirren und K ä m p f e der Z e i t zwischen dem D o n a u ü b e r g a n g der G o t e n und ihrer Ansiedlung als römische Foederaten in Moesien durch —»Theodosius d. Gr. 3 8 2 wurde das ü b e r n o m m e n e Christentum nicht nur festgehalten, sondern k o n n t e sich offenbar in nationalkirchlicher F o r m soweit stabilisieren, daß es trotz der eingegangenen gotischen Bindung an T h e o d o s i u s die durch diesen herbeigeführte Wendung zur jungnizänischen O r t h o d o x i e ebensowenig nachvollzog, wie es die für sich fortbestehende wulfilanische Gemeinschaft tat. Ü b e r die Art der Eingliederung des dergestalt a u t o n o m e n Kirchenkörpers in die politische Ordnung des Volksverbandes liegen hier wie auch anderwärts im Bereich der arianischen Germanenmission keine Nachrichten vor; zweifellos aber hat die jeweilige politische Führung— und das ist mit Ausnahme der terwingischen Anfänge das Königtum — eine Kirchenhoheit beansprucht. M i t dem Abzug der Westgoten unter Alarich I. ( 3 9 5 - 4 1 0 ) in das Westreich ( 4 0 8 ) wird das gotische h o m ö i s c h e K i r c h e n t u m in den Westen getragen und zieht dort von dem durch die Foederatenansiedlung seiner T r ä g e r in Aquitanien 4 1 8 grundgelegten und sich kräftig entfaltenden Westgotenreich aus weitere Kreise. Vandalen, Burgunder und die Sueven in Nordwestspanien werden im Verlauf des 5 . J h . unter Ausschaltung älterer katholischer Einflüsse von ihm erfaßt. Eine wesentliche R o l l e dafür scheint jeweils die M a c h t p o s i t i o n gespielt zu h a b e n , die die Westgoten diesen V ö l k e r n gegenüber einnehmen k o n n t e n . I m ausgehenden 5 . J h . schlägt j e d o c h der Versuch fehl, auch den aufstrebenden F r a n k e n k ö n i g —»Chlodwig zu gewinnen, und mit dem Z u s a m m e n b r u c h des aquitanischen Westgotenreiches und dem R ü c k z u g der G o t e n nach Spanien 5 0 7 ist die Ausstrahlungskraft des westgotischen Arianismus erloschen. Bereits zwischen 4 1 7 und 422 dürfte das gotische Christentum an die 4 0 6 / 0 7 ins römische Reich eingedrungenen, 4 0 9 - 4 2 9 in Spanien sich aufhaltenden Vandalen weitergegeben worden sein, nachdem es anscheinend auch schon erste katholische Ansätze unter ihnen gegeben hatte — der Vandalenkönig Geiserich ( 4 2 8 - 4 7 7 ) , der Begründer des nordafrikanischen Vandalenreichs ( 4 2 9 - 5 3 4 ) , für den das arianische Bekenntnis zum religiös-kirchlichen Ausdruck der vandalischen Selbständigkeit gegenüber Rom wurde (—>Afrika), ist nach spanischer Tradition des 5. Jh. ursprünglich katholisch gewesen. Die Umstände der Übernahme des gotischen Christentums werden nicht sichtbar, doch besteht möglicherweise ein Zusammenhang damit, daß die Vandalen 4 1 6 - 4 1 8 empfindliche Niederlagen den Westgoten gegenüber hatten hinnehmen müssen. - Die Burgunder gelten in der zweiten Hälfte des 5. Jh. als arianisch. Sie dürften sich allerdings bereits zur Zeit ihrer Ansiedlung am Oberrhein ( 4 1 3 - 4 3 6 ) schon dem provinzialrömischen katholischen Christentum geöffnet haben. Nach einer vernichtenden Niederlage gegenüber den in römischem Auftrag handelnden Hunnen 436 wurden ihre Reste 443 in Savoyen angesiedelt. Von hier aus suchten sie in den fünfziger Jahren des 5. Jh. unter Anlehnung an das Westgotenreich ihre Macht in das spätere Burgund hinein auszuweiten, wobei das 436 erloschene Königtum durch den aus westgotischem Adel stammenden Gundovech (Gundiok, vor 4 5 6 - c a . 470) erneuert wird. In diesem Zusammenhang dürfte die Übernahme des gotisch-arianischen Christentums erfolgt sein. Es behauptete sich kaum ein Menschenalter. - In der Führungsschicht der 408 oder 4 0 9 nach Spanien eingedrungenen und seit 411 als Foederaten in Galicien angesiedelten Sueven machten sich gegen die Jahr-
Germanenmission, arianische
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hundertmitte katholische Einflüsse bemerkbar: Der Suevenkönig Rechiar ( 4 4 8 - 4 5 6 ) war katholisch. Zur allgemeinen Christianisierung kommt es jedoch erst seit 466 durch westgotisch-arianische Initiative nach politischer Anlehnung an das Westgotenreich. Weit weniger durchsichtig sind die Verhältnisse im Osten. Hier sind während des 5. Jh., aber wohl erst nach dem Zusammenbruch des Hunnenreiches ( 4 5 5 ) auf römischem Reichsboden die Ostgoten und im Vorfeld des Reiches die Gepiden und möglicherweise auch noch die Rugier arianische Christen geworden. Träger dieser Mission ist ein balkangotisches Christentum, dessen Zentrum bei der fortbestehenden wulfilanischen Gotengemeinschaft zu suchen ist. Im 6. Jh. aber scheint deren Einfluß sich nicht mehr geltend gemacht zu haben. Die seit 5 2 6 / 2 7 zwischen Donau und Drau Fuß fassenden Langobarden wenden sich in der Folge zunächst dem katholischen Christentum zu, bis dann um die Mitte der sechziger Jahre des 6. Jh. arianische Einflüsse wirksam werden, die anscheinend auf Kontakte mit Resten der im Gotenkrieg ( 5 3 5 — 5 5 2 ) —»Justinians aufgeriebenen Ostgoten Italiens zurückgehen. Die sich daran anschließende offizielle Übernahme des arianischen Bekenntnisses dokumentiert möglicherweise einen langobardischerseits erhobenen Anspruch auf das ostgotische Erbe, das die Langobarden dann auch mit ihrer oberitalischen Reichsgründung seit 5 6 8 antreten. Z u uneingeschränkter Alleingeltung allerdings hat sich das arianische Christentum unter ihnen anscheinend nie durchsetzen können. Nach dem Zusammenbruch des südrussischen Gotenreiches der Ostrogoten (Greutungen) im Hunnensturm (375/76) bildet sich im hunnischen Machtbereich der Volksverband der Ostgoten als neue Einheit. Zur Zeit der Niederlassung der ostgotischen Hauptmasse unter Theoderich in Italien seit 4 8 9 ist diese offenbar durchweg arianisch. Möglicherweise haben die Ostgoten das Christentum in dieser Form während ihrer Foederatenansiedlung in Pannonien 4 5 5 - 4 7 3 angenommen. - Das arianische Christentum der Gepiden, die in nachhunnischer Zeit ein Reich zwischen Theiß und Karpaten bilden und nach dessen Zerstörung durch Langobarden und Awaren 567 als selbständige politische und ethnische Einheit untergehen, wird zwar erst in Zeugnissen der justinianischen Zeit erwähnt, gilt aber dabei als eingebürgert und dürfte daher ebenfalls ins 5. Jh. zurückgehen. - Auf das katholische Bekenntnis der Langobarden beruft sich 548 eine langobardische Gesandtschaft an Justinian, während um 565 der Langobardenkönig Alboin (ca. 560—572) sich anscheinend bewußt arianischen Einflüssen öffnet und dabei offenbar auch Kontakte zu Goten in Italien sucht. Allgemein verbreitet ist das Christentum unter den Langobarden damals noch nicht gewesen; noch um 580 sind in Italien Teile des Volkes heidnisch. Die Rugier, die in nachhunnischer Zeit bis zur Zerschlagung ihres Verbandes durch Odowakar 487/88 im niederösterreichischen Raum nördlich der Donau siedeln und ihre Macht auf Teile des römischen Noricum ausdehnen, haben zu dieser Zeit möglicherweise ein arianisches Königshaus; eindeutig ist allerdings arianisches Christentum nur für die aus der ostgotischen Amalerdynastie stammende Königin Giso (gest. 487) bezeugt. Der aus einem skirischen Fürstenhaus stammende Odowakar ( 4 3 3 - 4 9 3 ) ist zur Zeit seines Heerkönigtums über die germanischen Söldner in Italien (seit 476) arianischer Christ; doch kann daraus nicht unbedingt auf eine Verbreitung dieses Christentums bei den bereits 469 von den Ostgoten aufgeriebenenS&ire« zwischen kleinen Karpaten und Waag geschlossen werden. - Die Annahme, daß noch in justinianischer Zeit ein Teil der im Raum von Singidunum (Belgrad) angesiedelten Heruler arianisch wurde, ist durch die Quellen nicht gedeckt, und auf einer Fehleinschätzung sprachgeschichtlicher und archäologischer Gegebenheiten beruht die Vorstellung von einer Präsenz arianischer Mission im mitteleuropäischen Raum, insbesondere in Bayern. Abgesehen von ihrem Auftakt bei den terwingischen Goten Fritigerns im 4 . und dem langobardischen Nachspiel im 6 . Jh. beschränkte sich somit die Wirksamkeit der arianischen Germanenmission auf das 5. Jh. Während dieser Zeit aber sind alle sich auf römischem Reichsgebiet niederlassenden Völker mit Ausnahme der —> Alamannen und vor allem der —»Franken in ihren Bannkreis geraten, während sie über die Grenzen des Reiches nur an einigen Stellen des donauländischen Vorfeldes hinausgegriffen hat. Eine anhaltende geschichtliche Wirkung aber blieb ihr versagt. Auch soweit die von ihr erfaßten Völker als politisch-ethnische Einheiten kein gewaltsames Ende fanden wie Rugier ( 4 8 7 / 8 8 ) und Gepiden ( 5 6 7 ) , Vandalen ( 5 3 0 - 5 3 4 ) und Ostgoten ( 5 3 5 - 5 5 3 ) , gingen sie doch unter Verlust ihrer kulturellen Identität in neu sich bildende Nationen auf (—»Frankreich, —»Italien, —»Spanien), und ihre arianischen Kirchen haben diesem Assimilationsprozeß nicht standhalten können. Im 6. Jh. gehen Burgunder, Sueven und Westgoten, im Verlauf des 7. Jh. die Langobarden
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Germanische Religion
z u m k a t h o l i s c h e n B e k e n n t n i s ü b e r , o h n e d a ß ihr A r i a n i s m u s n a c h w e i s b a r e S p u r e n hinterließ. Im burgundischen Königshaus machen sich bereits unter Gundovechs Bruder und Nachfolger Chilperich (ca. 4 7 0 - c a . 4 8 0 ) starke katholische Einflüsse bemerkbar; Chilperich ist der Vater Chrodichildes, die als Gemahlin -^Chlodwigs bestimmend für dessen Hinwendung zum katholischen Christentum war. Gundovechs Enkel Sigismund wird noch als Prinz katholisch. Seit seiner Herrschaft ( 5 1 6 - 5 2 4 ) ist der burgundische Arianismus erloschen. - Im spanischen Suevenreich leitet um 5 5 5 König Chararich den Ubergang zum katholischen Bekenntnis ein. - Die offizielle westgotische Absage an den Arianismus eröffnet 5 8 7 der Übertritt des Königs Rekkared ( 5 8 6 - 6 0 1 ) , und auf dem dritten Konzil von Toledo 5 8 9 wird sie förmlich vollzogen. Rekkareds Vater Leovigild ( 5 6 8 - 5 8 6 ) hatte vergeblich versucht, unter Verzicht auf die Konvertitentaufe und Abschwächung der homöischen Terminologie (Ersetzung des Ausdruckssimilis der Bekenntnisgrundlage durch aequalis) eine nationalkirchliche Einheit auf arianischer Grundlage zu schaffen. - Der langobardische Arianismus hatte sich von Anfang an in zunehmendem M a ß e konkurrierenden katholischen Einflüssen gegenübergesehen, die insbesondere durch die seit 5 8 9 zunächst mit König Authari ( 5 8 4 - 5 9 0 ) und dann mit seinem Nachfolger Agilulf ( 5 9 0 - 6 1 6 ) vermählte bayerische Herzogstochter Theudelinde gefördert wurden, und sein endgültiger Niedergang setzt mit der Herrschaft des katholischen Königs Aribert (653—661) ein. Literatur Gian Piero Bognetti, S. Maria foris portas di Castelseprio e la storia religiosa dei Longobardi: ders., L'età longobarda, Mailand, II 1 9 6 6 , 1 1 - 6 7 3 . — Christian Courtois, Les Vandals et l'Afrique, Paris 1 9 5 5 . - Heinz Eberhardt Giesecke, Die Ostgermanen u. der Arianismus, Leipzig 1 9 3 9 . - Piergiuseppe Scardigli, Gotische Literatur: Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1 5 0 0 , hg. v. L . E . Schmitt, Berlin, II, 1 9 7 1 , 4 6 - 6 8 . - Knut Schäferdiek, Die Kirche in den Reichen der Westgoten u. Suewen, 1 9 6 7 (AKG 3 9 ) . - Ders., Art. Germanenmission: R A C 10 ( 1 9 7 8 ) 4 9 2 - 5 4 8 . - Ders., Die gesch. Stellung des sog. germanischen Arianismus: K G M G II/l, 1 9 7 8 , 7 9 - 9 0 . - Ders., Zeit u. Umstände des westgotischen Ubergangs zum Christentum: Hist. 2 8 ( 1 9 7 9 ) 9 0 - 9 7 . - Ders., Wulfila: Z K G 9 0 ( 1 9 7 9 ) 2 5 1 — 2 9 2 . — Ders., Die Fragmente der „Skeireins" u. der Johanneskomm, des Theodor v. Herakleia: Z D A 1 1 0 ( 1 9 8 1 ) 1 7 5 - 1 9 3 . - Ders., Gab es eine gotisch-arianische Mission im süddt. Raum?: Z B L G 4 5 ( 1 9 8 2 ) 2 3 9 - 2 5 7 . - K u r t Dietrich Schmidt, Die Bekehrung der Ostgermanen zum Christentum, Göttingen 1 9 3 9 . — Ludwig Schmidt, Gesch. der dt. Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. I. Die Ostgermanen, München 2 1 9 4 1 = 1 9 6 9 . - Manlio Simonetti, L'arianesimo di Ulfila: Romanobarbarica 1 (Rom 1 9 7 6 ) 2 9 7 - 3 2 3 . - Peter Stockmeier, Bemerkungen zur Christianisierung der Goten im 4 . J h . : Z K G 9 2 ( 1 9 8 1 ) 3 1 5 - 3 2 4 . - Elfriede Stutz, Gotische Literaturdenkmäler, Stuttgart 1 9 6 6 . - Dies., Die germanistische These vom „ D o n a u w e g " gotisch-arianischer Missionare im 5. u. 6. J h . : D Ö A W . P H 145 ( 1 9 8 0 ) 2 0 7 - 2 2 3 . - E. A. Thompson, The date of the conversión of the Visigoths: J E H 7 ( 1 9 5 6 ) 1 - 1 1 . Ders., Christianity and the Northern Barbarians: N M S 1 ( 1 9 5 7 ) 3—21 (Neudr.: The conflict between paganism and christianity in the fourth Century, ed. Arnaldo Momigliano, Oxford 1 9 6 3 , 5 6 - 7 8 ) . Ders., The Visigoths in the time of Ulfila, Oxford 1 9 6 6 . - Ders., The Goths in Spain, O x f o r d 1 9 6 9 . Ders., The conversion of the Spanish Suevi to catholicism: Visigothic Spain, ed. Edward James, Oxford 1 9 8 0 , 7 7 - 9 2 . - Herwig Wolfram, Gesch. der Goten, München 1 9 7 9 . Knut Schäferdiek
G e r m a n i s c h e Religion 1. Die vorgeschichtliche Epoche 2. Die Religion der Kontinentalgermanen 3. Die Religion der Nordgermanen 4 . Bildquellen zur germanischen Religion 5 . Geschichte der germanischen Religion: Forschungsansätze 6. Religiöse Praxis (Literatur S. 5 2 1 ) 1. Die
vorgeschichtliche
Epoche
D e r n a c h H e r k u n f t u n d B e d e u t u n g u m s t r i t t e n e Name
d e r G e r m a n e n b e z e i c h n e t in d e r
A n t i k e B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n d e r G e b i e t e östlich des R h e i n s o d e r N o r d ( w e s t ) e u r o p a s . N e u zeitliche W i s s e n s c h a f t sieht in den G e r m a n e n die n o r d - u n d m i t t e l e u r o p ä i s c h e n S p r e c h e r eines b e s t i m m t e n ( r e k o n s t r u i e r b a r e n ) i n d o g e r m a n i s c h e n Dialekts. Die V e r k n ü p f u n g dieser S p r a c h t r ä g e r m i t a r c h ä o l o g i s c h e n F u n d g r u p p e n e r w e i s t sich als schwierig. D e m g e m ä ß lassen sich ü b e r H e r k u n f t , E n t s t e h u n g u n d A u s b r e i t u n g d e r G e r m a n e n keine sicheren Aussagen m a c h e n . D i e E n t s t e h u n g des G e r m a n e n t u m s w i r d gemeinhin in den R a u m
Nord-
d e u t s c h l a n d , D ä n e m a r k , S ü d s c h w e d e n , S ü d n o r w e g e n verlegt. D e r s t a r k e Anteil n i c h t - i n d o -
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z u m k a t h o l i s c h e n B e k e n n t n i s ü b e r , o h n e d a ß ihr A r i a n i s m u s n a c h w e i s b a r e S p u r e n hinterließ. Im burgundischen Königshaus machen sich bereits unter Gundovechs Bruder und Nachfolger Chilperich (ca. 4 7 0 - c a . 4 8 0 ) starke katholische Einflüsse bemerkbar; Chilperich ist der Vater Chrodichildes, die als Gemahlin -^Chlodwigs bestimmend für dessen Hinwendung zum katholischen Christentum war. Gundovechs Enkel Sigismund wird noch als Prinz katholisch. Seit seiner Herrschaft ( 5 1 6 - 5 2 4 ) ist der burgundische Arianismus erloschen. - Im spanischen Suevenreich leitet um 5 5 5 König Chararich den Ubergang zum katholischen Bekenntnis ein. - Die offizielle westgotische Absage an den Arianismus eröffnet 5 8 7 der Übertritt des Königs Rekkared ( 5 8 6 - 6 0 1 ) , und auf dem dritten Konzil von Toledo 5 8 9 wird sie förmlich vollzogen. Rekkareds Vater Leovigild ( 5 6 8 - 5 8 6 ) hatte vergeblich versucht, unter Verzicht auf die Konvertitentaufe und Abschwächung der homöischen Terminologie (Ersetzung des Ausdruckssimilis der Bekenntnisgrundlage durch aequalis) eine nationalkirchliche Einheit auf arianischer Grundlage zu schaffen. - Der langobardische Arianismus hatte sich von Anfang an in zunehmendem M a ß e konkurrierenden katholischen Einflüssen gegenübergesehen, die insbesondere durch die seit 5 8 9 zunächst mit König Authari ( 5 8 4 - 5 9 0 ) und dann mit seinem Nachfolger Agilulf ( 5 9 0 - 6 1 6 ) vermählte bayerische Herzogstochter Theudelinde gefördert wurden, und sein endgültiger Niedergang setzt mit der Herrschaft des katholischen Königs Aribert (653—661) ein. Literatur Gian Piero Bognetti, S. Maria foris portas di Castelseprio e la storia religiosa dei Longobardi: ders., L'età longobarda, Mailand, II 1 9 6 6 , 1 1 - 6 7 3 . — Christian Courtois, Les Vandals et l'Afrique, Paris 1 9 5 5 . - Heinz Eberhardt Giesecke, Die Ostgermanen u. der Arianismus, Leipzig 1 9 3 9 . - Piergiuseppe Scardigli, Gotische Literatur: Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1 5 0 0 , hg. v. L . E . Schmitt, Berlin, II, 1 9 7 1 , 4 6 - 6 8 . - Knut Schäferdiek, Die Kirche in den Reichen der Westgoten u. Suewen, 1 9 6 7 (AKG 3 9 ) . - Ders., Art. Germanenmission: R A C 10 ( 1 9 7 8 ) 4 9 2 - 5 4 8 . - Ders., Die gesch. Stellung des sog. germanischen Arianismus: K G M G II/l, 1 9 7 8 , 7 9 - 9 0 . - Ders., Zeit u. Umstände des westgotischen Ubergangs zum Christentum: Hist. 2 8 ( 1 9 7 9 ) 9 0 - 9 7 . - Ders., Wulfila: Z K G 9 0 ( 1 9 7 9 ) 2 5 1 — 2 9 2 . — Ders., Die Fragmente der „Skeireins" u. der Johanneskomm, des Theodor v. Herakleia: Z D A 1 1 0 ( 1 9 8 1 ) 1 7 5 - 1 9 3 . - Ders., Gab es eine gotisch-arianische Mission im süddt. Raum?: Z B L G 4 5 ( 1 9 8 2 ) 2 3 9 - 2 5 7 . - K u r t Dietrich Schmidt, Die Bekehrung der Ostgermanen zum Christentum, Göttingen 1 9 3 9 . — Ludwig Schmidt, Gesch. der dt. Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. I. Die Ostgermanen, München 2 1 9 4 1 = 1 9 6 9 . - Manlio Simonetti, L'arianesimo di Ulfila: Romanobarbarica 1 (Rom 1 9 7 6 ) 2 9 7 - 3 2 3 . - Peter Stockmeier, Bemerkungen zur Christianisierung der Goten im 4 . J h . : Z K G 9 2 ( 1 9 8 1 ) 3 1 5 - 3 2 4 . - Elfriede Stutz, Gotische Literaturdenkmäler, Stuttgart 1 9 6 6 . - Dies., Die germanistische These vom „ D o n a u w e g " gotisch-arianischer Missionare im 5. u. 6. J h . : D Ö A W . P H 145 ( 1 9 8 0 ) 2 0 7 - 2 2 3 . - E. A. Thompson, The date of the conversión of the Visigoths: J E H 7 ( 1 9 5 6 ) 1 - 1 1 . Ders., Christianity and the Northern Barbarians: N M S 1 ( 1 9 5 7 ) 3—21 (Neudr.: The conflict between paganism and christianity in the fourth Century, ed. Arnaldo Momigliano, Oxford 1 9 6 3 , 5 6 - 7 8 ) . Ders., The Visigoths in the time of Ulfila, Oxford 1 9 6 6 . - Ders., The Goths in Spain, O x f o r d 1 9 6 9 . Ders., The conversion of the Spanish Suevi to catholicism: Visigothic Spain, ed. Edward James, Oxford 1 9 8 0 , 7 7 - 9 2 . - Herwig Wolfram, Gesch. der Goten, München 1 9 7 9 . Knut Schäferdiek
G e r m a n i s c h e Religion 1. Die vorgeschichtliche Epoche 2. Die Religion der Kontinentalgermanen 3. Die Religion der Nordgermanen 4 . Bildquellen zur germanischen Religion 5 . Geschichte der germanischen Religion: Forschungsansätze 6. Religiöse Praxis (Literatur S. 5 2 1 ) 1. Die
vorgeschichtliche
Epoche
D e r n a c h H e r k u n f t u n d B e d e u t u n g u m s t r i t t e n e Name
d e r G e r m a n e n b e z e i c h n e t in d e r
A n t i k e B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n d e r G e b i e t e östlich des R h e i n s o d e r N o r d ( w e s t ) e u r o p a s . N e u zeitliche W i s s e n s c h a f t sieht in den G e r m a n e n die n o r d - u n d m i t t e l e u r o p ä i s c h e n S p r e c h e r eines b e s t i m m t e n ( r e k o n s t r u i e r b a r e n ) i n d o g e r m a n i s c h e n Dialekts. Die V e r k n ü p f u n g dieser S p r a c h t r ä g e r m i t a r c h ä o l o g i s c h e n F u n d g r u p p e n e r w e i s t sich als schwierig. D e m g e m ä ß lassen sich ü b e r H e r k u n f t , E n t s t e h u n g u n d A u s b r e i t u n g d e r G e r m a n e n keine sicheren Aussagen m a c h e n . D i e E n t s t e h u n g des G e r m a n e n t u m s w i r d gemeinhin in den R a u m
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d e u t s c h l a n d , D ä n e m a r k , S ü d s c h w e d e n , S ü d n o r w e g e n verlegt. D e r s t a r k e Anteil n i c h t - i n d o -
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germanischen Wortmaterials (ca. ein Drittel) läßt die Germanen eventuell als Ergebnis der Vermischung zweier Sprachgruppen und Völker erscheinen, die man archäologisch in der Megalithkultur und der schnurkeramischen Streitaxtkultur des Neolithikums zu finden meinte. Ab der Bronzezeit (ca. 1 7 0 0 - 7 0 0 ) scheint es im nordischen Raum eine kontinuierliche Entwicklung zu geben. Die Germanen wären dann weiter vorgedrungen und hätten um 1 0 0 0 v. Chr. die Weser- und die Odergebiete und um 7 5 0 die Weichsel erreicht. Ab 5 0 0 v. Chr. stießen sie bis zum Rhein und zum Mittelgebirge vor. Archäologisch schließt sich der Raum zwischen Rhein und Leine erst um die Zeitwende an die Kultur des Elbe-, Oder- und Weichselgebiets und Skandinaviens an. Für di e Ältere Steinzeit in Nordeuropa ( 9 0 0 0 - 5 0 0 0 ) sind religionshistorische Aussagen kaum möglich. Die Jüngere Steinzeit ( 4 0 0 0 — 1 7 0 0 ) kennt in Skandinavien und Norddeutschland Sippengräber (Riesengräber, Hünengräber) mit spärlichen Grabbeigaben, was auf Ahnenverehrung und starke Familienbindung deuten wird. Brandspuren in den Gräbern weisen eventuell auf Totenkult. Gegen Ende der Epoche treten zunehmend Einzelgräber mit Grabhügeln auf (Hervortreten des Individuums?). Die Hockerstellung der Leichen läßt verschiedene Interpretationen zu (Platzersparnis, T o d als Schlaf, Vorbereitung für Wiedergeburt). Kleine Äxte und Beile unter den Beigaben lassen eventuell an Verehrung eines Donnergottes denken. Es gibt ferner Hinweise auf Pferdeopfer und auf Pfahlverehrung. Der Ubergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit ( 1 7 0 0 — 7 0 0 ) verläuft kontinuierlich. In Mitteleuropa herrscht flaches Hockergrab mit reichlicher Keramik, in Nordeuropa der Grabhügel mit gestreckter Lage (häufig Baumsarg). Im Verlauf der Epoche dringt der Leichenbrand vor (Urnenfelderkultur seit 1 2 0 0 v. Chr., im Norden mit Beisetzung der Urne in Grabhügeln). Gesichert scheint der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode, nicht eindeutig feststellen läßt sich, ob und welche Veränderungen im Totenglauben der Übergang zur Bandbestattung bedeutet (Vergeistigte Auffassung von der Totenwelt? Befreiung von den Banden des Körpers?). Von der großen Zahl bronzezeitlicher Hortfunde sind mehrere religiös zu deuten (Wiederausgrabung des Hortes ausgeschlossen, Zerstörung der Objekte). Bevorzugte Kultplätze sind M o o r e , Quellen, Flüsse und Siedlungen. Tier- und Menschenknochen in Opferquellen deuten auf blutige und Menschenopfer. Funktions- und wertlose Gegenstände lassen an magische Praktiken und Vorstellungen denken. — Religiöse Dokumente der Epoche sind di e Felszeichnungen Skandinaviens. Sie bieten Adorantenszenen, Umfahrten, Musikanten, Pflugszenen, Wagen, Schiffsschlitten, bzw. Kufenkielschiffe u. a. Wahrscheinlich handelt es sich um Abbildungen von Fruchtbarkeitsritualen (und Totenkult?): Phallische Figuren deuten vielleicht auf „heilige Hochzeit", Fußabtritte auf den Glauben an die Anwesenheit eines unsichtbaren(?) (Fruchtbarkeits-)Gottes. Größenmäßig deutlich herausragende Figuren lassen sich als Götter verstehen. O b der häufiger auftretende „ A x t / H a m m e r - G o t t " mit dem späteren T h o r oder der „Speergott" mit Wodan zu verbinden ist, muß fraglich bleiben. Die Axt könnte Zusammenhänge mit mediterranen Vorstellungen (Axt als Symbol des Himmelsgottes) nahelegen. — Miniaturfiguren und zweiteilige Opferfunde weisen auf die Verehrung von Zwillingsgöttern. Die Miniaturfigur von Färdal könnte eine Schlangengöttin darstellen. Verschiedene Holzidole scheinen phallische Fruchtbarkeitsgötter zu bezeichnen. In Opposition zu anthropomorphen Götterdarstellungen kann (muß aber nicht) der Sonnenkult (oder Mondkult?) stehen, der durch den Sonnenwagen von Trundholm ( 1 3 0 0 - 1 2 0 0 v. Chr.) belegt ist. Dazu kommen rad- und scheibenförmige Symbole auf den Felszeichnungen. In der Bronzezeit finden sich erstmals menschengestaltige Holzidole. Einen einzigartigen Beleg für ein bronzezeitliches komplexes Opferritual scheint das Bildmaterial des sog. Kivikgrabes zu liefern, dessen Deutung allerdings schwierig ist. Die Eisenzeit, mit der die vorhistorische Epoche in die historische einmündet, setzt im Norden die Bronzezeit bruchlos fort. Ab dem 8. J h . v. Chr. dringen die Germanen nach Süden vor und stehen ab dem 6. J h . v. Chr. zunehmend in enger kultureller Beziehung zum keltischen Kulturkreis (La-Tène-Kultur; —»Keltische Religion): Keltischer (oder thrakischer?) Import ist der berühmte Gundestrupkessel aus Dänemark (ca. 1 0 0 v. Chr.), keltisch sind auch die Beschläge der beiden Wagen aus dem M o o r von Dejberg. In der Bestattung lebt der
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Germanische Religion
Leichenbrand der Bronzezeit weiter. In der Römerzeit kommt zunehmend Körperbestattung auf, wobei die Grabbeigaben immer reicher werden. Bestattung und Verbrennung laufen im weiteren nebeneinander her. Als Sonderform treten in Nordgermanien seit dem 4. Jh. n. Chr. Bautasteine und seit dem 6. Jh. n. Chr. die Schiffsgräber auf. 2. Die Religion der
Kontinentalgermanen
Mit der Römerzeit ändert sich die Quellenlage erheblich. Im Süden treten die Germanen ins Blickfeld der Römer. Während der skandinavische Norden weiter auf archäologische Quellen angewiesen ist, stehen für den kontinentalen Raum nunmehr schriftliche Quellen der lateinischen Antike zur Verfügung (Caesar, Tacitus u. a.), deren Äußerungen über die Germanen zwischen romantischer Idealisierung und Abwertung der „Barbaren" schwanken. Erste schriftliche Selbstzeugnisse der germanischen Religion liegen in einer größeren Zahl von Votivinschriften vor, deren germanischer Charakter allerdings selten eindeutig feststeht. Für die Zeit nach dem Untergang des Römerreiches gibt es für den kontinentalen Bereich neben einigen Runeninschriften nurmehr christliche Quellen: Geschichtsschreiber wie Jordanes, —»Gregor von Tours, —»Beda Venerabiiis und Paulus Diaconus, Heiligenleben (Vita Columbani, Vita Willibrordi u. a.) und Urkunden und Erlässe vor allem kirchlicher Stellen (z. B. Indiculus superstitionum). Die schriftlichen Quellen und Zeugnisse lassen sich durch sprachgeschichtliche und namenkundliche Erwägungen ergänzen. Wichtiges Zeugnis für die Beurteilung der germanischen Götterwelt ist die Wiedergabe der lateinischen Wochentagsnamen in den germanischen Sprachen, die zu folgenden Göttergleichungen führt: Mars-Tiwaz, Mercurius-Wodan, Jupiter-fjonar, Venus-Frija. Die Gleichsetzung von Mars und Tiwaz mag dabei von einem kriegerischen Aspekt ausgehen, Jupiter und (jonar sind Donnergötter, bei Venus und Frija sind wohl Liebe und Fruchtbarkeit die Vergleichsbasis. Nicht ganz klar sind die Ursachen für die Gleichung lat. Mercurius - germ. Wodan (Seelenführer?, Erfinder?); es kann an einen gall. Mercurius als Zwischenstufe gedacht werden. Trotz des weiten Geltungsbereiches der Wochentagsnamen im Germanischen ist damit zu rechnen, daß abweichende Gleichsetzungen römischer und germanischer Götter vorkamen. Das Sprachmaterial der germanischen Einzeldialekte bietet zwei Adjektiva (und ihre Ableitungen) für den Begriff ,heilig' (*wihaz und *heilagaz). Gemeingermanisch ist das Wort für ,opfern' (blötan). Gemeingermanisch ist auch das ursprünglich neutrale Wort „Gott", dessen Etymologie umstritten ist. Verschiedene Stammesnamen scheinen auf totemistische Vorstellungen zu deuten (Eburonen-Eber, Cherusker-Hirsch). Hauptquelle für die germanische Religion der Römerzeit ist die Germania des Tacitus (ca. 98 n. Chr.). An der Spitze der germanischen Götterwelt steht nach Germ. 9 Mercurius (Wodan), dann folgt Mars (Tiwaz). Wodan und Tiwaz sind insofern unterschieden, als Wodan als einziger Menschenopfer empfängt. Ebenso dürfte Wodan der Adressat der Menschenopfer der Kimbern gewesen sein, von denen Orosius berichtet. Im Gegensatz dazu erwähnt der gotische Geschichtsschreiber Jordanes (6. Jh.), daß die Goten (oder die Thraker?) dem Mars Menschen geopfert hätten, und Prokop erwähnt Menschenopfer an Ares. Der Befund läßt weniger an eine Fehlinformation des Tacitus oder an historische Entwicklung als an eine von den Wochentagsnamen abweichende Gleichsetzung von Mars und Wodan bei Jordanes denken. Tacitus erwähnt ferner einen Hercules, der einmal (c. 3) einen Heros (Siegfried?), einmal (c. 9) einen Gott zu bezeichnen scheint, aber auch in beiden Fällen einen Gott meinen kann. Wahrscheinlich handelt es sich um den germanischen \>onar (Stärke, Keule-Hammer, Bekämpfung von Ungeheuern), der in den Wochentagsnamen freilich dem Jupiter entspricht. Mit diesen drei Hauptgöttern bei Tacitus scheinen die drei Götter einer sächsischen Abschwörungsformel des 9. Jh. n. Chr. (Thunaer, Wodan, Saxnot [ = T i waz?]) übereinzustimmen, hingegen lassen sich jene drei Götter damit nicht zur Deckung bringen, die sich aus dem germanischen Abstammungsmythos bei Tacitus (Germ. 2) ergeben, nämlich *Ermin, * Ist und *Ing (s. u.). Ermin dürfte mit Tiwaz identisch sein, Ist bleibt dunkel und Ing ist der bei Tacitus sonst nicht erwähnte Gott Frey (s. u. Abschn. 3.2). Eine
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spätere Göttertrias auf der Runenspange von N o r d e n d o r f (um 6 0 0 ) bringt wieder eine andere Konstellation: W o d a n , Wigi-fjonar und einen rätselhaften G o t t Logafjore. Die taciteischen Hauptgötter Mercurius, Mars und Hercules finden sich auch auf zahlreichen Inschriften der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, bes. in den Rheingegenden. Wenngleich die Germanizität der Inschriften kaum je gesichert ist, so unterstreichen sie doch die zentrale Stellung dieser Götter in der römisch-keltisch-germanischen Kontaktzone. Die Zuordnungsprobleme bei Hercules (=t>onar) bleiben auch hier bestehen. Eine wichtige Position nehmen zwei Weihesteine aus England (frühes 3. Jh.) ein, auf denen ein Mars Thingsus verehrt wird. Sie scheinen auf Mars-Tiwaz als Gott der Thingversammlung zu deuten (s. u. Abschn. 6). Für den Charakter der taciteischen Hauptgötter ergibt sich unter Heranziehung späterer (christlicher) Quellen folgendes: Wodan ist Kriegs- und Siegesgott. M e n c h e n o p f e r betonen jenen Aspekt des Furchterregenden und D ä m o n i s c h e n , den auch die Etymologie seines N a mens (zum W o r t , W u t ' ; vgl. A d a m von B r e m e n : Wodan id est furor) beinhaltet. Im angelsächsischen Neunkräuterspruch und im althochdeutschen 2 . M e r s e b u r g e r Zauberspruch tritt W o d a n als Z a u b e r e r und M a g i e r auf. Als E m p f ä n g e r eines Bieropfers ( J o n a s von B o b bio, 7 . J h . ) k ö n n t e er E k s t a s e / R a u s c h - G o t t sein. Ein herrschaftlicher Aspekt des Gottes ergibt sich aus seiner Funktion in mehreren Königsgenealogien: So figuriert er an der Spitze angelsächsischer K ö n i g s s t a m m b ä u m e . Das Königsgeschlecht der Langobarden stammt ex genere Gausus {Edictus Rothari); gotischer Königsahne ist nach J o r d a n e s G a p t (wahrscheinlich als G a u t zu lesen), und die Sachsen (Widukind von Corvey, 1 0 . J h . ) kennen einen mythischen H a t h a g a t : G a u t tritt später als O d i n s n a m e auf. In der Ursprungssage der Langobarden ( O r i g o gentis Langobardorum, 7 . J h . ) erscheint W o d a n als siegverleihender G o t t . Unsicher sind Bilddokumente wie der Reiterstein von Hornhausen und eine Felsfigur aus Bad D ü r k h e i m . Einige O r t s n a m e n in England und Deutschland weisen auf W o d a n - V e r e h rung. Tiwaz ist Kriegs- und Dinggott. Sein N a m e verbindet ihn mit der indogermanischen Wortgruppe für „ G o t t " ( l a t . d e u s ) und weiter mit dem alten Vater- und Himmelsgott altindisch Dyäus, griech. Zevg, lat. Diespiter (Jupiter). Möglicherweise wurde er stiergestaltig gedacht. Als E r m i n ist er Stammvater der E r m i n o n e n (Germ. 2) und ist möglicherweise mit d e r l r m i n s u l (Irminsäule) der Sachsen (Rudolf von Fulda, 9. J h . ) zu verbinden. Wahrscheinlich weisen ihn auch die altsächsische Abschwörungsformel (Saxnot) und die angelsächsische Königsstammtafel von W e s s e x (Seaxneat) als Stammesgott der Sachsen aus. Eine Glosse des 9 . J h . nennt die Schwaben Cyuuari, Marsverehrer. Für f)onar gibt es außer der Etymologie seines N a m e n s ( , D o n n e r ' ) , dem Herculesbezug (s. o.), mehreren O r t s n a m e n und der E r w ä h n u n g auf der N o r d e n d o r f e r Spange im Süden nur den Bericht, daß —»Bonifatius 7 2 4 eine Eiche Jupiters fällte. Auch für das w e i t e r t g e r m a n i s c h e Pantheon ist T a c i t u s der Hauptzeuge. In G e r m . 4 0 berichtet er ausführlich vom (jütländischen) Kult einer Göttin Nerthus, deren N a m e dem des späteren an. Gottes N j ö r d (s. u. Abschn. 3 . 2 ) entspricht. Ihr Bild fährt auf einem rindergezogenen Wagen durchs Land (vgl. die beiden Prunkwagen von Dejberg). W ä h r e n d dieser Zeit herrscht (Gottes-)Friede. Am Ende der U m f a h r t wird das Götterbild in einem See gereinigt, die beteiligten Sklaven werden getötet. Tacitus bezeichnet Nerthus als Terra mater, und ihr N a m e dürfte sie als Spenderin der Lebenskraft ausweisen. O b sie mit der Isis von G e r m . 9 identisch ist, bleibt unsicher. Ein späteres Zeugnis für die Verehrung einer Erd- und Muttergöttin liefert ein angelsächsischer Spruch mit Anrufung der „ M u t t e r E r d e " . D e r W a g e n des Nerthuskultes läßt sich eventuell mit dem (Sonnen-?) W a g e n des Ing im altenglischen Runenlied verbinden. Dieser Ing, bei T a c i t u s (Germ. 2) der Stammvater der Inguaeones, figuriert auch in den angelsächsischen Königsgenealogien und ist identisch mit Frey (s. u. Abschn. 3 . 2 ) , der vielleicht als Phol im althochdeutschen 2 . M e r s e b u r g e r Z a u b e r spruch v o r k o m m t . I m germanischen Osten wurde nach T a c i t u s (Germ. 4 3 ) in einem heiligen H a i n ein göttliches Zwillingspaar, die Alces (Beschützer? Elche?), verehrt, deren Priester Frauentracht tragen, was mit dem N a m e n des wandalischen Königsgeschlechts (Hasdingen = T r ä g e r lan-
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Germanische Religion
ger Haare) zusammenhängen könnte. Dioskurische Formen lassen sich aus historischen Quellen mehrfach nachweisen. Aus den Namen und religionsvergleichenden Überlegungen glaubt man auf eine enge Pferdebeziehung der Dioskuren und auf Pfahlgötter schließen zu können. Auf Dioskuren weisen auch archäologische Funde aus früherer Zeit (vgl. o. Abschn. 1). Aus den Annalen des Tacitus erfahren wir ferner von einem Tempel und einem Kultfest der Tamfana und von einer Göttin Baduhenna, deren Name auf eine Kriegsgöttin weist. Eine große Zahl römerzeitlicher Inschriften bezeugt besonders im 3. Jh. in den Rheinlanden die Verehrung weiblicher Gottheiten (meist in Dreizahl): die Matres und Matronae, deren Charakter und Herkunft nur aus ihren Beinamen und eventuell den Dedikanten zu erschließen ist. Es handelt sich dabei um segenspendende Gottheiten, deren Fortleben als „Mütter" durch Beda Venerabiiis bezeugt ist. Die Matronen können auch mit den Idisi des ersten Merseburger Zauberspruches in Verbindung gebracht werden. Uber 20 Inschriften belegen eine Göttin Nehalennia, deren Schiffssymbol sie in die Nähe der Isis des Tacitus (Germ. 9) rückt. Auch sie dürfte eine Göttin des Wohlergehens gewesen sein. Aus späterer Zeit ist ein friesischer Gott Fosite bei —»Alkuin bezeugt, und eine Reihe von Göttern zählt der 2. Merseburger Zauberspruch auf. Wie für das germanische Pantheon ist auch für Mythen und Kulte der Frühzeit Tacitus die Hauptquelle. Die neben Nerthus- und Naharnavalenkult herausragende Stelle findet sich in Germ. 39. Demnach feierten die Stämme der Sueben in einem Hain, den man nur gefesselt betreten darf und der einem regnator omnium deus geweiht ist, durch ein Menschenopfer die initia gentis und (möglicherweise) auch die Uranfänge (horrenda primordia) der Welt. Erinnerungen an diesen Kult scheinen in der nordischen Sage (Helgisage) weiterzuleben. Nicht sicher entscheiden läßt sich, ob hinter dem regnator-GOtt Wodan oder Tiwaz steht; die Fesselung bedeutet wohl die Bindung an/durch die Gottheit. Das anthropogonische und kosmogonische Ritual ist nur durch Religionsvergleichung aufzuhellen. Dabei ist besonders der Abstammungsmythos von Germ. 2 heranzuziehen: ein erdgeborener Gott Tuisto (,Zwitter') hat einen Sohn Mannus (,Mann, Mensch'), von dessen drei Söhnen sich die Stammesverbände der Inguaeonen, Hermionen und Istaevonen herleiten. Der Mythos enthält also die göttliche Abstammung der Menschen, berichtet von der Erdgeburt eines Urwesens und von dessen Zwittercharakter. Diese Elemente haben z. T. im Norden ihre Entsprechung. Die skandinavische Mythologie könnte zur Deutung die Vorstellung von der Bildung der Welt aus dem Körper eines getöteten Urwesens beisteuern (vgl. u. Abschn. 3.3). Verwandte Körperkosmogonien, Gottabstammungen, sowie Zwitteranthropogonien finden sich ebenso bei den genetisch verwandten Indern wie etwa bei den Babyloniern. 3. Die Religion der
Nordgermanen
3.1. Schriftliche Quellen. Ungleich reichhaltiger als im Süden fließen — allerdings wesentlich später — die Quellen zur germanischen Religion im skandinavischen Norden. Die Ältere Edda (Lieder-Edda), eine im 13. Jh. in Island entstandene Sammlung von (z. T. älteren) Liedtexten, enthält neben Heldengedichten mehr als 30 Götterlieder (u. a. Völusjjä, Hävamäl, Grimmismäl, Vafßrüdnismäl, prymskvida, Hymiskvida). Wieweit die in der Edda aufbewahrten Mythen gemeingermanisches Erbe oder nordische Sonderentwicklung sind, ist ein umstrittenes und nur für den Einzelfall zu lösendes Problem. Ebenso schwierig ist die Frage nach der Authentizität des mythologischen Materials in der jüngeren (Prosa-) Edda des Snorri Sturluson (gest. 1241), der man bisweilen jeden religionsgeschichtlichen Quellenwert absprechen wollte; Snorris Werk ist als Lehrbuch der Skaldendichtung konzipiert, die seit dem 9. Jh. in Norwegen und Island in den sog. Kenningar (mehrgliederige, bildhafte Umschreibungen) mythologisches Wissen verarbeitet und beim Rezipienten voraussetzt. Vieldiskutiert ist schließlich auch der historische Wert der zahlreichen isländischen Sagas und Prosaromane, in denen weniger mythologische Materialien als Hinweise auf Kult und Glaubenswelt des Einzelnen aufbewahrt zu sein scheinen. Für Dänemark ist das reiche (euhemeristisch umgedeutete) Material in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (gest.
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1216), für Schweden die hamburgische Kirchengeschichte des Adam von Bremen (gest. 1083) von Bedeutung. Schließlich erlebte die Runenschrift im Norden ab dem 9. Jh. eine neue Blüte. Die heidnischen Inschriften sind allerdings meist schwer zu deuten. Wichtiges Material bieten außerdem die zahlreichen skandinavischen Ortsnamen, die Erinnerungen an heidnische Götter aufbewahren. 3.2. Die nordische Götterwelt. Hauptgott des nordischen Pantheons ist Odin (Wodan). Seine Attribute sind der Speer (Gungnir), das achtbeinige Pferd Sleipnir (Schamanenpferd?) und die Raben (Hugin und Munin). Odins Gattin ist jene Frigg, die dem Freitag ihren Namen gab und die in der Langobardenorigo (7. Jh.) ihren Gatten überlistet. Sie wird auch im 2. Merseburger Zauberspruch erwähnt. Odin ist Kriegs- und Sieggott, er ist Schirmherr einzelner Helden, die sich ihm weihen, die er aber oft böswillig im Stich läßt. Er ist Herr über die Schlachttoten (valr) und das Totenreich Walhall. Aus den gefallenen Helden rekrutiert Odin die Einherjar, die ihm beim endzeitlichen Kampf (Ragnarök [Götterdämmerung, eigentlich Götterschicksal]) gegen die bösen Mächte zur Seite stehen sollen. Als Toten- und Kriegsgott ist Odin Führer von (kultisch-ekstatischen) Kriegerverbänden. (So lebt er als Anführer der Wilden Jagd weiter.) Odin ist ferner Gott des Zaubers, der Magie und der Weisheit. Sein Auge verpfändet er zur Erringung von verborgener Weisheit in Mimirs Brunnen, und das Haupt des weisen Riesen Mimir verwendet er zu Nekromantie. In Adlergestalt raubt er dem Riesen Suttung den Dichtermet, und in einem Selbstopfer (Erhängung und Durchbohrung mit dem Speer) erwirbt er Runenweisheit; diese Selbstopferung dürfte Abbild eines Initiationsritus schamanistischer Prägung sein. Bei der Erschaffung der Menschen gibt Odin Atem. — Odins Wesen scheint zwischen den beiden geistigen Grundhaltungen der ekstatischen Inspiration und einer klug-listigen Rationalität zu schwanken. In Verbindung mit dem Totenkult finden sich auch fruchtbarkeitsmagische Komponenten im Wesen Odins. Dennoch ist Odin kein bäuerlicher Gott, sondern in erster Linie Gott einer aristokratischen Oberschicht. Damit mag auch die verhältnismäßig geringe Zahl nordischer Ortsnamen zusammenhängen, die auf Odinskult weisen. Das Alter Odins ist umstritten, er wurde mehrfach als späte Gottheit angesehen; sein Aufstieg hätte (regional beschränkt?) schon zu Tacitus' Zeit in den Rheinlanden begonnen. So blaß der Donnergott im Süden bleibt, so sehr tritt er als Thor in der nordischen Mythologie hervor. Er gilt als Sohn Odins und Friggs. Sein Tier ist der Bock, seine Waffe der Hammer Mjöllnir (Beziehungen zu den Felszeichnungen?), seine Haupteigenschaften sind Stärke und Gutmütigkeit, seine Haupttätigkeit ist die Bekämpfung der Riesen. Unter den zahlreichen Thor-Geschichten ragt besonders der mißglückte Versuch heraus, die um die Welt liegende Midgardschlange zu angeln. Eine alte Kriegerinitation könnte der Hrungnirmythos aufbewahren (Kampf gegen ein künstliches Ungeheuer). Als Donnergott hat Thor deutlich Beziehungen zu Fruchtbarkeit und Wachstum. Er ist ein Gott der Bauern (aber kein Bauerngott) mit deutlich kriegerischer Komponente. Seine Popularität und wohl auch seine Beschützerfunktion spiegeln die zahlreichen nordischen Orts- und Personennamen, die seinen Namen enthalten. Der germanische Tiwaz erscheint im Norden als Tyr. Der alte Himmelsgott ist aber sehr zurückgetreten, und nur im Mythos von der Fesselung des Fenriswolfes spielt er eine bedeutende Rolle: Er hält seine Hand als Sicherheitsgarantie dem Untier ins Maul, als es die Götter (angeblich probeweise) in Fesseln legen wollen. Der überlistete Wolf beißt Tyr die Hand ab. Da der Fenriswolf am Ende der Zeiten die Sonne verschlingen wird, hat man Tyr als Sonnengott verstehen wollen. Auf seine Funktion als Kriegsgott deutet, daß man die Tyr-Runen für Sieg ritzen soll. Der Plural seines Namens (tivar) bezeichnet die Götter insgesamt. Seine Verehrung wird durch Ortsnamen bezeugt. Odin, Thor und Tyr gehören zum Göttergeschlecht der Asen. Diesen steht die Familie der Wanen gegenüber (s. u. Abschn. 3.3). Der taciteischen Göttin Nerthus (s. o.) entspricht etymologisch der W a n e n - G o t t N j ö r d , Herr über Wind und Feuer, ferner Gott der Schiffahrt. Njörd ist besonders reich. Er wird von der Riesentochter Skadi wegen seiner schönen Füße
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Germanische Religion
(irrtümlich) zum Gatten gewählt (Zusammenhang mit den Fußabdrücken der Felszeichnungen?). Zahlreiche Ortsnamen unterstreichen seine Bedeutung, die nicht zuletzt im Bereich des Fruchtbarkeitsglaubens gelegen sein dürfte. Njörds Kinder sind Frey und Frey ja. Frey läßt sich als ursprünglicher männlicher Partner der mütterlichen Erdgöttin Nerthus ansehen. Frey [eigentlich Herr] ist als Yngvi-Frey identisch mit dem Stammvater der Ingvaeones (Tacitus) und dem angelsächsischen Ing. Ing ist auch Name einer Rune. Freys Schiff Skidbladnir mag Erinnerungen an die Isis des Tacitus und die germanische Nehalennia (s. o.) enthalten. Freys Verehrung tritt besonders in Schweden hervor: Er galt als Stammvater des schwedischen Königsgeschlechts der Ynglingar, und alle 9 Jahre wurde ihm in Uppsala (phallisches Frey-Standbild neben den Bildern Odins und Thors) ein Menschenopfer gebracht (Adam von Bremen), das mit sakraler Prostitution verbunden war. Frey-Opfer werden auch sonst häufig erwähnt. Frey hat ferner enge Verwandtschaft mit Frodi, dem Herrn über ein friedlich-reiches Goldenes Zeitalter der Vergangenheit, der allerdings neulich auf historische Wurzeln zurückgeführt wurde. Frey findet sich häufig in Ortsnamen; sein Tier ist der Eber. Trotz einiger kriegerischer Züge ist er ein Gott von Fruchtbarkeit, Frieden und Wohlergehen. Ein Eddalied (Skirnismäl) könnte Erinnerungen an einen Kult der „heiligen Hochzeit" enthalten. In vegetationsmagische Bereiche gehört wohl auch der Mythos von Freys Tod (sterbende Gottheit!). Von Freys Schwester Freyja findet sich außernordisch keine Spur. Sie ist wohl eine Erscheinungsform der Muttergöttin und wie ihr Bruder eine Gottheit des Reichtums und der Fruchtbarkeit. Der junge, strahlende Gott Balder [eigentlich Herr, Fürst] ist ebenfalls auf den skandinavischen Norden beschränkt, es sei denn daß der Balder des 2. Merseburger Zauberspruches den Gott meint und nicht appellativisch aufzufassen ist. Es gibt kaum Hinweise auf einen Balderkult. Umso wichtiger ist die Bedeutung Balders für die nordische Mythologie, denn sein Tod durch einen Mistelzweig, spielerisch von der Hand des blinden Gottes Höd [Krieg] geworfen, ist die zentrale Unglückstat der Weltgeschichte. Nach Völuspä 62 wird Balder aber in einer zukünftigen glücklichen Welt herrschen, eine Stelle, die man als Reaktion des untergehenden Heidentums auf das Vordringen des Christentums verstehen wollte (Balder = Christus). Ferner sah man in der Geschichte von Balder einen Fruchtbarkeitsmythos oder einen Initiationsmythos. Eng mit Balder verknüpft ist der rätselhafte Ränkeschmied Loki. Er ist es, der Höd den für Balder tödlichen Mistelzweig in die Hand drückt. Als Hexe verhindert Loki, daß der tote Balder aus der Unterwelt (Hei) freikommt. Loki ist der Vater und Verbündete der dämonischen und feindlichen Mächte (Hei, Fenriswolf, Midgardschlange), aber zugleich Blutsbruder Odins. Wegen der Ermordung Balders wird er von den Göttern bestraft, indem sie ihn fesseln und eine Giftschlange über ihm aufhängen. Seine Gattin fängt das Gift auf; wenn sie die Schale leert, bäumt sich Loki auf, dann bebt die Erde. Loki gehört zu den Göttern und ist zugleich ihr Feind. Zahlreiche Mythen berichten von ihm. Er ist ein Meister der Verwandlung und trägt schalkhafte Züge (Trickster!). Es läßt sich kein Kult nachweisen, in Ortsnamen kommt er nicht vor. Zum nordischen Pantheon gehört ferner der rätselhafte Heimdali. Er gilt als Vater der Menschen und Wächter der Himmelsbrücke. Mit seinem Horn wird er den Untergang der Welt ankündigen. - Bragi ist der Gott der Dichter und Skalden, seine Frau Idurt die Hüterin der verjüngenden Äpfel. - Der Gott Uli ist ein guter Bogenschütze, ursprünglich wohl ein Fruchtbarkeitsgott (Ortsnamen!). — M i t den alten Matronen mögen die nordischen Disert in Verbindung stehen, deren Name mit den Idisi des 1. Merseburger Zauberspruches zusammenhängen dürfte. Neben der Götterverehrung gibt es auch einzelne Belege für Tierverehrung (Schlangenkult und Hundesympathie der Langobarden, Hirschverehrung, Pferd, Stier), eventuell ist auch an tiergestaltige Götter zu denken. Außer den Göttern kennt die germanische Religion, insbesondere die nordische Mythologie, eine umfangreiche Dämonen- und Geisterwelt, die z. T. in der späteren Volksüberlieferung weiterlebt. Die Grenzen zu den Göttern sind (wie etwa bei der Riesentochter Skadi) nicht immer deutlich. Da gibt es Riesen und Zwerge (häufig weise, reich, kunstsinnig),
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Wichte und Elben, Kobolde und Mährten, Meer- und Wassergeister, Wald- und Berggeister usw. Eine besondere Stelle nehmen die Totengeister und Wiedergänger, sowie die Folgegeister (fylgjor, hamingjor) ein, die als Art Seelengeister eng mit dem Schicksal des Einzelmenschen verknüpft sind. Der germanische Glaube an eine Mehrzahl persönlicher Götter kann nicht bezweifelt werden. Es gibt aber Hinweise dafür, daß man die Macht der Götter für begrenzt hielt und an eine Schicksalsmacht neben oder über ihnen glaubte. Zahlreiche Stellen der nordischen Literatur belegen diesen germanischen Schicksalsglauben. In der Edda treten die schicksalsbestimmenden Nomen auf, von deren Namen (Skuld, Verdandi, Wurd) allerdings nur Wurd alt sein dürfte. Ebenso wie beim Maskulinum metod [Schicksal, eigentlich Zumesser] (im Altnordischen, Altsächsischen und Angelsächsischen) ist für das Femininum Wurd umstritten, ob es sich ursprünglich um ein persönliches oder ein unpersönlich gedachtes Schicksal handelt. Auf eine enge Beziehung zwischen Göttern und Schicksal scheinen die Götterbezeichnungen altnordisch regin [neutr. plural.] [die Beratenden] (vgl. altsächsisch reginogiskapu [Schicksal]) und altnordisch hippd [die Fesseln] und bipnd [die Bande] zu deuten. 3.3. Das mythische Weltbild. Die nordischen schriftlichen Quellen liefern neben einer differenzierten Götterwelt auch verschiedene und z. T. komplexe Darstellungen der Welt und des Kosmos. Hervorstechend ist das Weltbild der Edda (bes. der Völuspä) mit der Weltesche Yggdrasil, zu deren Wurzeln Menschen-, Riesen- und Totenwelt, aber auch der Brunnen der Urd und der Brunnen des Mimir liegen. Der Weltbaum läßt sich über die Vorstellung von der Weltsäule mit der sächsischen Irminsul (zerstört 772) in Verbindung bringen. Das Reich der Götter ist Asgard, das wohl erst später im Himmel gedacht wird (Himinbjörg). Zum Himmel führt die schwankende Brücke Bilröst. Verschiedene Vorstellungen hat es über das Totenreich gegeben; gemeingermanisch dürfte das Totenreich Hei („die Verhehlende", später Hei als Totengöttin) sein; das konkurrierende Walhall scheint (zumindest als „Kriegerhimmel") jüngere Entwicklung zu sein, ursprünglich war es wohl ein als Halle stilisiertes Schlachtfeld mit Kampfhexen (Walküren). Größeres Alter dürfte die Vorstellung haben, daß die Menschenwelt (Midgard) von einer feindlichen Dämonenwelt (Utgard) umschlossen ist und daß um Midgard die Midgardschlange liegt. Besonders ausgeprägt ist in der nordischen Mythologie die Darstellung von Weltentstehung und Weltuntergang. Obwohl sich die verschiedenen anthropogonischen und kosmogonischen Mythen nicht ohne weiteres zur Deckung bringen lassen, scheinen im einzelnen Beziehungen zu den taciteischen Ursprungsmythen (s. o.) zu bestehen: Der Abfolge Tuisto-Mannus-3 Söhne entspricht die nordische Abfolge Buri-Bor-3 Söhne (Odin, Wili, We); Tuisto scheint als Zwitter mit dem nordischen Urriesen und Zwitter Ymir zusammenzuhängen, aus dessen Körper die Götter die Welt formen. Buri wird von der Urkuh aus dem Salz geleckt, Tuisto wird von Tacitus als erdgeboren bezeichnet. Allein steht im Norden die Schaffung von Menschen aus Baumstämmen (Ask und Embla) durch drei Götter (Odin, Hoenir, Lodur), doch gibt es dazu eine Reihe außergermanischer Verwandter. Die urzeitliche Konsolidierung der Götterwelt (und der menschlichen Gesellschaft) demonstriert der nordische Mythos vom Kampf der beiden Göttergeschlechter der Asen (Odin, Thor) und der fruchtbarkeitsorientierten Wanen (Frey, Freyja, Njörd) mit dem darauffolgenden Friedenschluß. Der Asengott Hoenir wird den Wanen als Geisel gegeben, Njörd kommt zu den Asen. Man hat in diesem Mythos häufig die Erinnerung an eine urzeitliche Auseinandersetzung zweier Völkerschaften gesehen (vgl. aber u. Abschn. 5). Ob die ausgeprägte Vorstellung vom Untergang der Welt in einem großen Kampf der Götter gegen die dämonischen Mächte Midgardschlange, Fenriswolf, den Feuerriesen Surt und die Muspellssöhne (Ragnarök) Ausfluß einer Untergangsstimmung und Desintegration des nordischen Heidentums ist oder in älteren Vorstellungen wurzelt, läßt sich von den Quellen her kaum entscheiden (vgl. u. Abschn. 5). Besonders schwierig ist die Frage im Hinblick auf die Vorstellung von der Entstehung einer neuen Welt unter den versöhnten Göttern Balder und Höd nach dem Weltuntergang. Den einzigen außernordischen Quellenhinweis
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auf den Mythos vom Weltuntergang gibt das rätselhafte althochdeutsche W o r t muspilli sächsisch mutspelli).
4. Bildquellen zur germanischen
(alt-
Religion
Die literarischen Quellen zur germanischen Religion lassen sich durch Bildmaterialien ergänzen, deren Deutung naturgemäß mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. So läßt sich nur schwer ausmachen, ob die germanischen Tierfibeln oder die Stierköpfe an Trinkhornenden religiöse Bedeutung haben (Götterattribute, Opfertiere?). Schwer zu entziffern ist das Bildmaterial der beiden Hörner von Gallehus (um 4 0 0 n. Chr.). Auf Herrschaftszeichen weisen einzelne (figürliche) Objekte aus dem Fürstengrab von Sutton H o o (7. Jh.). Die verschiedenen Funde aus Vendel und die Stanzen von Torslunda können in ihrem kriegerischen Programm auf göttliche Heilsmächte deuten. Eine Quellengruppe besonderer Art bilden die Brakteaten, ein einseitig geprägter Hängeschmuck, bes. aus dem 5 . / 6 . J h . , in erster Linie aus dem skandinavischen Raum (insges. über 8 0 0 Stück). Die Brakteaten wurden neuerdings (K. Hauck) als Bildmaterialien einer völkerwanderungszeitlichen Odinsreligion gedeutet. — Aus der Römerzeit und der Völkerwanderungszeit sind ferner geritzte und geprägte Goldplättchen (Guldgubber) erhalten, die sich eventuell als Denkmäler einer älteren Wanenverehrung deuten lassen. — Ca. 3 0 0 Bildsteine (5.—11. Jh.) auf der Insel Gotland können als bildliche Darstellung verschiedener nordischer Mythen verstanden werden (Thor fischt die Midgardschlange, Odin raubt den Dichtermet u. a.). Eine besondere Rolle spielt auf den Darstellungen das Totenschiff, ferner scheinen Walhall und Walküren auf den Steinen dargestellt zu sein.
5. Geschichte
der germanischen
Religion:
Forschungsansätze
Während die älteren Versuche, Wesen und Geschichte der germanischen Religion aus eigenen naturmythologischen Vorstufen zu verstehen (Thor als Gewitterdämon, Odin als Windgott, Odins verpfändetes Auge als untergehende Sonne usw.), in den Hintergrund getreten sind, spielt die Religionsvergleichung für die Erforschung der germanischen Religion eine erhebliche Rolle. Die Ergebnisse sind freilich äußerst kontrovers, nicht zuletzt deshalb, weil auch bei evidenten Gleichungen eine Entscheidung über Ausbreitung oder Urverwandtschaft schwer zu treffen ist. Ferner konkurrieren häufig mono- und polygenetische Interpretationsmodelle. J e nach Beurteilung von Verwandtschaften ergibt sich ein verschiedenes Bild von Alter und Bedeutung zahlreicher (z. T . nur im Norden spät belegter) religiöser Vorstellungskomplexe. Besonders schwierig ist die Frage eines christlich-heidnischen Synkretismus. So erinnert der Mythos von Thors Angelung der Midgardschlange an den Mythos von Christus als Angelköder des Leviathan und Odins Selbstopfer an Christi Opfertod. Hinter mancher Göttertrias hat man die Trinität vermutet, hinter dem Weltbaum das Kreuz Christi. Im Ragnarök-Mythos lassen sich Elemente christlicher Eschatologie finden. - Antiker Einfluß könnte u. a. bei Iduns Äpfeln (Äpfel der Hesperiden) vorliegen; Frey zeigt deutliche Bezüge zum thrakischen Zalmoxis, Balder läßt sich aus den asiatischen Fruchtbarkeitsgöttern Adonis, Attis usw. ableiten (oder typologische Übereinstimmung?), und der Löwenwagen der orientalischen Kybele deutet auf den Katzenwagen der Freyja. Die „Weltgeschichte" der Völuspä {Edda) wurde als nordische —>Gnosis bezeichnet und aus iranischen Vorbildern hergeleitet. Der Mythos vom gefesselten Loki könnte aus kaukasischen Vorbildern und die Vorstellung vom Weltbaum aus nordasiatischen Schamanenzeremonien stammen. Schamanistische Züge zeigt auch die Wodangestalt. Der rätselhafte Heimdall ist vielleicht eine Germanisierung des persischen Mithras. Enge Bezüge scheinen zwischen iranischen und germanischen Schöpfungs- und Weltuntergangsgeschichten zu bestehen (—»Iranische Religion). Ferner finden sich Beziehungen zur —»keltischen Religion. Die auffällige Verwandtschaft der germanischen Religion zu indischen und iranischen Vorstellungen läßt sich durch (späte) Wanderung erklären; sie können aber auch in genetischer Verwandtschaft begründet sein, wie sie die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft herausgearbeitet hat. Auf dieser Ba-
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sis konnte man nicht nur Tiwaz/Tyr als alten Himmels- und Hochgott erkennen, sondern verschiedene religiöse Vorstellungen auf indogermanische Zeit zurückführen, so etwa den Mythos vom Raub des Dichtermets oder das wichtige Pferdeopfer. Ein umfassendes Modell der indogermanischen Religion erarbeitete G. Dumézil: Demnach w ä r e die indogermanische Götterwelt nach drei (sozialen) Funktionen gegliedert gewesen (Souveränität, Krieg, Fruchtbarkeit), deren Konsolidierung in einem großen M y t h o s dargestellt w o r d e n wäre. Dieser M y t h o s lebt nach Dumézil im germanischen M y t h o s v o m Asen-Wanen-Krieg mit seiner Verbindung der Götter Odin und Tyr (Souveränität), T h o r (Krieg) u n d W a n e n (Reichtum, Fruchtbarkeit) weiter. Schon in indogermanischer Zeit zeigte die Souveränität einen magisch-dämonischen (Odin) und einen milden, gerechten (Tyr) Aspekt. Diese Spaltung der Souveränität k ö n n t e in den beiden Mythen von Odins V e r b a n n u n g ( O t h i n u s / M y t h o t y n u n d O t h i n u s / O l l e r u s bei Saxo) thematisiert sein. Für den Loki-Balder- u n d den R a g n a r ö k - K o m p l e x der nordischen Mythologie sieht Dumézil einen deutlichen genetischen Z u s a m m e n h a n g mit Mythen der (skythischen) Osseten und den im M a h a b h a r a t a aufbewahrten Mythen der Inder. Auch die Vorstellung von einer nach R a g n a r ö k erneuten Welt läßt sich so als indogermanisches Erbe verstehen.
Diese Rekonstruktion der indogermanischen Religion würde einen guten Teil des späten nordischen Materials als authentisch erweisen und die Geschichte der germanischen Religion (z. B. Zurücktreten des rechtlichen Aspekts der Souveränität in der Person des Gottes Tyr; das hohe Alter Odins) deutlicher werden lassen. Der bedeutende Entwurf Dumézils ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Die Diskussion ist offensichtlich noch nicht abgeschlossen und läßt noch wichtige Ergebnisse erwarten. 6. Religiöse Praxis In stärkerem Maße als bei der Erfassung der mythologischen Vorstellungswelt ist man für die Kenntnis religiöser Handlungen (Magie, Kult, Weissagung) auf archäologische Quellen und Bildmaterial verwiesen. Entsprechend schwierig erweist sich die Deutung vieler Funde, die nur in seltenen Fällen Inhalt und Intention der Handlung deutlich werden lassen. Für die Erforschung von Riten und Gebräuchen (Frühlingsbräuche, Erntebräuche, Geburt, Heirat, Begräbnis) sind auch volkskundliche Materialien von (allerdings vielfach umstrittenem) Interesse. Aus prähistorischer Zeit kennen wir in der Regel nur geopferte Gegenstände, nicht die Opfer selbst. Caesar schätzt die Bedeutung des Opfers bei den Germanen gering ein, mehrere Hinweise auf Opfer bringt Tacitus. Seine Berichte über Menschenopfer lassen sich durch Bodenfunde, Berichte anderer antiker Autoren und spätere nordische Quellen bestätigen. Ungebrochen ist die Tradition verschiedenster Tieropfer, unter denen das Pferdeopfer die größte Bedeutung hat und auf indogermanische Zeit zurückgeht. Tieropfer sind häufig mit Speiseopfern verbunden. Daneben steht das Trankopfer, bei dem Bier und Met eine besondere Rolle spielen. Ob der Brauch des Minnetrinkens aus heidnischer oder christlicher Tradition stammt, ist umstritten. Eine besondere Bedeutung im Rahmen sakraler Handlungen haben Weissagungen und Orakel, von denen verschiedenste Formen bezeugt sind und deren Tradition ungebrochen ist. Unter den magischen Handlungen spielen nach Aussage verschiedener schriftlicher Quellen neben Verfluchungen und Zauber (Zaubersprüche) Beschwörungen, insbesondere Totenbeschwörungen, eine besondere Rolle. Sie werden in kirchlichen Gesetzen verboten und treten in der Edda (Hyndluljod, Baldrs draumar) auf. Ein enger Zusammenhang scheint zwischen Magie, Weissagung und Runenschrift zu bestehen, da den Runenzeichen nicht nur ein Laut-, sondern auch ein Begriffswert (Runennamen) eignet. Möglicherweise fungieren die Runen auch als Zahlenzeichen, die in gematrisch verschlüsselten Inschriften magische Wirkung entfalten können. Besondere magische Wirkung scheint auf Runeninschriften den Wörtern alu [Bier?] und,Lauch' zuzukommen. Runenmagie ist mitunter mit Blutmagie verbunden, die ihrerseits eine gewichtige Rolle gespielt zu haben scheint (Blutheilungen, Kräftigung durch Bluttrinken). Wenig ist über Gebete und Kulttexte bekannt, einige Belege weisen auf kultische Tänze. Träger kultischer Handlungen waren in der Regel Priester, im kleineren Verband wohl auch der Hausvorstand und Sippenälteste. Nach Tacitus (Germ. 7) haben die Priester auf Geheiß der Götter körperliche Strafgewalt und Weissagefunktion; ferner gebieten sie Ruhe
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bei der Thingversammlung. Sie spielen eine Rolle im Nerthus- und in Alcis-Kult (s. o.). Der gotischegudja [Priester] (zum Wort ,Gott') lebt im nordischen Godi fort und der nordische .Kultredner' (ßulr) scheint ältere Vorstufen gehabt zu haben. Man wird auch mit weiblichen Priestern rechnen dürfen, wenngleich die Heiligkeit der Frauen (Tacitus) und die zahlreich bezeugten Wahrsagerinnen (u. a. Chatta, Albruna) weniger eine feste Institution, als die man tische Begabung einzelner Frauen bezeugen. Die germanischen Seherinnen finden ihre Fortsetzung in der Seherin (Völva) und den Zauberinnen des späteren Nordens. Als Kultorte wird man trotz gegenteiliger Aussage des Tacitus (vgl. aber Tacitus: Nerthustempel, Tempel der Tamfana) einfachste Tempel auch für die germanische Frühzeit annehmen dürfen. Isländische und norwegische Tempel (altnordisch hof) bezeugen mehrere Sagas und Ortsnamen, und Adam von Bremen berichtet vom Tempel in Uppsala. Dennoch scheint Tacitus mit Recht die Kulthandlungen im Freien, insbesondere in Hainen, hervorzuheben. Auf (umhegte) Kultplätze im Freien deuten auch schon vorgeschichtliche Opferfunde in Seen, Quellen und Sümpfen, wie sie auch zahlreiche spätere schriftliche Quellen voraussetzen. Auch bei der bekannten Donarseiche (robur Iovis), die —»Bonifatius 724 fällte, ist nicht an eine animistische Baumverehrung (Baumseele), sondern an einen geheiligten Kultplatz zu denken. Auf freiem Platz stand ferner die 772 von —»Karl d. Gr. zerstörte altsächs. irminsül. Bergkulte ergeben sich wohl aus den verschiedenen Wodans- und Donarsbergen, die wiederum mit Vorstellungen von Totenbergen (Grabhügeln) verbunden werden können. In diesen Zusammenhang mögen auch Hügel als Rechtsorte, als Orte der Thing-Versammlung oder als Königssitze gehören. Bekannte Bergheiligtümer wie der Greinberg bei Miltenberg oder der Heiligenberg bei Heidelberg sind allerdings nicht eindeutig den Germanen zuzuweisen. Auf Steinhaufen und Steinaltäre weist das germanische Wort *harug-. Entgegen der Aussage des Tacitus (Germ. 9), die Germanen hätten keine Kultbilder gekannt (aber Tacitus: Bild der Nerthus), rechnet man aufgrund archäologischer Materialien auch für die Frühzeit mit (allerdings sehr einfachen) Götterbildern und Idolen. Im Norden haben wir mehrere Mitteilungen über Götterbilder. Besonders berühmt sind die drei Götterbilder des Tempels von Uppsala (Adam von Bremen). Eine bedeutende Rolle dürfte der germanischen Religion auch im Staats-, Rechts- und Sozialleben zukommen. So wird man schon für die bei Tacitus genannten Kultverbände (s. o.) eine über das Religiöse hinausgehende (politische) Bedeutung annehmen dürfen. Wahrscheinlich sind auch die beiden wesentlichsten politischen Einrichtungen, das —»Königtum und die Thingversammlung, sakral verankert. Ein germanisches Sakralkönigtum wird greifbar in den mythischen Königsstammbäumen vieler germanischer Stämme (Angelsachsen, Langobarden, Goten, Schweden; s. o.), wobei besonders der Hinweis des Jordanes Beachtung verdient, die Vorfahren der Amaler seien Ansis (semidei) gewesen, ein Begriff der vom altnordischen Götternamen des Asen nicht getrennt werden kann. Züge eines Sakralkönigtums zeigen ferner die Mythisierung des Theoderich (gest. 526) und die „Verantwortlichkeit" des schwedischen Königs für Ernte, Wetter usw. (Ernteheil), sowie die damit zusammenhängenden Königsopfer. Die Sakralität der Thingversammlung wird durch den Mars Thingsus (s. o. Abschn. 2), die Funktion der Priester (s. o.) und durch die altnordische Wendung helga ping [das Thing heiligen] nahegelegt. Eine bedeutende Sozialform der Germanen ist das Gefolgschaftswesen. Jungmännerund Kriegerverbände scheinen eine erhebliche Rolle gespielt zu haben. Derartige Verbände praktizierten ekstatische Techniken (z. B. Berserker) und traten als Totenheer auf. Ihre wodanistische Komponente ist deutlich. Schon Tacitus berichtet Germ. 43 von den Hariern, daß sie schwarzbemalt des Nachts kämpften und als Totenheer auftraten. Schließlich scheint die Individualweihe einzelner Menschen an bestimmte Gottheiten eine wesentliche Rolle gespielt zu haben, wie germanische Weihenamen und eine Zahl von Mythen und Sagen erweisen. Tacitus berichtet von den Chatten (Germ. 31), daß sie bis zur Tötung eines Feindes (und darüber hinaus) einen eisernen Ring wie eine Fessel trugen und sich die Haare wachsen ließen. Hier, wie bei späteren verwandten Bräuchen, liegen wohl religiöse Vorstellungen zugrunde.
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Sakralen Charakter scheint auch das Recht gehabt zu haben, wenn man die Strafen zugleich als Sühnopfer für eine beleidigte Gottheit ansieht und sakrale Bindung von Rechtsformen wie dem —»Eid in Betracht zieht. Auch gesellschaftliche Lebensformen wie der —»Friede hatten zumindest als Kultfriede und im Zusammenhang mit Fruchtbarkeit, Wohlstand und politischer Ordnung ihre religiöse Verankerung. Die Bindung von Staats- und Gesellschaftsformen an die Religion ist freilich z. T. heftig beeinsprucht wurden, und der „Sakraltheorie" des germanischen Staats-, Rechts- und Soziallebens steht kontrovers die Auffassung gegenüber, Recht und Gesellschaft seien wesensmäßig profane, nach dem Zweckdenken orientierte Lebensformen gewesen. Literatur Walter Baetke, Art u. Glaube der Germanen, Hamburg 1 9 3 4 . - Ders., Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1 9 4 2 . - Ders., Yngvi u. die Ynglinger. Eine quellenkrit. Unters, über das nordische Sakralkönigtum, 1 9 6 4 (SSAW.PH 1 0 9 / 3 ) . - Helmut Birkhan, Germanen u. Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit, 1 9 7 0 ( S ö A W . P h 2 7 2 ) . - Régis Boyer/Eveline Lot-Falck, Les Religions de l'Europe du Nord, Paris 1 9 7 4 . - René L. M . Derolez, Götter u. Mythen der Germanen, Einsiedeln 1 9 7 4 . - Hannsferdinand Döbler, Die Germanen, Berlin u. a. 1 9 7 5 . - Georges Dumézil, Les Dieux des Germains, Paris 1 9 5 9 . Ders., Loki, Darmstadt 1 9 5 9 . - J a c o b Grimm, Dt. Mythologie, 3 Bde., Gütersloh 1 8 3 5 " 1 8 7 6 , Frankfurt u. a. 1 9 8 1 . - W i l h e l m Grönbech, Religion u. Kultur der Germanen, Hamburg 1 9 3 7 / 3 9 , Darmstadt 8 1 9 7 8 . - Siegfried Gutenbrunner, Die germanischen Götternamen der antiken Inschriften, Halle/S. 1 9 3 6 . - Rolf Hachmann, Die Germanen, Genf 1 9 7 1 . — Karl Helm, Altgermanische Religionsgesch., Heidelberg, 1 1 9 1 3 , II 1 9 3 7 / 5 3 . - Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Frankfurt 1 9 3 4 . - Ders., Germanisches Sakralkönigtum. I. Der Runenstein v. Rök u. die germanische Individualweihe, Tübingen u. a. 1 9 5 2 . - Arend Teunis van Holten, De dood van de Goden, Groningen 1 9 7 7 . - Herbert Jankuhn (Hg.), Vorgesch. Heiligtümer u. Opferplätze in Nord- u. Mitteleuropa, 1 9 7 0 (AAWG.PH 3 / 7 4 ) . - F r i e d r i c h v. derLeyen, Die Götter der Germanen, München 1 9 3 8 . —Nils Lid, Religionshistorie, Stockholm 1 9 4 2 . - Niels Lukman, Frode Fredegot - Den gotiske Fravita, Kopenhagen 1981. — Eugen M o g k , Germanische Religionsgesch. u. M y t h o l o g i e , 3 1 9 2 7 (SG 15). - Rudolf Much, Die Germaniades Tacitus, 2. Aufl. hg. v. H. J a n k u h n / W . Lange, Heidelberg 1 9 6 7 . - Olaf Olsen, Horg, hov og kirke, Kopenhagen 1 9 6 6 . - Ernst Alfred Philippson, Germanisches Heidentum bei den Angelsachsen, Leipzig 1 9 2 9 . - R G A 2 . - Franz Rolf Schröder, Germanentum u. Hellenismus, Heidelberg 1 9 2 4 . - Ders., Altgermanische Kulturprobleme, Berlin 1 9 2 9 . - Ders., Quellenbuch zur germanischen Religionsgesch., Berlin/Leipzig 1 9 3 3 . - Friedrich Schiette, Germanen zw. Torsberg u. Ravenna, Leipzig u. a. 1 9 7 2 . — Klaus v. See, Altnordische Rechtswörter, Tübingen 1 9 6 4 . - Horst Seipp, Entwicklungszüge der germanischen Religionswiss. Von J a c o b Grimm bis Georges Dumézil, Diss. Phil. Bonn 1 9 6 5 , Berlin 1 9 6 8 . Ake V . Ström/Haralds Biezais, Germanische u. Baltische Religion, 1 9 7 5 ( R M 1 9 / 1 ) . - Folke Ström, Nordisk hedendom, Göteborg 1 9 6 1 . - G a b r i e l Turville-Petre, Myth and Religion o f the North, London 1 9 6 4 . - Jan de Vries, Altgermanische Religionsgesch., 2 Bde., Berlin 2 1 9 5 6 / 5 7 = 3 1 9 7 0 .
Alfred Ebenbauer Germanisierung des Christentums Der Begriff „Germanisierung des Christentums" ist erstmals 1 8 9 6 von Arthur Bonus ( 1 8 6 4 - 1 9 4 1 ) als Ausdruck der Forderung nach einer dem deutschen Wesen gemäßen Neugestaltung des Christentums gebraucht worden und steht somit ursprünglich im Kontext der völkischen Bewegung und ihrer religiösen Programmatik (—»Deutsche Christen, —»Deutschgläubige Bewegungen, —»Völkische Bewegung und Christentum). Demgegenüber hat 1 9 1 3 Heinrich Boehmer ( 1 8 6 9 — 1 9 2 7 ) geltend gemacht, daß von einer Germanisierung sinnvoll nur im Zusammenhang der Frage nach geschichtlichen Rückwirkungen der germanischen Aufnahme des Christentums auf dieses selbst geredet werden könne. Diese Versachlichung ist jedoch in der Folgezeit überdeckt worden von dem Bestreben, die Germanisierung als einen andauernden geschichtlichen Prozeß zu verstehen, in dem eine Auseinandersetzung germanischen Geistes mit dem Christentum zu spezifischen Formen christlicher Frömmigkeit und kirchlichen Lebens gefunden habe. N o c h 1 9 5 8 hat Kurt Dietrich Schmidt ( 1 8 9 6 - 1 9 6 4 ) , dessen Beiträge zum Germanisierungsproblem in erster Linie als zeitgebundene Dokumente der Auseinandersetzung mit dem deutschgläubigen V o r w u r f einer Überfremdung des germanischen Wesens durch das Christentum zu verstehen sind, eine solche
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Sakralen Charakter scheint auch das Recht gehabt zu haben, wenn man die Strafen zugleich als Sühnopfer für eine beleidigte Gottheit ansieht und sakrale Bindung von Rechtsformen wie dem —»Eid in Betracht zieht. Auch gesellschaftliche Lebensformen wie der —»Friede hatten zumindest als Kultfriede und im Zusammenhang mit Fruchtbarkeit, Wohlstand und politischer Ordnung ihre religiöse Verankerung. Die Bindung von Staats- und Gesellschaftsformen an die Religion ist freilich z. T. heftig beeinsprucht wurden, und der „Sakraltheorie" des germanischen Staats-, Rechts- und Soziallebens steht kontrovers die Auffassung gegenüber, Recht und Gesellschaft seien wesensmäßig profane, nach dem Zweckdenken orientierte Lebensformen gewesen. Literatur Walter Baetke, Art u. Glaube der Germanen, Hamburg 1 9 3 4 . - Ders., Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1 9 4 2 . - Ders., Yngvi u. die Ynglinger. Eine quellenkrit. Unters, über das nordische Sakralkönigtum, 1 9 6 4 (SSAW.PH 1 0 9 / 3 ) . - Helmut Birkhan, Germanen u. Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit, 1 9 7 0 ( S ö A W . P h 2 7 2 ) . - Régis Boyer/Eveline Lot-Falck, Les Religions de l'Europe du Nord, Paris 1 9 7 4 . - René L. M . Derolez, Götter u. Mythen der Germanen, Einsiedeln 1 9 7 4 . - Hannsferdinand Döbler, Die Germanen, Berlin u. a. 1 9 7 5 . - Georges Dumézil, Les Dieux des Germains, Paris 1 9 5 9 . Ders., Loki, Darmstadt 1 9 5 9 . - J a c o b Grimm, Dt. Mythologie, 3 Bde., Gütersloh 1 8 3 5 " 1 8 7 6 , Frankfurt u. a. 1 9 8 1 . - W i l h e l m Grönbech, Religion u. Kultur der Germanen, Hamburg 1 9 3 7 / 3 9 , Darmstadt 8 1 9 7 8 . - Siegfried Gutenbrunner, Die germanischen Götternamen der antiken Inschriften, Halle/S. 1 9 3 6 . - Rolf Hachmann, Die Germanen, Genf 1 9 7 1 . — Karl Helm, Altgermanische Religionsgesch., Heidelberg, 1 1 9 1 3 , II 1 9 3 7 / 5 3 . - Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Frankfurt 1 9 3 4 . - Ders., Germanisches Sakralkönigtum. I. Der Runenstein v. Rök u. die germanische Individualweihe, Tübingen u. a. 1 9 5 2 . - Arend Teunis van Holten, De dood van de Goden, Groningen 1 9 7 7 . - Herbert Jankuhn (Hg.), Vorgesch. Heiligtümer u. Opferplätze in Nord- u. Mitteleuropa, 1 9 7 0 (AAWG.PH 3 / 7 4 ) . - F r i e d r i c h v. derLeyen, Die Götter der Germanen, München 1 9 3 8 . —Nils Lid, Religionshistorie, Stockholm 1 9 4 2 . - Niels Lukman, Frode Fredegot - Den gotiske Fravita, Kopenhagen 1981. — Eugen M o g k , Germanische Religionsgesch. u. M y t h o l o g i e , 3 1 9 2 7 (SG 15). - Rudolf Much, Die Germaniades Tacitus, 2. Aufl. hg. v. H. J a n k u h n / W . Lange, Heidelberg 1 9 6 7 . - Olaf Olsen, Horg, hov og kirke, Kopenhagen 1 9 6 6 . - Ernst Alfred Philippson, Germanisches Heidentum bei den Angelsachsen, Leipzig 1 9 2 9 . - R G A 2 . - Franz Rolf Schröder, Germanentum u. Hellenismus, Heidelberg 1 9 2 4 . - Ders., Altgermanische Kulturprobleme, Berlin 1 9 2 9 . - Ders., Quellenbuch zur germanischen Religionsgesch., Berlin/Leipzig 1 9 3 3 . - Friedrich Schiette, Germanen zw. Torsberg u. Ravenna, Leipzig u. a. 1 9 7 2 . — Klaus v. See, Altnordische Rechtswörter, Tübingen 1 9 6 4 . - Horst Seipp, Entwicklungszüge der germanischen Religionswiss. Von J a c o b Grimm bis Georges Dumézil, Diss. Phil. Bonn 1 9 6 5 , Berlin 1 9 6 8 . Ake V . Ström/Haralds Biezais, Germanische u. Baltische Religion, 1 9 7 5 ( R M 1 9 / 1 ) . - Folke Ström, Nordisk hedendom, Göteborg 1 9 6 1 . - G a b r i e l Turville-Petre, Myth and Religion o f the North, London 1 9 6 4 . - Jan de Vries, Altgermanische Religionsgesch., 2 Bde., Berlin 2 1 9 5 6 / 5 7 = 3 1 9 7 0 .
Alfred Ebenbauer Germanisierung des Christentums Der Begriff „Germanisierung des Christentums" ist erstmals 1 8 9 6 von Arthur Bonus ( 1 8 6 4 - 1 9 4 1 ) als Ausdruck der Forderung nach einer dem deutschen Wesen gemäßen Neugestaltung des Christentums gebraucht worden und steht somit ursprünglich im Kontext der völkischen Bewegung und ihrer religiösen Programmatik (—»Deutsche Christen, —»Deutschgläubige Bewegungen, —»Völkische Bewegung und Christentum). Demgegenüber hat 1 9 1 3 Heinrich Boehmer ( 1 8 6 9 — 1 9 2 7 ) geltend gemacht, daß von einer Germanisierung sinnvoll nur im Zusammenhang der Frage nach geschichtlichen Rückwirkungen der germanischen Aufnahme des Christentums auf dieses selbst geredet werden könne. Diese Versachlichung ist jedoch in der Folgezeit überdeckt worden von dem Bestreben, die Germanisierung als einen andauernden geschichtlichen Prozeß zu verstehen, in dem eine Auseinandersetzung germanischen Geistes mit dem Christentum zu spezifischen Formen christlicher Frömmigkeit und kirchlichen Lebens gefunden habe. N o c h 1 9 5 8 hat Kurt Dietrich Schmidt ( 1 8 9 6 - 1 9 6 4 ) , dessen Beiträge zum Germanisierungsproblem in erster Linie als zeitgebundene Dokumente der Auseinandersetzung mit dem deutschgläubigen V o r w u r f einer Überfremdung des germanischen Wesens durch das Christentum zu verstehen sind, eine solche
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Betrachtungsweise als grundsätzlich berechtigt, wenn auch methodisch k a u m durchführbar angesehen. N i c h t durchführbar ist sie indessen wegen eines grundsätzlichen Unvermögens, den leitenden Begriff des Germanischen eindeutig zu bestimmen. M i t der letztlich beliebig ausfüllbaren Vorstellung eines Volksgeistes oder einer Volksseele als objektiven geschichtsgestaltenden Trägers völkischer Kontinuität ist sie einem aus der —»Romantik und dem deutschen —»Idealismus stammenden Verständnis von —»Volk verhaftet, das, im Sinne eines Rassenmythos umgebogen, auch die deutschgläubige Bewegung bestimmt, und sie ist mit diesem Volksbegriff konzeptionell hinfällig. Es bleibt die Frage nach M o m e n t e n einer auch das Christentum noch sachlich mitprägenden kulturellen Kontinuität. Ihre Beantwortung stößt auf beträchtliche Schwierigkeiten, weil einmal die vorchristliche germanische Kultur nur unzulänglich dokumentiert ist und zum anderen das Christentum seinerseits als gestaltender Kulturfaktor gewirkt hat, so daß selbst für literarische Zeugnisse des Schicksalsgedankens, der gerne als kennzeichnender N a c h k l a n g germanischer Religiosität gedeutet worden ist, die Frage nach darin zur Geltung k o m m e n d e n , christlich vermittelten antiken Einflüssen gestellt werden muß. Man könnte die häufigen synkretistischen Verschleifungen der Missions- und Ubergangszeit oder Tendenzen einer verstärkten Ritualisierung und Formalisierung der Frömmigkeit wohl als Momente einer akuten Germanisierung ansprechen, ohne daß damit allerdings ein wesentlicher Gewinn an geschichtlicher Einsicht erreicht wird. Daß sich andererseits, wie vor allem K. D. Schmidt auszuführen versucht hat, aus dem Fortwirken eines vermeintlichen germanischen Freundgott-(altnordisch/«//ir«i-) Glaubens eine spezifische Form des Gottes- und Christusverhältnisses herausgebildet habe, ist eine unhaltbare Annahme aufgrund willkürlicher Verallgemeinerung vereinzelter Aussagen der Sagaliteratur des 13. Jh., die zudem wahrscheinlich auch noch christliche Rückprojektionen sind. Das Christentum ist durch die von ihm erfaßten politischen Verbände zunächst als Adels- und Herrschaftsreligion in Gestalt eines neuen Kultes aufgenommen und weitergegeben worden. Die daraus sich ergebende gesellschaftliche und politische Einbindung der Kirche als des Kultträgers wird dabei ermöglicht durch deren aus ihrer eigenen Tradition begründete Bereitschaft, in die sozialen und politischen Funktionen des vorchristlichen Kultes von der kultischen Sicherung des Königsheils (—»Königtum) bis hin zur liturgischen Umrahmung des —»Gottesurteils und zur Sanktionierung des —»Eides einzutreten. Sie führt zur Anpassung an und Eingliederung in eine nach dem Grundsatz einer distributiven Gerechtigkeit durchgestaltete und von einer Adelsherrschaft (—»Adel) politisch regulierte Gesellschaft. Das bringt u. a. eine allerdings auch unter spätrömischen Gegebenheiten schon angebahnte Abschichtung einer aristokratisierten höheren Geistlichkeit mit sich und findet einen Niederschlag in der Ausbildung des hagiographischen Leitbildes des Adels- und Königsheiligen. Die politische Integration läßt neue geschlossene, durch die Reichweite der jeweiligen politischen Herrschaft ausgegrenzte partikularkirchliche Funktionseinheiten im Sinne des sog. frühmittelalterlichen Landeskirchentums entstehen. Durch eigene—»Kirchensprache und trennendes Sonderbekenntnis wird das bei den gotisch-arianischen Kirchen (—»Germanenmission, arianische) besonders augenfällig, weshalb sie von H. v. —»Schubert als Modellfall der Germanisierung betrachtet und in ihrer geschichtlichen Bedeutung erheblich überschätzt worden sind. Kennzeichnend ist die Unmittelbarkeit der königlichen Kirchenherrschaft, die keines besonderen Mediums zur Umsetzung herrscherlichen Wollens in kirchliches bedarf. Es handelt sich nicht lediglich um eine Form der imitatio imperii, zumal - jedenfalls vor und neben der imperialen Dimensionsausweitung des karolingisch-fränkischen und ottonisch-deutschen Königtums - die für den spätantiken Reichskirchengedanken wesentliche Möglichkeit der Aufeinanderbeziehung von kirchlichem und politischem Universalitätsanspruch entfällt. Hier wird eine funktionale Kontinuität sichtbar, die aber nicht so sehr eine Germanisierung des Christentums bedeutet, als vielmehr nur ein Moment der allgemeinen Rahmenbedingungen darstellt, innerhalb deren die Kirche im Ubergang zum —»Mittelalter ihr Leben zu entfalten und nach Ausdrucksformen - sprachlichen und künstlerischen wie liturgischen und rechtlichen — zu suchen hatte. Gleiches zeigt sich am Beispiel des —>Eigenkirchenwesens, in dem Ulrich Stutz ( 1 8 6 8 - 1 9 3 8 ) einen in die Rechtsstruktur der Kirche einbrechenden Germanismus von epochaler Bedeutung hatte sehen wollen, das aber sehr viel wahrscheinlicher als eine im Frankenreich an spätrömische Vorstufen anknüpfende, in England eigenständige und in den Norden als fertige Institution übertragene Begleiterscheinung der entstehenden Grundherrschaft zu beschreiben ist. Jeglicher Präzision beraubt würde der Begriff der Germanisierung angesichts der Entstehung des —»Lehnswesens erst in fränkischer Zeit und nicht allein aus germanischen Voraussetzungen, wollte man Auswirkungen des Lehnsrechtes, wie sie sich etwa im frühmittelalterlichen Verständnis des kirchlichen Amtes und der Amtseinsetzung geltend machen (—»Beneficium, —»Investiturstreit), einfachhin als germanisch bezeichnen. Es ist nicht auszuschließen, aber auch nicht unmittelbar nachzuweisen, daß das Sühneverfahren des
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germanischen Rechts Auswirkungen auf die Ausgestaltung der T a r i f b u ß e und der sich damit verbindenden Kommutations- und Redemptionspraxis (—»Buße V.2) gehabt hat. Falsch ist jedoch auf jeden Fall, aus solcher Annahme zu folgern, es sei damit ein „germanisches E m p f i n d e n " zur Geltung gekommen, nach dem „dingliche Leistung . . . persönliche S c h u l d " ersetzte (K. D. Schmidt: R G G 3 1 4 4 2 ) . Die Wergeidbuße ist von Hause aus keine Kompensation persönlicher Schuld und hätte dazu allenfalls durch Einbeziehung in den K o n t e x t eines Bußverfahrens, also durch formale Christianisierung werden können. Gänzlich verfehlt ist es daher auch, den —»Ablaß als „ein Stück Germanisierung des Christent u m s " (ebd.) anzusehen. Die mangelnde Tragfähigkeit der 1 8 4 5 erstmals von A. F. Ch. —»Vilmar geäußerten und seitdem immer wieder erneuerten Behauptung, germanisches Christentum habe aus einer dabei häufig romantisiert gesehenen Gefolgschaftsethik eine spezifische Weise des Gottesverhältnisses gewonnen, ist 1 9 4 3 in einem für die erneute Versachlichung des Germanisierungsproblems entscheidenden Beitrag von Walter Baetke ( 1 8 8 4 - 1 9 7 8 ) aufgewiesen worden. Sie steht auch im Widerspruch dazu, daß das aus dem christlichen Gottesverhältnis neu legitimierte Königtum eine über die Gefolgsherrschaft hinausführende Machterhöhung erfährt. Theologiegeschichtlich ist neben unbegründeten Vermutungen über germanische Züge des gotischen Arianismus oder Nachwirkungen eines germanischen Schicksalsglaubens in der Prädestinationslehre —»Gottschalks vor allem die Deutung des Werkes Christi durch —»Anselm von Canterbury auf germanische Rechtsvorstellungen zurückgeführt oder als zumindest davon mitbestimmt angesehen worden. Doch hat diese zuerst 1 8 8 0 von H . —»Cremer vorgetragene These von Anfang an auch entschiedenen und begründeten Widerspruch gefunden.
Insgesamt erweist sich bei dem Versuch einer Näherbestimmung die Vorstellung einer Germanisierung des Christentums als ideologisch vorbelasteter, sachlich kaum mit hinreichender methodischer Sicherheit aufzufüllender und damit auch als heuristisches Prinzip für das geschichtliche Verständnis des frühmittelalterlichen Christentums wenig förderlicher Begriff. Literatur Walter Baetke, Arteigene germanische Religion u. Christentum, Berlin/Leipzig 1 9 3 3 2 1 9 3 6 (Der W e g der Kirche 4). - Ders., Die Aufnahme des Christentums durch die Germanen. Ein Beitr. zur Frage der Germanisierung des Christentums: W G 9 ( 1 9 4 3 ) 1 4 3 - 1 6 6 = ders., V o m Geist u. Erbe Thüles. Aufsätze nur nordischen u. dt. Geistes- u. Glaubensgesch., Göttingen 1 9 4 4 , 8 2 - 1 1 7 ; separater Nachdr. Darmstadt 1 9 5 9 (Libelli 4 8 ) . - Ders., Christi. Lehngut in der Sagareligion: B V S A W . P H 9 8 / 6 ( 1 9 5 1 ) 7 - 5 5 = ders., KS, Weimar 1 9 7 3 , 3 1 9 - 3 5 0 . - Ders., Bespr. v. Schmidt, Germanischer Glaube (s. u.): H Z 1 7 1 ( 1 9 5 1 ) 1 1 2 - 1 1 8 = KS 3 7 0 - 3 7 4 . - H e i n r i c h Boehmer, Das germanische Christentum: T h S t K r 8 6 ( 1 9 1 3 ) 1 6 5 - 2 8 0 . - Arthur Bonus (anonym), V o n Stöcker zu N a u m a n n . Ein W o r t zur Germanisierung des Christentums, Heilbronn 1 8 9 6 . - Karl Bosl, Die germanische Kontinuität im dt. M A , Adel König - Kirche: ders., Frühformen der Gesellschaft im ma. Europa, M ü n c h e n / W i e n 1 9 6 4 , 8 0 - 1 0 5 . Ders., Der „Adelsheilige". Idealtypus u. Wirklichkeit, Gesellschaft u. Kultur im merowingerzeitlichen Bayern des 7. u. 8. J h . : Spéculum historiale. FS J o h a n n e s Spörl, Freiburg/München 1 9 6 5 , 1 6 7 - 1 8 7 = M ö n c h t u m u. Gesellschaft im Frühmittelalter, hg. v. Friedrich Prinz, 1 9 7 6 ( W d F 3 1 2 ) 3 5 4 - 3 8 6 . Hermann Cremer, Die Wurzeln des Anselmischen Satisfactionsbegriffes: T h S t K r 5 3 ( 1 8 8 0 ) 7 - 2 4 . H a n s Eggers, Die Annahme des Christentums im Spiegel der dt. Sprachgeschichte: K G M G I I / l , 1 9 7 8 , 4 6 6 - 5 0 4 . - D e n n i s Howard Green, T h e Carolingian Lord. Semanticstudies on four Old High German words. Balder, frô, truhtin, hêrro, Cambridge 1 9 6 5 . - Karl H a ü c k , Die gesch. Bedeutung der germanischen Auffassung v. Königtum u. Adel: X l e Congrès international des sciences historiques. Rapports, G ö t e b o r g , III 1 9 6 0 , 9 6 - 1 2 0 . - Ildefons Herwegen, Antike, Germanentum, Christentum, 1 9 3 2 (BSH 1 ) . - Karl Heussi, Die Germanisierung des Christentums als hist. Problem: Z K G 5 0 ( 1 9 3 4 ) 1 1 9 - 1 4 5 . Erich Hofmann, Die hl. Könige bei den Angelsachsen u. den skandinavischen Völkern, Neumünster 1 9 7 5 (Quellen u. Forschungen zur Gesch. Schleswig-Holsteins 6 9 ) . - Hans Peter Kopf, Die Beurteilung v. Anselms „Cur Deus h o m o " in der prot. deutschsprachigen Literatur seit F. Ch. Baur. Diss. T h e o l . Basel 1 9 5 6 . - Hans Kuhn, Das Fortleben des germanischen Heidentums nach der Christianisierung: S S A M 14 ( 1 9 6 7 ) 7 4 3 - 7 5 7 . - Wolfgang Lange, Stud. zur christl. Dichtung der Nordgermanen 1 0 0 0 - 1 2 0 0 , Göttingen 1 9 5 8 (Palaestra 2 2 2 ) . - Anton Ludwig M a y e r , Altchristi. Liturgie u. Germanentum: J L W 5 ( 1 9 2 5 ) 8 0 - 9 6 = ders., Die Liturgie in der europ. Geistesgesch., Darmstadt 1 9 7 1 , 1 - 1 7 . - E i n a r Molland, Trosskiftet: K L N M 18 ( 1 9 7 4 ) 7 0 2 - 7 1 0 . - Wilhelm Neuss, Das Problem des M A , Kolmar 1 9 4 4 . - Fredrik Paasche, M o t e t mellom hedendom og kristendom i Norden. Olaus Petriforelesninger ved Uppsala universitet vâren 1 9 4 1 , utgitt ved Dag S t r ö m b ä c k , Stockholm 1 9 5 8 . - Knut Schäferdiek, Das Heilige in Laienhand. Z u r Entstehungsgesch. der fränkischen Eigenkirche: V o m Amt des Laien in Kirche u. Theol. FS Gerhard Krause, Berlin/New Y o r k 1 9 8 2 , 1 2 2 - 1 4 0 . - Ders. u. a., Art. Christentum der Bekehrungszeit: R G A 2 4 ( 1 9 8 1 ) 5 0 1 - 5 9 9 . - W a l t e r Schlesinger,Herrschaftu. Gefolgschaft in dergermanisch-dt. Verfassungsgesch.: H Z 1 7 6 ( 1 9 5 3 ) 2 2 5 - 2 7 5 = ders., Beitr. zur dt. Verfas-
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Gerontologie
sungsgesch. des MA, Göttingen, I 1963, 9 - 5 2 = ders., Herrschaft u. Staat im MA, hg. v. Hellmut Kämpf, Darmstadt 1956 = 1 9 7 4 (WdF 2) 1 3 5 - 1 9 0 . - Kurt Dietrich Schmidt, Germanischer Glaube u. Christentum, Göttingen 1948 (darin bes. 6 6 - 8 4 : Die Germanisierung des Christentums im frühen MA). - Ders., Art. Germanisierung des Christentums: RGG 3 2 (1958) 1 4 4 0 - 1 4 4 2 . - Hans v. Schubert, Staat u. Kirche in den arianischen Königreichen u. im Reiche Chlodwigs, 1912 (HB 26). - Ders., Zur Germanisierung des Christentums. Erwägungen u. Ergebnisse: FG Adolf v. Harnack, Tübingen 1921, 3 8 9 - 4 0 4 . - Reinhold Seeberg, Christentum und Germanentum, Leipzig 1914. - Ulrich Stutz, Die Eigenkirche als Element ma.-germanischen Kirchenrechts, Berlin 1895; nachgedr. Darmstadt 1955 (Libelli 28). - August Friedrich Christian Vilmar, Dt. Altertümer im Heliand als Einkleidung der ev. Geschichte, Marburg 1845 2 1 8 6 2 . - Gerd Wolfgang Weber, Wyrd. Stud. zum Schicksalsbegriff der altengl. u. altnordischen Literatur, Bad Homburg 1969 (Frankfurter Beitr. zur Germanistik 8). - Patrick Wormald, Bede, Beowulf and the conversion of the Anglo-Saxon aristocracy: Bede and Anglo-Saxon England, ed. R.T. Farrell, Oxford 1978 (British Archeological Reports, British series 46) 3 2 - 9 5 .
Knut Schäferdiek Gerontologie 1. Der organische Vorgang des Alterns Glauben (Literatur S. 531)
2. Altern als sozialer Vorgang
3. Tod
4. Altenhilfe und
1. Der organische Vorgang des Alterns Unter Altern verstehen wir den Leistungswandel, der nach der Fortpflanzungsphase beginnt und den ganzen Organismus betrifft. Ein Leistungsabbau tritt erst in höherem Alter in Zusammenhang mit der Vergreisung ein. Die Organe altern unterschiedlich, unabhängig von ihrem kalendarischen Alter. Altern ist somit kein einheitliches Geschehen, sondern läuft in Teilprozessen ab. Die verschiedenen Theorien erfassen immer nur Teilaspekte des Alterns. Um als zum „Altern gehörend" anerkannt zu werden, muß ein Prozeß die folgenden vier Bedingungen erfüllen: Er muß universell sein, also alle Individuen aller Art erfassen. Er muß intrinsisch sein, also nicht nur durch Umwelteinfluß bedingt sein. Er muß progressiv sein. Außerdem muß er für den Organismus schädlich sein, d.h. die Vitalität des Organismus negativ beeinflussen. Obwohl die experimentelle Gerontologie eine Fülle von Beiträgen geliefert hat, ist die primäre Ursache des Alterns nicht bekannt. Die experimentelle Gerontologie hat gezeigt, daß das wesentliche all dieser Erscheinungen eine Abnahme der Adaptationsfähigkeit ist. Hierunter verstehen wir die Gesamtheit der Regulationsmechanismen (nervöse, hormonale, intrazelluläre), die an der Steuerung des Grundstoffwechsels beteiligt sind und so ein dynamisches Gleichgewicht, das man Homöostase nennt, erhalten. Beim Altern lassen diese Anpassungsmechanismen mehr und mehr nach; dadurch kommt es zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Schädigung der einzelnen Organe. Die Wiederherstellung des notwendigen Gleichgewichts, eben der Homöostase, wird immer unvollständiger, der Funktionsverlust immer stärker. Dennoch ist der menschliche Organismus bis ins hohe Alter, wenn er nicht krank wird, funktions- und lebensfähig. Besonders eindrücklich sehen wir diese Veränderungen am Gehirn. Das Gehirn, verantwortlich für die Kontinuität der Individualität, unterliegt einem besonderen Aiternsprozeß. Die Nervenzellen des Gehirns sind teilungsunfähig im Gegensatz zu den anderen Körperzellen. Täglich gehen von 15 Milliarden Nervenzellen tausende zugrunde, d.h. bis zum 70sten Lebensjahr etwa 20% der vorhandenen. Dabei bleibt die volle Nervenfunktion bis ins hohe Alter erhalten. Das Reservoir ist unerschöpflich. Im Vordergrund steht nicht der Verlust von Hirnzellen, sondern eine strukturelle Umwandlung der Nervensubstanz. Im alternden Gehirn spielt sich also ein produktives Geschehen ab und nicht eine Regression. Ebenso wenig darf man ein alterndes Gehirn etwa mit einem kranken gleichsetzen (z.B. senile Demenz). Die Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse der Nervensubstanz wirken dem Zellenverlust entgegen und ermöglichen neue Lernprozesse sowie schöpferische Aktivitäten. Ständiges Üben und Lernen ist allerdings notwendig, weil es anderenfalls zu Funktionsstörungen kommen kann. Der Mensch verfügt im Alter über einen großen Erfahrungsschatz, der jederzeit abrufbar
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Gerontologie
sungsgesch. des MA, Göttingen, I 1963, 9 - 5 2 = ders., Herrschaft u. Staat im MA, hg. v. Hellmut Kämpf, Darmstadt 1956 = 1 9 7 4 (WdF 2) 1 3 5 - 1 9 0 . - Kurt Dietrich Schmidt, Germanischer Glaube u. Christentum, Göttingen 1948 (darin bes. 6 6 - 8 4 : Die Germanisierung des Christentums im frühen MA). - Ders., Art. Germanisierung des Christentums: RGG 3 2 (1958) 1 4 4 0 - 1 4 4 2 . - Hans v. Schubert, Staat u. Kirche in den arianischen Königreichen u. im Reiche Chlodwigs, 1912 (HB 26). - Ders., Zur Germanisierung des Christentums. Erwägungen u. Ergebnisse: FG Adolf v. Harnack, Tübingen 1921, 3 8 9 - 4 0 4 . - Reinhold Seeberg, Christentum und Germanentum, Leipzig 1914. - Ulrich Stutz, Die Eigenkirche als Element ma.-germanischen Kirchenrechts, Berlin 1895; nachgedr. Darmstadt 1955 (Libelli 28). - August Friedrich Christian Vilmar, Dt. Altertümer im Heliand als Einkleidung der ev. Geschichte, Marburg 1845 2 1 8 6 2 . - Gerd Wolfgang Weber, Wyrd. Stud. zum Schicksalsbegriff der altengl. u. altnordischen Literatur, Bad Homburg 1969 (Frankfurter Beitr. zur Germanistik 8). - Patrick Wormald, Bede, Beowulf and the conversion of the Anglo-Saxon aristocracy: Bede and Anglo-Saxon England, ed. R.T. Farrell, Oxford 1978 (British Archeological Reports, British series 46) 3 2 - 9 5 .
Knut Schäferdiek Gerontologie 1. Der organische Vorgang des Alterns Glauben (Literatur S. 531)
2. Altern als sozialer Vorgang
3. Tod
4. Altenhilfe und
1. Der organische Vorgang des Alterns Unter Altern verstehen wir den Leistungswandel, der nach der Fortpflanzungsphase beginnt und den ganzen Organismus betrifft. Ein Leistungsabbau tritt erst in höherem Alter in Zusammenhang mit der Vergreisung ein. Die Organe altern unterschiedlich, unabhängig von ihrem kalendarischen Alter. Altern ist somit kein einheitliches Geschehen, sondern läuft in Teilprozessen ab. Die verschiedenen Theorien erfassen immer nur Teilaspekte des Alterns. Um als zum „Altern gehörend" anerkannt zu werden, muß ein Prozeß die folgenden vier Bedingungen erfüllen: Er muß universell sein, also alle Individuen aller Art erfassen. Er muß intrinsisch sein, also nicht nur durch Umwelteinfluß bedingt sein. Er muß progressiv sein. Außerdem muß er für den Organismus schädlich sein, d.h. die Vitalität des Organismus negativ beeinflussen. Obwohl die experimentelle Gerontologie eine Fülle von Beiträgen geliefert hat, ist die primäre Ursache des Alterns nicht bekannt. Die experimentelle Gerontologie hat gezeigt, daß das wesentliche all dieser Erscheinungen eine Abnahme der Adaptationsfähigkeit ist. Hierunter verstehen wir die Gesamtheit der Regulationsmechanismen (nervöse, hormonale, intrazelluläre), die an der Steuerung des Grundstoffwechsels beteiligt sind und so ein dynamisches Gleichgewicht, das man Homöostase nennt, erhalten. Beim Altern lassen diese Anpassungsmechanismen mehr und mehr nach; dadurch kommt es zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Schädigung der einzelnen Organe. Die Wiederherstellung des notwendigen Gleichgewichts, eben der Homöostase, wird immer unvollständiger, der Funktionsverlust immer stärker. Dennoch ist der menschliche Organismus bis ins hohe Alter, wenn er nicht krank wird, funktions- und lebensfähig. Besonders eindrücklich sehen wir diese Veränderungen am Gehirn. Das Gehirn, verantwortlich für die Kontinuität der Individualität, unterliegt einem besonderen Aiternsprozeß. Die Nervenzellen des Gehirns sind teilungsunfähig im Gegensatz zu den anderen Körperzellen. Täglich gehen von 15 Milliarden Nervenzellen tausende zugrunde, d.h. bis zum 70sten Lebensjahr etwa 20% der vorhandenen. Dabei bleibt die volle Nervenfunktion bis ins hohe Alter erhalten. Das Reservoir ist unerschöpflich. Im Vordergrund steht nicht der Verlust von Hirnzellen, sondern eine strukturelle Umwandlung der Nervensubstanz. Im alternden Gehirn spielt sich also ein produktives Geschehen ab und nicht eine Regression. Ebenso wenig darf man ein alterndes Gehirn etwa mit einem kranken gleichsetzen (z.B. senile Demenz). Die Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse der Nervensubstanz wirken dem Zellenverlust entgegen und ermöglichen neue Lernprozesse sowie schöpferische Aktivitäten. Ständiges Üben und Lernen ist allerdings notwendig, weil es anderenfalls zu Funktionsstörungen kommen kann. Der Mensch verfügt im Alter über einen großen Erfahrungsschatz, der jederzeit abrufbar
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und verwertbar ist. Geistige Leistungen und kulturelle Werte können bis ins hohe Alter geschaffen werden; und gerade die Kultur bedarf der Weitergabe von Älteren an Jüngere. Neue Informationen werden vom alternden Gehirn zwar langsamer programmiert; andererseits wächst die Möglichkeit der Improvisation und der Kombination von Erfahrungsinhalten. Der Mensch ist bis zum Tode nicht determiniert oder an Verhaltensmuster gebunden. Er ist Herr seiner eigenen Entscheidungen, er kann Dinge von ihrem Grund her erkennen und erklären. Im höheren Alter allerdings fallen die weichen, beweglichen Charaktereigenschaften weg, seine eigentliche Struktur kommt stärker zur Geltung. Die Flexibilität weicht zunehmender Starrheit. Diese Unfähigkeit,sich auf neue Handlungs- und Denkweisen einzulassen, nennen wir „Rigidität". Beim Mensch und Tier beruht Altern auf genetischen Grundlagen und ist somit biologischen Gesetzen unterworfen. Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch aber die Möglichkeit, seinen Lebenslauf durch motiviertes Handeln selber zu bestimmen, allerdings in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten. Die Selbstgestaltung der Änderungsprozesse, die Erwachsen- und Älterwerden mit sich bringt, wird von der Leistungsgesellschaft erheblich eingeschränkt. Altern bedeutet, sich zu verändern, im biologischen, im psychologischen, im seelischgeistigen Bereich. Anfänglich beschränkte sich die Altersforschung auf die Betrachtung körperlicher Veränderungen. So entstand ein falsches Bild von älter werdenden Menschen, das bis heute die allgemeine Meinung beherrscht. Danach bedeutet Altern Abstieg, körperlich wie seelisch. Außerdem konstatierten die entsprechenden Untersuchungen ein Nachlassen der geistigen und intellektuellen Fähigkeiten. Erst in den 2 0 e r Jahren weitete sich die Aiternsforschung interdisziplinär aus. 1 9 2 8 wurde in H a r vard/USA ein Zentrum für gerontologische Forschung gegründet. Medizin, Soziologie, Physiologie und Psychologie leisteten jetzt Forschungsbeiträge durch Längsschnittbeobachtungen. Hierbei werden die Zusammenhänge zwischen körperlicher Entwicklung im Erwachsenenalter einerseits sowie psychischer und sozialer Entwicklung andererseits erforscht. Tews definiert Gerontologie als „die multidisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der Prozesse beschäftigt, die sich während des Alterns und im Alter im Organismus und in seiner Beziehung zu seiner Umgebung vollziehen" (Tews 3 ) . Dabei hat sich ein spezieller Forschungszweig herausgebildet: die Geriatrie. Sie beschäftigt sich mit Alterskrankheiten, mit der Rehabilitation und der Prävention. Pflege und Betreuung älterer Menschen haben hier V o r r a n g . D a sich anfänglich in erster Linie die Medizin und hier speziell die Psychiatrie mit der Altersforschung beschäftigten, trat eine Vermischung auf von normalen biologischen Alterns- und Abnutzungserscheinungen mit Alterskrankheiten. Querschnittsuntersuchungen zeigten darüberhinaus ein Nachlassen aller Fähigkeiten bei über 50jährigen Menschen im Vergleich mit jüngeren. So entstand das „Defizitmodell". Erst in den letzten zwanzig Jahren wurden Längsschnittuntersuchungen durchgeführt, bei denen auf den gesamten Lebenslauf Bezug genommen wurde. Neben Bildung- und Gesundheitszustand berücksichtigte man den sozialen Status sowie den Beruf. Die Ergebnisse zeigten das Gegenteil von den Querschnittsuntersuchungen, von einem Abstieg oder einem Defizit konnte keine Rede sein: Der älter werdende Mensch kann seine volle Leistungsfähigkeit unter günstigen Voraussetzungen bis ins hohe Alter erhalten, es treten nur Umstrukturierungsprozesse ein.
2. Altern als sozialer
Vorgang
Immer wieder wird von alten Menschen als einer „Randgruppe" gesprochen. Die Problematik älterer Menschen wird aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus genommen, ihre Integration nach der Pensionierung verhindert. Gerade die soziologische Forschung konnte aber zeigen, dal? es „den alten Menschen" nicht gibt, sondern differenzierte Individuen, die sich in ihrem gesamten Lebensentwurf voneinander unterscheiden. Das kalendarische Alter ist dabei nicht entscheidend. Die mehrmals im Leben notwendigen Anpassungsvorgänge an neue Rollenfindungen können bis ins hohe Alter erfolgen. Neben einem biologischen ist Altern also vor allen Dingen ein sozialer Prozeß, bedingt durch ökonomische und kulturelle Faktoren. Dabei sind die Erlebnisweisen und das Verhalten älterer Menschen nicht nur abhängig vom sozialen und beruflichen Status, sondern auch von der Qualität der —»Arbeit an sich. Monotone maschinelle Arbeit ohne die Möglichkeit eigener Entscheidungen bzw. Verant-
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Gerontologie
w o r t u n g w i r k t sich negativ auf das W o h l b e f i n d e n des Menschen aus. Fremdbestimmung und Sachzwänge verhindern eine kreative Daseinserweiterung. Für ein positives Altern ergibt sich also eine deutliche Abhängigkeit v o n der jeweiligen gesellschaftlichen Schicht. Gute Schulbildung, ein erfülltes Berufsleben, materielle und soziale Absicherungen, gute Gesundheit kennzeichnen die M i t t e l - und Oberschicht. H ä u f i g e K o n t a k t e zu anderen Menschen, auch über die Familie hinaus, k o m m e n dazu. D i e Chancen, sich neuen Rollen auch im Alter anpassen zu können, werden dadurch wesentlich bestimmt. D i e starke A b h ä n g i g k e i t von der Lohnarbeit prägt dagegen das Leben der unteren Schichten, s o w o h l in den familiären Zusammenhängen als auch außerhalb. In der —»Familie w e r d e n die gesamtgesellschaftlich gemachten Erfahrungen v o n Abhängigkeit, M a c h t und G e w a l t reproduziert. G e r a d e die Familie aber soll den Ausgleich bieten für die sinnentleerte, unbefriedigende A r b e i t . D i e folglich auftretende Isolierung von gesamtgesellschaftlichen Bezügen trifft besonders
die
—•Frau, die neben Hausarbeit und Kindererziehung kaum die M ö g l i c h k e i t persönlicher Entfaltung hat. Ist sie außerhalb des Hauses ebenfalls tätig, tritt jedesmal eine D o p p e l - b z w . Mehrfachbelastung ein. Diese Isolation w i r k t sich besonders im Alter deutlich aus. Ein Rückzug aus etlichen Verpflichtungen findet z w a r bei jedem älter werdenden Menschen statt, die Unterschicht ist aber wesentlich stärker d a v o n b e t r o f f e n als die M i t t e l - und O b e r schicht. D i e gerontologische Forschung hat nur dann die W i r k l i c h k e i t des Alterns erfaßt, w e n n sie die W a n d e l b a r k e i t des Individuums und seine Begrenztheit erkennt. W e n n ausschließlich Aktivität und Fortschreiten betont, die M ö g l i c h k e i t e n des Verzichts und der Schuld aber ausgelassen w e r d e n , trägt die G e r o n t o l o g i e zur Zerstückelung des Menschenbildes bei und nicht zur Ganzheit. D i e einseitige Herausstellung v o n K o n f l i k t b e w ä l t i g u n g im L a u f e des Lebens ohne Anerkennung der M o t i v a t i o n f ü r neue Z i e l e , die den g e w o h n t e n widersprechen, blendet die M ö g l i c h k e i t des Scheiterns und Versagens aus. N e b e n diesen individuell unterschiedlichen Faktoren, die einen Lebenslauf prägen, gibt es gesamtgesellschaftliche „ E p o c h a l e f f e k t e " , die alle Altersgruppen gleichzeitig treffen: die m o d e r n e Technik z.B., die Bedrohung durch A t o m k r i e g e , die Umweltzerstörung. D i e Reaktion des einzelnen kann dabei Passivität, M a c h t l o s i g k e i t und Resignation sein, aber auch Auflehnung und der Wunsch, die Situation zu ändern. H i e r f ü r ist das kalendarische A l t e r sicher nicht entscheidend, sondern Selbständigkeit im Denken und Handeln. Es gibt verschiedene theoretische Ansätze, die sich mit einer positiven Bewältigung der Alternsrolle auseinandersetzen. Einer ist die Aktivitätstheorie, deren Hauptvertreter Tartier ist. Er geht davon aus, daß die größte Zufriedenheit dann eintritt, wenn der Mensch aktiv bleibt, etwas leisten kann, wenn er eine Aufgabe behält, die seinem Leben einen Sinn gibt, wenn er eine Funktion in der Gesellschaft hat. Es würde, so die Theorie, keine Isolation oder Vereinsamung nach der Pensionierung auftreten, wenn die Aktivitäten weiter aufrechterhalten werden, eventuell durch neue Funktionen, die der Betroffene dann übernehmen muß. Cumming/Henry entwickelten dagegen die Disengagementtheorie, die besagt, daß Wohlbefinden durch Reduzierung der sozialen Kontakte hervorgerufen wird, daß gerade das Zurückziehen aus verantwortlichen Tätigkeiten für die älteren Menschen wichtig ist und daß jede Belastung nur ein neues Spannungsverhältnis bzw. Unzufriedenheit hervorruft. Der ältere Mensch könne sich mit dem Ende seines Lebens nur dann positiv auseinandersetzen, wenn er sich rechtzeitig aus allen Verpflichtungen zurückziehe. Alle mitmenschlichen Beziehungen sollten vermindert werden, die noch verbleibenden müßten eine qualitative Veränderung erfahren. Eine Modifizierung der Disengagementtheorie wurde von Havinghurst u.a. entwickelt, die nicht von einer Abnahme sozialer Aktivitäten sprachen, sondern vielmehr von einer qualitativen Umstrukturierung, einer Veränderung des Engagements bei gleichbleibenden Rollenaktivität. Die individuellen Unterschiede werden hier stärker betont: So wird gesagt, daß es einen Teil der Menschen mehr zufriedenstellt, sich von Aktivitäten zurückzuziehen, während ein anderer Teil Aktivitäten benötigt. Daß bei der genannten Problemstellung schichtspezifische Aspekte ganz entscheidend berücksichtigt w e r d e n müßten, k o m m t bei diesen theoretischen Ansätzen kaum z u m Ausdruck. So neigen M e n s c h e n der unteren Schichten sicher früher zum Rückzug aus Aktivitäten und Berufsleben, w e i l ihre A r b e i t ihnen eher Last statt Selbstverwirklichung w a r . D i e Disengagementtheorie bestätigt außerdem nur eine traurige gesellschaftliche Realität: Sinnerfüllende und sinnvolle A u f g a b e n b z w . Aktivitäten w e r d e n älteren Menschen gar nicht
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erst angeboten. So ist es k a u m verwunderlich, wenn Längsschnittuntersuchungen zeigen, daß älter werdende Menschen sich vom gesellschaftlichen Leben abwenden und in ihr subjektives Ich zurückziehen. Allerdings wird auch hier immer wieder betont, daß aktive ältere Menschen zufriedener sind; wichtig ist dabei natürlich, daß die Sache, f ü r die der aktive Einsatz geleistet wird, selbst ausgewählt werden kann und nicht Pflichtcharakter hat. So haben neuere Untersuchungen gezeigt, daß weit über 8 0 % der arbeitenden Bevölkerung in der Bundesrepublik z . Z t . die flexible Altersgrenze nach unten ausnützen und schon kurz nach der Pensionierung mit ihrer Situation „zufrieden" ist. Als vorrangiger Grund fü r das frühzeitige Ausscheiden wird Krankheit angegeben, über 5 0 % der arbeitenden Bevölkerung werden vorzeitig invalidisiert. Aber auch Gesunde geben sich überwiegend mit der unteren Altersgrenze zufrieden. N u r w o Motivation und Interesse für die selbstgewählte Aufgabe vorhanden sind, stellt sich wirkliches Wohlbefinden ein. In allen Schichten rangieren bei den selbstgewählten „Aktivitäten" Hobbies an erster Stelle: Gartenpflege, Spazierengehen, Fernsehen, Sammeln und Reisen. Die Gesellschaft unterstützt durch ihre Organisation den Rückzug der älteren Menschen: Sie sollen Platz machen f ü r die jüngeren. T h o m a e und Lehr vertreten die Auffassung, daß bei den meisten pensionierten Menschen zunächst ein Disengagement eintritt, daß aber nach ein bis zwei Jahren erneut Aktivitäten entfaltet werden. Sie berücksichtigen dabei aber nicht ausreichend, daß Frauen und M ä n n e r der oberen Gesellschaftsschichten aufgrund ihrer besseren Bildung, ihres gesicherten sozialen Status und mit ihren ausgedehnten Sozialkontakten leichter neue Aktivitäten entwickeln können als Menschen der unteren Schicht, die allein schon durch ihren Beruf zur Passivität verurteilt waren. Die Fähigkeit, seine Zeit nach der Berufsaufgabe aktiv zu gestalten, m u ß bereits in jungen Jahren gelernt und ausgebildet werden. Gerade die nicht selbst verschuldete geringere Lernfähigkeit von Menschen aus der Unterschicht ist ein besonderes Hindernis f ü r weitere Lernprozesse im Alter. Die Leistungsgesellschaft h a t die Unterschicht bewußt zu einer Randgruppe mit Funktionsverlust degradiert und damit dem einzelnen die Möglichkeit des erfolgreichen Alterns genommen. Wenn die vorausgegangenen Lebensbedingungen den einzelnen bereits so geschädigt haben, daß er die Identität der R a n d g r u p p e annimmt, beweist das noch nicht, d a ß nicht doch neue Aktivitäten möglich sind. Andere Lernprozesse sind d a f ü r allerdings Voraussetzung. Wie wir gesehen haben, h ä n g t die Bewältigung der Altersrolle wesentlich von der gesamten Entwicklung des Menschen ab, von seinem individuellen Lebensweg innerhalb bestimmter gesellschaftlicher und sozialisationsbedingter Determinanten. Entwicklung ist also nicht nur Entfaltung von Anlagen, sondern eine Interaktion des sich entwickelnden Organismus mit seinen Wertvorstellungen in einer spezifischen sozialen Situation. Gelungenes Altern hängt von körperlichen und geistigen Aktivitäten, von sozialem Engagement genau so ab wie von einem zufriedenstellenden Beruf oder einer positiven Familienstruktur. Allein dieses Schema zeigt bereits, daß bestimmte Teile der Bevölkerung von vornherein benachteiligt sind. Von den sozial unteren Schichten und ihren Einschränkungen sprachen wir schon, eine andere große Gruppe sind die Frauen, die, festgeschrieben auf ihre Rolle als H a u s f r a u und M u t t e r , dazu erzogen werden, ihre Identität über andere zu definieren. D a ß dabei Kreativität und die Entschlußkraft, sich auf neue Entscheidungen oder Entwürfe einzulassen, verschüttet werden, ist das Ergebnis. Allerdings gelingt heutzutage auch der Mittel- u n d Oberschicht kein sinnerfülltes Altern mehr, obwohl alle Voraussetzungen d a f ü r gegeben wären. K o n s u m w a h n , Prestige, Konkurrenz und Beziehungslosigkeit waren bis zu ihrer Pensionierung der M o t o r ihrer M o t i v a t i o n e n , aller perspektivischen Gedanken. Allein die Tatsache, den Beruf nicht mehr auszuüben, ä n d e r t diese Denk- und Lebensstrukturen nicht. Die Forschung beweist an dieser Stelle, d a ß die Motivationen des Erwachsenenalters kontinuierlich bis ins hohe Alter dieselben bleiben.
Der alte Mensch braucht mehr Zeit, um auf neue Situationen zu reagieren. Die Umstellungsgeschwindigkeit läßt nach, besonders wenn nicht genügend Interesse an der neuen Situation vorhanden ist. Die daraus entstehende Unsicherheit verstärkt die Z u r ü c k h a l t u n g und Vorsicht, sich neu zu engagieren. Das Erfahrungswissen bleibt dabei erhalten. Fatal für
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die Älteren sind die inhumanen Anforderungen der technologischen Gesellschaft an den Menschen. Nur der Nutzwert des einzelnen zählt und nicht seine menschlichen Eigenschaften, seine Solidarität, seine Emotionen, seine Erfahrungswelt. Körperliche Veränderungen treten natürlich im Alter auf, aber sie sind nicht zu überschätzen: Umlagerungen von Stoffwechselprodukten finden im Körper statt, das Skelettsystem ändert sich ebenfalls, die Heilungsfähigkeit von Wunden und Infekten ist verzögert, die Immunitätslage wird verändert und gemindert, besonders gegen Infektionskrankheiten. Die Herz- und Atemtätigkeit ist Belastungen gegenüber anfälliger. Die Zellkernerneuerung in den Organen wird weniger. Das Informationssystem wird beeinträchtigt, so daß die Vitalvorgänge langsamer ablaufen. Das Reaktionsvermögen läßt nach, oft stimmt das subjektive Befinden nicht mit dem objektiven Untersuchungsbefund überein. Die sexuelle Aktivität bleibt bis zum 75sten Lebensjahr bei Gesunden weitgehend erhalten. All die biologischen Altersveränderungen können in Krankheiten übergehen. Entscheidend ist dann, daß die Person in ihrem Kern nicht getroffen wird und ihren Lebenssinn, wenn auch eingeschränkt, verwirklichen kann. Nur 3 bis 4 % der 6 0 - bis 65jährigen in der B R D werden zum Pflegefall. Auch die Z a h l der H e i m b e w o h n e r liegt zur Zeit noch unter 1 0 % . Zwei Drittel der älteren Generation sind bei gesundem Aktivitätspotential von der Gesellschaft jedoch ausgeschlossen und bekommen keine Möglichkeit mehr, befriedigende Aufgaben zu erfüllen.
Das Konsum- und Freizeitangebot suggeriert, daß die Zeit nach der Berufsaufgabe „positiv" erlebt werde, die gerontologische Forschung spricht vom „Wohlbefinden". Es muß aber gelingen, jedem alternden Menschen eine menschlich humane Existenz an seinem Lebensende zu ermöglichen, die nicht einen vorzeitigen sozialen Tod bedeutet. Dazu sind sicher Motivationen erforderlich, die nicht allein mit den Begriffen „Zufriedenheit" und „Wohlbefinden" formuliert werden können. Nicht nur individuelles, sondern auch historisches und gesellschaftliches Schicksal unterscheidet die Schichten. Es genügt für die Altenarbeit nicht, diese Tatsachen durch Forschungsergebnisse zu belegen oder Unterschiede ständig zu betonen. Der einzelne hat keine Möglichkeit, aus dem Randgruppendasein auszubrechen, das gerade Angehörige der Unterschicht führen. Landläufig herrscht die Meinung, daß einer, der dieser Randgruppe angehört, von sich aus nicht die Verantwortung für die Selbstbestimmung übernehmen kann, daß er höchstens der Betreuung bedarf. Sprachlos, ohne eine Möglichkeit, die innere und äußere Not zu reflektieren, wird ein großer Teil dieser Randgruppe bewußtlos gehalten. Hier würde nur eine wirkliche Befreiung von den gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen, eine Änderung der gesamten Einstellung helfen. Nur wenn der Lernende ständig offen bleibt und die gesellschaftliche Rolle kritisch in Frage stellt, kann eine Befreiung des Menschen bis ins hohe Alter geschehen. Befreiung heißt hier, die eigenen Probleme zu erkennen. Es geht nicht um ein „erfolgreiches und glückliches" Altern, es geht darum, die eigene Situation zu ändern und sie nicht durch andere ändern zu lassen. Es ist dem Menschen aufgegeben, bis zum Lebensende immer mehr Mensch zu werden. D. h. nur er allein, der Mensch, kann sich und seine Umwelt verändern. Nicht die Anpassung an eine gesellschaftliche Rolle, auch nicht an eine neue Altersrolle macht den Menschen menschlicher, sondern nur der Dialog zu Mitmenschen in seiner Not, in seinem Leiden, in seiner Unterdrückung bringt eine Änderung. Macht über den Menschen, d.h. das Gegenteil von Zuneigung, zerstört den Machtausübenden und den Unterdrückten. Die größere Z a h l der älteren Menschen lebt nicht in Altersheimen, sondern ist bis zu ihrem T o d e in privaten Haushalten untergebracht. Die Z a h l der Heimbewohner liegt im Durchschnitt unter 1 0 % . Weiterhin fällt auf, daß der größte Teil der älteren Menschen eine negative Einstellung zum Altenheim hat und sich, wenn irgend möglich, gegen eine Einweisung zur W e h r setzt. Das Altenheim wird als Endstation und Einengung des Lebensraumes angesehen. Massenbetrieb und strenge Heimordnungen wirken störend, weil sie persönliche Freiheiten k a u m zulassen. Außerdem wird die Trennung von Bekannten, Freunden und Verwandten beklagt, ebenso der Umzug in eine andere Wohngegend. Natürlich spielt die Erwartungshaltung eine Rolle, die dem Altenheim gegenüber gezeigt wird. Ist sie positiv, findet eine bessere Eingewöhnung statt, ist sie negativ, gibt es häufig Schwierigkeiten. Im H e i m selbst ist die Einstellung des Personals und der Heimleitung entscheidend, wie sie Betreuung und Aktivierung der älteren Menschen definieren. Heime, die Anregung und Abwechslung bieten und fördern, werden von den Bewohnern positiv beurteilt, die Institutionalisierungseffekte und ihre negativen Auswirkungen treten in den Hintergrund.
Gerontologie
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Altern bedeutet nicht nur sich zu „ ä n d e r n " , sondern es ist vor allem Leben mit einem großen Erfahrungsschatz, mit Schuldgefühlen, mit Versagungserlebnissen und dem Verlust an Liebe. Die Gesellschaft teilt den Menschen f ü r verschiedenen Entwicklungsperioden feste Sollwerte zu, von denen die gerontologische Forschung meint, sie müßten zur rechten Zeit erfüllt werden. Danach soll „Lernen" im frühen Erwachsenenalter, „Arbeit" im Berufsleben und „Erholung" im Rentenalter erfolgen. Der Lebensrhythmus kann jedoch nur harmonisch sein, wenn Lernen und Arbeit, Erholung und Spiel, Fest und Kommunikation nebeneinander verwirklicht werden. Zusammenfassend können wir also sagen, daß Altern — wie alles Lebendige - irreversible Prozesse einschließt, d . h . trotz aller Dynamik und Offenheit sind die Möglichkeiten des erwachsen werdenden Menschen biologisch und psychisch begrenzt. Altern bedeutet, diese Änderungen anzuerkennen und positiv zu verarbeiten. Die Selbstverwirklichung des Menschen aber ist bis zum Tod durch immer neue Erfahrungen möglich. Jede Phase hat ihre eigene Bedeutung, d . h . Jugend darf gegenüber Erwachsensein nicht aufgewertet werden oder umgekehrt. Der Mensch muß sein Älterwerden auf sich nehmen, er muß aufhören, jung bleiben zu wollen. Wichtig ist, welchen Sinn er im Älterwerden sieht, bzw. welche Folgerungen er daraus zieht. Auf jeden Fall wächst er über sich hinaus, wenn Altern als eine Form des Menschseins angenommen wird. Weil die gesellschaftliche Realität aber der Selbstverwirklichung und dem Menschwerden entgegensteht, ist Altern oft mit Schuldgefühlen durchsetzt, vom „noch nicht" und „nicht mehr" der vertanen Möglichkeiten. Wohlbefinden im Alter ist nicht machbar, nicht erlernbar oder von der Anpassung an gesellschaftliche Rollen abhängig. Lebenszufriedenheit ist nicht zu planen und zu kaufen. Jenes Gefühl können wir nur durch Kommunikation erleben, die ohne Macht und Ausbeutung geschehen muß. Unser Gegenüber ist ein Subjekt und kein zu behandelndes Objekt. 3. Tod Je sensibler die Menschen für die Gebrochenheit und Zweideutigkeit des Lebens sind, um so größer ist ihre Erfahrung mit der Begrenztheit des Lebens. Diese Erfahrung gehört zum Menschsein, um altern zu können. Sie führt nicht zur Einengung des Lebensraumes und der Aktivität, sondern im Gegenteil zu einer Intensivierung der eigenen Lebensgestaltung und zur Bereicherung des Lebens, zu mehr Sorge um den anderen. Narzißtisches Umkreisen und hypochondrisches Denken um das eigene Wohlbefinden sind typisch für bürgerliche Lebensläufe, die wirkliche N o t nie an sich herankommen ließen, weder äußerlich noch innerlich. Sie leugnen ihren eigenen Tod und den des nächsten ständig. Die Todesangst ist eine Grunderfahrung des Menschen und auch im Alter zunehmend vorhanden. Untersuchungen zeigen, daß in den höheren Altersgruppen im Vergleich zu den jüngeren ein geringeres M a ß an Todesfurcht zu beobachten ist. Es kann sein, daß der alte Mensch bereit und vorbereitet ist zu sterben und den Tod als unausweichliches Schicksal annimmt. Es kann auch sein, daß die Nähe zum Tode alten Menschen das Leben weniger wichtig erscheinen läßt und sie deshalb den Tod akzeptieren. Außerdem fand sich in einer Reihe von Studien der Hinweis, daß diejenigen, die sich religiös einschätzen und aktiv am religiösen Leben teilnahmen, weniger manifeste Todesfurcht zeigten. Allerdings gibt es auch Forschungsergebnisse, die das Gegenteil zeigen. Die Todesangst ist dabei stets in Zusammenhang mit biographischen und sozialkulturellen Einflüssen zu sehen, die zur Ausprägung der todesbezogenen Ängste beitragen. N u r wenn das Leben gelingt und das Sich-Einlassen auf das Leben wirklich stattgefunden hat, kann eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Tod gelingen. 4. Altenkilfe und
Glauben
Jede Altenhilfe (vgl. TRE 8,671,46ff) muß dem älter werdenden Menschen zunächst klarmachen, von welchen Sachzwängen er beherrscht ist und welche Unterdrückungsmechanismen dadurch verursacht werden. Das permanente „Beschädigtwerden" muß durch Lernprozesse aufgebrochen werden. Jeder - besonders der ältere Mensch — muß seine Situation in dieser Gesellschaft kritisch hinterfragen. Bei Christen ist zu beobachten, daß sie lang-
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Gerontologie
samer erwachsen werden und sich oft naiv und kindlich der technologischen Konsumwelt nähern, daß sie sich schneller den gegebenen Rollen anpassen, weil sie ihre Hoffnung auf eine Zukunft setzen, die meist nicht zu verwirklichen ist. Sie meiden den Schmutz und die Verletzung. Sie leben über den nächsten Menschen hinweg. Was ist heute ein gelungenes Leben — was ist lebendig sein - erwachsen werden — kann es heute und morgen geleistet werden durch die Kraft und durch die Kreativität des Menschen allein, ohne Glauben? Wo treffen wir auf Gott: im Gesicht des geschundenen Mitmenschen oder in unserer Selbstfindung, in unserer Identität? In der —»Leistung? In der —»Arbeit? Wo ist das Geheimnis des Lebens? Zunächst ist es nicht zu erzwingen, es ist unverfügbar, wie die Liebe, es widerfährt einem, ist ein Geschenk, es verlangt Bereitschaft und Offenheit. Bleibt diese Offenheit später im Leben erhalten, so kann sich der Mensch ändern und handeln ohne Selbstzweck, ohne Habgier. Der Erwachsene ist heute oft unfähig geworden zu leiden. Selbst das Leiden anderer berührt den Menschen unserer Tage nicht mehr. Er ist dem Leiden gegenüber sprachlos geworden. Der Mensch wird jedoch nicht Mensch, wenn er nicht leiden kann, er kann es auch nicht bekämpfen, da er völlig desinteressiert ist. Wenn es in einer Lebensgeschichte viel Versagen, Zweifel und wenig Erfüllung gegeben hat, so ist in diesem Leben Glauben an die Hoffnung gebunden, die graue Realität der Gegenwart in eine wirkliche Lebendigkeit zu verwandeln. In jedem Glauben muß bis ins hohe Alter nicht Resignation und der Wunsch nach Geborgenheit sein, sondern eine aktive Bereitschaft, Verborgenes ans Licht zu bringen durch Liebe und Mitleiden. Das Ausbrechen aus der Erstarrung, der Versandung, der Kristallisation, wie sie jedem im Alter droht, ist wichtig, und das Erkennen, daß Leben ständige Bewegung ist und Wandlung. Glauben ist Kommunikation mit dem anderen als ganze Person. Es gibt die Nähe von Gott nur durch die Wärme des Nächsten. Auch unser „Älterwerden", unser Ausgeliefertsein an die Begrenztheit, Endlichkeit und den Tod, ja sogar unser Ausgestoßensein aus der Gesellschaft und der Familie kann im Glauben enthalten sein. Wir sind in der Verzweiflung und im Leiden Gott am nächsten. Nur wer sich gegen die Konsummentalität der Tauschgesellschaft wirklich aufbäumt, wird Mensch und erwachsen. Dafür ist die Freiheit der Selbstbestimmung nötig. Neugeburt und Umkehr ist bis ins hohe Alter für alle Menschen, ganz gleich welcher Schicht sie angehören, möglich. Es handelt sich dabei nicht um ein einmaliges Ereignis, sondern um einen Prozeß. Sich ändern und damit die Welt ändern geschieht nur, wenn wir offen bleiben für das Elend und die Wirklichkeit dieser Welt. Gerade die Identifikation mit den Ausgestoßenen und Leidenden, d.h. nur wirkliche Solidarität, kann im Alter eine Änderung bewirken. Die Schuld derjenigen, die sich entfalten können, ist dabei viel größer als das Versagen der Stummen. Altenhilfe im christlichen Sinne darf nicht Betreuung von Hilfsbedürftigen sein, sondern Begleitung von Partnern. Eine Möglichkeit ist es, den alternden Menschen in der Kirchengemeinde eine aktive Aufgabe mit Verantwortung und Selbstgestaltung zu übergeben. Es genügt nicht, Altenkreise zu bilden oder Kaffeenachmittage getrennt für jung und alt zu initiieren. Die Älteren müssen lebendig in das Gemeindeleben integriert werden. Oft wird es nötig sein, den im Leben Benachteiligten neue Möglichkeiten zu eröffnen. Kirche muß Ort der Kritik und der Unruhe für den älteren Menschen sein, wo festgefahrene Ansichten erschüttert und neu durchdacht werden können. Meist besteht die kirchliche Altenarbeit jedoch aus Zerstreuung, Betreuung oder Beschäftigung. Altenarbeit ist somit Ghettoarbeit, die neue Abhängigkeiten schafft. Es besteht heute die Gefahr, daß Diakonie und Solidarität durch gesetzliche Maßnahmen erstickt werden. Die Selbsthilfefähigkeit ist stark verkümmert. Außerdem ist das historische Erbe des —»Nationalsozialismus mit der falsch verstandenen Volksgemeinschaft und den grausamen Exzessen gegen Minderheiten im Namen des Volkes nicht genügend von der jetzt älter werdenden Generation reflektiert und aufgearbeitet worden. Der materielle Existenzkampf nach 1945 hat keine wirkliche Solidarität gefördert, sondern höchstens dem Überleben der eigenen Familie genützt. Selbst- und Nachbarschaftshilfe muß ihren Ansatz in der persönlich erlebten Umgebung haben. Altern ist ein Prozeß der Befreiung von Sachzwängen, von Zerstückelungen und Unter-
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werfungen. Unter Befreiung verstehen wir das Freimachen von Lasten, die die menschliche Entwicklung behindern. Die Lasten können und sind zum Teil dem älter werdenden Menschen durch andere Menschen oder die Gesellschaft auferlegt worden, oft hat auch die eigene Kraft nicht gereicht, sich von der Last zu befreien, oder es fehlt der Mut, das eigene Schicksal zu tragen. Hinzu kommt die Last der biologischen Veränderungen, der Krankheit, die Erkenntnis der Begrenzung der eigenen Möglichkeiten und Lasten, die zum Leben gehören, von denen man sich nicht befreien kann. Die Befreiung zu sich selbst kann nur von alten Menschen persönlich initiiert werden. Sie bedeutet den Gegensatz von Betreuung und Infantilisierung der älteren Menschen; ohne Befreiung zu sich selbst bleibt die Angst vor dem Sterben als schwerste Last am Ende des Lebens jedes Menschen. Die Kraft zur Befreiung muß von unten, d.h. von den älteren Menschen selber kommen. Im Gegensatz zu dem, was die Werbung suggeriert, kann im Alter ein Neuwerden nicht als Jungwerden stattfinden. Je älter der Mensch wird, umso größer wird seine Schuld, anderen Menschen gegenüber nicht genug Liebe aufgebracht zu haben. Hier liegt der wirkliche Unterschied zum jungen Menschen, der erst anfängt, die Verantwortung für sein Leben und das anderer Menschen zu übernehmen, der eine Entscheidung für und gegen die Gesellschaft mit ihren Rollenzwängen noch vor sich hat. Glauben setzt daher ein kritisches, fragendes, wachsendes „Ich" voraus. Der angepaßte, traditionsgebundene Mensch ist zu jenem Glauben, der einen Prozeß darstellt, unfähig. Zweifel begleitet jede Veränderung, auch im Glauben. Der Mensch wird im Alter nicht wirklich religiös oder christlich, wenn er nicht vorher seinen Lebensentwurf selber gestalten konnte. Nicht einfach mit sich geschehen lassen im weltlichen Bereich ist Voraussetzung des Glaubens im Alter, sonst sind wir betrogen um das Leben. Gemeinsam müssen wir uns befreien zum Leben. Dem anderen müssen wir zeigen, wo seine Beschädigung liegt; ihn zum Sprechen über seine Not zu bringen, ist wirkliche Solidarität und Liebe, nicht den gesellschaftlichen Zwang als unveränderlich hinzunehmen. Leiden bewußt zu machen, ist Kritik am Entfremdungsprozeß des Menschen vom Menschen und von der Natur. Christliche Liebe unterscheidet sich von der weltlichen Solidarität durch die Erfahrung der ungenügenden Liebe, d. h. durch das Leiden, das jede Liebe mit sich bringt. Die Liebe ist ertrunken in einem Meer von konsumorientierten Menschen, die tödlich in ihrer Seele und ihren Emotionen verletzt sind. Besonders beim Mann ist die Fähigkeit, Emotionen zu empfinden bzw. zu äußern, extrem unterentwickelt. Beim älter werdenden Mann bzw. der Frau zeigen sich entsprechende geschlechtsspezifische Unterschiede besonders deutlich. Trotzdem wäre eine Umkehr für jeden Menschen möglich, auch im Alter, wenn der Mensch offen bliebe für den anderen. Auferstehung geschieht täglich, auch im hohen Alter. Zu warten auf Gottes Erlösung der Welt ist naiv, bedeutet Schuldigwerden am anderen in der Gegenwart, ist Flucht vor der Verantwortung für die Verfolgten und Benachteiligten. Gefordert werden heute die Mündigen, die ganz Mensch sein wollen. Aufgabe der Kirche müßte es sein, die Befreiung des alten Menschen zu unterstützen, damit die Wahrheit durch seine Hände noch aktiviert werden kann. Daß wir vor Gott alle gleich werden, dazu ist den Menschen durch sein Alter Gelegenheit gegeben. Heute mehr als vor 100 Jahren ist es ihm möglich, als Christ etwas dafür zu tun, daß es trotz gegensätzlicher geschichtlicher Erfahrung geschieht. Das hieße Glauben im Alter. Literatur Simone de Beauvoir, Das Alter, Reinbek b. Hamburg 1972. - Karl Friedrich Becker, Emanzipation des Alters, Gütersloh 1975. - John A. Behnke, The Biology of Aging, New York 1979. - Helen von Bila, Gerontologie, Hannover 1974. - James E. Birren, Handbook of Mental Health and Aging, Hall Englewood 1980. - Walter Braun, Die ältere Generation, Regensburg 1981. - Charlotte Bühler, Psychologie im Leben unserer Zeit, München 1962. - Dies., Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, Göttingen 1959. - Thomas O, Byerts, Environmental Context of Aging, New York 1979. - Robert Louis Clark, Retirement Policy in an Aging Society, Durham 1980. - Elaine Cumming/William E. Henry, Growing old, the Process of Disengagement, New York 1961. - Claus D. Eck/Annina ImboJen-Henzi, Erfülltes Alter durch reicheres Erleben, Freiburg 1972. - Erik H. Erikson, Identität u. Lebenszyklus, Frankfurt a . M . 1968. - Viktor E. Frankl, Der Wille zum Sinn, Bern u.a. 1972. - Erich Fromm, Haben oder Sein, Stuttgart 1976. - Ders., Ihr werdet sein wie Gott, Reinbek b. Hamburg 1980.
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- R. J. Havighurst, Disengagement and Patterns of Aging, New York 1964 (Gerontologist 4). - Hb. der Gerontologie. I. Grundlagen der Gerontologie, Jena 1979; II. Geriatrische Chirurgie, 1979; I I I / 1 - 2 . Spezielle Gerontologie, 1979.-Jürgen Hohmeier, Alter als Stigma, Frankfurt a. M. 1978. - Utz Jeggle, Lebensgesch. u. Identität, Frankfurt a. M. 1981. — Ursula Koch-Straube, Gemeindearbeit mit alten Menschen, Zürich 1979. - Ursula Lehr, Psychologie des Alterns, Heidelberg 1972. - Dies., Interventionsgerontologie, Darmstadt 1979.-Hermann Loddenkempfer, Altenbildung-Grundlagen u. Handlungsorientierungen, Regensburg 1981. - Louis Lowy, Der ältere Mensch in der Gruppe, Freiburg 1971. - Siegfried Mrochen, Alter in der DDR, Weinheim 1980. - J . M . A. Münnichs, Endlichkeit u. Sterben: Zs. f. Gerontologie 6 (1973) 3 5 1 - 3 5 8 . - Hannelore Narr, Soziale Probleme des Alters, Stuttgart 1976. - Klaus Oesterreich, Psychiatrie des Alterns, Heidelberg 1975. - Hilarion Petzold/Elisabeth Bubolz, Psychotherapie mit alten Menschen, Paderborn 1979. - Erika Pillardy, Arbeit u. Alter, Stuttgart 1973. —Hartmut Radebold, Psychosoziale Arbeit mit älteren Menschen, Freiburg 1973. —Leopold Rosenmayr, Die menschlichen Lebensalter, München 1978. - Ders./Hilde Rosenmayr, Der alte Mensch in der Gesellschaft, Reinbek b. Hamburg 1978. - Georg Rudinger, Altern - psychologisch gesehen, Braunschweig 1971. - Harrey V. Samis, Aging and biological rhythms, New York 1978. Hans-Dieter Schneider, Aspekte des Alterns, Frankfurt a. M. 1974. - Paul Robert Skawran, Die Intelligenz des älteren Menschen, Stuttgart 1971. — Alfred Störmer, Rehabilitation im Alter, München 1980. - Bernhard Strehler, Das biologische Altern, Nürnberg 1979 (Zs. der Firma Sandoz). - Rudolf Tartier, Das Alter in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 1961. - Hans Peter Tews, Soziologie des Alterns, Heidelberg 1 9 7 1 . - Hans Thomae, Die Bedeutung einer kognitiven Persönlichkeitstheorie f. die Theorie des Alterns: Zs. f. Gerontologie 4 (1971) 8—18. - Ders., Psychische u. soziale Aspekte des Alterns: ebd. 1 (1968) 4 3 - 5 5 . - Ders./Ursula Lehr, Altern, Frankfurt a.M. 1968. - Joachim Wittkowski, Tod u. Sterben, Heidelberg 1978. — Eli Zaretsky, Die Zukunft der Familie, Frankfurt a.M. 1978. Zeitschriften: Aktuelle Gerontologie. Organ der Dt. Gesellschaft f. Gerontologie u. der österr. Gesellschaft f. Geriatrie, Stuttgart 1971 ff. - Altenhilfe, hg. v. Dt. Zentrum f. Altersfragen e.V., Berlin 1974 ff. - Zs. f. Gerontologie, Darmstadt 1968 ff. - Zeitschriftenbibliogr. Gerontologie, hg. v. Dt. Zentrum f. Altersfragen e.V., Berlin 1976ff.
Gerd Legatis Gerson,Johannes 1. Leben
(1363-1429)
2. Werk
3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S.535)
1. Leben Johannes Gerson wird am 14. Dezember 1363 als ältestes von zwölf Kindern des Bauern Arnoul le Charlier und seiner Frau Elisabeth la Chardenière in dem Weiler Gerson-lès-Barby der flandrischen Grafschaft Rethel geboren. Weil sein Geburtsort zur Diözese Reims gehört, wird er stets als deren Kleriker bezeichnet, wenn später sein Name auf einer Bittschrift an den Papst der avignonesischen Obödienz auftaucht. Als Inhaber eines Stipendiums für einen Studenten der Logik ist er 1377 am Collège de Navarrein Paris nachweisbar. 1381 wird ihm dielicentia erteilt, Arteszu lehren. 1382 wird er magisterartium und beginnt, Theologie zu studieren. 1383 und 1384 ist er Prokurator der französischen Nation der Artesfakultät. Als seine Lehrer werden vor anderen —»Petrus v. Ailly, Gilles Deschamps und Jean Loutrier genannt. Vom Mai bis zum Juli 1388 nimmt er an einer von d'Ailly geleiteten Gesandtschaft der Pariser Universität teil, die bei dem Avignoneser Papst —»Clemens VII. die Verurteilung des Dominikaners Jean de Montson betreibt, weil dieser die unbefleckte Empfängnis Mariens bestritten hatte. Danach hält er seine beiden Kurse als baccalaureus biblicus und liest als baccalaureus sententiarius über die Sentenzen des —»Petrus Lombardus. 1 3 9 0 - 1 3 9 2 ist er baccalaureus formatus. Am 18. Dezember 1392 wird ihm die licentia, Theologie zu lehren, erteilt. 1393 macht ihn Herzog Philipp der Kühne von Burgund (1363 — 1404), durch den Tod seines Schwiegervaters 1384 auch Graf von Gersons heimatlicher Grafschaft Rethel, zu seinem Ersten Almosenier. Nach dem 19. Dezember 1393 betreibt und erreicht er seine Wahl zum Dekan des Kapitels von St. Donatian in Brügge. Am 18. April 1394 nimmt Gerson durch einen Prokurator von dieser Pfründe Besitz. Im gleichen Jahr wird er in den Kreis deimagistri von Notre-Dame in Paris aufgenommen. Als Pierre d'Ailly Bischof von Le Puy wird, erwirkt er, daß Papst Benedikt XIII. ( 1 3 9 4 - 1 4 1 7 ) durch motu proprio vom 13. April 1395 Gerson zu seinem Nachfolgerais Kanzler von Notre-Dame und damit der Universität ernennt. Am 12. Oktober 1396 nimmt Gerson selber Besitz von seiner Brügger Pfründe und versieht drei Monate seine Aufgaben als Dekan von St. Donatian. 1397 zieht er innerhalb von Paris aus dem Collège de Navarre in ein gemietetes Haus um. Zu Beginn des Jahres 1398 hält er sich nochmals zwei Monate in Brügge auf. Am 3. „Konzil von Paris" (14. M a i - 2 8 . Juli 1398), das dieSubstractio aus der Obödienz des Papstes Benedikt XIII. beschließt, nimmt er nicht teil. Er setzt sich vielmehr für die Rückkehr zur Obödienz ein. Vom 4. Juni 1399 an weilt er erneut in Brügge. Er möchte sich auf das Dekanat beschrän-
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- R. J. Havighurst, Disengagement and Patterns of Aging, New York 1964 (Gerontologist 4). - Hb. der Gerontologie. I. Grundlagen der Gerontologie, Jena 1979; II. Geriatrische Chirurgie, 1979; I I I / 1 - 2 . Spezielle Gerontologie, 1979.-Jürgen Hohmeier, Alter als Stigma, Frankfurt a. M. 1978. - Utz Jeggle, Lebensgesch. u. Identität, Frankfurt a. M. 1981. — Ursula Koch-Straube, Gemeindearbeit mit alten Menschen, Zürich 1979. - Ursula Lehr, Psychologie des Alterns, Heidelberg 1972. - Dies., Interventionsgerontologie, Darmstadt 1979.-Hermann Loddenkempfer, Altenbildung-Grundlagen u. Handlungsorientierungen, Regensburg 1981. - Louis Lowy, Der ältere Mensch in der Gruppe, Freiburg 1971. - Siegfried Mrochen, Alter in der DDR, Weinheim 1980. - J . M . A. Münnichs, Endlichkeit u. Sterben: Zs. f. Gerontologie 6 (1973) 3 5 1 - 3 5 8 . - Hannelore Narr, Soziale Probleme des Alters, Stuttgart 1976. - Klaus Oesterreich, Psychiatrie des Alterns, Heidelberg 1975. - Hilarion Petzold/Elisabeth Bubolz, Psychotherapie mit alten Menschen, Paderborn 1979. - Erika Pillardy, Arbeit u. Alter, Stuttgart 1973. —Hartmut Radebold, Psychosoziale Arbeit mit älteren Menschen, Freiburg 1973. —Leopold Rosenmayr, Die menschlichen Lebensalter, München 1978. - Ders./Hilde Rosenmayr, Der alte Mensch in der Gesellschaft, Reinbek b. Hamburg 1978. - Georg Rudinger, Altern - psychologisch gesehen, Braunschweig 1971. - Harrey V. Samis, Aging and biological rhythms, New York 1978. Hans-Dieter Schneider, Aspekte des Alterns, Frankfurt a. M. 1974. - Paul Robert Skawran, Die Intelligenz des älteren Menschen, Stuttgart 1971. — Alfred Störmer, Rehabilitation im Alter, München 1980. - Bernhard Strehler, Das biologische Altern, Nürnberg 1979 (Zs. der Firma Sandoz). - Rudolf Tartier, Das Alter in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 1961. - Hans Peter Tews, Soziologie des Alterns, Heidelberg 1 9 7 1 . - Hans Thomae, Die Bedeutung einer kognitiven Persönlichkeitstheorie f. die Theorie des Alterns: Zs. f. Gerontologie 4 (1971) 8—18. - Ders., Psychische u. soziale Aspekte des Alterns: ebd. 1 (1968) 4 3 - 5 5 . - Ders./Ursula Lehr, Altern, Frankfurt a.M. 1968. - Joachim Wittkowski, Tod u. Sterben, Heidelberg 1978. — Eli Zaretsky, Die Zukunft der Familie, Frankfurt a.M. 1978. Zeitschriften: Aktuelle Gerontologie. Organ der Dt. Gesellschaft f. Gerontologie u. der österr. Gesellschaft f. Geriatrie, Stuttgart 1971 ff. - Altenhilfe, hg. v. Dt. Zentrum f. Altersfragen e.V., Berlin 1974 ff. - Zs. f. Gerontologie, Darmstadt 1968 ff. - Zeitschriftenbibliogr. Gerontologie, hg. v. Dt. Zentrum f. Altersfragen e.V., Berlin 1976ff.
Gerd Legatis Gerson,Johannes 1. Leben
(1363-1429)
2. Werk
3. Nachwirkung
(Quellen/Literatur S.535)
1. Leben Johannes Gerson wird am 14. Dezember 1363 als ältestes von zwölf Kindern des Bauern Arnoul le Charlier und seiner Frau Elisabeth la Chardenière in dem Weiler Gerson-lès-Barby der flandrischen Grafschaft Rethel geboren. Weil sein Geburtsort zur Diözese Reims gehört, wird er stets als deren Kleriker bezeichnet, wenn später sein Name auf einer Bittschrift an den Papst der avignonesischen Obödienz auftaucht. Als Inhaber eines Stipendiums für einen Studenten der Logik ist er 1377 am Collège de Navarrein Paris nachweisbar. 1381 wird ihm dielicentia erteilt, Arteszu lehren. 1382 wird er magisterartium und beginnt, Theologie zu studieren. 1383 und 1384 ist er Prokurator der französischen Nation der Artesfakultät. Als seine Lehrer werden vor anderen —»Petrus v. Ailly, Gilles Deschamps und Jean Loutrier genannt. Vom Mai bis zum Juli 1388 nimmt er an einer von d'Ailly geleiteten Gesandtschaft der Pariser Universität teil, die bei dem Avignoneser Papst —»Clemens VII. die Verurteilung des Dominikaners Jean de Montson betreibt, weil dieser die unbefleckte Empfängnis Mariens bestritten hatte. Danach hält er seine beiden Kurse als baccalaureus biblicus und liest als baccalaureus sententiarius über die Sentenzen des —»Petrus Lombardus. 1 3 9 0 - 1 3 9 2 ist er baccalaureus formatus. Am 18. Dezember 1392 wird ihm die licentia, Theologie zu lehren, erteilt. 1393 macht ihn Herzog Philipp der Kühne von Burgund (1363 — 1404), durch den Tod seines Schwiegervaters 1384 auch Graf von Gersons heimatlicher Grafschaft Rethel, zu seinem Ersten Almosenier. Nach dem 19. Dezember 1393 betreibt und erreicht er seine Wahl zum Dekan des Kapitels von St. Donatian in Brügge. Am 18. April 1394 nimmt Gerson durch einen Prokurator von dieser Pfründe Besitz. Im gleichen Jahr wird er in den Kreis deimagistri von Notre-Dame in Paris aufgenommen. Als Pierre d'Ailly Bischof von Le Puy wird, erwirkt er, daß Papst Benedikt XIII. ( 1 3 9 4 - 1 4 1 7 ) durch motu proprio vom 13. April 1395 Gerson zu seinem Nachfolgerais Kanzler von Notre-Dame und damit der Universität ernennt. Am 12. Oktober 1396 nimmt Gerson selber Besitz von seiner Brügger Pfründe und versieht drei Monate seine Aufgaben als Dekan von St. Donatian. 1397 zieht er innerhalb von Paris aus dem Collège de Navarre in ein gemietetes Haus um. Zu Beginn des Jahres 1398 hält er sich nochmals zwei Monate in Brügge auf. Am 3. „Konzil von Paris" (14. M a i - 2 8 . Juli 1398), das dieSubstractio aus der Obödienz des Papstes Benedikt XIII. beschließt, nimmt er nicht teil. Er setzt sich vielmehr für die Rückkehr zur Obödienz ein. Vom 4. Juni 1399 an weilt er erneut in Brügge. Er möchte sich auf das Dekanat beschrän-
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ken und das als Bürde empfundene Kanzleramt niederlegen. Am 11. März 1400 wird dem Kapitel von Notre-Dame in Paris seine Bitte überbracht, an seiner Statt den Magister der Theologie Dominique Petit zum Kanzler zu ernennen. Aber der Herzog von Burgund widersetzt sich seinem Plan, und Gerson muß ihn aufgeben. Eine Krankheit nötigt ihn, bis zum 20. September 1400 in Brügge zu bleiben. Im Frühsommer 1403 kehrt Frankreich zur Obödienz Benedikts zurück. Am 9. November 1403 predigt Gerson in Marseille vor dem Papst, der ihn durch eine Bulle vom 18. November zum Pfarrer von St. Jean-enGréve in Paris ernennt und diese Pfarrstelle dem Kanzleramt inkorporiert. Am 1. Januar 1404 predigt er in Tarascón erneut vor Benedikt. Durch einen Prokurator nimmt er am 24. Dezember 1403 eine vakante Präbende im Kapitel von Notre-Dame ein. Am 28. Januar des folgenden Jahres wird er feierlich ins Kapitel aufgenommen. Am 27. April stirbt sein Protektor Philipp von Burgund. Am 16. Juli 1405 kann er das Dekanat von St. Donatian verteidigen, das ihm streitig gemacht wird. Am 7. November klagt er als Kanzler in der kühnen Ansprache Vivat rex Willkürakte des Herzogs von Orléans an. Am 18. März 1407 spricht er der Gesandtschaft, als deren Mitglied auch er einen Monat später für mehr als ein Jahr zu dem Versuch aufbrechen wird, eine Zusammenkunft der beiden Päpste in Savona zu erreichen, zu: Vade in pace. In den Monaten September bis November 1407 schreibt er, in dieser Angelegenheit in Genua festgehalten, seinen Traktat De mystica theologia practice conscripta. Am 23. November 1407 läßt Johann ohne Furcht von Burgund ( 1 4 0 4 - 1 4 1 9 ) seinen Mitbewerber um die Macht am Hof des geisteskranken Königs, den Herzog von Orléans, ermorden. Der Theologe Jean Petit versucht am 8. März 1408 durch eine Rede im königlichen Palast, die Tat als einen Tyrannenmord zu rechtfertigen. Gerson hält 1408 die Eröffnungsrede zum Konzil von Reims. Vom 31. Juli bis zum 5. August 1409 ist er zum letzten Mal in Brügge; am 30. Juni 1411 haben die Versuche Erfolg, ihn aus dem Amt des Dekans zu verdrängen, da er es weder selbst noch durch einen Prokurator wahrnehme. Als 1413 die Cabochiens in Paris wüten und sein Haus plündern, flüchtet er für zwei Monate in die Gewölbe der Kirche Notre-Dame. Er sieht nicht bloß seinen Besitz, sondern sogar sein Leben bedroht. Als die Anhänger des jungen Herzogs von Orléans, die Armagnacs, in Paris die Macht übernehmen, wendet sich Gerson in der (französischen) Ansprache Rex in sempiternum vive gegen die Rechtfertigung des Mordes am Herzog von Orléans als eines Tyrannenmordes. In der Tat verurteilt die Pariser Synode (30. November 1 4 1 3 - 1 9 . Februar 1414) die Lehre Jean Petits. Am 21. Februar 1415 trifft Gerson als Delegierter des Königs, der Universität Paris und der Provinz Sens in —»Konstanz ein. Am 7. Juni unterbreitet er dem Konzil das Problem des Tyrannenmordes. Nur die erste der sieben von Gerson als häretisch bestrittenen Thesen des Jean Petit wird am 6. Juli 1415 wirklich verurteilt. Am 5. Mai 1416 fordert Gerson im Namen des französischen Königs eine umfassendere Verdammung. Gegen den Dominikaner Matthäus Grabow verteidigt er das Lebensideal der —»Brüder vom Gemeinsamen Leben. Nach Ende des Konzils darf er sich nicht nach Frankreich wagen, weil ihm sein Eintreten gegen die Tyrannenmordtheorie des Jean Petit die Feindschaft des burgundischen Herzogs zugezogen hat. Er nimmt zuerst in Rattenberg am Inn die Gastfreundschaft des Herzogs von Bayern in Anspruch. Die nächste Station seines Exils ist die Benediktiner-Abtei Melk, deren Abt er in Konstanz kennengelernt hat. Einen Lehrstuhl an der Universität Wien lehnt er ab. Als Johann ohne Furcht ermordet wird, kann Gerson im September 1419 nach Frankreich zurückkehren. Er nimmt zunächst Wohnung im Cölestinerkloster in Lyon, dessen Prior sein jüngerer Bruder Jean ist. 1425 setzt ihm der Erzbischof Amédée de Talaru eine Rente aus und weist ihm eine Wohnung bei der Kollegiatkirche St. Paul zu. Am 12. Juli 1429 stirbt Gerson, noch immer nominell Kanzler der Pariser Universität, und wird in der Lyoner Laurentiuskirche beigesetzt. - Zur Biographie: Schwab 5 4 - 9 7 ; Salembier; Connolly 1 6 - 7 0 . 1 6 8 - 2 0 3 ; Glorieux: AHDL 25/26; Combes/Mourin/Sim(e)one; Glorieux I, 1 0 5 - 1 3 9 ; Combes: BSS 6; Pascoe (SMRT 7) 4 - 1 5 . 2.
Werk
Die jüngere Gersonforschung richtete ihr Augenmerk vor allem auf seine Schriften zur mystischen Theologie, zu Kirchenpolitik und Ekklesiologie und zur Kirchenreform. In seiner zweibändigen Darstellung der mystischen Theologie verfolgt Combes deren Entwicklung in einer intensiven Analyse von sieben Predigten und acht Traktaten. Bildet doch auch die Schrift Considerationes de mystica theologia, deren erster Teil (speculative conscripta) aus einer der noch unzulänglich erforschten Vorlesungsreihen über Verse des Markusevangeliums entstand, nur einen Schritt auf Gersons Denkweg. In dieser Schrift geht es ihm um die Reform der Pariser theologischen Fakultät. E r richtet sein Augenmerk auf die Aktivität der affektiven Kräfte innerhalb der menschlichen Seele. Dagegen betont er in seiner Predigt Spiritus domini (Glorieux V, 5 2 0 — 5 3 8 ) vor den Konstanzer Konzilsvätern stärker den Intellekt und die Rezeptivität des Menschen gegenüber dem Wirken des Heiligen Geistes. Combes' These einer „Bekehrung" Gersons von der Bußmystik hin zur bisher von diesem scharf kritisierten Einungsmystik aufgrund einer mystischen Erfahrung am 1. Oktober 1 4 2 5 er-
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scheint weniger einleuchtend. Combes kann nicht sicher sagen, was Gerson in einer bestimmten Lebenslage gedacht haben muß, denn der Kanzler hat in Werken verschiedener Genera nicht immer seine Uberzeugung vollständig und systematisierbar zum Ausdruck gebracht. Gersons kirchenpolitische und ekklesiologische Stellungnahmen sind nur dann gerecht zu würdigen, wenn man zugleich seine Erfahrungen im Schisma darstellt (Morrall; Combes; Posthumus Meyjes). Schon in seinen Vesperiae ( 1 3 9 2 ) De iurisdictione spirituali (Glorieux III, 1 - 9 ) stellt er die Frage, unter welchen Bedingungen geistliche Würdenträger — gemeint sind die miteinander rivalisierenden Päpste — zurücktreten müssen. In der zum Traktat umgearbeiteten Vorlesungsreihe De vita spirituali, aegritudine et morte animae (ebd. 1 1 3 - 2 0 2 ) macht er deutlich, daß kanonisches Recht durchaus nicht untrennbar mit dem göttlichen Recht verbunden ist. In neun einschlägigen Schriften und Predigten verteidigt Gerson den avignonesischen Papst und setzt sich für die Rückkehr Frankreichs zur Obödienz ein. Doch als Benedikt starr Verhandlungen zur Beendigung des Schismas verweigert, schreitet Gerson über den Vorschlag eines Rücktritts beider Päpste fort zum Befürworten eines Konzils. Sechs Ansprachen und Schriften aus der Zeit des Konzils von —»Pisa sind bekannt. In De unitate ecclesiastica (Glorieux VI, 1 3 6 - 1 4 5 ) vertritt er die These, wie jede säkulare Körperschaft dürfe auch die Kirche außerordentliche Maßnahmen zu ihrer Verteidigung ergreifen. In seiner später für das Konzil von Konstanz überarbeiteten Vorlesung De auferibilitate sponsi ab ecclesia (Glorieux III, 2 9 4 — 3 1 3 ) billigt er dem Konzil das Recht zu, anstelle der beiden Prätendenten einen rechtmäßigen Papst zu wählen. Als einen M o n a t nach seiner Ankunft in Konstanz die Flucht Papst Johannes' X X I I I . ( 1 4 1 0 — 1 4 1 5 ) das Konzil zu sprengen droht, plädiert Gerson in Ambulate, dum lucem habetis (Glorieux V , 39—50) dafür, daß die Kirche als Christi mystischer Leib sich zwar nie von ihrem Bräutigam Christus, wohl aber von ihrem zweiten Haupt, einem Papst, trennen könne. In der Predigt Prosperum iter faciet nobis (ebd. 4 7 1 - 4 8 0 ) feiert er die Reise des deutschen Königs Siegmund ( 1 4 1 0 — 1 4 3 7 ) , erklärt das Konzil für über allen positiven Gesetzen stehend und fähig, einen Papst abzusetzen. In De potestate ecclesiastica et de origine iuris et legum (Glorieux VI, 2 1 0 — 2 5 0 ) unterscheidet er zwischen dem Papstamt, das kraft göttlichen Rechtes in der Kirche besteht, und dem Anspruch von Inhabern dieses Amtes, von einem Konzil nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu dürfen. Als auch der neu gewählte Papst Martin V. ( 1 4 1 7 - 1 4 3 1 ) verbietet, künftig vom Papst an ein Konzil zu appellieren, kommt Gerson zu dem Ergebnis, es bedürfe eines nötigenfalls ohne Bestätigen des Papstes beschließenden Generalkonzils (ebd. 2 8 3 - 2 9 0 ) . Für die Reform der Kirche wirkt Gerson als Verfasser katechetischer, asketischer und kontemplativer Schriften ebenso wie durch Kritik an theologischer Forschung und Lehre und am Einfluß der Kirchenrechtler. Er verdient sich den Ehrentitel doctor consolatorius [Doktor Tröster] dadurch, daß er scharf unterscheidet zwischen tödlicher Sünde und solcher, die die Kanonisten bloß als solche bezeichnen, weil sie menschliche Traditionen als Gottes Gesetz ausgeben. — Katechetisches Grundwissen soll der Miroir de l'âme (Glorieux VII, 1 9 3 — 2 0 6 ) , eine Erklärung des —»Dekalogs, vermitteln. La science de bien mourir (ebd. 4 0 4 — 4 0 7 ) leitet dazu an, Sterbenden recht beizustehen (—»Ars moriendi). Das Examen de conscience selon les péchés capitaux (ebd. 3 9 3 — 4 0 0 ) dient der Gewissenserforschung zur rechten —»Beichte. Das Opus tripartitum, zu dem diese drei Traktate etwa 1 4 0 4 zusammengefügt werden, wird eines der verbreitetsten und später am häufigsten gedruckten Werke Gersons (—»Katechetik). - Anfängern im geistlichen Leben wollen die asketischen Schriften dienen (-»Askese). Einflußreich wird besonders die erweiterte lateinische Zusammenfassung De exercitio devotorum simplicium (Du Pin 111,605—618) der beiden ursprünglich selbständigen Traktate (Doctrine) contre conscience trop scrupuleuse (Glorieux VII, 1 4 0 - 1 4 2 ) und (Remède) contre les tentations de blasphème (ebd. 4 1 2 - 4 1 6 ) . - Die Schriften, die zur contemplatio anleiten, setzen bereits Fortschritte auf dem Weg zum geistlichen
Leben voraus. In der Epistola ad sorores, de quo quis per singulos dies cogitare debeat (Glorieux II, 14—17) empfiehlt Gerson Übungen, die er später knapper der Schrift La
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spirituelle (Glorieux VII, 2 2 0 — 2 8 0 ) einfügen wird. Zeitlich zwischen beiden liegt L a montaigne de contemplation (ebd. 1 6 — 5 5 ) . Schon von 1 3 9 6 an gibt er seinen Schwestern in der V o l k s s p r a c h e Regeln für ein gemeinsames eheloses Leben in Gütergemeinschaft, aber ohne Gelübde „in der W e l t " . Schon daran wird seine Kritik an den Orden deutlich, so sehr er auch die —»Kartäuser schätzt. Schauendes Leben steht für ihn höher als tätiges, sofern nicht N o t beim Nächsten gelindert werden muß. Später erweitert Gerson den Anspruch seiner Schriften: D a seiner Uberzeugung nach der hohe Klerus in erster Linie an den M i ß s t ä n d e n in der Kirche Schuld trägt, ist er auch verpflichtet, dazu beizutragen, daß sie abgestellt werden. D e s h a l b empfiehlt er auch solchen Bischöfen, die er nicht näher kennt, das Opus tripartitum, besonders den Miroir de l'âme, zu weiterer Verbreitung (Glorieux II, 7 2 f . 7 4 — 7 6 ) . Seine leicht faßlichen katechetischen W e r k e sollen auf Tafeln an gut zugänglichen Orten Grundkenntnisse vermitteln. W ä h r e n d des Aufenthalts in Brügge 1 3 9 9 / 1 4 0 0 wirft er ein P r o g r a m m zur R e f o r m der Pariser theologischen Fakultät aufs Papier und schickt es an —»Petrus von Ailly, der seit 1 3 9 6 den Bischofsstuhl von C a m b r a i innehat. 1 4 0 2 führt er in seinen beiden Lectiones contra curiositatem studentium (Glorieux III, 2 2 4 - 2 4 9 ) die Kritik an der einseitig intellektualistischen Ausrichtung der Professoren und Studenten weiter: Statt zu erbauen, zu nutzen und Frucht zu bringen, bemühten sich die Hochschullehrer ohne Bindung an die gute T r a d i t i o n eines —» Bonaventura und anderer erprobter Theologen vor allem u m Originalität und lenkten so auch die Studenten zum minder Wichtigen hin. D a die theologische Fakultät der Pariser Universität den Anspruch erheben darf, Quelle reiner Lehre zu sein, bedeutet R e f o r m der T h e o l o g i e für ihn auch R e f o r m der Kirche. Genauerer Untersuchung bedürfen besonders noch Gersons Vorlesungen, in denen er den G r u n d legt, auf dem er in Kirchenpolitik wie mystischer T h e o l o g i e aufbauen kann und die in beidem die Einheit seines areopagitischen Strebens nach Reinigen-Erleuchten-Verv o l l k o m m n e n erkennen lassen, aber auch seine A n s t ö ß e für die Pädagogik, für Josephologie und M a r i o l o g i e , Dichtung und Musiktheorie, die Erziehung zweier Dauphins und die Idee des französischen Königtums, sein Eintreten gegen den roman de la rose und Hus, seine Stellung in der via moderna und seine Bedeutung für die Entwicklung der französischen Nationalsprache.
3.
Nachwirkung
Die Erforschung der Gersonrezeption entspricht keineswegs der W i r k u n g Gersons, der mit R e c h t „Kirchenvater der deutschen geistlichen Schriftsteller des 1 5 . J a h r h u n d e r t s " genannt (Moeller) und auf Kanzeln neben die vier Kirchenlehrer des lateinischen Westens gestellt wurde. Schon bald als Gallikaner (—»Gallikanismus), Konziliarist (—»Konziliarismus), M a r s i l i a n e r (—»Marsilius v. Padua) und V o r r e f o r m a t o r vereinnahmt, wurde er nur zu oft auch noch im 1 9 . und 2 0 . J h . als solcher angesehen oder in erster Linie gegen solche Inanspruchnahmen verteidigt. Dargestellt wurden seine Bedeutung für die Pädagogik ( Ariès) und für einzelne Personen: G . —»Biel ( O b e r m a n , Spätscholastik I), Wendelin Steinbach (Feld), N i k o l a u s K e m p f ( M a r t i n ) , J o h . v. —»Paltz ( H a m m ) , —»Geiler v. Kaysersberg und W i m p f e ling (Herding; Kraume), —»Karlstadt (Bubenheimer), - » E r a s m u s (Dolfen) und —»Luther (Köhler; Scheel; Seeberg; D r e ß ; O z m e n t , H o m o spiritualis; Ebeling). Untersucht wurde ferner seine Rezeption in Deutschland bei reformierten Benediktinern der M e l k e r Observanz, reformierten M e n d i k a n t e n , Kartäusern und Brüdern v o m Gemeinsamen Leben (Schuch; H ö v e r ; Gerz-von Büren; Kraume). Quellen Für die Wirkungsgeschichte wichtig sind vor allem die beiden ersten Gesamtausgaben: Köln 1483/84 (Johannes Koelhoff, 4 Bde.; Hain 7621; Schwab 7 8 8 - 7 9 0 ; Combes, Essai 1,106f) und Straßburg 1488 (Johann Prüss, 3 Bde., ed. Johannes Geiler v. Kaysersberg/Petrus Schott; Hain 7622; Schwab 791 f; Combes, ebd. 108; Kraume, Gerson-Ubers. 7 9 - 8 1 ) . Die Straßburger Ausgabe wurde 1489 (Straßburg, Nürnberg, Basel) und 1494 (Straßburg) nachgedruckt. Supplementband, besorgt v. Jakob Wimpfeling, Straßburg 1502 (Martin Flach d. J.; Hain 7625 ; Kraume, a. a. O. 81 - 90). - Weitere
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Gesamtausgaben: Straßburg 1514, Basel 1518, Paris 1521, Paris 1606 (besorgt v. Edmond Richer), Anvers 1706 (besorgt v. Ellies du Pin, bis zum Erscheinen der von Glorieux besorgten Ausgabe maßgeblich) (Angaben nach Glorieux 1,72). Die von Palémon Glorieux herausgegebene jüngste Edition (Jean Gerson, Œuvres complètes, Paris 1960—1973) bietet in ihrem ersten Band (Intr. générale, 1960) eine Begründung für die Notwendigkeit einer Neuedition, einen Überblick über Handschriften, bisherige Gesamteditionen und Ausgaben einzelner Werke und einen biographischen Essai. Die weiteren Bände sind thematisch geordnet (in Klammern laufende Nummern der Werke): II. L'œuvre épistolaire, 1960 ( 1 - 8 6 ) ; III. L'œuvre magistrale, 1962 (87-105); IV. L'œuvre poétique, 1962 (106-206); V. L'œuvre oratoire, 1963 (207-253); VI. L'œuvre ecclésiologique, 1965 (253 a -291); VII. L'œuvre française, 1966 (292-339); VII*. L'œuvre française. Sermons et discours, 1968 (340-398); VIII. L'œuvre spirituelle et pastorale, 1971 (399-422); IX. L'œuvre doctrinale, 1973 ( 4 2 3 - 4 9 1 ; davon 4 7 7 - 4 9 1 : L'œuvre pédagogique); X. L'œuvre polémique, 1973 (492-530). Suppl. (531-540), documents, tables. - Bei der Auswertung der Handschriften sind Funde weiterer echter Werke wahrscheinlich. Die Edition ist verbesserungsbedürftigEinzelausgaben: De mystica theologia, ed. André Combes, Lucca 1958 (Thesaurus mundi 8). Ders., Essai (s.u.) 1,615 — 869. — Monotessaron. Eine mittelniederdt., erw. Fassung vom Jahre 1513 (Diözesanarchiv Trier, Nr. 75 ), hg. v. 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Posthumus Meyjes, Jean Gerson. Z i j n Kerkpolitiek en ecclesiologie. Avec une table des matières, 'sGravenhage 1 9 6 3 . - D e r s . , J e a n Gerson et l'assemblée de Vincennes ( 1 3 2 9 ) . Ses conceptions de l'Eglise. Accompagné d'une édition critique du De jurisdictione spirituali et temporali, 1 9 7 8 ( S M R T 2 6 ) . Pierre Pourrat, J e a n Gerson et l'appel à la contemplation mystique: R A p 4 9 ( 1 9 2 9 ) 4 2 7 - 4 3 8 . - Francis Rapp, Réformes et Réformation à Strasbourg, Eglise et société dans le diocèse de Strasbourg, ( 1 4 5 0 - 1 5 2 5 ) , Paris 1 9 7 4 . - Z . Rueger, Le ,De auctoritate concilii' de Gerson: R H E 5 3 ( 1 9 5 8 ) 7 7 5 - 7 9 5 . - Louis Salembier, Art. Gerson: D T h C 6 ( 1 9 2 0 ) 1 3 1 3 - 1 3 3 2 . - Carl Schäfer, Die Staatslehre des J o h a n n e s Gerson, Diss.Phil. Köln, Bielefeld 1 9 3 5 . - O t t o Scheel, Dokumente zu Luthers Entwicklung, 1 9 1 1 2 1 9 2 9 (SQS 2 / 2 ) . - Ders., Martin Luther, Tübingen, I 1 9 1 6 , II 3 1 - 4 1 9 3 0 . - David Schmiel, Via Propria et Via Mystica in the Theology o f J e a n le Charlier de Gerson, St. Louis 1 9 6 9 . - J o s e f Schneider, Die Verpflichtung des menschlichen Gesetzes nach Johannes Gerson: Z K T h 7 5 ( 1 9 5 3 ) 1 - 5 4 . - G u n n a Schuch, De mystica theologia dt. Gersons mystische Theol. Eine dt. Ubers, aus dem 15. J h . , Diss. Freiburg i. Br. 1 9 6 9 . - J o h a n n Baptist Schwab, J o h a n n e s Gerson. Prof. der Theol. u. Kanzler der Univ. Paris, Würzburg 1 8 5 8 . — Erich Seeberg, Luthers Theol. I. Die Gottesanschauung, Güttingen 1 9 2 9 . —Heribert Smolinsky, J o h a n n e s Gerson ( 1 3 6 3 - 1 4 2 9 ) , Kanzler der Univ. Paris, u. seine Vorschläge zur R e f o r m der theol. Studien: H J 9 6 ( 1 9 7 6 ) 2 7 0 - 2 9 5 . - Johannes Stelzenberger, Die Mystik des J o h a n n e s Gerson, 1 9 2 8 ( B S H T 10). - Noël Valois, La France et le grand schisme d'occident, Paris 1 8 9 6 - 1 9 0 2 . - Ders., Gerson curé de Saint Jean-en-Grève: Bull, de la Société de l'histoire de Paris et de l'Ile de France 2 8 (Paris 1 9 0 1 ) 4 9 - 5 7 . - Edmond Vansteenberghe, Un écrit de Vincent d'Aggsbach contre Gerson: Stud. zur Gesch. der Phil. F G Clemens Baeumker, 1 9 1 3 ( B G P h M A . S 1) 3 5 7 - 3 6 4 . Ders., Autour de la docte ignorance. Une controverse sur la théologie mystique au X V e siècle, 1 9 1 5 ( B G P h M A 1 4 , 2 / 4 ) . - Ders., Quelques écrits de J e a n Gerson. Textes inédits et études I—XII: R e v S R 13 ( 1 9 3 3 ) 1 6 5 - 1 8 5 . 3 9 3 - 4 1 0 . 4 1 1 - 4 2 4 ; 14 ( 1 9 3 4 ) 1 9 1 - 2 1 8 . 2 7 0 - 3 8 6 . 3 8 7 - 3 9 1 . 3 9 2 - 3 9 5 ; 15 ( 1 9 3 5 ) 5 3 2 - 5 3 9 . 5 4 0 - 5 4 2 . 5 4 3 - 5 5 1 . 5 5 2 f . 5 5 4 - 5 6 6 ; 1 6 ( 1 9 3 6 ) 3 3 - 4 6 . - Ders., Un traité inconnu de Gerson ,Sur la doctrine de R a y m o n d Lulle' (Lyon, 1 4 2 3 ) : R S R 16 ( 1 9 3 6 ) 4 4 1 - 4 7 3 . - Ders., Le Doctrinal de Gerson à la Cathédrale d e T h é r o u a n n e : B S A M 15 ( 1 9 3 4 ) 4 6 7 - 4 7 4 . - D e r s . , Gerson à Bruges: R H E 3 1 ( 1 9 3 5 ) 5 - 5 2 . - D e r s . , Un p r o g r a m m e d'action épiscopale au début du X V e siècle: R e v S R 1 9 ( 1 9 3 9 ) 2 4 - 4 7 . - Louis Vereecke, Droit et morale chez J e a n Gerson: R H D F 4 / 3 2 ( 1 9 5 4 ) 4 1 3 - 4 2 7 . - Paul de V o o g h t , Gerson et le conciliarisme: R H E 6 3 ( 1 9 6 8 ) 8 5 7 - 8 6 7 . - D o r o t h y G. W a y m a n , T h e Chancellor and J e a n n e d'Arc. February-July, A . D . 1 4 2 9 : FrS NS 17 ( 1 9 5 7 ) 2 7 3 - 3 0 5 . - Paul Wilpert, Vita contemplativa und vita activa. Eine Kontroverse des 15. J h . : Passauer Studien. FS Simon Konrad Landersdorfer O S B , Passau 1953 , 2 0 9 - 2 2 7 . Christoph Burger
G e r t r u d (die Große) 1.
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K l o s t e r H e l f t a ( H e l p e d e ) bei E i s l e b e n in d e r G r a f s c h a f t M a n s f e l d bildete i m letzten V i e r tel des 1 3 . J h . ein Z e n t r u m d e u t s c h e r F r a u e n m y s t i k . D a s 1 2 2 9 v o n G r a f B u r c h a r d v o n M a n s f e l d n a h e s e i n e m S c h l o ß g e g r ü n d e t e K l o s t e r w u r d e 1 2 3 4 n a c h R o d e r s d o r f bei H a l b e r s t a d t , 1 2 5 8 n a c h H e l f t a u n d 1 3 4 6 , n a c h seiner Z e r s t ö r u n g , n a c h E i s l e b e n v e r l e g t , w o es bis z u r A u f h e b u n g 1 5 4 6 b e s t a n d . D e r K o n v e n t l e b t e n a c h d e r —>Benediktusregel u n d in d e n e r sten b e i d e n J a h r h u n d e r t e n a u c h n a c h den K o n s t i t u t i o n e n d e r —> Z i s t e r z i e n s e r , o h n e d e m O r d e n , dessen G e n e r a l k a p i t e l 1 2 2 8 die A u f n a h m e n e u e r F r a u e n k o n v e n t e u n t e r s a g t h a t t e , i n k o r p o r i e r t zu sein. Die S e e l s o r g e lag w e i t g e h e n d in d e n H ä n d e n v o n — » D o m i n i k a n e r n . Z w e i t e Ä b t i s s i n w u r d e 1 2 5 1 die 1 9 j ä h r i g e G e r t r u d v o n H a c k e b o r n , die in 4 0 j ä h r i g e r R e g i e r u n g d a s L e b e n des K o n v e n t s p r ä g t e (gest. 1 2 9 1 ) . W ä h r e n d ihres W i r k e n s l e b t e n in H e l f t a drei n a m e n t l i c h b e k a n n t e M y s t i k e r i n n e n : i h r e j ü n g e r e S c h w e s t e r M e c h t h i l d v o n H a c k e b o r n ( 1 2 4 1 - 1 2 9 8 / 9 9 , 7 j ä h r i g e i n g e t r e t e n ) , die e h e m a l i g e B e g i n e — » M e c h t h i l d v o n M a g d e b u r g (seit 1 2 7 0 in H e l f t a ) u n d G e r t r u d (die G r o ß e o d e r die J ü n g e r e ) . D i e a m 6 . J a n . 1 2 5 6 G e b o r e n e w u r d e m i t f ü n f J a h r e n als W a i s e d e m K l o s t e r ü b e r g e b e n ; sie g e n o ß d e n U n t e r r i c h t d e r cantrix
M e c h t h i l d v o n H a c k e b o r n . In d e r M i t t e ihres L e b e n s , a m A b e n d des 2 7 . J a n . 1 2 8 1 ,
v o l l z o g sich n a c h W o c h e n i n n e r e r U n r u h e e i n e W e n d e : N a c h d e r K o m p l e t e r l e b t e sie i h r e e r ste V i s i o n , die i h r e A u f m e r k s a m k e i t a u f i h r i n n e r e s E r l e b e n l e n k t e u n d d e n A n f a n g eines 2 0 j ä h r i g e n i n t e n s i v e n m y s t i s c h e n L e b e n s bilden sollte. E r s t a c h t J a h r e n a c h d i e s e r a m G r ü n d o n n e r s t a g 1 2 8 9 , ü b e r k a m sie i m C h o r d e r als g ö t t l i c h e r A u f t r a g
conversio,
verstandene
D r a n g , i h r e geistlichen E r f a h r u n g e n a u f z u z e i c h n e n . In s p ä t e r e n J a h r e n , die v o n z u n e h m e n -
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Posthumus Meyjes, Jean Gerson. Z i j n Kerkpolitiek en ecclesiologie. Avec une table des matières, 'sGravenhage 1 9 6 3 . - D e r s . , J e a n Gerson et l'assemblée de Vincennes ( 1 3 2 9 ) . Ses conceptions de l'Eglise. Accompagné d'une édition critique du De jurisdictione spirituali et temporali, 1 9 7 8 ( S M R T 2 6 ) . Pierre Pourrat, J e a n Gerson et l'appel à la contemplation mystique: R A p 4 9 ( 1 9 2 9 ) 4 2 7 - 4 3 8 . - Francis Rapp, Réformes et Réformation à Strasbourg, Eglise et société dans le diocèse de Strasbourg, ( 1 4 5 0 - 1 5 2 5 ) , Paris 1 9 7 4 . - Z . Rueger, Le ,De auctoritate concilii' de Gerson: R H E 5 3 ( 1 9 5 8 ) 7 7 5 - 7 9 5 . - Louis Salembier, Art. Gerson: D T h C 6 ( 1 9 2 0 ) 1 3 1 3 - 1 3 3 2 . - Carl Schäfer, Die Staatslehre des J o h a n n e s Gerson, Diss.Phil. Köln, Bielefeld 1 9 3 5 . - O t t o Scheel, Dokumente zu Luthers Entwicklung, 1 9 1 1 2 1 9 2 9 (SQS 2 / 2 ) . - Ders., Martin Luther, Tübingen, I 1 9 1 6 , II 3 1 - 4 1 9 3 0 . - David Schmiel, Via Propria et Via Mystica in the Theology o f J e a n le Charlier de Gerson, St. Louis 1 9 6 9 . - J o s e f Schneider, Die Verpflichtung des menschlichen Gesetzes nach Johannes Gerson: Z K T h 7 5 ( 1 9 5 3 ) 1 - 5 4 . - G u n n a Schuch, De mystica theologia dt. Gersons mystische Theol. Eine dt. Ubers, aus dem 15. J h . , Diss. Freiburg i. Br. 1 9 6 9 . - J o h a n n Baptist Schwab, J o h a n n e s Gerson. Prof. der Theol. u. Kanzler der Univ. Paris, Würzburg 1 8 5 8 . — Erich Seeberg, Luthers Theol. I. Die Gottesanschauung, Güttingen 1 9 2 9 . —Heribert Smolinsky, J o h a n n e s Gerson ( 1 3 6 3 - 1 4 2 9 ) , Kanzler der Univ. Paris, u. seine Vorschläge zur R e f o r m der theol. Studien: H J 9 6 ( 1 9 7 6 ) 2 7 0 - 2 9 5 . - Johannes Stelzenberger, Die Mystik des J o h a n n e s Gerson, 1 9 2 8 ( B S H T 10). - Noël Valois, La France et le grand schisme d'occident, Paris 1 8 9 6 - 1 9 0 2 . - Ders., Gerson curé de Saint Jean-en-Grève: Bull, de la Société de l'histoire de Paris et de l'Ile de France 2 8 (Paris 1 9 0 1 ) 4 9 - 5 7 . - Edmond Vansteenberghe, Un écrit de Vincent d'Aggsbach contre Gerson: Stud. zur Gesch. der Phil. F G Clemens Baeumker, 1 9 1 3 ( B G P h M A . S 1) 3 5 7 - 3 6 4 . Ders., Autour de la docte ignorance. Une controverse sur la théologie mystique au X V e siècle, 1 9 1 5 ( B G P h M A 1 4 , 2 / 4 ) . - Ders., Quelques écrits de J e a n Gerson. Textes inédits et études I—XII: R e v S R 13 ( 1 9 3 3 ) 1 6 5 - 1 8 5 . 3 9 3 - 4 1 0 . 4 1 1 - 4 2 4 ; 14 ( 1 9 3 4 ) 1 9 1 - 2 1 8 . 2 7 0 - 3 8 6 . 3 8 7 - 3 9 1 . 3 9 2 - 3 9 5 ; 15 ( 1 9 3 5 ) 5 3 2 - 5 3 9 . 5 4 0 - 5 4 2 . 5 4 3 - 5 5 1 . 5 5 2 f . 5 5 4 - 5 6 6 ; 1 6 ( 1 9 3 6 ) 3 3 - 4 6 . - Ders., Un traité inconnu de Gerson ,Sur la doctrine de R a y m o n d Lulle' (Lyon, 1 4 2 3 ) : R S R 16 ( 1 9 3 6 ) 4 4 1 - 4 7 3 . - Ders., Le Doctrinal de Gerson à la Cathédrale d e T h é r o u a n n e : B S A M 15 ( 1 9 3 4 ) 4 6 7 - 4 7 4 . - D e r s . , Gerson à Bruges: R H E 3 1 ( 1 9 3 5 ) 5 - 5 2 . - D e r s . , Un p r o g r a m m e d'action épiscopale au début du X V e siècle: R e v S R 1 9 ( 1 9 3 9 ) 2 4 - 4 7 . - Louis Vereecke, Droit et morale chez J e a n Gerson: R H D F 4 / 3 2 ( 1 9 5 4 ) 4 1 3 - 4 2 7 . - Paul de V o o g h t , Gerson et le conciliarisme: R H E 6 3 ( 1 9 6 8 ) 8 5 7 - 8 6 7 . - D o r o t h y G. W a y m a n , T h e Chancellor and J e a n n e d'Arc. February-July, A . D . 1 4 2 9 : FrS NS 17 ( 1 9 5 7 ) 2 7 3 - 3 0 5 . - Paul Wilpert, Vita contemplativa und vita activa. Eine Kontroverse des 15. J h . : Passauer Studien. FS Simon Konrad Landersdorfer O S B , Passau 1953 , 2 0 9 - 2 2 7 . Christoph Burger
G e r t r u d (die Große) 1.
von Helfta (12
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Leben
K l o s t e r H e l f t a ( H e l p e d e ) bei E i s l e b e n in d e r G r a f s c h a f t M a n s f e l d bildete i m letzten V i e r tel des 1 3 . J h . ein Z e n t r u m d e u t s c h e r F r a u e n m y s t i k . D a s 1 2 2 9 v o n G r a f B u r c h a r d v o n M a n s f e l d n a h e s e i n e m S c h l o ß g e g r ü n d e t e K l o s t e r w u r d e 1 2 3 4 n a c h R o d e r s d o r f bei H a l b e r s t a d t , 1 2 5 8 n a c h H e l f t a u n d 1 3 4 6 , n a c h seiner Z e r s t ö r u n g , n a c h E i s l e b e n v e r l e g t , w o es bis z u r A u f h e b u n g 1 5 4 6 b e s t a n d . D e r K o n v e n t l e b t e n a c h d e r —>Benediktusregel u n d in d e n e r sten b e i d e n J a h r h u n d e r t e n a u c h n a c h den K o n s t i t u t i o n e n d e r —> Z i s t e r z i e n s e r , o h n e d e m O r d e n , dessen G e n e r a l k a p i t e l 1 2 2 8 die A u f n a h m e n e u e r F r a u e n k o n v e n t e u n t e r s a g t h a t t e , i n k o r p o r i e r t zu sein. Die S e e l s o r g e lag w e i t g e h e n d in d e n H ä n d e n v o n — » D o m i n i k a n e r n . Z w e i t e Ä b t i s s i n w u r d e 1 2 5 1 die 1 9 j ä h r i g e G e r t r u d v o n H a c k e b o r n , die in 4 0 j ä h r i g e r R e g i e r u n g d a s L e b e n des K o n v e n t s p r ä g t e (gest. 1 2 9 1 ) . W ä h r e n d ihres W i r k e n s l e b t e n in H e l f t a drei n a m e n t l i c h b e k a n n t e M y s t i k e r i n n e n : i h r e j ü n g e r e S c h w e s t e r M e c h t h i l d v o n H a c k e b o r n ( 1 2 4 1 - 1 2 9 8 / 9 9 , 7 j ä h r i g e i n g e t r e t e n ) , die e h e m a l i g e B e g i n e — » M e c h t h i l d v o n M a g d e b u r g (seit 1 2 7 0 in H e l f t a ) u n d G e r t r u d (die G r o ß e o d e r die J ü n g e r e ) . D i e a m 6 . J a n . 1 2 5 6 G e b o r e n e w u r d e m i t f ü n f J a h r e n als W a i s e d e m K l o s t e r ü b e r g e b e n ; sie g e n o ß d e n U n t e r r i c h t d e r cantrix
M e c h t h i l d v o n H a c k e b o r n . In d e r M i t t e ihres L e b e n s , a m A b e n d des 2 7 . J a n . 1 2 8 1 ,
v o l l z o g sich n a c h W o c h e n i n n e r e r U n r u h e e i n e W e n d e : N a c h d e r K o m p l e t e r l e b t e sie i h r e e r ste V i s i o n , die i h r e A u f m e r k s a m k e i t a u f i h r i n n e r e s E r l e b e n l e n k t e u n d d e n A n f a n g eines 2 0 j ä h r i g e n i n t e n s i v e n m y s t i s c h e n L e b e n s bilden sollte. E r s t a c h t J a h r e n a c h d i e s e r a m G r ü n d o n n e r s t a g 1 2 8 9 , ü b e r k a m sie i m C h o r d e r als g ö t t l i c h e r A u f t r a g
conversio,
verstandene
D r a n g , i h r e geistlichen E r f a h r u n g e n a u f z u z e i c h n e n . In s p ä t e r e n J a h r e n , die v o n z u n e h m e n -
Gertrud von Helfta
539
dem körperlichen Leiden beschwert waren, ließ sie ihre Offenbarungen auch von Mitschwestern festhalten. Als ihre Lehrerin M e c h t h i l d , die ihr mystisches Erleben bisher verborgen hatte, etwa um die Zeit des T o d e s ihrer Schwester, der Äbtissin Gertrud, bettlägerig wurde, eröffnete sie sich einigen Vertrauten. Die jüngere Gertrud schrieb diese Berichte zusammen mit einer anderen N o n n e in deutscher Sprache nieder; die ursprüngliche Fassung ist zwar verloren, aber eine lateinische Übertragung ( U b e r specialis gratiae) ist erhalten. W e n i g e J a h r e nach ihrer Lehrerin, an einem 17. N o v e m b e r ( 1 3 0 1 oder 1 3 0 2 ) , starb auch Gertrud.
2. Werk In gewisser Weise kann man den Liber specialis gratiae (eine in 7 Teilen mit 2 6 5 kurzen Kapiteln nach sachlichen Gesichtspunkten geordnete Sammlung von Zeugnissen und Anleitungen geistlichen Lebens) zu Gertruds W e r k e n zählen. In deutscher und lateinischer Sprache dürfte Gertrud verschiedene kleinere Schriften verfaßt haben (darunter Sammlungen von Väterworten und Auslegungen von Schriftstellen). Erhalten sind davon nur dieExercitia spiritualia, sieben Meditationen, die zu immer vollkommenerer Einigung mit Gott hinführen wollen und kurze Verhaltensanweisungen mit ausführlichen Gebetstexten verbinden. Ihre Gegenstände sind: 1. die Taufgnade; 2. die monastische conversici mit der Einkleidung; 3. der liturgische Vollzug der Verbindung mit Christus; 4. die Profeß; 5. die Liebe zu Gott; 6. der Lobpreis Gottes; 7. die Versöhnung des Sünders mit Gott und die Uberwindung des Todes. Gertruds Hauptwerk ist der Legatus divinae pietatis, in dem die Geschichte ihrer eigenen mystischen Erfahrungen festgehalten ist. Sein Herzstück ist das von Gertrud selbst 1289 verfaßte 2. Buch, in dem sie über ihre Erlebnisse seit dem 27. Jan. 1281 berichtet. Buch 3 - 5 sind von einer oder zwei Vertrauten wohl kurz vor Gertruds Tod redigiert worden. Buch 3 enthält Belehrungen über die verschiedensten Themen, wie über den Sinn von Krankheit und Leiden, über Wesen, Teile und Wirkungen der Meßfeier, die 7 Hören Mariae, die Beziehungen des Gläubigen zum Gekreuzigten, die Schläge des Herzens Jesu u. dgl. Die Offenbarungen von Buch 4 sind in der liturgischen Folge der Feste von Advent bis Kirchweih angeordnet; sie bieten eine geistliche Auslegung des —»Kirchenjahrs. Buch 5 enthält - mit dem Tode der Äbtissin Gertrud beginnend - Schilderungen erbaulichen Sterbens sowie Offenbarungen über die rechte Bereitung zum Tode. Erst nach Gertruds Tod wurde schließlich eine enkomiastische Beschreibung ihres an äußeren Ereignissen armen Lebens und an Tugenden reichen Charakters als Buch 1 an die Spitze des ganzen Werks gestellt. Gertrud hat keine T h e o r i e mystischen Lebens hinterlassen, w o h l a b e r auf der Grundlage einer guten literarischen und theologischen Bildung, durch die sie außer mit der —» Bibel v. a. mit —»Augustin und —»Bernhard von Clairvaux, aber auch mit —»Hieronymus, —»Gregor d . G r . , —»Beda, den Viktorinern ( - » S a n k t V i k t o r , Schule von) u . a . vertraut war, eine Reihe aufschlußreicher Erfahrungsberichte und Anweisungen gegeben. O b w o h l das eigene Erleben im Grunde unaussprechlich ist, empfand sie die Verpflichtung, zum L o b e G o t t e s und zum Nutzen ihrer Mitschwestern zu reden. Sie gibt eine Fülle von Hinweisen zum Verständnis der liturgischen Praxis und für die Gestaltung des eigenen Lebens mit G o t t , für die Bewährung in Krankheit und T o d e s n o t . Das Erleben der Liturgie, des Stundengebets und der M e ß f e i e r , die Versenkung in Leiden und Herrlichkeit Jesu Christi, insbesondere aber die Andacht vor dem Herzen Jesu, wie sie schon Mechthild von M a g d e b u r g und M e c h t h i l d von H a c k e b o r n geübt hatten, bilden äußeren R a h m e n und methodisch gepflegten Anlaß zur Vorbereitung auf mystische Erfahrungen. In der Verehrung des Herzens Jesu verschiebt sich übrigens der Akzent vom leidenden Herzen des Gekreuzigten (Leg. 2 , 5 ) auf das vergöttlichte Herz des Erhöhten (Leg. 3 , 2 5 , 1 ) . — So wird Gertrud zu einer Lehrerin von Andacht und Gebet—nicht so sehr durch Reflexion als durch ihr Vorbild, praktische Anleitung und die zahlreichen ausformulierten Gebete.
3.
Nachwirkung
Gertrud scheint im Mittelalter relativ geringe W i r k u n g ausgeübt zu haben. Das zeigt sich schon an der Uberlieferung ihrer Schriften, die erst im 15. J h . f a ß b a r wird. V o m Legatus sind den Herausgebern der neuesten Ausgabe nur 5 (nicht immer vollständige) M a n u s k r i p t e bekannt, das älteste von 1 4 1 2 . E t w a s häufiger sind die Handschriften einer auszugsweisen deutschen Übertragung mit dem Titel: ein botte dergötlichen miltekeit (7 Handschriften des
540
Gesandtschaftswesen, Päpstliches
15. Jh.). Daraus wurde schon früh ein abermals verkürzter Auszug hergestellt (von sand Trutta der iurtckfrawen; 3 Handschriften in österreichischen Bibliotheken, die älteste von 1442). Erstmals gedruckt wurde das Werk 1505 von Melchior Lotter in Leipzig in der deutschen Fassung {botte). Den lateinischen Text von Legatus und Exercitia gab zuerst der Kölner Kartäuser Johann Lanspergius bei Melchior Novesian in Köln 1536 heraus. Von den Exercitia existiert überhaupt keine Handschrift mehr; der Druck von 1536 ist ältester Zeuge der Überlieferung. - Ein zweites Indiz für die Vernachlässigung Gertruds ist die Tatsache, daß sie schon früh (schon im deutschen Druck von 1505) mit der Äbtissin Gertrud identifiziert wurde - ein Irrtum, der bis in jüngste Zeit fortgewirkt hat (z. B. noch bei E. Benz, Die Vision, 1969, 470; aus dem Brevier wurde er erst 1953 entfernt). Die Handschriften des 15. Jh. bezeugen ein damals erwachendes Interesse an Gertrud, und die Ausgabe des Lanspergius hat entscheidend zur weiteren Beschäftigung mit ihr beigetragen. Noch im 16. Jh. folgten weitere Editionen und Übersetzungen in Volkssprachen (ital. 1560; dt. 1563; franz. 1580; span. 1601/07; Liste in der Ed. v. Hourlier/Schmitt 52 f). Schon früh wurden Auszüge aus Gertruds Schriften veranstaltet; am berühmtesten ist wohl die von dem Kapuziner Martin von Cochem zusammengestellte, immer wieder aufgelegte, übersetzte, bearbeitete und imitierte Gebetsammlung: Gertruden-Buch ... (Köln 1666). Parallel zur Verbreitung und zum Einfluß ihrer Schriften auf die Frömmigkeit entwickelte sich die Verehrung Gertruds, v. a. im benediktinischen Mönchtum (zuerst 1606 im Benediktinerinnenkonvent von Lecce [Apulien]). Ohne offiziell heiliggesprochen zu sein, wurde sie 1678 ins Martyrologium eingetragen; 1738 wurde ihr Fest auf die ganze römische Kirche ausgedehnt. Bis heute gehören ihre Schriften zur klassischen —»Erbauungsliteratur; wissenschaftliche Untersuchungen ihres Werks und ihrer Wirkung sind noch zu leisten. Quellen Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae..., ed. Solesmensium O.S.B, monachorum cura. . ., 2 Bde., Poitiers/Paris 1 8 7 5 - 7 7 . - Gertrude d'Helfta, Œuvres spirituelles. I. Les exercices, ed. J. Hourlier/A. Schmitt, 1967 (SC 127); I I - I V . Le héraut, ed. P. Doyère (II-III)/J.-M. Clément u.a. (IV), 1 9 6 8 - 7 8 (SC 139; 143; 255) [Buch 5 fehlt noch]. - Otmar Wieland, Gertrud v. Helfta: ein botte der götlichen miltekeit, 1973 (SMGB.E 22). - Max Krühne, Urkundenbuch der Klöster der Grafschaft Mansfeld, Halle 1888 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 20) 1 2 7 - 2 9 7 . Literatur Heute grundlegend die Introductions zu Œuvres spirituelles (s. o.) I u. II (Bibliogr.). - Pierre Doyère, Art. Gertrud?d'Helfta: DSp 6 (1965) 3 3 1 - 3 3 9 (Bibliogr.).
Ulrich Köpf Gesandtschaftswesen, Päpstliches 1. Grundsätzliches 2. Bis zur Entstehung des Kirchenstaates 3. Mittelalter 4. Frühe Neuzeit und Kirchenreform 5. Krisen seit dem 17. Jh. 6. 19. Jahrhundert 7. Geltendes Recht (Literatur S. 547)
1.
Grundsätzliches
Im Gesandtschaftswesen kommen die internationale Stellung und Präsenz des —»Papsttums besonders augenfällig zum Ausdruck. Es wurzelt im Selbstverständnis des päpstlichen Amtes und seiner Fürsorgefunktion für alle Kirchen des Orbis christianus. Seine faktische Entwicklung steht daher in engem Zusammenhang mit der Ausgestaltung des päpstlichen (Jurisdiktions-)Primates und ist vor allem durch den Wandel des Verhältnisses von päpstlicher und bischöflicher Gewalt, daneben auch durch das Verhältnis von —»Kirche und Staat bedingt worden. Daher lassen sich die päpstlichen Gesandten von Anfang an nach ihren jeweiligen Adressaten prinzipiell in zwei Gruppen aufteilen, die entweder innerkirchlichen Empfängern (Bischöfen, Konzilien) galten oder an weltliche Instanzen (Herrscher, Staaten) gerichtet waren. Beide Empfängertypen sind freilich nicht immer streng voneinander zu scheiden, und oft gilt - wie bei den heutigen Nuntien - die päpstliche Gesandtschaft beiden Adressaten zugleich. Eine weitere durchgängige Unterscheidung ist zwischen ad-hoc- und
540
Gesandtschaftswesen, Päpstliches
15. Jh.). Daraus wurde schon früh ein abermals verkürzter Auszug hergestellt (von sand Trutta der iurtckfrawen; 3 Handschriften in österreichischen Bibliotheken, die älteste von 1442). Erstmals gedruckt wurde das Werk 1505 von Melchior Lotter in Leipzig in der deutschen Fassung {botte). Den lateinischen Text von Legatus und Exercitia gab zuerst der Kölner Kartäuser Johann Lanspergius bei Melchior Novesian in Köln 1536 heraus. Von den Exercitia existiert überhaupt keine Handschrift mehr; der Druck von 1536 ist ältester Zeuge der Überlieferung. - Ein zweites Indiz für die Vernachlässigung Gertruds ist die Tatsache, daß sie schon früh (schon im deutschen Druck von 1505) mit der Äbtissin Gertrud identifiziert wurde - ein Irrtum, der bis in jüngste Zeit fortgewirkt hat (z. B. noch bei E. Benz, Die Vision, 1969, 470; aus dem Brevier wurde er erst 1953 entfernt). Die Handschriften des 15. Jh. bezeugen ein damals erwachendes Interesse an Gertrud, und die Ausgabe des Lanspergius hat entscheidend zur weiteren Beschäftigung mit ihr beigetragen. Noch im 16. Jh. folgten weitere Editionen und Übersetzungen in Volkssprachen (ital. 1560; dt. 1563; franz. 1580; span. 1601/07; Liste in der Ed. v. Hourlier/Schmitt 52 f). Schon früh wurden Auszüge aus Gertruds Schriften veranstaltet; am berühmtesten ist wohl die von dem Kapuziner Martin von Cochem zusammengestellte, immer wieder aufgelegte, übersetzte, bearbeitete und imitierte Gebetsammlung: Gertruden-Buch ... (Köln 1666). Parallel zur Verbreitung und zum Einfluß ihrer Schriften auf die Frömmigkeit entwickelte sich die Verehrung Gertruds, v. a. im benediktinischen Mönchtum (zuerst 1606 im Benediktinerinnenkonvent von Lecce [Apulien]). Ohne offiziell heiliggesprochen zu sein, wurde sie 1678 ins Martyrologium eingetragen; 1738 wurde ihr Fest auf die ganze römische Kirche ausgedehnt. Bis heute gehören ihre Schriften zur klassischen —»Erbauungsliteratur; wissenschaftliche Untersuchungen ihres Werks und ihrer Wirkung sind noch zu leisten. Quellen Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae..., ed. Solesmensium O.S.B, monachorum cura. . ., 2 Bde., Poitiers/Paris 1 8 7 5 - 7 7 . - Gertrude d'Helfta, Œuvres spirituelles. I. Les exercices, ed. J. Hourlier/A. Schmitt, 1967 (SC 127); I I - I V . Le héraut, ed. P. Doyère (II-III)/J.-M. Clément u.a. (IV), 1 9 6 8 - 7 8 (SC 139; 143; 255) [Buch 5 fehlt noch]. - Otmar Wieland, Gertrud v. Helfta: ein botte der götlichen miltekeit, 1973 (SMGB.E 22). - Max Krühne, Urkundenbuch der Klöster der Grafschaft Mansfeld, Halle 1888 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 20) 1 2 7 - 2 9 7 . Literatur Heute grundlegend die Introductions zu Œuvres spirituelles (s. o.) I u. II (Bibliogr.). - Pierre Doyère, Art. Gertrud?d'Helfta: DSp 6 (1965) 3 3 1 - 3 3 9 (Bibliogr.).
Ulrich Köpf Gesandtschaftswesen, Päpstliches 1. Grundsätzliches 2. Bis zur Entstehung des Kirchenstaates 3. Mittelalter 4. Frühe Neuzeit und Kirchenreform 5. Krisen seit dem 17. Jh. 6. 19. Jahrhundert 7. Geltendes Recht (Literatur S. 547)
1.
Grundsätzliches
Im Gesandtschaftswesen kommen die internationale Stellung und Präsenz des —»Papsttums besonders augenfällig zum Ausdruck. Es wurzelt im Selbstverständnis des päpstlichen Amtes und seiner Fürsorgefunktion für alle Kirchen des Orbis christianus. Seine faktische Entwicklung steht daher in engem Zusammenhang mit der Ausgestaltung des päpstlichen (Jurisdiktions-)Primates und ist vor allem durch den Wandel des Verhältnisses von päpstlicher und bischöflicher Gewalt, daneben auch durch das Verhältnis von —»Kirche und Staat bedingt worden. Daher lassen sich die päpstlichen Gesandten von Anfang an nach ihren jeweiligen Adressaten prinzipiell in zwei Gruppen aufteilen, die entweder innerkirchlichen Empfängern (Bischöfen, Konzilien) galten oder an weltliche Instanzen (Herrscher, Staaten) gerichtet waren. Beide Empfängertypen sind freilich nicht immer streng voneinander zu scheiden, und oft gilt - wie bei den heutigen Nuntien - die päpstliche Gesandtschaft beiden Adressaten zugleich. Eine weitere durchgängige Unterscheidung ist zwischen ad-hoc- und
Gesandtschaftswesen, Päpstliches
541
ständigen Gesandtschaften zu machen. Kirchliche Instanzen (Konzilien, Bischöfe) haben sich seit dem 4. Jh. untereinander und dem Staat gegenüber vielfach durch Gesandtschaften verständigt. Das galt u.a. für die Stellvertretung auf Konzilien. 2. Bis zur Entstehung
des
Kirchenstaates
Als erste päpstliche Gesandte mit zeitlich begrenztem Auftrag werden im allgemeinen jene zwei römischen Priester angesehen, die 314 als missi ex urbe Roma a Syluestro episcopo auf dem Konzil von Arles erschienen. Auch auf den acht ersten ökumenischen Konzilen sowie auf wichtigen Partikularsynoden waren die Päpste durch Gesandte vertreten, und nach can. 3, 4, 7 des Konzils von Serdika (343) konnten sich abgesetzte Bischöfe an den Bischof von Rom wenden, ut de latere suo presbyterum mittat, der mit den Provinzialbischöfen unter der Autorität des Bischofs von Rom den Streitfall entscheide. Seitdem haben die Bischöfe von Rom häufig Gesandte zur Entscheidung von Streitfällen bestellt. —»Leo I. entsandte 451 nach —»Chalkedon Legaten ex latere suo, vice mea, die die Unterschriftenliste unter den Konzilsakten anführten. Die Formel a latere ging seit dem Beginn des 5. Jh. in den Begriff des legatus a latere ein, der im Mittelalter zur stehenden Formel für die ranghöchsten päpstlichen Gesandten wurde. Als ständige päpstliche Gesandte gab es bis ins 11. Jh. Apostolische Vikare, Ortsbischöfe, die mit Sondervollmachten über andere Bischöfe ihres Gebietes ausgestattet waren. Als eine Art Ober-Metropoliten stand ihnen das Recht zur Ordination von Metropoliten, zur Einberufung von Synoden und zur Schlichtung von Streitigkeiten zu. Der Metropolit von Thessalonike erhielt diese Stellung wahrscheinlich schon unter Damasus I. (366—384). 417 wurde Arles aus Anlaß eines Vorrangstreites zum Apostolischen Vikariat erhoben. Dessen Metropolit war späterVikar von Gallien und Primas für einen Teil von Spanien. Neben diesen innerkirchlich beauftragten Gesandten unterhielten die Päpste seit dem 5. Jh. zeitweise Apokrisiare am kaiserlichen Hof, bzw. beim byzantinischen Vikar in Ravenna. Sie können als Vorläufer der eigentlichen Diplomaten angesehen werden und nahmen zeitweise umfassendere diplomatische Aufgaben wahr. Sie waren Diakone. Ihr hohes Ansehen äußerte sich u. a. darin, daß einige zum Papstamt aufstiegen. Das Amt und damit vorläufig auch das Institut ständiger päpstlicher Gesandter erlosch im 8. Jh. im Zusammenhang mit dem Bilderstreit. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Wurzeln des päpstlichen Gesandtschaftswesens weit vor der Herausbildung des —»Kirchenstaates zu suchen sind. 3.
Mittelalter
Während des Mittelalters sind die internationale Stellung des Papsttums und damit seines Gesandtschaftswesens einerseits durch die Entwicklung der Kanonistik zur eigenen Disziplin, andererseits durch die Entstehung des Kirchenstaates maßgeblich beeinflußt worden. Das kanonische Recht erwies sich als wertvolles Instrument für die Regierung der Kirche und die Gestaltung der Beziehungen zu den weltlichen Mächten, während der Kirchenstaat dem Papsttum nicht nur einen relativ großen Freiheitsraum, sondern nach der -» Reformation einen auch von den protestantischen Mächten anerkannten Status garantierte. Im frühen Mittelalter bildete sich in Weiterentwicklung eines bereits vorhandenen Typus die Sonderform der päpstlichen Missionslegaten heraus, die mit weitreichenden Befugnissen zum Ausbau der kirchlichen Hierarchie in bestimmten Gebieten ausgestattet waren. Hervorragende Vertreter dieses Typus waren —»Bonifatius und Methodius (—»Cyrillus und Methodius). Daneben konnten auch Ortsbischöfe, wie der Erzbischof von Bremen-Hamburg (—»Bremen), die Stellung eines päpstlichen Gesandten erhalten. Daraus hat sich später der Typus des legatus natus entwickelt, dem eine die Rechtsstellung der Metropoliten überschreitende hoheitliche Gewalt über ein größeres Gebiet zukam. In Deutschland betraf das die Erzbischöfe von Salzburg, —»Mainz, —»Trier und —» Köln. Seit der Missionierung der germanischen Völker sandten die Päpste wiederholt Gesandte in Friedensmissionen oder mit Hilfsersuchen für den Kirchenstaat an die fränkischen Herr-
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Gesandtschaftswesen,
Päpstliches
scher. Die Reformpäpste des 11. J h . bedienten sich Gesandter zur Durchsetzung kirchlicher Reformbestrebungen, und unter —»Gregor VII. sind dann bleibende Eigentümlichkeiten des päpstlichen Gesandtschaftswesens entwickelt worden. Dazu gehörte die Unterscheidung in Gesandte mit einem Dauerauftrag, wobei es sich zumeist um die Inhaber angesehener Bischofssitze handelte, und in Gesandte mit einem zeitlich begrenzten Auftrag, die aus dem römischen Klerus gewählt wurden (legati romani). Diese Unterscheidung ist im Dekretalenrecht durch die Einteilung der päpstlichen Gesandten in legati a latere, legati missi und legati nati weiter entfaltet worden. Die höchste Stufe bildeten die legati a latere (auch legati pontificis, legati laterales, legati specialissimi), Kardinäle, die als persönliche Vertreter des Papstes mit umfassender Vollmacht ausgestattet waren. Als legati missi (auch nuncii sedis apostolicae) bezeichnete man nicht-kardinalizische Gesandte, die in jenen Fällen beauftragt wurden, in denen der Rang des Empfängers nicht die Entsendung eines Kardinals gebot. Bei den legati nati {auchlegati perpetui) handelte es sich um regierende Bischöfe, denen die Rechte päpstlicher Gesandter aufgrund des Herkommens zustanden. Diese Klassifizierung ist jedoch häufig durch Sondervollmachten gesprengt und dadurch verwischt worden. Nach dem Dekretalenrecht besaßen die päpstlichen Gesandten eine stellvertretende, mit der territorialen konkurrierende iurisdictio ordinaria. Dazu erhielten die ad-hoc-Gesandten spezielle Vollmachten. Die Gesandten wurden in umfassender Weise auf dem Gebiet der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung tätig und griffen dadurch in die bischöfliche Zuständigkeit weit ein. Während des abendländischen —»Schismas versuchten Papst und Gegenpapst, ihre Obödienzen durch die Entsendung von Gesandten auszuweiten, und nach der Beilegung des Schismas kam es in Abstimmung mit den weltlichen Herrschern zur Entsendung von Nationallegaten mit Aufträgen auf dem Gebiet der Kirchenreform. Dadurch sind letztlich staatskirchenrechtliche Bestrebungen gefördert worden. In -»Sizilien schufen die weltlichen Herrscher unter Berufung auf die Verleihung von Legatenrechten durch - » U r b a n II. ( 1 0 9 8 ) und Paschalis II. ( 1 1 1 7 ) ein Staatskirchentum und beanspruchten die päpstlichen Jurisdiktionsrechte.
4. Frühe Neuzeit und Kirchenreform
(—»Katholische
Reform)
Seit dem Ende des 15. J h . sahen die Päpste sich durch ihre Territorialpolitik veranlaßt, die Zahl ihrer Gesandten zu vermehren und die Dauer ihrer Legationen zu verlängern. Dabei konnten sie an die Einrichtung der Kollektoren anknüpfen, die von festen Amtssitzen aus Abgaben für die Apostolische Kammer eintrieben und die seit dem 14. J h . vielfach mit kirchlichen und politischen Zusatzaufgaben betraut waren. Seit dem Aufkommen ständiger Nuntiaturen sind sie allmählich verschwunden. Diese sind im ersten Drittel des 16. J h . gleichzeitig mit dem ständigen Gesandtschaftswesen der italienischen Stadt- und Kleinstaaten entstanden. Als erste ständige Nuntiatur gilt die in Venedig ( 1 5 0 0 ) , deren Inhaber freilich beim T o d —»Alexanders VI. sofort seine Stelle verließ, worin die zunächst noch starke Bindung an die Person des Auftraggebers zum Ausdruck kam. Diese ist mit der Verfestigung des Instituts zurückgetreten. Zum ersten ständigen Nuntius beim Kaiser ernannte —»Leo X . 1 5 1 3 L. -»Campeggio. Im übrigen war der Ubergang von den zeitlich begrenzten zu den ständigen Nuntiaturen fließend, so daß sich deren Beginn nicht überall zeitlich fixieren läßt. Wegen der zunächst vorwiegend politischen Aufgabenstellung haben die Päpste im Zeitalter des Humanismus oft Gelehrte und Künstler mit diplomatischen Missionen beauftragt, während Leo X . und —»Clemens VII. auch florentinische Laiendiplomaten heranzogen. Wie sehr das Nuntiaturwesen noch in Bewegung war, zeigt sich u. a. darin, daß von 1 5 1 4 bis 1 5 3 1 allein an —»Franz I. von Frankreich 4 3 Gesandte abgingen. Zu einem vorläufigen Abschluß k a m die Neugestaltung des päpstlichen Gesandtschaftswesens unter —»Paul III., der die Nuntien seinem Kardinalnepoten unterstellte. Seitdem setzte sich nicht nur die Bezeichnung Nuntius exklusiv für den ständigen Gesandten neben dem bis dahin auch gebräuchlichen Orator durch, sondern Paul III. entsandte im Hinblick auf die reformatorische Bewegung und die damit stärker in den Vordergrund tretende religiöse Aufgabenstellung weniger diplomatisch als theologisch gebildete Persönlichkeiten.
Gesandtschaftswesen,
Päpstliches
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In den außeritalienischen Ländern waren die Nuntien seitdem in der Regel italienische Bischöfe oder Erzbischöfe. Beim Beginn des —>Tridentinum (1545) gab es ständige Nuntiaturen in Venedig, Spanien, Frankreich und am Kaiserhof. Das Tridentinum hat die Rechtsstellung der päpstlichen Gesandten in der Art neugeordnet, daß es die ordentliche Hirtengewalt der Ortsbischöfe, die bis dahin durch die den Gesandten nach dem Dekretalenrecht zukommende Stellung vielfach beeinträchtigt war, wieder stärkte (Sess. X X I V , c. 20). Es bestimmte insbesondere, daß die Nuntien in die bischöfliche Jurisdiktion nur in jenen Fällen eingreifen durften, wo Nachlässigkeiten vorlagen. Andererseits wurde den Nuntien durch die Übertragung der Informativprozesse über die Tauglichkeit zum Bischofsamt ein Einfluß von größter Tragweite auf die Rekrutierung des Führungspersonals gegeben (Sess. X X I I , c. 2). Die Durchführung dieser Beschlüsse folgte im allgemeinen bald nach Erlaß, und während S. —»Hosius alsnuntius cum potestate legati a latere beim Kaiserhof (1560—1561) noch die erstinstanzliche Gerichtsvollmacht besaß, enthielt die Instruktion für Melchior Biglio ( 1 5 6 5 - 1 5 7 1 ) bereits einen Hinweis auf die Bestimmungen des Konzils. Ausgenommen von der Neuregelung blieb Spanien, wo unter —»Gregor XIII. ein Nuntiaturtribunal als erstinstanzliches Gericht entstand, aus dem sich später die spanische Rota entwickelte. Für die nachtridentinische Ausgestaltung des Gesandtschaftswesens war der Pontifikat Gregors XIII. von größter Bedeutung. Dieser hatte selbst in Spanien als Legat Erfahrungen sammeln und seine Mission erfolgreich beenden können. Zu Beginn seines Pontifikates bestanden Nuntiaturen in Florenz, Neapel, Turin, Venedig, Frankreich, Spanien, Portugal, Polen und beim Kaiserhof. Neben diesen schon traditionellen Missionen bei katholischen Mächten hat Gregor XIII. auf Anregung der 1 5 7 2 neu berufenen und von P. —»Canisius beratenen Congregatio Germanica einen neuartigen Gesandtschaftstyp für die von der Reformation bedrohten Gebiete Mitteleuropas geschaffen, der dem päpstlichen Gesandtschaftswesen für einige Jahrzehnte zu außerordentlichem Aufschwung verhalf. Das Ziel dieser Neugründungen bildete die Durchsetzung der tridentinischen Reformdekrete. Daher wurd e n sie „Reformnuntiaturen" genannt. Sie haben sich auf die weitere Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens stark ausgewirkt und, obwohl primär innerkirchlich orientiert, zugleich auch politische Bedeutung erlangt. 1 5 7 3 entsandte Gregor XIII. die ersten Reformnuntien nach Köln, Salzburg, Innerösterreich und Tirol, doch kam es in Graz erst 1 5 8 0 und in Köln erst 1 5 8 4 zur dauernden Einrichtung, während sich die Salzburger Nuntiatur nicht hielt. Auf Drängen der katholischen Kantone hatte Gregor XIII. 1 5 7 9 die Schweizer Nuntiatur von Como nach Luzern verlegt. Er hat außerdem die spätere belgische Nuntiatur (gegr. 1596) vorbereitet. Neben den deutschen Reformnuntiaturen behielt die beim Kaiser bestehende Nuntiatur bis zum Ende des Reiches (1806) ihren Vorrang, und ihre Inhaber konnten im ganzen Reichsgebiet Jurisdiktion ausüben. Wie weit der Einfluß der Reformnuntien gehen konnte, zeigte sich darin, daß die Kölner Nuntien unter dem schwachen, aber der Kirchenreform nicht abgeneigten Erzbischof Ernst von Bayern (1583—1612) sogar den Vorsitz im Kirchenrat und dadurch den maßgebenden Einfluß auf die Kirchenreform besaßen. Gregor XIII. hat über die Vermehrung und neue Akzentsetzung hinaus auch die normative Ausgestaltung des Gesandtschaftswesens betrieben. Nunmehr wurde die Unterscheidung in Legaten und ständige Nuntien streng durchgeführt und der Begriff des Nuntius päpstlichen Gesandten reserviert, während er zuvor auch für staatliche Gesandte üblich war. Wichtiger war die Unterscheidung in große und kleine bzw. in Nuntiaturen 1. und 2. Klasse, die der Bedeutung der Macht entsprachen, bei der die Betreffende akkreditiert war. In späterer Zeit hatten die Inhaber von Nuntiaturen 1. Klasse bei ihrer Rückberufung an die Kurie die sichere Aussicht auf das Kardinalat. Mit dem Amt des Nuntius selbst galt diese Würde dagegen als nicht vereinbar. Einen wichtigen Schritt zur Konsolidierung bildete ferner die von Gregor XIII. betriebene Einrichtung fester Residenzen. Der unter Gregor XIII. ausgebildete diplomatische Dienst ist nahezu ausschließlich mit italienischem Personal besetzt worden. Unter den ca. 3 0 0 Nuntien, die von 1 5 6 0 bis 1 6 5 0
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Gesandtschaftswesen,
Päpstliches
wirkten, waren nur drei Nichtitaliener. Dazu kam der durch die Kurienreform —»Sixtus' V. betonte römische Zentralismus, der ebenfalls im Dienst der Kirchenreform stand und den Nuntien vermehrte Fakultäten brachte. 5. Krisen seit dem 17. Jh. Das päpstliche Gesandtschaftswesen hat die ihm durch Gregor XIII. gegebene und zu seiner Zeit vorbildliche Grundstruktur im wesentlichen bis zum Wiener Kongreß (1815) beibehalten. Die in der Doppelfunktion der Nuntien als politischen und zugleich innerkirchlichen Beauftragten liegende Problematik hat freilich seit dem Durchbruch der katholischen Reform zu erheblichen Spannungen mit den Ortsbischöfen geführt, zumal die päpstlichen Vertreter mit weiteren Rechten ausgestattet wurden. 1 5 9 3 erhielten sie gewisse liturgische Ehrenrechte gegenüber den Ortsordinarien, und seit Paul V. ( 1 6 0 5 — 1 6 2 1 ) wurden mit Rücksicht auf die vom Tridentinum vorgeschriebene Residenzpflicht fast nur noch Titularbischöfe zu Nuntien ernannt. Gregor X V . ( 1 6 2 1 —1623) überwies dann anläßlich der Gründung der Propaganda-Kongregation ( 1 6 2 2 ) den Nuntien die nichtkatholischen Territorien zur Betreuung der dort lebenden katholischen Minoritäten und zur Wiedergewinnung für den Katholizismus. Diese Expansion der Zuständigkeit ging mit einer wachsenden Rückkoppelung der Nuntien an die Kurialbehörden einher, die sich seit der Reform durch Sixtus V. und insbesondere seit der Ausgestaltung des Staatssekretariates (—»Kurie, Römische) dem die päpstlichen Gesandten unterstanden, verstärkte. Die jurisdiktionelle Zuständigkeit der Nuntien ist einerseits nach Uberwindung der innerkirchlichen Krise und der Erstarkung der Episkopates, andererseits infolge der Ausgestaltung des staatlichen Souveränitätsanspruches, der keine Einwirkung „auswärtiger" Oberer in „innere" Angelegenheiten duldete, zurückgewiesen worden. Dies geschah erstmals in den 1 5 9 4 mit Billigung des französischen Königs Heinrich IV. ( 1 5 8 9 - 1 6 1 0 ) formulierten „Gallikanischen Freiheiten" (—»Gallikanismus). Danach war den päpstlichen Gesandten die Ausübung von Jurisdiktion auf französischem Boden ohne königliche Erlaubnis untersagt. Der Pariser Nuntius, der seit 1 5 3 5 ohnehin über keine Jurisdiktion mehr verfügte, wurde dadurch auch formell auf seine Funktion als diplomatischer Vertreter des Papstes eingeschränkt. Auch in anderen Ländern hat sich bischöflicher und staatlicher Widerstand gegen die Jurisdiktion der Nuntien gezeigt. 1 6 3 9 verbot der spanische König Philipp IV. die Appellation an das Nuntiaturgericht, und 1 6 4 3 klagte der der kirchlichen Reform zugetane Kölner Erzbischof Ferdinand von Bayern, dem sich die Erzbischöfe von Mainz und Trier anschlössen, beim Reichskammergericht gegen die geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit des Kölner Nuntius. 1 6 4 5 führte er das Plazet für päpstliche Erlasse ein. Unter dem doppelten Druck des Staatskirchentums und des bischöflichen Selbstbewußtseins wurde der Einfluß der Nuntien in den katholischen Ländern seit dem frühen 17. J h . weitgehend auf ihre diplomatischen Funktionen zurückgedrängt. Für die nichtkatholischen Länder blieb ihre jurisdiktioneile Zuständigkeit dagegen unangefochten, doch besaßen sie dort keinen diplomatischen Status. Die wahre diplomatische Bedeutung des päpstlichen Gesandtschaftswesens kam bei den Westfälischen Friedensverhandlungen (—»Westfälischer Friede) zum Ausdruck, als Nuntius Fabio Chigi keinen maßgebenden Einfluß zu nehmen vermochte, obwohl die kirchlichen Verhältnisse im Deutschen Reich dadurch erheblich berührt wurden. Die stärkere Betonung der diplomatischen Aufgabenstellung führte konsequenterweise dazu, daß die Staaten das Recht in Anspruch nahmen, ihnen nicht genehme Persönlichkeiten als Nuntien abzulehnen. Der Heilige Stuhl hat diese im Gesandtschaftswesen übliche Gepflogenheit nur widerstrebend akzeptiert und 1 6 9 2 dem Kaiser erstmals eine T e m a vorgeschlagen. Später setzten sich ähnliche Lösungen für Frankreich, Spanien und Portugal durch. Die Auseinandersetzungen um die Jurisdiktion der Nuntien sind im Heiligen Römischen Reich nicht mehr abgeklungen und haben schließlich im „Nuntiaturstreit" ihre Zuspitzung erfahren. Im Rahmen der episkopalistischen Bestrebungen des aufgeklärten Absolutismus
Gesandtschaftswesen, Päpstliches
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wurden seit dem Erscheinen von —»Febronius = Johann Nikolaus von Hontheim, De statu ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis (Frankfurt 1763/73) und der Koblenzer Gravamina von 1769 die wirklichen und angeblichen Übergriffe der Nuntien in die ordentliche Jurisdiktion der Ortsbischöfe sowie Mißstände im Nuntiaturwesen Gegenstand heftiger Kritik bis hin zur Forderung nach Aufhebung der Nuntiaturgerichtsbarkeit. Da Kaiser Josef II. (1764-1790) diese Forderung nicht unterstützte, blieb sie erfolglos. Die Polemik brach erneut aus, als Pius VI. (1775-1799) 1785 dem bayerischen Kurfürsten in seinen landeskirchlichen Bestrebungen entgegenkam und in München eine Nuntiatur errichtete, die die päpstliche Autorität in der Reichskirche stärken sollte. Der Münchener Nuntius sollte durch weitestgehende jurisdiktionelle Vollmachten die weit zerstreuten kurbayerischen Territorien durch die Ausschaltung der 17 zuständigen Ortsordinarien kirchlich zusammenfassen. Der Widerstand dagegen ging zur Hauptsache von den betroffenen Metropoliten aus, deren Vertreter 1786 in Bad Ems ihr Programm in der Emser Punk tation zusammenfaßten. Danach sollten in konsequenter Fortbildung des —>Episkopalismus die päpstliche jurisdiktioneile Einwirkung im Reich untersagt und die Nuntien auf ihre Vertreterfunktion bei den Regierungen beschränkt werden. Der Ausbruch der —»Französischen Revolution hat dieses Programm jedoch nicht zur Ausführung kommen lassen. Folgenreicher war das unter Maria Theresia (1740—1780) und Joseph II. für Österreich entwickelte staatskirchenrechtliche System, das die staatliche Souveränität auf die kirchlichen Interessen ausdehnte, jede Jurisdiktion der Nuntien ausschloß und als —» Josephinismus bis weit ins 19. Jh. fortbestand. Ähnliches gilt für das preußische Allgemeine Landrecht von 1794, das, vom Prinzip der staatlichen Kirchenhoheit ausgehend, die Einwirkung „auswärtiger" kirchlicher Oberer in Preußen ausschloß. Auch die nach Abschluß des napoleonischen Konkordates (1801) einseitig von der französischen Regierung erlassenen Organischen Artikel (1802) haben die jurisdiktioneile Einwirkung ausgeschlossen und lange nachgewirkt. Während aber einerseits die Jurisdiktionsausübung der Nuntien allenthalben eingeschränkt bzw. unterbunden wurde, haben diese durch ihre Einwirkungsmöglichkeit auf die Bischofsernennungen seitdem faktisch einen stark wachsenden Einfluß auf die kirchlichen Angelegenheiten ihrer Gastländer gewinnen können. 6.
19.Jahrhundert
Abgesehen vom Widerstand gegen die Jurisdiktionsausübung der Nuntien, zeigte sich das päpstliche Gesandtschaftswesen als diplomatisches Instrument erstaunlich gefestigt. Das kam in der Regelung des Gesandtschaftswesens zum Ausdruck, die der Wiener Kongreß 1815 vornahm und die die päpstlichen Vertreter als den Gesandten der Staaten gleichrangig anerkannte. Kardinalstaatssekretär E. —»Consalvi versuchte aus Respekt vor dem religiösen Charakter des Papsttums das Präzedenzrecht der päpstlichen Vertreter in den diplomatischen Korps durchzusetzen. Während der folgenden Jahrzehnte hat das päpstliche Gesandtschaftswesen noch vor dem Untergang des —»Kirchenstaates (1870) eine interessante Auffächerung erfahren. Der Heilige Stuhl richtete nämlich mit Rücksicht auf Spanien in den neuentstandenen lateinamerikanischen Republiken zunächst keine förmlichen Nuntiaturen, sondern lediglich „Internuntiaturen" ein, die freilich die gleiche Aufgabe wie Nuntiaturen wahrnahmen. In Brasilien, dessen Unabhängigkeit Portugal anerkannt hatte, wurde dagegen 1829 eine Nuntiatur geschaffen. Auch in Staaten minderer Bedeutung sind seitdem Internuntiaturen (1823 Niederlande) eingerichtet worden. Von größerer Bedeutung war die Schaffung rein innerkirchlicher Gesandtschaften für jene Länder, zu denen der Heilige Stuhl keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Dieses System der sog. Apostolischen Delegaturen ist insbesondere unter -»Pius IX. in den Missionsgebieten ausgebaut worden. Nachdem die ersten ständigen päpstlichen Gesandtschaften seit dem späten 15. Jh. aus politischen Gründen, die Reformnuntiaturen des Zeitalters der katholischen Reform dagegen verstärkt im Interesse der geistlichen Aufgabenstellung des Papstes entstanden waren, vollzog sich im 19. Jh. und insbesondere seit dem Verlust des Kirchenstaates eine weitere
Gesandtschaftswesen, Päpstliches
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Spiritualisierung des päpstlichen Gesandtschaftswesens. Dieses hat auch nach dem Untergang des Kirchenstaates fortbestanden. Der Heilige Stuhl hat sich dabei zwar einerseits von der Hoffnung auf Wiederherstellung des Kirchenstaates, in erster Linie jedoch von den Bedürfnissen seiner geistlichen Mission bestimmen lassen. Die italienische Regierung hat dagegen vor und nach der Besetzung Roms wiederholt erklärt, den freien Verkehr des Papstes mit den Staaten nicht anzutasten, während die katholischen wie nichtkatholischen Staaten, wenn sie auch den Untergang des Kirchenstaates für unwiderruflich hielten, an der Fortsetzung ihrer diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl wegen der geistigen Bedeutung des Katholizismus interessiert waren. Daher hat kein Staat die diplomatischen Beziehungen nach 1 8 7 0 abgebrochen. Frankreich hat 1 8 7 1 seine Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl sogar in den Rang einer Botschaft erhoben, und Chile hat 1871 erstmals diplomatische Beziehungen aufgenommen. Die Schließung der preußischen Gesandtschaft im Jahre 1 8 7 2 erfolgte dagegen im Rahmen des —»Kulturkampfes. Das von der italienischen Regierung im Garantiegesetz (1871) anerkannte aktive und passive Gesandtschaftsrecht des Heiligen Stuhles ist auch durch die Übersiedlung der italienischen Regierung von Florenz nach Rom nicht berührt worden, da seitdem in Rom streng getrennt je ein diplomatisches Korps beim Heiligen Stuhl und beim Königreich Italien bestand. Dieses System hat seine Probe im Ersten Weltkrieg 1914—1918 freilich nicht bestanden, da die italienische Regierung zwar prinzipiell die beim Heiligen Stuhl bestehenden diplomatischen Missionen jener Staaten, mit denen sie sich im Kriegszustand befand, nicht behindern wollte, wohl aber deren Übersiedlung in den Vatikan forderte, was sich als undurchführbar erwies. 7. Geltendes
Recht
Erst in den Lateranverträgen (1929) ist das aktive und passive Gesandtschaftsrecht des Heiligen Stuhles gegenüber dem Königreich Italien gemäß dem allgemeinen Völkerrecht auf eine vertragliche Basis gestellt worden. Dadurch wurden die beim Heiligen Stuhl akkreditierten und von diesem entsandten Vertreter seitens des Königreichs Italien als echte Diplomaten anerkannt und ihnen alle entsprechenden Privilegien zugestanden. Auch während des Zweiten Weltkrieges 1939—1945 ist es über die Ausführung zu Schwierigkeiten gekommen, da der Heilige Stuhl die bei ihm akkreditierten Vertreter jener Staaten, mit denen Italien im Krieg stand, in das vatikanische Staatsgebiet übernehmen mußte. Die Wiener Konferenz über diplomatische Beziehungen von 1 9 6 1 , die im Auftrag der Vereinten Nationen das Diplomatenrecht kodifizierte, bestätigte nicht nur das Gesandtschaftsrecht des Heiligen Stuhles, sondern erkannte auch den Vorrang seiner Vertreter mit großer Mehrheit an. Nachdem die Konzilsväter des —>Vatikanum II. neben der Reform der Kurie auch eine Reform des päpstlichen Gesandtschaftswesens gewünscht hatten, die die Zuständigkeit der Gesandten zugunsten der Ortsbischöfe einschränken sollte, nahm —»Paul VI. 1 9 6 9 durch das Motu proprioSollicitudo omnium ecclesiarum jedoch eine Neuordnung vor, die die Zuständigkeit der päpstlichen Gesandten nicht einschränkte, sondern noch erheblich erweiterte und ihre innerkirchliche Aufgabe eindeutig an die erste Stelle setzte. Ihre Stellung bei den Regierungen ist dagegen von zweitrangiger Bedeutung. Wichtig ist insbesondere ihr nunmehr festgelegtes Recht, an den Bischofskonferenzen teilzunehmen. Als päpstliche Gesandte werden danach Kleriker, meist Bischöfe, bezeichnet, die den Heiligen Stuhl ständig, entweder als Apostolische Delegaten vertreten, deren Zuständigkeit sich nur auf eine Ortskirche erstreckt, oder als Päpstliche Gesandte, die den Heiligen Stuhl zugleich bei der Ortskirche und beim Gaststaat vertreten und die den üblichen diplomatischen Status genießen. Wird den Gesandten im Gastland der Status eines Doyens des diplomatischen Korps zuerkannt, heißen sie Nuntien. Der den Nuntien im übrigen gleichgestellte Pronuntius entbehrt lediglich den Status als Doyen. Daneben kann der Heilige Stuhl bei internationalen Organisationen oder Konferenzen durch Delegierte oder Beobachter vertreten sein, die sowohl Geistliche als auch Laien sein können. Im übrigen sind Laien nicht zum diplomatischen Dienst zugelassen. Die primäre Aufgabe der päpstlichen Gesandtschaften besteht in der Pflege der Bezie-
Gesangbuch
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hungen zwischen Heiligem Stuhl und Ortskirchen, näherhin in der Information des Heiligen Stuhles, in der Übermittlung päpstlicher Dokumente und vor allem in der wichtigen Mitwirkung bei der Ernennung von Bischöfen. Die Nuntien sind zur Zusammenarbeit mit den Bischofskonferenzen verpflichtet. Ihr Dienstvorgesetzter ist der Kardinalstaatssekretär. Neben diesen engeren Aufgaben sind den päpstlichen Gesandten ferner die Mitarbeit an der Sicherung des Friedens, der Zusammenarbeit der Völker, dem Kontakt mit dem Gastland und mit anderen christlichen und nichtchristlichen Religionen anempfohlen, wobei die Bemühungen um den —»Frieden eine lange Tradition haben; denn schon im Mittelalter haben die Päpste wiederholt Friedensvermittlungen unternommen. 1885 — 1 8 8 6 hat —»Leo XIII., durch Bismarck eingeladen, durch die Vermittlung im Karolinenstreit diese Tradition erneut aufgegriffen. Im Ersten Weltkrieg ist sie durch —»Benedikt X V . in großem Stil aufgegriffen und von seinen Nachfolgern fortgesetzt worden. Der hohe Anspruch des päpstlichen Gesandtschaftswesens ist nur durch ein entsprechendes Personal zu erfüllen. Im Gegensatz zur Entwicklung des Instituts ist jedoch die Rekrutierung der Diplomaten selbst noch wenig erforscht. Seit dem Durchbruch der katholischen Reform wurden mit den Außenposten meist residierende Bischöfe aus dem Kirchenstaat oder Titularbischöfe beauftragt, die im Kuriendienst aufgestiegen waren. Der Ausbau des Gesandtschaftswesens, wie er sich seit dem 19. Jh. vollzog (Zahl der diplomatischen Beziehungen 1 8 1 5 : 6; 1 9 2 9 : 3 6 ; 1 9 7 8 : 86), hat dann eine planvollere Ausbildungsordnung notwendig gemacht. Seitdem werden die künftigen Diplomaten vornehmlich in der 1701 gegründeten „Accademia dei Nobili Ecclesiastici", seit 1 9 3 9 „Accademia Ecclesiastica", in Rom ( 1 9 8 1 ca. 3 0 Plätze) ausgebildet. In neuerer Zeit wird der Versuch zu einer stärkeren Internationalisierung des diplomatischen Personals gemacht, in dem bis zur Gegenwart Italiener überwiegen. Der Versuch —»Pius' XII., Nuntien nicht mehr zu Titularbischöfen zu ernennen, ist von seinen Nachfolgern nicht fortgesetzt worden. Während bis in die jüngere Vergangenheit reine Berufsdiplomaten selten und der Wechsel bzw. die Herübernahme aus anderen kirchlichen Ämtern durchaus geläufig war, ist heute eine stärkere Tendenz zum Berufsdiplomaten zu erkennen. Literatur H. Biaudet, Les Nonciatures Apostoliques permanentes jusqu'en 1 6 4 8 , 1 9 1 0 ( A A S F . B 2 / 1 ) . - A g o stino Casaroli, Der Heilige Stuhl u. die Völkergemeinschaft. Reden u. Aufs., eingel. u. hg. v. Herbert Schambeck, Berlin 1 9 8 1 . - Klaus Ganzer/Heribert Schmitz (Hg.), Akten Papst Paul VI. Motu proprio über die Aufgaben der Legaten des röm. Papstes, 1 9 7 0 (Nachkonziliare Dok. 2 1 ) . - L. Karttunen, Les Nonciatures Apostoliques permanentes dès 1 6 5 0 à 1 8 0 0 , 1 9 1 2 (AASF.B 5 / 3 ) . - Heribert Franz Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, Berlin 1 9 7 5 , 1 7 1 - 3 1 0 . - Heinrich Lutz/Gerhard Müller/Hubert Jedin/Helmut Goetz/Georg Lutz, Nuntiaturberichte u. Nuntiaturforschung. Krit. Bestandsaufnahme u. neue Perspektiven: Q F I A B 5 3 ( 1 9 7 3 ) 1 5 2 - 2 7 5 (auch selbständig 1 9 7 6 erschienen). - Giuseppe de Marchi, Le Nunziature Apostoliche dal 1 8 0 0 al 1 9 5 6 , 1 9 5 7 (SusE 13). - Gerhard Müller, Nuntiaturberichte aus Mittel- u. Osteuropa: QFIAB 5 7 ( 1 9 7 7 ) 1 6 3 - 1 9 7 . - Mario Oliveri, Natura e Funzioni dei Legati Pontifici nella Storia e nel Contesto ecclesiologico del Vaticano II, Turin 1 9 7 9 . - Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI., eingel. u. hg. v. Donato Squicciarini, Berlin 1 9 7 9 . - Knut Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens in dem Zeitabschnitt zw. Dekretalenrecht u. Wiener Kongreß ( 1 1 5 9 - 1 8 1 5 ) , 1 9 6 6 ( M T h S 3 / 2 4 ) . - Christoph Weber, Kardinäle u. Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchenstaates 1 8 4 6 - 1 8 7 8 , 2 Bde., 1 9 7 8 (PuP 13).
Erwin Gatz Gesangbuch I . Allgemeines 2. Im Reformationsjahrhundert 3. In Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung 4 . Im 19. und 2 0 . Jahrhunden 5 . Praktisch-theologisch (Quellen und Literatur jeweils zu den einzelnen Abschnitten)
1.
Allgemeines
Ein Gesangbuch ist eine Sammlung geistlicher Gesänge, vorwiegend für den Gebrauch der Gemeinde im —»Gottesdienst bestimmt, dadurch unterschieden vom Chorgesangbuch
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hungen zwischen Heiligem Stuhl und Ortskirchen, näherhin in der Information des Heiligen Stuhles, in der Übermittlung päpstlicher Dokumente und vor allem in der wichtigen Mitwirkung bei der Ernennung von Bischöfen. Die Nuntien sind zur Zusammenarbeit mit den Bischofskonferenzen verpflichtet. Ihr Dienstvorgesetzter ist der Kardinalstaatssekretär. Neben diesen engeren Aufgaben sind den päpstlichen Gesandten ferner die Mitarbeit an der Sicherung des Friedens, der Zusammenarbeit der Völker, dem Kontakt mit dem Gastland und mit anderen christlichen und nichtchristlichen Religionen anempfohlen, wobei die Bemühungen um den —»Frieden eine lange Tradition haben; denn schon im Mittelalter haben die Päpste wiederholt Friedensvermittlungen unternommen. 1885 — 1 8 8 6 hat —»Leo XIII., durch Bismarck eingeladen, durch die Vermittlung im Karolinenstreit diese Tradition erneut aufgegriffen. Im Ersten Weltkrieg ist sie durch —»Benedikt X V . in großem Stil aufgegriffen und von seinen Nachfolgern fortgesetzt worden. Der hohe Anspruch des päpstlichen Gesandtschaftswesens ist nur durch ein entsprechendes Personal zu erfüllen. Im Gegensatz zur Entwicklung des Instituts ist jedoch die Rekrutierung der Diplomaten selbst noch wenig erforscht. Seit dem Durchbruch der katholischen Reform wurden mit den Außenposten meist residierende Bischöfe aus dem Kirchenstaat oder Titularbischöfe beauftragt, die im Kuriendienst aufgestiegen waren. Der Ausbau des Gesandtschaftswesens, wie er sich seit dem 19. Jh. vollzog (Zahl der diplomatischen Beziehungen 1 8 1 5 : 6; 1 9 2 9 : 3 6 ; 1 9 7 8 : 86), hat dann eine planvollere Ausbildungsordnung notwendig gemacht. Seitdem werden die künftigen Diplomaten vornehmlich in der 1701 gegründeten „Accademia dei Nobili Ecclesiastici", seit 1 9 3 9 „Accademia Ecclesiastica", in Rom ( 1 9 8 1 ca. 3 0 Plätze) ausgebildet. In neuerer Zeit wird der Versuch zu einer stärkeren Internationalisierung des diplomatischen Personals gemacht, in dem bis zur Gegenwart Italiener überwiegen. Der Versuch —»Pius' XII., Nuntien nicht mehr zu Titularbischöfen zu ernennen, ist von seinen Nachfolgern nicht fortgesetzt worden. Während bis in die jüngere Vergangenheit reine Berufsdiplomaten selten und der Wechsel bzw. die Herübernahme aus anderen kirchlichen Ämtern durchaus geläufig war, ist heute eine stärkere Tendenz zum Berufsdiplomaten zu erkennen. Literatur H. Biaudet, Les Nonciatures Apostoliques permanentes jusqu'en 1 6 4 8 , 1 9 1 0 ( A A S F . B 2 / 1 ) . - A g o stino Casaroli, Der Heilige Stuhl u. die Völkergemeinschaft. Reden u. Aufs., eingel. u. hg. v. Herbert Schambeck, Berlin 1 9 8 1 . - Klaus Ganzer/Heribert Schmitz (Hg.), Akten Papst Paul VI. Motu proprio über die Aufgaben der Legaten des röm. Papstes, 1 9 7 0 (Nachkonziliare Dok. 2 1 ) . - L. Karttunen, Les Nonciatures Apostoliques permanentes dès 1 6 5 0 à 1 8 0 0 , 1 9 1 2 (AASF.B 5 / 3 ) . - Heribert Franz Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, Berlin 1 9 7 5 , 1 7 1 - 3 1 0 . - Heinrich Lutz/Gerhard Müller/Hubert Jedin/Helmut Goetz/Georg Lutz, Nuntiaturberichte u. Nuntiaturforschung. Krit. Bestandsaufnahme u. neue Perspektiven: Q F I A B 5 3 ( 1 9 7 3 ) 1 5 2 - 2 7 5 (auch selbständig 1 9 7 6 erschienen). - Giuseppe de Marchi, Le Nunziature Apostoliche dal 1 8 0 0 al 1 9 5 6 , 1 9 5 7 (SusE 13). - Gerhard Müller, Nuntiaturberichte aus Mittel- u. Osteuropa: QFIAB 5 7 ( 1 9 7 7 ) 1 6 3 - 1 9 7 . - Mario Oliveri, Natura e Funzioni dei Legati Pontifici nella Storia e nel Contesto ecclesiologico del Vaticano II, Turin 1 9 7 9 . - Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI., eingel. u. hg. v. Donato Squicciarini, Berlin 1 9 7 9 . - Knut Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens in dem Zeitabschnitt zw. Dekretalenrecht u. Wiener Kongreß ( 1 1 5 9 - 1 8 1 5 ) , 1 9 6 6 ( M T h S 3 / 2 4 ) . - Christoph Weber, Kardinäle u. Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchenstaates 1 8 4 6 - 1 8 7 8 , 2 Bde., 1 9 7 8 (PuP 13).
Erwin Gatz Gesangbuch I . Allgemeines 2. Im Reformationsjahrhundert 3. In Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung 4 . Im 19. und 2 0 . Jahrhunden 5 . Praktisch-theologisch (Quellen und Literatur jeweils zu den einzelnen Abschnitten)
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Allgemeines
Ein Gesangbuch ist eine Sammlung geistlicher Gesänge, vorwiegend für den Gebrauch der Gemeinde im —»Gottesdienst bestimmt, dadurch unterschieden vom Chorgesangbuch
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Gesangbuch
wie auch von anderen Liederbüchern. Der Name hat sich erst im 18. Jh. durchgesetzt, die Sache war im wesentlichen seit der Reformation da (Jannasch 1451). Gesangbücher treten zunächst unter den Bezeichnungen Enchiridion, Geistliche Lieder und Psalmen, ref. als Psalter Davids auf; im 17. Jh. erscheinen barocke Titel wie Seraphischer Lustgarten, Geistlich Kleinod, Haus- und Hertz-Musica, Praxis pietatis melica, bei den römisch-katholischen Ausgaben mit dem Zusatz „katholisch". Seit etwa 1750 fehlt die Bezeichnung „Gesangbuch" bzw. Kirchengesangbuch in keinem Titel. Während die Chorgesangbücher (—» Kirchenmusik) die Nachfolge der einschlägigen mittelalterlichen liturgischen Bücher (Graduale, Antiphonar) antreten, entwickelt sich das Gesangbuch als Neuschöpfung der kirchlichen Reformbewegungen am Ausgang des Mittelalters (Mahrenholz 1877) zu dem Gottesdienstbuch der Gemeinde schlechthin und unterliegt damit bestimmten Bedingungen (s.u. Abschn.5). Eine Gesamtdarstellung der Gesangbuchgeschichte liegt trotz einer Fülle von Einzeluntersuchungen, besonders unter musikalischen und territorialgeschichtlichen Gesichtspunkten, nicht vor. Da die Gesangbuchentwicklung einerseits mit dem —»Kirchenlied, -»Choral und Gemeindegesang, andererseits mit der —»Agende und dem —»Gebetbuch eng verbunden ist, überschneiden sich die Bereiche ständig. Nach der Frühzeit hymnologischer Forschung (Rößler) brachte das 19. Jh. eine bedeutende Erforschung von Gesangbuch und Kirchenlied, deren Ertrag in die moderne wissenschaftliche Hymnologie einging. Durch exakte Quellenforschung, mustergültige Faksimile-Editionen und gewichtige Monographien hat sie die Gesangbuchgeschichte wesentlich erhellt; für die Sammlung Das Deutsche Kirchenlied (Lit.) sind über 4 5 0 0 Titel von Gesangbüchern und Lieddrucken (mit mindestens einer Melodie) von 1481 bis 1800 erfaßt. Die Hymnologie bestimmt für die Erforschung und Beurteilung eines Gesangbuches als maßgebend: die Auswahl des Liedguts, dessen Anordnung, Gliederung und Einrichtung des Gesangbuchs, seine musikalische Gestalt, die Fassungen von Text und Melodie sowie allgemeine Tendenzen des Gesangbuchs (Jenny); zu ergänzen sind Vorrede und Beigaben, Ausstattung und Schmuck sowie Funktion, Verbreitungsgebiet und Wirkungsgeschichte. Literatur Konrad Ameln, Kirchenlied, ev. Kirchenlied: MGG 8 (1960) 7 8 1 - 7 8 3 . 7 9 6 - 8 1 0 . - Ders., Der gegenwärtige Stand u. die vordringlichen Aufgaben der hymnolog. Forschung: JLH 6 (1961) 6 2 - 6 9 . Walter Blankenburg, Die Entwicklung der Hymnologie seit etwa 1950: ThR 42 (1977) 131 - 1 4 7 (Lit.). - Ders., Ev. Gemeindegesang: M G G 4 (1955) 1 6 5 0 - 1 6 8 0 . - Markus Jenny, Die Bedeutung der Gesangbuchgesch. innerhalb der Hymnologie: T h Z 16 (1960) 1 1 0 - 1 1 9 . - Christhard Mahrenholz, Gesangbuch: MGG 4 (1955) 1 8 7 6 - 1 8 8 9 . - Martin Rößler, Die Frühzeit hymnolog. Forschung: JLH 19 (1975) 1 2 3 - 1 8 6 (Lit.). - Leopold Zscharnack/ Wilhelm Jannasch/ Siegfried Forna^on/ Gerhard Rosenkranz/ Walter Blankenburg/ Johannes Ficker, Gesangbuch: RGG 3 2 (1958) 1 4 5 1 - 1 4 7 3 .
2. Im
Reformationsjahrhundert
Der älteste erhaltene Gesangbuchdruck datiert von 1501 (Kouba) und weist auf den reichen Liedgesang der —»Böhmischen Brüder in deutscher, polnischer und tschechischer Sprache hin. Das Gesangbuch von M. Weiße, Jungbunzlau 1531, mit 157 Liedern hat die Gesangbücher des 20. Jh. um wesentliche reformatorische Lieder bereichert; herausragend später das Brüdergesangbuch, Eibenschütz 1566. Am Beginn der Gesangbuchgeschichte im Gefolge —»Luthers steht eine Reihe von Drukken, die als buchhändlerische Unternehmungen der Drucker in zeitlich rascher Folge erscheinen: das sog .Achtliederbuch von J . Gutknecht, Nürnberg 1524, aus wenig älteren Einblattdrucken zusammengestellt, mit vier Liedern Luthers (darunter „Nun freut euch, lieben Christen gmein") und drei von —»Speratus („Es ist das Heil" mit biblischem Zitatnachweis). Die beiden Erfurter Enchiridien (aus den Druckereien Zum Färbefaß J. Loersfelt undZwra schwarzen Horn M. Maler, dieses von jenem abhängig) vom gleichen Jahr enthalten 25 Lieder (zumeist von Luther). Die in kleinem Oktavformat hergestellten Hefte wurden schnell nachgedruckt und waren bald in den Händen vieler Zeitgenossen (einen anschaulichen Bericht von der Verbreitung evangelischer Lieder durch Singen auf dem Markt zitiert W. Lücke
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aus einer Magdeburger Chronik WA 3 5 , 9 f , vgl. 376/3 und Wackernagel, Bibliogr. 5 0 f Nr. 133). Unter dem Titel Geystlichegesangk Buchleyn erschien ebenfalls 1 5 2 4 in 5 Stimmbüchern das Chorgesangbuch von J . —»Walter, mit der Vorrede Luthers und 4 3 Liedsätzen zu 3 - 5 Stimmen Vorbild aller evangelischen Chorgesangbücher (mehrere Auflagen bis 1 5 5 1 ; vgl. Blankenburg, Chorgesangbuch). Die 1 5 2 5 erschienenen Gesangbücher Breslau, Zwickau, Rostock (mit einer Vorrede von J . Slüter), Nürnberg (mit Psalmen von H. —»Sachs) und Straßburg bezeugen die Verbreitung evangelischen Liedguts in den bedeutendsten Städten. Das Klugsche Gesangbuch (1529) 2 1 5 3 3 Geistliche Lieder auffs new gebessert zu Wittemberg. D. Mart. Luth. XXXiij; vgl. Faks.-Ausg.), nach dem Drucker J . Klug genannt, hat als von Luther selbst autorisierte Liedersammlung eine Sonderstellung unter den frühen Gesangbüchern; seine Liedauswahl und -gliederung und deren geschichtliche Wirkung, auch Druck und Ausstattung rechtfertigen es, dieses Gesangbuch als den Prototyp des Gemeindegesangbuchs der lutherischen Reformation zu bezeichnen. Die 1. Aufl. 1 5 2 9 ist lediglich aus Beschreibungen bekannt; von der 2. Aufl. existierte ein Textabdruck ohne Noten (E. S. Cyprian, Die Hauskirche, Gotha 1739), bis 1 9 3 2 ein (allerdings nicht ganz vollständiges) Exemplar auftauchte (im Besitz der Luther-Halle Wittenberg). Das im Duodezformat gedruckte Büchlein trägt den Namen des Reformators und die ,Luther-Rose' im Titel (diese auch im Druckerzeichen von J. Klug) und umfaßt 2 0 Druckbogen zu je 8 Bl. Die geringen Veränderungen zu den weiteren Auflagen ( 3 1 5 3 5 , " 1 5 4 3 ) lassen die Revision erkennen: Hatte Luther 1 5 2 4 im Chorgesangbuch das Singen geistlicher Lieder als „das heylige evangelion . . . zu treyben vnd ynn schwanck zu bringen" gedeutet, geht die neue Vorrede auf die veränderte Situation ein, daß „die ersten vnser lieder je lenger je feischer gedruckt werden". Das jetzige Gesangbuch wird dadurch in seiner Authentizität gesichert, daß zu jedem Lied der N a m e des Liederdichters gesetzt wird: „Auff das Gottes name alleine gepreiset vnd vnser name nicht gesucht werde. A m e n . " (Schluß der Vorrede).
Über die Hälfte der Lieder bei Klug sind von Luther, eröffnet durch 10 Festlieder von Advent bis Trinitatis, in welche die in späteren Auflagen hinzukommenden Lieder eingeordnet werden (z.B. „Vom Himmel h o c h " 3 1 5 3 5 ) ; es folgen die Katechismus- und die 7 Psalmlieder (auch „Ein feste Burg", das zuerst i m E n c h i r i d i o n Blum, Leipzig um 1 5 3 0 bezeugt ist); die liturgischen StückeSanctus, Da pacem, Tedeum, Litanei schließen sich an. Jedem Festlied ist ein ganzseitiges Holzschnittbild vorangestellt (Hoberg 13 ff): Das Bild, die Liedüberschrift mit Verfasser-Angabe (z.B. „Christ ist erstanden gebessert. Martinus Luther"), das Lied selbst („Christ lag inn todes banden") mit ausnotierter Anfangsstrophe und dem übrigen T e x t und darauf folgend Versikel und Kollektengebet bilden eine liturgische Einheit, die die Bestimmung dieses Gesangbuchs für Gottesdienst und Privatgebet eindrucksvoll belegt. An zweiter Stelle stehen „andere/ der vnsern lieder" (z. B. J. Jonas), an vierter „geistliche lieder/ durch andere/ zu dieser zeit gemacht": die Kürzung dieses Abschnitts 1543 verrät Luthers ordnende und sichtende Hand, die aus dem offiziellen Gesangbuch Lieder ausscheidet, die „nicht sonderlich tügen" (1533). Der dritte Abschnitt mit Liedern „von den Alten gemacht" erweist Luthers wachsende Hochschätzung des vorreformatorischen Liedgutes. Den Beschluß bilden biblische Cantica und Psalmen. Auch die Einrichtung der noch 1 5 2 4 bei Walter als Tenorweisen erscheinenden Melodien für den Gemeindegebrauch bestätigt, daß es sich bei Klug um ein ausgesprochenes Gemeindegesangbuch handelt. Nach den liturgischen Reformen der zwanziger Jahre, den ersten evangelischen —»Agenden und Kirchenordnungen, ist der Gesang der Gemeinde im Gottesdienst durch die Autorität Luthers selbst aufs erste geordnet (vgl. Ameln; Blankenburg, Liedgesang 6 1 3 f f ; Gemeindegesang 1 6 4 9 f f , Mahrenholz, Gesangbuch 1 8 7 7 f f ; Kirchengesangbuch 38 ff.45 ff). Nach dem Gesangbuch von V. Schumann 1 5 3 9 und den 1 5 4 2 herausgegebenen Begräbnisliedern (mit Luther-Vorrede) bildet die „Prachtausgabe" des in Leipzig durch V. Babst gedruckten Gesangbuches mit 127 Liedern den Abschluß der ersten Gesangbuchentwicklung zu Luthers Lebzeiten (spätere Auflagen bis 1561).
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Das Babstsche Gesangbuch übernahm aus Klug 1 5 4 3 auf sein Titelblatt Luthers Warnung „Viel falscher Meister itzt Lieder tichten . . . " , und druckte Luthers bekannte letzte Vorrede, die in vielen Gesangbüchern nachgedruckt ist: „ D e n n G o t t hat vnser hertz vn mut frölich gemacht/ durch seinen lieben Son . . . W e r solchs mit ernst gleubet/ der kans nicht lassen/ er muß frölich vnd mit lust dauon singen vnd sagen/ das es andere auch hören vnd herzukomen . . . " (Faks.-Ausg.). Der erste Teil entspricht weitgehend Klug 4 1 5 4 3 , nach dem Abschnitt mit Begräbnisgesängen folgt ein auch drucktechnisch völlig selbständiger zweiter Teil mit 4 0 Liedern u. a. von den Böhmischen Brüdern und aus Täuferkreisen (ohne Wissen Luthers; Ameln, Begleitwort zur Faks.-Ausg.). Der nicht nur mit reichem Bildschmuck, sondern mit Zierleisten auf jeder Seite ausgestattete Band ist mit der Geschlossenheit seines Satzbildes ein Meisterwerk des Gesangbuchdrucks. Hinsichtlich der liturgisch bestimmten Liedauswahl und -anordnung ist das Babstsche Gesangbuch auf lange Zeit und wieder im 2 0 . J h . richtungsweisend geworden.
Die oberdeutsche Gesangbuchgeschichte hat eins ihrer Zentren in Straßburg; dort erscheint 1525 das Teutsch Kirchen ampt, das Gottesdienstordnung und Gottesdienstlied miteinander verbindet. M.—»Bucer schrieb die Vorrede zu dem in Folioformat herausgegebenen Gesangbuch 1541 (Gros Kirchen Gesangbuch [ 2 1560]; vgl. Hubert). Hier sind Lieder „aus dem Wittenbergischen, Strasbürgischen und anderer Kirchen Gesangbüchlin zusammenbracht" (Titel), bestimmt „Für Stett und Dorff Kirchen, Lateinische und Deudsche Schulen" (ebd.). Das prächtig ausgestattete Gesangbuch diente als Chorbuch, auf ein Pult gestellt, die Jugend „desto bas zu gleichförmigem mensurischem gesang zu gewehnen und anzuhalten" (Vorrede). Für das 16. Jh. allgemein gilt, daß Pfarrer und Kantor für den Gemeindegesang verantwortlich waren, also auch ein Gesangbuch besaßen; die Gemeinde singt in der Regel auswendig. Doch spricht die Vorrede von „handbuchlin, welche die Christen, jeder für sich selb inn den Kirchenversammlungen und sunst gebrauchen", ein früher Beleg für den Gesangbuchgebrauch der Gemeinde im Gottesdienst, der erst im 18. Jh. allgemein üblich wurde. Das zweite oberdeutsche Zentrum ist Konstanz mit dem Nüw gsangbüchle [ 3 1540], das neben einem ersten Psalmliedteil Lieder Luthers, der Straßburger, der Oberdeutschen —»Zwick (von ihm die Vorrede), —»Blarer und —»Zwingli mit solchen der Schwärmer vereinigt. Schon 1533 gab es ein evangelisches Gesangbuch in St. Gallen; neben den Ausgaben Schaffhausen und Basel hat Zürich erst 1598 ein Gesangbuch bekommen (vgl. Jenny). Mit der Reformation kamen auch in nord- und osteuropäischen Ländern Gesangbücher auf, so das erste polnische Gesangbuch 1547. P. Trubar besorgte das erste Gesangbuch in slowenischer Sprache 1567, G. Huszar 1574 das älteste ungarische Gesangbuch; in Siebenbürgen gab V. Wagner, Nachfolger von J. —> Hon ter 1556 ein stark an Babst 1545 angelehntes Gesangbuch (keine Ubersetzung!) heraus. In Schweden war nach der Liedersammlung von O. —»Petri 1526 Then Swenska Psalmeboken 1562 erschienen, gebräuchlich aber wurde das Gesangbuch von L. Petri 1567. Für Dänemark wird Den danske Psalmebog (H.Thomissön 1569) bis ins 18. Jh. maßgebend. Im Kirchengesang und folglich auch beim Gesangbuch gehen Luther und —»Calvin verschiedene Wege. Wird bei Luther das Singen geistlicher Lieder zwar streng an der biblischen Lehre des Evangeliums, am Schriftinhalt gemessen, nach diesem Maßstab jedoch vorhandene Liturgie- und Liedüberlieferung in großer Freiheit aufgenommen und umgestaltet, werden der reformierte Gottesdienst und Kirchengesang streng „durch den Gehorsam gegenüber dem Worte Gottes, d.h. dem Worte der Bibel" (Blankenburg, Ref. Kirchenmusik 347) bestimmt: dies führt zur Ausschließlichkeit des Gesangs von Psalmen und wenigen biblischen Texten. Im deutschsprachigen Bereich waren neben Straßburg der Psalter von J. Dachser, Augsburg 1538 und das später einflußreiche Gesangbuch Bonn 1550 vorangegangen. Nach den Aulcuns Pseaulmes et Cantiques (Straßburg 1539; Texte von Marot und Calvin) ist die —»Agende La Forme des Prières (Genf 1542) zu nennen; Marots Psalmlieddichtung wird von Th. —»Beza fortgesetzt. Von 1562 an wird der vollständige Genfer Psalter in Genf, Lyon und Paris gedruckt und ist, bis 1565 bereits in über 60 Ausgaben nachweisbar, das calvinistische Gesangbuch schlechthin. Seine Beliebtheit und ungeheure Verbreitung verdankt er der Verbindung seiner Texte mit den vierstimmig-homophonen, leicht ausführ-
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baren Goudimel-Sätzen. Die Übersetzung des französischen Reimpsalters durch den lutherischen A. Lobwasser (Leipzig 1 5 7 3 ) führte zu seiner Annahme in Deutschland (Kurpfalz 1 5 7 4 , Nassau, Oberpfalz, Hessen 1 6 0 7 ) , der Schweiz, den Niederlanden (Dathenus), Italien (—»Waldenser) und Ungarn. Orientieren sich lutherische Gesangbücher am de tempore von —»Festen und —»Kirchenjahr, weisen die reformierten Psalterausgaben in der Regel Psalmtabellen auf, nach denen sich der Gesang zu richten hatte. Die reformatorische Liedbewegung blieb nicht ohne Rückwirkung auf die „Altgläubig e n " , deren frühester Gesangbuchdruck von M . Vehe Leipzig 1 5 3 7 mit z . T . bearbeiteten vorreformatorischen Gesängen ist. Bedeutender ist das Gesangbuch von J . Leisentrit (Bautzen 1 5 6 7 ) mit 2 5 0 Liedern bei 178 Melodien, auch durch Schmuck und Ausstattung ein gewichtiges Gegenstück zum lutherischen Babst von 1 5 4 5 . Wie G. —»Witzel um deutschen Gemeindegesang bemüht, ordnet Leisentrit seine Lieder (z.T. aus evangelischen Quellen) schon substitutiv für die Meßfeier an. C. Ulenberg gab 1 5 8 2 in Köln einen vollständigen Liedpsalter heraus, der nicht ohne Einfluß des Genfer Psalters lange maßgeblich blieb (nachgedruckt bis 1 8 2 5 ) . Die 2. Hälfte des Reformationsjahrhunderts bringt für die Gesangbuchentwicklung ein bedeutendes Anwachsen der Drucke (s. DKL) und Stabilisierung. Neben den KantionaleAusgaben (—»Kirchenmusik; Liedmelodie nicht mehr im Tenor, sondern im Diskant, „das ein gantze Christliche Gemein durchauß mit singen k a n " , L. Osiander 1 5 8 6 ) sind die Son-
tags Euangelia vber das gantze Jar in Gesenge verfasset des N. —»Herman 1560 und die Ge-
sangbücher von J. Eichorn (Frankfurt/Oder ab 1 5 5 8 ) zu nennen. Während die reformierten Gesangbücher, schon im Titel den Psalter voranstellend, das evangelische Kirchenlied anhangsweise berücksichtigen, dann ausscheiden, folgen die lutherischen der seit Klug/Babst überkommenen Einteilung, die bei den Katechismusliedern ab 1 5 6 0 lehrmäßig aufgegliedert ist („Von der Rechtfertigung") und auch im Abschnitt der liturgischen Gesänge und restlichen Lutherlieder Tendenzen zum „Liedkompendium der christlichen Lehre" (Mahrenholz, Kirchengesangbuch 48) zeigt (Lob-, Lehr- und Betgesänge, Württemberg 1 5 8 3 ; Danksagung, Leben und Wandel, Kreuz, Verfolgung und Anfechtung, Eichorn 1 5 6 2 ) . Wie andere enthält N . —»Selneckers Gesangbuch 1 5 8 7 einen kompletten Liedplan durch das —»Kirchenjahr. In den lutherischen Gesangbüchern des ausgehenden 16. J h . tritt zum erweiterten Liederstamm bis 1 5 5 0 das stärker auf das Ich des Lieddichters bezogene Glaubenslied (Eber, Helmbold, Herberger) und der T o n einer aus mittelalterlicher Mystik gespeisten Frömmigkeit (Moller, Nicolai mit dem Freu/denspiegel deß ewigen Lebens 1 5 9 9 , dem die großen Lieder „Wie schön leuchtet der Morgenstern" und „Wachet auf, ruft uns die Stimme" beigegeben sind). Nachzutragen bleibt das (autographische) Gesangbuch des mit —»Schwenckfeld befreundeten A. Reißner 1 5 5 4 und die Liedsammlung der Taufgesinnten ( A u ß b u n d 1 5 6 4 / 8 4 , bis ins 2 0 . J h . von den Mennoniten gebraucht). Schon im 16. J h . wurden Besitz und Gebrauch eines Gesangbuchs durch die Gemeindeglieder allgemeiner und verbreiteter (man ließ sich das ungebundene Druckexemplar nach eigenem Geschmack und Vermögen binden). V o r allem der Genfer Psalter gelangte praktisch in jedes Haus und machte Nummerntafeln notwendig („Vnd damitt der gemeine M a n n erbawet werde und mitsingen könne, were es gut, dz die psalmen, so gesungen werden, jeder Zeit auff ein täflein an den pforten der Kirchen verzeichnet würden", Generalsynode Kassel 1607).
Quellen Wilhelm Baumker, Das Kath. Kirchenlied in seinen Singweisen, 4 Bde., Freiburg 1 8 8 3 - 1 9 1 1 = Hildesheim 1 9 6 2 . - H D E K M III, Göttingen 1 9 3 5 ff. - Eduard Emil Koch, Gesch. des Kirchenlieds u. Kirchengesangs der christl., insbes. der dt. ev. Kirche, 8 Bde., Stuttgart 3 1 8 6 6 - 1 8 7 6 = Hildesheim 1 9 7 3 . - Wilhelm Lucke/Otto Albrecht, Die Lieder Luthers, Weimar 1 9 2 3 ( W A 3 5 ) 3 0 9 f f . RISM.B.VIII/1. Das dt. Kirchenlied. Krit. GA der Melodien, hg. v. Konrad Ameln/ Markus Jenny/ Walther Lipphardt. 1/1. Verz. der Drucke, Kassel 1 9 7 5 , 1 / 2 Reg. Kassel 1 9 8 0 (auf Angabe des DKL-Si-
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gels der Gesangbücher im T e x t ist generell verzichtet). — Philipp Wackernagel, Bibliogr. zur Gesch. des dt. Kirchenliedes im X V I . J h . , Frankfurt 1 8 5 5 = Hildesheim 1 9 7 1 . - Ders., Das dt. Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 1 7 . J h . , 5 Bde., Leipzig 1 8 6 4 - 1 8 7 7 = Hildesheim 1 9 6 4 . - Johannes Z a h n , Die Melodien der dt. ev. Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft und mitgeteilt, 6 Bde., Gütersloh 1 8 8 9 - 1 8 9 3 = Hildesheim 1 9 6 3 . —Diezahlreichen, z . T . hervorragenden Faks.-Ausg. lückenlos bei Blankenburg, Entwicklung der Hymnologie (Lit., s . o . Abschn. 1).
Literatur Konrad Ameln, Luthers Liedauswahl: J L H 5 ( 1 9 6 0 ) 1 2 2 - 1 2 5 . - Ders., Das Klug'sche Gesangbuch, Wittenberg 1 5 2 9 . Versuche einer Rekonstruktion: ebd. 16 ( 1 9 7 1 ) 1 5 9 - 1 6 2 . - Walter Blankenburg, Der gottesdienstl. Liedgesang der Gemeinde: Leit. 4 ( 1 9 6 1 ) 5 5 9 - 6 6 1 . - Ders., Die Kirchenmusik in den ref. Gebieten des europ. Kontinents: F. Blume, Gesch. der ev. Kirchenmusik, Kassel 2 1 9 6 5 , 3 4 1 - 3 8 8 . - Ders., J o h a n n Walters Chorgesangbuch von 1 5 2 4 in hymnolog. Sicht: J L H 18 ( 1 9 7 3 / 7 4 ) 6 5 - 9 6 . - Ders., Die Entwicklung der Hymnologie seit etwa 1 9 5 0 : T h R 4 2 ( 1 9 7 7 ) 3 6 0 - 4 0 5 ; 4 4 ( 1 9 7 9 ) 3 6 - 6 9 . 2 3 9 - 2 7 4 (Lit.). - Philipp H a r n o n c o u r t , Gesamtkirchl. u. teilkirchl. Liturgie, Freiburg 1 9 7 4 (UTS 3) 3 1 7 - 3 4 1 . - M a r t i n H o b e r g , Die Gesangbuchillustration des 16. J h . , 1 9 3 3 ( S D K G 2 9 6 ) = Baden-Baden 1 9 7 3 . - W a l t e r Hollweg, Gesch. der ev. Gesangbücher vom Niederrhein im 16. bis 18. J h . , 1 9 2 3 ( P G R G K 4 0 ) = Hildesheim 1 9 7 1 . - Franz Hubert, Die Straßburger liturg. Ordnungen im Zeitalter der Reformation nebst einer Bibliogr. der Straßburger Gesangbücher, Göttingen 1 9 0 0 . - M a r k u s Jenny, Gesch. des dt.-schweizerischen ev. Gesangbuchs im 16. J h . , Basel 1 9 6 2 (Lit.). - Jan K o u b a , Der älteste Gesangbuchdruck aus B ö h m e n : J L H 13 ( 1 9 6 8 ) 7 8 - 1 1 2 (Lit.). - Walther Lipphardt, Das Gesangbuch von J . Eichorn d . Ä . zu Frankfurt a. d. O d e r u . seine ältesten Ausg.: J L H 13 ( 1 9 6 8 ) 1 6 1 - 1 7 0 . - Anders Mailing, Dansk Salme Historie, Kopenhagen 1 9 6 1 ff. - Pierre Pidoux, Le Psautier Huguenot du X V I e siècle. Mélodies et D o c u m e n t s , 2 Bde., Basel 1 9 6 2 (Lit.). - Walter Reckziegel, Das Gesangbuch von J . Eichorn d . Ä . zu F r a n k f u r t / O d e r : J L H 7 ( 1 9 6 2 ) 1 1 5 - 1 2 3 ; 10 ( 1 9 6 5 ) 1 7 0 f f . - Gerhard Schuhmacher, D e r beliebte, kritisierte u. verbesserte Lobwasser-Psalter: J L H 1 2 ( 1 9 6 7 ) 7 0 - 8 6 . - Ernst Sommer, Das Gesangbuch von V . Babst 1 5 4 5 . Eine krit. Betrachtung der Melodien: J L H 11 ( 1 9 6 6 ) 1 4 6 - 1 6 1 . - Rudolf W o l k a n , Das dt. Kirchenlied der böhmischen Brüder im X V I . J h . , Prag 1 8 9 1 = Hildesheim 1 9 6 8 .
3. Orthodoxie,
Pietismus und
Aufklärung
Im 17. Jh. festigen, ja verhärten sich die konfessionellen Fronten; nicht wenige Gesangbücher tragen im Titel den Zusatz Augspurgischer Confession (Kantional Schein 1627, Criiger 1640) bzw. Catholisch Gesangbouch (Graz 1602). Dies hindert jedoch den gelegentlichen Austausch bzw. die Adaption von Liedern anderer Provenienz nicht. Der —»Dreißigjährige Krieg hinterläßt seine Spuren auch im Gesangbuch: „Krieges-Angst-Seufftzer..." beginnt ein Liederbuchtitel Leipzig 1 6 4 5 ; in den überaus vielen Kreuz- und Trostliedern des 17. Jh., etwa bei Johann Heermann ( 1 5 8 5 - 1 6 4 7 ) und P. —»Gerhardt schlägt sich diese Erfahrung nieder. Durch das Opitzsche Reformprogramm beeinflußt, erscheinen ältere und neue Lieder in geglätteter, gebesserter Sprachgestalt; z. B. New Ordentlich Gesang-Buch von Justus Gesenius ( 1 6 0 1 - 1 6 7 3 ) und David Denicke ( 1 6 0 3 - 1 6 8 0 ; Hannover 1646; Auflagen bis 1 6 7 6 ) ; allgemein nimmt die geistliche Poetik, auch durch die Dichterbünde, einen ungeahnten Aufschwung (Fischer-Tümpel). Voluminöse Gesangbücher mit über 1000 Liedern (im 17. Jh. in der Regel durchnumeriert) sind keine Seltenheit (Das Gesangbuch Lüneburg aus der Buchdruckerei der Sterne 1635 umfaßt 3 5 5 , 1 6 6 6 schon 4 9 4 und 1694 sogar 2 0 5 5 Lieder). Daß es sich nicht allein um ein quantitatives Wachstum handelt, zeigt neben anderen P. —»Gerhardt, in dessen 1 3 4 Dichtungen 5 2 verschiedene Strophenformen, darunter 10 erstmalig (z.B. „Die güldne Sonne") begegnen, und beweisen die wortreichen Liedüberschriften und die Liedpredigt- und Kommentarliteratur (Rößler). Die Kantionale-Ausgaben (Schein 1 6 2 7 , Vopelius Leipzig 1 6 8 2 , Briegel Darmstadt 1687) verbinden den homophonen Chorsatz mit einstimmigem Gesang der Gemeinde, während nun auch den bei der häuslichen Andacht gesungenen Erbauungsliedern neben der Melodie eine bezifferte Generalbaßstimme beigegeben wird (eine Vorstufe der sich bald durchsetzenden Begleitung des Gemeindegesangs durch die —»Orgel), nachweisbar zuerst im Gesangbuch Berlin 1640 und der Praxis pietatis des Kantors J. —»Criiger (PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist Vbung der Gottseligkeit in Christlichen und Trostreichen Gesängen Herrn D. Martini Lutheri fürnemlich und denn auch anderer vornehmer und gelehrter Leute ... Auch zu Befoderung des
Gesangbuch
KirchenGOttesdienstes
mit beygesetzten Melodien Nebest dem Basso Continuo
553
verfertiget
Von ]. C.). Der lateinische Titel weist schon auf die Erbauungsfrömmigkeit des —»Pietismus hin, das Gesangbuch orientiert sich jedoch am herkömmlichen Liedbestand, nicht ohne neue Lieder (z.B. die P. Gerhardts) aufzunehmen. Ausdrücklich ist der Kirchengottesdienst genannt, neben den in der Editio V ( 1 6 5 3 ) der „Privat-Gottesdienst" tritt. Tatsächlich waren die Gesangbücher der Zeit, vom Autor initiiert und von einem Verleger herausgebracht, überwiegend für den Gebrauch des einzelnen Christen etwa bei der Hausandacht bestimmt, wie die schöne Ausgabe Geistliche Andachten von 1 2 0 Paul-Gerhardt-Liedern 1 6 6 6 / 6 7 durch J . G . Ebeling zeigt (Faks.-Ausg., Beitr. von Blankenburg). Die Praxis pietatis erlebte 4 5 Auflagen bis 1 7 3 7 , die 21. Ausgabe 1 7 0 2 ist von P h . J . - » S p e n e r m i t einer Vorrede versehen. Wie die reformatorischen Gesangbücher zu ihren Liedern Gebete hinzusetzten, ist den Privatgesangbüchern nicht selten ein —»Gebetbuch beigebunden, bei der Praxis ab 1 7 0 2 das durch Generationen beliebte von J . Habermann (Bachmann, Fischer-Krückeberg). Der Abdruck von Melodie und Baßstimme lediglich bei neu aufgenommenen Liedern hatte ein Übergewicht der Texte im Gesangbuch zur Folge; dies hält bis weit in das 19. Jh. hin an. Es begünstigte aber auch die Vielzahl der Einzelausgaben von Lieder- und Gesangbüchern zum privaten Gebrauch, in denen sich das arienhafte (Solo-)Lied entwickelte (z.B. das bekannte sog. Schemellische Gesangbuch Leipzig 1 7 3 6 mit der Melodie zu „Ich steh an deiner Krippen hier" von J. S. - » B a c h ) ; daneben stehen die „Reihengesangbücher", die über längere Jahrzehnte an einem Ort meist bei demselben Verleger erscheinen (Dresden, Leipzig, Nürnberg, Lüneburg, Königsberg u . a . ; Röbbelen). Zunehmend werden Gesangbuchausgaben im 17. Jh. mit fürstlichem Privileg versehen; mehr und mehr gewinnen die Hofprediger, Generalsuperintendenten und Konsistorialräte Einfluß auf die Gesangbücher, die dann die nicht immer hochwertige Lieddichtung ihrer Redaktoren verbreiten. Allerdings wurden erst von der Jahrhundertwende an amtliche Gesangbücher eingeführt (Lübeck 1 7 0 3 , Berlin 1 7 0 4 , Hamburg 1 7 1 0 , Pommern 1 7 1 7 ) , wobei „dann auch . . . jedes kleine Fürstentum als ein Zeichen seiner Souveränität neben die Landesfahne und die Uniformen der Soldaten das,eigene', privilegierte Gesangbuch treten ließ" (Mahrenholz, Kirchengesangbuch 6); doch blieb oft ein Hausgesangbuch neben dem amtlich verordneten in Gebrauch. So gab z.B. ] . ] . - » R a m b a c h nach dem Vorschlag Speners (Theol. BedenkenIV,321), die Doppelfunktion des Gesangbuchs in zwei Büchern zu realisieren, 1 7 3 3 ein Kirchengesangbuch und 1 7 3 5 ein Hausgesangbuch „zur Beförderung der Hausandacht" heraus.
Nicht unerheblich erweitert sich der Aufbau des Gesangbuchs, über den die Vorreden mit den Angaben „nach der Ordnung des Heils" (Porst 1708) oder „wie es die Oeconomie unserer Seligkeit erfordert und mit sich bringt" (Freylinghausen 1 7 0 4 ) Auskunft geben. Neben der lehrmäßigen Entfaltung der Katechismuslieder wird das Bemühen erkennbar, dem Christen in bestimmten Lebenssituationen geistliche Hilfe zu geben („Bet-, Klag- und Bußlieder, allerhand Zustand und Anliegen"; „Lob- und Danklieder, beneben den Morgen- und Abend-, item Tisch-, Haus- und Reiseliedern", Marburg 1 6 4 6 ) . Die Tendenz, Gesangbücher zu compendia locorum theologicorum umzugestalten, formuliert C. Löscher: „Nun sind Gesangbücher ein Anhang von symbolischen Büchern, als welche der gantzen Lutherischen und Evangelischen Kirche Lehr und Bekäntniß darthun und also billig rein und unverfälscht erhalten werden müssen" (Vorrede Wittenberg 1 7 3 3 ) ; den Höhepunkt erreicht diese Entwicklung in den rationalistischen Gesangbüchern des 18. J h . sowohl orthodoxer Prägung wie pietistischer Herkunft. Das Gesangbuch um 1 7 5 0 bis 1 8 0 0 vollendet diesen Ansatz aufklärerischer Frömmigkeit, indem es durch seine Gliederung dem Christen eine theologia dogmatica und moralis in hymnis bietet (Mahrenholz, Kirchengesangbuch 53 ff am Beispiel des Gesangbuchs Bremen 1 7 6 6 ; zum Ganzen vgl. Röbbelen). Aus dem 17. Jh. sind noch zu nennen der lutherische Psalter von Cornelius Becker ( 1 5 6 1 - 1 6 0 4 ) , Leipzig 1 6 0 2 , dem abgesehen von seiner Vertonung durch H. —»Schütz nur geringe Nachwirkung beschieden war, ferner die Himlischen Lieder von Johann Rist ( 1 6 0 7 - 1 6 6 7 ) , Lüneburg 1 6 4 1 / 4 2 und die Geistliche Seelen Musik von Heinrich Müller ( 1 6 3 1 - 1 6 7 5 ; vgl. T R E 1 0 , 6 0 f ) , Rostock 1 6 5 9 , die als programmatisch für den geistlichen Gesang des Pietismus gelten kann (Bunners). Das bedeutendste Gesangbuch des Pietismus wurde das Geist-reiche Gesangbuch von Johann Anastasius Freylinghausen ( 1 6 7 0 - 1 7 3 9 ; vgl. T R E 1 1 , 3 1 4 , 2 6 ; 3 1 8 , 4 4 ) , Halle 1 7 0 4 (683 Lieder mit 1 7 4 Melodien), dem 1 7 1 4 ein Neues Geist-reiches Gesangbuch folgte ( 1 7 4 1
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zusammengefaßt, viele Aufl. bis 1 8 4 4 ) . Der Untertitel Zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung im Glauben und gottseeligen Leben zeigt das Ziel persönlicher Frömmigkeit des inneren Menschen, dem neben dem abnehmenden klassischen Liedbestand viele neue Lieder von J . —»Scheffler, A . H . —»Francke, Spener u . a . dienen sollten. Uber Berlin-Brandenburg hinaus weitverbreitet wurde das Berliner Gesangbuch von J. Porst 1 7 0 8 (vgl. T R E 7 , 1 1 6 , 4 6 f f ) , das durch das 1 9 . Jh. (bis 1 9 0 5 ) nachgedruckt wurde. In den pietistischen Gesangbüchern drängte ein breiter Strom erwecklicher, aus einer innigen, mystischen Frömmigkeit fließender Lieder den Stamm des alten lutherischen Liedes beiseite (vgl. das Gutachten der theologischen Fakultät Wittenberg 1 7 1 6 zum Freylinghausenschen Gesangbuch, H E K G U/2, 1 0 8 f). Dem reformierten Pietismus zuzurechnen sind die geistlichen Dichtungen von Joachim Neander ( 1 6 5 0 - 1 6 8 0 ; „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren"): J.N. Glaub- und Liebesübung: Auffgemuntert durch Einfältige Bundes-Lieder und Danck-Psalmen ... Gegründet Auff dem, zwischen Gott und dem Sünder im Blüht Jesu befestigtem Friedens-Schluß: Zu lesen und zu singen auf Reisen, zu Hauß oder bey Christen-Ergetzungen im Grünen, durch ein geheiligtes Hertzens-Halleluja! Bremen 1680. Zunächst für den Privatgebrauch bestimmt wurden die Bundes-Lieder Neanders im 18. Jh. als zweiter Teil dem Lobwasser-Psalter angefügt und trugen so zur Überwindung des ausschließlichen Psaltergebrauchs im reformierten Gottesdienst bei. Gleichzeitig erschien der sog. Große Neander (Elberfeld 1721) mit 58 Liedern Neanders und weiteren 150 von P. Gerhardt, J. Scheffler u.a. (Hollweg); die weiteren Aufl. ( 1 7 3 6 - 6 8 ) besorgte G. —»Tersteegen („Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen", 1729 ff, weitere Auflagen bis 1855), dessen Lieder-wie auch eine Auswahl aus Neander-mittlerweile zum klassischen, neuzeitlichen evangelischen Liedgut gezählt werden dürfen (Zeller). Aus dem Hallenser Pietismus und dessen geistlicher Liedpädagogik hat N. L. Graf von —»Zinzendorf die Einrichtung der Herrnhuter Singstunden übernommen. Nach dem ersten Brüdergesangbuch (Berthelsdorf 1725) beginnt die Reihe eigenständiger Brüder-Gesangbücher mit dem Gesang-Buch der Gemeine Herrn-Huth (1735, mit 1000 Liedern ohne Noten, wie das Freylinghausensche mit dem Titelbild der Anbetung des Lammes) bis zu dem von Christian Gregor ( 1 7 2 3 - 1 8 0 1 ) herausgegebenen Gesangbuch zum Gebrauch der ev. Brüdergemeinen 1778 (z.T. verändert bis ins 20. Jh. gebraucht). Die Gesangbücher des Grafen Zinzendorf sind bedeutende ökumenische Zeugnisse (z. B. das sog. Londoner Gesangbuch 1753 mit 2861 Liedern aus allen Kirchen und Epochen; vgl. Müller, Blankenburg, Senft). Bis zum Ende des 18. Jh. herrscht in den reformierten Kirchengebieten der Lobwasser-Psalter (ab 1700 z.T. sprachlich verbessert). J . J . Spreng gab 1741 ff in Basel, V. Conrart 1677 in Paris einen Reformpsalter heraus; mit den auf Psalmenmelodien gedichteten Liedern von B. Pictet (Genf 1705) leiteten sie die Ablösung des Lobwasser ein. In den Niederlanden gab es 1733 eine Neuübersetzung des Psalters und erst 1807 mit dem Gezangbundel (Anhang 1869) eine offizielle Freigabe nichtbiblischer geistlicher Gesänge. Durch den Aandelige Siunge-Koor 1674 ff und das Graduai 1699 des Bischofs Th. —»Kingo erlebte Dänemark eine Gesangbucherneuerung, die stärker das melodische Erbe des 16. Jh. berücksichtigte, während das 1740 von E. Pontoppidan herausgegebene Gesangbuch mit der Kirchenlieddichtung von H. A. Brorson Einflüsse des deutschen Pietismus zeigt. Schweden und in seinem Gefolge Finnland erhielten 1695/97 (bzw. 1701/02) ein einheitliches Psalmbok. Nach Übertragungen früher evangelischer Lieder der deutschen Reformation (M. Coverdale, Goostly Psalmes 1539) und Psalterausgaben (Certayne Psalmes 1548 von Sternbold/Hopkins) gebrauchte die englische Kirche die Old Version des vollständigen Psalters (1562) bis zur New Version 1696 (N.Tate/N. Brady); im 18. Jh. leiteten die Gesänge von I. Watts sowie Ch. und J. - » Wesley eine neue Entwicklung ein. Neben dem ersten in USA gedruckten Gesangbuch (Bay Psalm Book 1640 für die Gemeinden Neu-Englands, 70 Auflagen bis 1773) standen die von deutschen Auswanderern (—»Auswanderung) mitgebrachten und nachgedruckten Auswanderer-Gesangbücher (Philadelphia-Germantown ab 1752; Kadelbach). In der katholischen Gesangbuchgeschichte des 1 7 . / 1 8 . Jh. dominieren die apologetisch ausgerichteten sog. Jesuiten-Gesangbücher (—»Jesuiten),etwa von Friedrich Spee; außerdem gab es bedeutende Einzelerscheinungen wie das Sammelgesangbuch von N . Beuttner, Graz 1 6 0 2 und das Gesangbuch von D. Corner, Fürth 1 6 2 5 . Die geistliche Dichtung von J. —»Scheffler (Angelius Silesius: Heilige Seelen-Lust Oder Geistliche Hirten-Lieder Der in jhren JESUM verliebten Psyche, Breslau 1 6 5 7 ) , ein Höhepunkt barocker Jesusminne, ist nicht ohne Wirkung auf die evangelischen pietistischen Gesangbücher geblieben. Erst in der Periode der Aufklärung erschienen im Zuge der Reformliturgik Diözesangesang- und gebetbücher, die den evangelischen Gesangbüchern gegenüber wenig profiliert erscheinen. Im Gesangbuch der —»Aufklärung k a m es bei dem Bemühen, das evangelische Liedgut zeitgemäß zu aktualisieren, zu dem bisher größten Umbruch in der Gesangbuchgeschichte. N a c h
Gesangbuch
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dem Vorbild von F. G . —»Klopstock, der im Anhang zu seinen Geistlichen Liedern 1 7 5 8 ca. 3 0 ältere Lieder in veränderter Sprachgestalt veröffentlichte, schieden Herausgeber zahlloser Gesangbücher das überkommene evangelische —»Kirchenlied mehr oder minder aus, um es durch zeitgenössische Dichtungen (z.B. die beliebten Geistlichen Oden und Lieder von Chr. F. —»Geliert) zu ersetzen. Das Ziel der Gesangbücher, dogmatische wie ästhetische Anstöße zu beseitigen, versuchte man durch erhebliche Eingriffe in den ohnehin reduzierten Liedbestand bzw. dessen Ersatz durch viele flache, rationalistische Reimlieder zu erreichen. Nach diesen Prinzipien gab Johann Samuel Diterich ( 1 7 2 1 - 1 7 9 7 ) , den man den „Geiserich unter den Gesangbuchvandalen" genannt hat (W. Nelle),1765 einen Anhang zum Porstschen Gesangbuch heraus und veranlaßte das von J . J . —»Spalding und Wilhelm Abraham Teller ( 1 7 3 4 - 1 8 0 4 ) edierte Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königl. Preuß. Landen Berlin 1 7 8 0 (nach dem Verleger der Mylius genannt). Die offizielle Einführung dieses Gesangbuchs 1 7 8 3 führte zu erheblichen Widerständen der Gemeinden in Berlin, Rheinland, Westfalen u.a. (vgl. T R E 7 , 1 1 7 , 3 6 f f ) ; man gebrauchte weiterhin den Porst oder, wie in der Grafschaft Mark, das alte Gesangbuch Kern und Mark geistlicher Lieder (Bachmann 2 1 4 f f ) . Das maßgebliche reformierte Gesangbuch wurde von Georg Joachim Zollikofer ( 1 7 3 0 - 1 7 8 8 ; Leipzig 1 7 6 6 ) herausgebracht, unter dessen 4 6 4 Liedern nur 2 7 Psalmlieder (z.B. von —»Lavater) zu finden waren, dazu neue Lieder von Diterich, Klopstock, Geliert und Cramer, die wie die alten Lieder „durch Veränderungen leichter gem a c h t " waren. Ähnlich verfuhr Johann Andreas Cramer ( 1 7 2 3 - 1 7 8 8 ) im Gesangbuch für SchleswigHolstein 1 7 8 0 , während J . G . - » H e r d e r im Weimarischen Gesangbuch 1 7 9 5 die alten Lieder unverändert beließ und sie durch einen zweiten, neue Lieder enthaltenden Gesangbuchteil ergänzte. „Ich halte . . . jedes Land, jede Provinz für glücklich, der man noch ihren alten G O t t , Gottesdienst und ihr altes Gesangbuch läßt und eine ganze Gemeine nicht täglich oder Sonntäglich mit Verbesserungen m a r t e r t " , heißt es in seiner Vorrede zum Hoffmannischen Gesangbuch 1 7 7 8 . „Ich für meine Person bin dem Änderungskitzel von Herzen gram und feind", sagt Herder in einem Gesangbuch-Rundschreiben 1 7 9 3 , dem er zwei Erfahrungsgrundsätze voranstellt: „ . . . daß das Gesangbuch vorzüglich für den gemeinen M a n n sei, der in ihm Trost und Erbauung findet, dem man also soviel möglich lassen muß, woran er von seiner Kindheit an T r o s t und Erbauung f a n d " und „ d a ß es der Ein führung eines neuen Gesangbuchs am meisten hinderlich sei, wenn alte oder f r o m m e Leute ihre gewohnten Herzens- und Lieblingsgesänge darinn nicht finden" (zit. nach Ameln).
Diese Äußerungen wie auch der in Herders Gesangbuch gefundene praktische Kompromiß zeigen u. a., wie stark damals bereits ein einmal eingeführtes Gesangbuch als geistlicher Besitz der Gemeinde anzusehen war — im Gegensatz zum ausgehenden 17. Jh., aus dem Chr. Gerber in seiner Historie der Kirchen-Zäremonien 1 7 3 1 berichtet, daß einem Bauern aus der Gegend von Merseburg, der in Halle ein Gesangbuch erworben und daraus im Gottesdienst gesungen hatte, dies als „Neuerung" von seinem Pfarrer untersagt worden sei. Die Aufklärungsgesangbücher erschienen in einer Zeit, in der der evangelische Gottesdienst nicht mehr ohne das Gesangbuch in der Hand der Gemeinde gefeiert wurde und mit der Einführung des „ n e u e n " , landesherrlich verordneten Gesangbuchs die Gemeinde nicht selten schon nach wenigen Jahren zum Kauf dieses „besseren" Gesangbuchs gezwungen war. Die immense Gesangbuchproduktion der Zeit von 1 7 6 0 bis etwa 1 8 2 0 und die ihr folgende Flut von Streitschriften zeigt, daß praktisch keine Stadt und keine Provinz vom Aufklärungsgesangbuch verschont wurde; auch auf das Ausland (z. B. das lutherische Skandinavien) und die katholischen Bistümer erstreckte sich sein Einfluß. Im Gesangbuchaufbau wird nach dem M u s t e r vieler reformierter Gesangbücher ab 1 7 5 0 die Einteilung in Lieder zur Glaubenslehre und zur Sittenlehre konsequent vorgenommen. Hieß es im Gesangbuch Kurpfalz 1 7 6 9 (Teil II): „Des Gesang-Buchs Anderer Theil, welcher Alle Glaubens-Lehren und Lebens-Pflichten in 7 0 0 . . . Liedern in sich h ä l t " , treten nach diesem Programm im Aufklärungsgesangbuch neben die Lehrlieder (mit Betonung der Gottes- und Schöpfungslehre) die Gesänge über die Pflichten des Christentums (nach „ G e b e t " und „ ö f f e n t l i c h e Gottesverehrung" z. B. die Rubriken „Selbsterkenntnis und D e m u t " , „Vernünftige Selbstliebe", „Achtung und Sorge für die Seele", „Sorge für den
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Gesangbuch
L e i b " , „ M ä ß i g k e i t und K e u s c h h e i t " , „Weiser und froher Lebensgenuß" usw. bis zu Standesliedern für Fürstenhaus und Adel, Handels- und Handwerksleute, „Verpflichtung zur A r b e i t " , „Berufstreue" usw., so Oldenburg 1 7 9 1 und Minden 1 8 0 6 ) . S c h o n die Z e i t g e n o s s e n g i n g e n m i t d e m A u f k l ä r u n g s g e s a n g b u c h h a r t ins G e r i c h t : „ N u n ist alles d u r c h - u n d u n t e r e i n a n d e r g e k o m m e n , u n d Viele L i e d e r sind s o v e r r ü c k e t , d a ß m a n ihre Stätte nicht m e h r k e n n e t " ( F . F . T . H e e r w a g e n , Literaturgesch. der ev. Kirchenlieder, I 1 7 9 2 , 1 7 f , n a c h S t u r m ) . I m G e f o l g e d e r — » R e s t a u r a t i o n des 1 9 . J h . m u ß t e die liturgischk i r c h e n m u s i k a l i s c h e E r n e u e r u n g u n s e r e s J a h r h u n d e r t s die „ V e r s c h l i m m b e s s e r u n g e n "
am
e v a n g e l i s c h e n K i r c h e n l i e d (vgl. die h y m n o l o g i s c h e L i t e r a t u r m i t ü b e r a u s vielen Z i t a t e n aus U m d i c h t u n g e n ) , a b e r a u c h d i e M o r a l p r e d i g t i m A u f k l ä r u n g s g e s a n g b u c h als d e n g r ö ß t e n I r r w e g d e r G e s a n g b u c h g e s c h i c h t e a n s e h e n . Bei aller g e b o t e n e n K r i t i k d a r f j e d o c h n i c h t verk a n n t w e r d e n , d a ß es sich bei d e m G e s a n g b u c h d e r A u f k l ä r u n g u m e i n e n t h e o l o g i s c h vera n t w o r t e t e n G e s a m t e n t w u r f h a n d e l t e , d e r d a s G a n z e des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s u n d L e b e n s m e i n t e u n d d e m es v o r a l l e m u m G e g e n w a r t s n ä h e u n d v e r s t ä n d l i c h e V e r m i t t l u n g zu t u n war. E r s t E n d e d e s 1 8 . J h . e r s c h i e n eine Neue
Bereimung
der Psalmen
a u s d e r F e d e r des re-
formierten Predigers M a t t h i a s Jorissen ( 1 7 3 9 — 1 8 2 3 ; Wesel, A m s t e r d a m und Den H a a g 1 7 9 8 ) ; sie l ö s t e d e n Lobwasserpsalter
e n d g ü l t i g a b , w u r d e in d a s r e f o r m i e r t e G e s a n g b u c h
v o n Cleve, Jülich, Berg u n d M a r k (Elberfeld 1 8 2 7 ) geschlossen ü b e r n o m m e n u n d sicherte d a m i t f ü r die F o l g e z e i t d e n A n t e i l des r e f o r m i e r t e n P s a l m l i e d s a m e v a n g e l i s c h e n L i e d g u t d e r G e s a n g b ü c h e r des 1 9 . u n d 2 0 . J h . Quellen Albert Fischer, Das dt. ev. Kirchenlied des 1 7 . J h . , vollendet und hg. v. Wilhelm T ü m p e l , 6 Bde., Gütersloh 1 9 0 4 - 1 9 1 6 = Hildesheim 1 9 6 4 . Literatur Konrad Ameln, J o h a n n Gottfried Herder als Gesangbuch-Herausgeber: J L H 2 3 ( 1 9 7 9 ) 1 3 2 - 1 4 4 . - Ders., D a s Hessen-Homburgische Gesangbuch 1 7 3 4 : J L H 2 5 ( 1 9 8 1 ) 4 9 - 5 4 . - J o h a n n Friedrich B a c h m a n n , Z u r Gesch. der Berliner Gesangbücher. Ein hymnolog. Beitr., Berlin 1 8 5 6 = Hildesheim 1 9 7 0 . - W a l t e r Blankenburg, Die Musik der Böhmischen Brüder und der Brüdergemeine: F. Blume, Gesch. der ev. Kirchenmusik, Kassel 2 1 9 6 4 , 4 0 3 - 4 1 2 . - Ders., Die Entwicklung der Hymnologie seit etwa 1 9 5 0 : T h R 4 4 ( 1 9 7 9 ) 2 7 4 - 2 7 9 . 3 1 9 - 3 4 9 (Lit., auch Quellen- und F a k s . - A u s g . ) . - C h r i s t i a n Bunners, Kirchenmusik u. Seelenmusik, Göttingen 1 9 6 6 . - Elisabeth Fischer-Krückeberg, Z u r Gesch. der ref. Gesangbücher des Berliner Kantors J o h a n n Criiger: J B r K G 2 5 ( 1 9 3 0 ) 1 5 6 - 1 8 0 . - Dies., J o h a n n Crügers Praxis pietatis melica: ebd. 2 6 ( 1 9 3 1 ) 2 7 - 5 2 . - P a u l Graff, Gesch. der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der ev. Kirche Deutschlands, Göttingen,I 1 9 2 1 2 1 9 3 7 , II 1 9 3 9 . - Jürgen Grimm, D a s Neu Leipziger Gesangbuch des Gottfried Vopelius (Leipzig 1 6 8 2 ) , Berlin 1 9 6 9 . - F . A . H e n n / M a t t h i a s Jorissen, Der dt. Psalmist in Leben u. W e r k , Leipzig 1 9 5 5 , Neukirchen 2 1 9 6 4 . - Ada Kadelbach, Die Hymnodie der Mennoniten in Nordamerika ( 1 7 4 2 - 1 8 6 0 ) . Eine Stud. zur Verpflanzung, Bewahrung u. Umformung europ. Kirchenliedtradition, Diss. Phil. Mainz 1 9 7 1 . - Walther Lipphardt, Hanauer Gesangbuchdrucke von 1 6 0 5 bis 1 8 0 0 , H a n a u 1 9 7 3 . - J o s e p h T h . Müller, Hymnologisches H b . zum Gesangbuch der Brüdergemeine, Herrnhut 1 9 1 6 . - Edwin Nievergelt, Bibliogr. der ostschweizerischen ref. Kirchengesangbücher des X V I I . J h . , Zürich 1 9 4 2 . - Ingeborg R ö b b e l e n , Theologie u. Frömmigkeit im dt.ev.-luth. Gesangbuch des 17. u. frühen 18. J h . , 1 9 5 7 ( F K D G 6) 1 - 1 0 3 (Lit.). Martin R ö ß l e r , Die Liedpredigt. Gesch. einer Predigtgattung, 1 9 7 6 ( V E G L 2 0 ) . - Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert, Sprache u. Frömmigkeit im dt. Kirchenlied, Kassel 1 9 8 3 (Lit.). - W . Senft, Brüdergesang. Eine gesch. Stud. zur Fünfhundertjahrfeier der Brüderunität, H a m b u r g 1 9 5 7 . - Paul Sturm, Das ev. Gesangbuch der Aufklärung. Ein Beitr. zur dt. Geistesgesch. des 17. u. 18. J h . , Barmen 1 9 2 3 . - W i n fried Zeller, Theologie u. Frömmigkeit. GAufs., Marburg, 1 1 9 7 1 , 8 5 - 1 1 6 . 1 8 6 - 1 9 4 . 4. 19.
und
20.
Jahrhundert
N a c h d e m U m b r u c h d e r A u f k l ä r u n g h a t s i c h d a s 1 9 . J h . u m die F r a g e n n a c h d e r Beibeh a l t u n g des a l t e n e v a n g e l i s c h e n L i e d b e s t a n d e s , d e r a n g e m e s s e n e n R e z e p t i o n n e u e r e r u n d n e u e s t e r L i e d e r u n d u m die P r o b l e m a t i k eines e i n h e i t l i c h e n G e s a n g b u c h s b e m ü h t . D a b e i sind E i n f l ü s s e d e r — » E r w e c k u n g e b e n s o u n v e r k e n n b a r w i e W i r k u n g e n d e r — » R o m a n t i k (Volkslied) u n d des d e u t s c h e n — » N a t i o n a l i s m u s . D i e S c h r i f t v o n E r n s t M o r i t z A r n d t
Von
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dem Wort und dem Kircbenliede nebst geistl. Liedern (Bonn 1 8 1 9 , Nachdr. Hildesheim 1 9 7 0 mit Vorw. v. K. Ameln) wies nach der Erfahrung der Befreiungskriege auf das in der Reformation so mächtige göttliche Wort, rief zurück zur kräftigen Sprache Luthers und forderte ein „christliches teutsches Gesangbuch", das alle Christen „ohne Unterschied des besonderen Bekenntnisses" gebrauchen könnten. A. J . Rambach und P. Mortimer machten auf die Bedeutung der musikalisch-melodischen Dimension des Gesangbuchs aufmerksam; nach den kirchenmusikalischen Sammlungen von Winterfeld, Layriz, Schoeberlein und Zahn hat für diesen Bereich des Gesangbuchs erst die Hymnologie des 2 0 . Jh. eine durchgreifende Neuorientierung geleistet. Als erstes offizielles Reformgesangbuch erschien unter dem Einfluß von
—»Schleiermacher das Gesangbuch
zum gottesdienstlichen
F.D.E.
Gebrauch für evangelische
Ge-
meinen, Berlin 1 8 2 9 (8 Auflagen bis 1853); es war dazu bestimmt, sowohl den Porst wieden Mylius zu überwinden. Mit 8 7 6 Liedern (und 178 Melodie-Angaben) übertraf es den Mylius (447 Texte, 90 Melodien, darunter allein fünfzigmal die Melodie von „Wer nur den lieben Gott läßt walten"); es nahm Lieder aus der Brüdergemeine, aber auch aus der Gegenwart (-»Novalis, Garve) auf. Die Lieder erscheinen ohne Verfasser-Angabe entsprechend der Meinung Schleiermachers, daß nicht die Kirchenbehörde, sondern die Gemeinde ein Lied für das Gesangbuch rezipiere (Albrecht 1 2 9 f ) . Die Vorrede belegt nicht so sehr seine Anschauung von der —»Poesie des —»Kirchenliedes, sondern seine Lehre vom Kultus: Es „lag den Unterzeichneten o b , von den verschiedenen Auffassungsweisen der christlichen Glaubenslehre keine ausschließlich zu begünstigen, aber auch keiner ihre Stelle zu verweigern, die als Äußerung des frommen Gefühls sich mit der evangelischen Wahrheit und mit dem Wesen eines kirchlichen Buches in Einklang bringen l ä ß t " (Dietz 3 6 1 f).
Die überaus zahlreichen Publikationen zur „Gesangbuchnoth" bis 1 8 5 0 erörtern die Aufnahme des alten Liedgutes (recht häufig in Diskussion der Textvarianten ihrer Kontrahenten), beleuchten das Problem der geistlichen Dichtung ab 1 7 5 0 und schlagen einen Kernliederkanon für ein Einheitsgesangbuch vor. Mit Karl v. Raumer (1783—1865) beginnt die Sicht der jüngeren Gesangbuchgeschichte als „Verfall", dem gegenüber das Reformationslied das Kirchenlied schlechthin ist (Stip z.B. begründet auf über 1 0 0 Seiten, daß die Zeile des Luther-Liedes „und steur des Papsts und Türken M o r d " für die Gegenwart erhalten werden müsse). „Die Emanzipation des subjektiven Menschengeistes von allen objektiven, gottgeschaffenen, geschichtlich gewordenen Ordnungen und Gesetzen . . . äußert sich auch auf dem Gebiete des Gesangbuchs" (W. Baur, Das Kirchenlied in seiner Gesch. und Bedeutung 1 8 5 2 , 128): Dieses Urteil hat auch die Hymnologie des 2 0 . J h . nicht unwesentlich beeinflußt. Nach H . F . WilhelmisLiederkrone, 1 8 2 5 , F . W . KrummuchersZionsharfe (Liedersammlung für Bibel-, Missions- und a n d e r e . . . Vereine 1 8 2 7 ) , Cl. —»Harms Gesängen und Görings Kern des Deutschen Liederschatzes, 1 8 2 8 legte K. v. Raumer eine gediegene Sammlung vor, die 3 6 Lieder Luthers, 4 2 von Gerhardt enthielt (Basel 1831). Ihm ebenbürtig Chr. K . J . v.—» Bunsens beachtlicher Versuch (Versuch eines allg. ev. Gesang- und Gebetbuchs ..., Hamburg 1 8 3 3 , unter Mitarbeit von R. —»Rothe und A. —»Tholuck), der sich durch umfassende hymnologische Nachweise auszeichnete. In diese Reihe gehören ferner Rudolph Stier (1800—1862; Ei/. Gesangbuch, 1 8 3 5 , Gesangbuchnoth, 1838), das Kleine ev. Gesangbuch von A. F. Chr. —»Vilmar 1 8 3 8 (eher konservativ), Albert Knapps Ev. Liederschatz,1837 sowie die in den vierziger Jahren erschienenen Ausgaben von Göring, Daniel, Lange, Cuntz, Hoppe, Wiener (mit Melodien!), Layriz und Stip ( U n v e r f ä l s c h t e r Liedersegen, Berlin 1851). In der Gesangbucheinteilung zeigt sich zwar die Tendenz, Kirchenjahr und Gottesdienst zu ihrem Recht kommen zu lassen, doch besteht die aus dem 18. J h . bekannte dogmatische Rubrizierung, jetzt „christlicher" gefüllt, weiter: Knapp kennt Rubriken wie „ V o m Gebrauch der Z u n g e " , „Für Dienstbot e n " , „ V o n der Kinderzucht", Lieder „für arme Kinderanstalten" (Hoffmann 4 4 f f ) .
Die Eisenacher Kirchenkonferenz gab 1 8 5 4 ein Deutsches Ev. Kirchen-Gesangbuch. In ISO Kernliedern heraus ( 2 1 8 5 5 ) ; dieser Liedkanon (Lieder bis 1750!) war eine Frucht der hymnologischen Vorarbeiten seit 1 8 0 0 und wurde begünstigt durch die politischen Ereig-
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nisse von 1848. Entgegen allgemeiner Erwartung wurden die 150 Eisenacher Kernlieder für die Gesangbücher ab 1854 nicht maßgebend, da die landeskirchlich-provinzielle Tradition stärker als der Wunsch nach einem Einheitsgesangbuch war. Die Erarbeitung dieses Liedkanons (durch Bähr, Daniel, Geffcken, Vilmar und Wackernagel, der 1 8 5 3 ausschied) geschah nach folgenden Grundsätzen: Das Kirchenlied ist 1. Bekenntnislied, 2. Lied der Gemeinde und 3. seiner Natur und seinem Ursprung nach geistliches Volkslied; die Lieder sollten, nach dem Kirchenjahr geordnet, in möglichst ursprünglicher Text- und Melodiegestalt aufgenommen werden ( 9 7 Melodien zu 1 5 0 Liedern!); Geffcken und Wackernagel veröffentlichten Gegenentwürfe, die das 1 8 . Jh. und Morgen- und Abendlieder nachtragen wollten; bei Wackernagel wird der Originalliedtext unverändert wiedergegeben (Hoffmann 95ff).
Die offiziellen Gesangbücher, von der älteren Hymnologie als solche mit „beginnender", „halber" und „ganzer" Reform klassifiziert, zeigen ein recht buntes Bild. Lübeck 1832 gliedert seine 369 Lieder nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis; Elberfeld 1835 setzt sich in der Rheinprovinz durch, in der damals nicht weniger als 27 Gesangbücher in Gebrauch waren. Auf Württemberg und Hamburg 1842 folgte das sehr brauchbare Gesangbuch Bayerns 1854 (auch in Österreich eingeführt). Bis 1901 erschienen ca. 35 Landesgesangbücher, die zunehmend mehr als zwei Drittel der Eisenacher Kernlieder enthalten (z. B. Mecklenburg-Strelitz 1875, Schaumburg-Lippe 1879, Hessen-Darmstadt 1880, Großherzogtum und Königreich Sachsen, Hannover, Baden 1883, Ost- und Westpreußen 1886, Rheinland/Westfalen 1893). F. Spitta war der Initiator des Evangelischen Gesangbuchs für Elsaß-Lothringen (Straßburg 1899), das durch seine überlegene Liedauswahl und hervorragende Ausstattung eine erfreuliche Ausnahme unter den meist sehr anspruchslos aufgemachten Gesangbüchern dieser Zeit darstellt. Während die —»Altlutheraner ihr eigenes Reformgesangbuch schufen (Crome 1856ff, Elberfeld 1898), nahmen nicht wenige Gesangbücher ab 1850 im Anhang die zeitgenössischen Dichtungen von Garve, Krummacher, Knapp und K. J.Ph. Spitta (Psalter und Harfe 1833) als „Geistliche Volkslieder" auf, gefördert durch Liederbücher wie Volkenings/C/ez'rce Missionsharfe 1852 (80. Aufl. 1921) und das Ende des Jahrhunderts erscheinende Reichsliederbuch (in unzähligen Auflagen im 20. Jh.) mit erwecklich-erbaulichem Liedgut. Das 1915 gedruckte, seit 1909 von führenden Hymnologen geschaffene Deutsche Evangelische Gesangbuch für das Ausland und die Schutzgebiete ( = DEG) hat erst nach Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Gesangbuchreform 1926 als Grundstock Aufnahme in die Landes- und Provinzgesangbücher gefunden (342 Texte, 162 Melodien). Von Frankfurt 1927 bis Brandenburg-Pommern 1931 wurde dieser DEG-Bestand übernommen. Gleichzeitig erneuerte sich der Gesang der Gemeinden kraftvoll durch die Sing- und Kirchenmusikbewegung ab 1925; Lieder der —»Böhmischen Brüder, der Oberdeutschen, altkirchliche Hymnen in Übertragung bereicherten den Liedbestand. Durch die Arbeit führender, zugleich wissenschaftlich wie praktisch tätiger Hymnologen wie Konrad Ameln, Walter Blankenburg, Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen, aber auch Otto Brodde, Otto Riethmüller, Alfred Stier, Wilhelm Thomas und Rudolf Utermöhlen wurden zwischen 1925 und 1950 die Grundlagen für ein gemeinsames Gesangbuch gelegt (Sammlungen Das Morgenlied, Das Abendlied, Das Quempas-Heft sowie Das neue Lied / Der Helle Ton / Lieder für das Jahr der Kirche, 1935 f, HDEKM). Die deutschchristlichen Gesangbücher (Lieder für Gottesfeiern, Weimar 1938, Gesangbuch der kommenden Kirche, Bremen o.J.) blieben glücklicherweise Episode. Seit 1939 arbeitete der Verband evangelischer Kirchenchöre, seit 1940 der Gesangbuchausschuß der Ev. Kirche der altpreußischen Union an einem Entwurf, der in Gestalt des Gesangbuchs für die Evangelische Christenheit (GEC) der Treysaer Synode 1947 vorlag; nach einer Überarbeitung erschien 1950 die Stammausgabe des Evangelischen Kirchengesangbuchs (EKG; Bärenreiter-Verlag Kassel; vgl. Söhngen und Mahrenholz). Mit dem DEG hat das EKG (394 Lieder) immerhin 238 Lieder gemeinsam, so daß die Kontinuität des Liedgebrauchs gewahrt wurde. Mit 14 Liederdichtern aus vorreformatorischer Zeit, 32 aus Reformation, 31 aus Gegenreformation und 51 aus der Zeit des Dreißig-
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jährigen Krieges ist das klassische Kirchenlied in einem für die Gemeinden anspruchsvollen P r o g r a m m repräsentiert; ihm stehen 4 4 Liederdichter aus Pietismus und Aufklärung und 16 aus dem 1 9 . und 2 0 . J h . gegenüber ( M a h r e n h o l z , Kirchengesangbuch 2 1 ff). N a c h den Liedern zum Kirchenjahr (I, Nr. 1 - 1 2 3 ) und zum Gottesdienst (II, vom Eingang bis zum Begräbnis, N r . 1 2 4 - 1 7 5 ) folgen Psalm-, Bitt- und Lobgesänge für jede Zeit (III, N r . 1 7 6 - 3 3 1 ) — ein umfassender Abschnitt mit der notwendigen Weite für Lieder unterschiedlicher Aussage, jedoch mit orientierenden Untergliederungen; die Lieder für besondere Zeiten und Anlässe (IV, M o r g e n - und Abendlieder bis „ F ü r V o l k und V a t e r l a n d " , N r . 3 3 2 - 3 9 4 ) schließen sich an. Die chronologische Reihenfolge, die Auszeichnung jedes Liedes mit Herkunftsangaben, eine sorgfältige Textgestaltung und Melodiewahl und -Zuordnung zeugen von der immensen hymnologischen Leistung, die das E K G darstellt. Die Übersicht über die Regionalausgaben des E K G zeigt, daß es bald in den Gliedkirchen der E K D eingeführt w a r (eine Ausnahme bilden Rheinland, Westfalen, Lippe, Nordwestdeutschland ref. 1 9 6 9 ; ca. 5 0 Stammteil-Textänderungen wurden ü b e r n o m m e n ) . Seither bilden die landeskirchlichen Ausgaben eine E K G - F a m i l i e mit folgenden F o r m e n : 1. Niedersachsen mit a) H a n n o v e r , Oldenburg, luth. Italien, Vereinigte Ev.-luth. Kirche Afrikas; b) Braunschweig, Schaumburg-Lippe, Blankenburg ( D D R ) mit Sonderanhang; 2 . Kurhessen-Waldeck, Hessen und N a s s a u ; 3 . Bremen; 4 . Unierte Kirchen D D R mit a) A n h a l t , Berlin-Brandenburg (auch W e s t ) , Görlitz, Greifswald, Provinz Sachsen; b) ref. Gemeinden mit zusätzlich 3 1 Psalmliedern; 5 . Baden; 6 . Pfalz; 7. W ü r t t e m b e r g ; 8. Nordelbien; 9 . Bayern; 1 0 . Österreich; 1 1 . Rheinland, Westfalen, Lippe, ref. Nordwestdeutschland, letztgenannte mit zusätzlich 1 5 0 Psalmliedern; 1 2 . Luth. Kirchen D D R mit a) M e c k l e n b u r g , Sachsen, Thüringen, altluth. Gemeinden sowie b) Schmalkalden mit zusätzlich einem Lied (Zusammenschluß 1 9 7 5 ) . D e r zweite Liederteil ( A n h a n g ) wurde mit der Zählung der Lied-Nr. ab 4 0 0 nicht nur zur A u f n a h m e regionalen bzw. konfessionellen Sondergutes, sondern auch des nachwachsenden Liedes der Gegenwart bestimmt ( M a h r e n h o l z , Kirchengesangbuch 1 1 2 , anders Söhngen 7 9 f). Bei 6 5 4 Anhang-Liedern insgesamt sind nur 4 4 als Mehrheitsbestand nachweisbar („Ich freu mich in dem H e r r e n " und „ S c h ö n s t e r H e r r J e s u " in allen Ausgaben). N e b e n dem dominierenden Singgut aus Pietismus und E r w e c k u n g und dem nach wie vor beliebten sog. Geistlichen Volkslied stehen nur wenige Lieder für eine geprägte regionale Frömmigkeitstradition (Blumhardt-, Oetinger- und Bengel-Lieder W ü r t t e m b e r g , L ö h e Bayern, Bergwerkslieder Braunschweig, „In W a s s e r s n ö t e n " Nordelbien). Das E K G W e s t (s. oben N r . 11) enthält neben rd. 5 0 Psalmliedern 11 Lieder aus der Ö k u m e n e mit mehrsprachiger T e x t f a s sung. Keine Ausgabe des EKG erschien ohne Textteil, der sich gliedert in 1. Gottesdienstordnungen, liturgische Gesänge, bei lutherischen Kirchen Gloria pairi-Strophen, Psalmen u.a., Mette, Vesper und Komplet sowie z.T. ausgedrucktem Lektionar(Württ.: Predigttexte); 2. Ordnungen für Hausandacht, Nottaufe, Einzelbeichte, Trauerfeier mit spezifischen Gebeten (Baden: Betpsalter; unierte Kirchen: Passionsandachten, Osterharmonie; Österreich: Bibellesungsplan); 3. ein liturgischer Kalender; 4. Bekenntnistexte; 5. eine knappe Kirchenliedgeschichte sowie Verzeichnisse (Verfasser- und Liedregister). Beachtung verdient die durchweg gediegene Ausstattung des in mehreren Formatgrößen hergestellten EKG seit der künstlerisch überzeugend gestalteten Stammausgabe (Peter-Jessen-Schrift v.Rudolf Koch, Paul-Koch-Notenschrift). Wurden anfangs Alte Schwabacher bzw. Altdeutsche Choralnoten bevorzugt, gingen die Auflagen ab 1970 auf Antiqua über. In vielfacher Hinsicht ist das Evangelische Kirchengesangbuch als einzigartige theologische, hymnologische und geistliche Leistung zu würdigen. „Sein theologisches Profil, seine Auswahl, seine Sprachbehandlung und Melodiezuweisung, seine Ausgewogenheit zwischen den Anforderungen, zugleich dem öffentlich-liturgischen Gottesdienst wie der privaten Erbauung zu dienen, sein Qualitätsanspruch, der Gemeindenähe nicht hinderte, schließlich seine . . . Funktion als Einheitsband der deutschsprachigen Christen werden auch für k o m mende Generationen vorbildlich sein und setzen M a ß s t ä b e für jedes neue G e s a n g b u c h " ( K o r n e m a n n , Das künftige Gesangbuch 5 9 ) . Auch 3 0 J a h r e nach seiner Einführung w ä r e es verfrüht, eine Geschichte der Rezeption
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des EKG schreiben zu wollen. Es erfuhr Kritik wegen seiner vermeintlich antiquierten Sprache, wegen mancher Melodiezuweisung (Mel. 1555 zu „Geh aus, mein Herz"). Gefördert durch den Reformenthusiasmus der sechziger und siebziger Jahre galt das EKG zuweilen geradezu als der Inbegriff des Restaurativen. Das Singen ungezählter neuer Gesänge veranlaßte die Kirchen, Liederhefte mit durchschnittlich 30 bis 100 „neuen" Liedern herauszugeben. Auf Dauer brauchbar sind Geistliche Lieder für unsere Zeit (Westfalen 1973), Gottes Volk geht nicht allein (Hamburg 1975), Anhang '77 (Baden/Pfalz), Neue Lieder (Kirchen in der DDR 1978) und Singe, Christenheit (Hessen 1981). Im gleichen Zeitraum erschien eine Fülle von Liederheften und -büchern aus Einzel-, Gruppen- oder Verbandsinitiative; sie enthalten zumeist die bekanntesten EKGLieder. 1971 erschienen die Christenlieder heute, mit z.T. erheblich revidierten EKG-Fassungen; diese auch mit den freikirchlichen Aktivitäten begonnene Arbeit mündete in die Arbeitsgemeinschaft für ökumenisches Liedgut (AÖL, gegr. 1969), deren Aufgabe es ist, „einen Kanon von Kirchenliedern mit einheitlicher Text- und Melodiefassung für alle christlichen Kirchen im deutschen Sprachraum zu schaffen" (Mahrenholz, Gemeins. Kirchenlieder 169). Als erstes Ergebnis legte die AÖL die Gemeinsame(n) Kirchenlieder. Gesänge der deutschsprachigen Christenheit (GKL) mit 100 Liedern vor, die bei ökumenischen Gottesdiensten und Veranstaltungen gebraucht und in die Gesangbücher der Kirchengemeinschaften aufgenommen werden sollen (Geleitwort, von 14 Kirchen bzw. ihren Bischöfen unterzeichnet). Mit ca. 30 Texten (21 Melodien) ist das 20. Jh. im GKL hervorragend vertreten. Unter Beteiligung aller deutschsprachigen evangelischen Kirchen (außer der Schweiz) ist 1979 die Erarbeitung eines neuen Gesangbuches initiiert worden, dessen Entwurf 1985 vorliegen soll. Das neue Gesangbuchunternehmen wird sich in besonderer Weise um die Kontinuität zum (revisionsbedürftigen) EKG, um eine angemessene Berücksichtigung des Liedgutes seit 1950, um die sprachliche und musikalische Qualität und Authentizität seiner Lieder wie um ökumenische Offenheit bemühen müssen. Im katholischen Bereich erhalten die Bistümer im 19. Jh. durchweg Diözesangesangbücher\ unter den Privatarbeiten ist erwähnenswert H. Bone, Cantate, Mainz 1847. Der Cäcilianismus behinderte die Entwicklung des deutschen Liedgesangs in der Messe, dem erst die Liturgische Bewegung zum Durchbruch verhalf (Harnoncourt 354ff). Nach den sog. Einheitsliedern von 1916 (23) und 1947 (74) erschien 1975 das katholische Gebet- und Gesangbuch Gotteslob, das die 24 meist erst nach Kriegsende eingeführten Diözesangesangbücher ablöste (außer Schweiz). Der Reformwille des II. Vatikanischen Konzils, das den Kirchengesang liturgisch aufwertete (Liturgiekonstitution 112) setzte sich durch. In konzentrischen Kreisen aufgebaut, bringt das Gotteslob in der Mitte Abschnitt III „Das Leben der Gemeinde im Kirchenjahr" ( 1 8 3 - 5 4 4 ) mit dem Herzstück der Feier der Messe. Die Auswahl der Gesänge vom altlat. Hymnus bis zum Lied der Gegenwart beweist Souveränität und ökumenizität der Konzeption: von ca. 280 Liedern sind rd. ein Drittel mit „ ö " gekennzeichnet, in GKL-Fassung übernommen, also ökumenisches Liedgut mit einem beachtlichen Anteil evangelischer Lieder von Luther bis Jochen Klepper (an wenigen Stellen ist die GKLVorgabe verlassen: Vorsatzstrophe zu „Vom Himmel hoch", verkürzte Fassung 1524 von „Aus tiefer Not", Zusatzstrophen von „Nun bitten wir den Heiligen Geist"). Aufgrund seiner Integration des Liedgesangs in die Liturgie, seiner beispielhaften Auswahl und des musikalischen Formenreichtums wie der ökumenischen Ausrichtung ist das Gotteslob ein Markstein der Gesangbuchgeschichte. Auch die —»Freikirchen erneuerten ihr Gesangbuch: die Selbständige Ev.-luth. Kirche gebraucht das EKG in der Ausgabe Uelzen 1956. Das Gesangbuch der ev.-methodistischen Kirche ( 2 1970) kennt 661 mehrstimmig gesetzte Lieder, darunter 30 ältere Erweckungsgesänge („Aus der Väter Tagen"). Die ev.-freikirchlichen Gemeinden benutzen meist die Gemeindelieder (1978 mit 500 Liedsätzen), die Gemeinschaften des Gnadauer Verbandes (—>Gemeinschaftsbewegung) das Gemeinschaftsliederbuch (1948ff, 628 Lieder). Im Ausland sind je nach der Prägung der Gesangbuchtradition des Landes unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen. In Dänemark kehrte das 20. Jh. zu den Melodien des Re-
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ccrur,& me faic voLiturgik beobachtete „unelastische Starrheit des Gottesdienstes nach der Agende" einerseits und die „willkürliche Auflösung der gottesdienstlichen Ordnung" andererseits (Strukturpapier 5) notwendig, den Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe zu begreifen: wie auf ihre Weise die Agende hat das Gesangbuch dafür einen umfassenden sprachlich-musikalischen Zeichenvorrat bereitzustellen. Gottesdienst besteht nicht in der Reproduktion eines vorgegebenen, normativen Liturgieschemas, sondern in der regelgerechten Strukturierung des Gottesdienstgeschehens in seinem jeweiligen situativen Kontext (K.-H. Bieritz), zu der Analysen von gefeierten Gottesdiensten und Anleitungen einer liturgischen Didaktik (Theologenausbildung!) befähigen. Erst eine solche „regelgerechte", d.h. die Situation, Chancen und Hindernisse für Kommunikation, das Beziehungssystem der Stücke und Teile der Liturgie untereinander berücksichtigende Gottesdienstkonzeption ist in der Lage, dem großen Repertoire eines Gesangbuches zu entsprechen: Sie verteilt nicht mechanisch oder nach vorausgenommenem theologischen Verständnis Eingangs-, Haupt-, Predigt- und Schlußlied, sondern fragt nach Erfahrungen mit einem Gesang (Assoziationen, Konnotationen), bedenkt die Wirkung auf die Rezipienten, bemerkt
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die Binnengliederung eines Liedganzen mit vielleicht unterschiedlichen Sprach richtungen, überlegt den Liedeinsatz in einer bestimmten Gottesdienstfeier, fragt nach Sinndeutung einst und jetzt u.a.m. Würde das Gesangbuch im angedeuteten Sinne im Raum der Kirche genützt, geriete das Gemeindelied nicht zum „Pausenzeichen" im Sinn einer Überbrückungsfunktion vor oder nach dem „Auftritt" des den Gottesdienst leitenden Pfarrers - und würde selbst als Gottesdienst derer, die es singen, begriffen. Nur eine entsprechende Singpraxis, verbunden mit einer übergreifenden Sprach- und Zeichentheorie des Gottesdienstes vermag dies zu leisten. Die im Gesangbuch zumeist detailliert abgedruckte liturgische Ordnung vermittelt gewiß Information; entscheidender ist die Praxis des Singens und Feierns, die Atmosphäre eines Gottesdienstes, der in seinem ritualisierten Ablauf z. B. offen sein kann für spontanes Singen — aus dem Gesangbuch. Daß das Gesangbuch auch „Gebrauchsbuch des Christen für den Alltag" (Drömann 167) ist, darf nicht verbales Postulat bleiben; freilich ist das EKG „Kirchengesangbuch" auch dadurch geworden, daß wohlhabende Gemeinden den Gottesdienstbesuchern ein Gesangbuch zur Verfügung stellen und im Bedarfsfall vervielfältigte Liedtexte ausgeben: das Gesangbuch wird, wie die Nummerntafel oder der elektrische Liedanzeiger, zum Kircheninventar (die vorhandene Stückzahl reicht für die durchschnittlich kleine Gottesdienstgemeinde aus). Hinzu kommt das Alter eines Gesangbuches: Naturgemäß werden zeitgenössische Lieder, die es (noch) nicht enthält, attraktiv durch den Reiz des Neuen und den Anschein des leichter Faßlichen gegenüber dem „Traditionsangebot" des Gesangbuchs bevorzugt. Auch bei den sog. —»Kasualien, wenn sie denn eine gottesdienstliche „Gelegenheit" (M. Seitz, Praxis des Glaubens, 1978, 42 ff) — und nicht nur dies — sind, kann der Reichtum des Gesangbuchs ungleich stärker genutzt werden, als dies gegenwärtig der Fall ist. Seit den Katechismusliedern der reformatorischen Frühzeit gehört das Gesangbuch zu den wichtigsten Instrumenten der Unterrichtsmittel im christlichen Glauben. „Es war pädagogischer Scharfblick der Kirchenlieddichter, daß sie in der Zusammenarbeit von Prediger und Kantor, die ,Lehre', den Katechismus, das Evangelium und die Hauptstücke des christlichen Glaubens samt den Festen und Themen des Kirchenjahrs,singbar' machten und so den Schatz religiöser Erfahrung und Gemeinschaft, bewahrend und vermehrend, der Kirche und ihren künftigen Generationen ,spielend' weiterreichten. Die Gesangbücher, die ja zugleich Gebetbücher waren, wurden zur gesungenen Bibel" (Mezger 99). In welchem Maß hörende Aneignung durch das Mitsingen von -»Choral, —»Kirchenlied und —»Liturgie zu jeder Zeit Kindern und Heranwachsenden christliches Glaubensgut prägend vermittelt hat, läßt sich in einer regelmäßiger Frömmigkeitsübung entwöhnten Kirche auch von der religionspädagogischen Wissenschaft nur schwer ermessen. Bald trat zum althergebrachten Katechismusunterricht in der Volkskirche des 19. Jh. das Lernen des evangelischen Kernliederbestandes: „Wenn im Ganzen 80 bis 100 Lieder tüchtig und fertiggelernt werden, so muß man sehr zufrieden sein", sagt Chr. Palmer (Ev. Katechetik 6 1875, 103); über die Konzeptionen bis zur Evangelischen Unterweisung informieren Eger RGG 2 II,1095ff und Jannasch ebd. 3 II, 1471 ff. Die Evangelische Unterweisung bemühte sich um einen zahlenmäßig geringeren Liedkanon (I. Peters: H. Kittel, Vom Religionsunterricht zur Ev. Unterweisung, 1949), nach Einführung des EKG noch stärker am Kirchenjahr orientiert (W. Uhsadel, Ev. Erziehungs- und Unterrichtslehre, 2 1961, 84 führt 25 Lieder auf). Bis in die sechziger Jahre dominierte der an Bibel, Katechismus, Gesangbuch „stofforientierte" Kirchliche Unterricht; ein Handbuch der Lehr- und Arbeitsmittel (hg. v . M . Berg, Berlin 1968) listet alle seinerzeit eingeführten Gesang- und Liederbuchausgaben auf (42ff). G. Otto bezieht das Gesangbuchlied in die unterrichtliche Erarbeitung biblischer Erzählzusammenhänge methodisch ein (Hb. des Religionsunterrichts, Hamburg 1964). Die Veränderung im Gesangbuchgebrauch wird am Lehrplan für den Kirchlichen Unterricht sichtbar: Machte Westfalen 1963 noch maximal 26 Lieder zur Pflicht, versieht der 1982 herausgegebene Lehrplanentwurf seine thematischen Abschnitte mit dem Hinweis auf Gesangbuchund Gegenwartslieder zur Auswahl. Insgesamt wird man sagen dürfen, daß sich im Unter-
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richtsbereich d e r S c h w e r p u n k t v o m Lernen (und Singen!) auf das gelegentliche Kennenlern e n zeitgenössischer Lieder verlagert h a t , m i t b e d i n g t d u r c h die mittlerweile u n ü b e r s e h b a r e Z a h l v o n Liederbüchern bes. f ü r die J u g e n d . I m m e r h i n spricht die heutige Religionspädagogik w i e d e r von einem „Lernen im G e b r a u c h , mit Z u g ä n g e n ü b e r I n t e r a k t i o n u n d Diskussion, Sinnerschließung in M e d i t a t i o n , A n d a c h t u n d G o t t e s d i e n s t " (CID II, 108). Für den praktischen U m g a n g mit d e m G e s a n g b u c h in G o t t e s d i e n s t , Predigt, Unterricht, G e m e i n d e a u f b a u sei neben den k i r c h e n m u s i k a l i s c h e n Zeitschriften ( M u K , D e r Kirchenmusiker, D e r Kirchenchor, JLH) auf d a s (noch nicht abgeschlossene) H a n d b u c h z u m EKG hingewiesen. Literatur Julius Beckmann, Einklang von Bibel u. Gesangbuch, Essen 1937. - Bibel u. Kirchenlied. Eine Konkordanz, hg. Helmut Krause/Wolfgang Erk, Göttingen 1974 3 1979. - Otto Brodde, Musikalische Liturgik, Berlin 1968/80. - Die Ev. Kirchenmusik. Hb. für Studium u. Praxis, hg. Erich Valentin/Friedrich Hofmann, Regensburg 1967 (Lit.). - Ev. Pastorale, Gütersloh 1981. - Hans Graß, Heute mit dem Gesangbuch beten, Gütersloh 1980. - HEKG, hg. v. Christhard Mahrenholz/Oskar Söhngen unter Mitarb. v. Otto Schlißke, Göttingen I / l - I I I / l 1 9 5 3 - 1 9 7 0 . - Handreichung für den seelsorgerlichen Dienst. Sonderbd. der Agende für ev.-luth. Kirchen u. Gemeinden, Berlin 1958 2 1966.-Jürgen Henkys, Das Kirchenlied in seiner Zeit, Berlin 1980. - Christhard Mahrenholz, Kompendium der Liturgik des Hauptgottesdienstes, Kassel 1963 (Lit.). - Manfred Mezger, Musik als Ausdruck rel. Erfahrung u. Gemeinschaft: Hb. der Prakt. Theol. 2 (1981) 9 6 - 1 0 6 (Lit.). - Friedrich Niebergall, Das Gesangbuch als kirchl. Bekenntnis, 1931 (SGV 152). - Friedrich Schöneich, Uber das ev. Gesangbuch im Unterricht: EvErz 16 (1964) 114-116. - Versammelte Gemeinde. Zur Reform des Gottesdienstes u. der Agende. Struktur u. Elemente des Gottesdienstes (sog. Strukturpapier), vorgelegt v. der Luth. Liturg. Konferenz 1974. Alexander Völker Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie I. Religionsgeschichtlich II. Altes T e s t a m e n t III. J u d e n t u m IV. N e u e s T e s t a m e n t V. D a s frühchristliche Geschichtsverständnis VI. V o n Augustin bis zum H u m a n i s m u s VII. R e f o r m a t i o n s - u n d Neuzeit VII/1.16.-18.Jahrhundert VII/2.19.-20.Jahrhundert VIII. Systematisch-theologisch IX. Praktisch-Theologisch X. Geschichtsphilosophie
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I. Religionsgeschichtlich 1. Das Geschichtsbild der Religionen 2. Periodisierungen der Geschichte keit der Religionen 4. Religionen als Geschichtsmächte (Literatur S. 569) 1. Das Geschichtsbild
der
3. Die Geschichtlich-
Religionen
1.1. Die in ihren Ursprüngen d u r c h w e g religiös b e s t i m m t e n Geschichtsvorstellungen w e r d e n h ä u f i g auf zwei unterschiedliche S c h e m a t a z u r ü c k g e f ü h r t , die mit d e m Bild des Kreises u n d d e m der Geraden verdeutlicht w e r d e n : auf die kreisförmige E n t w i c k l u n g einerseits und andererseits den geradlinigen, irreversiblen u n d teleologischen Geschichtsverlauf (Leisegang 3 5 5 - 4 4 2 ) . O b w o h l es sich in beiden Fällen u m wesentliche u n d o f t beherrschend h e r v o r t r e t e n d e Geschichtsbilder h a n d e l t , so b e d ü r f e n sie doch aus religionsgeschichtlicher Sicht der E r g ä n z u n g . Einmal ist nicht zu übersehen, d a ß es Religionen gibt, denen der Begriff der Zeit im
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richtsbereich d e r S c h w e r p u n k t v o m Lernen (und Singen!) auf das gelegentliche Kennenlern e n zeitgenössischer Lieder verlagert h a t , m i t b e d i n g t d u r c h die mittlerweile u n ü b e r s e h b a r e Z a h l v o n Liederbüchern bes. f ü r die J u g e n d . I m m e r h i n spricht die heutige Religionspädagogik w i e d e r von einem „Lernen im G e b r a u c h , mit Z u g ä n g e n ü b e r I n t e r a k t i o n u n d Diskussion, Sinnerschließung in M e d i t a t i o n , A n d a c h t u n d G o t t e s d i e n s t " (CID II, 108). Für den praktischen U m g a n g mit d e m G e s a n g b u c h in G o t t e s d i e n s t , Predigt, Unterricht, G e m e i n d e a u f b a u sei neben den k i r c h e n m u s i k a l i s c h e n Zeitschriften ( M u K , D e r Kirchenmusiker, D e r Kirchenchor, JLH) auf d a s (noch nicht abgeschlossene) H a n d b u c h z u m EKG hingewiesen. Literatur Julius Beckmann, Einklang von Bibel u. Gesangbuch, Essen 1937. - Bibel u. Kirchenlied. Eine Konkordanz, hg. Helmut Krause/Wolfgang Erk, Göttingen 1974 3 1979. - Otto Brodde, Musikalische Liturgik, Berlin 1968/80. - Die Ev. Kirchenmusik. Hb. für Studium u. Praxis, hg. Erich Valentin/Friedrich Hofmann, Regensburg 1967 (Lit.). - Ev. Pastorale, Gütersloh 1981. - Hans Graß, Heute mit dem Gesangbuch beten, Gütersloh 1980. - HEKG, hg. v. Christhard Mahrenholz/Oskar Söhngen unter Mitarb. v. Otto Schlißke, Göttingen I / l - I I I / l 1 9 5 3 - 1 9 7 0 . - Handreichung für den seelsorgerlichen Dienst. Sonderbd. der Agende für ev.-luth. Kirchen u. Gemeinden, Berlin 1958 2 1966.-Jürgen Henkys, Das Kirchenlied in seiner Zeit, Berlin 1980. - Christhard Mahrenholz, Kompendium der Liturgik des Hauptgottesdienstes, Kassel 1963 (Lit.). - Manfred Mezger, Musik als Ausdruck rel. Erfahrung u. Gemeinschaft: Hb. der Prakt. Theol. 2 (1981) 9 6 - 1 0 6 (Lit.). - Friedrich Niebergall, Das Gesangbuch als kirchl. Bekenntnis, 1931 (SGV 152). - Friedrich Schöneich, Uber das ev. Gesangbuch im Unterricht: EvErz 16 (1964) 114-116. - Versammelte Gemeinde. Zur Reform des Gottesdienstes u. der Agende. Struktur u. Elemente des Gottesdienstes (sog. Strukturpapier), vorgelegt v. der Luth. Liturg. Konferenz 1974. Alexander Völker Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie I. Religionsgeschichtlich II. Altes T e s t a m e n t III. J u d e n t u m IV. N e u e s T e s t a m e n t V. D a s frühchristliche Geschichtsverständnis VI. V o n Augustin bis zum H u m a n i s m u s VII. R e f o r m a t i o n s - u n d Neuzeit VII/1.16.-18.Jahrhundert VII/2.19.-20.Jahrhundert VIII. Systematisch-theologisch IX. Praktisch-Theologisch X. Geschichtsphilosophie
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I. Religionsgeschichtlich 1. Das Geschichtsbild der Religionen 2. Periodisierungen der Geschichte keit der Religionen 4. Religionen als Geschichtsmächte (Literatur S. 569) 1. Das Geschichtsbild
der
3. Die Geschichtlich-
Religionen
1.1. Die in ihren Ursprüngen d u r c h w e g religiös b e s t i m m t e n Geschichtsvorstellungen w e r d e n h ä u f i g auf zwei unterschiedliche S c h e m a t a z u r ü c k g e f ü h r t , die mit d e m Bild des Kreises u n d d e m der Geraden verdeutlicht w e r d e n : auf die kreisförmige E n t w i c k l u n g einerseits und andererseits den geradlinigen, irreversiblen u n d teleologischen Geschichtsverlauf (Leisegang 3 5 5 - 4 4 2 ) . O b w o h l es sich in beiden Fällen u m wesentliche u n d o f t beherrschend h e r v o r t r e t e n d e Geschichtsbilder h a n d e l t , so b e d ü r f e n sie doch aus religionsgeschichtlicher Sicht der E r g ä n z u n g . Einmal ist nicht zu übersehen, d a ß es Religionen gibt, denen der Begriff der Zeit im
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie I
abendländischen Sinne fehlt und die daher überhaupt kein Geschichtsbild entwickelt haben. Z u m anderen ist von dieser ahistorischen Einstellung ebenso wie von den kreisförmigen und geradlinigen Geschichtsbildern eine im Ideal statische Geschichtsschau zu sondern, die man auch als universistisch oder als mythisch bezeichnet hat. Übergänge und Mischformen, die sich außerdem zwischen den einzelnen Typen feststellen lassen, tragen zur Vielfalt religiöser Geschichtsbilder bei. 1.2. Für das Verständnis einer ahistorischen schow (65) wesentlich:
Existenzweise
sind Ausführungen von Rat-
„ D e r vor- u n d außergeschichtliche M e n s c h k e n n t keine Zeit. Er k e n n t aber das vielfältige Wesen von Sonnen, M o n d e n u n d Sternen, wie sie kreisen im Laufe der Gezeiten. Und mit diesen Kreisen kreist sein w a h r e s Leben, vollzieht sich der Ritus in B e w a h r u n g und Darstellung der Einheit der Welt. Die Gezeiten sind die Erfassung der für das Leben entscheidenden astralen Vorgänge, und diese Gezeiten sind die R h y t h m e n des w a h r e n Lebens, das wie sie pulsiert, das sich selbst in ihnen und aus ihnen versteht. Vor diesen Gezeiten g a b es keinen A n f a n g u n d nach diesen Gezeiten kein Ende."
Es ist deutlich, daß hier alles Geschehen von der —> N a t u r umschlossen und in sie eingebettet bleibt. Die religiösen —»Feste des ahistorischen Menschen sind daher durchweg Naturfeste. In bäuerlichen Kulturen sind sie mit Aussaat und Ernte verbunden, in nomadischen mit den jährlichen Erstlingen der Herde. Typisch für ein völlig ahistorisches Weltbild ist die —»Eskimo-Religion. Sie kennt weder einen Anfang noch ein Ende dieser Erde, und das Leben auf ihr vollzieht sich seit je und für immer in stets gleicher Weise. trifft sich mit der ahistorischen Existenz1.3. Die im Ideal statische Geschichtsschau weise darin, daß sie eine Harmonie von —»Makrokosmos und Mikrokosmos annimmt und an der Unveränderlichkeit irdischen Geschehens festhält. Doch beruht dies nunmehr auf der ganz spezifischen Sicht einer mythischen Zeit, die nicht abgebrochen, sondern in ihrem normativen und unwandelbaren Charakter von den Menschen fortgesetzt wird. In typischer Weise bringt dies der Turiner Königspapyrus zum Ausdruck, nach dem der ägyptische Herrscher als eine Erscheinungsform des Falkengottes Horus die Reihe der am Anfang der ägyptischen Geschichte als Herrscher stehenden Götter unmittelbar fortsetzt. Eine rupture de niveau zwischen mythischer und menschlicher Sphäre (Bianchi 94) fehlt dieser Sichtweise. Der Sakralkönig (—»Königtum) gilt als Realisator des Grundaxioms dieser statischen Weltansicht, eines numinosen Ordnungsbegriffes (Landsberger), der den kosmischen, ethischen und rituellen Bereich umgreift und für Götter und Menschen unabänderliche Gültigkeit besitzt. Derartige, für eine Anzahl archaischer Kulturen charakteristische Ordnungsbegriffe sind die ägyptische maat, das me der Sumerer, das indischerta und das chinesische tao. Mit dem Erwachen des historischen Bewußtseins entfällt der numinose Ordnungsbegriff, oder er wird, gelegentlich als Gottheit personifiziert, auf einen seiner Teilaspekte, z. B. den der Ethik, eingeschränkt. 1.4. Das Erwachen des historischen Bewußtseins wird durch umwälzende geschichtliche Ereignisse hervorgerufen. Als in —»Ägypten der Staat des Alten Reiches, der ganz auf dem Glauben an die Unwandelbarkeit irdischer Ordnungen beruhte, in einer Katastrophe großen Ausmaßes zusammenbrach, äußerte Ipu, ein leidenschaftlicher Vertreter der alten Tradition, die für ihn tragische Einsicht in die Irrealität einer rein statischen Schau mit den Worten (Gardiner 53): „Sehet, Dinge sind getan worden, die sich seit den fernsten Zeiten nicht zugetragen haben." — Und in einem späteren Text, den Klagen des Chacheperreseneb, heißt es (Erman 150): „Ich denke nach über das, was geschieht, über die Dinge, die das Land durchziehen —: Verwandlung tritt ein; es ist nicht mehr wie im vorigen Jahre." 1.5. Für die kreisförmige Entwicklung, einen zyklischen Wandel, der sich in stets neuer Wiederholung vollzieht, ist das indische Geschichtsdenken typisch (-»Indien). Es rechnet mit vier Weltzeitaltern, die mit absteigender Skala 4 8 0 0 , 3 6 0 0 , 2 4 0 0 und 1200 Jahre andauern. Wie ihre zeitliche Länge, so sinkt auch ihre moralische Qualität. Aber am Ende steht
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nicht das Eschaton, der Untergang dieser Welt. Vielmehr wiederholt sich das gleiche Geschehen, und dies ereignet sich in unendlicher Folge. 1.6. Eine irreversible Geschichtsschau, die den einmaligen Ablauf irdischen Geschehens zwischen Schöpfung und Weltende beinhaltet, ist charakteristisch für die großen Offenbarungsreligionen. Zarathustra ist wohl der erste gewesen, der das Telos dieses Geschichtsablaufs als Gericht und paradiesische „ W u n d e r b a r m a c h u n g " (frashökereti) verkündete. Die Geschichtsbilder des späteren —»Judentums, des —»Christentums und des -»Islam entsprechen dieser Sicht. 2. Periodisierungen
der
Geschichte
2.1. Die Aufgliederung der Geschichte in einzelne Perioden oder Weltzeitalter findet sich sowohl innerhalb kreisförmiger als auch teleologischer Geschichtsbilder. Dabei kehrt das in Indien vorliegende Viererschema mehrfach wieder, und zwar charakteristischerweise jeweils mit sukzessive zunehmender Verschlechterung irdischer Zustände. Es ist der Gedanke vom mundus senescens, der sich am menschlichen Altern und am entsprechenden Naturgeschehen orientiert. So kennt Ovid (metam. 1,89—150) vier sich jeweils verschlechternde Weltzeiten, die er mit Gold, Silber, Erz und Eisen vergleicht. Schon vor ihm hatte Hesiod ( 1 0 9 - 2 0 1 ) das Viererschema benutzt, jedoch ganz in die Vergangenheit verlegt und ihm die gegenwärtige fünfte Periode moralischer Verkommenheit angeschlossen. Ähnlich dachten die Azteken des alten —»Mexiko. Nach ihrer Weltalterlehre waren der bestehenden Periode vier frühere, jeweils durch Katastrophen beendete vorausgegangen. 2.2. Diedisciplina Etrusca (—»Etruskische Religion), die vom Religiösen her das gesamte Leben der Etrusker ordnete, vertrat eine eindeutig pessimistische Zeitvorstellung. Ihr Geschichtsverständnis rechnete mit einem determinierten Abstieg, der sich periodisch innerhalb von zehn Saecula vollziehen sollte. Die Dauer eines Saeculums sollte der höchsten Lebenserwartung eines Menschen entsprechen. Da damit aber keine bestimmte, auf Dauer gültige Zahl gegeben war, würden die Götter durch Zeichen das Ende eines Saeculums bekanntmachen. Als solche Zeichen sind das Erscheinen eines Kometen, eine große Seuche sowie die Wahrnehmung eines scharfen, klagenden Trompetentons überliefert. 2.3. Der Periodisierung mit absteigender Tendenz stehen positive Aspekte innerhalb eines teleologischen Weltbildes gegenüber. Beim Propheten —»Daniel (Dan 2,44) mündet die Schau der vier verschiedenen Weltreiche in die Sicht eines Königreiches, das Gott vom Himmel her aufrichten wird (s. u. Abschn. II.7). Unter den Geschichtstheologien der Spätantike und des Mittelalters hat diejenige des kalabriensischen Abtes —»Joachim von Fiore die stärkste Wirkung ausgeübt (s.u. Abschn. VI.3); auch das Dreierschema, mit dem er das historische Geschehen ordnete, hat die Geistesgeschichte nachhaltig beeinflußt. 2.4. Mit der Idee einer historischen Entwicklung im Sinne des sukzessiven Aufstiegs ist der Gedanke einer fortdauernden Offenbarung eng verbunden (Söderblom 3 3 8 - 3 7 2 ) . Er wird gegenwärtig durch eine große Anzahl religiöser Neustiftungen aktualisiert, die eine bis zu ihnen fortgeschrittene Offenbarung behaupten. So anerkennen die —»Mormonen, obwohl sie sich als christliche Kirche verstehen, die -»Bibel nicht als abgeschlossene Offenbarungsurkunde; die Tenrikyö, eine der bedeutendsten neuen Religionen —»Japans, rechnet mit einer zu ihr führenden sukzessiven Offenbarung; der vietnamesische —»Caodaismus sieht in sich die abschließende Synthese der großen Weltreligionen. Andere —»Neue Religionen rechtfertigen die eigene Existenz mit entsprechenden Ansichten. 2.5. Der historische Hintergrund, auf dem derartige Anschauungen aufbauen, kann gelegentlich Geschichtsfälschungen enthalten. So wird das vornehmste Anliegen des Buches Morrnon, eine Bibel für Amerika zu bieten, mit einem ganz auf diesen Kontinent zentrierten und der historischen Forschung nicht standhaltenden Geschichtsbild vertreten, in das ein Bericht über die angebliche Erscheinung des auferstandenen Christus in Amerika eingebaut ist. 2.6. Unabhängig von den religionsinternen Periodisierungen der Geschichte erhebt sich
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie I
die religionswissenschaftliche Frage, o b Perioden verstärkter religiöser Aktivität festzustellen seien. Das P r o b l e m ist d u r c h den v o n K. —»Jaspers e i n g e f ü h r t e n Begriff der „Achsenzeit" aktualisiert w o r d e n (19 ff). D a r u n t e r soll die E p o c h e zwischen 8 0 0 u n d 2 5 0 v. Chr. mit dem in ihr liegenden A u f t r e t e n g r o ß e r Religiöser in C h i n a , Indien, Iran, Israel und Griechenland v e r s t a n d e n w e r d e n - des K o n f u z i u s u n d Lao-tse, B u d d h a s , Z a r a t h u s t r a s , israelitischer Prop h e t e n u n d griechischer Religionsdenker. Die B e o b a c h t u n g des religionsgeschichtlichen Gewichtes jener E p o c h e geht allerdings nicht auf Jaspers, s o n d e r n bereits auf N . —>Söderb l o m z u r ü c k , der zugleich mit d e m folgenden Verweis auf eine zweite Zeitparallele die tatsächliche Feststellbarkeit derartiger E p o c h e n unterstrich (223): „Als ein zweites Beispiel möchten wir das Jahrhundert des hl. Franz von Assissi, des grossen Thomas, der gotischen Kathedralen, Dantes, Meister Eckhaits und der deutschen Mystik anführen, während es gleichzeitig das goldene Zeitalter der süfischen mystischen Poesie war. In Indien trat etwas früher Rämänuja auf, der Verkünder der Gottesliebe und Glaubensgerechtigkeit. In Japan lebten damals Shinran, der unermüdliche Prediger von der gesegneten Macht des heiligen Gelübdes und der Barmherzigkeit des Amida-Gottes, und die mächtigste religiöse Persönlichkeit des japanischen Volkes, der strenge Erwecker und Mahner Nichiren." 3. Die Geschichtlichkeit
der
Religionen
3.1. U n b e s c h a d e t ihrer jeweiligen individuellen Sondergestaltung sind alle Religionen als geschichtliche G r ö ß e n b e s t i m m t e n Wandlungsformen u n t e r w o r f e n , die im historischen Prozeß ihres A u f k o m m e n s , ihrer A u s b r e i t u n g u n d eventuell ihres Unterganges auftreten. Keine Religion, deren U r s p r ü n g e w i r historisch erreichen k ö n n e n , e n t s t a n d aus d e m Nichts, u n d ihr A u f t r e t e n erfolgte in k e i n e m religiösen V a k u u m . Aber sie t r a t ihrer religiösen V o r u n d U m w e l t mit der V e r k ü n d i g u n g n e u e r W e r t e entgegen. Diese bilden das Prinzip der Auslese des Ü b e r k o m m e n e n , u n d sie b e s t i m m e n dessen A b w e h r , Ü b e r n a h m e oder M o d i f i k a tion. 3.2. Bei gestifteten Religionen h a t d e r zeitliche Ü b e r g a n g vom Stifter zum Kreis der Jünger sachliche Bedeutung. Er ist mit einer r ä u m l i c h e n A u s d e h n u n g der neuen Religion verb u n d e n , die bereits eine T r e n n u n g v o m M u t t e r b o d e n mit sich bringen k a n n . Aus dieser missionarischen E n t f a l t u n g ergeben sich Ansätze zur Kristallisation (Frick 40), zur A u f n a h m e u n d inhaltlichen A n e i g n u n g f r e m d e n Religionsgutes. 3.3. Im Stadium der Stabilisierung folgt auf eine anfänglich o f t ablehnende H a l t u n g geg e n ü b e r v o r g e f u n d e n e n Kulturen eine allmähliche A n e i g n u n g . A u ß e r d e m gewinnt die n e u e Religion feste o r g a n i s a t o r i s c h e F o r m e n , die in der Bildung einer Kirche oder eines O r d e n s bestehen k ö n n e n . D a m i t e n t s t e h t die A u f g a b e einer K l ä r u n g des Verhältnisses zum —»Staat. Sie k a n n , wie dies im f r ü h e n Islam geschah, d u r c h eine Identifikation der religiösen mit der staatlichen G e m e i n s c h a f t erfolgen. I n d i f f e r e n t o d e r a b l e h n e n d stehen dem Staat weltvernein e n d e Religionen wie der U r b u d d h i s m u s g e g e n ü b e r sowie eschatologische Bewegungen, die einen baldigen A n b r u c h der Endzeit e r w a r t e n . In die Stellung der Staatsfeindlichkeit w i r d eine Religion auch d a n n verwiesen, w e n n d e r Staat auf einer f ü r sie u n a n n e h m b a r e n Sakralisierung b e r u h t . 3.4. Als letztes S t a d i u m ihrer geschichtlichen Existenz h a t eine beträchtliche Anzahl v o n Religionen den eigenen Untergang e r f a h r e n . Die auslösenden M o t i v e h i e r f ü r k ö n n e n , abgesehen von der A n e r k e n n u n g der religiösen H ö h e r w e r t i g k e i t einer missionierenden Religion, in Verfallserscheinungen u n d eigener E n t a r t u n g bestehen, ferner in einseitiger Bindung an innerweltliche F a k t o r e n , die sich in d e r Identifikation mit politischen u n d wirtschaftlichen Zielen ä u ß e r t . F r e m d e G e w a l t h a t m e h r f a c h eine entscheidende Rolle gespielt. 4. Religionen
als
Geschichtsmächte
4.1. „ J e d e K u l t u r h a t insofern eine religiöse Basis: sie m u ß d a u e r n d aus der Quelle letzter W e r t ü b e r z e u g u n g e n s c h ö p f e n k ö n n e n , o d e r sie v e r f ä l l t . " Dieser Satz E d u a r d Sprangers (LVI), der, bei allen Unterschieden im einzelnen, mit den Einsichten der bekanntesten Kult u r h i s t o r i k e r unserer Zeit, mit d e n j e n i g e n v o n O s w a l d Spengler u n d Arnold Toynbee, ü b e r -
Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II
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e i n s t i m m t , kennzeichnet die Geschichtsmächtigkeit der Religionen in u m f a s s e n d e r u n d ausreichender Weise. D a es die A u f g a b e einer Universalgeschichte ist, diesen Satz im einzelnen zu verifizieren, müssen hier einige H i n w e i s e auf Staat u n d Gesellschaft genügen. 4.2. Ah staatsbildende G r ö ß e h a t sich der —»Islam bereits bei der B e g r ü n d u n g des Kalifenreiches erwiesen u n d in neuester Zeit bei der G r ü n d u n g Saudi-Arabiens als islamischer M o n a r c h i e sowie Pakistans als einer religiös-politischen G e m e i n s c h a f t der M u s l i m e Indiens. Für die staatserhaltende K r a f t der Religion ist der K o n f u z i a n i s m u s typisch, der d e m chinesischen Reich d u r c h J a h r t a u s e n d e seine staatliche S t r u k t u r u n d seinen Bestand sicherte (—»China, —»Chinesische Religionen). Dit revolutionäre M a c h t der Religion zeigt sich h e u t e n i r g e n d w o deutlicher als im Iran. Gesellschaftsformende W i r k u n g e n w a r e n d e m —»Buddhismus u n d d e m —»Manichäismus in h o h e m G r a d e eigen. D a beiden Religionen die monastische Existenz als Heilsweg eingestiftet w a r , f ü h r t e dies z u r sozialen A u f g l i e d e r u n g ihrer A n h ä n g e r in M ö n c h e u n d Laien. F ü r den religiös bedingten Verlust staatlicher Eigenständigkeit ist das etruskische Beispiel signifikant. Der Geschichtspessimismus ihrer Lehre, der disciplina Etrusca, die für den A b s c h l u ß des zehnten Saeculums „ d a s E n d e des etruskischen N a m e n s " v o r a u s s a h , bewirkte, d a ß die E t r u s k e r ihre politische E n t m a c h t u n g d u r c h R o m h i n n a h m e n u n d im 2. Punischen Krieg die Gelegenheit z u m A u f s t a n d mit K a r t h a g o v e r s ä u m t e n , als H a n n i b a l d u r c h die etruskischen K e r n l a n d e zog u n d 2 1 7 v . C h r . die R ö m e r a m Trasimenischen See besiegte. Literatur Bertil Albrektson, History and the Gods, Lund 1967. - Theodorus-Petrus van Baaren, Menschen wie wir. Religion u. Kult der schriftlosen Völker, Gütersloh 1964. - Ugo Bianchi, Probleme der Religionsgesch., Göttingen 1964. - Claas Jouco Bleeker, De Beteekenis van de Egyptische Godin Ma-a-t, Leiden 1929. - Samuel George Frederick Brandon, History, Time and Deity, Manchester 1965. - James Henry Breasted, The Dawn of Conscience, New York/London 1933; dt.: Die Geburt des Gewissens, Zürich 1950. - Mircea Eliade, Le mythe de l'éternel retour, Paris 1949; dt.: Der Mythus der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953. - Adolf Erman, Die Literatur der Ägypter, Leipzig 1923. - Giulio Farina, II papiro dei Re ristaurato, Rom 1938. - Henri Frankfort, Kingship and the Gods, Chicago 1948. — Ders./John A. Wilson/Thorkild Jacobsen, The Intellectual Adventure of Ancient Man, Chicago 1946; dt.: Frühlicht des Geistes, Stuttgart 1954. — Heinrich Frick, Vergleichende Religionswiss., Berlin/Leipzig 1928. - Cyril John Gadd, Ideas of Divine Rule in the Ancient East, London 1948. —Alan H. Gardiner, The Admonitions of an Egyptian Sage, Leipzig 1909. - Johann Jakob Maria de Groot, Universismus, Berlin 1918. - Karl Jaspers, Vom Ursprung u. Ziel der Gesch., München 1949. - Günter Lanczkowski, Begegnung u. Wandel der Religionen, Düsseldorf 1971. - Benno Landsberger, Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt: Islamica 2 (1926) 3 5 5 - 3 7 2 . - H a n s Leisegang, Denkformen, Berlin 1928 2 1951. - Peter Meinhold, Die Anfänge des amerikanischen Geschichtsbewußtseins: Saec. 5 (1954) 6 5 - 8 6 . - Alexandre Moret, Du caractère religieux de la royauté pharaonique, Paris 1902. Karl Oberhuber, Der numinose Begriff ME im Sumerischen, Innsbruck 1963. - Bror Olsson, Mundus senescens: Lychnos 1954/55, 6 6 - 8 1 . - Cari Heinz Ratschow, Magie u. Religion, Gütersloh 1955. Roderich Schmidt, Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Gesch.: ZKG 67 (1955/56) 2 8 8 - 3 1 7 . - Nathan Söderblom, Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgesch., München 1942 2 Î966. - Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 19 1 7 3 3 " 4 7 1922, Nachdruck 1963. - Eduard Spranger, Die Kulturzyklentheorie u. das Problem des Kulturverfalls: SPAW.PH 1926, X X X V - LIX. - Ernst Steinbach, Mythos u. Gesch., 1951 (SGV 194). - Arnold Toynbee, An Historian's Approach to Religion, London 1956. - Ders., Christianity among the Religions of the World, London 1958. - Geo Widengren, Die Religionen Irans, Stuttgart 1965. Günter Lanczkowski
II. Altes T e s t a m e n t 1. Altorientalisch-hellenistisches Geschichtsverständnis 2. Israelitische „Heilsgeschichte" als stiftende Urzeit 3. Geschichtsschreibung am Hof 4. Propheten 5. Deuteronomistisches Geschichtswerk 6. Chronistisches Geschichtswerk, Nehemia, Esther 7. Apokalyptik 8. Von den Makkabäerbüchern bis Josephus (Literatur S. 584)
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II 1. Altorientalisch-hellenistisches
Geschichtsverständnis
1.1. Allgemeines. Für den deutschen Begriff Geschichte bieten die Sprachen des Altertums keine Entsprechung; die einschlägigen Konzeptionen werden durch Ausdrücke wiedergegeben, die gemeinhin mit Zeit, Schicksal, Weg, Wort u.a. übersetzt werden. Dem Alten Orient fehlt zudem das Bewußtsein einer durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dreigeteilten Zeit. Nichtsdestoweniger beginnen Menschen in diesen Hochkulturen relativ früh, sich geschichtlich zu verstehen. Begreift man unter Geschichte einen unumkehrbaren Prozeß, welcher, nach typischen Regeln verlaufend, für menschliches Leben bedeutsam erscheint, so bildet sich eine entsprechende Auffassung in altorientalischen Kulturen allmählich und mit unterschiedlicher Intensität aus. Entgegen einem verbreiteten Klischee vom angeblich „zyklischen" Zeitverständnis des Alten Orients wird in Mesopotamien und (später) in Ägypten wie im vorexilischen Israel eine stiftende Urzeit vorausgesetzt (hebr. qx.dx.rn, risonöt), in der die tragenden Ordnungen nacheinander entstanden sind; sie wird von einer qualitativ anderen „Jetztzeit" unterschieden, in der grundlegende Setzungen nicht mehr stattfinden und der Verkehr der Menschen mit numinosen Mächten distanzierter vor sich geht, in der aber urzeitliche Ereignisse rituell reaktiviert werden können. Von der bei Naturvölkern verbreiteten Urzeitauffassung des —»Mythos heben sich Dokumente wie die sumerischen und ägyptischen Königslisten dadurch ab, daß sie die mythische Anfangsepoche chronologisch mit der Gegenwart verbinden; dadurch entsteht „Historiogenesis", welche „die Ereignisse unerbittlich auf die Linie der unumkehrbaren Zeit" setzt (Voegelin, Anamnesis 79—83). Mythologie wird historisiert; zugleich Geschichte mythologisiert, da sie jederzeit Interventionen von Göttern oder Wirkungsgrößen (wie Nemesis oder Tyche) zu gewärtigen hat. Sobald das Gesamtgeschehen als planvoller „Weg" von Gottheiten mittels menschlicher Akteure gedeutet wird, bilden sich im Zweistromland und Israel Theorien einer Metahistorie aus, welche die sichtbare politisch-militärische Geschehenskette nur als vordergründigen Aspekt einer umfassenden göttlich-menschlichen Übergeschichte wertet. Ein kritischer Begriff von Faktizität ist unbekannt. Als Träger der geschichtlichen Bewegung gilt das sakrale —»Königtum. Die griechische Geschichtsschreibung hingegen verzichtet auf Historiogenesis, setzt als Urzeit die &QXV einer cpvou; mit ewigen Ordnungen und beschränkt sich auf Darstellung der Zeitgeschichte mit Geschehnissen, die zyklisch wiederkehren sollen. 1.2. -»Ägypten. Im ägyptischen Denken spielt die Wiederholung (u/hm) der Zeit eine große Rolle. Wie mit jedem Sonnenaufgang sich die urzeitliche Weltentstehung erneuert, so auch mit der Thronbesteigung eines Königs; nachdem durch den Tod des Vorgängers todbringende Unordnung (isefet) eingetreten war, werden jetzt wie einst unter dem Gott Horus die beiden Länder wieder vereinigt und heilvolle Ordnung (maat) hergestellt. Regierungstaten bis hin zur Kriegsführung gelten als rituelle Dramen, in denen „Geschichte als Fest" (Hornung) begangen wird (z. B. Ramses II.: ANET 255 f); Baudenkmäler und Feldzugsberichte früherer Herrscher werden deshalb unbedenklich kopiert und für eigene Leistung ausgegeben. Doch geschieht Wiederholung der Urzeit nicht naturhaft zwangsläufig, sondern mit wechselnden Intervallen, bei denen der Neubeginn lange ausbleiben kann, wie es die Klageliteratur nach Zerfall des alten Reiches, die Neferti-Prophezeiung des beginnenden mittleren Reiches (AOT 4 6 - 4 8 ; ANET 444—446) oder Echnatons Reforminschriften voraussetzen, aber auch Orakel der Spätzeit, die nach 900 Jahren Unordnung (Lammorakel: AOT 48 f) oder nach Untergang der hellenistischen Fremdherrschaft (Demotische Chronik; Töpferorakel: AOT 49 f) einen Heilskönig weissagen. Ab Mittlerem Reich berichten Geschichtserzählungen (Einnahme von Joppe: AOT 68 f = ANET 22) und Königsnovellen (Thutmosis III. IV.: AOT 99 f = ANET 446 f.449) die einmalige Ausführung eines göttlichen Auftrags durch den König, Königsinschriften halten Ereignisse fest, die noch „nie geschehen" waren (Helck 3). Historiogenesis meldet sich, wenn Königslisten (Turiner Königspapyrus) nicht nur unumkehrbare Folgen von Dynastien, sondern auch einen qualitativen Wechsel der Herrschaft von Göttern und Halbgöttern über Ägypten zu menschlichen Herrschern ab Menes verzeichnen. Analog dazu wird der Begriff einer „Zeit der Götter" (des Horus usw., z.B. Merikare: ANET 416) für eine Art goldenes Zeitalter ausgebildet, das der Jetztzeit vorangegangen war. In eine lineare Darstellung mündet diese Sicht in den Aigyptiaka des Manetho ca. 280 v.Chr.
1.3. Mesopotamien (—»Babylonisch-assyrische Religion). Während für W. v. Soden „eine Geschichtstheologie. . . dem Alten Orient ganz fremd" war (TRE 5,82), gibt es für E. A. Speiser eine „mesopotamische Geschichtswissenschaft", die „hauptsächlich durch die zugrundeliegende Auffassung
Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II
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von Religion und Regierung beeinflußt" wird (RLA 3,216) — das Urteil differiert je nach m o d e r n e m Begriff von Geschichte. Unstreitig bleibt, d a ß (Sumerer), B a b y l o n i e r u n d Assyrerein lebhaftes Interesse an Vergangenheit durch eine Fülle von G a t t u n g e n u n t e r Beweis stellen, jedoch k a u m Ursache u n d W i r k u n g des Geschehens „innerweltlich" v e r k n ü p f e n . Das geschichtliche Interesse resultiert aus einer Polarität des Denkens, das einerseits urzeitliche göttliche G r u n d p l ä n e (sum.gishur; akk. usurtu) f ü r das All, andererseits die Uberzeugung „nichts ist f ü r alle Zeiten geregelt" (E. A. Speiser: RLA 2,317) voraussetzt. Vornehmliche Tätigkeit der Götter ist, das Geschick (simtu) zu bestimmen, was anfangs grundlegend geschehen ist und z.B. M a r d u k z u m König sowie Babel zum Z e n t r u m der Menschheit (Enuma elis: A O T 1 0 8 - 1 2 9 = A N E T 6 0 - 7 2 ) o d e r H a m m u r a b i f ü r eine spätere E i n f ü h r u n g der Gerechtigkeit auserwählt hat ( A O T 380 f = A N E T 163). Die G ö t t e r v e r s a m m l u n g tritt aber in Abständen (Neujahrsfest?) wieder zusammen und regelt durch „ A u s f ü h r u n g s b e s t i m m u n g e n " die besonderen Geschicke für König u n d Land. Was beschlossen, wird von Göttern in die Leber von Opfertieren (2. Jt.) oder die Gestirne (1. Jt.) eingeschrieben und d a d u r c h Wahrsagern e r k e n n b a r . D a mit einer - nicht naturhaft-rhythmischen ! - Wiederkehr typischer Geschehensverläufe gerechnet wird, studiert m a n die Vergangenheit, u m G e g e n w a r t zu bewältigen und Z u k ü n f t i g e s zu prognostizieren. ( Z u r d a v o n abhängigen westsemitischen Biographie des Idrimi s. M . Dietrich/O. L o r e t z / H . Klengel: UF 13 [1981] 199ff.). Durch die Könige verwirklicht die G ö t t e r v e r s a m m l u n g ihren Willen. Militärische, politische und kultische Begebenheiten schildern Königslisten und Chroniken z . T . auffällig unparteiisch, was A . K . Grayson urteilen läßt: „It is history being written for history's s a k e " (RLA 6,86). Doch das Leitmotiv ist ideologischer Art. Geschildert werden soll seit der sumerischen Königsliste ( A N E T 265) bis zu seleukidischen Königslisten ( A N E T 566) eine nach göttlicher Bestimmung kontinuierliche „Geschichte des einen Königtums" (A. K. Grayson: RLA 6,77) auf Erden (bzw. der Dyarchie Assyrien-Babylonien A O T 33 = A N E T 4 7 2 ; vgl. die Synchronismen im biblischen Königsbuch), die providenziell nach H a u p t s t ä d ten, Dynastien und zeitlichen Fristen wechselt. M a n c h e Texte stellen einzelne Könige (insbesondere Sargon u n d Naramsin) als exemplarisch gut oder böse dar o d e r machen das Verhalten zum zentralen Heiligtum Esangila in Babel zum M a ß s t a b der Abläufe (so noch die N a b o n i d - C h r o n i k : A O T 366 ff = A N E T 3 0 5 ff; vgl. die deuteronomistische Geschichtsschreibung s. u.). Königsinschriften steuern metahistorische Erklärungen bei. Könige werden erwählt u n d Kriege geführt auf Befehl eines Hochgotts, z. B. Assurs; in der Schlacht treten M a r d u k u n d Ischtar d e m Herrscher zur Seite usw. W e n n jedoch sein Z o r n geweckt w a r , hat z. B. M a r d u k sein Land verlassen u n d Feinde herbeigerufen; wird er wieder beschwichtigt, gedenkt er seiner Stadt u n d beruft einen Heilskönig (Kyroszylinder: A O T 3 6 8 ff = A.NET 3 1 5 ff; vgl. die Parallele Jes 4 5 , 1 - 7 ) . Prophezeiungen mit einem an die biblische —»Apokalyptik erinnernden Stil, wie dort mit Geschichtsrückblick als vaticinium ex eventu beginnend u n d in echte Weissagung e i n m ü n d e n d („ein Fürst wird a u f k o m m e n und X Jahre regieren": A O T 2 8 3 f = A N E T 4 5 1 f)> künden einen Wechsel von Unheils- und Heilszeiten, ohne eine Eschatologie erkennen zu lassen (Grayson, Texts 4; anders P. H ö f f eken: W O 9 [1977] 5 7 f f ) . Die M a r d u k - P r o p h e t i e f ü h r t u m 1100 die drei W e g f ü h r u n g e n der Gottesstatue nach Hethitien (ca. 1530 v . C h r . ) , Assyrien (ca. 1230) u n d Elam (ca. 1160) auf dessen Entschluß zurück, wegen kultischer Vergehen das Land zeitweise zu verlassen, u m am Ende mit einer heilvollen Verheißung zu schließen (R. Borger: BiOr 2 8 [1971] 3 - 2 4 ) . Die Dynastische Prophetie setzt im 4 . / 3 . J h . eine prädestinierte Sukzession der Reiche Assyrien-Babylonien-Harran (Nabunid)-Persien (und M a k e donien?) voraus (Grayson, Texts 24). In griechischer Sprache faßt schließlich u m 2 8 0 v. Chr. Berossos die Geschichte des Z w e i s t r o m l a n d e s z u s a m m e n , versieht sie mit einer chronologisch-astrologischen Begründung und einem eschatologischen Ausblick. 1 . 4 . Hethiter (-»Hethitische Religion). Hethitische Historiographie reiht nicht n u r königliche Taten aneinander, sondern faßt Geschichte als H a n d l u n g s f o l g e zwischen K o n t r a h e n t e n , so d a ß „ z u m ersten M a l in der Weltgeschichte ein literarisches Genos von h o h e r Bedeutung in Erscheinung tritt: der historische Bericht. Er sprengt den R a h m e n trockener Annalistik . . . M y t h o s u n d Legende sind aus d e m Bereich der Geschichtsschreibung v e r b a n n t " (A. Götze, Hethiter, Churriter u. Assyrer, 1936, 73). Geschehnisse der Vergangenheit, welche gegenwärtige Institutionen und Gesetze für die Z u k u n f t legitimieren, werden in einer „ M i s c h u n g von Kausalität auf horizontaler [menschlicher] u n d vertikaler [göttlicher] Ebene" (H. A. H o f f n e r : Histories 316) dargestellt. In der Urzeit entstand nach langen Auseinandersetzungen das Königtum des Wettergottes ( A N E T 1 2 0 - 1 2 5 ) , er h a t d a n n das hethitische Königtum erst in der „geschichtlichen" Zeit entstehen lassen und erhält es seitdem. Annalen in der F o r m königlicher Erlasse führen die Geschichte des Herrschers, insbesondere den Regierungsantritt von Usurpatoren (Apologie des Hattusilis: A. Götze: M V Ä G 2 9 / 3 [ 1 9 2 4 ] = 1964) auf das an gerechter O r d n u n g orientierte göttliche Walten zurück. Königsgebete wie die Pestgebete des Mursiii ( A N E T 394) bekennen Sünden, die vom Vater auf den Sohn übertragen werden u n d dazu f ü h r e n , d a ß die Gottheit Plagen wie Pest, Feindschaft, H u n g e r und Fieber ins Land sendet. Vasallenverträge beginnen mit einem historischen Prolog, der mit dem Hinweis auf vergangene Hulderweisungen des Großkönigs die Erteilung von „ a p o d i k t i s c h e n " und kasuistischen Gesetzen an den Bundesgenossen begründet ( A N E T 2 0 3 ; vgl. Jos 24).
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1.5. Iran (—»Iranische Religionen). Nach alttestamentlichen und griechischen Nachrichten (Esr 4,15 [6,1 f]; Est 2,23; 6,1 f; Diodor Siculus 11,32,4; vgl. Herodot VII,90) wurden am persischen Hofß«cher der Denkwürdigkeiten geführt. Abgesehen von Hofgeschichten, die Herodot und Ktesias übernommen haben (K. Reinhardt, Herodots Persergeschichten: Herodot 3 2 0 - 3 6 9 ) , hat jedoch der Alexandersturm die literarische Hinterlassenschaft vernichtet. Eine achämenidische Theorie von der Sukzession der Weltreiche Assyrien-Medien-Persien mit göttlich festgesetzten Fristen (Herodot 1,95. 130) ist vermutlich nach der griechischen Eroberung im Iran zu einem 4-Monarchien-Schema mit abschließender eschatologischer Heilserwartung erweitert worden, vielleicht in Anlehnung an eine zoroastrische Theorie von dem vierteiligen „Zeit(alter) der langen Herrschaft" (vgl. die mittelpersische Apokalypse Bahman Yast; Plutarch, De Iside c. 47; s. Eddy; Swain). Der Iran hat dadurch über die biblische Apokalyptik und die Geschichtsschreiber der römischen Kaiserzeit dem Abendland eine weltgeschichtliche Theorie vermacht, die sich, nachdem Makedonien als letztes Reich mit Rom ausgetauscht war, bis in die Neuzeit behauptet hat. 1.6. Griechen (-»Griechische Religion). Mit den Historien Herodots (ca. 4 9 0 - 4 2 5 ) hebt in Hellas eine Art der Beschreibung geschichtlicher Vorgänge an, die sich über den Peloponnesischen Krieg des Thukydides (ca. 4 6 0 - 3 9 9 ) bis zu denHistorien des Polybios (ca. 2 0 0 - 1 1 8 ) und lateinischen Nachahmern fortsetzt. Die griechische Geschichtsschreibung erhebt den —>Krieg zum zentralen Thema und sucht unter kritischer Prüfung der Überlieferung nach Ursachen in menschlichen Taten und Entscheidungen, auch in Orakeln und Vorzeichen, nicht aber in wunderbaren göttlichen Eingriffen. Neben den aktuell-politischen werden hintergründige Ursachen vermutet, die auf unpersönliche Mächte wie Tyche, Ananke oder Nemesis zurückgeführt werden. Im Brennpunkt steht nicht eine irreversible Entstehungsgeschichte von Institutionen, sondern der Kreislauf des „Glückes" der Verfassungen von Staaten und Individuen. Die mythologische Frühgeschichte wird ausgeblendet und Zeitgeschichte in moralischer Absicht geschildert für den, „der das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird" (Thukydides 1,22). Diese Geschichtssicht hat die spätisraelitische Literatur beeinflußt (II Makk [-»Makkabäer/Makkabäerbücher]; —»Josephus). Andererseits hat das Aufkommen des römischen Weltreichs griechische Geschichtsschreiber genötigt, Entstehungs- und Universalgeschichte auf „orientalische" Weise zu betreiben und dafür mythologische Stoffe samt der Epocheneinteilung nach vier Monarchien aufzunehmen (z.B. Dionysos von Halikarnassos und Diodorus Siculus). 2. Israelitische
„Heilsgeschichte"
als stiftende
Urzeit
2.1. Ethnogonie statt Theogonie. An die Stelle von Mythen, welche innergöttliche Geschehnisse rühmen, tritt in Israel als Urzeit ein Ausschnitt menschlicher Geschichte, in dem nicht Herrscher, sondern Viehzüchter und Bauern handeln und leiden und zum Gegenstand göttlichen Waltens werden. - M e h r als die Hälfte des alttestamentlichen Kanons besteht aus geschichtlichen Büchern. Auch die prophetischen Bücher behandeln das Thema im Blick auf die Zeitgeschichte mit ihrem kollektiven Versagen und einem bevorstehenden Ubergang zu nie da gewesenem Unheil oder Heil. Selbst die —»Weisheit öffnet sich in spätisraelitischer Zeit der geschichtlichen Thematik (Sir; Weish; I Bar). Einen so breiten R a u m nehmen geschichtliche Themen in keiner anderen religiösen Literatur ein. Deshalb wird bei G. v. —»Rad und G. E. Wright, aber auch Vertretern einer —»Biblischen Theologie Geschichte zum durchgängigen T h e m a der Theologie des Alten Testaments und darüber hinaus zu einem Schlüsselbegriff theologischer —»Hermeneutik überhaupt. Das alttestamentliche Interesse an Geschichte artikuliert sich kaum je historisch im modernen Sinne: Weder werden überkommene Nachrichten quellenkritisch auf einen zuverlässigen Ausgang von Augen- oder Ohrenzeugen geprüft, noch ist man bestrebt, Ursachen und Wirkungen „innerweltlich" zu verknüpfen. Ausgewählt wird, was für die Heilsfrage des israelitischen Menschen bedeutsam erscheint. Als Urgrund und dominierendes Subjekt der Geschichte gilt durchweg J a h w e (—»Gott II); w o sie als Ganzes auf den Begriff gebracht wird, gilt sie als sein W e r k (mä'*sx, so Jes) oder W e g (dxrzk, so Jer). Menschliche Subjekte wirken nicht primär mittels politischer oder militärischer Fähigkeiten, sondern durch ihr positives oder negatives sittliches Verhalten, das im Laufe der Zeit auf den T ä t e r selbst wie auf seine Umgebung zurückschlägt, ein Tun-Ergehen-Zusammenhang, den Jahwe befördert und zur Vollendung bringt. Deshalb werden nicht nur sinnlich wahrnehmbare Ketten von Geschehnissen, sondern eine hintergründige „Ubergeschichte" in den alttestamentlichen Büchern von unterschiedlich metahistorischer W a r t e aus geschildert und gedeutet.
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Wie göttliches und menschliches Tun metahistorisch korrelieren, ist das Thema sämtlicher geschichtlicher und prophetischer Bücher. Was sich dabei ergibt, beansprucht Evidenz. Aus dem Gang der (Uber-) Geschichte wird Gott „erkannt", wie es am sprechendsten in der prophetischen Erkenntnisformel zum Ausdruck kommt: „daß sie erkennen, daß ich Jahwe (bin)" (G. Botterweck: T h W A T 3 , 5 0 1 - 5 0 7 ; W. Schottroff: T H A T 1,698f). Die so erfaßte Geschichte begründet das singulare Selbstbewußtsein Israels. Sie zu erzählen oder in kurzen Formeln zu skizzieren, gibt die Begründung für das besondere Gottes- und Kultverhältnis und die eigentümlich gemeinschaftsbezogene —»Ethik. Erstaunlicherweise meldet sich kein analoges Bedürfnis, die Einzigartigkeit Jahwes geschichtlich abzuleiten. Auch dort, wo er noch nicht monotheistisch begriffen, sondern auf eine polytheistische Umgebung bezogen wird (Ps 8 2 ; Dtn 3 2 , 8 ) , findet sich keine Erzählung, die seine überragende Stellung begründet. Jahwe waltet souverän von unbegreiflich ferner Zeit bis in unbegreifbar ferne Zeit ( m e ' ö l a m 'ad-'ölam). Das meint keine Zeittranszendenz; auch J a h w e ist in die Geschichte verwickelt. Er hat nicht nur durch die Erschaffung der Menschen die Bedingung der Möglichkeit von Geschichte hervorgerufen, er interveniert nicht nur durch eine alle Widerstände zerschmelzende Theophanie oder durch seine „ H a n d " je und dann im Geschehenslauf, sondern er setzt durch seinen Segen und Fluch, sein wirksames W o r t , aber auch durch Weisung und Gesetze planvoll Entwicklungen in Gang, die sich im Laufe der Zeit verwirklichen (qüm). Der göttliche Sprecher löst sich dabei nicht von seinen Worten, sondern west in ihnen an. Sprechender Ausdruck ist dafür der Ritus des —»Bundes mit göttlichem Schwur und Selbstverpflichtung.
Israel huldigt einer Kultreligion. Wo die Reflexion über die Präsenz des Heiligen aufbricht, werden die berühmten Kultstätten ebenso wie die großen Jahresfeste ätiologisch auf heilsgeschichtliche Ereignisse zurückgeführt, deren innovatorische Kraft durch das „Heute" der Begehung aktualisiert wird (z.B. Dtn 5,3). Sobald die Kultstätten im Land eingerichtet worden sind, hat — geschichtlich gesehen — Jahwe seinen Ruheplatz erreicht (m e nuha Ps 9 5 , 1 1 ; 1 3 2 , 1 3 f ; ähnlich auf mythischem Wege der ugaritische Ba'al = 'nt IV, 4 6 f = KTU 1.3, IV,1; anders Jes 66,1). Doch eine Eigengeschichte Gottes bleibt undenkbar. An die Stelle der Theogonie tritt die Ethnogonie. So bis zum Aufkommen der Schriftpropheten, die mit ihrer —»Eschatologie an die Stelle der vergangenen Volkwerdung eine künftige setzen. 2.2. Exodusrekurs und kultische Bekenntnisse. Um die Monolatrie Jahwes zu begründen, verweist Israel vornehmlich auf den von Jahwe bewirkten Auszug der Vorfahren aus Ägypten (—> Exodusmotiv I). Schon in verhältnismäßig alten Erzählungen kennzeichnet das Exodusgeschehen wie nichts anderes die Überlegenheit des von Israel verehrten Gottes Jos 2,10; Jdc 6,13; 19,30; I Sam 4,8. Die von den Kanaanäern übernommenen agrarischen Kultbegehungen (Passa-)Mazzot- und Herbstfest werden integriert, indem sie mit jenem grundlegenden Geschehen historisierend verknüpft werden (Ex 12f; Lev 2 3 , 4 2 f ; Dtn 1 6 , 1 - 8 ; Jos 5 , 1 0 - 1 2 ; Ps 81; -»Feste und Feiertage II). Der alte Hymnus Ex 15,21 (mit V. 1 - 2 0 ? ) , bisweilen als Keimzelle israelitischer Kultdichtung angesehen, stellt das Meerwunder in das Zentrum des Gotteslobes. Liturgische Selbstvorstellungen Jahwes verweisen auf jene Wende zur Begründung von Geboten (Ex 2 0 , 2 ; Ps 81,11). In Schwurformeln wird der Gott des Exodus zum Zeugen angerufen (Jer 16,14 f; 23,7f),und die Formel „erkennen, daß ich Jahwe" taucht in den Exodusgeschichten über 15mal als Zweckbestimmung auf (W. Schottroff: T H A T 1,698). „Daß Jahwe, der Gott Israels, derjenige sei ,der Israel aus Ägypten herausgeführt hat', ist einer der elementarsten und der am häufigsten wiederholten Glaubenssätze im Alten T e s t a m e n t . . . auf die in diesem Glaubenssatz ausgesprochene Tat Gottes hat Israel seine Existenz und seine Sonderstellung im Kreis der Völker zurückgeführt" (Noth, Uberlieferungsgesch. 50). In Jerusalem tritt anstelle des Auszugs als Gotteskennzeichen weithin die Tempelgründung (-»Tempel) und - » E r w ä h l u n g der Davidsdynastie (-»David) (Ps 7 8 ; Jes). Von der deuteronomischen Literatur ab tritt die historisch weniger scharf umrissene Erwählung - » A b r a h a m s oder der Erzväter stärker in den Vordergrund und wird schließlich in neutestamentlicher Zeit zum charakterisierenden Heilsgeschehen, dem nur noch die Gesetzgebung am Sinai an Bedeutung gleichkommt (doch diese wird dann im Judentum durch den Gedanken der Präexistenz der - » T o r a „entgeschichtlicht"). Das Erlebnis der Errettung am „Schilf'-meer scheint bei den Beteiligten von selbst zu einer kulti-
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sehen Erinnerungsfeier geführt zu haben, die dann mit dem Durchzug durch die Jordanfurt beim Einzug in das gelobte Land parallelisiert und nach —»Gilgal verlegt worden ist (Jos 3f; Ps 114).
Die Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft wird zum Erkenntnisgrund für Jahwes Dasein und Macht (Ps 106,8; Ex 6,6f; Dtn 4 , 3 7 - 3 9 ) . Sie gilt als Anfangszeit schlechthin, von der an erst Geschichte und Zeit datieren, wie ätiologische Formeln ausweisen „vom Tage des Heraufzugs/Herauszugs (bzw. kausativ) der Söhne Israel aus Ägypten bis zu diesem Tag" (Jdc 19,30; I Sam 8,8; II Sam 7,6; II Reg 21,15). Erstaunlicherweise tritt der Einzug in das Kulturland und die Landnahme gegenüber dem Exodus bei solchen Anspielungen zurück. Erst im deuteronomischen Gesetz erhält der Einzug einen Eigenwert als Voraussetzung für die Geltung des —»Gesetzes (Dtn 12,1; 17,14; 26,1).
Der Zusammenhang von Exodus und Landnahme wird in einigen kultischen Bekenntnissen mit der vorausgehenden Erzväterzeit verbunden (—»Glaubensbekenntnisse II), am einprägsamsten in Dtn 26,5 — 11: Ein umherirrender Aramäer war mein Vater. Er ging hinab nach Ägypten, weilte dort als Fremdling, dem nur wenig Leute angehörten; aber er wurde dort zu einem großen, starken und zahlreichen Volk. Die Ägypter mißhandelten und bedrückten uns und legten uns harte Arbeit auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe erhörte uns; er sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrängnis. Und Jahwe führte uns aus Ägypten heraus, mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit großen Schrecknissen, Zeichen und Wundern, und brachte uns an diesen Ort und gab uns dies Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt (ähnlich Jos 2 4 , 1 2 - 1 3 ; Ps 136). G. v. —»Rad (Problem) hat diese Art Abriß der Heilsgeschichte das „kleine geschichtliche Credo" genannt und in ihm die Keimzelle der Jahwereligion gesehen. Andere haben einen späten Ursprung solcher Systembildung vermutet (Richter), ja deuteronomischen Ursprung behauptet (Rost), was jedoch kaum überzeugt. Denn diesen Bekenntnissen fehlt nicht nur jede Erwähnung des Sinai, sondern auch die einer Verheißung an die Väter, die für das —•Deuteronomium schlechterdings zentral ist (hinzugefügt Dtn 6 , 2 1 - 2 3 ) .
Die Bekenntnisse umfassen genau jene Epoche, die schon in vordeuteronomischer Zeit als grundlegende Urzeit (qxdxm: Dtn 33,27; II Reg 19,25; Ps 44,2; 78,2; Jes 51,9) gilt und dadurch qualitativ von der nachfolgenden „Jetztzeit" abgehoben wird. Die derart abgeschlossen erscheinende Heilsgeschichte entspricht der stiftenden Urzeit in den Nachbarreligionen (z. B. der Zeit von der Theogonie bis zum Bau Babels im babylonischen Enuma elis oder von der Theogonie bis zur Vereinigung der beiden ägyptischen Länder im Denkmal memphitischer Theologie), nur daß an die Stelle eines Mythos eine Geschichte tritt. G.v. Rad hat weiter vermutet, daß diese Bekenntnisse die Motivation und den Aufriß für die Hexateuchquellen geliefert haben; die seltsame Beschränkung von J und P auf die Zeit von (Schöpfung und) Erzvätern bis zur Landnahme — ohne Weiterführung bis zur Gegenwart — hat noch keine bessere Erklärung gefunden. Bemerkenswert bleibt das Fehlen der Sinaigeschehnisse in den Bekenntnissen. Der Sinai wird abgesehen davon in relativ alten Texten Jdc 5,4 f; Dtn 33,2; Ps 68,8 f. 18 erwähnt als Ort, von dem her Jahwe in einer Theophanie heranbraust, ohne daß dabei auf ein Anfangsereignis verwiesen wird.
2.3. Tetrateuch/Hexateuch-Quellen. Die gegenwärtige Kontroverse um —»Literarkritik und —»Pentateuch stellt sicher geglaubte Ergebnisse der Forschung in Frage und erlaubt kein abschließendes Urteil über dasjenige Schrifttum, das wie kein anderes den Eindruck von der Eigenart alttestamentlichen Geschichtsverständnisses der Nachwelt vermittelt hat. Sicher bleibt nach wie vor die Ausscheidung einer priesterlichen Schicht (P) im Tetrateuch als jüngste (—»Priesterschrift). 2.3.1. Gewichtige Gründe sprechen dafür, aus dem vorpriesterschriftlichen „jehowistischen" Material einen jahwistischen Strang (J) als früheste Quelle auszusondern, die bis Jos 1 - 1 1 * durchläuft (Otto, Mazzotfest). Leider bleibt der historische Ort des —> Jahwisten unklar. Obwohl er häufig mit Jerusalem in Verbindung gebracht wird, sei es für die Zeit Salomos, sei es für die Zeit drohenden Landverlusts gegen Ende der Königszeit, läßt er bei den Erzvätern geflissentlich -»Jerusalem unerwähnt. Göttlich legitimierte Heiligtümer sind —»Sichern, —»Bethel, —»Mamre, —»Sinai, —»Gilgal - nicht Jerusalem. Die menschlichen Werkzeuge göttlicher Geschichtslenkung wie die Erzväter —»Mose, —»Josua tragen keine
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(in Jerusalem gängige) Titel wie König, Priester oder Nabi (höchstens „Knecht Jahwes" Num 12). Versteckte Hinweise auf ein in Juda entstehendes Königtum werden nicht im Ich Jahwes vorgetragen (Gen 4 9 . 1 0 - 1 2 ; Num 24,7.17ff). Doch auch eine engere Verbindung zu anderen historisch belegten Haftpunkten läßt sich noch nicht erkennen. Um eine Ätiologie Israels als 12-Stämme-Bund im Land K a n a a n zu liefern, wird die Entstehung des Volkes auf den einen G o t t J a h w e zurückgeführt, der schon die ersten Menschen geschaffen hat und dessen Verehrung bald darauf aufgenommen wurde (Gen 4 , 2 6 ) , der aber erst zu einem erheblich späteren Zeitpunkt sich mit bestimmten Menschengruppen verbindet und dessen Ausschließlichkeitsanspruch mit den zugehörigen Kultinstitutionen erst am Sinai (Ex 3 4 , 1 2 ) offenbart werden. Geschichtsmächtigkeit durch —»Verheißungen und deren Verwirklichung im äußeren Geschehen ist J a h w e s eigentliches Kennzeichen. Di e—»Urgeschichte der Gattung Adam von der Erschaffung bis zur Flut (Gen 2,4 b - 8 , 2 1 * ) legt dar, wie das für alle Geschichte grundlegende Verhältnis von Mensch ('adam) und Boden ( " d a m ä ) geworden (2,7; 3 , 1 7 - 1 9 . 2 3 ; 4 , 2 . 1 0 - 1 2 ; 6,17) und nach einer Periode anwachsender menschlicher Sündigkeit (Genuß verbotener Frucht, Brudermord, geschlechtliche Verbindung mit Gottessöhnen) sowie härter werdender göttlicher Reaktionen (Vertreibung aus Paradies, vom Ackerland, Sintflut) stabilisiert wurde, indem Jahwe die Auswirkung menschlicher Übeltat für die Zukunft relativiert und das öffnen und Verschließen des Bodens davon grundsätzlich ausgenommen hat (8,21 f; vgl. 3,17). Umfangreicher wird die Erzvätergeschichte Gen 9 , 2 1 - 5 0 * ausgestaltet, in der sich der Gesichtskreis auf eine Nomadensippe einengt, auf die Gruppen (Sem-Eber-) -»Abraham, -»Isaak, -»Jakob. Aufgewiesen wird, wie sich Uber- und Unterordnungen bei den Völkerschaften ausbilden durch hintergründig wirkenden Segen und Fluch ( 9 , 2 5 - 2 7 ; 12,3 usw.; 3 7 , 1 - 1 0 ; 49). Eine wirkungsvolle Dramatik erhält die Darstellung der Epoche dadurch, daß ein wohl vorgegebener Abraham-Erzählkranz über die Sicherung einer gefährdeten Generationenfolge durch göttlichen Spruch (Westermann; ähnlich das ugaritische Keret-Epos) für J das metahistorische Grundmuster der Ethnogonie Israels abgibt. Wiederholte Nachkommen- und Landverheißungen überwölben den Weg der Erzväter ( 1 2 , 1 - 3 . 7 ; 1 3 , 1 4 - 1 7 ; 1 5 , 4 - 2 1 ; 16,11; 1 8 , 1 . 1 4 . 1 7 - 1 9 ; 2 2 , 1 5 - 1 8 ; 26,3.5; 2 8 , 1 3 - 1 5 ; 31,3; 32,13; 46,3f. vgl. 24,60; 27), die selbst die Erfüllung gar nicht erleben, sondern stattdessen nur deren fortlaufende Gefährdung, indem entweder die Nachkommenschaft bis ins Alter ausbleibt (Abraham) oder Hunger und Feinde den Fortbestand bedrohen; die Väter erleben, daß sie mehrfach das Land wieder verlassen müssen, in dem sie sich bereits festgesetzt hatten 12,10ff; 28,10ff; 46. Die Nachkommenverheißung erscheint ab Ex 1 , 9 - 2 2 als erfüllt. Die Landverheißung erfüllt sich aber erst nach Jahrhunderten unter —»Josua. Dazwischen liegen Ägyptenaufenthalt, Wüstenwanderung und Sinaibund (Ex 1-Num 16*). Der Gegenstand göttlicher Geschichtslenkung wird nunmehr durch ein Volk repräsentiert, das in außenpolitische Verwicklungen mit dem König von Ägypten und später in die Gefahren des Wüstenlebens gerät. Das Exodusgeschehen (s.o. Abschn. 2.2) trägt stärker als alles andere exemplarischen Charakter und läßt erkennen, was Jahwe ist, nicht nur für Israeliten (7,17; 11,2), sondern auch für Ägypter (9,14). An die Stelle der Landverheißung bei den Erzvätern stellt J nunmehr die Hinaus- bzw. Herausführungsverheißung in Aufnahme eines vertrauten kultischen Vokabulars (s.o.). Nach der Befreiung aus ägyptischem Joch verpflichtet Jahwe sich feierlich im Bundesschluß am Sinai zur Vertreibung der Völker Kanaans, legt andererseits Israel durch den rituellen Dekalog die Einhaltung eines geregelten kultischen Verkehrs mit der Grundkraft seiner Geschichte auf (24,1 f . 9 - 1 1 ; 34,1 Off*). Der vertrauliche Umgang mit der Gottheit, wie ihn die Väter pflegten, hat aufgehört; Mittelinstanzen werden nötig zwischen Gottheit und Menschheit wie Wolken- und Feuersäule (Ex 13,12f; 14,19f.24), Begegnungszelt (Ex 33,7.11; Num 1 1 , 1 6 - 2 5 ; 12,4f), Lade (Num 1 0 , 3 2 - 3 6 ; 14,44; Jos 3;6) und-»Engel Jahwes (Num 22,22ff; Jos 5 , 1 3 - 1 5 ) . Die von Jahwe betriebene geschichtliche Entwicklung fordert von jetzt ab die betroffenen Menschen zur Stellungnahme auf, die entweder positiv im Glauben an das Gotteswort (Ex 4,1; 14,31; Num 14,11) oder negativ in einem Murren sich äußert, welches das Fortschreiten der verheißenen Geschichte hemmt (Num 11,10; 14; 16; 22,22 u.ö.). D i e L a n d n a h m e Num 20—Jos 12* beginnt mit der Einnahme des südpalästinischen Horma und der Besiegung der amoritischen Könige im Ostjordanland. Ehe die entscheidende Eroberung des Westens in Angriff genommen werden kann, wird durch den drohenden Fluch des Sehers —»Bileam alles in Frage gestellt, was bisher erreicht worden ist, um dann durch seinen Segen noch einmal bekräftigt zu werden. In das Land Kanaan wird in einer kultischen Wallfahrt eingedrungen Jos 3 f; 6. Danach aber „gibt Jahwe in die Hand" Josuas eine Stadt nach der anderen (Jos 2,24; 10,8 u.ö.), und Israel weiht dem siegreichen Gott die Vorbevölkerung, indem sie insgesamt gebannt und vernichtet wird (Jos 2,10; 11.11-20). J ersetzt also die bei den altorientalischen N a c h b a r n üblichen mythischen Urzeitüberlieferungen durch geschichtliche, die in einem einzigen fortlaufenden Z u s a m m e n h a n g ge-
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bracht werden. Freilich spielen in seiner Metahistorie politische Faktoren eine höchst beiläufige Rolle; weder der ägyptische König noch der von Jericho interessieren auch nur hinsichtlich des Namens. Wer zur Zeit der Erzväter das Land beherrschte, bleibt unbedacht. Daß Israel nicht kraft militärischer Tüchtigkeit siegt, sondern kraft des göttlichen Beistands, wird eigens hervorgehoben (Num 14,39—45). Wunderhafte kontingente Gotteszeichen begleiten wie selbstverständlich den Gang des Geschehens. Die eigentlichen Triebkräfte liegen aber auf sprachlicher Ebene, in göttlichen Worten, die in die Geschichte hineingerufen werden und dort nicht sofort, sondern allmählich, z.T. erst nach Jahrhunderten sich durchsetzen. Menschliches Verhalten kann den Lauf der Dinge hemmen, aber kaum entscheidend befördern. Solchen metahistorischen Gesetzmäßigkeiten verdankt Israel sein Dasein. Der Spannungsbogen von Verheißung und Erfüllung wölbt sich über jeder wesentlichen menschlichen Geschichte, ihm gilt es also zu vertrauen, auch wenn der Augenschein von Gegenwartskonstellationen dem entgegensteht; denn er hat in der Urzeit Israels sich bewährt. 2.3.2. —>Priesterschrift. In (nachp-)exilischer Zeit wird noch einmal die in sich abgeschlossene urzeitliche Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Landnahme dargestellt. Angestrebt wird wie in altorientalischen Urzeitmythen das allmähliche Herausbilden von bleibenden Strukturen in All, Menschheit und Israel, die durch Zahlenrelationen wie 4 , 7 , 1 0 und 12 sowie ihr Vielfaches geprägt und deshalb göttlichem Willen entsprechend und heilsam sind. Die geschichtlichen und natürlichen (Gen 1,14—18) Abläufe folgen planvoll gesetzten Fristen, wie P durch Einführung einer Chronologie nachweist, die vielleicht auf die Tempelweihe Salomos als Jahr 2800 nach der Erschaffung der Welt zuläuft (Weltära nach mesopotamischem Vorbild?). Der Zeitabschnitt von der Schöpfung bis zur Landnahme ist durch zwölf „Epochen", töledöt, gegliedert, mit einer Traditionslinie von außen nach innen, von Adam bis Aaron und Mose (Gen 5,1; 6,9; 10,1; 11,10.27; 25,12.19; 36,1.9; 37,2; Ex 6,16; Num 3,1). Dabei wird alles ignoriert, was an sagenhaften Herrschernamen aus der Vorzeit bekannt ist, und die Ebene menschlicher Aktanten „demokratisiert". Beim Abrahamsbund greift P die überkommenen Erzväterverheißungen von Kanaan als „ewigem Besitz" auf und erweitert die Nachkommenverheißung um die Zusage „ich werde ihr Gott sein", die sich dann am Sinai erfüllt. Ein Wechsel im Gebrauch der Gottesnamen unterstreicht die Theorie einer sukzessiven Offenbarungsgeschichte-. In der Urgeschichte erscheint nur eine unbestimmte „Gottheit" (' x lohim), in der Väterzeit schon 'el saddaj, doch offenbar wird der wahre Name —> Jahwe erst unter Mose Ex 6,2 f. Konzentrisch bewegt sich der Geschichtslauf auf die Sinaioffenbarung und den priesterlichen Kult am Begegnungszelt ('ohadmö'ed) zu, dessen Beschreibung (Ex 25 — Num 9*) nahezu die Hälfte des Werkes einnimmt. Von Kreisen der Heiligkeit und Reinheit umgeben, weilt seitdem J a h w e „mitten unter den Israelit e n " und will ihnen an der „Stiftshütte" als ihr G o t t „ b e g e g n e n " . Die Zusammenschau solchen kultischen Erlebens mit der vorangegangenen Heilsgeschichte führt zu der Erkenntnis, daß „ich J a h w e " bin (Ex 2 9 , 4 2 - 4 5 ) . Erst seit der Sinaibegegnung werden M e n s c h e n zum wahren Verkehr mit G o t t fähig, aber auch zur Sünde. Derjenige erst, der am Begegnungszelt und seinen Begehungen teilhat, scheint für P Mensch im Vollsinn des W o r t e s zu sein: insofern wird hier die Ethnogonie Israels (so J) zu einer Anthropogonie. J a h w e west dort, w o Heiliges entsteht, kann aber andererseits aus übergeschichtlichem Bereich seinem V o l k mit Herrlichkeit ( k a b ö d ) beglückend oder vernichtend nahekommen (Ex 1 6 , 1 0 ; 2 4 , 1 6 ; 4 0 , 3 4 ; Lev 9 , 6 . 2 3 ; N u m 1 4 , 1 0 ; 1 6 , 1 9 ; 1 7 , 7 ; 2 0 , 6 ) . Um dieser unvergleichlichen Beziehung zum Schöpfer und Geschichtslenker willen kann Israel fortan nicht als Nation wie andere, sondern nur als Kultgemeinde ('edä) existieren; statt unter einem König unter einem Priester-Messias (Lev 4 , 3 . 5 . 1 6 ; 6 , 1 5 ) , dem königliche Insignien zukommen (Koch, Eigenart).
Bei P stärker noch als bei J treten menschliche Mitwirkungen am Geschehen zurück, nirgends vermögen sie das auf harmonische Zahlenrelationen ausgerichtete planvolle Gotteswalten zu durchkreuzen. Die Wunderhaftigkeit des urzeitlichen Geschehens wird im Vergleich zu J gewaltig gesteigert; so wird die Sintflut auf ein ganzes Jahr ausgedehnt und die Wasser beim Durchzug durch das Meer (Ex 14*) sollen sich wie hohe Dämme zu beiden Seiten gestaut haben. Begriffe für ein zielstrebiges, durch die Zeiten hin verfolgendes göttliches Programm fehlen. Dennoch herrscht unverkennbar die Uberzeugung vor, daß alles, was ist,
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in einem unumkehrbaren Prozeß entstanden ist, und daß der entsprechende Aufweis, wie P ihn vorlegt, wie nichts anderes die Erkenntnis Gottes hervorruft.
3. Geschichtsschreibung
am Hof
Bald nach der Entstehung des Königtums erwachsen Sagenkränze oder novellistische Werke über —»Sauls kurze Regierung und tragischen Tod, begründet durch göttliche Erwählung und Verwerfung (I Sam 9 - 1 4 * ; 2 8 ; 31), sowie über —^Davids Aufstieg vom Hütejungen zum König (I Sam 1 6 - 1 1 Sam 5 * [ - 8 ? ] ) , weil Jahwe „mit ihm" war (Weiser, Legitimation; Apologie nach hethitischem Muster?, McCarthy); vielleicht auch der Grundbestand der Novelle von —»Ruth, welche die Abstammung Davids von einer nichtisraelitischen Ahnfrau durch deren Anschluß an den Gott Israels legitimieren will (Gerleman, BK 18/1). Bei der —>Josephnovelle mag man fragen, ob es sich um ein nordisraelitisches Seitenstück handelt; wenn sie in der Königszeit verfaßt wurde, konnte sie schwerlich anders als Legitimation —> Jerobeams I. (der einst in Ägypten weilte) verstanden werden, auch hier wird „Jahwe mit ihm" zur auslösenden Kraft des politischen Geschehens. Ein nordisraelitisches „Retterbuch" mag dem heutigen —>Richterbuch zugrundeliegen (Richter, Bearbeitung); es sollte erweisen, wie Israels Bestand durch Jahwes kriegerische Heilshilfen gesichert wird. Eine antidynastische Jerobeamgeschichte mag sich hinter I Reg 1 1 , 2 6 - 1 2 , 3 2 ; 14 verbergen. Das Geschick des Volkes in vorköniglicher Zeit war wohl auch das Thema vom Buch des Wakkeren, das vielleicht den Weg Jahwes zu seiner ewigen Wohnstätte im Zionstempel episch schilderte (Jos 1 0 , 1 3 ; II Sam 1,18; I Reg 8 , 1 3 cj.).
Die Überlieferung von der Thronnachfolge
Davids (II Sam (7) 9 - 2 0 ; I Reg 1 f) ist ver-
mutlich das älteste uns erhaltene Stück alttestamentlicher Literatur und zugleich die „vollkommenste Gestalt" (v. Rad, GSt 150), welche Geschichtsschreibung in Israel gefunden hat. Auslösende Faktoren einer in sich geschlossenen Geschehenskette von vielleicht zwanzig Jahren Reichsgeschichte sind individuelle menschliche Leidenschaften und ihre Folgen nach dem Tun-Ergehens-Zusammenhang (z.B. II Sam 1 2 , 1 1 ; 1 6 , 1 1 ; Otto: Z T h K 74), nur bisweilen spielen politische Faktoren wie Rivalitäten zwischen Israel und Juda, zwischen Heerbann und stehendem Heer eine Rolle. Gott greift nicht direkt ein, „nirgends ereignet sich ein Wunder" (v. Rad, Theol. I 4 , 3 2 8 ) .
E. M e y e r hat den einzigartigen Charakter dieser „wirklichen Geschichtsschreibung" - 4 0 0 J a h r e vor Herodot — herausgestrichen, das Fehlen „jeder politischen oder apologetischen T e n d e n z " gerühmt: „Gänzlich fern liegt jede religiöse Färbung, jeder Gedanke an eine übernatürliche Leitung; der Lauf der Welt und die in der Verkettung der Ereignisse sich durch eigene Schuld vollziehende Nemesis wird dargestellt voller Sachlichkeit" (Gesch. des Altertums, II/2 2 1 9 3 1 = " 1 9 6 5 , 2 8 5 f ) . Sein Urteil ist oft nachgesprochen, die Tendenzlosigkeit jedoch bezweifelt worden, sowohl prosalomonische (Rost) als auch antisalomonische (Würthwein) Absichten werden vermutet. Der areligiöse Charakter wird durch 1 1 , 2 7 ; 1 2 , 2 4 ; 1 7 , 1 4 widerlegt; danach greift J a h w e zwar nicht unvermittelt in den Ablauf ein, doch er „durchwirkt kontinuierlich alle Lebensgebiete" (v. Rad. ebd.), insbesondere mittels des menschlichen
„Vernunft-Herzens" (leb).
Die Schluß- und Zielformel, nach denen Salomo den Thron seines Vaters David bestieg, „sein Königtum sehr beständig" wurde und „das Königreich Bestand hatte in der Hand Salomos" (I Reg 2 , 1 2 . 4 6 ) greift auf die Nathanweissagung (II Sam 7,12) zurück. Ähnlich wie in J ruft ein Spannungsbogen von göttlicher Verheißung und Erfüllung die geschichtliche Bewegung hervor. Der „ s ä k u l a r e " Charakter der in der frühen Königszeit entstandenen Geschichtsdarstellungen erklärt sich aus der Auffassung, daß das Königtum nach Abschluß der stiftenden Urzeit (qxdxm) entstanden sei. M i t der wachsenden Bedeutung des Ziontempels und dem Einfluß altorientalischer Königsideologie scheint sich aber in Jerusalem die Auffassung dahin abgewandelt zu haben, daß erst mit der Erwählung Davids und des Zions die Heilsgeschichte ihren krönenden Abschluß gefunden hat (z. B. Ps 7 8 ; 1 1 4 ) . Die Ausweitung wird von Jerusalemer Propheten polemisch aufgegriffen und spielt später im deuteronomistischen W e r k eine Rolle (s.u.).
4. —»Propheten Die Leistung der sogenannten Schriftpropheten besteht darin, daß sie den Menschen un-
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übersehbar als bestimmenden Faktor in die Geschichte eingeführt haben. Das geschieht in der paradoxen Weise, daß es menschliche Freveltaten sind, welche nach ihrer Meinung den von Jahwe heilvoll gewollten Lauf der Volksgeschichte zerstören. Ab —»Ezechiel treten Gedanken einer positiven menschlichen Geschichtsgestaltung hinzu, die durch die göttlichen Gebote als Ermöglichung gemeinschaftsgemäßen Verhaltens hervorgerufen wird; die tora als ein durch Menschen zu verwirklichender Gotteswille tritt neben den göttlichen dabar, der unmittelbar wirkt. Die Propheten erfüllt die Ahnung einer unmittelbar bevorstehenden Kehre der israelitischen Geschichte. Sie sehen die gegenwärtige Lage des Volkes als unhaltbar an, weil die führenden Kreise die Errungenschaften der durch Gott gelenkten Anfangsgeschichte, nämlich die einzigartige Verfassung Israels, nicht zu bewahren bereit waren und das Jahweverhältnis von der Solidarität mit den Volksgenossen gelöst haben. Der Gott, der durch die Propheten spricht, zieht daraus eine harte, aber einsehbare Folgerung für die künftige Entwicklung (vgl. den mit „deshalb" eingeleiteten Weissagungsteil der Gattung Prophezeiung). Gemäß der Auffassung vom Tun-Ergehens-Zusammenhang, den auch die Hörer teilen, wird durch Frevel eine Sphäre von Schuld über den Täter, sein Volk und Land hervorgerufen, welche allmählich in ein negatives Geschick umschlägt und zum Untergang führt. Jahwes anzukündigende Heimsuchung, d.h. sein theophanes Erscheinen, muß mit der Schuld zugleich deren Träger in einer bislang nie dagewesenen Katastrophe vernichten. Begleitend werden Wirkungsgrößen wie Zorn, Feuer, Schwert, Hunger, Seuchen vom Himmel auf die Erde gesandt. Oder die göttliche Hand benutzt assyrische oder babylonische Großmächte als Werkzeuge, als Schermesser, Joch, Rute u.ä. (Jes 7 , 2 0 ; 9,3; 10,5). Die gegenwärtige Generation wird auf diese Weise Land und Leben verlieren. Die urzeitliche Heilsgeschichte droht zur „Nullpunktsituation" (v. Rad, Theol. II 4 ,125) zurückzukehren. - Dieses metahistorische Grundmodell wird von den einzelnen Propheten unterschiedlich gedeutet. Für —»Arnos z. B. ist die mit der Landgabe übereignete Wirkungsmacht von mispatund sedaqä durch menschliches Tun zu realisieren; von Israel zu Boden getreten, ist sie zu gefährlicher Unheilsmacht geworden (5,7; 6,12). Für—»Hosea ist der Ehebund Gottes mit dem Volk durch „Hurerei" gebrochen. Für - > Jesaja der mit der Gründung von Zion und Davidshaus gespendetesxdx.q „verwirtschaftet" worden (1,21—28) usw. Bei allen aber läßt sich ein Geschichtsbild erkennen, das mit einer urzeitlichen Heilsgeschichte anhebt, die dann auf ihrem Höhepunkt Landnahme oder Zionsgründung — in eine Unheilsgeschichte durch menschliches Versagen umschlägt. Sie wächst durch Jahrhunderte an und läuft auf eine unausdenkliche Katastrophe zu. Dies drückt z. B. Jer 2,5 ff aus: Was fanden eure Väter an mir Unregelmäßiges, daß sie sich von mir entfernten? Nicht sagten sie: Wo findet sich Jahwe? Er, der herausführte aus dem Land Ägypten, leitend uns in der Wüste, . . . Ich ließ euch hineinkommen ins Land . . zu essen seine Frucht und Gutheit! Kaum aber hineingekommen, verunreinigt ihr mein Land . . . Die Priester fragten nicht: Wo findet sich Jahwe? Die Tora-Tradenten kannten mich nicht mehr. Die Hirten empörten sich gegen mich. Die Nabis weissagten im Baal. . . . (vgl. Hos 1 1 , 1 - 5 ; 9 , 1 0 u.ö.).
Die durch menschliche Taten seit langem angelegte Katastrophe wird von Jahwe nun herbeigeführt. Ihr Eintreffen ist nicht nur eine Erfüllung prophetischer Weissagung, sondern zugleich eine unheimliche Erfüllung der Volksgeschichte. Uneinig ist sich die Forschung, ob die frühen Schriftpropheten wie Arnos, Hosea, Micha, Jesaja, mit der Möglichkeit einer Restitutation Israels nach geschehendem Untergang rechnen oder ob die Katastrophe für sie das Ende der Geschichte darstellt, und Jahwe sich „solipsistisch" von der Schöpfung zurückzieht. Ab 7./6. Jh. rechnen die Propheten jedenfalls mit einer zweiten Kehre nach dem großen Untergang. Sie weissagen mehr und mehr von Israels Sammlung aus der Zerstreuung, zweitem Exodus, Wiedervereinigung von Nord- und Südreich, Neubau Jerusalems, Wiederweihe des Tempels, besserer Verfassung (Ez 4 0 - 4 8 ) , anthropologischer Veränderung des Vernunftherzens (leb), Begabung mit dauerhafter Kraft zur Gemeinschaftstreue {stzdxq) und nicht zuletzt neuem —»Bund (Hos 2 , 1 6 - 2 3 ; Jer 3 1 , 3 1 - 3 4 ; 32,40; 50,5; Jes 55,3; Ez 16,60). Mit dem Heil, das sich damit realisiert und die Geschichte auf einer qualitativ veränderten Ebene weiterlaufen läßt (z. B. Jes 9; 11 mit einer besseren davidischen Dynastie), wird Jahwe endlich „euer Gott sein" (Jer 31,33; Ez 36,28), was er anscheinend während der
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gesamten vergangenen Geschichte im Vollsinn noch nicht gewesen war. An jenen Zielpunkt angelangt, wird das Volk im Rückblick J a h w e endgültig erkennen (Jes 4 9 , 2 3 . 2 6 ; Ez 3 7 , 1 2 f ; 3 9 , 2 8 ) . Schematisch läßt sich das prophetische Geschichtsbild mit einer doppelt gebrochenen Linie vergleichen, deren zweiter Höhepunkt den ersten übersteigt:
Neues Israel Zion/David Landnahme
Untergang Israels
Die Prophetensprüche beziehen sich auf akute Auseinandersetzungen mit den Hörern und zielen nicht auf theoretische Systematik. Dennoch steht ihnen ein Bild der gesamten, Menschheit wie Natur umfassenden Gottesgeschichte vor Augen, etwa bei Jesajas Rede von Jahwes „Plan" und „Werk", beim Hinweis auf den göttlichen „Weg" bei Jeremia und Ezechiel oder bei —»Deuterojesajas Gegenüberstellung von „urzeitlichen Tatsachen" und „hernachkommenden" (Jes 41,22f; 42,9; 43,18 f u.ö.). Die Kontinuität des Ganges der Geschichte über alle Brüche und Kehren hinweg gründet nach Ezechiel im „Namen" Jahwes, der die Erinnerung an alle entscheidenden Gottestaten in sich zusammenfaßt. „In der überlegenen, umgreifenden Treue Gottes . . . wurzelt die Kontinuität der Gesamtgeschichte. Das ist die prophetische Gewißheit" (Wolff, Geschichtsverständnis 303). Geschichte spielt sich nicht allein in der Verkettung äußerer Ereignisse ab, sondern zugleich in und durch das „Gespräch" Gottes mit seinem Volk. 5. —»Deuteronomistisches
Geschichtswerk
Die Bücher (Dtn) Jos*, Jdc, I—II Sam, I—II Reg sind als zusammenfassende Darstellung der Geschichte Judas und Israels von der Mosezeit bis zum babylonischen Exil in der Zeit tiefster nationaler Erniedrigung nach 562 v. Chr. geschrieben. Den Gründen des Untergangs nachspürend, bietet das Werk „eine einzige große Ätiologie des Landverlustes" (Weippert 435), der auf ein durch Jahrhunderte fortgesetztes Versagen des Volkes zurückgeführt wird, das die mächtigste aller Gottheiten sich zum Eigentumsvolk in den Erzvätertagen erwählt hatte und dessen Heilszone es durch ständigen Abfall verlassen hat. Mit der kritischen Disqualifikation der eigenen Volks- und Kultgemeinschaft hat das DtrG innerhalb der Literatur des Altertums nicht seinesgleichen. Die Wurzeln liegen ebensosehr in der kritischen Prophetie wie der höfischen Geschichtsüberlieferung Jerusalems. Das aus schriftlichen und mündlichen Quellen aufgenommene Material wird in eine Chronologie eingespannt, die mit dem Exodus aus Ägypten einsetzt, die Richterzeit in ungefähr gleichartige Intervalle gliedert und dadurch 4 8 0 J a h r e bis zum Tempelbau zählt (I Reg 6 , 1 ; 1 2 x 4 0 ) , an die sich bis zur Zerstörung des Tempels 4 3 0 Königsjahre und danach wohl ein - » J u b e l j a h r ( 5 0 Jahre) erwarteter Exilsdauer anreihen (Koch: V T 2 8 nach Wellhausen), so daß die gesamte Ära 9 6 0 J a h r e umfaßt.
Der Tempelbau Salomos (—»Tempel) stellt, wie Gebet und Lobpreis des Königs in der Mitte des Werks hervorheben (I Reg 8), sich auch dadurch als Höhepunkt dar, als mit ihm der himmlische Jahwe das Ziel erreicht hat, daß sein Name für alle Zeiten auf Erden „wohnt", seine Einzigkeit im göttlichem Bereich sich in der Einzigkeit einer irdischen Kultstätte eindrucksvoll abbildet. Zugleich hat durch den einzigartigen Segen der hier stattfindenden Begehungen das erwählte Volk seine „Freiheit" (m e nühä) erlangt, auf die es seit der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten zuwanderte. Das markiert die Stunde der Erfüllung schlechthin. „Kein einziges Wort vom ganzen guten Wort, das er durch seinen Diener Mose gesprochen hatte, ist hingefallen" (I Reg 8,56; vgl. 9,3). Im Zusammenhang mit dem Haus für den Gottesnamen wird auf dem Zion das „Haus Davids" als ewige Dynastie (Veijola) für
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alle Zeiten erwählt, der jeweilige Repräsentant zum Sohn Jahwes erhoben, um Frieden und Freiheit für Israel zu sichern (II Sam 7,8 ff). Während frühere Versuche, Israel ein Königtum zu errichten, als eigenmächtige Abwehr der Herrschaft Jahwes beurteilt werden (Jdc 8 f; I Sam 8), entspringt das Zionskönigtum Gottes ureigenstem Wollen. Auf den Salomotempel hatte nach dem DtrG schon Mose durch das —>Deuteronominm hingewiesen. Seit der Landnahme in Geltung, hat es Jahrhunderte lang Israel zum „Heiligen V o l k " erzogen, um eines Tages die Namensgegenwart an heiliger Stätte zu ermöglichen. Die —»Tora stellt also für DtrG eine durch und durch geschichts- und kultbezogene Größe dar, keinen individuellen Moralkodex (—»Gesetz). Sie zeigt, wie der Israelit sich in die Gottesgeschichte einzugliedern hat, damit sie für ihn sich heilvoll auswirkt. Von da aus entsteht die These, daß die vergangene Geschichte stets dann eine positive Wendung nahm, wenn Könige als die alleinhandelnden Repräsentanten der Corporate Personality Israels in der staatlichen Epoche sich am Wohl des Tempels in Jerusalem orientierten und daß dann Unglück nahte, wenn solches nicht geschah. Das ist kühner Anachronismus, werden doch Tora und Kultzentralisation vermutlich erst gegen Ende des 7. J h . v. Chr. zum Programm. Dennoch gelingt es dem DtrG in erstaunlicher Weise, das von ihm aufgenommene, völlig anders orientierte Material diesem einzigen Kriterium von- Gut und Böse in der Geschichte zuzuordnen. Erst moderne historische Kritik hat den konstruierten Charakter solcher Geschichtsschreibung entdeckt. Die einheitliche Wirkung erzielt das DtrG a) durch eine gezielte Auswahl der ihm verfügbaren Nachrichten. Von einem so erfolgreichen König wie —»Ahab z. B. werden I Reg 1 6 , 2 9 - 2 2 , 4 0 nur Maßnahmen zugunsten des Kultes des Baal von Tyros und die Auseinandersetzungen mit Propheten berichtet, nichts von seiner entscheidenden Rolle in der antiassyrischen Koalition seiner Zeit! In ähnlicher Weise werden durchweg die kultischen Aktivitäten der Könige in den Vordergrund gestellt, politischmilitärische nur ausnahmsweise erwähnt, b) Zudem flicht das DtrG an entscheidenden Wendepunkten Reden, Gebete oder Kommentare ein, die von ihm selbst formuliert sind und das Gefälle der jeweiligen Epoche herausstreichen (Jos 23; I Sam 12; II Sam 7; I Reg 8; II Reg 17). c) Hinzutreten sterotype Rahmennotizen mit einer religiös-kultischen Zensur jeder Ära. Für die vorstaatliche Zeit lauten sie etwa: Nach dem Tod des (Schopheten) A taten die Israeliten das Böse in den Augen Jahwes. Da überließ er sie dem (Fremdherrscher) B . . . Darauf erhoben die Israeliten Klage zu Jahwe. . . und Jahwe wirkte ihnen einen Retter C . . . Und das Land bekam 40 Jahre Ruhe (Jdc 3,7-15; 4,1-6; 6,1-14; 10,6-13; 13,1-5). Für die Königszeit lauten sie später, meist negativ gewendet: X Jahre war A, als er König wurde, und Y Jahre regierte er . . . Er tat das Böse/das Gerade in den Augen Jahwes. . . . - Und die übrige Geschichte von A und alles, was er getan hat, das ist aufgezeichnet in den Büchern der Tage der Könige von Juda/Israel . . . und A legte sich zu seinen Vätern schlafen . . . (I Reg 2 , 1 0 - 1 6 ; 1 1 , 4 1 - 4 3 ; 14,19f. 2 1 - 2 4 usw.).
Das Böse für die Augen Jahwes besteht in der Frühzeit im Abfall zu fremden Göttern, zu Baalen und Astarten, denen die Invasion fremder Völker in das Land auf dem Fuße folgt. Für spätere Zeit hingegen besteht es in einem vom Deuteronomium verbotenen abartigen Jahwekult auf Kulthöhen mit Äscheren und Masseben oder an Tempeln des Nordreichs wie Bethel. Solches Vergehen ruft den Zorn Jahwes hervor; als Schuldenlast über dem Land summiert es sich Generationen lang bis zum unausweichlichen Untergang des Nordens und Südens. Jahwe sieht sich am Ende gezwungen, das erwählte Volk von seinem Angesicht und aus seinem Land zu vertreiben (I Reg 9 , 7 - 9; II Reg 1 7 , 2 0 . 2 3 ; 2 3 , 2 7 ) . Während für die Frühzeit das Volk insgesamt verantwortlich zeichnet, gilt für die spätere Zeit der König als einzig handelndes Subjekt, ein „geradezu altertümlich anmutendes Kollektivdenken" (v. Rad, Theol. des A T I, 3 5 6 ) . Die Leistung der Deuteronomisten besteht darin, daß sie die von den Propheten behauptete Wirkung menschlicher Frevelsphären auf das nationale Geschick mit der deuteronomischen Tora und der Uberzeugung vom Zion als Stätte einzigartiger Gottesgegenwart verbinden und das alles in eine konkrete Geschichte einzeichnen. Das DtrG zeichnet einen Geschehensablauf, der von Mose bis Salomo aufwärts führt, um von da bis zur Tempelzerstörung weiter und weiter abzufallen. Daraus ergibt sich jedoch nicht, wie bei den meisten Propheten, die Unterscheidung einer durch besondere Geschehensqualitäten ausgezeichneten
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Heilsgeschichte und einer andersartigen Unheilsgeschichte, in der menschliche Subjekte in den Vordergrund treten. Menschlicher Abfall geschieht viel mehr von Anfang an. Und die von Propheten vorgetragenen, geschichtsschaffenden Jahweworte ergehen und erfüllen sich zu allen Zeiten (Jos 21,45; 23,14; I Reg 12,15; II Reg 10,10 u.ö.). Durch Umkehr der betroffenen Gruppe kann ein angekündigtes Unheil jederzeit für einige Jahre aufgehalten werden (I Reg 21,29; II Reg 10,30; 23,26). Die Grundsätze, nach denen Jahwe durch sein Wort und zusätzliche Reaktion auf menschliches Tun die Geschichte gestaltet, bleiben also zu allen Zeiten die gleichen. So lassen sich hier erstmals Ansätze zu einem „linearen" Geschichtsverständnis greifen. 6. —»Chronistisches Geschichtswerk
(ChrG), Nehemia,
Esther
Am Ausgang der Perserzeit entsteht eine umfassende geschichtliche Darstellung (dibre häjjamim, s. TRE 8,80) über die Zeit von der Schöpfung bis zur Neuordnung des nachexilischen Kultes unter den Perserkönigen, um die Kontinuität des Volkes Israel über die dunkle Phase des Exils hinaus nachzuweisen. Das ChrG umfaßt I/II Chr und vermutlich den Grundbestand von III Esra (= Esra + Neh 8—10). Die Zeit von Adam bis Saul wird durch Listen in einer genealogischen Vorhalle (I Chr 1 - 9 ) geboten. Dann folgt ab dem Untergang Sauls eine Geschichte Davids, die in dessen Vorbereitungen für den Tempelbau gipfelt (I Chr 1 0 - 2 9 ) . Salomos geschichtliches Werk vollendet sich mit der Tempelweihe (II Chr 1 - 9 , bes. 8 , 1 6 ) . Danach folgt die Darstellung d e r Z e i t nach der Reichstrennung, d i e - a n d e r s als im DtrG - auf das Südreich beschränkt bleibt und mit Exil und nachfolgendem Kyrosedikt endet (II Chr 1 0 - 3 6 ) . Es folgen die Wiederherstellung des Tempels (Esr 1 - 6 ) und die Wiedereinführung der T o r a durch Esra mit feierlicher Verpflichtung des Volkes (Esr 7 - 1 0 ; Neh 8 - 1 0 ) .
Obwohl wie.das DtrG von der Anwesenheit Gottes an einer einzigen Kultstätte und der Konzentration aller wesentlichen Geschichte auf diesen Ort überzeugt, schreiben die Chronisten die Geschichte „um". Die deuteronomistische Uberzeugung, daß die Könige die einzig verantwortlichen Subjekte der Geschichte Israels seien, und dies nicht als Einzelgestalten, sondern im Zusammenhang der Dynastie, wo sich der Sünde-Unheil-Zusammenhang weiter vererbt, bis er nach Jahrhunderten in der Katastrophe des Exils endet, wird revidiert. Dem ChrG erscheint zwar die davidische Dynastie über das DtrG hinaus auf dem Thron Jahwes selbst sitzend (II Chr 9,8; vgl. 13,8); ein gottgewolltes Königtum in Nordisrael gibt es nicht, vielmehr gehört jener Bereich auch nach Rehabeam eigentlich zu Jerusalem (II Chr 14,9; 28,12 ff). Doch die Ausnahmestellung der Könige gegenüber dem übrigen Volk wird erheblich reduziert. Von gemilderten Strafen bei Königsübertretungen verlautet nichts mehr (II Sam 7,14; vgl. I Chr 17,13); priesterliches Tun der Könige erscheint illegitim (anders I Sam 6,17). Zwar wird am kollektiven Tun-Ergehen-Zusammenhang festgehalten, doch so, daß jede Generation für sich selbst steht und das ihr zukommende Geschick erfährt. Das gilt als so selbstverständlich, daß das ChrG geschichtlichen Erfolg als Erweis entsprechender Tatsphären beim betroffenen König ansieht und unbedenklich entsprechende Tatsachen als geschehen postuliert. Vor Korrekturen der vom DtrG vermeldeten Fakten wird nicht zurückgescheut. Da —>Salomo größer war als alle Könige der Erde (I Chr 9 , 2 2 ) , war er in seiner Lebensführung ohne Makel und voll Weisheit. Der vom DtrG überaus negativ bewertete —»Manasse hat unverhältnismäßig lang in Frieden regiert, also kann er in kultischer Hinsicht nicht nur versagt haben (II Reg 2 1 ) , sondern hat sich in entscheidender Stunde bekehrt (II Chr 3 3 , 1 1 ff). Die Einnahme Jerusalems durch die Neubabylonier mit Zerstörung des Tempels stellt nicht den Schlußpunkt einer Jahrhunderte lang angewachsenen Schuldenlast über dem Könighaus dar, sondern ist Wirkung des damals regierenden —>Zedekia mit seiner Treulosigkeit (II Chr 3 6 , 1 2 f ) . Bei dieser größten Katastrophe der Geschichte wie auch sonst bei einschneidenden Ereignissen beeilen sich die Chronisten hinzuzusetzen, daß keineswegs der König allein fehlte, sondern das ganze Volk mitverantwortlich zeichnete (II Chr 3 6 , 1 4 f ; vgl. I Chr 1 3 , 1 - 4 u.ö.).
Als Maßstab für heil- oder unheilvolle Entwicklung gilt wie in der Vorlage das Gesetz Moses, doch nicht mehr auf die Kultzentralisation zugespitzt, sondern in seinem ganzen Umfang. Gott selbst hält sich an die Tora, wenn er Fremde in Israel eindringen läßt (I Chr 10; vgl. I Sam 6). Gute Könige lassen durch Leviten das Volk im Gesetz unterweisen (II Chr 14,3;
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17,8 f). Doch die Mosezeit hat ihren urzeitlichen Charakter verloren und tritt gegenüber der hohen Zeit Davids und des Tempelbaus zurück. Das —>Exil vertreibt zwar (wie II Reg) ganz Israel aus seinem Land, führt es aber, wie prophetisch geweissagt, nach 70 Jahren wieder zurück. Gott hat inzwischen seinen „Geist" j auf den Perserkönig kommen lassen und das für die zukünftige Geschichte entscheidende Kyrosedikt hervorgerufen (Esr 1,1). Von einem gebrochenen Bund, wie ihn prophetische Äußerungen behaupteten, kann nicht die Rede sein. Doch die Wiederherstellung Israels ist noch nicht vollendet. Die Weihe des zweiten Tempels wird als ein klägliches Ereignis geschildert (Esr 6,16—18); etwas zustimmender wird von der öffentlichen Einführung der 10 Tora und dem nachfolgenden Schwur des Volkes berichtet (Neh 8; 10). Aber auch hierbei (Neh 8,9!) gibt es keine Entsprechung zur Begeisterung anläßlich der Einweihung des Salomotempels, als sich die göttliche Herrlichkeit auf dem Zion zeigte (II Chr 7!). 15
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Angesichts der in der Forschung diskutierten Alternative, ob das ChrG sich am Ende der Wege Gottes angelangt sieht und eine nachexilische Theokratie verherrlichen will (Plöger), oder ob die Hinweise auf das ewige Königtum Davids eine versteckte —»Eschatologie voraussetzen (v. Rad), scheint sich die Diskussion in den letzten Jahren der zweiten Möglichkeit zuzuneigen. Dazu paßt, daß das Esragebet von einem „kleinen Aufleben" durch die Restauration redet (Esr 9,8) und am Ende die Klage bleibt (Neh 9,36): „Das Land, das du unseren Vätern gegeben . . . - in ihm sind wir Knechte!" Sollte ein Knechtszustand das Ende der Wege Gottes bedeuten? Die Geschichtsdarstellung des ChrG hat herben Tadel erfahren. Schon Wellhausen (Kap. 6) hat das „Zudecken der Schande der Heiligen" beklagt; v. Rad spricht vom „Versagen gegenüber der Wirklichkeit des Menschen" (Theol. des AT 1,365). Nicht zu bestreiten ist, daß die Chronisten ihre metahistorischen Prämissen über historisch erhebbare Tatsachen stellen und zur Basis gewagter Konstruktionen werden lassen. Andererseits aber sind die einschneidenden Korrekturen am Königsabsolutismus des DtrG nicht nur theologisch, sondern wohl auch historisch durchaus berechtigt. Die sekundär dem ChrG eingegliederte Denkschrift des vom Perserkönig nach Jerusalem entsandten Stadthalters —>Nehemia (Neh 1 - 6 . 1 0 — 1 3 * ) will durch Darlegen der Leistungen zugunsten Jerusalems und des Tempels das wirkungskräftige Gedenken Jahwes an den eigenen Tun-Ergehen-Zusammenhang befördern. Die politische Ohnmacht des nachexilischen Israel führt mehr und mehr zu einem Verkennen der auf der realen historischen Ebene entscheidenden Faktoren. Das Buch —»Esther lieferte wohl im 3. Jh. eine phantastische Ätiologie des Purimfestes, die aus Umtrieben am persischen Hof, aus Angriffen auf judäische „Aufsteiger" und deren erfolgreiche Verteidigung hergeleitet wird, wobei von einem göttlichen Walten nichts verlautet.
7. —> Apokalyptik Das spätisraelitische Zeitalter hebt mit groß angelegten Entwürfen an, um das Geheimnis der Geschichte insgesamt zu lüften. Angesichts internationaler Hochschätzung von geheimer Erfahrung, Traumdeutung und—»Astrologie unternehmen es israelitische Kreise, die eigene, als bedrückend empfundene Gegenwart unter fremdvölkischer Herrschaft metahistorisch zu erklären. Als Grundlage dienen weithin kanonisch gewordene Prophetenschriften, welche als Rätselworte verstanden werden, die durch eine zweite Offenbarung nunmehr endgültig Deutung ( p x s x r ) erfahren und die Geheimnisse von Geschichte und Ende offenlegen. Daraus ergibt sich ein Geschichtsbild, das (nach Sach 2,1—4 u.a.) mit einer Folge von vier Weltreichen rechnet: (Assyrien —)Babylonien, Medien und/oder Persien, Griechenland (Diadochen) und — in jüngeren Texten — Rom. Diese haben nach Gottes Willen die Zeit des israelitischen Königreiches seit der Zerstörung des Tempels abgelöst und zeigen zunehmend bösartigere Züge, jedenfalls gilt das für das vierte Reich und insbesondere dessen letzten König, der Züge eines Antimessias (—»Antichrist) annimmt, seine Hybris und Unmenschlichkeit führen zu einer letzten schweren Verfolgung der ihrem Gott getreuen Israeliten (Dan 2; 7 usw.). Das Interesse verlagert sich von der National- auf die Universalgeschichte, ohne daß das Volk des Bundes seinen besonderen Rang verliert. Deshalb wird die Weltreichs-Konzeption ausgeweitet, mit einem Aufriß universaler Epochen seit der Schöpfung verbunden (äth Hen 89; 93; syr Bar 53 ff) und in eine überirdische Vor- und Parallelgeschichte mit Satan und bösen Dämonen (äth Hen 6—11 z.B.), Erz- und Völkerengeln (Dan 10) einbezogen.
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Derartige Geschichtsabrisse werden als vaticinia ex eventu einem Gottesmann der Vergangenheit in den Mund gelegt (Henoch, Abraham, Mose, Baruch, Daniel, der Sibylle usw.). Sie gehen innerhalb der Texte in echte Weissagungen einer dramatisch ablaufenden Endzeit über. Die —»Eschatologie verheißt den Sturz der letzten Weltmacht durch wunderhaften göttlichen Eingriff (z.B. Dan 11,45) oder eine messianische Gestalt (IV Esr 11; —>Messias). Jüngere Apokalypsen künden in diesem Zusammenhang einen regelrechten Weltuntergang. In jedem Falle folgt dann die Kehre mit einer Auferstehung ausgewählter oder aller Toten und einem forensischen Endgericht (-»Gericht Gottes), bei dem das Urteil über jeden Menschen (je nach seinen Taten, die himmlische Bücher verzeichnen) zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis gefällt wird. Zum Gerichtsakt oder danach wird „einer wie ein Menschensohn" von Gott eingesetzt, um zusammen mit den Heiligen (der) Höchsten einem Reich vorzustehen, das alle Völker, Nationen und Sprachen umfaßt und nie vergeht (Dan 7,13 f; äth Hen 37ff) und durch ewige Gerechtigkeit gekennzeichnet ist (Dan 9,24). Damit beginnt eine neue Weltzeit (hebr 'olam, aram. 'almä), die in weitere übergehen mag (Dan 2,44; 7,18; äth Hen 91; die jüngere Apokalyptik und das Neue Testament beschränken sich allerdings auf die Rede von einem vergehenden und einem kommenden Aion) So sehr auch in der apokalyptischen Eschatologie die Bedingungen menschlicher Geschichte einer grundsätzlichen künftigen Veränderung unterworfen werden, so wenig erscheint es andererseits angemessen, hier von der Sicht eines „Endes der Geschichte" zu sprechen. Bezeichnenderweise geschieht der Ubergang von Geschichtslehre zur Eschatologie an manchen Stellen so gleitend, daß die Exegeten sich unklar sind, wo das eine aufhört und das andere beginnt (z.B. Dan l l , 4 0 f f ; äth Hen 89f). Die vergehende Weltzeit ist von Gott nach Zahlen und Fristen geordnet (Dan 9 , 2 4 ff; vgl. die Priesterschrift und Berossos). Im Blick auf die bevorstehende eschatologische Wende erlauben die Zahlenharmonien ein Zutrauen zu den von Gott gesetzten Befristungen der Zeit und eine entsprechende Berechnung der Tage, in denen die Unterdrückung andauert. Dieser Aspekt hat den Apokalyptikern den Vorwurf des Determinismus eingetragen, der aber nicht auf das Geschick des einzelnen bezogen werden darf; dieser gilt vielmehr nach wie vor als fähig, das göttliche Gesetz zu tun. Zwar gilt die seit Adam begonnene Weltzeit als von Sünde, Irrtum, Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit gekennzeichnet. Das bedeutet aber nicht, daß jede Spur der Schöpfung in ihr verloren gegangen ist. Auch diese Weltzeit hat teil an dem einen „Weg Gottes", der über alle Weltzeit hinausgreift und deshalb menschlichem Begreifen letztlich unzugänglich bleibt (IV Esr 4,1 Of; Koch: BZ NF 22). Wo konkrete geschichtliche Bewegungen beschrieben werden, geschieht das derart abstrakt, daß von Geschichtsschreibung kaum mehr geredet werden kann (—> Jubiläen, —>Pseudo-Philo). In ähnlicher Manier beschreibt man in —>Qumran Geschichte und Gegenwart der Gemeinde und läßt darin verschlüsselte Gestalten mit dem Lehrer der Gerechtigkeit, den Frevelpriester, Lügenmann u.ä. agieren. Die Leistung dieser Bewegung besteht darin, daß sie a) die nachexilische Geschichte Israels, in der das Volk keine einheitlich handelnde geschichtliche.Größe mehr war, metahistorisch aufarbeitet, b) die Geschichte Israels nicht nur in die Menschheitsgeschichte insgesamt, sondern in diejenige des Kosmos einbezieht und c) das Individuum durch den Hinweis auf rechtschaffende Taten, die als „Schatz im H i m m e l " zum T a g e der Auferstehung gespeichert werden, auch in Verfolgungszeiten zur Treue aufruft. 8. Von den Makkabäerbüchern
bis
Josephus
Neben der spekulativen apokalyptischen Geschichtsbetrachtung bildet sich durch den Makkabäeraufstand (—>Makkabäer/Makkabäerbücher) und die nachfolgende Herrschaft der H a s m o n ä e r und des Herodes wieder ein Interesse für den realen Lauf des Geschehens. Parallel dazu greift die späte Weisheit das T h e m a .Geschichte' auf (Sir 4 4 - 5 0 ; Weish lOff). Das I. Makkabäerbuch stellt die Aufstandszeit als aktualisierte Richterzeit dar, in der Gott durch heilige Kriege rettend eingreift und danach das Land „Ruhe" gewinnt (14,4; 16,2 u.ö.). In einem fünfbändigen Werk, von dem das ¡1. Makkabäerbuch einen Auszug bietet, schildert Jason von Kyrene dieselbe Zeit, um aufzuweisen, wie der Tempel von seinem göttlichen Herrn wunderhaft bewahrt wurde. Andere beginnen, alttestamentliche Uberlieferungen mit babylonischen und ägyptischen Nachrichten zu einer Universalgeschichte zu verknüpfen, so Eupolemos (um 150 v. Chr.) und der etwas ältere samaritanische Pseudo-Eupolemos, am Hof Herodes dann mit einer 144-bändigen Universalgeschichte Nikolaus von Damaskus und noch später Justus von Tiberias mit seiner Historie der judäischen Könige. Romanhaft wird die Geschichte des Gottesvolkes mit derjenigen anderer Reiche des Altertums verklammert in Büchern wie -H> Judith, III Makk, —»Aristeasbrief, Artapanos, —>Joseph und Aseneth usw.
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Der Aufstand gegen die Römer 66—70 n. Chr. führt nochmals zu einer zeitgenössischen Beschreibung im Judäiscketi Krieg des Justus von Tiberias und seines Kontrahenten Josephus.
Höhe- und Endpunkt einer schon vom hellenistischen Geist beeinflußten und gleichzeitig gegen die Zuverlässigkeit griechischer Überlieferung aufbegehrenden Historiographie ist —>]osephus Flavius, mit seinen Antiquitates Judaicae und dem theoretischen Traktat Contra Apionem. Josephus leistet für die Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, was das deuteronomistische Geschichtswerk für eine Neubesinnung nach der Zerstörung des ersten geleistet hatte, indem er den Untergang als Erfüllung uralter göttlicher Voraussagen nachweist. Triumphierend weist er für die Gesamtgeschichte Israels gegen die Griechen auf 5000 Jahre gut bezeugter Geschichte, ohne Beimischung von Mythologie, zurück, in der alles, was sich durch Gottes Walten ereignet, der Natur des Universums gemäß geschah (Ant 1,24). Freilich, die Gründe für den Untergang liegen nicht mehr in einem Versagen Israels. Triebkraft der Geschichte ist nunmehr die göttliche Vorsehung gemäß dem hellenistischen Konzept dernQÔvoia (schon Weish 14,3; 17,2; III Makk 4,21; IV Makk 17,22; EpArist 201). Der Tempel wird zerstört, als der von Gott vorherbestimmte Schicksalstag nach dem Umlauf der Zeiten gekommen ist und gemäß einem gerechten Schicksal Vespasian Kaiser wird (Bell IV,4,5; IV,10,7). Geschichtliche Wenden werden durch göttliche Prophezeihungen hervorgerufen; neu ist, daß sie den betroffenen Menschen oft zweideutig erscheinen (Ant VIII, 14,419f). Selbst der Untergang Judas und die Zerstörung des Ersten Tempels erkläre sich aus scheinbar widersprüchlichen Prophezeihungen, die den damaligen König Zedekia zu falschen Entscheidungen verleitet hatten (Ant X , 116). Diese letzte, bis ins christliche Zeitalter heranführende Geschichtsschreibung mit ihrer Betonung der leitenden göttlichen Vorsehung wird im Christentum hoch geschätzt und in manchen Kirchen in den alttestamentlichen Kanon aufgenommen. Das Judentum hat von Josephus kaum Notiz genommen, obwohl ihm keine analoge Erklärung für die letzte große Katastrophe zur Verfügung stand; dies wird mit einem geistigen Umbruch zusammenhängen, der dazu führte, daß die Juden „nach 70 n. Chr. die Darstellung ihrer Geschichte plötzlich abbrachen und sich ganz auf die Entwicklung der im Grunde ahistorischen Halacha und Haggada konzentrierten" (Hengel 185 f). Literatur Zu Abschn. 1.; Mary Boyce, A History of Zoroastrianism, 2 Bde., 1975/1982 (HO 1/8/1/2/2A). Hubert Cancik, Mythische u. hist. Wahrheit, 1970 ( S B S 4 8 ) . - D e r s . , Grundzüge der hethitischen u. atl. Geschichtsschreibung, 1976 (ADPV). - Samuel K. Eddy, The King is Dead. Studies in the Near Eastern Resistance to Hellenism, Lincoln 1961. — J . J . Finkelstein, Mesopotamian Historiography: PAPS 107 (1963) 4 6 1 - 4 7 2 . - Kurt v. Fritz, Die griech. Geschichtsschreibung, Berlin, I 1967. - Hartmut Gese, Gesch. 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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie III
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1.,,Historismus"
als Prinzip des
Judentums
Dem Judentum ist der Geschichtsbegriff wesentlich zueigen, insofern sich die jüdische Religion als historische Religion von jeder Art Natwrreligion scharf abhebt. „Von ihren ersten Anfängen an hat die israelitische Religion ihren Gott als einen Gott der Geschichte betrachtet" (J. Guttmann, Die Phil, des Judentums, 1933, 19). -»Jehuda Hallevi, der in den Dialogen des Kusari das Erlebnis geschichtlicher Ereignisse über jegliches philosophisches Raisonnement gestellt hatte (bes. 1,11 - 2 5 . 8 4 - 8 8 ) , gilt als Vater der historisch interpretierten jüdischen Glaubenslehre. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung kann diesen „Historismus" nur bestätigen. Die Elemente der altisraelitischen Religion gehören zwar durchaus der Umwelt des Orients an, erhalten aber durch ihre Einfügung in einen historischen Gesamtrahmen eine ganz neue Funktion. Die drei Wallfahrtsfeste (-»Feste und Feiertage), die einen wesentlichen Teil des jüdischen Rituals bilden, haben ihre Entsprechung in Frühlings- bzw. Erntefesten. Im Judentum geht dieser naturhafte Ursprung weitgehend verloren, da sie mit markanten Ereignissen aus der Geschichte des Volkes verbunden werden und allein daraus ihren Sinn erhalten. So ist Pesach nicht mehr eine Frühlingsfeier, sondern Vergegenwärtigung des Auszugs aus Ägypten (—»Exodusmotiv); das Wochenfest, das Ex 23,16 noch mit der Ernte der Erstlingsfrüchte begründet, feiert die Ubergabe des —»Gesetzes, während das Laubhüttenfest nicht an die Weinlese, sondern an den Zug des Volkes durch die Wüste erinnert. Mit der Festsetzung des —»Sabbat (und in weiterer Folge des -»Sonntags) haben sich orientalische Traditionen wohl am nachhaltigsten auf unsere Zivilisation ausgewirkt, was jedoch allein der historischen Interpretation durch das Judentum zu verdanken ist. Ein ähnlicher Vorgang liegt bei einem anderen zentralen Punkt des jüdischen Rituals vor, nämlich der —»Beschneidung. Die natürliche Motivierung fällt im Judentum weg, was sich schon darin andeutet, daß aus dem Initiationsritus für heranwachsende Knaben eine Aufnahme von Säuglingen in den —»Bund zwischen Gott undAbraham geworden ist. Eine an ein als historisch überliefertes Ereignis (Gen 1 7 , 1 0 - 1 4 ) geknüpfte Vorschrift begründet eine Handlung, die, an sich nur eine ethnologische Erscheinung, kraft dieser Verankerung einige Jahrtausende und wechselnde Kulturen, schließlich auch die Einwände der Reformsynagoge, überlebt hat. Das jüdische Weltbild orientiert sich demnach an einem linearen Verlauf der Geschichte, der, mit der Erschaffung beginnend, die —»Erwählung Israels sowie alle folgenden Ereignisse
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verzeichnet und auch die Zukunft nicht unbestimmt läßt, insofern am Ende die messianische Erlösung als Ziel feststeht. Der Anspruch auf Erwählung oder auf eine zentrale Stellung im Weltgeschehen tritt nicht selten in der Überlieferung von Völkern auf; im Falle des jüdischen Volkes folgte jedoch aus diesen Prämissen eine so widerspruchsvolle und unerklärbare Geschichte, daß es auch nach außen hin einzig und von allen anderen verschieden erscheint. Es tritt also der Fall ein, daß gewisse geistige Kräfte sich stärker erweisen als staatliche Einrichtungen auf einer geographischen Grundlage, d. h. als ein eigener Staat im eigenen Land; denn auf diese beiden Voraussetzungen müssen die Juden spätestens seit dem Jahre 70 n.Chr. verzichten. Das Uberleben des jüdischen Volkes ist nicht unbedingt biologisches Faktum oder historisches Wunder, sondern ein psychologisch begründetes Kontinuum, indem die Identifizierung mit den Vätern (Abraham unser Vater) eine kollektive Selbstvorstellung schuf (Agus). Das Kontinuum ist und bleibt ein Phänomen, dessen Faszination durch unfreundliche Formulierungen — z.B. „a fossil of the extinct Syriac Society" (A. Toynbee, A Study of History, V 1933, 126) - nicht gemindert wird. Wesen und Wert der —»Diaspora sind bis heute nicht verbindlich definiert, zumal im Staat Israel ein Gegengewicht entstanden ist. Die Diaspora als Vehikel der Mission Israels unter den Völkern wird gern als vordergründige Erklärung des liberalen Judentums abgetan; der providentielle Charakter der Galut (—»Exil) ist aber immer erkannt worden, nicht zuletzt als physischer Schutz vor vollkommener Vernichtung. S.W. Baron bezeichnet die Loslösung des jüdischen Volkes von Land und Staat als eine Emanzipation, die in exemplarischer Weise die Überwindung der Natur durch die Geschichte widerspiegle (SRH 1,16 ff). 2. Vernachlässigung
der Geschichte
in der jüdischen
Literatur
Obgleich die Geschichte des jüdischen Volkes die Geschichte anderer Völker an Dauer übertrifft und ihr auch nicht an dramatischer Entwicklung nachsteht, haben die Juden in nachbiblischer Zeit (Spätantike und Mittelalter) auf Chroniken, geschweige besondere historische Darstellungen, wenig oder keine Mühe verwendet. Die Aufarbeitung der schriftlichen und mündlichen Tora beanspruchte die intellektuelle Energie voll. Außerdem hätte der Wechsel der Exilorte eine Erforschung der Vergangenheit in vielen Fällen verhindert. Zunächst begegnet uns in dem jüdisch-hellenistischen Schriftsteller —»Josephus Flavius noch eine Ausnahme. Josephus wurde außerhalb, später auch innerhalb des Judentums zum Begriff des Geschichtsschreibers. An ihn und seinen Namen lehnt sich das Volksbuch —>]osippon (Süditalien, 10. Jh.) an. Der jüdische Chronist Josef Hakkohen (16. Jh.) wie derprotestantische Gelehrte Jacques Basnage (um 1700) wollten ihre Werke als Continuation ä l'Histoire de Joseph verstanden wissen. Die Geschichte hatte im jüdischen Geistesleben weder Ansehen noch Zweck. Sie wurde selbst von dem weltaufgeschlossenen Philosophen —»Mose ben Maimon als Zeitverlust ohne wissenschaftlichen oder moralischen Wert abgetan (Komm, zu San 10,1). S. Dubnow spricht daher von einem „Gefühl der Beschämung bei dem Gedanken, daß eine Nation, die der Welt in der Bibel die ersten großen Musterbeispiele aller Historiographie gegeben hatte, nunmehr die Kraft eingebüßt hat, ihre Erlebnisse sogar in schlichten Chroniken festzuhalten" (Weltgesch. III, 556f). Die Erklärung dafür ist darin zu sehen, daß die übermächtige Bedeutung der zentralen biblischen Ereignisse die zeitgenössische Geschichte verblassen ließ, ja deren Aufzeichnung geradezu überflüssig machte, weil ein für alle Zeiten gültiges Paradigma der Geschichte schon vorlag. Geschichte ist für den Juden wesentlich mehr als die der Muse Klio geweihte Kunst; er weiß sich nämlich verpflichtet, die Erinnerung an vergangene Ereignisse bis zur völligen Identifizierung mit ihnen zu steigern (s.mPes 10,5). Diese Identifizierung führt zu einer außerordentlichen Kollektiverinnerung, die Zeit und Ort mühelos überwindet, doch das Nächstliegende unbeachtet läßt. Man hielt es für sinnlos, die Vorfälle in der Diaspora aufzuzeichnen: „Gedenkt nicht des Vergangenen, schaut nicht auf das Alte" (Jes 43,18). Der Talmud erläutert dazu, daß ein Mensch, der ständig von Unglücken verfolgt werde, sich je-
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weils nur das letzte merke. „So ergeht es auch Israel, die letzten Bedrängnisse lassen es die ersten vergessen" (bBer 13 a). Der historische Sinn mußte auf volkstümliche Schriften ausweichen, wie das erwähnte Buch Josippon, oder in das benachbarte Gebiet der Reiseerzählungen (Benjamin von Tudela, Petachja von Regensburg). Als später die jiddische Literatur entstand, erhielten in ihr bezeichnenderweise geschichtliche Themen einen ungleich größeren Anteil als in den hebräisch verfaßten Schriften. — Die gelehrte (hebräische) Literatur reduzierte Geschichte grundsätzlich auf Alt Ableitung der Tradition und dieBerichte einzelner Verfolgungen und —>Martyrien. Die einfachste Form der Ableitung der Tradition ist eine Genealogie, die die Generationen von Lehrern und Schülern bis zur Gegenwart festhält, wozu schon mAv 1 das Muster liefert. Die Aufeinanderfolge von Tannaiten und Amoräern ist wesentlicher Gegenstand dieser Art von Geschichte, deren erstes Werk, Seder 'olam rabba, dem R. Josse ben Chalafta zugeschrieben, noch auf talmudische Zeit zurückgeht. Das wichtigste Dokument dieser Gattung, dank seiner Ausführlichkeit und der Kompetenz seines Autors, ist der Brief des Scherira Gaon, des Rektors der Akademie von Pumbedita (10. Jh.), der die Entwicklung der Halacha bis in seine Zeit gründlich untersucht, dazu herausgefordert durch die an ihn gerichtete Frage: Wie wurde die Mischna geschrieben? — Es folgt ein klassisch gewordenes Werk, das Buch der Tradition (sefer haqqabbala) des —»Abraham Ibn Daud von Toledo (12. Jh.), stark an Scherira angelehnt und danach den Übergang zu den Gelehrtenschulen Spaniens beschreibend. Ibn Daud verfolgte im übrigen bestimmte apologetische Zwecke, indem er gegen die Chronologie der Evangelien wie gegen dassola-scriptura-Vrinzip der —»Karäer argumentierte. Die Gezerot 48S6 — gemeint sind die Mordzüge des Kreuzfahrerheers gegen die deutschen Judengemeinden im Jahre 1096 — sind besonders eindrucksvolle Berichte über Verfolgungen und Martyrien. Sie enthalten exakte Angaben über die schrecklichen Ereignisse, werfen aber auch schwierige textkritische Fragen auf. Hinzu kommen Erzählungen von späteren Martyrien. Man darf als Ursprung ein Martyrologium annehmen, das von den Gemeinden offiziell angefertigt wurde, entsprechend der Sitte der „Memorbücher", die das Gedächtnis der Heiligen (=Märtyrer) bewahrten, und zwar zum Gebrauch innerhalb einer größeren Konföderation von Gemeinden — offensichtlich eine Anleihe bei der kirchlichen commemoratio defunctorum (—»Heilige/Heiligenverehrung). 3. Chronisten und
Theoretiker
Die Vertreibung der Juden aus den Staaten der iberischen Halbinsel (1492 beginnend), womit eine wirtschaftlich und kulturell hochentwickelte Gemeinschaft gleichsam über Nacht ausgelöscht wurde, forderte eine Reihe hebräischer Schriftsteller zu geschichtlichen Darstellungen und Betrachtungen über das jüdische Schicksal heraus. Es waren meistens Flüchtlinge oder ihre Nachkommen, die sich nach Italien gerettet hatten. So ist auch der Einfluß der —»Renaissance einzurechnen, der den italienischen Juden einen Vorgeschmack der Aufklärung vermittelt hatte. Der erweiterte Horizont der Autoren und die allenthalben errichteten hebräischen Buchdruckereien beförderten ein reges literarisches Leben. Eliajahu Capsali (gest. 1555) gehörte dem spanischen Judentum nicht an; er lebte als Arzt in Kreta und hatte in Italien studiert. Der Republik Venedig und dem Osmanischen Reiche widmete er je eine Chronik. Dabei erzählte er auch die Geschichte der spanischen und portugiesischen Juden, wozu ihm als Quelle schriftliche Unterlagen und mündliche Berichte dienten, darunter auch viel legendärer Stoff. Ein bedeutenderer Autor ist Abraham Zacuto, in Spanien als Mathematiker und Astronom berühmt, der im Exil von Tunis sich der Geschichte zuwendete und in seinem Sefer Juchasin (1504) die früheren Aufzeichnungen über die jüdische Tradition kompilierte. Nach den Listen der rabbinischen Gelehrten aller Generationen folgt im letzten Teil eine allgemeine Chronik, die schon wegen der Zitierung nichtjüdischer Autoren einen profanen Eindruck erweckt. Zacuto selbst hatte dabei Bedenken und begründet sein Vorgehen damit, daß ein Jude, der unter Christen lebt, ohne Geschichts-
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kenntnisse nicht auskomme. - Das WerkSebef Jehuda wurde um 1520 in Neapel von Salomon Ibn Verga aus Kastilien geschrieben, „eine Perle in der dürftigen historischen Literatur der Juden" (Baer, Unters. 84). Die Kapitel des Buches sind in Thema und Form sehr verschieden, kreisen aber letztlich um die spanische Katastrophe. Sie berichten die Leiden der Juden und suchen deren Ursachen zu ergründen, wobei der Autor auch vor scharfer Kritik am eigenen Volk nicht zurückschreckt. - Josef (ben Josua) Hakkohen, als Kind spanischer Eltern geboren, lebte als Arzt in verschiedenen Orten Italiens (gest. nach 1575) und schrieb zwei historische Werke: eine Chronik der fränkischen und ottomanischen Könige, und das Tal der Tränen ('emeq habbakha). Er behandelte im ersten die allgemeine Geschichte (Abendland und Morgenland), im zweiten die Geschichte der Juden, die er als eine Reihe von Leiden und Verfolgungen auffaßte. Die Chronik wurde unmittelbar nach ihrer Abfassung gedruckt und machte den Namen des Autors als Historiker bekannt, während 'Emeq erst 1852 in einem Druck ediert wurde. Beide Werke berichten die Ereignisse in chronologischer Form; der nüchterne Stil entspricht dem Willen des Autors, seine Eintragungen möglichst exakt und verläßlich zu halten. In demselben italienischen Milieu schrieb Samuel Usque ein Martyrologium in portugiesischer Sprache: Consolaçâo âs tribulaçoes de Israel. Es ist zwar keine Chronik, sondern eher Gleichnis und dramatisches Gedicht, aber eine Darstellung der jüdischen Tragödie, die große Wirkung ausübte. Ebenfalls in Italien entstand die Kette der Tradition (salselet haqqabbala) von Gedalja Ibn Jachja (gest. 1588), zum Unterschied vom 'Emeq sehr unkritisch zusammengestellt, sie stand aber durch lange Zeit als vielverwendetes Hausbuch in Geltung. Die reichste Frucht der Renaissance war jedoch die Theorie der Geschichte von Azaria de'Rossi (ca. 1 5 1 0 - 1 5 7 7 ) . Dank seiner umfassenden Bildung konnte er z.B. den Zugang zum Erbe des hellenistischen Judentums wiedergewinnen; vor allem unternahm er es, die biblische und die klassische Geschichtsschreibung gegenüberzustellen. Er hatte keine Bedenken, nichtjüdische Autoritäten heranzuziehen, von Homer über die Kirchenväter bis Dante. Seine bleibende Leistung liegt auf dem Gebiet der Chronologie. Als 60jähriger legte er seine Gedanken und kritischen Erkenntnisse in dem mehrteiligen Werk Me'or 'enaim (Luminare oculorum ) nieder. — Trotz der durch die Gegenreform bedingten Rückschläge blieb die theoretisch-kritische Tendenz in Italien auch während der folgenden Jahrhunderte lebendig, wie die Werke des Leone Modena und der Discorso von Simone Luzzatto zeigen (Venedig, 17. Jh.). Inzwischen war auch im deutschen Judentum die Zeit für einen Historiker reif geworden. In Prag veröffentlichte David Gans ( 1 5 4 1 - 1 6 1 3 ) , ein aus Westfalen stammender Gelehrter, der sich in den Naturwissenschaften auszeichnete, 1592 sein Werk Semah David, eine zweiteilige Chronik, die jüdische und die Weltgeschichte enthaltend, die jeweils vom 1. bis zum 6. Jt. (jüd. Zählung) reicht. Gans war der erste aschkenasische Jude, der dem Studium der Weltgeschichte großen moralischen Nutzen beimaß. Sein Buch, immer wieder gedruckt und ergänzt, erfreute sich bis in die moderne Zeit in traditionellen Kreisen großer Beliebtheit. Ähnliche Geltung erhielt auch der Seder haddorot des Jechiel Heilprin, Rabbiner und Rektor der Talmudschule von Minsk (gest. 1746). 4. Aufklärung
und „Wissenschaft
des
Judentums"
Mit dem Wirken M. —» Mendelssohns in Berlin bzw. mit der—»Französischen Revolution pflegt man den Beginn der neuesten Periode innerhalb der Geschichte des Judentums anzusetzen. Zu dieser Zeit verfügte ein Jude, dem es gelungen war, in die bürgerliche Gesellschaft einzutreten, über keine brauchbare Geschichte seines eigenen Volkes. Das ist einer der Gründe, daß es Mendelssohn einem Christen, dem Kriegsrat Chr. W. Dohm, überließ, die historische Argumentation zugunsten der „bürgerlichen Verbesserung der Juden" zu führen. Als Standardwerk wurde trotz aller Vorbehalte sowohl im Kreise Mendelssohns wie bei den Jüngern der Wissenschaft des Judentums die Histoire des Juifs depuis Jésus-Christ jusqu'à présent (Rotterdam 1707) des protestantischen Theologen Jacques Basnage angesehen.
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Der Berliner Kreis um Leopold Zunz (1794—1886), der nur einige Jahre formell als „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" bestand, setzte das Erbe Mendelssohns fort, indem er die Stellung des Juden als Bürger und näherhin als Akademiker zu begründen und zu festigen trachtete. Hier wurde der Terminus „historisches Judentum" erstmals verwendet, das Vortragsprogramm wie auch die Zeitschrift des Vereins enthielten historische Untersuchungen; doch die Möglichkeit, über Monographien hinaus eine Gesamtgeschichte des nachbiblischen Judentums zu schreiben, schloß Zunz aus: „Eine Nation in partibus verrichtet keine Taten; ihre Leiden können Chronisten und Dichter, aber nicht Geschichtschreiber hervorbringen" (Literaturgesch. 1). In seinen Augen war es die Literatur, die die res gestae des jüdischen Volkes ersetzte. Ihr — er nannte sie „rabbinische Literatur" - widmete er ein langes Gelehrtenleben, seine Studien sollten nur Grundlegung und Vorbereitung sein, weshalb er sich mit Azaria de'Rossi, dessen Werk er wieder bekannt machte, geistig verwandt fühlte. Der jüdische Intellektuelle konnte sich nicht dem „Historismus" entziehen, der gerade um die gleiche Zeit auf deutschem Boden zur Blüte ansetzte. 1819 war unter dem Patronat des Frh. v. Stein die „Deutsche Historische Gesellschaft" gegründet worden, das klassische Unternehmen der Monumento. Germaniae Histórica begann seine Arbeit. Im Jahre 1821 hielt W. v. —»Humboldt vor der Preußischen Akademie seine Rede Über die Aufgabe des Geschichtschreibers - ein Programm, das dazu führte, daß die Geschichtswissenschaft innerhalb eines Landes und eines Jahrhunderts einen unvergleichlichen Höhepunkt erreichte. Die historische Betrachtungsweise dominierte in allen Bereichen, so daß im akademischen Betrieb etwa die Philosophiegeschichte die Philosophie oder die —»Dogmengeschichte die dogmatische Theologie zu verdrängen sich anschickten. Ähnlich behauptete H. —»Graetz vom Judentum, daß seine „ T o t a l i t ä t . . . nur an seiner Geschichte erkennbar" sei (Konstruktion 8). Zunächst beschränkte sich die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf einen Teilbereich, der für die Praxis erheblich war, aber nicht die Grundlagen der Lehre berührte, insofern es darum ging, die Synagogenreform wissenschaftlich zu rechtfertigen. Grundsätzlich gingen aber Zunz und seine Schüler distanziert und „wertfrei" an das Phänomen Judentum heran: Die jüdischen Gelehrten Deutschlands „erforschen die Altertümer Israels wie andere die ägyptischen oder assyriologischen Altertümer erforschen, d. h. bloß um der Wissenschaft oder um der Ehre willen" (S.D. Luzzatto, Hebr. Briefe, hg. v. E. Gräber, 1894, 1367). Für die so Angesprochenen war der Vorwurf ein Kompliment, sie forderten ja ausdrücklich den Rollentausch von Theologe und Historiker. Ihr Ziel bestand darin, das Judentum in die europäische Geschichte und in die europäischen Sprachen zu integrieren. Dieses von -*Hegel als „Kind des Orients" bezeichnete Judentum sollte in seiner neuen Heimat zwar nicht untergehen, so doch in ihr aufgehen (Eduard Gans). Der gelehrte Schriftsteller Salomon Löwisohn ließ 1820 in Wien Vorlesungen über die neuere Geschichte der Juden drucken, doch gelangte das Büchlein nicht über den Rahmen einer Skizze hinaus. Eine Pioniertat hingegen waren die 9 Bände der Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage, deren erster im gleichen Jahr erschien. Ihr Autor Isaak Markus Jost (1793 - 1 8 6 0 ) , ein Konsemester von Zunz und anfänglich auch Mitglied des „Culturvereins", ließ in seiner rein deskriptiven Darstellung wenig von den Gedanken Humboldts ahnen, sondern schien eher dem mitunter platten Rationalismus einer früheren Generation verpflichtet, doch muß man seine Gründlichkeit im Zusammentragen gedruckter Quellen hervorheben, besonders zur Geschichte des Mittelalters - eine Leistung, die sich auf keine Vorgänger stützen konnte und in bestimmten Fällen selbst von Graetz nicht eingeholt wurde. 1846/47 folgten 3 weitere Bände Neuere Geschichte der Israeliten (ab 1815), die als zeitgenössischer Bericht heute Quellenwert haben. - Jost gebührt das Verdienst, als erster Jude nach Josephus wieder ein Geschichtswerk in einer Kultursprache veröffentlicht zu haben. Salomo Juda Löb Rapoport (1790—1867) ein Aufklärer der galizischen Schule und später Oberrabbiner von Prag, schrieb für das Wiener hebräische Jahrbuch Bikkuré ha'ittim
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1 8 2 8 - 1 8 3 1 vielbeachtete Beiträge zur jüdischen Geschichte in Form von Biographien mittelalterlicher Gelehrter (Saadja Gaon, Nathan von Rom u.a.). Rapoports früh verstorbener Zeitgenosse und Landsmann Nachman Krochmal ( 1 7 8 5 - 1 8 4 0 ) gehört mit einigen Kapiteln seines unvollendeten Werkes Führer der Unschlüssigen unserer Zeit (postum hg. v. L. Zunz) zu den großen Theoretikern der jüdischen Geschichte. Es war kein Zufall, daß gerade er der Wiederentdecker des Azaria de'Rossi war. Obgleich in den engen provinziellen Verhältnissen Galiziens lebend, hatte er sich neben der jüdischen auch eine gründliche profane Bildung angeeignet, was ihn befähigte, das Projekt einer weltlichen Geschichte des Judentums, d. h. seiner genetischen Entwicklung, zu entwerfen. Er wandte dabei ein bestimmtes Schema an, nämlich die Abfolge von drei Stadien innerhalb eines Zyklus'. Die Stadien bezeichnete er Wachstum-Blüte-Verfall. Dieses Schema entspreche dem immanenten Gesetz der Geschichte und mache andere Einteilungen überflüssig. Die Ausnahmestellung des jüdischen Volkes bestehe darin, daß seine Geschichte nicht mit einem Zyklus, also nach dem dritten Stadium, abgelaufen sei. Es habe vielmehr dank des ihm immanenten Geistes die Kraft, immer wieder einen neuen Zyklus zu beginnen. Krochmal teilt die jüdische Geschichte in drei Zyklen ein, deren letzter im 17. Jh. ausgelaufen sei. Die Ausnahmestellung, die das Überleben Israels zur Folge hat, erklärt er keineswegs theologisch mit der Vorsehung oder der Erwählung (ohne diese Begriffe radikal abzulehnen), sondern innerweltlich mit dem Gesetz der Entwicklung und der Kraft des absoluten Geistes. Das jüdische Volk sei den Gesetzen der Geschichte nicht entzogen, die „Unschlüssigen unserer Zeit" hätten den Gebrauch historisch-kritischer Maßstäbe dringend notwendig. Die Aufgabe der Gegenwart sei, jeden Gegenstand zu prüfen, zu erforschen und die Zeit seiner Entstehung zu bestimmen. Der Plan dieses Geschichtswerkes hätte wahrscheinlich von Krochmal selbst gar nicht ausgeführt werden können, da er an sich schon eine Arbeitsteilung vorgesehen hatte. Die Theorie allein behält auch ihren Wert, da das Material, das für die Geschichte ausgewertet werden sollte, kaum je so umfassend aufgeführt wurde. 5. Moderne jüdische
Geschichtsschreibung
H. —»Graetz veröffentlichte 1846 einen Plan: Die Konstruktion der jüdischen Geschich30 te, den er 30 Jahre später in den 11 Bänden seiner Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart ausführt - ein Werk, das der heftigen anfänglichen Kritik wie auch der naturgemäß eingetretenen Veraltung zum Trotz insgesamt noch nicht durch ein neueres ersetzt worden ist. Die „Konstruktion" hat, wie Krochmals Theorie, ihren Eigenwert und fordert zum Vergleich mit dieser heraus. Mehr als eine bloße Vorstudie, spricht sie das jüdi35 sehe Bekenntnis Graetzens und der nachfolgenden Generationen aus. Graetz lehnt alle Versuche ab, das Judentum zu sublimieren; dessen „ganzes Wesen, die Summe seiner Kräfte" müsse sich in der Geschichte „explizieren" (Konstruktion 8).Stattvon Sublimierung könnte man bei Graetz von Inkarnation sprechen, da er im Judentum stets zwei Faktoren unterscheidet: Religionswahrheit und Staatsinteresse, das Dogmatische und das Soziale — diese 40 Faktoren gehören zusammen wie Leib und Seele: „Die Tora, die israelitische Nation und das heilige Land stehen in einem . . . magischen Rapport" (ebd.18). Die Wirksamkeit der beiden Faktoren in den verschiedenen Epochen bestimmt das Schema, das Graetz von der jüdischen Geschichte aufstellt. Es unterteilt sich, wie das Krochmals, in drei Zyklen (bei Graetz Perioden genannt), die wiederum in je drei Phasen zerfallen, jedoch nicht nach dem der Natur 45 entnommenen Modell des Wachsens und Vergehens, sondern nach der wechselnden Prävalenz des religiösen oder des sozialen Faktors, wobei sich „analoge Knotenpunkte und Phasen" ergeben. Man wird zugeben müssen, daß dieses symmetrisch aufgebaute Schema mit einiger Gewalt über die Geschichte gestülpt wird. Doch dient die immer wieder neue Formen annehmende Inkarnation der Seele des Judentums als brauchbares Kriterium, das wesentli50 che Einsichten eröffnet. So ist etwa hier schon eine Ehrenrettung der Pharisäer skizziert, die erst im 20. Jh. R. Travers Herford ausführlich geliefert hat. Vor allem scheiden sich an der Zäsur des Jahres 70 n. Chr. (Ende des Zweiten Tempels und Untergang des jüdischen Staa-
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tes) die Geister. Haben die Juden ohne eigenen Staat überhaupt noch eine Geschichte? Die theologisch motivierte allgemeine Auffassung sagt, daß das Judentum in der Heilsgeschichte, nachdem esjiaidaywydg eig XQIOXÖV gewesen sei, ausgedient und sichtbar seine Strafe erhalten habe. Seine Stelle nehme nun das „neue Israel", die Kirche, ein. Selbst Zunz scheint über diese Zäsur nicht hinauszukommen, wenn er einer Ration in partibus" eine Geschichte in vollem Sinne des Wortes abspricht. An dieser Auffassung hat sich wenig geändert, obgleich viele Geschichtsphilosophen von -»Voltaire bis A. Toynbee von der christlichen Theologie nichts mehr wissen wollen. Man glaubt nicht mehr an das „neue Israel", bleibt aber wie eh und je vom Abgang des alten Israel überzeugt. Demgegenüber stellt Graetz fest, daß die Zerstörung des Ersten Tempels viel tiefere Spuren im Volk hinterlassen habe, während — bei der Katastrophe des Jahres 70 — „der politische Fortbestand den Trägern des Judentums ziemlich gleichgültig" geworden sei (Konstruktion 48). Er „entideologisiert" diese Katastrophe und nimmt ihr damit den Charakter einer Zäsur, dafür gibt er der -»Diaspora das ihr gebührende Gewicht: „Es ist nicht gar schwer zu beweisen, daß das Judentum in der Periode der Zerstreuung, die noch nicht abgeschlossen ist, neben einer passiven Geschichte . . . auch eine aktive Geschichte produziert hat, die von unendlicher Lebenskräftigkeit und elastischer Energie das beste Zeugnis ablegt" (ebd. 50). Der erste Band, mit dem Graetz sein Projekt ausführte, behandelte die Zeit „vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmud" (in der Zählung des Gesamtwerkes Bd. IV), setzte sich also gerade mit dieser Wende der jüdischen Geschichte auseinander. — Graetz hatte eine umfassende Kenntnis der jüdischen Literatur; Proben davon zeigen die „Noten", die im Anhang eines jeden Bandes gedruckt sind. Er fand viel Kritik bei den Fachgenossen des eigenen Lagers (abgesehen vom „Antisemitismusstreit" mit H. Treitschke, vgl. T R E 3,159). Vom heutigen Standpunkt aus könnte man ihm nur vorwerfen, daß er gewisse Voraussetzungen außer acht gelassen habe, vor allem die Verknüpfung mit den einschlägigen Abschnitten der allgemeinen Geschichte und die Verwendung archivarischer Quellen. Das Werk hatte beim Publikum großen Erfolg und bezeugte auf seine Art den herrschenden „Historismus" durch die Tatsache, daß es de facto zum Katechismus breiter jüdischer Schichten (auch durch Ubersetzungen in viele Sprachen) wurde. Die Gründung des Rabbinerseminars in Breslau (1854) war auch eine Bestätigung des „historischen Judentums"; denn Graetz wurde hierher als Lehrer und Redakteur der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums berufen. Dieses deutsche Beispiel wirkte übrigens auf Frankreich, wo Isidore Loeb ( 1 8 3 9 - 1 8 9 2 ) am Rabbinerseminar in Paris jüdische Geschichte vortrug und die Revue des Etudes juives zu einem Organ für Aktenpublikationen und Gemeindegeschichten (auch außerhalb Frankreichs) ausbaute. Neben Graetz übte auch Moritz Steinschneider (1816—1907) als Bibliograph und Kritiker großen Einfluß auf die jüdische Geschichtsschreibung aus. Seine Geschichtsliteratur der Juden, zu Ende seines Lebens gedruckt und streckenweise wie ein Stenogramm abgefaßt, ist bis heute das gültige Handbuch. Er hatte über alle das Judentum betreffenden Werke ein unbestechliches Urteil, das er meistens sehr scharf äußerte, so auch regelmäßig gegen Graetz. Was die Geschichte betraf, war er immer geneigt, eine allgemeine Darstellung übereilt zu finden, da er als Voraussetzung die systematische Sammlung von Quellen, die gründliche Kenntnis des nichtjüdischen Hintergrundes und vor allem das Vorliegen vieler Monographien forderte. Es war in seinem Sinne, als sich die „Historische Kommission für die Geschichte der Juden in Deutschland" unter dem Vorsitz des prominenten Ranke-Schülers Harry Bresslau bildete. Sie brachte im Laufe einiger Jahre beachtliche Leistungen hervor (3 Texteditionen, 5 Jahrgänge ihrer Zeitschrift, 1 Regestenband, Forschungen in Archiven und zur Responsenliteratur). Bedauerlich war die Distanzierung der Kommission von Graetz, den sie nicht unter die zünftigen Historiker rechnen, vor allem aber wegen seiner Kontroverse mit Treitschke (1879/80) nicht unterstützen wollte. In den Jahren vor und nach dem I. Weltkrieg konstituierten sich in verschiedenen europäischen Staaten und den USA im Rahmen jüdischer Organisationen weitere historische
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Kommissionen, die an Quelleneditionen und Monographien arbeiteten. Nach dem Holocaust konnten die historischen Forschungen nur in bescheidenem Maße wiederaufgenommen werden. — Die „Central Archives for the History of the Jewish People" in Jerusalem unternehmen es heute, eine Übersicht über die Quellen zur jüdischen Geschichte weltweit herzustellen sowie die eigenen Bestände als Grundlage für die Forschung auszubauen. Im 20. Jh. schuf Simon Dubnow ( 1 8 6 0 - 1 9 4 1 ) , der im zaristischen Rußland aufgewachsen war, eine Gesamtdarstellung unter dem Titel Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Dieser Titel erklärt sich aus der Zerstreuung der jüdischen Gemeinschaft über die ganze Erde; überdies bekennt sich der Autor damit zur Verknüpfung der jüdischen Geschichte mit der allgemeinen Geschichte, will also die isolierte Darstellung des Judentums vermeiden. Wenn die jüdische Geschichte bislang eine Geschichte der Religion und der Literatur war, so wollte Dubnow die Geschichte des jüdischen Volkes schreiben. Das Schema, das er anwendete, hielt sich deshalb nicht an die Perioden der geistigen Entwicklung, sondern an die durch Zahl und Leistung bedeutsamen Zentren der jüdischen Ansiedlung (von Dubnow „Hegemonien" genannt), deren ältestes in Palästina-Babylon, deren jüngstes in den Vereinigten Staaten liegt. Träger der politischen Aktivität sind in Ermangelung eines eigenen Staatswesens die verschiedenen autonomen Institutionen, die sich die Juden in ihren Aufenthaltsländern schaffen konnten. Denn beginnend mit dem Sanhedrin in Jabne, zieht sich durch die ganze diasporische Geschichtsperiode eine Kette von Autonomien, die der jüdischen Gemeinschaft, zum Ärger ihrer Feinde, das Ansehen eines „Staates im Staate" gab. — Ungefähr ein Jahrzehnt später stimmte das Schema der Hegemonien nicht mehr — Millionen derer, die die Hegemonie des osteuropäischen Raums gebildet hatten, unter ihnen auch Dubnow selbst, wurden mit einem Schlag ausgerottet. Noch zu Lebzeiten Dubnows erschienen die ersten Bände eines anderen großen synthetischen Geschichtswerkes, der Social and Religious History of the Jews von Salo W. Baron (geb. 1895), seit 1926 Professor für jüdische Geschichte an der Columbia University in New York. Nach dem Krieg in 2. Auflage erscheinend, ist das Werk noch nicht zu Ende geführt. Schon im Titel bekennt sich der Autor zur Tatsache, daß das jüdische Volk bis in die neueste Zeit nur als Religionsgemeinschaft zu verstehen war und daher mit eben dieser Religion stand oder fiel. Andererseits darf man seine Geschichte nicht in eine „übernatürliche" Sonderstellung abschieben, sondern muß sie in derselben Weise wie die der anderen Völker erforschen. Das besondere Augenmerk Barons gilt der weithin gewohnten Gleichsetzung von jüdischer Geschichte mit passiver oder Leidensgeschichte, wofür er die Bezeichnung „lachrymose conception of Jewish history" (erstmals: MenJ 14) prägte. Sie zu revidieren, ist er sein Leben lang bemüht gewesen, denn das örtlich und zeitlich überaus komplizierte Bild des rechtlichen Status der Juden erfordert eine nüchterne Untersuchung, während bloßes Selbstmitleid des Geschichtsschreibers der Darstellung nur schadet. Gewisse Spezialbereiche wurden schon im 19. Jh. in ihrer Bedeutung für die jüdische Geschichte erkannt und erstmals, z. T. von nichtjüdischen Autoren, behandelt; so etwa das Judenrecht (Stobbe; Scherer; heute Kisch), die Gesetzgebung im römischen Reich (Juster). Der wirtschaftliche Aspekt hatte in W. Roscher, M. —>Weber (führte den Vergleich mit dem Paria ein) und W. Sombart prominente, nicht unumstrittene Bearbeiter, von jüdischer Seite L. Herzfeld, 1.1. Schipper, G. Caro. Die jüdische Kulturgeschichte geht vor allem auf M. Güdemann und S. Assaf zurück. Die letzten hundert Jahre haben eine wachsende Zahl von Monographien gebracht, unterschiedliche Werke zur Geschichte der Juden in bestimmten Ländern, Provinzen und Städten, die auch taxativ hier nicht aufgezählt werden können. Als Verfasser und Herausgeber sind in der Gegenwart C. Roth und H. H. Ben-Sasson hervorzuheben. S. W. Jawitz sei als Autor einer Geschichte vom orthodoxen Standpunkt genannt. Der —»Zionismus brachte „palästinozentrische" Historiker hervor, von denen Y. Kaufmann, Y. F. Baer und B. Dinur (Dünaburg) große Bedeutung erlangt haben.
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie III
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IV. Neues Testament 1. Allgemeines 2. Die Geschichte Jesu als stiftende Urzeit 3. Die neue Sicht der Zeit des Alten Bunds 4. Konzepte der Universalgeschichte im Neuen Testament? (Literatur S. 603) 1.
Allgemeines
Weil es in den Quellen den Begriff „Geschichte" nicht gibt, ist eine Besinnung über die Voraussetzungen und Interessen nötig, von denen her wir heute nach Geschichte fragen. Für die gegenwärtige Situation sind vor allem zwei Überlegungen wesentlich: 1.1. In der durch die —»Existenzphilosophie bestimmten Theologie —»Bultmanns und seiner Schüler war die dominierende Frage die nach der durch das Kerygma konstituierten Geschichtlichkeit der Existenz (Bultmann, Gesch. 1 7 8 - 1 8 4 ; Dinkler). Weder die Geschichte Jesu, die Bultmann auf das „Daß" des eschatologischen Ereignisses hin konzentrierte und reduzierte (Verhältnis 9), noch die Dimension der Vergangenheit und der Zukunft waren hier von entscheidender Bedeutung. Der existentialtheologische Ansatz vermochte aber weder der seit den sechziger Jahren virulenten Frage nach der konkreten weltlichen Gestalt des Glaubens noch der immer stärker sich meldenden Erfahrung menschlichen Bestimmtseins und Ausgeliefertseins an die Geschichte zu genügen. So wuchs in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse dafür, wie im Neuen Testament die Geschichtlichkeit der Existenz durch ihr vorgegebene Geschichte konstituiert ist, d.h. durch die konkrete Geschichte Jesu Christi oder durch die vorgegebene Geschichte des Handelns Gottes. Heute bestimmt im deutschen Sprachraum Gadamers hermeneutisches Konzept, nach dem der Mensch in eine ihm immer schon vorgegebene Geschichte hörend und fragend einrückt, weithin die Diskussion. Den Umbruch von —»Heidegger zu Gadamer könnte man ganz schematisch so charakterisieren, daß die Geschichtlichkeit der Existenz nicht mehr die Geschichte konstituiert, sondern umgekehrt Geschichte der Geschichtlichkeit vorgeordnet ist. 1.2. Zunehmend wird als Aporie historisch-kritischer Forschung empfunden, daß Geschichte als rekonstruierte, objektivierte Vergangenheit die Möglichkeit einer lebendigen Beziehung zu ihr eher zerstört als ermöglicht, mithin daß „Geschichte als Wissenschaft" und „Geschichte als Erinnerung" (A. Heuß) sich ausschließen. Diese Erfahrung weckte neues Interesse für den biblischen Umgang mit Vergangenheit, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die Vergangenheit, z.B. die Geschichte Jesu oder die Grundgeschichte Israels, nicht durch einen garstigen breiten Graben von der Gegenwart getrennt ist, sondern in ihr in je neuer Weise geschieht. Diese Erfahrungen und Überlegungen bestimmen auch die Frage nach „Geschichte" im Neuen Testament heute. Gegenüber der nur an der historia orientierten Frage nach den typischen Regeln und Gesetzen von Geschichtsverläufen und der nur an der Existenz orientierten Frage nach der Geschichtlichkeit bedeutet die Frage nach „Geschichte" im Neuen Testament heute primär die Frage, wie vorgegebenes einmaliges Geschehen die Gegenwart bestimmt.
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Aus beiden Überlegungen heraus und in Ubereinstimmung mit dem neutestamentlichen Zeugnis muß also die Frage nach Geschichte im Neuen Testament in erster Linie als Frage nach der Bestimmung durch die Grundgeschichte Jesu Christi, in zweiter Linie als Frage nach der durch diese Grundgeschichte neu erschlossenen Vergangenheit und Zukunft gestellt werden. 2. Die Geschichte Jesu als stiftende Urzeit Noch ausgeprägter als im Alten Testament ist es in den neutestamentlichen Schriften ein geschichtliches Ereignis, nämlich das Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth, das das Nachdenken über Geschichte bestimmt. Diese neutestamentliche Grundüberzeugung wurzelt im Osterglauben. Da heutige Forschung das neutestamentliche Kerygma von der —»Auferstehung Jesu nicht mehr ohne weiteres und überall in apokalyptischem Kontext als Prolepse der endzeitlichen Totenauferstehung interpretiert, wird man kaum mehr sagen können, daß der Osterglaube eo ipso einen universalgeschichtlichen Horizont impliziert (gegen Pannenberg, Offenbarung als Gesch. 107f). Gemeinsamer Grundzug aller urchristlichen Osterbekenntnisse scheint vielmehr eher die Uberzeugung zu sein, daß Gott zur Sendung Jesu durch sein entscheidendes Handeln Ja gesagt hat. In dieser Uberzeugung, die dem auffälligen und weithin analogielosen Selbstanspruch Jesu entspricht, wurzelt die Überzeugung, daß die Zeit Jesu .stiftende Urzeit' ist. 2.1. In der Frühzeit gibt es in verschiedenen christlichen Gemeinden unterschiedliche, meist noch nicht entfaltete und nicht exklusiv sich ausschließende Denkansätze. Die Jesusgeschichten werden als „inklusive" Geschichten erzählt: Die Gegenwart der Gemeinde ist durch das Wirken des Herrn Jesus, etwa seine Vollmacht über bedrohende Mächte (Mk 4,35—41!), seine Wunderkraft, seine vollmächtige, das Verhalten der Gemeinde bestimmende Lehre (Streitgespräche!) ausschließlich bestimmt (Luz: FS Conzelmann 3 6 7 - 3 7 1 ) . Von Anfang an war klar, daß die Geschichte Jesu keine bloß vergangene Historie, sondern präsente Wirklichkeit ist, während umgekehrt die Lehre Jesu nicht von der Geschichte Jesu ablösbar ist. Letzteres bezeugen die Gattungen Apophthegma oder die zunehmende Apophthegmatisierung der Logienquelle im Laufe ihrer traditionsgeschichtlichen Entwicklung. Zwischen den vorwiegend durch Jesusüberlieferungen geprägten Gemeinden und den stärker durch das Bekenntnis zum gestorbenen und auferstandenen Herrn geprägten Diasporagemeinden darf man keinen absoluten Gegensatz konstruieren: Das Bekenntnis I Kor 1 5 , 3 - 5 enthält in nuce eine „Geschichte" der Passion und Auferstehung Jesu; es ist nach Paulus ihm selbst und den andern Aposteln gemeinsam (I Kor 15,11) und bildet so sowohl historisch als auch gattungsmäßig eine Brücke zwischen dem erzählenden Kerygma der Evangelien und dem kerygmatisch zentrierten Diasporachristentum. 2.2. Das Markusevangelium ist die erste ausgeführte Gestalt eines „Berichts als Verkündigung". In der Forschung herrscht heute weithin darüber Einigkeit, daß Markus nicht „literarischer Geschichtsschreiber", sondern „theologischer Geschichtserzähler" (Gnilka I, 24) ist; über die nähere Bestimmung scheiden sich allerdings die Geister. Unklar ista), wie weit die markinische Jesuserzählung eine ziemlich frei gestaltete, Grunderfahrungen des Glaubens in Jesusgeschichten symbolisierende Schöpfung eines Schriftstellers (so Schmithals für die Grundschrift, Kelber für den Evangelisten) ist, bzw. wie weit der Evangelist ein konservativer, der Tradition verpflichteter Redaktor traditioneller Jesusberichte ist (vor allem Pesch). Unklar ist b), wie weit das Evangelium des Markus eine völlig neue, autosemantische Sprachform darstellt (vgl. Güttgemanns, Fragen 2 3 2 — 2 6 2 ) , bzw. wie weit er literarisch an ältere Jesusberichte anknüpfen kann (Pesch: vor allem an die Passionsgeschichte). Offen ist schließlich c), was die Sprachform des „Berichts als Verkündigung" bezweckt: Steht die Niederschrift des Markusevangeliums im Dienste der Kontinuität der Tradition, die durch den Umbruch zwischen der ersten und der zweiten Generation bedroht war (Pesch I, 55)? Oder will das Markusevangelium die Geschichte Jesu - mit Hilfe des Jüngerunverständnisses bewußt als vergangene Geschichte darstellen, die nur die Frage, „wer der Erhöhte ist", durch eine Geschichtsdarstellung beantworten will (Roloff, M k E v 9 3 ) ? Oder können sich die Christen zur Zeit des Markus in der markinischen Jesusüberlieferung direkt wiederfinden, so daß das Jüngerunverständnis aktuellen Sinn hat und das Markusevangelium eine Aufforderung zur Kreuzesnachfolge (Schweizer, MkEv) ist?
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Die entscheidende Frage, die an den markinischen Jesusbericht zu stellen ist, lautet also: Ist - ausgehend von der Uberzeugung, daß die Zeit Jesu die für die Gegenwart entscheidende Urzeit ist — das allgemeine Motiv der Sicherung der Tradition das entscheidende Anliegen? In diesem Fall ist das Markusevangelium eine Verkündigung als Bericht und dient der dauernden Verankerung der Verkündigung der Kirche in der Uberlieferung vom irdischen Jesus. Oder steht hinter dem Markusbericht ein besonderes Motiv in besonderer Situation? In diesem Fall wird man der Verbindung der Passionsgeschichte mit den übrigen Jesusüberlieferungen große Aufmerksamkeit schenken und darin das entscheidende Novum des markinischen Berichtes sehen. Das Markusevangelium ist dann nicht einfach als Jesusbericht zu interpretieren; es ist ein kerygmatischer Entwurf sui generis. Neben dem von seinen Jüngern abgelehnten Gang des Gottessohns und Wundertäters Jesus in die Passion ist dann wohl die Auseinandersetzung Jesu mit—»Israel, die in 7,1—8,13 angelegt ist, in 11,1—13,37 durchgeführt wird und in 15,39 gipfelt, ein entscheidendes Leitmotiv der markinischen Geschichte. In diesem Fall ist das Markusevangelium eher ein Bericht als Verkündigung und dient der Orientierung der Gemeinde in der eigenen Gegenwart. Ein relativ geringes Maß an markinischer Redaktion und längere, gattungsmäßig schon auf das Evangelium vorausweisende Quellen passen zum ersten, ein relativ großes Maß an Redaktionstätigkeit und gestaltungsmäßiger Freiheit passen zum zweiten Grundkonzept. Damit ist zugleich die Ebene angedeutet, auf der die Diskussion auszutragen ist. Sie ist heute offen, steht aber unter der weithin geteilten Voraussetzung, daß Geschichte und Verkündigung, Tradition und Neuaktualisierung keine Gegensätze sind, sondern sich bedingen. 2.3. Auch das Matthäusevangelium ist nicht ein bloßer Geschichtsbericht. Grundlegend ist, daß der irdische Jesus, auf dessen Gebote das Evangelium zurückverweist, zugleich der erhöhte und bei seiner Gemeinde gegenwärtige Herr ist (28,16—20, vgl. Bornkamm), während umgekehrt der irdische Jesus, dessen Geschichte der Evangelist erzählt, von vornherein der Immanuel (1,24; 18,20) ist. Das Matthäusevangelium erzählt also auch nicht einfach eine vergangene historia, sondern es konfrontiert seine Leser mit der Geschichte und der Verkündigung des vergangenen Jesus. Manche Jesusgeschichten symbolisieren eindeutig gegenwärtige Erfahrungen der Gemeinden mit ihrem Herrn, z. B. Wundergeschichten unter dem Stichwort des „Kleinglaubens". Umgekehrt scheinen manche Einzelzüge gerade den Abstand zwischen der Gegenwart und der Geschichte Jesu zu betonen, z. B. daß Jesus Messias Israels ist und seine Jünger allein zu Israel gesandt sind. Das Matthäusevangelium im ganzen ist geradezu eine Geschichte der Sendung Jesu zu Israel und seiner Verwerfung durch Israel, die dann nach Ostern durch die Sendung der Jünger zu den Heiden abgelöst wird. Aber auch in diese Jesusgeschichte, die die Zeit des irdischen Jesus von der Gegenwart unterscheidet, wird vermutlich die Welt des Erzählers, d. h. die Erfahrungen einer in der Israelmission erfolglosen nachösterlichen judenchristlichen Gemeinde, eingetragen. Strittig ist die Interpretation des Gesamthorizontes des matthäischen Geschichtsverständnisses: Ist es als Periodenfolge von drei Zeitepochen zu interpretieren, wobei auf die zentrale Zeit Jesu die Zeit der Kirche folgt (Strecker: EvTh 26; ähnlich Walker 114f)? Oder führt die von vielen Forschern bejahte grundsätzliche Transparenz der matthäischen Jesusgeschichte für die Gegenwart eher auf ein Modell von zwei Epochen, der Zeit der Verheißung und der Zeit der Erfüllung (Ogawa 283; ähnlich Meier: Auferstehung Jesu als Wende der Zeit), wobei letztere als Zeit Jesu bis zum Ende der Welt ginge (so Kingsbury 2 5 - 3 6 ) ? Die Frage ist wahrscheinlich nur schon deswegen nicht entscheidbar, weil Matthäus gar kein umfassendes Geschichtswerk schreiben wollte, sondern allein eine Jesusgeschichte. Seine grundlegende Orientierung an der Geschichte Jesu dokumentiert Matthäus durch die Übernahme des gesamten markinischen Entwurfs. Für die Verhältnisbestimmung der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche ist m. E. entscheidend, daß Matthäus keine Apostelgeschichte schreibt und daß er von der Präsenz Jesu (und nicht des Geistes!) bei seiner Gemeinde spricht so wie von der dauernden Bindung der Gemeinde an die Gebote Jesu (28,20). Die Transparenz der Geschichte Jesu, die als „inclusive Störy" verstanden wird, dürfte also für Matthäus das Entscheidende sein; allein dieser Gedanke entspricht der betonten Identifikation des Erhöhten mit dem Irdischen in der matthäischen Christologie.
2.4. F ü r ( s . auch TRE 3,515 ff) ist die Geschichte Jesu zunächst ein Stück Vergangenheit. Die Parusieverzögerung (vgl. 19,11; Act 1,6 f) hat sicher dazu beigetragen, daßLu-
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kas über das Problem des Abstandes zwischen seiner eigenen Gegenwart und der Zeit Jesu schärfer nachdenkt als andere neutestamentliche Autoren. Ihm ist bewußt, daß Jesu Gebot der Wehrlosigkeit (vgl. 2 2 , 3 5 f)> sein Gebot absoluten Besitzverzichtes (vgl. Act 2 0 , 3 5 ) oder seine Gesetzestreue und Sendung allein zu Israel (vgl. Act 10; 15) in der eigenen Gegenwart nicht mehr gelten. Ihm ist bewußt, daß die Geschichte des Handelns Gottes einen Weg bedeutet, der inmitten des gesetzesfrommen Israel und im Tempel beginnt (vgl. Lk 1 - 2 ) und in der Welthauptstadt R o m — ohne das Gesetz und ohne die Juden — vorläufig endet. Die Erzählung der 7iQa.yfj.axa (Lk 1,1) umfaßt deshalb bei ihm die zwei Bücher des geschlossen konzipierten und zu interpretierenden Doppelwerks. Die Geschichte Jesu ist deshalb für ihn nicht einfach wie für Matthäus „inclusive s t o r y " , sondern eher eine „Grundgeschichte mit Folgen". Damit soll zugleich angedeutet werden, daß Lukas nicht einfach ein abstraktes Modell der Heilsgeschichte vertritt, die auf die „ M i t t e der Z e i t " , Jesus, die neue Zeit der Kirche folgen läßt (so Conzelmann). Sein Anliegen ist vielmehr, die Zeit der Kirche mit der Zeit Jesu zu verbinden. Deshalb erzählt er das Geschick des Stephanus oder des Paulus in Analogie zum Geschick Jesu; deshalb enthält das „ H e u t e " von Lk 4 , 2 1 in nuce bereits die Geschichte vom Gang des Evangeliums zu den Heiden (4,23—30); deshalb spricht Lukas im Vorwort von der Jesusgeschichte als den ngay^ara JiEJiXrfQoqiooTffiEva ev rjfj.iv, d.h. den Ereignissen, die in seiner eigenen Gegenwart zur Erfüllung gekommen sind. Die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche gehören für Lukas ebenso eng zusammen wie Jesus und der Heilige Geist; die Frage, ob die Geschichte in drei oder (wenn schon, dann eher!) nur in zwei Epochen (Hengel 54) aufzuteilen sei, hat sich Lukas, der nicht ein Geschichtsverständnis dozieren, sondern die Geschichte Jesu bis ins heidnische R o m erzählen wollte, gar nicht gestellt. Als gebildeter und stilistisch versierter Autor übernimmt Lukas formal Formen antiker Historiographie (Prooemium, Reden, Repetitionen etc.; s. T R E 3 , 5 0 1 ff). O h n e grundsätzlich aus dem Rahmen antiker Historiographie zu fallen, ist er aber inhaltlich stark alttestamentlicher, theologisch orientierter Geschichtsschreibung verpflichtet: Die Geschichte steht für ihn unter göttlicher Vorsehung und Führung (Schulz); auch ohne explizite theologische Deutung ist es für Lukas selbstverständlich, daß Gott in der Geschichte handelt. In dieser Weise kann Lukas für den Glauben äacpaXtia vermitteln (1,4), ganz einfach, indem er Geschichte und Geschichten erzählt. In dieser Weise kann er durch seine Geschichte seinen Gemeinden helfen, ihren eigenen Standort (fern von Israel unter den Heiden, vermutlich in Verfolgungen, vielleicht auch im Blick auf ihren nicht unumstrittenen „Kirchenvater" Paulus) als von Gott gewollt und geführt zu begreifen. In diesem Sinn erzählt Lukas nicht vergangene Geschichte, sondern „theological history" ( M a d d o x 1 8 1 ) .
2 . 5 . Das —>johannesevangelium repräsentiert gleichsam das theologische Gegenmodell zum Lukasevangelium. W a r dort das Interesse an der vergangenen Geschichte Jesu, wie sie wirklich war, dominierend, so bietet das Johannesevangelium ein Beispiel dafür, wie die gegenwartsbezogene Glaubensschau, also die Interpretation sich der Vergangenheit bemächtigt und sie oft beinahe verschlingt. Äußerer Ausdruck dieser Dominanz der Interpretation ist die eigenständige johanneische Sprache, die vorgegebene Traditionen und z . T . auch Quellen weithin umformuliert und gleichsam einschmilzt. Deutlich ist die Transparenz der Jesusgeschichte und die Uberlagerung der erzählten Welt der Geschichte Jesu und der Welt des Erzählers (resp. der ihn bestimmenden bereits zurückliegenden Erfahrungen seiner Gemeinde). Das wird etwa sichtbar an den wiederholten Erwähnungen des Synagogenausschlusses ( 9 , 2 2 ; 1 2 , 4 2 ; 1 6 , 2 , vgl. Martyn 3 7 - 6 2 ; Pancaro; Wengst 4 8 - 7 3 ) , einer offenbar in der Geschichte der johanneischen Gemeinde traumatischen Erfahrung. Deutlich ist das etwa auch an der johanneischen Gestaltung der Nachfolge — mit christologischem Bekenntnis und Berufung von Jüngern durch Jünger im Zentrum (1,35 ff). Deutlich ist das schließlich an den Themen der Auseinandersetzung mit den Juden oder am Abfallmotiv (6,66). Traditionsgeschichtlich scheint für das johanneische Denken die Menschensohnchristologie und der Nachfolgegedanke wichtig, die beide die Identität des Geschicks Jesu mit dem Geschick der Jünger betonten. Christologisch entscheidend ist, daß das Johannesevangelium als einziges Evangelium den Präexistenzgedanken kennt; durch Aufnahme des traditionellen Logoshymnus am Anfang seines Buches und durch die Inklusion 1,1 f / 2 0 , 2 8 f betont der Evangelist, wie wichtig ihm die Gottheit und die himmlische Herkunft Jesu sind. Die Ge-
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schichte Jesu ist also zugleich die Geschichte des Gesandten des Vaters, des himmlischen Sohnes, des Präexistenten. Hier liegt der Grund für das, was man mit Martyn das „two-level drama" der Geschichte Jesu bezeichnen könnte. N u n wird d a d u r c h die W i r k l i c h k e i t der G e s c h i c h t e Jesu nicht einfach a u f g e h o b e n . V o n der j o h a n neischen T h e o l o g i e als dem „ e r s t e n uns ausführlicher b e k a n n t e n System einer Gnosis, die sich christlic h e T r a d i t i o n e n a d a p t i e r t " ( S c h o t t r o f f 2 9 5 ) , sollte m a n m. E. nicht sprechen: D a s J o h a n n e s e v a n g e l i u m bleibt eine „ V e r k ü n d i g u n g als Bericht"., d . h . eine J e s u s g e s c h i c h t e , ein E v a n g e l i u m - w e n n es zu dieser Alternative k o m m e n m u ß - synoptischen und nicht g n o s t i s c h e n T y p s . M ö g l i c h bleibt dagegen, das J o h a n n e s e v a n g e l i u m als Station a u f d e m W e g e z u m G n o s t i z i s m u s zu interpretieren, in dessen Christologie der G e d a n k e der himmlischen H e r r l i c h k e i t d a s Z e n t r u m ( K ä s e m a n n , Wille 1 4 - 5 2 ) , die irdische E x i stenz n u r Vehikel z u m D u r c h b l i c k a u f die göttliche H e r r l i c h k e i t ( 1 , 1 4 b; vgl. M ü l l e r 4 8 - 5 2 ) und die Passion im G e d a n k e n der E r h ö h u n g und des W e g g a n g s des E r l ö s e r s aus der W e l t zentriert ist. Die Diskussion solcher I n t e r p r e t a t i o n s v o r s c h l ä g e verbindet sich mit literarkritischen F r a g e n , o b z. B. die Interp r e t a t i o n von Jesu T o d als S ü h n e t o d traditionelle, v o r j o h a n n e i s c h e T h e o l o g i e , eigene Interpretation des Evangelisten o d e r n a c h j o h a n n e i s c h e , in diesem Fall d e m I J o h e n t s p r e c h e n d e kirchliche R e d a k t i o n ist. H i e r m a c h t die E i g e n a r t j o h a n n e i s c h e r T r a d i t i o n s v e r w e n d u n g u n d Sprache klare Entscheidungen fast u n m ö g l i c h . U m s o wichtiger ist d a n n der G r u n d b e f u n d , d a ß a u c h das J o h a n n e s e v a n g e l i u m eine Jesusgeschichte synoptischen T y p s ist, deren E r z ä h l f a d e n ein B e r i c h t ü b e r das W i r k e n des göttlichen G e s a n d t e n v o n der J o h a n n e s t a u f e bis zur A u f e r s t e h u n g ist. N i m m t m a n dies ernst, so k a n n m a n m . E. nicht die joh a n n e i s c h e G e s c h i c h t e Jesu einfach als v o r d e r g r ü n d i g e F a s s a d e interpretieren, s o n d e r n m u ß sie ernst n e h m e n als Basis, die den D u r c h b l i c k in die g ö t t l i c h e H e r r l i c h k e i t e r m ö g l i c h t .
2.6. —>Paulus erzählt in seinen Briefen keine Geschichte Jesu. Man wird das aber weder als grundsätzliches Nein zum irdischen Jesus noch als polemisches Verschweigen angesichts von Gegnern (Kuhn 318) deuten dürfen. Vielmehr hat Paulus in seinen Briefen keine direkte Veranlassung, Jesusgeschichten zu erzählen, ebensowenig wie z. B. der Verfasser des I. Johannesbriefs, der die Geschichte Jesu nach dem Johannesevangelium sicher kennt. Theologisch macht Paulus deutlich, daß ihm die irdische Geschichte Jesu wichtig ist. Sie ist ihm nicht an sich ( x a r ä a ä ß x a : II Kor 5,16) wichtig, sondern als Geschichte dessen, den Gott gesandt hat (Gal 4,4 f), als Geschichte des Präexistenten, der am Kreuz starb (Phil 2 , 6 - 1 1 ) , als Geschichte des Sohns, der Davidssohn war (Rom 1,3—5). Paulus teilt die grundlegenden Denkstrukturen der Evangelien: Die Geschichte Jesu ist auch ihm nur als Geschichte des geglaubten, erhöhten Herrn wirkliche Geschichte. Es ist eine Eigenart biblischen Denkens, daß es erzählend, temporal, ereignishaft von der „Geschichte Gottes" sprechen kann. Ebensowenig wie z. B. Lukas, für den Gottes Geschichte für sich selbst spricht, unterscheidet Paulus zwischen bloßen Ereignissen und ihrer theologischen Deutung. Er versteht etwa die —»Auferstehung Jesu auf gleicher Ebene wie den Tod Jesu als wirkliches Ereignis „für uns", das aufgrund von Gottes machtvollem Handeln auch die zukünftige Auferstehung der Gläubigen einschließt (I Kor 15). Dennoch erlaubt uns die paulinische Theologie eine präzise Verhältnisbestimmung von menschlicher Geschichte und Gottes Handeln: Paulus konzentriert sein Interesse an der Geschichte Jesu auf Jesu Kreuzestod (—»Kreuz). Von hier aus könnte man sagen: Menschliche Geschichte und Gottes Handeln verhalten sich bei Paulus zueinander wie Kreuz und Auferstehung Jesu. Das heißt: Das Handeln Gottes in der Geschichte ist keineswegs selbstverständlich, keineswegs bloß weltanschauliche Prämisse, sondern Offenbarung der Weisheit Gottes in Gestalt von Torheit (I Kor 1,25), d. h. Überraschung, Wunder, Leben aus dem Tod. So ist für Paulus wohl letztlich in Kreuz und Auferstehung das Geheimnis der Geschichte geborgen: Auferstehung bedeutet, daß das Leben, die Liebe, die Kraft Gottes wirklicher sind als alle Mächte der Geschichte. Das Kreuz aber hält die Wirklichkeit Gottes an der Geschichte fest; es verhindert eine die Wirklichkeit überspringende „kerygmatische Vereinnahmung von geschichtlichen Ereignissen" (Weder 228). So eröffnet bei Paulus gerade das Kreuz die Möglichkeit einer existentialen Interpretation des Kerygmas, wie sie etwa II Kor 4,7 ff zeigt, wo das —»Leiden Christi das Signum nicht nur der apostolischen (Güttgemanns, Apostel 2 8 2 - 3 2 2 ) , sondern der christlichen Existenz überhaupt wird. 2.7. Zusammenfassung. Im Lichte des Neuen Testaments von „Geschichte" zu reden, hieß zunächst, von der Geschichte Jesu Christi zu reden. Negativ heißt das, daß so etwas wie
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neutestamentliches Geschichtsverständnis nicht so existiert, daß gleichsam ein universalgeschichtlicher Rahmen oder eine zeitliche Grundstruktur aufgezeigt werden könnten, in die sich dann einzelne Geschichten, u. a. die Christusgeschichte, einordnen ließen. Vielmehr ist das Primäre die eine, besondere, kontingente Geschichte Jesu Christi, die Ausgangspunkt alles Nachdenkens über Geschichte ist. Diese Geschichte Jesu Christi hat in den neutestamentlichen Zeugnissen zwei grundlegende Dimensionen: Sie beansprucht Gott, ja, in derpaulinischen Fassung des Wortes vom Kreuz I Kor 1,25 ist sie geradezu eine Selbstbestimmung Gottes. Und sie beansprucht zugleich als Geschichte Gottes den sie bezeugenden Menschen. Dieser letzte Sachverhalt war im Umkreis Bultmanns Anlaß zur existentialen Interpretation neutestamentlicher Texte. Zugleich aber war es schon für Bultmann deutlich, daß sich gerade die neutestamentlichen „Geschichten" kaum existential interpretieren ließen; die Evangelien waren hierfür wenig ergiebig. M. E. ist Bultmanns Versuch auch beim Johannesevangelium gescheitert, insofern dort in der Durchführung der existentialen Interpretation (Theol. § 4 2 - 5 0 ) gerade das Entscheidende, nämlich die Geschichte des Sohnes, uninterpretiert blieb. Wir versuchten, durch Ausdrücke wie „inclusive story", resp. in der lukanischen Variante „Geschichte mit Folgen", das aufzunehmen, was das berechtigte Anliegen der existentialen Interpretation war, zugleich aber festzuhalten, daß die Geschichte Jesu Christi Basis und Orientierungspunkt aller solcher Versuche ist. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für Paulus, wo man m. E. besser von „christologischer Interpretation der Existenz" als von „existentialer Interpretation christologischer Aussagen" sprecheit sollte, um deutlich zu machen, daß für Paulus die Geschichte Christi nicht so sehr interpretandum, als vielmehr grundlegendes interpretans ist. 3. Die neue Sicht der Zeit des Alten Bunds Das Christusgeschehen als neue stiftende Urzeit führt dazu, daß im Neuen Testament die Heilsgeschichte —»Israels neu interpretiert wird. 3.1. Schon für die Verkündigung Jesu fällt auf, daß die Israel konstituierende Geschichte (—»Erwählung, —»Bund, —»Exodus, Landnahme) zurücktritt. Die gegenwärtige liebende Zuwendung Gottes zu Israel im Anbruch seines Reichs tritt bei Jesus weithin an die Stelle des in der Vergangenheit geschehenen Heils; die im Zwölferkreis antizipierte Ganzheit des eschatologischen Israel ist Jesus offensichtlich wichtiger als das Recht und das Ritual des geschichtlichen Israel. Diesem relativen Desinteresse an der vergangenen Heilsgeschichte bei Jesus entspricht nachösterlich die Konzentration der Auslegung des Alten Testaments auf das Christusgeschehen (—»Bibel II). Durchweg ist eine Tendenz zur Entgeschichtlichung alttestamentlicher Texte festzustellen. Etwa die Passionsgeschichte zeigt, wie in der Schrift „direkt" die Geschichte Jesu Christi gelesen wird. Auch Jesusgeschichten können in den Farben alttestamentlicher Geschichten erzählt oder neu erzählt werden. Der Elia-Elisazyklus ist hier besonders „produktiv"; zu bedenken ist auch die Rolle der Mosesgeschichte etwa für M t 1 - 2 . Die alttestamentlichen Geschichten werden hier Sprachmaterial und haben keine Eigenbedeutung mehr. Prophetische Worte werden analog zur pesxr- Deutung der —»Apokalyptik direkt auf die neue entscheidende Zeit, die Geschichte Jesu, bezogen. Der aus der zeitgenössischen jüdischen Exegese übernommene „atomisierende" Typ der Schriftauslegung, d.h. die Auslegung einzelner Schriftstellen unabhängig von ihrem weiteren Kontext und ihrer Situation, leistet der Entgeschichtlichung Vorschub. Dasselbe gilt für die relativ selten vorkommende allegorische Deutung alttestamentlicher Geschichtsepisoden (z. B. Gal 4 , 2 1 ff; Christus als Fels I Kor 10,4). Im Vordergrund des Interesses stehen neben „weissagenden" Propheten- und Psalmstellen alttestamentliche Stellen ethischen Inhalts; alttestamentliche Geschichte spielt erst an dritter Stelle eine Rolle. Was H. v. Campenhausen (43) vom —» Barnabasbrief sagt, gilt in gewissem Maße vom Neuen Testament im ganzen: Die Verchristlichung des Alten Testamentes bedeutet die „Aufhebung seiner Geschichtlichkeit".
3.2. Im ganzen Neuen Testament finden sich Ansätze zu einer negativen Bewertung der Geschichte Israels. Typologische Gegenüberstellungen alt- und neutestamentlicher Heilsereignisse können zu einer negativen Bewertung des Alten im Lichte des Neuen führen (z. B. Alter-Neuer Bund II Kor 3,4 ff; Mose-Christus Rom 10,4 ff; Hebr 3,1 ff; altes-neues Gottesvolk Hebr 4,1 ff). In besonderer Weise wird diese typologische Gegenüberstellung im -»He-
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bräerbrief akzentuiert, w o sie sich mit einem platonisch geprägten Urbild-Abbild-Denken verbindet: Die Geschichte des alten —»Bundes und seiner Opfer gehört der abbildhaften Welt der Schatten an, die sich von der himmlischen Wirklichkeit des Hohenpriesters nach der Weise Melchisedeks und seinem Opfer gerade grundlegend unterscheidet. Die typologische Gegenüberstellung zwischen altem und neuem Bund wird hier überhöht durch die unendliche qualitative Differenz zwischen irdischem Schatten und himmlischer Wirklichkeit. In diesem Konzept kann das Wirken Gottes in der alttestamentlichen Heilsgeschichte nicht mehr voll zum Zuge kommen; der Hebr kann zwar eine traditionelle Reihe der alttestamentlichen Glaubenszeugen aufnehmen, muß aber zugleich sagen, daß die alttestamentlichen Väter eo ipso die Verheißung nicht erlangen konnten, weil sie das himmlische Vaterland noch nicht finden konnten (Hebr 11,13 — 16.39f). Hier wird schon die gleichsam wesenhafte Abwertung der alttestamentlichen Geschichte spürbar, die dann in der —»Gnosis zur Protestexegese des Alten Testaments geführt hat. Der Hebräerbrief ist in dieser Hinsicht prägnostisch: Die spätere gnostische Trennung von Geschichte Israels und dem Alten Testament als Gotteswort deutet sich schon an. Das Alte Testament spricht im Hebräerbrief nicht auf der Ebene der schattenhaften, unwirklichen Geschichte des unwirksamen Alten Bundes, sondern als Wort Gottes bzw. des Geistes direkt „von oben" zur christlichen Gemeinde; es spricht gleichsam auf der Ebene des ewigen Hohenpriesters Melchisedek. Abgesehen von der antithetischen Typologie und dem platonisierenden Urbild-Abbild-Denken k o m m e n noch zwei andere, bereits traditionelle Denkformen in der urchristlichen Negativierung der Geschichte Israels zum Zuge, die beide insbesondere in der —» Apokalyptik schon wichtig waren: Das traditionelle Bußpredigtschema v o m prophetentötenden und ungehorsamen Volk Israel erfreut sich im N e u e n Testament großer Verbreitung; in der Logienquelle (Lk 6 , 2 2 f ; 1 1 , 4 9 - 5 1 ; 1 3 , 3 4 f ) , bei Markus (12,1 ff), Lukas (13,31 f; Act 7 , 5 1 ff, als sekundärer polemischer Abschluß eines traditionellen Abrisses der Geschichte Israels) und Paulus (IThess 2 , 1 4 - 1 6 ) finden wir seine Spuren. Besonders im Bereich derpaulinischen Gemeinden wird sodann die apokalyptische Gegenüberstellung der beiden Äonen wichtig; ihre theologische Verdichtung findet sie in der Gegenüberstellung von erstem und zweitem Adam in Korinth (I Kor 15,45 ff) und im eigenen Entwurf des Paulus {Rom 5,12—21). Wichtig ist, daß es nur hier (und in gewisser Weise im Konzept des Hebräerbriefs) zu einem Versuch einer Konzeptualisierung der ganzen vorchristlichen Geschichte kommt, und zwar als Unheilsgeschichte (Luz, Geschichtsverständnis 193 ff). 3.3. Spärlicher sind die neutestamentlichen Stellen, w o alttestamentliche Geschichten als ein Stück Heilshandeln Gottes positiv gewertet werden. Es ist wichtig, daß es solche Stellen vor allem bei Paulus gibt. Paulus, der einzige neutestamentliche Autor, der Gottes Verheißungen als an Israel gesprochene Verheißungen ernst nimmt (Rom 11,29), ist zugleich derjenige neutestamentliche Autor, der am tiefsten mit dem Problem ringt, daß das Alte Testament als ein für Israel geschriebenes Buch nicht einfach von der Geschichte Gottes mit Israel abgelöst werden kann. Besonders der —»Römerbrief, theologische Rechenschaftsablage des Paulus coram Iudaeis und wohl gültigster Ausdruck seines Versuchs, den eigenen antinomistischen Weg im Lichte der Rechtfertigungsgnade selbstkritisch aufzuarbeiten, enthält solche Stellen. Rom 4,1 ff; 9 , 6 - 1 3 . 1 4 - 1 7 ; l l . l f f (vgl. Gal 3,6 f) machen deutlich, daß Paulus von Gott nicht sprechen kann, ohne beispielhaft an sein erwählendes Handeln an Israel anzuknüpfen. Auch hier führt die Erinnerung an Gottes Erwählungsgeschichte zu einer (alttestamentlich formulierten!) eigentlichen „Selbstdefinition" Gottes (Rom 9,15). Zugleich macht Rom 9—11 deutlich, warum die paulinischen Aussagen über Gottes Heilshandeln in der Geschichte Israels punktuell bleiben und sich nicht zu einer „Heilsgeschichte" zusammenfügen lassen: Gottes Handeln geschieht nicht einfach an den „Kindern des Fleisches" (Rom 9,8), so daß Israel sein Heil in geschichtlicher Kontinuität verfügbar hätte, sondern bleibt unverfügbar - wie die Verheißung. In anderer Weise drückt dies Paulus anhand des Abrahambeispiels in Rom 4 aus: —»Abraham, der „Vorvater" Israels, bleibt eine isolierte Gestalt in der von Sünde geprägten Geschichte des Adam-Äons und ist allein auf Christus hin zugeordnet (Rom 4 , 2 3 - 2 5 ) . Noch vorsichtiger formuliert in polemischer Antithese Gal 3,16, daß die Abrahamverheißung durch das später dazwischengekommene -»Gesetz nicht aufgehoben, sondern gleichsam suspendiert worden sei, weil sie allein dem Samen (Singular!), nämlich Christus galt (vgl. II Kor 1,20). Mit Rom 9,6 ff ist das konzeptuell nicht vereinbar; aber in der Absicht, die Verheißung der geschichtlich verfügbaren Kontinuität zu entziehen, treffen sich beide Texte. In andern Schriften des N e u e n Testaments ist solche positive Interpretation alttesta-
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mentlicher Geschichte als Heilshandeln Gottes spärlich und nur ansatzweise greifbar. Daß Melchisedek im Hebräerbrief eine isolierte, vater- und mutterlose Gestalt in der alttestamentlichen Geschichte ist, entspricht der paulinischen Konzeption; daß er keine irdische, sondern eine himmlische Gestalt ist, entspricht der besondern platonisierenden Ontologie des Hebr. Relativ nahe steht Paulus auch die lukanische Skizze des göttlichen Heilshandelns mit Israel in Act 1 3 , 1 7 - 2 2 : Auch hier wird —wie bei Paulus —die heilsgeschichtliche Skizze nicht durchgezogen, sondern bricht bei David abrupt ab. Lukas ist zugleich neben dem Verfasser des Hebr der einzige neutestamentliche Autor, abgesehen vom paulinischen und deuteropaulinischen Schrifttum, wo der Begriff Enayyelia eine tragende Rolle spielt — einer der deutlichen Hinweise, daß er zum Einflußbereich paulinischer Theologie gehört. 3.4. Zusammenfassung. Im Neuen Testament finden wir vor allem bei Paulus und in seinem Umkreis Ansätze zu einer neuen Reflexion über die Geschichte Gottes im Alten Bund von Christus her. Das Stichwort „Heilsgeschichte" scheint jedoch dem paulinischen Befund sogar dann wenig zu entsprechen, wenn man wie Cullmann ( 2 2 5 - 2 4 5 ) das Moment der Kontingenz und der menschlichen Untreue in ihr betont. Der Feststellung, daß eine zusammenhängende Schau der Geschichteawfe Christum natum nur als „Unheilsgeschichte" möglich ist, entspricht in gewisser Weise die andere Feststellung, daß Paulus die Heilsgeschichte Israels „paganisiert" habe (Klein 441). Aber sie schießt zu kurz, weil sie vernachlässigt, daß Paulus immer wieder punktuell von Gottes freiem Heilshandeln in Israel um der Treue Gottes zu sich selbst willen (Rom 9,6) sprechen muß. In diesem Sinn ist die paulinische Rechtfertigungslehre „der Schlüssel der Heilsgeschichte" (Käsemann, Rechtfertigung 134; vgl. Dugandzic 297—310). Paulinische Theologie läßt sich nicht im Rahmen eines heilsgeschichtlichen Entwurfs darstellen, wohl aber ist die Geschichte, und dazu gehört von Christus her die Erinnerung an Gottes gnädiges Erwählungshandeln in der Geschichte Israels und die Antithese zwischen Christus und der von ihm überwundenen Geschichte der Sünde, unaufgebbare Dimension der christlichen Verkündigung. 4. Konzepte
der Universalgeschichte
im Neuen
Testament?
Geistesgeschichtlich ist den neutestamentlichen Schriften die jüdische Apokalyptik vorgegeben, die versuchte, „das Geheimnis der Geschichte insgesamt zu lüften" und „die als bedrückend empfundene Gegenwart . . . metahistorisch zu erklären" (s. o. Abschn. II. 7), bzw. durch den Ausblick auf den geoffenbarten Zusammenhang der Gesamtgeschichte zu trösten. Es ist charakteristisch für das Neue Testament, daß die universalgeschichtliche Dimension zwar aufgenommen wird und in die Christusverkündigung eingeht, daß aber umgekehrt geschichtstheologische Entwürfe apokalyptischen Stils relativ selten thematisiert werden und im ganzen eher zurücktreten. Hier sollen nur die großen Linien angedeutet werden (—»Apokalyptik, —»Eschatologie). 4.1. Das Zurücktreten läßt sich an der Transformation der Gattung Apokalypse im Neuen Testament zeigen. Die synoptische Apokalypse Mk 13 par. ist eine markinische Erweiterung eines traditionellen, vermutlich judenchristlichen Flugblattes aus der Zeit vor dem jüdischen Krieg. Abgesehen von der Verchristlichung der Menschensohnerwartung fällt hier vor allem auf, daß die bereits geschehene, alttestamentliche Geschichte fehlt. Der deuteropaulinische apokalyptische Text II Thess 2 , 1 - 1 2 ist formal nicht eine Apokalypse, sondern eine Mahnrede. Auch hier entwickelt der Verfasser nicht eine umfassende Konzeption einer endzeitlichen Geschichte, sondern er fügt in die traditionelle Erwartung des Antichrists (V. 3 f. 8 - 1 0 ) die geheimnisvollen Hinweise auf denxarexwv V. 5 —7 ein, um Raum für seine Ermahnung zur Nüchternheit und zur Arbeit zu gewinnen. Am deutlichsten ist diese Transformation in der —>Apokalypse des Johannes. Auch hier verzichtet der Verfasser völlig auf einen Uberblick über die alttestamentliche Geschichte. Die ganze Schrift ist in Briefform eingekleidet, eine an konkrete Gemeinden gesandte Gelegenheitsschrift eines den Gemeinden bekannten Autors. Zentrales Anliegen ist die christologische Grundlegung der Zukunftsgeschichte: Durch das Basiskapitel 5, das eingeschaltete Kapitel 12 und die Parusieschilderung 19,11 ff macht der Verfasser klar, daß Christus Herr und Sieger in der gegenwärtigen und kommenden Geschichte der Drangsale ist. Die häufig in die eigentliche Apokalypse eingeschobenen hymnischen Stücke und die direkten Aufblicke in den Himmel (z. B. 7 , 9 - 1 7 ; 1 1 , 1 5 - 1 9 ; 1 4 , 1 - 5 . 1 4 - 2 0 ) verstärkenden Anredecharakter und die Hoffnung der Gemeinde in Christus. Vor allem aber hat sich die Forschung immer wieder
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gefragt, o b die Plagen in der Siegelreihe, der Posaunenreihe und der Zornschalenreihe wirklich als zeitlicher Ablauf und nicht eher im Sinne einer Rekapitulationstheorie zu verstehen seien. Nicht nur die zahlreichen Querverbindungen zwischen den verschiedenen Reihen, sondern vor allem auch die konsequente Stilisierung der Reihen als Visionsbericht spricht zusammen mit den nicht chronologisch einzuordnenden Unterbrechungen dafür, daß es in Apk 4 — 1 9 , 1 0 nicht einfach um einen chronologischen Ablauf, sondern eher um eine bildhafte und sich ständig steigernde Umkreisung derselben endzeitlichen Drangsale gehen dürfte. M a n darf dann die Apokalypse des Johannes nicht einfach als einen linearen Überblick über die Geschichte der Endzeit verstehen, sondern als ihre visionäre, auf den großen Umbruch in Kap 19 hin sich dramatisch steigernde bildhafte Verschlüsselung.
4.2. In ähnlicher Weise wie in seinem Umgang mit alttestamentlicher Geschichte läßt sich auch bei Paulus anhand seiner Zukunftshoffnungen zeigen, daß nicht ein universaler Geschichtshorizont der Rahmen ist, in dem der Apostel denkt, sondern daß er anhand der ihm vorgegebenen jüdischen und christianisierten apokalyptischen Zukunftsvorstellungen konkret auszulegen versucht, was es bedeutet, daß der auferstandene Gekreuzigte Hoffnung für die ganze Welt ist. Auch im Bereich der Eschatologie ist bei Paulus die Christologie der Schlüssel zum Verständnis seiner Zukunftsaussagen. Baumgarten ( 2 3 0 - 2 3 2 ) unterscheidet als wesentliche „Begründungszusammenhänge" die für das ganze Neue Testament wichtige „gegenseitige Verschränkung von futurischer Eschatologie und Parä n e s e " (Gerichts- und Parusieaussagen) und die „Verschränkung von . . . Bekenntnis und futurischer Eschatologie", die den Auferstehungsglauben als Hoffnung für die Zukunft auslegen. Generell auffällig ist die Reduktion apokalyptischer Zukunftsvorstellungen (Luz, Geschichtsverständnis 3 3 0 ; Baumgarten 2 3 3 ; klassisches Beispiel: Phil 1 , 2 3 ) . Wenn Paulus ausfuhrlichere Ausführungen über künftige Geschichte macht (z. B. I K o r 1 5 , 2 0 - 5 5 ; I T h e s s 4 , 1 3 - 5 , 1 1 ) , geht es nicht so sehr um Belehrung und Wissen, sondern um T r o s t und Konkretion der christologisch begründeten Zukunftshoffnung in bestimmten Gemeindesituationen.
Paulus dürfte schon einen Vorstellungsrahmen über den Ablauf künftiger Geschichte gehabt haben, der von jüdischer Apokalyptik geprägt und von christlicher Tradition und Prophetie modifiziert ist, aber er hat kein Interesse daran, ihn zusammenhängend zu entfalten, sondern greift von Fall zu Fall zur konkreten Explikation christologisch begründeter Hoffnung auf ihn zurück. So sind etwa das künftige Gericht und die künftige Totenauferstehung bei ihm kaum verbunden. 4.3. Zusammenfassung. Dem Urchristentum sind aus der jüdischen Apokalyptik universalgeschichtliche, die Vergangenheit und die Zukunft umfassende Entwürfe vorgegeben. Das Christusgeschehen wird aber im Urchristentum weder einfach als Etappe oder Zentrum in bereitstehende Geschichtsentwürfe eingezeichnet, noch kommt es im Neuen Testament zu einem ausgeführten christlichen, die gesamte Geschichte umfassenden neuen Entwurf. Vielmehr versucht das Urchristentum mit Hilfe alttestamentlicher und apokalyptischer Sprache zu sagen, wer Jesus Christus ist, und bedient sich der Elemente vorgegebener Geschichtsentwürfe, um auszulegen, was es bedeutet, daß der Gott Israels in seinem Handeln an Jesus sich selbst treu geblieben ist und daß dieses Handeln für die Zukunft nicht nur der Gläubigen, sondern der ganzen Welt entscheidende Bedeutung hat. Am Ende der neutestamentlichen Zeit steht noch nicht eine zusammenhängende Schau der Geschichte aus christlicher Sicht, sondern es begegnen mehrere geschichtstheologische Ansätze, die sich erst in späterer Zeit zu einem einigermaßen geschlossenen christlichen Geschichtsbild zusammenfanden. Literatur J ö r g Baumgarten, Paulus u. die Apokalyptik, 1 9 7 5 ( W M A N T 4 4 ) . - Günther B o r n k a m m , Der Auferstandene u. der Irdische: ders./Gerhard Barth/Heinz J o a c h i m Held, Uberlieferung u. Auslegung im Matthäusevangelium, 7 1 9 7 5 , 2 8 9 - 3 1 0 ( W M A N T 1 ) . - Rudolf Bultmann, Gesch. u. Eschatologie, Tübingen 1 9 5 8 . - Ders., Das Verhältnis der urchristl. Christusbotschaft zum hist. Jesus, 1 9 6 1 ( S H A W . P H 1 9 6 0 / 3 ) = ders., Exegetica, Tübingen 1 9 6 7 , 4 4 5 - 4 6 9 . - Ders., T h e o l . des N T , Tübingen 8 1 9 8 0 . - Hans v. Campenhausen, Die Entstehung der Heilsgesch.: Saec. 2 1 ( 1 9 7 0 ) 1 8 9 - 2 1 2 = ders., Urchristl. u. Altkirchl., Tübingen 1 9 7 9 , 2 0 - 6 2 . - Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 6 1 9 7 7 ( B H T h 17). — O s c a r Cullmann, Heil als Gesch., Tübingen 1 9 6 5 . - Erich Dinkler, T h e Idea of History in Earliest Christianity: ders., Signum Crucis, Tübingen 1 9 6 7 , 3 1 3 - 3 5 0 . - Ivan Dugandzic, Das „ J a " Gottes in
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Ulrich Luz
V. Das frühchristliche Geschichtsverständnis Wenn man die Gnostiker mitberücksichtigt, könnte man sagen, daß die frühen Christen heftig um den Geschichtsbegriff stritten — obwohl kein christlicher Autor vor -»Eusebius von Caesarea das Wort ioxogia zur Kennzeichnung seiner Arbeit gebraucht. Jesus Christus hatte ein Leben in der Welt, im Fleisch und in der Zeit, geführt: Dieses Urdatum war der Eckstein frühchristlicher Theologie und begründete ein Interesse an Geschichte schlechthin. Die frühen Christen beschäftigten sich nicht mit Geschichtsschreibung als gelehrter Disziplin, wie sie etwa von Livius, Tacitus und den hellenistischen Historikern gepflegt wurde, aber sie waren zutiefst befaßt mit dem Grundstoff von Geschichte, mit prozeßhaftem Geschehen. Gottes Selbstoffenbarung hatte stattgefunden in Fleisch und Blut, in Zeit und linearer Entwicklung - d. h. sie hatte stattgefunden auf der Bühne der Geschichte. Schon das Alte Testament sah die Geschichte als den Ort von Gottes Wirken in Zorn und Gnade, und das Neue Testament knüpfte an diese Sichtweise an, die nun jedoch durch die Inkarnation eine letzte Ausweitung erfuhr. Für das rechtgläubige Christentum waren der Tod und die Auferstehung Jesu Grundlagen des Glaubens (-> Jesus Christus). Die Faktizität dieser Ereignisse, im gewöhnlichen Sinn des Wortes, war die
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unabdingbare Voraussetzung der Erlösung (-»Heil und Erlösung). Darum gehört das Interesse an der Geschichte zur Mitte des Christentums. Die Gnostiker (-»Gnosis/Gnostizismus) leugneten allgemein beide Aspekte dieser Theologie der Erlösung durch Geschichte: Sie bestritten, daß die Vereinigung der Gottheit mit Fleisch und Blut wirklich stattgefunden hatte, und sie bestritten ebenso die geschichtliche Bedeutung der Erzählungen von Tod und Auferstehung. Während ihre Gegner daran festhielten, daß es entscheidend auf die Historizität jener Ereignisse ankam, betrachteten die Gnostiker sie als einen symbolischen Ausdruck anderer Wahrheiten. Der Gegensatz in dieser Frage kam in vielfältiger Weise zum Ausdruck, er kann aber klar aufgezeigt werden durch eine Gegenüberstellung der Lehre -»Tertullians von der -»Auferstehung des Leibes (De Carne Christi 5) und der Auffassung des Traktats De resurrectione von -»Nag Hammadi: Während Tertullian betont, daß Fleisch und Blut auferweckt werden, legt das gnostische Werk dem Begriff „Auferstehung" verschiedene Bedeutungen bei, wobei aber offenkundig eine in der Gegenwart errreichbare psychologische Befreiung des Gläubigen gemeint ist (NHC 1,4/49,16-30). Der Gnostizismus denkt generell ahistorisch und neigt dazu, die natürliche Welt und ihre Entwicklung in der Zeit zu entwerten. Die Segnungen, die der orthodoxe Gläubige in der Zukunft erwartet, können vom Gnostiker bereits in der Gegenwart erlangt werden, zumindest in symbolischer Form. Der Zeit und der Geschichte mangelt es nach gnostischer Auffassung an Realität, und selbst wenn zugestanden wird, daß sich Tod und Auferstehung Jesu in diesem Rahmen ereignet haben, können solche Ereignisse für den Gnostiker doch nur einen symbolischen Wert besitzen. Die Gnostiker reden dauernd im Präsens, wohingegen die Orthodoxen Präteritum und Futur gebrauchen. Für sie wird das Geschehen der Vergangenheit künftige Wirkungen hervorbringen, und es ist dieses Insistieren auf zeitlicher Entwicklung, das die zutiefst geschichtliche Denkweise des rechtgläubigen Christentums begründet. Es besteht eine Verbindung (genauer eine Vielzahl von Verbindungen) zwischen Vergangenheit und Zukunft, und die vergangene Auferstehung Jesu wird zur künftigen Auferstehung der Gläubigen führen. Dies ist die Perspektive der Orthodoxie; durch die Betonung des zeitlichen Prozesses gewinnt sie ihre geschichtliche Basis. Bis zur Mitte des 2. Jh. lebten viele Christen in der Erwartung, daß die Parusie unmittelbar bevorstehe (-•Eschatologie). Mit anderen Worten: Sie rechneten damit, in naher Zukunft den Abschluß der Geschichte zu erleben. Dieses Ende aller Dinge, das jeden Augenblick eintreten konnte, sollte sich innerhalb des Kosmos, in den Dimensionen von Fleisch, Blut und Zeit abspielen. Eine solche Überzeugung vom Lauf der Geschichte hatte einen starken Einfluß auf das tägliche Leben der Gläubigen, und das Bewußtsein, daß diese Welt im Vergehen war, prägte ihr Verhalten und ihre Werte. Die Gnostiker dagegen blieben von solchen Erwartungen weithin unberührt, da sie glaubten, daß die letzte Auflösung der Dinge im Pleroma, in der „Fülle", stattfinden würde - ein neutestamentliches Wort, mit dem sie die göttliche Sphäre, jenseits des bloßen Kosmos und seiner Geschichte, bezeichneten. Aus der Erwartung des baldigen Weltendes heraus fragt der Brief an Diognet (1) warum das Evangelium so spät kam und damit seine Wohltaten all jenen vorenthielt, die vor Christus gelebt hatten. Die Antwort liegt in dem Gedanken, daß alle Geschichte ihren Dreh- und Angelpunkt in Christus besitzt, aber die Frage selbst zeigt, daß das Geschichtsbewußtsein des Frühchristentums eine Schwierigkeit schuf. Man bemerkte in der geschichtlichen Entwicklung eine Unausgewogenheit, da die entscheidenden Heilstaten so kurz vor dem Ende geschehen waren. Was war die Logik in diesem Plan? Im Fortgang der Zeit freilich verblaßte die Naherwartung, und es ergab sich ein neues Geschichtsbild: Man stellte sich auf eine längere Dauer der irdischen Welt ein, wobei Christus das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft bildete. Das geschichtliche Bewußtsein ist im frühchristlichen Schrifttum überall gegenwärtig: Die vergangenen Ereignisse des Lebens Jesu und die künftigen Ereignisse, die den Gläubigen erwarten, stehen im Zentrum des christlichen Geschichtsdenkens. Eine „Theologie der Geschichte" bietet ->Irenäus von Lyon mit seiner Lehre von der Rekapitulation
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(avaxEcpakaiwoLg). Von Paulus ausgehend, sieht er in Christus den zweiten -»Adam. Die Inkarnation Christi bringt wieder zusammen, was dem Menschengeschlecht durch Adam verloren worden war; sie bedeutet einen neuen, aber parallelen Anfang. Mit ihr setzt eine zweite Entfaltung der Menschheitsgeschichte ein, die dem mangelhaften ersten Beginn korrespondiert und ihn zugleich transzendiert. Dieses Mal wird der Kampf mit —• Sünde und ->Teufel gewonnen, und die Folge von Adams Übertretung wird durch den Gehorsam des zweiten Adams ausgelöscht (haer. 5,21,2). Irenaus entwickelt den Gedanken auch in bezug auf -»Maria; sie wird als zweite Eva verstanden. Wiederum entspricht der zweite Beginn dem ersten und transzendiert ihn zugleich: Eva war ungehorsam, Maria gehorsam; Eva handelt aus Unglauben, Maria aus Glauben (haer. 3,22,4). An beiden angeführten Stellen ist Irenaus bemüht, die Gleichförmigkeit zwischen dem prototypischen Ereignis und seiner Rekapitulation herauszustellen. Die Ähnlichkeit des Geschehens zeigt nach seiner Ansicht, daß es ein und derselbe Vater ist, der die Menschheitsgeschichte nach einem bestimmten Muster lenkt. Irenaus grenzt sich hier zweifellos gegen gnostische Anschauungen ab; gleichwohl vertritt er eine Geschichtsauffassung, in der die Dinge sich, zumindest in bestimmter Hinsicht, wiederholen. Auch seine Vorstellung von der -> Kirche wird in diesen Rahmen einbezogen, denn Christus ist das Haupt der Kirche und wird zur festgelegten Zeit alles an sich ziehen (haer. 3,16,6). Die Theologie des Irenaus hat Raum für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; er hält nicht nur eine geschichtliche Entfaltung für notwendig, sondern findet auch eindeutige Wiederholungsmuster in dieser Entwicklung. Die irenäische Geschichtstheologie ist eine differenzierte Antwort auf die gnostische Entwertung der Geschichte und weist zugleich auf eine andere, umfassendere Darstellung der Geschichte in ihrem Fortschreiten voraus, nämlich auf —• Augustins Gottesstaat. -*Clemens von Alexandrien bietet eine Geschichtstheologie, die zum Teil auf der zeitgenössischen Historiographie basiert und so die christliche Geschichtsschau mit der Geschichtsschreibung der griechischen Welt verbindet. Clemens gibt eine ausführliche Deutung der Vergangenheit, wobei er großes Gewicht auf das hohe Alter der jüdischen Kultur legt. Dadurch gelangt er zu der Feststellung, daß die griechische Kultur nur ein blasser Abklatsch der jüdischen und dieser in religiöser wie intellektueller Hinsicht weit unterlegen sei. Bereits Autoren wie —•Tatian (or.31-41/31,3-43,8) und -»Theophilus von Antiochien (Autol. 111,16-29; ->Apologetik) hatten die These vertreten, daß Mose älter sei als die griechischen Philosophen und die Bibel zuverlässiger als die Historiker. Sie folgt darin den jüdischen Apologeten. Clemens entwickelt eine Plagiatstheorie, wonach die Griechen ihre Vorstellungen von den Juden entlehnten (str. 1,101-147.158-164). So habe z.B. Plato seine politische und Gesellschaftsphilosophie von Mose übernommen (str. 1,165 f). Diese Theorie war zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich und gehörte zum Arsenal christlicher -»Apologetik. Trotz ihrer polemischen Verwendung offenbart sie einen tiefen Respekt vor der griechischen Kultur sowie den Wunsch, eine Verwandtschaft zwischen dieser und der werdenden christlichen Kultur nachzuweisen. Die Philosophie war für die Griechen, was das Gesetz für die Hebräer war (str. 1,28), und die im Christentum erreichte Synthese erscheint Clemens als ein Teil des göttlichen Heilsplanes in der Geschichte. Es handelt sich hier eigentlich um eine Theologie der Kultur, da es letztlich um die Bewertung der griechischen Tradition geht; doch stützt sich diese Theologie in erheblichem Maße auf die zeitgenössische Geschichtsschreibung, wenn sie nicht sogar völlig von ihr abgeleitet ist. Während die Geschichtstheologie des Irenäus auf paulinischen Prinzipien (und in manchen Stücken auf —»Hegesipp) fußte, floß die des Clemens von Alexandrien aus seiner Lektüre hellenistischer Autoren. Die Geschichtstheologie bildet nur einen schmalen Teilaspekt des clementinischen Denkens. Sie ist jedoch insofern von Wichtigkeit, als in ihr eine sehr viel breitere Entwicklung ihre Schatten vorauswirft. Wie Irenäus zu Augustin, so verhält sich Clemens zu —•Eusebius von Caesarea (—>Kirchengeschichtsschreibung). Eusebius steht in der Tradition von -»Alexandrien und vor allem der des —>Origenes. Doch während Origenes die
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historische Grundlage des Christentums abschwächt, indem er die Relevanz der biblischen Geschichte bestreitet (Hanson 259-288) und eher auf eine transzendente als auf eine irdische Vollendung ausblickt, ist Eusebius an biblischen Orten und Ereignissen sehr interessiert (Onomasticon; Canones evangeliorum). Und während Clemens von Alexandrien die Vergangenheit unter dem Aspekt der Legitimierung des Christentums betrachtet, spiegelt sich bei Eusebius der Triumph des Christentums (-»Konstantin I.); er sieht die Vollendung der Geschichte in der Christianisierung des Römischen Reiches (Aufnahme eines Ansatzes bei —»-Melito von Sardes: vgl. h.e.IV,26,5-ll). Eusebius schuf ein christliches Gegenstück zu den griechischen und jüdischen Chroniken, die Clemens benutzt hatte. Zwar ist seine Chronik nicht das erste christliche Werk dieser Art (->Africanus), wohl aber das bekannteste und ausgereifteste. Auch in ihr zeigt sich das Bestreben, christliche Theologie mit hellenistischer Geschichtsbetrachtung zu verbinden. Die Kirchengeschichte ist das berühmteste Werk des Eusebius: In ihr stellt er alle möglichen Nachrichten über die Geschichte des Christentums bis auf seine eigenen Tage zusammen, gibt Listen von Bischöfen und christlichen Autoren und bietet Nachrichten über die Häresien, die Verfolgungen und über das Schicksal der Juden. Das Werk ist aus heterogenem Material zusammengefügt, folgt aber darin dem Vorbild der hellenistischen Geschichtsschreibung, die enzyklopädisch angelegt war und scheinbar wahllos ihr Material aufhäufte. Am klarsten zeigt sich die universale Betrachtungsweise, wie sie für das alexandrinische Christentum charakteristisch war, jedoch in der Praeparatio Evangelica : In diesem Werk behandelt Eusebius mit den bekannten Argumenten das Verhältnis zwischen jüdischer und griechischer Kultur. Der Denkansatz selbst kommt von der Universalgeschichte her, wie sie von den hellenistischen Historikern seit Ephoros gepflegt wurde; er impliziert, daß man die Völker der Ökumene nicht als verschiedene, sondern als vergleichbare Größen behandelt. Durch diese bei Eusebius zwar stark gemilderte, aber immer noch spürbare Sichtweise hat die griechische Geschichtsbetrachtung die christliche Geschichtstheologie in Form und Inhalt befruchtet. (Es sei jedoch angemerkt, daß ein Kenner wie A. Momigliano die Originalität des Eusebius stärker betont.) Die Bedeutung des Eusebius kann kaum überschätzt werden. Seine Adaption griechischer Normen für christliche Zwecke wies einer ganzen Generation christlicher Geschichtsschreiber den Weg, darunter Philippus von Side (frühes 5. Jh.), Philostorgius (ca. 368-ca. 430), Sokrates (ca. 380-450) und Sozomenus (frühes 5. Jh.; -+Kirchengeschichtsschreibung). Alle vier arbeiteten in Konstantinopel und gaben ihren Werken Titel wie XQiOTiavixri iazoQÌa. So entstand eine christliche Geschichtsschreibung, die in ihrer Form den Maßstäben griechischer Historiographie entsprach. Literatur J . A. Aldama, Adam, typus futuri: SE 13 (1962) 2 6 6 - 2 8 0 . - A d h é m a r d'Alès, La doctrine de la récapitulation en S. Irénée: R S R 16 (1916) 1 8 5 - 2 1 1 . - G . K . van Andel, T h e Christian concept of history in the chronicle o f Sulpicius Severus, Amsterdam 1976. - André Benoît, Saint Irénée, intr. à l'étude de sa théologie, Straßburg 1960. - Elias J . Bickerman, Origines Gentium: CP 47 (1952) 6 5 - 8 1 . - E . L . Bowie, Greeks and their past in the second sophistic: PaP 4 6 (1970) 3 - 4 1 . - Henry Chadwick, Early Christian thought and the classical tradition, O x f o r d 1966. - Glenn E Chesnut, T h e pattern o f the past. Augustine's debate with Eusebius and Sallust: O u r c o m m o n history as Christians. Essays in honour of Albert C. Outler, N e w York 1975, 6 9 - 9 5 . - Brian Croke, T h e originality of Eusebius' Chronicle: A J P 103 (1982) 1 9 5 - 2 0 0 . - Albrecht Dihle, Z u r hell. Ethnographie: Grecs et Barbares, Genf 1962 (Fondation H a r d t . Entretiens sur l'antiquité classique 8) 2 0 5 - 2 3 2 . - Robert M . Grant, Eusebius as a Church Historian, O x f o r d 1980. - Richard Patrick Crosland H a n s o n , Allegory and event. A study o f the sources and significance of Origen's interpretation o f scripture, London 1959. Robert A. Markus, Pleroma and fulfilment. T h e significance o f history in St. Irenaeus' opposition to Gnosticism: VigChr 8 (1954) 1 9 3 - 2 2 4 . - Eginhard Peter Meijering, G o d C o s m o s History. Christian and neo-platonic views on divine revelation: ders., G o d Being History, A m s t e r d a m / O x f o r d / N e w York 1975, 5 2 - 8 8 . - Robert L.P. Milburn, Early Christian Interpretations of History, N e w York 1952; dt.: Auf daß erfüllt werde. Frühchristi. Geschichtsdeutung, München 1956. - E i n a r Molland, Clement of Alexandria on the origin of Greek philosophy: SO 1 5 / 1 6 (1936) 5 7 - 8 5 . - Arnaldo Momigliano, Pagan and Christian historiography in the fourth century a . d . : ders. (Hg.), T h e C o n -
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Raoul Mortley VI. Von Augustin bis zum Humanismus 1. Spätantike 2. Früh- und Hochmittelalter 3. Geschichtssymbolismus und Scholastik Spätmittelalter und Humanismus (Anmerkungen/Literatur S. 625)
1.
4.
Spätantike
Die heidnische Geschichtsschreibung der Spätantike dachte schon nicht mehr zyklisch, sondern linear 1 ; insofern bewirkte die Einführung eines christlichen Telos keinen völligen Bruch mit der bisherigen Historiographie. Aber es mußte zu einer Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Anschauung kommen, daß das römische Imperium den Kulminationspunkt einer langen Entwicklung der menschlichen Gestaltungsfähigkeit darstelle, dem nur noch das Ende der Welt folgen könne. Äußerer Anlaß war die Eroberung der Stadt —>Rorn i. J. 410 durch die Westgoten. Die spätrömische Aristokratie erblickte darin den Zorn der Götter über das Bekenntnis so vieler Römer zum Christengott und eine letzte Warnung vor dem katastrophalen Ende. Dieser Vorwurf forderte eine Apologie heraus, die Augustin in den Jahren 412—426 mit seinen 22 Büchern De civitate Dei verfaßte. Vor allem ihr zweiter Teil gibt zu erkennen, daß es sich nicht um einen Abriß der Menschheitsgeschichte handelt, auch nicht um eine Abgrenzung von —»Kirche und Staat, sondern um eine Rechtfertigung des Christentums und dementsprechend um die Frage, inwieweit das römische Imperium einen Endwert besitzen könne. Der Schlüsselbegriff civitas Dei in diesem Werk ist schwer zu erschließen und kann bereits auf eine eigene Deutungsgeschichte zurückblicken. Unbestritten scheint heute, daß civitas Dei die Gemeinschaft derer meinte, die sich auf dem Wege zum ewigen Heil befinden; sie könne in die Welt irdischer Gemeinschaften eingebettet sein, sei aber durch Grundlage und Bestimmung von diesen prinzipiell verschieden. In der konkreten Situation des 5. Jh. ging es darum, dem Christentum allein einen in der Transzendenz begründeten absoluten Endwert zuzuschreiben, der einer innerweltlichen Einrichtung, und sei sie das römische Imperium, nicht zukommen könne. Das römische Imperium konnte unter dieser Voraussetzung ein nützliches Werkzeug der göttlichen Providenz sein, aber sein Charakter als ein eschatologisch Vollendetes war im Kern getroffen. Wie schwer dies zu begreifen war, zeigt sich an den sieben Büchern der Htstoriae adversus paganos, die der Spanier —>Orosius 416/18 im Auftrage Augustins verfaßte. Orosius sollte das Argument, die heidnischen Götter seien nicht in der Lage gewesen, Unheil und Sittenverfall von der civitas terrena Roms fernzuhalten, durch fleißiges Sammeln von Beispielen erhärten. Mit einer bloßen Aneinanderreihung von Fakten indes begnügte sich das Werk nicht, sondern seine Grundkonzeption bestand im Nachweis einer stetigen Abnahme von Unheilsschlägen, je wirksamer die Ausbreitung des Christentums geworden sei; Gott bestrafe die Sünden der Menschheit und wende den Guten seine Gnade zu. Aufstieg und Verfall auf moralische Ursachen zurückzuführen, entsprach durchaus römischem Denken, aber der Bewertungsmaßstab war bereits das Verhalten der Menschen vor Gott. Dieser Bezugspunkt kommt auch im zeitlichen Beginn dieser Weltchronik zum Ausdruck. Die Weltgeschichte der heidnischen Antike begann mit dem Assyrerkönig Minus, der die Stadt Ninive gegründet haben soll. Dieser Ansatz war ein empirisch-innerweltlicher, insofern er ein gegenwärtiges Großreich zur Basis der historischen Erkenntnis machte und von ihm aus die Nachrichtensplitter zeitlich zurückverfolgte, bis sie sich im Dunkel verloren. Auch die Chronik des —»Eusebius von Cäsarea, die im wesentlichen ein chronologisch ge-
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ordnetes Datengerüst vorlegen wollte und von —»Hieronymus aus dem Griechischen übersetzt wurde, hatte sich einem Großreich als Bezugsrahmen zur Verarbeitung vieler und disparater Einzelvorgänge verpflichtet gefühlt. Abraham, mit dem seine Chronik begann, war in den Augen des Eusebius ein Zeitgenosse des Minus; seine Absicht, ein gleich hohes Alter der biblischen Gestalten nachzuweisen, schien mit diesem Anfang der Weltgeschichte erfüllt. Demgegenüber setzte Orosius mit der Schöpfung, näherhin mit dem Sündenfall der Menschheit, einen neuen Beginn, der nicht nur das heilsgeschichtliche Wirken Gottes ungleich stärker zur Geltung kommen ließ, sondern auch geeignet war, die außerhalb des römischen Reiches vorgefallenen Ereignisse in die Betrachtung einzubeziehen. Hier allerdings zeigt sich der Unterschied zu Augustin. Orosius ging zwar nicht so weit wie die Eusebianische Reichstheologie, die den Sieg der Weltmonarchie über die Polyarchie der kleinen Völker mit dem Sieg des Monotheismus über den Polytheismus in eine Entsprechung setzte und die weltumgreifende Herrschaft des Kaisers als eine Verkörperung des Monotheismus auf Erden deutete; aber er hielt am Vollendungscharakter des Imperium fest, weil er seine Apologie auf der These aufgebaut hatte, daß sich der Heilsplan Gottes in einer gesetzmäßig festgelegten Entwicklung der gesamten Geschichte bis hin zur völligen Christianisierung der Welt manifestiere. Er griff das Bild der von Babylon über Karthago und die Makedonier nach Rom wandernden Weltherrschaft auf, das ein fünftes Großreich ausschloß, da die Wanderung der Geschichte von Ost nach West an ihrem Ziel angekommen sei. Aber auch einen Zerfall des letzten Großreichs und den Verlust der Weltmonarchie könne es nicht geben, denn das zöge die Zerrissenheit der Kirche nach sich. Die ,-fax Romana" wurde ihm praktisch zur „pax christiana"-, die in das Imperium eingedrungenen Germanen müßten nur christianisiert werden, dann wären sie auch in die römische Friedensordnung integriert. Eine Kontinuität der römischen Geschichte bestand nur noch formal, in Wirklichkeit war das Christentum zum Träger und Daseinszweck des Imperium aufgestiegen. —»Cassiodor im 6. Jh. begrüßte die Barbaren im Grunde ebenfalls als brauchbare Römer, wenn sie nur Christen würden. Mit einer Geschichte des Gotenvolkes suchte er die Koexistenz von römischer und gotischer Herrschaft in Italien geistig zu verarbeiten. Dieses Bemühen ist zu sehen vor dem Hintergrund einer geistigen Wiederannäherung von Ost und West auf der Grundlage des gemeinsamen klassischen Kulturerbes, an der sich auch Cassiodor durch Ubersetzungen beteiligte. Innerhalb dieses Rahmens aber gehörte er der italischen Aristokratie nahestehenden Kreisen an, die in der Gotenherrschaft eine Garantie gegen ein völliges Aufgehen -»Italiens in der Kaiserherrschaft —>Konstantinopels sahen. Ob Cassiodor die verlorene Gotengeschichte eines Ablabius ausgeschöpft hat, muß offen bleiben. Jedenfalls glaubte er die Ostgoten dadurch romanisieren zu können, daß er ihre nur mündlich überlieferte und hinsichtlich ihrer zeitlichen Tiefendimension völlig entstellte Geschichte verschriftlichte und in das Datengerüst der griechisch-römischen Geschichte einordnete. Zugleich respektierte er germanische Vorstellungen, indem er die Goten als eine Gemeinschaft im Gefolge des von mythischen Gottheiten abstammenden Königsgeschlechts der Amaler in Erscheinung treten ließ. Von den 12 Büchern der Gotengeschichte Cassiodors wüßte man nichts mehr, wenn Jordanis ihren Inhalt nicht um 551 in seinem Werk De origine actibusque Getarum zusammengefaßt hätte. Möglicherweise auf Veranlassung Cassiodors unterbrach er seine Arbeit an einer römischen Geschichte (später Romania genannt), um die Goten mit einem Abriß ihrer Geschichte indirekt aufzufordern, sich auf immer im römischen Reichsverband einzurichten, aber nicht bis zur Selbstauflösung im Römertum aufzugehen. Es war ein Versuch, die Ostgoten vor ihrer Vernichtung zu bewahren und die faktische Autonomie der italischen Romanen gegenüber dem Kaiserhof wiederherzustellen. Für —»Isidor von Sevilla war das Imperium im frühen 7. Jh. bereits eine abgeschlossene Vergangenheit; er zog aus der Beherrschung der Iberischen Halbinsel durch die Westgoten (—»Spanien) die Konsequenzen. Materialmäßig sind die beiden Fassungen seiner Weltchronik und die beiden Versionen seiner Gotengeschichte nicht sonderlich interessant, aber sein
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historisches Weltbild, das auch in seinen 620 begonnenen Etymologiae einen grundlegenden Niederschlag gefunden hat, ist eigenständig. Bis zum Einbruch der Westgoten in die Iberische Halbinsel ließ er das Imperium als eine auch Spanien angehende Realität gelten, jetzt aber sei es nicht mehr als ein regnum neben anderen regna. Von der weltumspannenden Größe übriggeblieben erschien ihm nur die Ecclesia; sie konnte mit der weltlichen Herrschaft nirgendwo mehr deckungsgleich sein. Erst jetzt setzten sich also die von Augustin aufgestellten Maßstäbe durch. Folglich verbot sich für Isidor die Grundvorstellung einer Wanderung der Menschheit in der Geschichte von einem Weltreich zum anderen; stattdessen verstand er die Menschheitsgeschichte als einen Reifungsprozeß und baute die von Augustin beiläufig erwähnte Einteilung der Weltgeschichte in sechs Altersstufen aus. Diese aetates verstand er nicht als bloß aufeinanderfolgende Epochen, sondern als den jeweils historischen Ursprung der verschiedenen in seiner Gegenwart erkennbaren Ordnungsschichten. In der Orthographie, Phonetik und Morphologie tragen die Schriften Isidors noch ein klassisches Gepräge, aber in Syntax, Stil und Rhythmus zeigen sie schon nicht mehr antikes Profil. Die Idee von der Einheit der Geschichte und von ihrem zielgerichteten Gesamtablauf war noch vorhanden, aber sie drohte sich immer wieder in Einzelheiten zu verlieren. Isidors Werk war der vorläufig letzte Versuch einer großartigen Deutung des menschlichen Daseins in historischer Perspektive, der bezeichnenderweise ein Torso blieb. Die erlahmende Kraft zur Synthese und die regionale Selbstisolierung sind ein Kennzeichen der auslaufenden Antike, das dem äußeren Zerfall des Imperium folgte. Der Schwund des römischen Gemeinsamkeitsbewußtseins hatte im Westen in der ersten Hälfte des 5. Jh. eingesetzt; nach dem 6. Jh. war auch der Osten nicht mehr in der Lage, die Gesamtkirche im Blick der Geschichtsschreibung zu halten. Wie weit der Prozeß in einem westlichen Randgebiet des ausgehenden 6. Jh. schon fortgeschritten war, zeigt sich an —»Gregor von Tours. Gregor gehörte dem romanischen Senatorenadel in Südgallien an, in dem fränkischen Herrschaftsteil also, der von fränkischen Siedlern nur sehr dürftig durchsetzt war. Seiner Feder entstammen Wunderberichte, Heiligenleben und die zwischen 573 und 593/94 geschriebenen Decem libri historiarum. Die ersten vier Bücher dieses Werkes scheinen zu rechtfertigen, daß es sich um eine Geschichte Galliens, zum Teil sogar um eine Geschichte der Franken handelt, allerdings mit einer genauen Kenntnis nur der einheimischen Romanen, während vom fränkischen Bereich letztlich das merowingische Königshaus im Mittelpunkt steht (—»Frankreich). Vom fünften Buch ab erscheint das Werk jedoch wie eine in Fortsetzungen geschriebene Selbstrechtfertigung. Das erklärt die auffallend subjektive Begrenzung des Gesichtsfeldes, das Bemühen um packende Anschaulichkeit und die innere Aufteilung des Werkes. Die Zäsuren orientieren sich an Herrschaftswechseln, soweit die Stadt Tours davon betroffen war. Sie waren besonders für Gregor von Bedeutung, da er zumindest verdeckt der Anhänger einer Partei in seiner Bischofsstadt war. Erwägungen grundsätzlicher Art über Funktion oder Geltung des Imperium oder über den Standort der Ecclesia fehlen. Dabei war Gregor kein kunstloser, treuherziger und naiver Barbar am Beginn der mittelalterlichen Historiographie, sondern fühlte sich noch ganz als ein Vertreter der Romania, der um die eigene Unzulänglichkeit in der Kenntnis der Grammatik nur zu gut wußte. Sein überaus materialreiches, in der formalen Gestaltung aber auch reichlich unausgewogenes Werk, in welchem das Wesentliche vom Unwesentlichen kaum noch abgesetzt erscheint, gibt einen im Grunde zufälligen Ausschnitt aus der Geschichte Galliens; eine Geschichte des fränkischen Volkes, das man der Gotengeschichte Cassiodors an die Seite stellen könnte, ist es auf keinen Fall. Während der ganzen Spätantike ist ein Bemühen zu beobachten, durch immer wieder versuchte Rückgriffe auf die klassische Norm die überkommenen Grenzen nicht zu überschreiten. Es konnte eine durch zunehmende Unsicherheit und Unschärfe der Konturen gekennzeichnete, gewissermaßen auf einen Nullpunkt im 7./8. Jh. zueilende Entwicklung nicht verhindern. Die Unsicherheit ist nicht nur daran zu erkennen, daß sich mit Ausnahme Prokops im 6. Jh. alle Historiographen mit anderen Berufsbenennungen bezeichneten und sich nicht als Historiker bekannten, sondern auch am Einbruch des Biographischen in die hi-
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stenographische Darstellung. Nach den Normen der Antike war die Biographie kein Bestandteil der Historie. Diese schilderte Ereignisse und folgte deshalb der chronologischen Aufeinanderfolge; jene empfahl durch Charakterisierung von Personen zur Nachahmung und zog ein systematisierendes Ordnungsprinzip dem chronologischen vor. Die Grenzen der Form wurden nicht gesprengt, aber es ist kennzeichnend, daß Gregor von Tours in seine Darstellung der biographischen Gattung angehörende Nachrufe einstreute, um jede Person zu charakterisieren. Damit hängt auch wohl der Einbruch des Irrationalen in die historiographische Tätigkeit zusammen. Das Übermaß an Wunderberichten bei Gregor von Tours ist gewiß ein Ausfluß der —»Hagiographie, aber nicht allein; denn auch der heidnische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus aus dem 4. Jh. konnte mit der Vergöttlichung der von ihm dargestellten Persönlichkeiten ein Vorbild abgegeben haben. Langfristig scheint hier ein Wandel in der Funktion der Historiographie vorzuliegen. Aufgabe der antiken Geschichtsschreibung war es gewesen, die jüngste Vergangenheit kritisch zu durchleuchten und als Mahner zur Besinnung auf allgemein verbindliche sittliche Normen aufzutreten. Weil Ammianus Marcellinus an der senatorischen Romidee festhielt, war für ihn das Verhalten des Kaisers zum römischen Senat noch ein ausschlaggebendes Kriterium des Urteils. Aber Zosimus in der ersten Hälfte des 5. Jh. verkehrte die bisherige Funktion bereits in ihr Gegenteil. Obwohl er Heide war, legte er Theodosius II. sein Geschichtswerk vor mit der Bitte, ihm mitzuteilen, was er noch eingefügt zu sehen wünsche. Wie schon erwähnt, begann zu dieser Zeit auch das römische Gemeinsamkeitsbewußtsein zu schwinden. Im Unterschied dazu konnten die Prinzipien der antiken Biographie ziemlich unbeschadet in das Mittelalter hinübergerettet werden. Zurückzuführen ist dies auf die erstaunlich dauerhafte Autorität der Vita des Bischofs —»Martin von Tours, in der sich noch einmal die ganze Gestaltungskraft der Antike gesammelt hatte. Ihr Autor —»Sulpicius Severus verfaßte sie ab 397 als eine Apologie seines Leitbildes Martins und dessen umstrittenen Mönchsideals. Dem Ideal der antiken Biographie entsprechend ließ Sulpicius seinen Helden als ein nachahmenswertes Vorbild in Erscheinung treten, als einen Christen, dessen Heiligkeit nicht durch ein blutiges —»Martyrium verbürgt war, sondern erstmals durch von Gott bewirkte -»Wunder erwiesen werden mußte, ja durch seine Heiligkeit sogar als eine Postfiguration Christi. Der ereignisreiche Lebenslauf Martins diente nur dazu, diese von Anfang an vorhandene Eigenschaft in immer neuen Formen für die Außenwelt sichtbar werden zu lassen; die Handlungsabläufe aus dem Leben Martins wurden so mit Berichten aus der Heiligen Schrift in Analogie gesetzt, daß der Eindruck entstehen mußte, in Martin wiederhole sich die biblische Geschichte. In ihm bündelten sich alle Traditionslinien jüdisch-christlichen Verstehens von Heiligkeit; als Heiliger sollte Martin eine Verlängerung dessen in der Geschichte verkörpern, von dem alle Heiligkeit ausgeht. Nicht nur weil Martin von Tours als Schutzpatron der Franken verehrt wurde, sondern auch weil die Martinsvita eine geniale, weil zwanglose Synthese von konkreter Situationsgebundenheit und überzeitlicher Gültigkeit eines Heiligenbildes darstellte, konnte sie zur Norm der Hagiographie im frühen Mittelalter werden. Der Personenkreis, dem das hagiographische Leitbild entnommen wurde, und dessen Tätigkeitsfeld wechselten häufig von Epoche zu Epoche, aber das, was Heiligkeit ausmachte, orientierte sich stets an der Martinsvita. In diesem Sinne autorisierten Wunder das, was man auf einem anderen Wege durch Zusammenstellen von Tugenden zu erweisen suchte; der Tugendkatalog konnte individuell sein, durfte aber den von der Martinsvita gesetzten Rahmen nicht überschreiten. Im Prolog zur Vita hatte Sulpicius Severus die Forderung aufgestellt, daß der biographische Gegenstand für den Leser Ansporn und Hilfe auf dem Weg zum ewigen Leben sein müsse. Da nur der Heilige ein solches Vorbild abgeben konnte, verengte sich die Biographie zur Hagiographie und ließ als Ausnahme höchstens noch die Herrschervita zu. 2. Früh- und
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Der Angelsachse —» Beda Venerabiiis im frühen 8. Jh. verkörpert den Beginn einer wiederaufsteigenden Entwicklungslinie. Im Unterschied zu Gregor von Tours und Isidor von
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Sevilla repräsentiert er nicht die Unsicherheit in einer ausklingenden Uberfülle, sondern das Ringen um Zuverlässigkeit und Vollständigkeit bei der Aufstellung eines von Grund auf neuen historischen Gerüstes. Als angelsächsischer Mönch war er in erster Linie Exeget. Seine Beschäftigung mit der Heiligen Schrift und mit dem Osterfesttermin führte zur Grundlegung einer Chronologie (—»Zeitrechnung) im Buch De temporibus etwas später insbesondere in De temporum ratione und, um sie zu illustrieren, zu einer Weltchronik, die das Einteilungsprinzip der Weltaltersstufen Isidors in modifizierter Form übernahm. Hier bereits zeigt sich seine Neigung, den angesehenen Autoritäten zu mißtrauen und direkt zu den von ihnen angegebenen Quellen vorzustoßen. Daneben betätigte sich Beda hagiographisch. Zugang zur Biographie fand Beda als Chronologe; d.h., das Panegyrische und Zeitlose der Tugenden betrachtete er nicht als seine wichtigste Aufgabe, sondern die historischen und nach Möglichkeit dokumentarisch belegten Züge im Lebensbild eines Heiligen. Höhepunkt dieser Tätigkeit war seine nach 725 verfaßte Historia ecclesiastica gentis Anglorum, eine wirkliche Kirchengeschichte, welche die Historia ecclesiastica des Eusebius in der Fassung des Rufinus ergänzen wollte, weil dort die britische Insel nicht berücksichtigt sei (—»Kirchengeschichtsschreibung). Sie besteht aus einer Fülle von Kurzbiographien kirchlicher Personen, wobei die Daten des Amtswechsels im Vordergrund stehen. Dieses Element der Gesta konnte Beda dem römischen Liber Pontificalis entnommen haben, bezog es aber in möglichst synchroner Darstellung gleich auf mehrere Institutionen, so daß auf diese Weise die erste regionale Kirchengeschichte der Historiographie zustande kam. Bedas Werk wurde in Abschriften sogleich im Frankenreich bekannt; es hat nicht nur die heute geläufige Datierung nach der Inkarnationsära veranlaßt, sondern dem Neubeginn der karolingischen Geschichtsschreibung wohl auch die entscheidenden Impulse gegeben. Der Aufstieg der karolingischen Historiographie stand völlig unter dem Zeichen der karolingischen Bildungsreform (—»Bildung, —»Karolingische Renaissance). Ihr Initiator war —»Karl d.Gr., der alle erreichbaren Begabungen, vornehmlich aus dem Ausland, herbeirief, wodurch das fränkische Großreich eine eigene, ihm angemessene Repräsentation erfahren sollte. Das Ziel war nicht eine „Akademie" gelehrter Fachkräfte, sondern ganz allgemein Klarheit, Richtigkeit, Ordnung und Vernunft zu schaffen. In der Überzeugung, daß ein vertiefter Glaube nach allen Seiten hin fragen müsse und die Schöpfung im Erkenntnisvermögen auch der heidnischen Antike ihren Niederschlag gefunden habe, öffnete man sich der antiken Literatur, um dort einen Beitrag für eine richtig verstandene Weltordnung, eine Wertordnung und ein geordnetes Erkennen zu finden. Die karolingische Bildungsreform verlief in drei Wellen: Die erste suchte durch Kenntnis der Grammatik und durch Entwicklung einer klaren Schrift Grundlagen zu schaffen; die zweite ist gekennzeichnet durch eine Reflexion über das eigene Tun, die kurz nach der Kaiserkrönung Karls einsetzte und unter Ludwig dem Frommen eine sichtbare Vertiefung erfuhr, aber auch Unsicherheiten erzeugte; die dritte erreichte ihren Höhepunkt um die Mitte des 9. Jh. und wandte sich vorwiegend Einzelfragen zu, an ihr hatte das karolingische Ostreich schon keinen Anteil mehr.
Weil man sich des antiken Bildungsgutes nicht um seiner selbst willen zuwandte, kam es zu einer Rezeption der antiken Historiographie allenfalls am Rande. Der karolingischen Geschichtsschreibung blieb die Form der Annalistik eigentümlich, die ihr von den Angelsachsen zugetragen und von ihr selbst zu einer ansehnlichen Ausdrucksform entwickelt wurde. Der wechselnde Osterfesttermin (—»Ostern/Osterfest) machte eine Vorausberechnung des Datums nötig, die auf einer Tafel festgehalten wurde. Der Freiraum hinter dem Datum bot Platz für den Eintrag von Ereignissen, die im betreffenden Jahr vorgefallen waren; der Umfang der Einträge nahm zu, sie trennten sich schließlich vom Osterfestdatum und verselbständigten sich. Der von Jahr zu Jahr fortschreitende Eintrag erleichterte die gleichmäßige und nach außen hin emotionslose Behandlung von Kurznachrichten unter Umständen völlig disparaten Inhalts und begünstigte den Wechsel in der Autorschaft. Die dem Bereich der Hofkapelle entstammenden Fränkischen Reichsannalen übten in der Behandlung umstrittener Fragen Zurückhaltung, um den im Willen des Herrschers hergestellten und gewahrten Konsens der Franken untereinander umso wirkungsvoller verbreiten zu können. Die Anna-
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listik ließ sich aber auch, notfalls durch Umschreiben und Ergänzung vorliegender Fassungen, für eine kurzfristige Meinungsbildung von tagespolitischer Aktualität einsetzen. So wurden die Annales Mettenses priores um 805 ziemlich überstürzt zusammengestellt, um in die strittig gewordene Deutung der Kaiserkrönung einzugreifen; die Karolinger seien von Gott zum Kaisertum berufen, und diese Berufung sei nur durch den Willen des fränkischen Volkes verwirklicht worden, das erkannt habe, wie von Anfang an das Wohlwollen Gottes auf diesem Herrscherhaus ruhte. Umstritten ist heute, inwieweit die zum großen Teil in Klöstern verfaßten Annalen gegenseitig ausgetauscht wurden oder unabhängig voneinander einen wachsenden Widerhall der Karolingerherrschaft spiegeln. Ihrer Anlage nach faßten sie die jüngere Geschichte ins Auge. Von den drei Versuchen der Karolingerzeit, weltgeschichtlichen Stoff zu formen, glückte nur die mit einer heilsgeschichtlichen Deutung und oft zusammenhanglos addiertem Tatsachenmaterial bis in die Gegenwart von 8 7 0 geführte Weltchronik des Erzbischofs Ado von Vienne. Der Langobarde Paulus Diaconus verfaßte vor 7 7 4 eine Historia Romana und Bischof Frechulf von Lisieux in der ersten Hälfte des 9. Jh. eine Weltchronik. Beide Werke kamen über ein bloßes chronologisches Nacheinander nicht hinaus und beendeten ihre Darstellung mit —* Justinian bzw. —»Gregor dem Großen, also mit den letzten Ausläufern der römischen Welt im Westen. Im Unvermögen, mit der weltgeschichtlichen Darstellung bis in die Gegenwart des Autors fortzufahren, dürfte zum Ausdruck kommen, wie wenig die Umwelt der beiden Verfasser im karolingischen Großreich einen Anschluß an das römische Reich sah, aber auch nicht in der Lage war, ihrer Gegenwart einen anderen Standort im weltgeschichtlichen Ablauf zuzuweisen. Das in dieser Hinsicht anspruchslose annalistische Einteilungsschema fand wahrscheinlich deshalb in der Karolingerzeit so viel Zuspruch. Nicht viel anspruchsvoller war das an der Amtssukzession orientierte Gliederungsprinzip der Gesta. Als ein Musterbeispiel dieser Quellengattung gilt die Gesta episcoporum Mettensium des Paulus Diaconus, die über die Geschichte der Metzer Kirche hinaus auch etwas von der Vergangenheit des Karolingergeschlechts einzufangen suchte. Möglicherweise benutzte ihr Verfasser den ähnlich aufgebauten und in Rom seit Jahrhunderten schon geführten Liber Pontificalis und die von Beda in gleicher Weise angelegten Klostergeschichten als Vorbild oder ließ sich von der Liste der Langobardenherrscher, die dem Edikt Rotharis vorangestellt war, inspirieren. Jedenfalls war es die einzige Möglichkeit während des Frühmittelalters, um die überpersonale Einheit einer Institution darstellerisch in den Griff zu bekommen. Gerade im Raum des späteren lotharingischen Mittelreiches fand diese historiographische Form für lange Zeit eine reiche Nachahmung. Die zweite Welle der karolingischen Bildungsreform brachte Herrscherbiographien von zum Teil hohem literarischen Rang hervor, die versteckt in die Auseinandersetzungen der 30er Jahre des 9. Jh. um Ludwig den Frommen eingriffen. Dies scheint überhaupt der Grund zu sein, warum vom Postulat, nur den Heiligen zum Gegenstand einer Vita machen zu dürfen, abgegangen wurde. Weil Ludwig der Fromme bereit war, die Normen seines herrscherlichen Handelns dem Urteil der Bischöfe zu unterwerfen, übernahm Einhard in seiner Vita Karoli Magni die literarische Form Suetons, ohne sich sklavisch an sie anzulehnen, rückte das Karlsbild in die Nähe eines germanischen Heerkönigs und säkularisierte es. Während Einhard Ludwig dem Frommen gleichsam einen Spiegel vorhalten wollte, wie er zu handeln habe, zeichneten, mit Ausnahme Thegans, der in Aquitanien dichtende Mönch Ermoldus Nigellus und der anonyme Astronomus den Kaiser so, wie er sich zu sehen wünschte. Von den Annales Mettenses priores an bis zum Astronomus handelte es sich um eine Linie, die zwei gegensätzliche Auffassungen über die rechte Grundlegung der fränkischen Königsherrschaft widerspiegelt. Kurz nach 8 4 0 wurde sie gleichsam überhöht durch die Frage nach dem Sinn einer Herrschaft überhaupt. Paschasius Radbertus und Nithard beantworteten sie in dem Sinne, daß der status rei publice oder die utilitas publica die Maxime herrscherlichen Handelns sein müßten, und suchten diese bewußt zum Kriterium ihres Urteils über die jüngere Vergangenheit zu machen. Die Auflösung des Karolingerreiches in zuletzt eigenständige Nachfolgereiche war nicht
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nur ein Ergebnis der Beteiligung aller Königssöhne am Herrschaftserbe, sondern auch eines Wandels in der Herrschaftsgrundlage. Im westfränkischen Reich, wo sich Königtum, Episkopat und Laienadel zu gleichberechtigten Verhandlungspartnern entwickelten, verloren die Reichsannalen ihre alte Funktion und lebten nur noch als persönliche Aufzeichnungen des Erzbischofs —»Hinkmar von Reims fort; die Fortsetzungen Flodoards und Richers von St. Remi im 10. Jh. vermochten aus dem Blickwinkel der Reimser Kirche nicht einmal mehr das Westreich als Bezugsrahmen gleichmäßig im Auge zu behalten. Demgegenüber wurden im Ostfränkischen Reich, das die alte karolingische Herrschaftsstruktur länger beibehielt, die Reichsannalen bis um 900 als solche fortgeführt; nur hier noch war es möglich, nach dem Vorbild Einhards mit einer Karlsvita Kritik am gegenwärtigen Herrscher zu üben, wie es Notker von St. Gallen nach 883 getan hat, oder wie der Poeta Saxo die Karlsvita Einhards aus Dankbarkeit für die Christianisierung der Sachsen in Hexameter umzusetzen. Nicht nur die gegenseitige Entfremdung des Ost- und Westreiches hat in der Geschichtsschreibung einen Niederschlag gefunden, sondern auch eine Verengung des Blickfeldes im Abendland überhaupt. In Italien führten Andreas von Bergamo 877 und Erchembert von Monte Cassino 888 die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus bis in die eigene Gegenwart fort, vermochten aber nicht mehr, das gesamte Langobardenreich als Bezugsrahmen beizubehalten oder den Anschluß an das fränkische Reich als einen Einbruch von Gewicht in die italienische Geschichte zu begreifen. Das historiographische Interesse an der päpstlichen Kurie widerspricht diesem Bild nicht. Die Ubersetzungen griechischer Geschichtswerke und die Sammlung von Quellen über die kaiserlich-päpstlichen Auseinandersetzungen um den Monotheletismus (-»Monenergetisch-monotheletischer Streit) durch Anastasius Bibliothecarius sollten einer von Johannes Diaconus, dem Historiographen Papst Johannes VIII., geplanten Kirchengeschichte als Vorarbeit dienen. Das Vorhaben fügte sich in die Erwartung des —*Papsttums, sich zu einem universalen, von den Grenzen eines Großreiches unbehinderten und auch nach Osten ausgreifenden Zentrums entfalten zu können. Der Rückschlag aber setzte 885/91 ein; man war nicht einmal mehr in der Lage, den Liber Pontificalis fortzuführen. Das Königreich Asturien im Norden der Iberischen Halbinsel erlebte im auslaufenden 9. Jh. einen Höhepunkt seiner Geschichtsschreibung. Wie in Italien legten die drei Chroniken auch hier den Gedanken einer ungebrochenen Kontinuität mit der Absicht zugrunde, die Gotengeschichte Isidors von Sevilla fortzusetzen. Der Blick war dabei nach innen auf eine Wiederherstellung des Westgotenreiches gerichtet; mit Ausnahme des Islam nahm man historische Zentren von Gewicht, wie den Hof Karls d. Gr. oder die Stadt Rom, überhaupt nicht zur Kenntnis. Die Neigung zur Selbstisolierung trifft allerdings auf die britische Insel nicht zu. So als wollte er das Vorbild der karolingischen Bildungsreform nachholen, rief Alfred d. Gr. im letzten Viertel des 9. Jh. literarische Kräfte vor allem aus dem fränkischen Westreich ins Land, die bei der Übersetzung von Werken der Kirchenväter ins Angelsächsische und für Anleihen aus der karolingischen Historiographie behilflich sein mußten. Abt Regino von Prüm an der Wende vom 9. zum 10. Jh. stand noch in der Tradition der karolingischen Historiographie, setzte zugleich aber auch einen neuen Anfang. Wie die karolingischen Geschichtsschreiber dachte auch das 10. Jh. von der eigenen Gegenwart aus rückwärts schreitend in die Vergangenheit. Regino diente dabei als Norm nicht ein Großreich oder ein Königtum, das den Weg der Rückschau bestimmte, sondern die Kräfte seiner Umwelt. In der Absicht, erzieherisch auf diese Kräfte einzuwirken, verfaßte er eine Art Handbuch für die Visitation von Niederkirchen und für die Abhaltung von Sendgerichten sowie eine Chronik. Das Handbuch hatte eine Vertiefung der Religiosität der nur oberflächlich christianisierten Landbevölkerung im Auge; die Chronik wollte den rücksichtslos nach Autonomie drängenden —»Adel den maßvollen Gebrauch der Macht lehren. Im noch vorherrschenden heidnischen Adelsethos erkannte Regino die germanische Wurzel seiner Umwelt und ließ deshalb die Chronik mit dem Einbruch der Germanen in die römische Welt beginnen. Ob hier bereits ein vorsichtiger Versuch vorliegt, die heidnische Ethik auch des Kriegers ins Christliche umzuprägen, nachdem die seit der Spätantike in Gang befindliche Chri-
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stianisierung des Herrscherethos abgeschlossen war, ist noch umstritten. Die Vita des Gerbert von Aurillac, den Abt Odo von Cluny um 940 bewußt als einen heiligen Krieger zeichnete, ist in jedem Fall als ein Versuch zu bewerten, auch das Adelsethos zu christianisieren. Odo sah im kriegerischen Handwerk nicht mehr nur Rachsucht, Ehrgeiz und Eroberungsgier, sondern auch die Möglichkeit einer notwendigen Verteidigung der rechten Ordnung (—»Krieg). Hier setzte eine Entwicklung ein, die der Kirche den Blick für die Zwänge der weltlichen Ordnung öffnete, ihre Bereitschaft zur Mitverantwortung auch der weltlichen Ordnung weckte und in die Gottesfriedensbewegung (—»Frieden) im Westen sowie in das sogenannte ottonische Reichskirchensystem (—»Deutschland I, -»Otto I.) im Osten einmündete. Der Widerstand gegen die Konsequenzen dieser Entwicklung dauerte bis ins ausgehende 10. Jh. an. Die Vita des angelsächsischen Königs Edmund aus der Feder des Cluniazensers Abbo von Fleury ist ein Beispiel für das noch keineswegs ausgereifte Bild eines christlichen Ritters (—»Rittertum): Zur vorbildlichen Erfüllung der Regentenpflichten gehörte die Abwehr der dänischen Invasoren bis zur Vernichtung des eigenen Heeres, aber Edmund selbst durfte nicht als aktiv Kämpfender sterben, sondern erlitt wehrlos den Märtyrertod. Den Abstand zum Ideal des christlichen Ritters gewissermaßen von der anderen Seite zeichnete der Mönch Widukind von Corvey zwischen 967 und 973 in den drei Versionen seiner Res gestae Saxonicae. Die erste Version hatte als Leserkreis den sächsischen Adel im Auge und rief in den Taten sächsischer Großer die Geschichte des Sachsenvolkes in Erinnerung; wie bei Regino ging es auch hier um die Verpflichtung auf eine dauerhafte Rechtsordnung, jetzt aber verkörpert in der Führungsrolle des Ottonengeschlechts. Der zweiten Version lag die These zugrunde, daß der Friede innerhalb des Volkes nur durch die Bindung der Großen an den Herrscher möglich sei und der weltweite Friede dem Herrscherhaus nur mit einer starken Gefolgschaft im Rücken gelinge. Die in religiöser Hinsicht auffallend indifferente Wertung entspricht der versteckten Kritik an der erneuten Sakralisierung des Herrscheramtes durch Otto I. und an der Legitimation des Kaisertums durch den Papst (—»Kaisertum und Papsttum); dennoch schrieb Widukind in der zweiten Fassung nicht mehr als adliger Standesgenosse, sondern als Mönch. Die Vita des Kölner Erzbischofs —»Brun(o), der von seinem Bruder Otto I. mit umfangreichen Aufgaben der königlichen Stellvertretung im Westen des Reiches betraut war, vermittelt einen Eindruck vom Bischofsideal des Reichskirchensystems, aber auch, da der Mönch Ruotger von St. Pantaleon/Köln in offenkundiger Apologie schrieb, von den Vorbehalten, die dem neuen Typ des Reichsbischofs entgegengebracht wurden. Ruotger betitelt Brun als archidux und nennt seine Tätigkeit ein regale sacerdotium. Die priesterköniglichen Grundlagen der ottonischen Herrschaft entsprachen den Vorstellungen des gorzischen Reformmönchtums (—»Gorze) von derpax. Die weltliche und die geistliche Ordnung bedingten sich gegenseitig; die aus ihrer Übereinstimmung hervorgehende pax verlange die Mitverantwortung des Bischofs für die Aufgaben der Königsherrschaft und führe zur imperialen Gewalt des Priesterkönigs, dessen Kaiserkrönung durch den Papst eigentlich überflüssig schien. Wie wenig zwangsläufig jedoch die Anschauung von der priesterköniglichen Herrschaftsgrundlage zu einem romfreien Kaisertum führen mußte, wird an der älteren Mathildenvita und derGesta Ottonis imperatoris der—»Hrotsvith von Gandersheim deutlich. Bischof Liudprand von Cremona knüpfte in seiner Antapodosis sogar an das Kaisertum und Papsttum zur Zeit Arnulfs von Kärnten an, beklagte anhand dieser Leitbilder den vorübergehenden Niedergang beider Würden und sah folgerichtig in Otto schließlich den Kaiser dispersa congregans et fracta consolidans [der das Zerstreute sammelt und das Zerbrochene heilt]. Die fortschreitende Sakralisierung des deutschen Herrschers (—»Königtum) läßt sich einem Vergleich der älteren Mathildenvita aus der Zeit Ottos II. mit der jüngeren Mathildenvita aus der Zeit —»Heinrichs II. gut entnehmen. Beide Viten intendieren eine exemplarischnormative Geschichte des Ottonengeschlechts in der Weise, daß Heiligkeit zum Herrscheramt legitimiere und an der Heiligkeit Mathildes, der Stammutter der Ottonen und ihrer auf
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Heinrich II. zuführenden Seitenlinie, die ganze Dynastie teilhabe. Radegund in der Vita des —» Venantius Fortunatus aus dem 6. Jh. mußte noch ihren Gatten Chlotar I. verlassen, um im Kloster ein heiligmäßiges Leben verwirklichen zu können. In der älteren Mathildenvita zeigt sich das Hinderliche der herrscherlichen Macht bereits überwunden; die wachsende potestas vermehrte den Wunsch nach Gehorsam vor Gott und lenkte nicht zur Überheblichkeit ab. Zu einer herrschaftstheologischen Endstufe kam es in der jüngeren Mathildenvita; die humiliatio bewirke exaltatio, Heiligkeit berechtige zur königlichen Herrschaft, potestas mache demütig. Derselbe Grundgedanke diente auch Abt Odilo von Cluny im Epitaphium Adelheids, der zweiten Gemahlin Ottos I., als Leitfaden; mehrfache persönliche Läuterung steigerte ihre Heiligkeit und begründete damit erst recht ihre kaiserliche Würde. Er ist höchster Ausdruck für das religiöse Selbstverständnis des Kaisertums im frühen 11. Jh., dem das kaiserliche Epitheton vicarius Christi entspricht. Das frühe 11. Jh. meldete aber auch schon Kritik an einem so weitgehenden Synergismus von Imperium und Sacerdotium an. Sie kommt zum Ausdruck sowohl in der Vita -^Adalberts von Prag, dessen Prußenmission —»Brun von Querfurt als ein Werk ohne Vermischung mit weltlichen Dingen zeichnete, als auch in der Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg. Sehr geschickt findet sich in der Chronik das wechselvolle Geschick der Merseburger Kirche in die Geschichte der Sachsenkaiser eingebettet. Diese Herrscher verkörpern ein von Gott verliehenes Amt und sind in dieser Eigenschaft unantastbar, aber damit nicht auch unfehlbar. Nicht nur das Recht der Großen des Reiches, ihn zu beraten, und das kanonische Recht setzen dem Herrscher Grenzen, sondern auch die menschliche fragilitas, die sich sofort zeige, wenn ein Mensch Macht besitze. Ähnlich gebrochen war bereits Thietmars Verhältnis zum Amt eines Reichsbischofs; als Bischof lebe er sozial schlechter gestellt als die weltlichen Herren seines Standes und ertrage dies um seiner Sünden willen. Für ihn wog dies umso schwerer, als er die Bedeutung Merseburgs im Reich entschieden zu hoch einschätzte. Die weitere Entwicklung führte langsam, aber ohne Umwege in die Wende der Gregorianischen Reform. In derGesta Chuonradi, die Wipo 1039/46 für—»Heinrich III. verfaßte, versteht sich die Königsherrschaft als eine Teilhabe des Herrschers am Willen Gottes auf Erden; sie sei ein Vorleben des Evangeliums zum irdischen und ewigen Heil der Menschheit. Da Konrad II. mit strenger Hand Ordnung geschaffen habe und Heinrich nun die Folgen unerbittlicher Gerechtigkeit mit liebender Gnade heilen wolle, suchte Wipo die Vorwürfe, Konrad habe —»Simonie getrieben, abzumildern. Der Cluniazenser Radulf Glaber formulierte den Vorwurf in seinen Historiae einige Jahre früher wesentlich härter; Konrad II. sei fide non multum firmus [im Glauben nicht besonders fest], Radulf war kein eifernder Reformer, aber er konnte sich den Maßstäben der um sich greifenden Reformanschauung nicht entziehen, die übrigens Heinrich II. noch nicht erfaßten und dadurch das Bild von der kontinuierlichen Kirchenpolitik beider Kaiser zu einem Bruch verzerrten. Schon in der Chronik Thietmars begegnet der Kaiserbegriff auffallend inhaltsleer, allenfalls als eine Überhöhung des Königtums. In der Folgezeit näherten sich Königtum und Kaisertum bis zur Verschmelzung einander an; die Ebene, auf der Reichsitalien und das hinzugewonnene Burgund in das Reich integriert wurden, war das regnum, das in der frühsalischen Zeit den Zusatz Romanum erhielt. Natürlich wußte man vom römischen Imperium und von der spätantiken Anschauung seines Bestandes bis zum Weltende; hatte doch Abt Adso von Montier-en-Der in seiner Schrift De ortu et tempore Antichristi (s. T R E 3,25,50 ff 277,9 ff) um die Mitte des 10. Jh. behauptet, daß die Romani regni dignitas nicht untergehen werde, solange die Frankenkönige herrschten, und muß Thietmar zumindest erwogen haben, im Reich seiner Tage eine Fortsetzung des römischen Imperium zu sehen. Aber die frühsalische Historiographie stieß, nachdem die Ottonenzeit die Herrschersukzession erst von Heinrich I. an ins Auge zu fassen pflegte, rückschauend nur bis zum Anfang der Karolingerherrschaft vor. Erst —> Adam von Bremen, der Verfasser der Hamburger Kirchengeschichte im dritten Viertel des 11. Jh., bezeichnete Heinrich III. als den 90. Kaiser seit Augustus, setzte also eine Kontinuität mit dem antiken Imperium voraus, und tauschte den rex gegen den imperator aus. Die Herrschaft im Innern des Reiches erscheint bei ihm als Sache des Kö-
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nigs, die Sicherung des Vorfeldes jenseits der Grenzen als Aufgabe des Kaisers; in diesem Sinne hätten die letzten Kaiser die Dänen, Polen, Böhmen und Ungarn gezähmt. Es bedurfte nur noch des Anspruches —»Gregors VII., das Sacerdotium dem Regnum überzuordnen, um —»Heinrich IV. zum Rückgriff auf die gelasianische Zweigewaltenlehre aus dem 5. Jh. zu veranlassen und damit den Blick für die Kontinuität vom antiken zum gegenwärtigen Reich weit zu öffnen. Die von der Gegenwart in die Antike zurückreichende Brücke erscheint nur als ein Ausschnitt des überhaupt erweiterten Horizonts, hinter dem das gesteigerte Selbstverständnis der Kirche als Universalkirche gestanden haben muß. Denkt man an die auf der Reichenau bis 1039/40 verfaßte, leider verschollene Schwäbische Weltchronik, die nur wenige Jahre später vom anonymen Verfasser der Epitome Sangallensis und vom Reichenauer Mönch Hermann dem Lahmen ausgeschöpft wurde, dann kann man nicht sagen, daß es vor dem -•Investiturstreit keine wenigstens mit der Geburt Christi einsetzende Weltchronistik gegeben habe. Aber es ist nicht zufällig, daß Hermann noch am annalistischen Schema festhielt, obwohl es ihn an einer Darstellung gerade der Zusammenhänge hinderte, während sich der Mönch Lampert von Hersfeld in seinen mit der Erschaffung der Welt beginnenden Annales mehr und mehr von diesem Schema befreite, je mehr sich die Darstellung seiner Gegenwart (1078/79) näherte. Ähnlich verfaßte Sigebert um 1075 eine Geschichte der Äbte seines Klosters Gembloux noch im Stil der Klosterchroniken des 11. Jh., aber mit einem schon interessierten Blick für die Reichsgeschichte. Der Klostergeschichte ließ er bis 1111 eine Weltchronik folgen, die bewußt an die Chronik des Eusebius in der Übersetzung des Hieronymus anknüpfte und auch deren vorherrschendes Bemühen um die chronologische Ordnung fortsetzte. Die Sorge um eine gesicherte Chronologie führte unabhängig davon Frutolf, den Prior des Bamberger Klosters Michelsberg, um 1100 ebenfalls zur Fortsetzung der Chronik des Eusebius. Beide verkörpern in gewisser Weise den Beginn einer neuen Weltgeschichtsschreibung. Gerade wegen ihrer vielen Gemeinsamkeiten müssen die Unterschiede auffallen; während Sigebert nach Herrscherjahren in den verschiedenen Reichen gliedert, hebt Frutolf die Geschichte Israels und die Geschichte des Römischen Reiches als zwei übergreifende Einheiten heraus und läßt das römische Imperium nur im ostfränkischen Reich fortdauern. Sigeberts Chronik konnte deshalb im 12. und 13. Jh. in Frankreich Fortsetzer finden, in Frutolfs Werk aber bahnte sich die Uberzeugung von der heilsgeschichtlichen Funktion des Reiches in allerersten Umrissen an. Zum historiographischen Aufbruch dieser Jahre gehörte auch die —»Kirchengeschichtsschreibung, welche jetzt verstärkt die Gesamtkirche und das prinzipiell Eigenständige der kirchlichen Sphäre ins Auge faßte. Wie sich dieses neue Bild formte, ist gut an den stark historisierenden Werken des aus der—»Pataria kommenden Bischofs Bonizo von Sutri und an Brunos Buch vom Sachsenkrieg zu erkennen. Bonizos 1084/89 verfaßter Liber ad amicutn setzte die Kirche als eine auf das Papsttum zentrierte Körperschaft voraus und präzisierte 1089/94 dieses Bild durch eine Gleichschaltung von kirchlichem und weltlichem Recht; beide Rechte setzen das mosaische Gesetz fort, der Papst ist ebenso Gesetzgeber wie der Kaiser und beansprucht im Hinblick darauf Gehorsam. Auch Brunos Bellum Saxonicum entwickelte das Bild des Papstes aus der Königslehre; in der dort inserierten sogenannten Magdeburger Briefsammlung von 1075 erscheint der Herrscher als der imitator Christi, der die Stellvertretung des Erlösers auf Erden besitze, und in der inserierten sächsischen Briefsammlung von 1078/79 taucht erstmals der Papst als vicarius beati Petri auf, der die Schlüssel des Himmelreiches verwalte und dessen Verhältnis zu den beati Petri fideles et sui bis auf wenige Ausnahmen mit den Worten des Krönungsordo von 961 ausgedrückt werden konnte. Nicht an der —»Zweischwertertheorie, sondern an der Anschauung von der heilsgeschichtlichen Funktion des Reiches scheint es gelegen zu haben, daß sich der historiographische Ansatz einer Kirchengeschichte vorerst nur in den westlichen Reichen entfalten konnte. Zu einer reinen Kirchengeschichte bildete sich diese Historiographie in Frankreich noch nicht aus. Der Mönch Hugo von Fleury betitelte sein Werk zwar mit Historia ecclesiastica und versprach im Prolog der zweiten, 1110 abgeschlossenen Redaktion, den Leser zu den in
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der Geschichte verborgenen Geheimnissen der Kirche zu führen, schuf in Wirklichkeit aber nur eine Kompilation der Welt- und Heilsgeschichte. Die normannische Geschichtsschreibung seit Dudo von St. Quentin zu Anfang des 11. Jh. war zwar erfüllt von einem Gemeinsamkeitsbewußtsein aller normannischen Herrschaften, sah aber fast egozentrisch nur das Wollen und Handeln der —>Normannen allein. Der erste, der zwischen 1120 und 1141 ihre Geschichte in einen größeren Zusammenhang einzuordnen suchte, war der Mönch Ordericus Vitalis von St. Evroul in der Normandie. Seine ursprüngliche Konzeption war eine Geschichte des Heimatklosters, unter der Hand entwickelte sich daraus eine Normannengeschichte, am Ende eine Historia ecclesiastica. Das Normannentum erscheint hier auf die Kirche bezogen; sie bildete den universalen Rahmen, in welchem sich die Geschichte der Normannen vollziehen konnte. Etwas später deutete Abt —»Suger von St. Denis Rom als den Mittelpunkt der Welt; nur in Verbindung mit dem Apostel Petrus könne das Ansehen des französischen Königtums wachsen. Seine Gesta Ludovici regis wollte wie Wipos Werk nichts anderes als eine Art —»Fürstenspiegel für den Thronfolger sein. Das Vorbildliche Ludwigs VI. bestand darin, sich durch Sohnschaft der Familie der Apostel eingegliedert zu haben. In friedlicher und gleichberechtigter Nachbarschaft könnten die Reiche nur leben, wenn sie gemeinsam in ehrerbietiger Haltung dem hl. Petrus gegenüber verharrten. Uber den Aspekt der vornehmlich ordnungstiftenden Funktion der Kirche hinaus gelangte die englische Historiographie zu einer Kirchengeschichte im engeren Sinne. Der Mönch Wilhelm von Malmesbury glaubte um 1125 noch an die gott-weltliche Harmonie des Imperium; Karl d. Gr. war ihm ein Vorbild, das sich im Heidenkampf und für Kirche und Kaisertum verzehrt habe, Heinrich V. sei dessen legitimer Nachfolger. Zu seiner Schrift Degestis regum Anglorum aber verfaßte er auch ein Parallelwerk De gestis pontificum Anglorum und drückte darin eine klare Trennung zwischen beiden Sphären aus. —»Johannes von Salisbury ging einen Schritt weiter und äußerte 1159 im Polycraticus zum Einvernehmen mit dem Papsttum dieselben Grundgedanken wie Suger von St. Denis, suchte in der ca. 1165 verfaßtenH/siorz'tf pontificalis aber auch schon das Papsttum als die Verkörperung der Gesamtkirche zu deuten. 3. Geschichtssymbolismus
und
Scholastik
Die Anschauung von der heilsgeschichtlichen Funktion des Reiches erlebte indessen in der 1147 abgeschlossenen Weltchronik des Bischofs —»Otto von Freising einen Höhepunkt. Ihr Titel Historia de duabus civitatibus bezog sich auf den civitas-dei-Begriff Augustins (s. o. Abschn. 1), legte ihn aber in abgewandelter Form zugrunde. Die civitas Dei oder das Reich Gottes habe eine unterschiedliche Beschaffenheit; bis Konstantin habe die civitas terrena dominiert, seitdem lebe die civitas dei mit ihr in einer civitas permixta und werde nach dem Ende dieser Welt triumphieren. Die civitas permixta sei die Herrschaft Christi in der Zeit, die Präfiguration der ewigen civitas, das von der civitas dei in Dienst genommene Imperium Romanum .DaRegnum undSacerdotium seitdem Investiturstreit auseinandergetreten seien, stehe die Auflösung der civitas permixta bevor; nur das Wirken der Mönche halte das Ende der Welt noch auf. Die Bedrohung seines Hochstifts Freising durch Heinrich den Löwen brachte Otto dazu, 1157/58 in der Gesta Frederici imperatoris die Staufer als diejenigen zu zeichnen, die das Reich aus seiner Krise wieder herausführten, indem sie Imperium und Sacerdotium miteinander versöhnten, eine Linie, die der Fortsetzer Rahewin angesichts der Wirklichkeit des Schismas von 1159 nicht zu Ende zu führen vermochte. Der schriftstellerisch außerordentlich fruchtbare —» Gerhoch von Reichersberg suchte vor allem in seinem letzten Werk De quarta vigilia noctis von 1166 ebenfalls den augenblicklichen Standort in der Heilsgeschichte zu bestimmen, begrüßte aber den Sieg des Guten, der sich dadurch abzeichne, daß das Römische Reich, das in sich alle vorausgegangenen Weltreiche vereine und deshalb in seiner Wurzel verderbt sei, zerfalle oder unter der Herrschaft der Kirche gebändigt werde. In seinem Traktat De investigatione Antichristi bezeichnete er 1160/62 noch Rom als das Fundament der Kirche, neigte dann aber einem korporativen Kirchenbegriff zu in der Ablehnung, die Spitze für das Ganze zu setzen.
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M e h r noch als O t t o von Freising erweist sich Gerhoch von Reichersberg als ein Vertreter des Geschichtssymbolismus, einer hauptsächlich in Deutschland anzutreffenden eigenen Art, den historischen Stoff zu gliedern und miteinander in Beziehung zu setzen. Auch die anderen Symbolisten - z.B. - » R u p e r t von Deutz, —»Honorius Augustodunensis, —»Hugo von St. Victor, Anselm von Havelberg und —»Hildegard von Bingen — waren keine reinen Historiographen, zumindest ihre Intention w a r eine theologische. Es handelte sich um eine Variante zur Friihscholastik, die von sich behauptete, den Kirchenvätern der Spätantike nicht mehr blindlings zu folgen, deren Hermeneutik im Prinzip aber ü b e r n a h m , insofern sie die Geschichte als einen unentbehrlichen Bestandteil des theologischen Denkens betrachtete. Augustin hatte geglaubt, daß der Mensch mit seinen sinnlichen und geistigen Kräften zur ewigen Wahrheit vordringen könne, und im menschlichen Leben Einrichtungen, die der Praxis entstammen und entbehrlich sind, von den nicht auswechselbaren, weil vom Schöpfer vorgegebenen, Einrichtungen unterschieden. Die Geschichte gehöre beiden Bereichen an, insofern die historischen Ereignisse aus menschlichen, zufälligen Taten bestehen, sich zugleich aber auch in einem von Gott als dem H e r r n der Geschichte vorgegebenen ordo temporum vollziehen. Verlauf und Erfüllung aller Ereignisketten ließen sich auf diese Weise von einem weltimmanenten Ziel her deuten, aber auch als Teile der umfassenden und letztlich auf Gott zulaufenden Geschichte begreifen. Das zufällige Einzelgeschehen, das jeder natürlichen Einsicht zugänglich sei, erhalte so als Bestandteil der Heilsgeschichte den Stellenwert einer von Gott gesetzten Autorität und lenke den Blick eine Stufe höher auf dem Wege zur ewigen Wahrheit. Die Wiederkehr dieser Art theologischen Denkens im frühen 12. Jh. kündigte sich schon dadurch an, daß die außerdeutschen Gregorianer in der Streitschriftenliteratur des Investiturstreits „scholastisch" und weniger historisch argumentierten, indem sie den Ursprung eines Rechtszustandes im gesetzten Recht suchten, w ä h r e n d ihre vornehmlich deutschen Widersacher auf die Autorität des im Laufe der Geschichte gewachsenen Rechts pochten. —*Hugo von St. Victor in Paris begründete die Arbeitsweise der Symbolisten. Ihre Zielsetzung war die Erkenntnis der wahren Gesamtwirklichkeit, die auch den heilsgeschichtlichen Sinn eines Ereignisses zu erfassen suche. Dem geschichtlichen Element kam hier wiederum die Bedeutung eines entscheidenden theologischen Hilfsmittels zu; so wie die Schöpfung vom Göttlichen über das Geistige zum Stofflichen herabgestiegen sei, müsse das menschliche Auge vom Stofflichen über das Erfassen symbolischer Z u s a m m e n h ä n g e zum Abbild des Göttlichen vordringen. Alles historische Geschehen gehöre einem einzigen Menschengeschlecht an und bilde infolgedessen eine universale Einheit. Sie setze eine Zielgerichtetheit des ganzen Geschehens voraus, und das wiederum schließe die Wiederholbarkeit des geschichtlichen Ablaufes aus. Der heilsgeschichtliche Sinn dieses gesamten historischen Ablaufes gestatte, die Heilige Schrift als ein historisches Buch wie jedes andere zu verstehen und dementsprechend die Ereignisse der biblischen Zeit mit Vorgängen der nachbiblischen Zeit in Verbindung zu setzen. Die Z a h l e n k o m b i n a t i o n e n und allegorischen Bezüge (z.B. die Wiederkehr der sieben Schöpfungstage in der Einteilung der Weltchronik Ottos von Freising in sieben Bücher mit entsprechend sieben Epochen; das 8. Buch repräsentiert die Zeit nach dem Jüngsten Gericht, die als Ewigkeit den sieben Epochen ohnehin parallel verläuft) mögen heute willkürlich erscheinen, aber sie kamen trotz zahlloser Variationen nicht ohne eine feste Grundorientierung zustande. Das Geschichtsbild wurde von den elementaren Fixpunkten Erschaffung der Welt, Menschwerdung Christi und Wiederkunft Christi bestimmt. Alle Ereignisse vor der Inkarnation galten als Vorbereitung auf dem Wege zur Erlösungstat; alle Ereignisse nach der Erlösungstat wurden als Konsequenzen dieser Z ä s u r und als Überleitung zum Triumph des Jüngsten Gerichts gedeutet. Im Rahmen dieser Christozentrik konnten Ereignisse und Gestalten der vorchristlichen Zeit n u r Symbole und Typen dessen sein, was sich im Umkreis des Lebens Jesu erfüllte; und sie waren Orientierungshilfen, um den augenblicklichen Stand der Menschheitsgeschichte auf dem Wege zur verheißenen Wiederkunft Christi bestimmen zu können. Noch ganz aus dem Geist des Geschichtssymbolismus entwarf —»Joachim von Fiore am
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Ende des 12. Jh. in Kalabrien eine neue Geschichtsgliederung und damit Geschichtsdeutung. Der Geschichte des Alten Testaments entspreche die Zeit Gottvaters und der Geschichte des Neuen Testaments die Zeit des Gottessohnes; 1260 werde die bis zum Weltende dauernde Zeit des Heiligen —»Geistes anbrechen. Joachim interpretierte diese Zeiten als Beschaffenheitszustände: Die erste Zeit sei charakterisiert durch die Erschaffung der Welt, den Fortbestand des auserwählten Volkes, den vom verborgenen Gott immer wieder geforderten, aber nur mühsam eingehaltenen Gehorsam; der zweite Beschaffenheitszustand sei die Zeit der Gnade und der besiegten Sünde, als ein Verhalten gläubigen Vertrauens durch unablässiges Studium des Wortes Gottes höher zu bewerten; der dritte Status werde nicht aus einer neuen Offenbarung leben, sondern in ihm enthülle sich der wahre Sinn beider Testamente und führe in einem Höchstmaß an Erkenntnis zur ungeteilten Gottesliebe mit der Befreiung des bislang Unvollkommenen von aller Mühsal. Mit dem Geschichtssymbolismus hatte Joachim die Grundauffassung von der Geschichte als einem Vervollkommnungsprozeß, der seinen Sinn vom Ziel des Prozesses erhalte, gemeinsam, aber die Einführung einer dritten, aus der Ewigkeit in das Diesseits vorgezogenen Zeit war neu und revolutionär; denn sie relativierte die als einzigartig geltende Zäsur der Inkarnation und degradierte die Heilsnotwendigkeit der Kirche zu einem bloßen Durchgangsstadium, da auf den ordo clericorum der Zeit des Neuen Testaments der einer verpflichtenden Ordnung nicht mehr bedürftige intellectus spiritualis des dritten Beschaffenheitszustandes folge. Das geschichtstheologische Konzept Joachims von Fiore wurde nirgendwo vollständig und auch in Teilen nicht unverfälscht rezipiert, aber wegen des in Aussicht gestellten neuen Zeitalters befruchtete es weithin chiliastische Erwartungen (—»Chiliasmus) und ging mit Prophetien zum Teil spätantiker Herkunft, die im Zuge der Kreuzzugsbewegung wieder an Aktualität gewonnen hatten, nach 1230 enge Verbindungen ein. Besonders die Joachim fälschlich zugeschriebenen Jeremia- und Jesaia-Kommentare deuteten nach der zweiten Bannung Kaiser —»Friedrichs II. (1239) den Anbruch des zu erwartenden Friedenszeitalters als eine Reinigung der Kirche entweder durch den Kaiser oder durch den engelgleichen Papst um. Wie sie ersetzten auch die Franziskanerspiritualen vor allem in der zweiten Hälfte des 13. Jh. die Erwartung eines neuen Beschaffenheitszustandes durch das Postulat einer Rückkehr zurvita apostolica. Der Apokalypse-Kommentar des P.J. —»Olivi von 1297 versteht das in der Weise, daß der Geist nunmehr von der kirchlichen Hierarchie auf die wahren —»Franziskaner übergegangen sei; sie bildeten das neue Jerusalem, ihr Gründer—»Franciscus sei der Christus der neuen Zeit, in ihm verkörpere sich der Kern der Kirche, der in den Aposteln, Märtyrern, Eremiten und Mönchen von Anfang an ihre Reinheit konkretisiert habe. Die —»Scholastik brachte für das geschichtssymbolistische Denken schon deshalb kein Verständnis auf, weil vor der ratio, dem Erkenntnisprinzip der Scholastik, die auctoritas des historischen Ereignisses keinen Bestand haben konnte. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit war im System der antiken Bildung ein Bestandteil der Grammatik gewesen; die Schulen in Frankreich seit der Mitte des 11. Jh. hatten damit begonnen, das Schwergewicht der geistigen Betätigung von der Grammatik zur Logik bzw. Dialektik innerhalb der—» Artes liberales zu verlagern. Das hatte in allen Wissensbereichen ein neues Erkenntnisprinzip zur Folge, einen Rationalismus, der ein vorgegebenes Faktum als solches, wenn es sich nicht um eine Offenbarungswahrheit handelte, nicht unbesehen respektieren wollte. Schon -»Rupert von Deutz bekam die Abneigung der aus Frankreich vordringenden Scholastik gegen den Geschichtssymbolismus zu spüren, da er um 1116 aus Lüttich in die rheinische Abtei Siegburg ausweichen mußte; —»Gerhoch von Reichersberg wehrte sich als einer der letzten Symbolisten gegen ihr Vordringen in Bayern verzweifelt. In den sechziger Jahren des 12. Jh. waren die Aristoteles-Übersetzungen soweit rezipiert (—»Aristoteles/Aristotelismus), daß die Maxime des Philosophen, Erkenntnis- und Seinsordnung müßten übereinstimmen, dem Geschichtssymbolismus die Grundlage entzog; ein Fortschreiten der menschlichen Erkenntnis vom veränderlichen Lauf der Geschichte zum unveränderlichen Sein des Göttlichen schien nicht mehr möglich. Damit war nicht nur der Geschichtssymbolismus als solcher getroffen, sondern auch der Standort der Geschichte im Wissensgefüge; sie hörte auf, im Dienst dersa-
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pientia zu stehen, und wartete in einem bis zum Ende der frühen Neuzeit anhaltenden, noch gänzlich unfertigen Zustand darauf, sich als eigene Wissensdisziplin begründen zu können. 4. Spätmittelalter
und
—»Humanismus
Das heißt nicht, daß es von nun an keine Weltchronistik oder keine heilsgeschichtliche Grundvorstellung mehr gegeben hätte. Aber die Möglichkeit weltimmanenter Begründung und die fortschreitende Differenzierung der Wissensgebiete im Spätmittelalter lockerte die Einbindung in einen ordo, was sich auch auf die Geschlossenheit eines Geschichtsbildes auswirken mußte. Bis zu Anfang des 14. J h . gab es am englischen Königshof zwar eine beachtliche Historiographie mit einem universal-historischen Horizont trotz nationalbetonten Interesses, die durch Roger Wendower und Matthäus Parisiensis in der Abtei St. Albans in ungebrochener Höhe bis um die Mitte des 13. Jh. fortgesetzt wurde. Aber schon die Weltchronik des von den Benediktinern zu den Franziskanern übergetretenen Albert von Stade kam im zweiten Viertel des 13. J h . über eine ziemlich unverbundene Aneinanderreihung ausgeschriebenen Quellenmaterials und von Einzelnachrichten nicht hinaus. Oder das Chronicon mundi des Spaniers Lucas von Tuy in der ersten Hälfte des 13. Jh. begann als wirkliche Weltgeschichte, setzte aber mit der Völkerwanderung neu an, um für den weiteren Verlauf nur noch eine iberische Geschichte folgen zu lassen. Und der Toledaner Erzbischof Rodrigo Ximenez de Rada wollte seine spanische Geschichte um dieselbe Zeit mit Übersichten der auswärtigen, auf der iberischen Halbinsel tätigen Völker ergänzen, vermochte diese aber seinem eigentlichen Thema schon nicht mehr zu integrieren. Der Guelfe Johannes Codagnellus schließlich hielt formal den Rahmen einer Weltchronik ein, bot inhaltlich für die Fortsetzung der Mailänder Annalen aber nur eine Geschichte seiner Heimatstadt Piacenza bis 1235. Dielstorie fiorentine des Giovanni Villani aus der ersten Hälfte des 14. J h . oder die verschiedenen Versionen der Chronik des Lübecker Dominikaners Hermann Korner aus der ersten Hälfte des 15. Jh. sind geradezu beispielhaft für das Bemühen, den weltgeschichtlichen Horizont weiterhin im Auge zu behalten, ihn aber nicht mehr ausfüllen zu können. Zumal —»Thomas von Aquino alle geschichtliche Entwicklung bereits im Schöpfungsakt angelegt sah, konnte das Moment der einheitlichen Zielgerichtetheit im Sinne einer Geschichtsdeutung zurücktreten. Damit ließ sich der historische Stoff auch in weniger begrenzter Fülle präsentieren. Schon bei Johannes Codagnellus ist die Neigung zu beobachten, alles Wissenswerte zusammenzufassen. Das Speculum historiale des Bischofs —»Vincenz von Beauvais wollte um die Mitte des 13. Jh. nichts anderes sein als der historische Teil einer riesigen —»Enzyklopädie. Leicht benutzbar war dieses reiche Material für den Theologen und Prediger nicht. Deshalb konnte sich die 1 2 6 8 - 1 2 7 7 entwickelte Chronik des Martin von Troppau als ein Modell durchsetzen, das unter der Bezeichnung „Martinianen" bis ins 15. Jh. das Bild der Geschichtsschreibung beherrschte. Weil er den Kanonisten zu einer besseren Einordnung der Rechtssätze des Decretum Gratiani in die Geschichte verhelfen wollte und im ge-' schichtlichen Stoff keinen Selbstzweck sah, konnte sich Martin mit zwei synchron angeordneten, links auf die Papstgeschichte und rechts auf die Kaisergeschichte bezogenen Datenreihen begnügen. Seine dritte Version allerdings nahm so viele Beispiele fabulösen und moralisierenden Inhalts auf, daß diese das tabellarische Schema verdunkelten und bereits in frühen Abschriften Papst- und Kaiserreihe hintereinander aufzuführen veranlaßten. Von einer solchen entstellten Fassung ließ sich vermutlich ein Franziskaner aus Schwaben um 1292 zur Abfassung der Flores temporum verleiten, die hauptsächlich im süddeutschen Raum Verbreitung fand. Obwohl die Chronologie den Verfasser sehr beschäftigte, bot er nicht mehr primär eine Zeittafel; ihm ging es um die chronologische Einordnung der in seinen Predigten oftmals erwähnten Heiligen, wozu er die zwischen 1263 und 1273 entstandene Legenda aurea des Jacobus de Voragine in eine lineare Chronik umsetzte. Der hohe praktische Nutzen solcher Kompendien auch für das neue Urtiversitätsstudium wurde Tolomeo von Lucca, einem langjährigen Vertrauten des Thomas von Aquin, zum Anlaß, eine Historia ecclesiastica nova zu schreiben. Da von ihm Traktate über die Jurisdiktion des Imperiums überliefert sind, muß man annehmen, daß er mit Absicht vom Papst-Kaiser-Schema abging und als Zeitgenosse eines —»Bonifatius VIII. sowie —»Johannes XXII. das regnum Christi mit dem regnum pontificum identifizierte. Seit dem frühen 12. Jh. mehren sich ohnehin die Fälle, in denen die Historiographie einen von der Sache her begrenzten Gegenstand ins Auge zu fassen suchte, wobei keineswegs mehr kirchliche Institutionen, wie vorher, das Feld beherrschten. Bereits vom Jahre 1099 an fand der Erste Kreuzzug einen historiographischen Niederschlag; die Gesta deiper Francas aus der Feder des Guibert von Nogent ist ihr
Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VI berühmtester Bericht. Der Pfarrer Heimold von Bosau erkannte die Christianisierung der Slaven am Südrand der Ostsee als einen eigenen Vorgang und verfaßte im dritten Viertel des 12. Jh. die erste Missionschronik; Heinrich von Lettland, der um 1225 das Chronicon Livoniae schrieb, war der letzte, der sich dieser Materie widmete. Einen solchen besonderen Vorgang adäquat in den Blick zu nehmen, war nicht nur eine Frage der unterschiedlichen Fähigkeiten des Historiographen, sondern auch des unterschiedlich entwickelten Blickfeldes; spiegeln Unsicherheiten doch oft genug nur das Unfertige des betrachteten Gegenstandes wider. So ist es fast nicht möglich, die Grenze zwischen reiner Stadtchronistik oder nur ortsbefangenem Horizont in der italienischen Historiographie des 12. Jh. anzugeben. DieKölner Reimchronik des Gottfried Hagen ist ein früher Niederschlag städtischen Selbstbewußtseins in Deutschland, doch die ebenfalls aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. stammende Braunschweigische Reimchronik vermochte sich von Seitenblicken auf die Hausgeschichte des Stadtherrn noch nicht frei zu halten. Die Historia Welforum und das Chronicon Hanoniense des Gislebert von Möns, beide aus der zweiten Hälfte des 12. Jh., dürfen als frühe Geschichten eines Adelshauses und seiner Gerechtsame gelten; eine Landeschronik im engeren Sinne jedoch - um Österreich als Beispiel herauszugreifen - gab es nicht vor dem Ende des 13. Jh. Und erst der Wiener Universitätslehrer Thomas Ebendorfer machte um die Mitte des 15. Jh. den, wenn auch noch vergeblichen Versuch, in seinem Chronicon Austriacum die Geschichte aller habsburgischen Erbländer als eine Einheit zu behandeln. Immerhin wußte er in traditionellen Bereichen klar zu trennen, indem er gesondert vom Chronicon regum Romanorum eine Geschichte der Päpste und im Auftrage des Kaisers eine Ubersicht über die päpstlichen Schismen verfaßte. Es ist auch nicht zufällig, daß die westlichen Monarchien Frankreich und Kastilien unter dem Namen Grand chronique de France bzw. Crönica general im 13. Jh. zu einer Art offiziöser Nationalgeschichte kamen, die sich durch Fortsetzungen zu einer Dauereinrichtung bis an die Schwelle der Neuzeit etablierte. In Frankreich bestritten von Anfang an die Mönche von Saint-Denis, einer ohnehin traditionsreichen Stätte der Historiographie, die Redaktionen. Ihr offiziöser Charakter machte sich nicht zuletzt dadurch bemerkbar, daß seit 1340 eine zuweilen tendenziöse Berichterstattung zugunsten der Krone unverkennbar ist. Die erste Version der kastilischen Crönica general wurde frühestens 1289 abgeschlossen, war aber noch ganz von König Alfons X . konzipiert, und zwar in einem seiner Kaiseridee entgegenkommenden Sinne, wonach die spanische Geschichte ein Teil der römischen Geschichte sei. Obwohl das Kaisertum in der weiteren Geschichte des kastilischen Königtums keine Rolle mehr spielte, wurde diese Grundkonzeption beibehalten, da alle von Anonymen bis um 1460 vorgenommenen und graduell sehr verschiedenen Überarbeitungen auf die Einfügung neuen epischen, aber nicht unbedingt historischen Materials ausgerichtet waren. Das ältere Bild von der humanistischen Geschichtsschreibung beruhte auf der Vorstellung, daß die italienische —»Renaissance im ausgehenden 15. Jh. ihre höchste Blüte erlebt und erst jetzt durch direkte Ausstrahlung eine ähnlich humanistische Bewegung in den Nachbarreichen ausgelöst habe. Abgesehen davon, daß der Höhepunkt der italienischen Renaissance inzwischen vorverlegt werden mußte, zeichnet sich heute die Tendenz ab, der humanistischen Historiographie in den Nachbarreichen eine nicht überall so späte Entstehung und überdies einen Ursprung aus eigener Wurzel zuzuschreiben. An Bedeutung büßt dadurch die italienische Renaissance natürlich nichts ein. Den Anfang machte F. -»Petrarca um die Mitte des 14. Jh., der die scholastische Methode für unfähig erachtete, die religiösen Probleme und die praktische Moral seiner Zeit zu lösen, deshalb Vorbilder im Leben berühmter Männer aus der Antike suchte und sich aus Abneigung gegen die in der Scholastik dominierende Grammatik nicht den Philosophen, sondern den römischen Rhetorikern zuwandte. Sein Schüler Giovanni Bocaccio richtete wenig später sein Augenmerk auf dieselbe Quellengruppe, übernahm von seinem Vorbild aber nur einige formale Eigentümlichkeiten; als Verfasser einer Vita des von ihm hoch verehrten —»Dante läßt er sich sogar als der Schöpfer der Künstlerbiographie bezeichnen. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jh. trat der historiographische Aspekt in den Mittelpunkt, und zwar in Florenz. Coluccio Salutati entdeckte als der für den Außenverkehr dieser Stadt verantwortliche Kanzler, daß sich aus Ciceros Reden gegen die Monarchie Argumente für die republikanische Stadtverfassung in Abwehr gegen das monarchistische Mailand entnehmen ließen. Sein Nachfolger Leonardo Bruni wandte sich in der ersten Hälfte des 15. Jh. mit seiner Florentiner Geschichte in ähnlicher Weise gegen die Stadt Rom, indem er Florenz als das Erbe der römischen Republik nachzuweisen und alle anderen Verfassungsformen als mittelalterlich und deshalb als verwerflich abzuwerten suchte. Was besonders an einem Vergleich mit der Florentiner Geschichte Giovanni Villanis, seiner Hauptquelle, auffällt, ist die Eliminierung aller rational nicht erklärbaren Elemente kausaler Natur, wie Fabel, Mirakel oder Eingriff der göttlichen Vorsehung. Bruni besaß einen Blick für politische Macht, schränkte seine Kritikfähigkeit aber durch übertriebene Bindung an die politische Theorie der Antike wieder ein, die offenbar den Ausschlag gab, wirtschaftliche Motive zu ignorieren. Im Unterschied zu Villani, der alles nur Erreichbare zusammentrug, verstand Bruni, sich auf sein Thema zu konzentrieren. Er wollte eine innere und nicht äußere Geschichte seiner Stadt schreiben, aber nicht nur das allzu streng eingehaltene Prinzip der annalistischen Gliederung, sondern auch die Vorliebe für das Handeln der Einzelperson behinderte die Darstellung langfristiger Perspektiven.
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Die von Bruni gesetzten Maßstäbe blieben bis zur Invasion der Franzosen im Jahre 1494 in Italien verpflichtend. Die Wirkung seines Werkes veranlaßte die anderen Herrschaften, nach seinem Vorbild eine analoge Geschichte in Auftrag zu geben. Daß diese Parallel werke - hauptsächlich über Neapel, Venedig und Mailand - die Höhe ihres Vorbildes nicht mehr erreichten, liegt zum Teil daran, daß die Autoren von auswärts berufen werden mußten, zum Teil aber auch, daß die politische Struktur ihres Gegenstandes eine andere Verarbeitung des Stoffes erforderlich gemacht hätte. L. —»Valla, der die Konstantinische Schenkung (^Constitutum Constantini) als Fälschung erkannte, war immerhin so selbständig, daß er die 1445 in Neapel fertiggestellte Geschichte des Königs Ferdinand I. von Aragon mit realistischen und das Privatleben nicht aussparenden Einzelheiten zu einer lebensvollen Biographie ausgestaltete, an deren Qualität allenfalls die letzten Biographien in der 1474/75 abgeschlossenen Papstgeschichte Piatinas (Bartolomeo Sacchi) heranreichen. Der Wille zur sachlichen Darstellung, notfalls ohne Rücksicht auf den Stil, ist auch das Kennzeichen der Biographie Francesco Sforzas, die Giovanni Simonetta in Vercelli verfaßte, nachdem er 1480 aus Mailand ausgewiesen worden war. Wie er kam auch Marcantonio Coccio (Sabellicus) in der Tiefe der Fragestellung nicht an Brunis Darstellung heran; bemerkenswert ist jedenfalls, daß dieser die Geschichtsthemen des italienischen Humanismus um eine bis 1504 geführte Weltgeschichte bereicherte. In Frankreich hatte Nicole Gilles 1492 noch eine Überarbeitung der Grandes chroniques erscheinen lassen können. 1499 jedoch ließ König Ludwig XII. den Veroneser Humanisten Paulus Aemilianus aus Rom kommen und beauftragte ihn mit einer Geschichte der französischen Monarchie. Dieser übertrug die Prinzipien Brunis auf das französische Geschichtsbild und gliederte sein Werk nicht nach der Sukzessionsfolge der Herrscher, damit das Transpersonale des Königreiches stärker zum Ausdruck kommen konnte. Da er auch noch in der Erzählkunst unübertrefflich schien, sprachen die Zeitgenossen von ihm als dem gallischen Livius. Mit ihm soll die humanistische Geschichtsschreibung ihren Einzug in Frankreich gehalten haben, obwohl 1495 schon Robert Gaguin sein Compendium de origine et gestis Francorum veröffentlichte, das sich zwar noch eng an die Grandes chroniques anlehnte, im Ansatz aber alle Elemente der humanistischen Prinzipien bereits aufwies. Man scheut sich, die noch vor der Expansion der französischen Krone nach Italien von Philippe de Commines geschriebene Chronik Ludwigs XI. und Karls VIII. - später einfach Mémoires genannt - aus der humanistischen Geschichtsschreibung nur deswegen auszuklammern, weil sie vom humanistischen Stil so gut wie unberührt ist und keinen Rückgriff auf die klassische Literatur des Altertums versucht hat. Seine lebendige und ungewöhnlich realistische Personenschilderung jedenfalls, die zeigen wollte, welche Fehler ein Fürst vermeiden sollte, und der klare Blick für die leitenden Grundsätze in der Politik Ludwigs XI. rücken ihn in die Nähe eines -»Machiavelli oder Guicciardini, ohne daß er deren Schriften gekannt hätte. Wenigstens am Rande sei vermerkt, daß es in Paris schon um die Wende vom 14. zum 15. Jh. einen humanistisch orientierten, wenn auch nicht speziell historiographisch interessierten Zirkel gab, dem ein so bekannter Theologe und Kirchenpolitiker wie J. —>Gerson angehörte. Die Entwicklung der spanischen Geschichtsschreibung ist besser geeignet, die These infrage zu stellen, eine Betätigung in humanistischem Geiste müsse von Italien aus inspiriert worden sein.2 Sie beweist darüber hinaus, daß es nicht auf eine städtische Gesellschaft als entscheidende Voraussetzung ankam. Evident ist natürlich der italienische Einfluß im Paralipomenon des Bischofs von Gerona, Juan Margarit i Pau. Die Intention seiner spanischen Geschichte, welche die Vereinigung Kastiliens mit der Krone Aragon durch die Katholischen Könige als eine Rückkehr zum vormittelalterlichen Zustand abstützen wollte, paßt sich gut in die ideengeschichtliche Linie der spanischen Historiographie des 15. Jh. ein und belegt auch an dieser Stelle die engen italienisch-katalanischen Kulturbeziehungen; eine etwaige Mittlerfunktion zum kastilischen Raum hin aber ist nicht zu beobachten. Die humanistische Geschichtsschreibung in Kastilien begann schon mit Pedro López de Ayala, der 1395 seine Parteinahme für den illegitimen König Heinrich II. in einer Geschichte der kastilischen Herrscher nachträglich zu rechtfertigen suchte, deshalb mit den Vorbildern der bisherigen Geschichtsschreibung brach und seine Argumente der römischen Rhetorik entnahm. Seine Idealvorstellung vom kastilischen Staat bestand in einer auf mehrere Gruppen verteilten legitimen Gewalt, die sich gegenseitig kontrollieren konnten. Von einer ähnlichen Warte aus urteilte auch Fernán Pérez de Guzmán, ließ in seinen um 1450 geschriebenen Generaciones y semblanzas,das biographische Moment jedoch weit stärker als sein Vorbild zu Wort kommen. Sogar weniger wichtigen Personen widmete Diego de Valera, offizieller Historiograph am Hof, biographische Details in den drei Chroniken, die er der Königin Isabella übereignete. Alle drei Geschichtsschreiber gehörten dem Ritterstand an, der auf den Hof hin orientiert war, die Führung des Königs durchaus anerkannte, aber noch auf das Mitspracherecht des Adels pochte und im Biographischen das Vorbildliche des Einzelkämpfers durchschimmern ließ. Zeitlich parallel dazu schrieb eine vom scholastischen Lehrbetrieb der Universität geprägte Gruppe, die sich humanistisches Bildungsgut aneignete, ohne sich von den Leitlinien der traditionellen Historiographie prinzipiell abzuwenden. Pablo de Santa Maria, Bischof von Burgos, bewegte sich in seiner die mittelalterlichen Chroniken zusammenfassenden Übersicht von 1412 noch weitgehend in traditionellen Bahnen, formulierte aber schon die Theorie, daß der König an der Spitze einer gottgewollten Ordnung und unabänderlichen Hierarchie von
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Institutionen stehe. Sein Amtsnachfolger Alfonso de Cartagena kam als Vertreter des kastilischen Königs in Kontakt mit italienischen Humanisten und übte als Erzieher von Klerikern, die später am Königshof Ämter erhielten, größten Einfluß auf die Geschichtsschreibung aus. In seiner Anacephaleosis suchte er die Superiorität Kastiliens über die anderen Reiche mit dem hohen Alter seines Königtums zu begründen und vertrat 1434 vor dem Basler Konzil (—>Basel/Ferrara/Florenz) mit dieser Begründung den Vorrang der kastilischen Vertreter vor den englischen. Diesen Vorrang dehnte Rodrigo Sánchez de Arévalo in seiner Historia Hispanica, die er 1469 in päpstlichen Diensten zu Rom veröffentlichte, auf die übrigen Reiche der iberischen Halbinsel aus, da er einem Zustand in vorklassischer Zeit entspreche. Dies bereitete die Union unter den katholischen Königen und die Reconquista Granadas vor und gab der Auffassung von der exklusiven Stellung des Königs weiteren Auftrieb, zumal Alfonso de Palencia beides mit größter Eloquenz in seinen Decades propagierte und Andrés Bernáldez es in den Memorias del reinado de los Reyes Católicos bestätigte. Diese Argumentation, die sich durch Sorge für Ordnung und Kontinuität auszeichnete, setzte sich durch. Ihr Interesse an der Geschichte war von dem Wunsch geleitet, die durch ein hohes Alter legitimierten Institutionen als das Wesen des spanischen Staates vor Augen führen zu können. Der spanische Ausschnitt bereitet Schwierigkeiten zu formulieren, was nun eigentlich die humanistische Geschichtsschreibung ausmacht. Die Abneigung gegen den scholastischen Lehrbetrieb war es nicht überall, da die eine Gruppe ihren Leitgedanken aus diesem Bereich bezog und Vertreter der anderen Gruppe, wie Pérez de Guzmán, entweder mit Alfonso de Cartagena befreundet waren oder, wie Diego de Valera, die Anacephaleosis und die Decades benutzten, ohne sich den Grundgedanken ihrer Verfasser zu eigen zu machen. Zugleich ist damit gesagt, daß die Säkularisierung des Weltbildes nicht bis zu jenem Punkt getrieben wurde, der die Überzeugung von einer durch den Willen Gottes legitimierten Einrichtung unterbunden hätte. Wie wenig die antike Geschichte an Eigenwert besaß, wird an der Interessenlage der kastilischen Historiographen deutlich, für die die römische Epoche nur ein Teil des Kontinuums der spanischen Geschichte sein konnte. Wie bei Bruni stand auch hier das durch seinen Ursprung und durch sein hohes Alter in der Geschichte ausgewiesene Wesen einer Einrichtung oder - mit anderen Worten - das Unverwechselbare des Betrachtungsgegenstandes überhaupt im Mittelpunkt des Interesses. Dies ist auch bei den deutschen Humanisten zu beobachten, obwohl sie den universalhistorischen Aspekt nicht ganz abzustreifen vermochten, der in der deutschen Vorstellungswelt auf eine zählebige Tradition zurückblicken konnte. Der Liber Chronicarum des Nürnbergers Hartmann Schedel, 1493 erschienen, gilt zwar als eines der ersten humanistischen Geschichtswerke, ist im wesentlichen aber eine Kompilation, die das Supplementum Chronicarum des Jacobus Philippus Foresta von Bergamo zugrunde gelegt hat und der mittelalterlichen Darstellungsweise, besonders dem nur wenig älteren Fasciculus temporum des Kölner Kartäusers Werner Rolevinck, näher steht als der humanistischen Historiographie. Auch der Tübinger Kanonist Johannes Nauclerus schuf um 1504 mit seinen Memorabilium omnis aetatis et omnium gentium chronici commentarii eine Weltchronik, die sich in der Form mehr an die italienischen Humanisten anlehnte, aber auch schon ein besonderes Interesse für die deutsche Geschichte durchblicken ließ. 1484/85 war bereits mit der Nürnberger Chronik von Sigismund Meisterlin die erste humanistische Stadtgeschichte Deutschlands erschienen, höchstwahrscheinlich angeregt durch einen Studienaufenthalt in Padua. Johannes Trithemius, lange Zeit Abt des Klosters Sponheim, veröffentlichte 1495 nach dem Vorbild Petrarcas oder eher noch Piatinas den Catalogus illustrium virorum Germanorum ; er war befreundet mit Conrad Celtis, der zur Vorbereitung einer Germania illustrata, die von einigen Humanisten nach dem Vorbild der Italia illustrata Biondos gefordert wurde, eineGermania generalis schrieb. Erst jetzt, also etwas spät, setzte die auf die deutsche Geschichte bezogene humanistische Geschichtsschreibung im engeren Sinne ein, und zwar im —»Elsaß. Die Nähe zu Frankreich bewirkte hier eine ausgesprochen patriotische Note. S. —»Brant fügte seinem 1494 veröffentlichten Narrenschiff, einer den spätmittelalterlichen Zeitklagen nahestehenden Moralsatire, eine Weltchronik an, die sich ungeachtet des weiter gefaßten Rahmens vornahm, den deutschen Charakter im Elsaß zu verteidigen. Als Begründer der deutschen Geschichtsschreibung indes gilt Jakob Wimpfeling, der 1501 sein eGermania, 1505 àie Epitome rerum Germanicarum und 1507 denCatalogus episcoporum Argentinensium veröffentlichte bzw. verfaßte. Zusammen mit Brant leistete er literarische Dienste für —»Maximilian I. Erfordernisse des Kaisertums lagen ihm nicht fern, aber aktuelle Rechtspositionen historisch zu untermauern, schien ihm wichtiger. Es hieß, der französische König greife nach der Kaiserkrone, und die Schweizer Eidgenossen wollten sie überflüssig machen; das eine verlangte eine Verteidigung des Elsaß gegen französische Expansionstendenzen, das andere erforderte einen bewahrenden Sinn für die ständische Gliederung der Gesellschaft. Weil es keine leitende Institution gab, die das politisch zersplitterte Elsaß im 16. Jh. zusammenfaßte, griff Wimpfeling ersatzweise zur Germania als dem nächst höheren Bezugsrahmen. Die Qualität der humanistischen Blüte Italiens erreichte einige Jahre später erst Beatus Rhenanus, der als erster die Germania des Tacitus kommentierte und in den Rerum Germanicarum libri III sein Hauptwerk vorlegte. Sein Bedürfnis, möglichst die Ursprünge der deutschen Geschichte aufzudecken und sich mit der klassischen Literatur auseinanderzusetzen, führte ihn über die eigentli-
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chen Anfänge der deutschen Geschichte hinaus. Wirft man einen Blick auf die etwas früher verfaßte Saxonia des Rostocker Universitätslehrers Albert Krantz, dann hat man allerdings in Rechnung zu stellen, daß ohnehin eine Neigung bestand, zwischen Germanenreichen und Deutschland eine natürliche historische Kontinuität zu sehen. Das Augenmerk konzentrierte sich dabei gerne auf einen deutschen Stamm, der stellvertretend für das Ganze in der Darstellung etwas vorherrschte; in den Schriften von Krantz waren dafür die Italia illustrata Biondos und die Historia Bohemica des Enea Silvio de' Piccolomini die Vorbilder. Vergleicht man die mangelnde Kritikfähigkeit Wimpfelings mit der philologisch scharfsinnigen Behandlung der Quellen durch Beatus, dann drängt sich auch für den deutschen Bereich der Eindruck fließender Übergänge zwischen der mittelalterlichen und humanistischen Geschichtsschreibung auf. Es war mit Sicherheit nicht so, daß ein Kontakt mit italienischen Humanistenkreisen genügte, um auch in Deutschland die Ideale des Humanismus einzuwurzeln. Der Prager Hof Karls IV. kam mit dem italienischen Frühhumanismus in Berührung und pflegte in Verbindung mit verschiedenen Klöstern des Landes eine „neue Literatur", die in lateinischen Moralschriften, in volkssprachigen religiösen Texten, in Gesellschaftssatiren und im Entwurf einer tschechischen Enzyklopädie der gesellschaftlichen Oberschicht Zugang zum zeitgenössischen Bildungsleben bieten wollte; von nachhaltiger Dauer war der Versuch nicht. Ähnlich erging es Enea Silvio de' Piccolomini (—»Pius II.), der um die Mitte des 15. Jh. in kaiserlichen Diensten den Umkreis des Wiener Hofes mit italienischem und darunter auch eigenem humanistischen Schrifttum bekannt machte; sieht man von Johannes Dlugosz ab, dessen bis 1480 reichende Historia Polonica nur mit Einschränkungen der frühhumanistischen Historiographie zugezählt werden kann, dann fand Piccolomini erst (und dazu noch unzulängliche) Nachahmung, nachdem der deutsche Humanismus in ein ausgereiftes Stadium getreten war. Beobachtungen dieser Art geben zu der These Anlaß, daß die wirklich einschneidende Zäsur im 12. Jh. zu suchen ist. Die seitdem wachsende Fähigkeit zur Abstraktion entband die Historiographen aus der Pflicht, im Verhalten beispielsweise des Königs das Normative für ein Herrschaftsgefüge sichtbar werden zu lassen. 3 Dadurch wurde der Blick für das Individuelle frei, und das Ereignis konnte realitätsbezogener zur Darstellung gebracht werden. Die seit eh und je vorwiegend politische Zielsetzung der Geschichtsschreibung - sei es um eine Änderung zu erreichen, um eine Veränderung nachträglich zu legitimieren oder um einen augenblicklichen Zustand durch Fundierung im Historischen festzuschreiben — änderte sich dadurch nicht, aber das wachsende Bedürfnis, den Gegenstand in seiner unverwechselbaren Wesensart zu begreifen, entfernte den Historiographen immer mehr vom Typologischen und trieb zu größerer Quellennähe und bewußterer Quellenkritik. Wenn man berücksichtigt, daß bereits dieHistoria Compostellana im frühen 1 2 . Jh., der von Kardinal Boso in der zweiten Hälfte des 12. Jh. verfaßte Teil des Liber Pontificalis oder die Chronica maiora des Matthäus Parisiensis Urkunden und Briefe in nicht geringer Zahl zum Z w e c k e der Dokumentation inseriert hatten, Wimpfeling aber noch die göttliche Providenz entsprechend mittelalterlichem Herkommen als maßgebliche Kausalität für den Wechsel von Ereignissen gelten ließ, dann wird vollends deutlich, daß der Übergang von der spätmittelalterlichen zur humanistischen Geschichtsschreibung nur ein gradueller war. Der Sinn für das Individuelle, der Realitätsbezug, das Methodenbewußtsein, das auf der Suche nach dem Ursprung gefundene Gespür für die klassische F o r m , alle diese Eigenschaften der humanistischen Geschichtsschreibung finden sich selten in einem Werk vereinigt. Letztlich erscheinen sie wie eine Konsequenz aus dem Einbruch, der die Historiographie im 12. Jh. auch in der Theorie getroffen hat, und kennzeichnen die Geschichtsschreibung von dem M o m e n t an als humanistisch, da sie in größerer Verdichtung auftreten. Anmerkungen 1
2
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S. Friedrich Vittinghoff, Zum geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike: HZ 198 (1964) 529-574. Als ideengeschichtliche Vorarbeit findet sich die Problemstellung umrissen in der thematisch eigentlich anderweitig orientierten Monographie von Helen Nader, The Mendoza Familiy in the Spanish Renaissance 1350 to 1550, New Brunswick, N . J . 1970, 1 - 3 5 . Ich stütze mich auf einen Grundgedanken, den Karl Leyser (Oxford) in einem Vortrag im Juni 1982 in Köln ausgeführt hat.
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Odilo Engels VII. Reformations- und Neuzeit VII/1. 16.bis 18.Jahrhundert 1. Das reformatorische Geschichtsverständnis 2. Die Verselbständigung und Säkularisierung der Weltgeschichte 3. Die Geschichtsphilosophie des 18. J h . (Bibliographien/Literatur S. 641)
1. Das reformatorische
Geschichtsverständnis
„Die Reformatoren nahmen natürlich für die theologische Auffassung Partei. Sie schlössen sich nicht nur an die altchristliche Geschichtsdoktrin an, sondern sie kanonisierten sie und verschafften ihr im Unterrichte offizielle Geltung" (Fueter 186). In der Tat hat die Reformation das im Mittelalter rezipierte biblisch-augustinische Geschichtsbild und seinen geschlossenen Rahmen nicht zerstört. Hiernach standen Anfang, Mitte und Ende der Geschichte fest. Die Geschichte der Menschheit hatte mit der Erschaffung der Welt etwa 4000 Jahre vor Christus begonnen, sie hatte dann mit Christus zwar nicht in chronologischer, wohl aber in sachlicher Hinsicht ihren Mittel- und Höhepunkt erreicht, und seither ging sie, auf Grund der nach dem Vaticinium Eliae (vgl. Luther, WA 53,22; Melanchthon, CR 12,717) angenommenen Gesamtdauer der Welt von 6000 Jahren, unaufhaltsam dem Jüngsten Gericht und ihrem Ende entgegen. Die Gegenwart war letzte Zeit, und dem allgemeinen Bewußtsein vom nahenden Ende entsprach die verbreitete Rede vom Greisenalter der Welt. Der Zweck der als Einheit begriffenen Welt- und Kirchengeschichte lag im Alten Bund in der Ankündigung der erlösenden Heilstat Christi, im Neuen Bund aber in der Vermittlung ihrer Wirkungen an die Menschheit (—>Föderaltheologie). Geschichte war daher ihrem letzten Sinne nach Heilsgeschichte, und der Kirche kam als der Vermittlerin des Heils hervorragende geschichtliche Bedeutung zu. Wie sie den antiken Weltreichen in der Ein- und Unterordnung unter die vorchristliche Geschichte des Heils einen Eigenwert abgesprochen hatte, so betrachtete sie auch das christliche römische Reich und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nur als untergeordnete Faktoren und ihre Regenten nur als zweitrangige Diener neben und unter der Kirche und der Hierarchie. Mit ihrem heilsgeschichtlichen Auftrag stieß die Kirche freilich von Anfang an, seit Abel und Kain, auf den wütenden Widerstand ihrer Gegner, die das Heil ablehnen und sie verfolgen: Teufel, ^ A n t i c h r i s t und Tyrannen, Lästerer, Abtrünnige und Verräter. Die Geschichte ist als Geschichte der Vermittlung des Heils durch die Kirche und der Ablehnung durch ihre Gegner von einem metaphysischen Dualismus durchzogen, dessen Sinn im einzelnen der Menschheit erst am Ende der Geschichte offenbar werden wird. In dem Maß, wie —»Luther den Widerspruch zwischen seiner aus Paulus und Augustin geschöpften Theologie und der kirchlichen Lehre entdeckte und den Widerstand der Hierarchie gegen seine Korrekturen zu spüren bekam, wuchs in ihm die Uberzeugung vom geschichtlichen Verfall der Kirche seit 300 Jahren. Der vorausgesagte Antichrist hatte gerade an der Spitze der Kirche, im Papsttum, die Macht ergriffen (s. TRE 3,28—31). Die Häretiker von einst sah Luther alsbald in einem neuen Licht: -H>HUS wurde
Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/1 ihm zum „heiligen Märtyrer". So erneuerten die Reformatoren die im Ansatz bereits altkirchliche, von den mittelalterlichen Opponenten der Kirche fortgebildete Verfallstheorie. Den Dualismus der augustinischen Geschichtsauffassung (s. TRE 4 , 6 8 0 - 6 8 3 ) bejahten sie, doch die Fronten verliefen nach ihrer neuen Einzeichnung umgekehrt: Die Kirche ist vom Antichrist beherrscht und zum Teil von Gott abgefallen, die Minderheit der verfolgten Christen aber erweist sich als die Schar der dem Wort Gottes gehorsamen treuen Zeugen; die Situation der Endzeit ist da. Mit der ihm eigenen Überzeugung von der andauernd wirksamen Macht Gottes im Weltgeschehen verband Luther den Gedanken des nur scheinbar selbsttätigen geschichtlichen Handelns der Menschen. Da es einen irgendwie neutralen, von Gott nicht durchwalteten Bereich des Geschehens nicht gibt, werden sie, ohne das durchschauen zu können, zu seinen Werkzeugen und Handlangern. Das Weltgeschehen erscheint Luther „als Gottes Mummerei, darunter er sich verbirgt und in der Welt so wundersam regiert und rumort" (WA 15,373) — ein bildlicher Ausdruck für das ernste Drama der Geschichte, das keineswegs als sinnloses Spiel mißverstanden werden darf. Dabei hat Luther den metaphysischen Dualismus vertieft. Ohne die Überzeugung von der Umkehrung der Fronten des alten Geschichtsbildes wieder preiszugeben, jedoch auch ohne sie zu einer Selbstverherrlichung der Reformation (im Sinne eines „Gott mit uns") zu übersteigern, glaubte er daran, daß Gott im geschichtlichen Konflikt verborgen am Werk sei, und zwar auf beiden Seiten, auf der Front wie auf der Gegenfront, während er gleichzeitig als der Herr der Geschichte über ihnen beiden steht und sie regiert. Damit erscheint nun jener Dualismus ins Unerweisliche entrückt, ja wohl gar aufgehoben. Die Macht des Teufels im Weltgeschehen ist jedoch nicht beseitigt, sie bleibt vielmehr bittere Wirklichkeit bis ans Ende der Geschichte, ohne daß erkennbar wäre, warum, wie und wann Gott seine dem Teufel geliehene Macht jeweils aus Gnaden in Schranken hält. Und tatsächlich wäre das Weltgeschehen undeutbar, wenn nicht für den Glaubenden Gericht und Gnade Gottes im Leiden, in der Niedrigkeit und in der Schmach des Kreuzes Christi offenbar wäre. Von hier fällt für Luther mittelbar ein Licht auch auf das Handeln Gottes im Weltgeschehen: In jedem Ereignis kann der Glaubende Gericht und Gnade Gottes fassen. Auf diese Weise ist ihm auch die Vergangenheit deutbar, „weil die Historien nichts anders denn Gottes Werk, das ist Gnad und Zorn, beschreiben, welchen man so billig gleuben muß, als wenn sie in der Biblien stünden" (WA 50,385). —»Melanchthon teilte die Anschauung Luthers vom geschichtlichen Niedergang von Theologie und Kirche. Den Zusammenhang von Theologie und Philosophie vor Augen, sprach er sich bereits in seiner Wittenberger Antrittsrede {De corrigendis adolescentiae studiis, 1518) für die Erneuerung der Philosophie auf der Grundlage der antiken Naturkunde und Ethik aus. Dabei forderte er die Einführung der Geschichte als Studienfach in den akademischen Unterricht - eine folgenreiche, obschon erst spät, nämlich in dem Jahrhundert nach seinem Tode allmählich verwirklichte Forderung. Vor allem aber schuf er mit dem von ihm überarbeiteten Chronicon Carionis (1558; CR 12,711-1094), das in seiner Breitenwirkung bis ins 18. Jh. hinein unübertroffene Lehrbuch der Weltgeschichte, in welchem er die nach dem Schema der vier Weltreiche geordnete Geschichte des Altertums mit der biblischen Geschichte und die humanistische Sinngebung (historia magistra vitae) mit dem Verständnis der Kirchengeschichte (—>Kirchengeschichtsschreibung) als Heilsgeschichte zu einem neuartigen, einheitlichen Ganzen verband. Der außerchristlichen Geschichte erkannte er eine der Heilsgeschichte geradezu verwandte Bedeutung zu. Denn obgleich die antiken Historien von Gott nichts Wahres vermelden konnten, haben sie doch mit ihren mahnenden und abschrekkenden Beispielen wenigstens im natürlichen, weltlichen, zwischenmenschlichen Bereich zur Erfüllung des göttlichen Gesetzes beigetragen, während der Christ, dem der Wille Gottes aus der Heiligen Schrift bekannt ist, aus ihnen nicht nur vermehrte Einsicht, sondern eine zusätzliche Stärkung seiner Gottesfurcht und seines Glaubens schöpfen darf. Den breiten dokumentarischen Nachweis für den Verfall der christlichen Lehre im Laufe ihrer Geschichte suchte M. —»Flacius Illyricus in den Magdeburger Zenturien {Historia ecclesiastica, integram ecclesiae ideam secundum singulas centurias... complectens,
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/1
1 5 5 9 - 1 5 7 4 ) zu erbringen, einer vom Urchristentum bis ins 13. Jh. reichenden polemisch-apologetischen Kirchen- und Dogmengeschichte, die er in einer planvoll organisierten, in seinem Jahrhundert vielleicht einmaligen Gemeinschaftsarbeit mit seinen Freunden aus einer Fülle unbekannter Quellen zusammentrug. Überzeugt von der Lückenhaftigkeit und von zahllosen Irrtümern und Fälschungen der geschichtlichen Überlieferung, unternahm er den bedeutsamen Versuch einer kritischen Sonderung der echten, ursprünglichen christlichen Lehren von ihren späteren Veränderungen und Zufügungen. Er bemühte sich, unter reformatorischem Vorzeichen jenen Dualismus zwischen Christus und Antichrist und wahrer und falscher Kirche anhand der Lehraussagen aller Jahrhunderte im einzelnen aufzudecken (s. T R E 3,33,1 — 14). Die Geschichte der Kirche begriff er als Folge von wiederholten Deformationen und Reformationen, im ganzen jedoch als den Prozeß zunehmender Entstellung der biblischen Wahrheit. Schon für das 2. Jh. notierte er mit Schrecken die Verdunkelung wichtiger Glaubensartikel. Im 7. Jh. habe Gott die Undankbarkeit und die Freveltaten der Welt mit Unglück und Finsternis vollends bestraft: damals erhob der doppelte Antichrist in Gestalt Mohammeds und des nachgregorischen Papsttums sein Haupt. Im 13. Jh. schließlich steigerte sich die Herrschaft des päpstlichen Antichrists zur Tyrannei. Aristoteles triumphierte über die Heilige Schrift. Die Theologie lag am Boden. Diesen Nachweis für die Wahrheit der Verfallstheorie, der Freunde und Gegner der Reformation gleichermaßen beeindruckte, ergänzte Flacius durch die Traditionstheorie mit dem Aufweis der gottgefälligen Wahrheitszeugen inmitten der kirchlichen Finsternis (Catalogus testium veritatis, 1556). Wie einst im Alten Bund (I Reg 19,18), so habe Gott auch in der Kirchengeschichte des Neuen Bundes eine Vielzahl von Gläubigen dazu erleuchtet, der Irrlehre und der Tyrannei des Antichrists in Wort und Tat Widerstand zu leisten. Dabei stellte Flacius nicht nur die kaiserlichen Gegner päpstlicher Politik und die oppositionellen kirchlichen Gemeinschaften der Waldenser, Wyclifiten und Hussiten, sondern auch so verschiedenartige Mahner und Kirchenkritiker wie Bernhard von Clairvaux, Dante und Tauler, Katharina von Siena und Nikolaus von Kues als Wahrheitszeugen vor. Er verschaffte damit der Reformation die unentbehrliche Legitimation aus der Tradition, die zwar dem Schriftprinzip niemals gleichzuachten war, die es aber auf willkommene Weise ergänzte. Auf dem Boden der westeuropäischen Reformation, w o die Geschichte der evangelischen Kirche in besonderem M a ß e zur Geschichte der Verfolgungen wurde, rückte man die Chronik der zeitgenössischen Blutzeugen in das Licht der Geschichte der biblischen und mittelalterlichen Wahrheitszeugen. So verknüpfte Ludwig Rabus ( 1 5 2 4 - 1 5 9 2 ) in Straßburg die evangelischen Märtyrer seiner Zeit mit der langen Reihe der Verfolgten des Alten und Neuen Bundes (Historien der auserwählten Gotteszeugen, 1 5 5 4 ) . Jean Crespin (um 1 5 2 0 - 1 5 7 2 ) in Genf und Adrian Haemstede ( 1 5 2 5 — 1 5 6 2 ) in Antwerpen stellten ihre vorbildliche Standhaftigkeit in den Zusammenhang des endzeitlichen Ringens der wahren Kirche mit dem Satan und dem römischen Antichrist (Le Livre des Martyrs, 1 5 5 4 ; De Geschiedenisse der vromer Martelaren, 1 5 5 9 ) . John F o x e ( 1 5 1 6 - 1 5 8 7 ) , der mit seinem Märtyrerbuch das Geschichtsverständnis der englischen Nation für ein ganzes Zeitalter prägte (Commentarii, 1554; Acts and Monuments ofthe Christian Martyrs, 1 5 6 3 ) , verstand die Reformation als schlechthin göttliches Werk, die Verfolgungen aber, die über die Gläubigen kamen, als Strafen des göttlichen Erziehers oder als Eingriffe des göttlichen Arztes zur Heilung ihrer Gebrechen. So kamen selbst noch in diesem besonderen Zweig der Geschichtsschreibung die allgemeinen Gesichtspunkte des reformatorischen Geschichtsverständnisses zur Geltung. Auf den engeren Bereich der Kirchengeschichte beschränkt, blieben sie über das Zeitalter der Orthodoxie hinaus noch im Pietismus in Geltung.
Der Widerspruch gegen das reformatorische Geschichtsverständnis blieb nicht aus. Aber die katholische Antwort, die Caesar Baronius (1538—1607) in seinen Annales ecclesiastici (1588—1607) gab, lief auf eine breite, aus neuen, ihrerseits unbekannten Quellen gespeiste Widerlegung der Magdeburger Zenturien hinaus. Zwar gab er einzelne geringfügige Fehlentwicklungen in der Geschichte der Kirche zu, aber tiefgreifende Veränderungen oder gar einen Verfall ihres Wesens ließ er nicht gelten. Das alte Geschichtsverständnis mehr voraussetzend als erneuernd, suchte er namentlich die Geschichte des Papsttums von jeder Spur eines Makels mit allen apologetischen Mitteln zu reinigen. Mit Flacius verband ihn die Konzentration auf die Geschichte der Kirche und ihrer Lehre, so daß sie beide die sich anbahnende Verselbständigung der Weltgeschichte nicht verhinderten.
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Eine Fortsetzung und späte Erneuerung erlebte das biblisch-augustinische Geschichtsbild noch in dem bis auf Karl den Großen reichenden Discours sur l'histoire universelle (1681) von J.-B. —»Bossuet. Die biblische Zeitrechnung und der mit ihr festgefügte geschichtliche Rahmen, die Einheit von Kirchen- und Weltgeschichte mit ihrer Ein- und Unterordnung des vorchristlichen Altertums erinnerte hier noch ganz an das alte Vorbild, während der heilsgeschichtliche Dualismus bereits deutlich zurücktrat. Einen andersartigen Widerspruch gegen das reformatorische Geschichtsverständnis erhob S. —»Franck in seiner Chronica, Zeitbuch und Geschichtsbibel (1531). Zwar übernahm er den Rahmen des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes wie selbstverständlich: In der Geschichte sah auch er Gott und den Teufel am Werk, und das nahe Ende der Welt war auch ihm gewiß. Mit den Reformatoren war er im Blick auf den katastrophalen Niedergang der Kirche einer Meinung. Ja, er radikalisierte die Theorie vom Verfall, indem er ihn bereits, wie schon Thomas —»Müntzer, in der Urzeit der Kirche ansetzte. Die von Gott beauftragte Vermittlerin des Heils an die Menschen vermochte Franck jedoch in keiner der verfaßten Kirchen mehr zu erkennen. Sie alle waren in seinen Augen gottwidrige „Sekten". Zeugen der Wahrheit waren nur noch die im verborgenen mit Gott im Geist verbundenen einzelnen Christen, eine unsichtbare Diaspora, der er auch die Zahl der mit Gottes Geist begabten Heiden zurechnete. Franck wandte sich gegen alle, die dem Christentum eine äußere Gestalt und Autorität zu geben versuchten, weil diese Veräußerlichung dem Willen Gottes zuwiderlief: gegen die römische Kirche ebenso wie gegen Luther und —»Zwingli, —>Müntzer und die Täufer. Auch die „Ketzer" belegte er mit diesem Vorwurf, so sehr er ihre Verfolgung mißbilligte. Während er seine Kritik gelegentlich bis zur Skepsis steigerte, hielt er an seinem Bekenntnis zum Geistchristentum fest. Mit Luther, seinem Gegner, verband ihn die lebendige Vorstellung von dem Walten des „wunderbaren Gottes" in der Geschichte. Um es zu erkennen und zu verdeutlichen, ließ sich Franck jedoch an der in der Heiligen Schrift bezeugten, Gericht und Gnade offenbarenden Heilstat Christi am Kreuz nicht genügen: Er verwies vielmehr auf die unmittelbare göttliche Offenbarung im Geist, auf „Gottes Werk in uns". Wenn sich der Mensch mit ihrer Hilfe in die Geschichte selbst einbringt und in ihr wiederfindet, wird ihm die Welt zum offenen Buch, und die Chronik der Weltgeschichte wird ihm zur „Geschichtsbibel" mit Offenbarungscharakter. Denn was die Heilige Schrift lehrt, stellt die Historie lebendig vor Augen; eine Bibel reicht der anderen die Hand. Einen späten geistigen Nachfahren fand Franck in G. —»Arnold, der in seiner Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) unter Beachtung der inzwischen fortgebildeten Grundsätze wissenschaftlicher Geschichtsschreibung die Kritik an der Kirche wiederaufgriff und zu ungeahnter Wirkung brachte. Im Glauben an das „wunderliche" Handeln Gottes in der Geschichte stand Arnold dem reformatorischen Geschichtsverständnis nahe. Doch wie Franck fand er, die Kirchen und ihre „Clerisey" seien ebenso wie die von ihr zu Unrecht verfolgten Ketzer zu allen Zeiten tief im Irrtum und Unrecht verstrickt geblieben. Tadellos waren allein die ersten Christen und die einzelnen frommen Gotteskinder, die ihrem Vorbild im Lauf der Jahrhunderte gehorsam gefolgt waren. Jede äußere kirchliche Gemeinschaft unterliegt dagegen als solche dem Prozeß der Verweltlichung. Auch die Reformation Luthers fiel von ihren trefflichen geistlichen Anfängen bald wieder ab. Eine historia sacra kann es daher nicht geben. Obwohl Arnold auf diese Weise der historia sanctissima der vom Geist geleiteten Gotteskinder als der eigentlichen Kirchengeschichte das Wort reden wollte, ermutigte er mit seinen Nachweisen die ungehinderte innerweltliche Kritik an der Verfassung, dem Gottesdienst, den Dogmen und den Amtsträgern der sichtbaren Kirche. Unter der Wucht seiner Anklagen kam sein Anliegen gar nicht zur Geltung. Seine Kritik aber war es, die unter den neuen Bedingungen des 18. Jh. weit und breit Anklang fand. 2. Die Verselbständigung
und Säkularisierung der
Weltgeschichte
Während die Reformatoren, trotz ihrer tiefgreifenden Korrektur, das biblisch-augustinische Geschichtsbild aufs Ganze gesehen befestigten, stand der Jurist Jean Bodin (1529—1596) in Paris bereits im Begriff, es abzutragen. In seinerMethodus adfacilem histo-
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riarum Cognitionen! ( 1 5 6 6 ) gab er nach einer bezeichnenden Dreigliederung der Historie {historia divina, naturalis, humana) der T h e o l o g i e in der Geschichte den Abschied, um eine Darstellung der Geschichte der Menschen und der rein innerweltlichen Zusammenhänge zu fordern. Die Lehre von den vier Weltreichen ließ er als unbegründet beiseite. Die Lehre vom nahenden Ende der W e l t und von der Gegenwart als der letzten Z e i t lehnte er ebenso ab wie die ähnliche antike Vorstellung von der Abfolge des goldenen, silbernen, ehernen und eisernen Zeitalters. Auch das Vaticinium Eliae verwarf er und mit ihm nicht nur die Berechnung des Endes der W e l t , sondern die Berechtigung endzeitlichen Denkens überhaupt. Niedergang und Verfall in der Geschichte bewertete er nicht mehr als geradlinig und einmalig, sondern als einen jeweils mit einer Erneuerung gekoppelten, wiederholbaren Vorgang. V o n den Vorzügen seiner eigenen Zeit gegenüber der Vergangenheit angetan, schritt er schließlich auch über die humanistische Anschauung von der unübertrefflichen Vorbildlichkeit der klassischen Antike hinaus. Z u s a m m e n mit der Aufwertung seiner Gegenwart wandte er den Blick erwartungsvoll in die Z u k u n f t . N a c h dieser Seite hin brach Bodin den R a h m e n des alten Geschichtsbildes auf: Die Geschichte w a r nach der Z u k u n f t hin offen. Seiner Auffassung von einer Gesamtgeschichte der Menschheit entsprechend, forderte er auch, die Geschichte der Antike aus ihrer Ein- und Unterordnung unter das Christentum zu lösen und mitsamt der übrigen außerbiblischen Völkerwelt selbständig zur Geltung zu bringen. Zugleich beseitigte er stillschweigend den heilsgeschichtlichen M i t t e l p u n k t der Geschichte in Christus. Bodins Neuerung, zunächst k a u m zur Kenntnis g e n o m m e n , fand erst im 17. J h . bei den Historikern Anklang, um schließlich im 1 8 . J h . in das allgemeine Geschichtsbewußtsein der Zeit einzugehen. Im Unterschied dazu stieß die neue T h e o r i e von den Anfängen der Weltgeschichte, die der gelehrte französische Bibliothekar Isaac de La Peyrere ( 1 5 9 4 — 1 6 7 6 ) a n o n y m in den Niederlanden veröffentlichte (Praeadamitae, 1 6 5 5 ) , sogleich auf lebhaftes E c h o und heftigen Widerstand. L a Peyrere trug den R a h m e n des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes nach der anderen Seite hin ab. Indem er die beiden unterschiedlichen Schöpfungsberichte der Genesis gesondert auf die Schöpfung von W e l t und M e n s c h h e i t (Gen 1) und auf die Erschaffung der Stammeltern des auserwählten V o l k e s (Gen 2) bezog, unterschied er eine präadamitische und eine adamitische Menschheit. A u f diese Weise versuchte er, den außerbiblischen Nachrichten über die V ö l k e r der Alten W e l t zu ihrem R e c h t zu verhelfen und die seit der 2 . Hälfte des 1 6 . J h . wiederholt diskutierten Widersprüche zwischen der außerbiblischen und der biblischen C h r o n o l o g i e aufzulösen. T r o t z der einhelligen Ablehnung auf allen Seiten versetzte er damit dem Primat der biblischen C h r o n o l o g i e und der von ihr berechneten Dauer der vorchristlichen W e l t den entscheidenden Stoß. V o n nun an blieb die Geschichte der Menschheit auch nach der Vergangenheit hin offen. Feste Angaben über ihren A n f a n g waren seitdem nicht m e h r vertretbar. Die Historiker gingen jetzt dazu über, anstelle der Jahresangabe „seit der Erschaffung der Welt" rückwärtszählend die Jahre „vor Christi Geburt" zu bezeichnen. Unter ihnen nahm der seit 1653 als Historiker und Geograph in —>Leiden lehrende reformierte deutsche Theologe Georg Horn ( 1 6 2 0 - 1 6 7 0 ) als einer der ersten alle diese neuen Anstöße auf. Horn, als Forscher nicht originell, lenkte den Blick auf die Anfänge Amerikas und auf die Geschichte der Philosophie, er bezog alle bekannten Völker in seine Übersicht der Weltgeschichte ein, er übernahm die neue Jahreszählung „vor Christi Geburt", er beteiligte sich (gegen La Peyrere) an der angehenden Diskussion um das Alter der Welt (1654), und getrennt von der Kirchengeschichte und unabhängig von der alten Gliederung nach den vier Weltreichen behandelte er die Weltgeschichte anhand eines neuen, an den wichtigsten politischen Veränderungen orientierten Schemas (1665), das der später so erfolgreichen modernen Dreiteilung der europäischen Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit durch Christoph Cellarius ( 1 6 3 8 - 1 7 0 7 ) in -»Halle (Historia mediiaevi, 1688; Historia universalis, 1709) nahekam. Im Unterschied zu den früheren Disputationen, die in der Regel das Für und Wider von Folgerungen aus vorgegebenen, feststehenden Sätzen zu erwägen pflegten, wurde es jetzt als Notwendigkeit erkannt, in eigenen Untersuchungen (dissertationes, disquisitiones) die Tradition selbst vorzunehmen und mit neuen Maßstäben zu überprüfen. An der Fragwürdigkeit des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes wachgerufen, k a m die historische Kritik von nun an nicht mehr zur R u h e . M e h r und mehr erschien es den H i -
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storikern, als befände sich die historische Uberlieferung samt und sonders auf schwankendem Boden und müsse die Wahrheit der geschichtlichen Vorgänge zum ersten Mal wirklich entdeckt, richtig erkannt und ganz von neuem beschrieben werden. Die Gelehrten mußten zu Forschern werden. Wie die weltliche Geschichte, so wurde auch die Überlieferung der Kirche und ihre geheiligte Grundlage, die Bibel, dem Versuch innerweltlichen Verstehens und der ihr entsprechenden methodischen Analyse unterworfen. Schritt für Schritt veränderte sich nun nicht nur die Einsicht in den Verlauf der Ereignisse der Vergangenheit, sondern auch das Verständnis der Geschichte. Eine besonders starke, fortdauernde Beunruhigung im Blick auf die Grundlagen der geschichtlichen Uberlieferung übte der weitverbreitete Dictionnaire historique et critique ( 1 6 9 2 - 1 6 9 5 ) des französischen Philosophen und Schriftstellers Pierre Bayle aus. Weit entfernt von der Selbstgewißheit seiner Zeitgenossen und von ihrem Vertrauen auf die Vernunft unterzog —»Bayle die Nachrichten vom Leben geschichtlicher und sagenhafter Gestalten aller Zeiten von Adam, Abel und Achilleus bis in seine Gegenwart einer gleichartigen punktuellen kritischen Uberprüfung. Die Aussagen der Bibel beurteilte er dabei nach denselben Kriterien wie die Quellen der jüngsten Vergangenheit. In vielen Fällen hinterließ er mit seinem Verfahren den Eindruck zerstörerischer Destruktion. In Wahrheit und auf die Dauer trug er indessen viel zur Klärung und Verfeinerung der historischen Urteilsbildung bei. In dem Maße, wie er die subjektiven Momente anerkannte, die jeder philosophischen und religiösen Überzeugung innewohnen, lernte und lehrte er das historische Urteil zu relativieren. Wie er seine Zeit zur Toleranz Andersdenkender aufforderte, so versuchte er auch, den von der Mehrheit abweichenden Dissidenten vergangener Jahrhunderte gerecht zu werden. Die Abkehr vom christlichen und die Hinwendung zum weltlichen Geschichtsverständnis findet sich in den programmatischen Letters on the Study and Use ofHistory (1735) des englischen Politikers Lord Bolingbroke ( 1 6 7 8 - 1 7 5 1 ) klar ausgesprochen. Der Gegenstand der historischen Darstellung war für Bolingbroke nun endgültig der Mensch: „Man is the subject of every history". Erkenntnisse aus der Geschichte sind nützlich, sofern sie mit den von ihr berichteten Beispielen der Erweiterung der Erfahrung dienen und zur besseren Erfüllung der bürgerlichen Pflichten in einem auf die Regeln der Vernunft gegründeten Staatswesen anleiten. Die im Alten Testament berichtete Geschichte ist für diesen Zweck allerdings ungeeignet, denn sie ist nichts als eine von Lücken und Irrtümern durchsetzte Partikulargeschichte des jüdischen Volkes, deren übertriebene Hochschätzung dem Christentum zuzuschreiben ist. Uberhaupt sind die zweckdienlichen historischen Beispiele nicht der alten, sondern der neuzeitlichen Geschichte zu entnehmen, denn nur hier sind sie nachprüfbar echt oder aber in hohem Grade wahrscheinlich und überzeugungskräftig. Dabei zeige es sich, daß Religion und Priesterschaft, ähnlich wie sie die Uberlieferung im Altertum zu ihren Gunsten verfälschten, so auch in der Neuzeit Störenfriede und hemmende Faktoren im Staat gewesen seien. Die Theologen forderte Bolingbroke dazu heraus, sich mit gründlicher Kenntnis der Geschichte, Chronologie und Kritik zu wappnen, um die Glaubwürdigkeit der christlichen Lehre wiederherzustellen. —»Voltaire hielt diese letzte Aufgabe bereits für unlösbar und sinnlos. Er stellte seine Geschichtsschreibung in den Dienst der historischen Verurteilung von Kirche und Christentum. Er verlieh dem Geschichtsverständnis der—»Aufklärung seinen klassischen Ausdruck. Unter dem Blickwinkel der Befreiung des Denkens und der Kultur der Menschheit bezeichnete er das Jahrhundert Ludwigs XIV. - nach drei früheren geschichtlichen Höhepunkten unter Alexander dem Großen, Augustus und den Medici in Italien - als das vollkommenste aller Zeiten (Le siècle de Louis XIV, 1752). In der festen Überzeugung, in seiner Generation sei die menschliche Vernunft ihrer Vervollkommnung nähergerückt und habe — dies ein Verdienst Frankreichs - eine allgemeine Besserung der Verhältnisse erzielt, nahm Voltaire den historischen Stand- und Ausgangspunkt zunächst in seiner Gegenwart, um die Taten Ludwigs XIV. und, mehr noch, den Geist der Menschen seines, des aufgeklärtesten aller Jahrhunderte zur Darstellung zu bringen. Nach den politischen Staatsaktionen waren es Handel und Finanzen, vor allem aber die den Rückgang des Aberglaubens (superstition)
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bewirkenden glücklichen Fortschritte von Literatur und Kunst, worauf Voltaire sein Augenmerk richtete. Bedauernd kam er schließlich auch auf die Geschichte der Kirche zu sprechen, deren alte und neue dogmatische Streitigkeiten, insbesondere aber die von ihr hervorgerufenen blutigen Religionskriege der wahrhaft philosophische Geist der Zeit noch nicht habe zur Ruhe bringen können — eine Aufgabe, die es noch zu erfüllen gelte. Unter demselben Blickwinkel beurteilte er dann die gesamte Vergangenheit. Als er Bossuets Discours sur l'histoire universelle unter seinen eigenen, rein innerweltlichen Vorzeichen fortsetzte, machte er die Sitten und den Geist der Völker zum hauptsächlichen Gegenstand seiner Geschichte (Essai sur les moeurs et l'ésprit des nations, 1753). Aber er begann mit China, Indien und dem Nahen Osten, bevor er auf das Abendland zur Zeit Karls des Großen und auf das Mittelalter, die Zeit der Finsternis und der Tyrannei der Kirche, zu sprechen kam. Das 16. Jh. bezeichnete er als die Zeit der größten weltgeschichtlichen Schauspiele. Doch kühl distanziert, setzte er die abendländische Glaubensspaltung mit dem Schisma zwischen Persern und Türken in Parallele. Die Blütezeit und das Licht, das die Renaissance bereits über Europa gebreitet hatte, sei durch die Religionskriege noch einmal verdunkelt worden — eine Barbarei, wie sie Heruler und Hunnen nicht kannten. Die Reformation bewertete Voltaire als Revolution. Torheiten und Unmenschlichkeiten begingen beide, ihre Anhänger wie ihre Gegner, aber eines ihrer Verdienste sei es gewesen, daß sie dem Glauben an Zauberei und Magie ein Ende setzte, ein Ziel, das selbst in aufgeklärten Staaten erst zwei Jahrhunderte später erreicht worden sei. In seiner - von ihm erstmals so benannten - Geschichtsphilosophie (Philosophie de l'histoire,1-7 1765), einer räsonnierenden Übersicht über die ältesten Anfänge der Menschheit, wandte sich Voltaire schließlich Amerika, den Völkern des Nahen und Fernen Ostens und den Ägyptern, Griechen, Juden und Römern zu. Ohne über die Bibel, Schöpfung und Schöpfer, Sündenfall und Erlösung auch nur noch ein Wort zu verlieren, entwickelte er seine Theorie von der natürlichen Entstehung des Gottesglaubens unter den Völkern: Sie erdachten ein übermächtiges Wesen und erhoben es zu ihrer Schutzgottheit. Voltaire neigte der deistischen Vorstellung (—»Deismus) eines „ewigen Architekten" (un éternel architecte) zu, eines Schöpfergottes, der das Gute belohnt und das Böse bestraft (un Dieu créateur, rémunerateur et vengeur); er hielt dies für das Ergebnis „kultivierten" vernünftigen Denkens. Aber ein belohnendes oder strafendes Eingreifen dieser Gottheit im Verlauf der Geschichte mochte er nicht aufzeigen. Bei der innerweltlichen pragmatischen Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen, die er vornahm, verwies er vielmehr bald auf einzelne Menschen, bald auf den blinden Zufall oder aber auf den Geist der Zeit oder auch letztlich auf eine hinter dem Geschehen verborgene, unerkennbare Vorherbestimmung. Die Weltgeschichte war für ihn von Tragik durchzogen, denn aufs Ganze gesehen hatte sie eben doch weit mehr von Gewalt und Blutvergießen zu berichten als von Vernunft, Toleranz und fortschreitender Aufklärung. Gleichwohl gab Voltaire mit seinem die gesamte Menschheit umfassenden Geschichtsgemälde, das dem Denken der Zeit so sehr entsprach, und mit seinen geschichtsphilosophischen Reflexionen sowohl der Geschichtsschreibung als auch der Geschichtsphilosophie vielerlei Anstöße. Sie führten in verschiedene Richtungen und forderten zum Teil auch zum Widerspruch heraus. 3. Die Geschichtsphilosophie
des 18. Jh.
Vor dem Erscheinen von Voltaires Essai und ohne Kenntnis des neuen Begriffs entwarf der Philosoph Giambattista Vico (1668 — 1744), Professor der Rhetorik in Neapel, in seiner Scienza Nuova (1725, 3 1744) den Umriß einer eigenartigen Philosophie der Geschichte. Auch für ihn war der wichtigste Gegenstand der Geschichte der handelnde Mensch und die Welt der Völker und der Kultur (il mondo delle rtazioni o sia civile). Gottes Vorsehung hatte dem Menschen die Erde zu selbständigem Tun überlassen. Während sich Gott in der N a t u r , im Bereich seines Tuns, der Erkenntnis des Menschen verschloß, stand diesem die Weltgeschichte offen. Das Geschaffene ist demjenigen erkennbar, der es geschaffen hat. Geschaffenes ist wahr. Darum ist das vom Menschen Geschaffene, seine Geschichte, Gegenstand sei-
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ner Erkenntnis des Wahren. Der Weg zur Wahrheit führte für Vico nun nicht über den Rückschluß des abstrahierenden Denkens, sondern über die Erforschung der fremdartigen ältesten Überlieferung der Menschheit, deren Rätsel er mit Hilfe der (umfassend verstandenen) Philologie zu entschlüsseln versuchte. An Sprache, Mythos und Symbolen ging ihm die barbarische Urtümlichkeit des griechischen Altertums auf. Seiner Meinung nach führte der langsame Aufstieg der Menschheit vom Zeitalter der Götter (1) über das der Heroen (2) zum Zeitalter der Kultur (3) und von da, wie er an der Verwilderung des frühen Mittelalters feststellte, zu neuem Abstieg und Aufstieg (corso e ricorso). Bei seiner Rekonstruktion dieses „idealen ewigen Geschichtsplans" (disegna di una storia ideal eterna) grenzte er die biblische Geschichte und die Heilstat Christi als Besonderheit aus. Gegenwart, Zukunft und Ende der Geschichte betrachtete er nicht. Er entfernte sich damit vom alten biblisch-augustinischen Geschichtsbild ebensosehr wie von dem kulturellen Selbstbewußtsein seiner Zeit. Seine Gedanken blieben indessen fast unbekannt; erst im 19. Jh. fanden sie eine um so stärkere Beachtung. Gegen das sich jetzt mächtig verbreitende Fortschrittsdenken erhob hingegen JeanJacques —»Rousseau noch unter den Augen Voltaires seinen gewichtigen Widerspruch. In seinem Discours sur les sciences et les arts (1750) beantwortete er die Frage, ob Wissenschaft und Künste zur Reinigung der Sitten beigetragen haben, mit Nein. Und die soziale Ungleichheit unter den Menschen führte er darauf zurück, daß Privateigentum, Arbeitsteilung, Gemeinschaftsbildung, Gesetz und Staat nicht nur kulturelle Vorteile, sondern auch Entrechtung, Zwang, Zwietracht und Krieg mit sich gebracht haben (Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, 1755). Obwohl Rousseau seine Theorie vom Ubergang des Menschen aus dem naiven Naturzustand (1) über die werdende Gesellschaft (2) zur Staatsbildung (3), den er mit dem Ubergang des Individuums von der Kindheit über die Jugend zum Alter verglich, ohne jede Rücksicht auf die historische Uberlieferung der Bibel, der Antike und der übrigen Völker allein aus seiner Reflexion über das Wesen des Menschen begründete, übte er damit auf das spätere Geschichtsverständnis, insbesondere auf die Geschichtsphilosophie des deutschen —»Idealismus tiefgehenden Einfluß aus. Hinsichtlich der Geschlossenheit ihres Gesamtbildes wurde sie sogar als „der erste ebenbürtige Gegenwurf gegen das biblisch-augustinische Geschichtsbild" beurteilt: „Wir haben eine durch und durch säkularisierte Betrachtung, die von der Religion völlig absieht und einer Beziehung auf das Göttliche ihrem Wesen nach nicht bedarf" (Hirsch 111,111). In die entgegengesetzte Richtung führte das optimistische Bild vom Fortschritt der Menschheit, das Robert Jacques Turgot (1727-1781) in Paris, der spätere Finanzminister Ludwigs XVI., zeichnete (Discours sur les progrès successifs de l'ésprit humain, 1750). Nach seiner Meinung führte ihr Aufstieg in drei Stadien von der Zeit des naiven Götterglaubens über die Zeit metaphysischer Welterklärung zur Zeit der Herrschaft des empirisch-rationalen, innerweltliche Ursachen und Wirkungen aufsuchenden Denkens. Die Uberzeugung von der rückständigen Vergangenheit, von der Überlegenheit der Gegenwart und von einer noch weit besseren Zukunft wurde jetzt weithin populär. Seinen Gipfelpunkt erreichte dieses bald einseitig auf die Zukunft und auf die soziale und materielle Wohlfahrt der Menschheit gerichtete, geschichtsphilosophisch untermauerte Fortschrittsdenken in der Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'ésprit humain (1795), die der Mathematiker und Politiker Jean-Antoine Condorcet (1743 —1794), ein Freund Turgots, noch unbeirrt im Gefängnis der -•Französischen Revolution verfaßte. Condorcet unterschied zehn Epochen der Menschheitsgeschichte. Sie führten von der ersten Zeit der Gemeinschaftsbildung der Hirten- und Ackerbauvölker hinweg zur Blüte der Kultur und Wissenschaft der alten Griechen ( 1 - 4 ) . Diese Blüte wurde jedoch durch das Christentum schmählich geknickt (5) : „Le triomphe du christianisme fut le signal de l'entière décadence, et des sciences, et de la philosophie" (Esquisse 136). Seit dem Zeitalter der Kreuzzüge sei dieser Verfall dann allmählich wieder wettgemacht worden, weil damals den vernünftigen Menschen das Unsinnige an den sich bekriegenden Religionen aufgegangen sei (6). Große Bedeutung für die Überwindung des Aber-. glaubens in der Neuzeit schrieb Condorcet der Erfindung des Buchdrucks, der Eroberung
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Konstantinopels und der Entdeckung Amerikas zu (7). Während die Reformation (8) in Unduldsamkeit endete, leiteten Bacon, Galilei und Descartes die neunte und wichtigste Epoche der Geschichte ein, die in Frankreich zur Begründung der Republik führte. Indem er das Axiom von der fortdauernden Gültigkeit der Naturgesetze auf die geistigen und moralischen Kräfte und auf das geschichtliche Leben des Menschen übertrug, schwang sich Condorcet schließlich zur Voraussage auf. Er erwartete von der Zukunft (10) die Abschaffung der Ungleichheit unter den Völkern, die Verwirklichung der bürgerlichen Gleichberechtigung innerhalb der einzelnen Staaten und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen bis hin zur Verlängerung ihrer physischen Lebensdauer. Condorcets Schrift hat auf den —»Positivismus des 19. Jh. wie ein Programm gewirkt. Im deutschen Sprachraum richteten sich Entwürfe dieser Art weniger auf die Hebung des äußeren Lebensstandards der Völker, als vielmehr auf das Fortschreiten von Vernunft und Moral der Menschheit. So versuchte der gelehrte Staatsmann Isaak Iselin (1728-1782) in Basel in seinen Philosophischen Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764, 4 1786) die dunklen geschichtlichen Ursprünge durch psychologische Überlegungen zu erhellen, bevor er den Dreischritt vom Zustand der Natur über die Wildheit zur Gesittung und Gemeinschaftsbildung in einen Abriß der europäischen Geschichte einmünden ließ. Die Entstehung des Gottesglaubens erkärte Iselin aus dem richtigen vernünftigen Rückschluß des Menschen von der Schöpfung auf den Schöpfer, woraus ihm das Bewußtsein erwachse, zum Werkzeug der Güte, Weisheit und Vollkommenheit dieses Schöpfers in der Welt bestimmt zu sein. Die Bibel klammerte auch Iselin aus. Die christliche Religion beschrieb er als die gereinigte Summe der Lehren aller übrigen Religionen. Die Fortschritte der bürgerlichen Freiheit und der Philosophie ließ er auf dem dunklen Hintergrund der nachreformatorischen Zeit zwar hell erstrahlen, doch behauptete er schließlich vorsichtig, seine eigene Zeit sei der Barbarei doch wohl immer noch näher als der wahren Menschlichkeit; Europa befinde sich in der Phase seiner ausgelassenen Jugend, das Mannesalter stehe ihm erst noch bevor. Aber am Aufstieg dahin zweifelte Iselin nicht, und in den Augen vieler hatte er den historischen Nachweis für diesen zwar nicht geradlinigen, aber zwingenden, unaufhaltsamen Fortschritt erbracht. Den „Mutmaßungen" Iselins war —»Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1777/1780) mit ihrer Konzentration der Gesichtspunkte und ihrer straffen Gedankenführung weit überlegen. Der Fortschritt wurde von ihm ausschließlich auf Vernunft und Ethos bezogen, und bewußt beschränkte er sich auf Judentum und Christentum sowie - unter Umgehung der biblischen Urgeschichte von der Erschaffung und dem Fall des Menschen - auf die Bibel, die Urkunde der Offenbarung. Die Offenbarung faßte Lessing als Sonderform der Erziehung der Menschheit, die zu demselben Ziel führen werde wie das sich selbst überlassene vernünftige Denken: zur vollkommenen Humanität. Unter diesem Gesichtspunkt kennzeichnete auch er drei, der Jugend, der Kindheit und dem Mannesalter des Individuums entsprechende Stufen der Menschheitsgeschichte. Während er den beiden ersten Stufen als Offenbarungsurkunden das Alte und das Neue Testament, als Offenbarungs- und Denkinhalte die Lehre von Gott und von der Unsterblichkeit der Seele, als Beweggründe für das ethische Handeln zeitlich-irdische und jenseitig-ewige Belohnungen und Strafen Gottes zuordnete, faßte er die dritte Stufe als das neue künftige Zeitalter schlechthin. Hier wird, allegorisch gesprochen, das „ewige Evangelium" (Apk 14,6 f) in Kraft gesetzt sein; die beiden früheren Offenbarungsurkunden sind dann antiquiert; die Lehren von Gott und von der Unsterblichkeit der Seele aber werden abgetan sein, weil sie als Stützen der Beweggründe f ü r das ethische Handeln entbehrlich geworden sind, denn der Mensch wird dann die „völlige Aufklärung" erreicht haben und diejenige „Reinigkeit des Herzens" selbst hervorbringen, kraft deren er das Gute um des Guten willen tut. Hier mündet die knappe geschichtsphilosophische Skizze in Geschichtsprophetie. Das Kommen des dritten Zeitalters wird mit Gewißheit vorausgesagt, ja, es scheint bereits in die Gegenwart hereinzuragen, während es sich von da ins Unendliche erstreckt. So war nun die Menschheitsgeschichte, im wesentlichen als Geschichte des menschlichen Ethos gefaßt, auf der einen Seite innerweltlich, auf der anderen
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aber religiös verstanden: umgriffen und gelenkt von einer „ewigen Vorsehung". Indem er mit dem „Kunstgriff" der positiven V e r k n ü p f u n g von O f f e n b a r u n g und Vernunft dem rationalistischen Denken seine gegen das Christentum gerichtete Spitze n a h m , schlug Lessing die Brücke zwischen dem Geschichtsverständnis der Aufklärung und dem Geschichtsverständnis des deutschen Idealismus. Auch —»Kant bejahte den geschichtlichen Fortschritt der Menschheit. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) setzte er es, trotz der Regellosigkeit des Weltgeschehens, als die Absicht der N a t u r voraus, den Z u s t a n d entstehen zu lassen, in dem der Mensch seine Naturanlagen selbständig und vollständig entwickelt - eine Absicht, die indessen nicht im Individuum, sondern erst in der Gattung Mensch zur Verwirklichung komme. Dieses Ziel der Vollendung des Menschen ist aber nur in der Gemeinschaft eines von Recht und Gesetz bestimmten Staatswesens zu erreichen, was seinerseits das geordnete Zusammenleben der Staaten in einem Völkerbund zur Voraussetzung hat. Es bedarf also einer innerstaatlichen und einer internationalen Ordnung, damit die Menschheit das Ziel ihrer Bestimmung erreicht. Für die Richtigkeit dieser A n n a h m e eines solchen lange Zeit beanspruchenden — geschichtlichen Fortschritts spricht die Voraussetzung der Einheit des Geschehens in N a t u r und Geschichte. Von dem „regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung" in Europa überzeugt, hielt Kant jedenfalls auch die Abfassung einer entsprechenden „philosophischen Geschichte" f ü r möglich und sinnvoll. Ganz in seinem Sinne entwarf wenig später, kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, —»Schiller das Programm einer solchen „philosophischen Geschichte". In seiner Jenaer Antrittsrede („Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?", 26. und 27. 5. 1789) pries Schiller sein J a h r h u n d e r t als „unser menschliches J a h r h u n d e r t " , in dem der weltbürgerliche Fortschritt die europäische Staatengesellschaft bereits in eine große Familie verwandelt habe. Als Universalgeschichte bezeichnete er diejenige Darstellung, bei welcher der Historiker die Vergangenheit im Blick auf die wesentlichen Einflüsse, die sie auf die Gegenwart nachweislich ausübe, untersucht und sodann — unter der Voraussetzung der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Gesetze in der N a t u r und im menschlichen Gemüt - das von ihm gesammelte „Aggregat zum System, zu einem vern u n f t m ä ß i g zusammenhängenden G a n z e n " verknüpft. Dabei wird er die von ihm erkannten Ursachen und Wirkungen nls Mittel und Absichten erfassen; er bringt damit „einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt" und „ f ü h r t das Individuum unvermerkt in die G a t t u n g h i n ü b e r " . Historie und Geschichte ineinssetzend, legte Schiller dem Historiker rückwärts gewandte prophetische Fähigkeit bei, da er zeige, wie „die stille H a n d der N a t u r schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt". Schiller bezeichnete zwar das Christentum noch als „das wichtigste F a k t u m f ü r die Weltgeschichte", aber über deren Ursprung und Ziel äußerte er sich nicht mehr. Zweck und Ende der universalgeschichtlichen Erkenntnis lagen f ü r ihn im Erkennen der Werte, die die Gegenwart der Vergangenheit verdankt, und in dem Antrieb, diesen D a n k durch die eigene T a t in der Gegenw a r t an die Z u k u n f t weiterzugeben. Vielleicht mehr noch als durch seine Geschichtsschreibung hat Schiller mit seinen historischen Dramen das Interesse an der Geschichte in den folgenden Generationen geweckt und geprägt. Unterdessen führte —> H e r d e r mit einem Entwurf (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774) noch weiter. Für ihn w a r Denken bereits so viel wie geschichtliches Denken: „Ihm w u r d e unter der H a n d die Welt Geschichte, seine Weltanschauung Geschichtsanschauung, seine Philosophie eine Philosophie der Geschichte", „ H e r d e r der Theolog und Herder der Geschichtsphilosoph ist Eins" (Haym 11,194). Von —»Hamann angeregt und von Rousseau und Montesquieu angeleitet, zeichnete Herder mit der ihm eigenen reichen Empfindung für Sprache und Altertum von den Anfängen der Menschheit ein anderes Bild als Voltaire und Iselin. Die Patriarchenwelt des Morgenlandes w a r ihm das ideale goldene Zeitalter der Kindheit der Menschheit; ihr Knabenalter erlebte sie in Ägypten und Phönizien, ihre Jünglingszeit in Griechenland, ihr Mannesalter in Rom. Gewiß waren dies auch f ü r Herder „Stufen der Leiter", jedoch so, d a ß eine jede ihren Sinn, M a ß s t a b und
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Vollendung in sich selbst trug: „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich" (ed. Suphan 5,509). Indem er die Völker in ihrer Individualität ernstnahm, machte er Front gegen die aufklärerische Selbstüberschätzung, „Quintessenz aller Zeiten" zu sein. Außerdem faßte er den geschichtlichen Ablauf als Entwicklung, in der das gemeinsame menschheitliche Schicksal der Völker durch die Zeiten hindurch erhalten blieb und fortwirkte. Schließlich aber erblickte er, im Gegensatz zur aufklärerischen Verachtung der Religion, in den Nationalreligionen der Völker ein hohes Gut. Das Christentum aber war ihm „die Triebfeder der Welt" und „die eigentliche Religion der Menschheit", doch auch dies wiederum nicht in deistischer Abstraktion, sondern in der Konkretion geschichtlicher Prägung, so wie es in jedem Jahrhundert „völlig Gestalt oder Analogie der Verfassung hatte, mit oder in der es existierte" (5,522). Den Relativismus, der hier lauerte, bemerkte Herder noch nicht als Gefahr. Dem auf sich selbst bezogenen Fortschrittsdenken auf der einen und der Skepsis auf der anderen Seite hielt er seine feste Glaubensüberzeugung von dem großen Geschichtsplan Gottes entgegen. Gerade in ihrem natürlichen Ablauf — „Wann hat in der ganzen Analogie der Natur die Gottheit anders als durch Natur gehandelt?" (5,521) — war ihm die Weltgeschichte eine Hauptvorstellung, die „der Zuschauer im rechten Gesichtspunkte und in ruhiger Abwartung des Folgeganzen wohl sehen könnte". Dieses Schauen ist dem Menschen jetzt noch verwehrt. Er ist aber aufgerufen zur mutigen Tat „mitten unter der Wolke . . . zu einer großen Zukunft" (5,580). In seinem Hauptwerk, den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ( 1 7 8 4 - 1 7 9 1 ) , suchte Herder im Gedankenaustausch mit -»Goethe seinen Entwurf umfassend zu begründen und Geschichtsverständnis mit Naturerkenntnis beweiskräftig zu verbinden: „Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe seyn, der er in der Natur ist" (14,244). Zunächst stellte er - platonisierend - den Menschen in der Reihe aufsteigender Formen und Kräfte an die Spitze der Natur, wo er als „das verbindende Mittelglied zweener Welten" noch über sich hinausweist. Im Vergleich zur Tierwelt aber deutete schon der aufrechte Gang des Menschen auf seine Bestimmung zu Humanität, Friedfertigkeit, mitteilender Liebe, Mitgefühl, Geselligkeit, Gerechtigkeit, Anstand und Religion. Religion, „die höchste Humanität, die erhabenste Blüte der menschlichen Seele" (13,163), treibt ihn zur Nachahmung des aus der Schöpfung zu erschließenden Schöpfers. Sie weckt in ihm die Hoffnung auf Unsterblichkeit, so daß die Erde zu einer bloßen „Vorbereitungsstätte" für ihn wird. Zu demselben Ergebnis gelangte Herder bei seinem Uberblick über die ältesten Traditionen und über die Geschichte der Völker von China bis Rom. „Vernunft, Humanität und Religion, die drei Grazien des menschlichen Lebens" (13,387), sind in verschiedenen Formen überall die ursprüngliche, der Menschheit gemeinsame Besonderheit. Natur und Geschichte beweisen es damit „durch die helleste Demonstration" (14,209): Der Sinn der Geschichte ist die Entwicklung der Humanität. Mit der Rolle des deutenden Historikers nicht zufrieden, zielte Herder auf den unanfechtbaren, nicht nur für Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch für die Zukunft gültigen Beweis aus Natur und Geschichte. So formulierte er schließlich fünf Thesen, die sich in seinem Sinn ebensowohl als geschichtliche Naturgesetze wie auch als natürliche Geschichtsgesetze bezeichnen lassen (14,207-252; 254): „ 1 . Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben. 2 . Alle zerstörenden Kräfte in der N a t u r müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitfolge nicht nur unterliegen, sondern zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen. 3. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Cultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der dauernde Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet. 4 . Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine dauerndere Humanität befördern. 5. Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück giebt, als im Rath derselben zu wirken."
Die Geschichte war damit nun auch für den Theologen Sache des Menschen. Ubernatürliche Eingriffe des „wunderbaren Gottes" erschienen ihm ausgeschlossen. Einen metaphysi-
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sehen Dualismus gab es nicht. Lohn und Strafe schufen die Völker sich selbst in dem M a ß , wie sie zur Verwirklichung der Humanität von der „Göttergabe ihrer Vernunft" ( 1 4 , 2 1 2 ) Gebrauch machten. Lehre und Leben des Menschensohnes Jesus waren gleichfalls ein einziges Zeugnis für die Humanität ( 1 4 , 2 9 0 ) . Die Entstehung der Ordnung aus dem Chaos im Weltall und auf der Erde und die Ordnung des Tierreichs ebenso wie der Verlauf der Geschichte der Menschheit nahm Herder als Beweis dafür, „ d a ß mit der wachsenden wahren Aufklärung der Völker die menschenfeindlichen, sinnlosen Zerstörungen derselben sich glücklich vermindert h a b e n " ( 1 4 , 2 1 8 ) . In der N a t u r wie in der Geschichte fand er dasselbe fortwährende Streben nach einem M a x i m u m des Gleichgewichts und nach voller Harmonie der Bewegung der Kräfte am W e r k - „ein und dasselbe Gesetz . . . von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen H a n d l u n g " ( 1 4 , 2 3 4 ) . Dieses Streben richtete sich im Bereich des geschichtlichen Geschehens auf die Verwirklichung der Humanität. Den Fortschritt von Zivilisation und Kultur, den er bewunderte, setzte Herder mit dem Fortschritt der Humanität ineins; echte Rückfälle und Verluste waren ihm letztlich nicht denkbar. Z w a r räumte er ein, daß die Entwicklung der menschlichen Vernunft im Laufe der Geschichte durch Leidenschaften oftmals gestört werden konnte, doch am Ende werde sie „ihrer N a t u r nach Ordnung schaffen und auf der Bahn des Sieges bleiben" ( 1 4 , 2 5 2 ) . So hat schließlich auch Herder in den hoffnungsfrohen C h o r der Geschichtsphilosophen seines Jahrhunderts miteingestimmt - nicht unbeirrt freilich angesichts der Französischen Revolution: „ W e r denkt nicht an den Ausgang des 18. Jahrhunderts mit einem stummen Entsetzen?" (Meinecke, Schriften 111,432). Dem neu ausholenden Geschichtsverständnis des 1 9 . 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Gustav Adolf Benrath VII/2.
1 9 . - 2 0 . Jahrhundert
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1. Die „Befreiung
des geschichtlichen
Bewußtseins"
Das 19. Jh. ist in einem prägnanten Sinne das Jahrhundert der Geschichte und der Geschichtsschreibung gewesen. Die von -»Herder ausgehende „Befreiung des geschieht-
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liehen Bewußtseins" (Theodor Litt) führte zur neuen Entdeckung des Reichtums und der Mannigfaltigkeit vergangener Völker und Kulturen; sie lehrte Geschichte als das „Reich des Einmaligen" zu verstehen, in dem jeder „Individualität" ein eigener Wert zukommt (—•Geschichte X/2.4). Zugleich entstand unter dem Einfluß der Philosophie des Deutschen -»Idealismus und der -»Romantik eine eigenständige Geschichtswissenschaft, die sich nicht nur allen übrigen -»Geisteswissenschaften selbstbewußt vorordnete - statt, wie zuvor, jeweils deren Hilfswissenschaft zu sein - , sondern die auch tief in das allgemeine Bewußtsein und in den politisch-sozialen Bereich hineinzuwirken begann. Das neue Verständnis der Geschichte als einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassenden Bewegungskategorie wollte traditionelle Geschichtsdeutungen zunächst nur aus ihrer Verklammerung mit theologischen oder philosophischen „Dogmatismen" herauslösen, um einen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit zu eröffnen; eine grundsätzliche Theologie- oder —»Religionskritik war nicht beabsichtigt. Wohl aber wandte man sich gegen eine vom Fortschrittsoptimismus geprägte, moralistisch-utilitaristische Geschichtsauffassung aufklärerischer Provenienz (s. T R E 4,580f), der mangelhafte Differenzierungsfähigkeit und eine eindimensionale Betrachtungsweise vorgeworfen wurden. Begriffsgeschichtlich ist das neue Geschichtsverständnis im letzten Drittel des 18. Jh. vorbereitet worden. In dieser Zeit kam der Kollektivsingular „die Geschichte" auf, der die drei Ebenen: Sachverhalt (res gestae), Bericht (narratio rerum gestarum) und Geschichtswissenschaft (historia) auf einen einzigen gemeinsamen Begriff brachte. Der Bedeutungsgehalt von Historie (zuvor: Geschichtskunde, Geschichtserzählung und Geschichtswissenschaft) wurde unter Zurückdrängung dieses Wortes von dem neuen Reflexionsbegriff Geschichte aufgesaugt. „Die Geschichte selbst wurde, sprachlich gewendet, zu ihrem eigenen Subjekt" (R. Koselleck: GGB 2,650; vgl. Erich Hassinger: H Z 226 [1978] 89-101).
Ermöglicht wurde diese folgenreiche Konzentration und Zentralisierung des Begriffs Geschichte durch Entwicklungen, die zwar schon im Denken der Aufklärung ihren Ursprung hatten, die aber erst durch den idealistischen und romantischen Protest gegen bestimmte Positionen aufklärerischen Denkens ihr charakteristisches Profil und ihre neue Stoßrichtung erhielten. Insbesondere die von der Aufklärung eingeleitete rationale Kritik der -»Tradition schuf Raum für eine grundsätzlich neue, vorurteilslose Beobachtung und Bewertung geschichtlicher Phänomene. Doch erst die Erfahrung der -»Französischen Revolution als eines realen politischen und sozio-kulturellen Umbruchs sowie die in ihr proklamierte, aber nicht verwirklichte Freiheitsidee (-»Freiheit) machten die endgültige Loslösung von der traditionsreichen Lehre eines theologisch bzw. metaphysisch begründeten -»Naturrechts möglich - und notwendig. An die Stelle einer -»Weltanschauung, die Geschichte von fest gefügten, zeitlos und absolut gültig erscheinenden Wahrheiten her zu deuten versuchte, konnte nun ein bewegliches und doch zugleich auch zielgerichtetes Verständnis von der Vielfalt und Freiheit der geschichtlichen Bestimmung des Menschen treten. „So entsteht das Grundschema des modernen historischen Denkens: die Vorstellung, Geschichte sei der Weg - oder Umweg der Menschheit zu sich selbst" (G. Krüger, Gesch. im Denken d. Gegenwart 236). Dies alles bedeutet aber fernerhin, daß in der Folgezeit alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen einschließlich der -»Theologie nahezu ausschließlich im Medium des historischen Bewußtseins behandelt wurden; das viel umstrittene Problem des Historismus kündigte sich an (s. u. Abschn. 5). 2. Grundlegende macher
Entwürfe:
Schelling, Novalis, F. Schlegel,
W. v. Humboldt,
Schleier-
2.1. In seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) stellte der junge -tSchelling in kritischer Weiterführung der frühen Wissenschaftslehre (1794) von -»Fichte die Frage nach der Einheit von subjektiver und objektiver, bewußter und unbewußter, freier und notwendiger Tätigkeit des Ich und sprach der Geschichte im Prozeß der Identitätsfindung von Natur und Geist die Qualität zu, „als Ganzes . . . eine fortgehende allmäh-
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lieh sich e n t h ü l l e n d e O f f e n b a r u n g des A b s o l u t e n " zu sein (F. W . J . Schelling, System d. t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s , hg. v. R.-E. Schulz, 1957 [PhB 254] 272). D e r M e n s c h f ü h r e d u r c h seine G e s c h i c h t e , d e r e n Ziel die Synthesis des A b s o l u t e n sei, „ e i n e n f o r t g e h e n d e n Beweis von d e m D a s e i n G o t t e s " (ebd.). In drei g r o ß e P e r i o d e n lasse sich diese G e s c h i c h t e einteilen: a) die v o r k l a s s i s c h - m y t h i s c h e A n t i k e , b) die Z e i t v o n d e r r ö m i s c h e n R e p u b l i k bis z u r E n t w i c k l u n g eines allgemeinen V ö l k e r b u n d e s , c) die endzeitliche O f f e n b a r u n g G o t t e s . Von dieser s p e k u l a t i v e n G e s c h i c h t s s c h a u des w e r d e n d e n A b s o l u t e n m ü s s e die Historie u n t e r s c h i e d e n w e r d e n . Sie sei nicht „ u n i v e r s e l l " a u s g e r i c h t e t , s o n d e r n stets n u r p r a g m a t i s c h auf einen b e s t i m m t e n Z w e c k b e z o g e n . D e r h ö c h s t e b e g r e n z t e Z w e c k d e r H i s t o r i e a b e r sei die E n t s t e h u n g einer a l l g e m e i n e n w e l t b ü r g e r l i c h e n V e r f a s s u n g u n d eines „ u n i v e r s e l l e n S t a a t e s " ; ist er erreicht, d a n n k ö n n e n u r n o c h die d r i t t e G e s c h i c h t s e p o c h e f o l g e n . „ W a n n diese P e r i o d e b e g i n n e n w e r d e , w i s s e n w i r nicht zu s a g e n . A b e r w e n n diese P e r i o d e sein w i r d , d a n n w i r d a u c h G o t t sein" (ebd. 273). 1 In seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802/1803) hat Schelling auf der Grundlage seiner transzendentalphilosophischen Geschichtsanschauung eine „historische Konstruktion des Christentums" für möglich gehalten und gefordert (F.W.J. Schelling, Studium Generale, hg. v. H. Glockner, Stuttgart 1954, 106-116. 120). Die spekulativ erwiesene historische Notwendigkeit für das Auftreten des Christentums in der Geschichte schließe in sich die Möglichkeit, „es historisch als eine göttliche und absolute Erscheinung zu begreifen" (ebd. 116). Dieser Ansatz erlangte später für die -»Spekulative Theologie große Bedeutung; insbesondere in der Hegelschule hat man versucht, das Programm einer spekulativen Geschichtskritik, die die herkömmliche historisch-kritische Methode ablösen und überhöhen sollte, zu verwirklichen (s.u. Abschn. 3.2). 2.2. In d e r A b h a n d l u n g Die Christenheit oder Europa (1799) e n t w a r f -*Novalis ein zeitkritisches G e s c h i c h t s b i l d , d a s in d e r r o m a n t i s c h e n O p p o s i t i o n gegen die m o d e r n e Welt (—»Modernismus) l a n g a n h a l t e n d w i r k s a m blieb. N o v a l i s modifizierte ältere Verf a l l s t h e o r i e n , i n d e m er d a s v o m K a t h o l i z i s m u s g e p r ä g t e H o c h m i t t e l a l t e r ( - » M i t t e l a l t e r ) i d e a l t y p i s c h z u m bisherigen H ö h e p u n k t d e r G e s c h i c h t e stilisierte. R e f o r m a t i o n u n d F r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n seien d e r A b f a l l v o n jenen „ ä c h t christlichen Z e i t e n " , zu d e r e n „ m e n s c h l i c h g e s t a l t e t e r O r d n u n g " die G e s c h i c h t e z u r ü c k k e h r e n m ü s s e . N u r d i e W i e d e r g e w i n n u n g d e r E i n h e i t s k i r c h e , „ o h n e R ü c k s i c h t auf L a n d e s g r ä n z e n " , k ö n n e die „heilige Z e i t des e w i g e n F r i e d e n s " h e r a u f f ü h r e n (Novalis, S c h r i f t e n , hg. v. P. K l u c k h o h n / R . S a m u e l , 111,524). N o v a l i s zeichnet die Weltgeschichte als eine elliptische B e w e g u n g u m die b e i d e n B r e n n p u n k t e : Einheit u n d Z e r t r e n n u n g des „ U n t r e n n b a r e n , d e r u n t h e i l b a r e n Kirc h e " . Sein G e s c h i c h t s b i l d t r ä g t universale Z ü g e ( F r a g m e n t e und Studien 1799-1800, Sehr. 111,566 N r . 77) u n d schließt die T h e o d i z e e in sich ein. A u c h d i e allgemeine Relig i o n s g e s c h i c h t e w i r k t auf dieses Ziel hin: „ E s giebt k e i n e Religion, die nicht C h r i s t e n t u m w ä r e " (ebd. N r . 82). K o n s e q u e n t e r w e i s e k o n n t e N o v a l i s s a g e n , „ d e r H i s t o r i k e r , d e r t h ä t i g e , idealistische B e a r b e i t e r d e r G e s c h i c h t s d a t e n " , t r a g e „Evangelien v o r , d e n n die g a n z e G e s c h i c h t e ist E v a n g e l i u m " (Sehr. 111,586 N r . 214). 2.3. D e r m i t N o v a l i s f r e u n d s c h a f t l i c h v e r b u n d e n e Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 ) , d e r 1808 z u r k a t h o l i s c h e n K i r c h e ü b e r g e t r e t e n w a r , s p r a c h in seinen Vorlesungen ü b e r die Philosophie der Geschichte (1828) ä h n l i c h e G e d a n k e n a u s . Die H o f f n u n g d e r G e s c h i c h t e sei, d a ß „ d i e Sache G o t t e s u n d d a s C h r i s t e n t u m v o l l s t ä n d i g auf E r d e n siegen u n d t r i u m p h i e r e n w e r d e " (F. Schlegel, P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e , Kritische F.-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, IX,428). In seinen f r ü h e n g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n A r b e i t e n w a r Schlegel d a r u m b e m ü h t g e w e s e n , d e n s p e k u l a t i v e n I d e a l i s m u s mit d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t zu v e r b i n d e n . D a b e i u n t e r n a h m er, wie von Schelling g e f o r d e r t , d e n Versuch, P h a s e n im t r a n s z e n d e n t a l e n B e w u ß t s e i n s p r o z e ß m i t h i s t o r i s c h e n E p o c h e n b e z e i c h n u n g e n in Verbind u n g zu b r i n g e n , v o r a b m i t d e m f ü r ihn b e s t i m m e n d e n Leitbegriff der - » K l a s s i k (s. Einleitung zu Krit. A u s g . VIII, L X I X - C V I I ) . K e n n z e i c h n e n d f ü r die W a n d l u n g e n seines a u f die Universalgeschichte (Krit. Ausg. XIV) g e r i c h t e t e n G e s c h i c h t s v e r s t ä n d n i s s e s ist seine B e u r t e i l u n g d e r F r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n . Vor 1808 k o n n t e er sie „ d a s g r ö ß t e u n d m e r k w ü r d i g s t e P h ä n o m e n d e r S t a a t e n g e s c h i c h t e " n e n n e n (Krit. Ausg. VIII, CI), 1828
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aber nur noch „eine politische Krankheit, ein epidemisches Völkerübel des ganzen Zeitalters" (Krit. Ausg. IX,403). Die Idealismuskritik der Schlegelschen Spätphilosophie spiegelt sich in dieser charakteristischen Kehre des Revolutionsverständnisses (—>Revolution); das romantisch-idealistische Geschichtsbild konnte — nicht nur bei Schlegel - leicht restaurative Züge annehmen (—»Restauration). 2.4. Für die Übertragung idealistischen Gedankenguts auf die Geschichtswissenschaft hat W. v. Humboldt die weitreichendste Bedeutung gehabt. In den Betrachtungen über die Weltgeschichte (etwa 1814 abgefaßt) brachte er den Begriff der Individualität (-»Individualismus/Individualität) und das idealistische Verständnis der -»Bildung in je besonderer Prägung in das neuzeitliche Geschichtsdenken ein und führte damit Herders Ansatz weiter fort (Nachwirkung bei —»Ranke, Mommsen, Droysen bis hin zu -»Dilthey und Meinecke). M i t —»Goethe sah Humboldt im einzelnen Menschen den Träger der -»Humanität, das Individuum als den Ansatzpunkt für eine „Veredelung des Menschengeschlechts" (W. v. Humboldt, Werke hg. v. A. Flitner u. K. Giel, 1,569 f). Dennoch müsse die Geschichtsschreibung bemüht sein, über den Einzelnen hinaus „die nie zu erreichende Totalität aller" in den Blick zu fassen, um den Reichtum der individuellen Formen und in ihnen „die Endabsicht wie das Wesen alles Geschehenden" zu erkennen (ebd. 572). Geschichte wird von Humboldt als eine universale Entelechie des Humanum gedeutet. In der Methodenfrage hat Humboldt die Geschichtsschreiber aufgefordert, kritische Forschung mit produktiver Phantasie („das Ahnden des durch jene Mittel nicht Erreichbaren") organisch zu verbinden (Über die Aufgabe des Geschichtschreibers [1821] W 1,585-606; 587). Solche aus kritischer Analyse und Intuition hervorgehende Geschichtsschreibung sei kein bloßes Abbilden vorgegebener Sachverhalte, sondern ihrerseits geschichtlich weiterwirkende Hervorbringung einer „höheren Wahrheit", nämlich die Aufdeckung der in der Weltgeschichte wirksamen „Ideen", die nicht in die Geschichte hineingetragen werden, sondern „ihr Wesen selbst" ausmachen (ebd. 597). Neben die überindividuelle -»Sprache stellte Humboldt als „Urideen alles Denkbaren" die Schönheit, die Wahrheit und das Recht. Durch die Betrachtung dieser „schaffenden Kräfte" könne der Geschichtsschreiber den richtigen Weg zum „Ziel der Geschichte" und zu „den Endursachen" entdecken, „welchen der Geist natürlich nachstrebt" (ebd. 605). „Das Geschäft des Geschichtschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Daseyn in der Wirklichkeit zu gewinnen" (ebd.). Mit der Erfüllung dieser Aufgabe wird dem Geschichtsschreiberwie dem Künstler - ein universaler Bildungsauftrag anvertraut, dessen gesamtgesellschaftliche Relevanz weit über das 19. Jh. hinaus die hohe Wertschätzung des Historikerstandes begründete.
2.5. Auch —»Schleiermachers Geschichtsverständnis ist in seinem Ansatz vom Individualitätsbegriff und dem Organismusdenken der romantischen und idealistischen Tradition bestimmt. Als eine „wundervolle Veranstaltung des Universums" erzeuge die Geschichte immer neue „ausgezeichnete Individuen"; selbst Niedergang und Zerfall seien nur die Vorbereitung einer neuen Blüte (F. Schleiermacher, Uber die Religion, hg. v. H.-J. Rothert, 1958 [PhB 255] 5 6 f ) . Geschichtsverstehen sei aber nicht vom „kleinen Fragm e n t " her möglich, sondern nur aus einer die Einzelheiten organisch ordnenden, universellen geistig-sittlichen Weltansicht. Noch im Jahre 1806 vertrat Schleiermacher die allgemein-idealistische These, daß die Weltgeschichte erst durch einen Zusammenschluß von Naturgeschichte und Sittengeschichte zu einer „Identität" entstehe. „Ihr Wesen ist das Aufgehn der Zeit in der Idee" (W I, 11,624). Diese „Idee" nicht allein philosophisch, sondern im Zusammenhang der Christentumsgeschichte zu bestimmen, kennzeichnet Schleiermachers Überlegungen zum Geschichtsbegriff in der Folgezeit. Schleiermacher hat daran festgehalten, daß die -»Ethik Korrelat der Geschichtswissenschaft sei. „Die Geschichtskunde ist das Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichtskunde" (Sittenlehre, hg. v. O. Braun, 549). Bei seinem Bemühen, eine „Verlaufstheorie der Geschichte" (W. Gräb, Humanität u. Christentumsgeschichte 63 ff) zu entwickeln, ging Schleiermacher davon aus, daß erst mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte die Bedingungen für die Verwirklichung der Welt des Sittlichen hinreichend erfüllt wurden. „Hauptagens" der Geschichte sei das Bestreben, „das Göttliche in Christo sich anzueignen und es auf andere zu verbreiten. Dies die constante Größe; alles andere die wechselnden" (W I, 11,634). Die Weltgeschichte wird durch die Geschichte der Selbstauslegung der christlichen Frömmigkeit bewegt und bestimmt. Diese theologi-
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sehe Geschichtsdeutung wurde in Schleiermachers eigenen Arbeiten zur Kirchengeschichte wirksam (vgl. Peter Meinhold, Gesch. d. kirchl. Historiographie 11,134-141; -»Kirchengeschichtsschreibung). Eine unmittelbare Nachwirkung hat sie nicht gehabt. Ihre Anwendung auf „profane" Geschichtsstoffe hätte zu einer pneumatologischen Interpretation der Geschichte führen müssen. Denn da nach Schleiermacher die Welt als der „Schauplatz der Erlösung" auf die Vermittlung des von Christus in die Zeit gebrachten neuen Gottesbewußtseins ausgerichtet ist, müßte auch in einer profanen Geschichtsschreibung der Satz der Glaubenslehre zur Geltung gebracht werden, der dem Heiligen Geist die „letzte weltbildende Kraft" zuspricht (ebd. [1831] §169,3; hg. v. M. Redeker, 11,457).
3. Hegel
und die Hegelschule;
Feuerbach
und
Marx
3.1. Das Geschichtsverständnis ->Hegels ist bereits in der Phänomenologie (1807) vollkommen ausgebildet. Kennzeichnend für dieses Werk ist, daß in ihm die allgemeinen Stufen in der Bildung des menschlichen Bewußtseins und die Entwicklung des geschichtlichen Geistes zugleich dargestellt werden (neben der dialektischen Methode die spezifische Differenz zum frühen Schelling). Hegel hat Geschichte umfassend als den Prozeß beschrieben, in dem die der Welt immanente Vernunftidee zu konkreter Gestalt gelangt, der „Weltgeist" sich selber erkennend begreift (zur Interpretation: Michael Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1 9 7 0 , 2 1 6 - 2 9 1 ; T R E 12,250ff). Mit dem Begriff des „Weltgeistes" hat Hegel aber nicht nur den Gesamtträger des geistigen Lebens bezeichnet, sondern das Subjekt aller Entwicklungen der Natur- und Weltgeschichte im Ganzen. So gibt es in Hegels Geschichtsverständnis neben der natürlich begrenzten Erfahrung des Einzelbewußtseins die umgreifende Erfahrung und Bildung der gesamten Menschheit; diese ist „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (G.W.F. Hegel, Sämtliche Werke, hg. v. H. Glockner, XII,46). Hegels dialektisch bewegter Fortschrittsbegriff bewahrt die geschichtliche Einzelerscheinung vor der völligen Auslöschung, die ihr in Systemen mit einer linearen Progression droht. Bei Hegel werden alle einmal in die Geschichte eingetretenen Individualitäten (etwa die „Volksgeister") in ihr auch bewahrt („aufgehoben"); sie bleiben als „erinnertes Dasein" gegenwärtig. Das Ziel des gesamten Prozesses, die Vereinigung von Geschichte und Reflexion zur „begriffenen Geschichte", hat Hegel zwar die „Schädelstätte des absoluten Geistes" genannt, „nur" - so fügte er hinzu - „aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit" (SW 11,620; dem korrespondiert in der Enzyklopädie das andere Schiller-Zitat ,die Weltgeschichte ist das Weltgericht', SW X,426). Aus dieser Endanlage der Phänomenologie erklärt sich der konservative Zug in Hegels Geschichtsdenken (vgl. auch Hegels Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution: Joachim Ritter, Hegel u.d. franz. Revolution). In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (SW XI) hat Hegel eine Durchführung seiner Geschichtstheorie am konkreten Material vorgenommen und dabei mit dem berühmt gewordenen Stichwort von der „List der Vernunft" eine wichtige Abgrenzung vollzogen: Nicht die allgemeine Idee ist es, die sich innergeschichtlich in Gegensätze und „Kämpfe" begibt; „sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund" und läßt „die Leidenschaften für sich wirken . . . Die Idee bezahlt den Tribut des Daseyns und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen" (SW XI,63; vgl. auch 11,52.68).
Weil der Weltgeschichte ein Endzweck zugrunde liegt und „Vernunft in der Geschicht e " waltet, forderte Hegel von der Geschichtsschreibung, daß sie philosophisch nach dieser Vernunftbewegung fragen müsse. Statt rein philologisch einer Unparteilichkeit und abstrakten Richtigkeit genügen zu wollen, müsse Geschichtsschreibung die konkrete, dialektisch bewegte Entwicklung des Geistes in der Geschichte erkunden; das aber bedeute, M u t zur Beurteilung haben. Derartige, durch die Methodentreue „objektiv" gewordene Geschichtsschreibung ist für Hegel dann ihrerseits ein Abschnitt in der „langen Arbeit des menschlichen Geistes" auf dem Wege zu sich selbst (vgl. SW X , 4 2 6 - 4 4 6 ) . 2 3.2. Die Schüler Hegels versuchten - vor allem in den Jahren zwischen 1830 und 1840 - das neue Verständnis der Geschichte als einer dialektisch bewegten Selbstexplikation des absoluten Geistes auf einzelne Fachwissenschaften und deren systematische Organisation bzw. ihre Geschichte zu übertragen. Kennzeichnend für derartige Unternehmungen aus der Frühzeit der Hegelschule ist die Ordnung des jeweiligen Stoffes in begriffsorientierten triadischen Aufrissen.
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Besonders eindrucksvoll hat J o h a n n Eduard Erdmann ( 1 8 0 5 - 1 8 9 2 ) die methodologische Grundlegung einer solchen Geschichtsschreibung zum Ausdruck gebracht (Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, 7 Bde., 1 8 3 4 - 1 8 5 3 2 1 9 3 1 - 1 9 3 4 , ND 1 9 7 7 - 1 9 8 3 ; s. vor allem die Allgemeine Einleitung 1 , 1 - 9 0 ) ; für das G r u n d a x i o m fand er die einprägsame Formel: „ Z u v o r g e t h a n und nachbedacht ist M a x i m e des Weltgeistes" (1,13). Neben ihm ist für die profane Geschichtsschreibung vor allem Heinrich Leo ( 1 7 9 9 - 1 8 7 8 ) zu nennen (Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates, 1828; hehrbuch der Geschichte des Mittelalters, 1830). Wichtige Arbeiten der Hegelschule entstanden im Umfeld der theologischen Wissenschaft (Ph. K. —»Marheineke, Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft, 1819 entscheidend überarbeitet 2 1 8 2 7 ; Karl Rosenkranz, Encyklopädie der theologischen Wissenschaften, 1831; Bruno Bauer, Kritik der Geschichte der Offenbarung, I / I I 1 8 3 8 ; s. das Lit.-Verz. bei Peter Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie u. Emanzipation in d. Aufklärung, bei Hegel u. in d. Hegeischen Schule, Göttingen 1971). F ü r die Kirchengeschichtsschreibung bedeutsam wurde die Untersuchung von F. Chr. —>Baur über Die christliche Gnosis (1835), in der die Geschichte der nach-antiken Religionsphilosophie als eine dialektische Begriffsgeschichte nachgezeichnet und bis in die eigene Zeit fortgeführt wird (s. auch T R E 9, 118).
Das folgenreiche Auseinanderbrechen der Hegelschule hatte verschiedene Ursachen (vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jh., 1941, Stuttgart ®1981); es kündigte sich an, als fast gleichzeitig W. ->Vatke, D.F. -•Strauß und B. -»Bauer den Versuch unternahmen, auf der Grundlage der Hegeischen Identitätslehre eine kritische Rekonstruktion historischer Sachverhalte zu erarbeiten. Das Mißlingen dieser Versuche veranlaßte Strauß zu seiner berühmten Aufteilung der Schule in eine rechte, eine mittlere und eine linke Fraktion (vgl. Mehlhausen 1975; Graf, Kritik 1982; ders./Wagner [Hg.], Flucht 1982 [Lit.]). Maßgebend für die Zuordnung zu einer dieser Fraktionen war für Strauß die Frage, ob das jeweilige Glied der Schule bereit war, weiterhin eine Übereinstimmung von spekulativer Begriffsgeschichte und „wirklicher" Geschichte zu behaupten. Hegels Gedanke von der einen vernünftig-göttlichen Idee, die sich als geschichtlich wirksame Offenbarung in bestimmten religiösen Vorstellungen manifestiere, wurde von den Linkshegelianern aufgesprengt. Nach ihrer Auffassung stehen auf der einen Seite die von der rationalistischen historischen Kritik ermittelten, nur bruchstückhaften Überlieferungen aus dem Leben Jesu (-»-Leben-Jesu-Theologie/Leben-Jesu-Forschung), und auf der anderen Seite — unverbunden — die Produktionen des menschlichen Bewußtseins, die „Mythen" (so Strauß) oder „Ideen" und „Phantome" (so Bauer) genannt werden müssen. Eine Geschichtsschreibung des Urchristentums scheint nun vor der unbefriedigenden Alternative zu stehen, entweder die historische Kritik mit ihrem Zersetzungswerk perennierend fortführen zu müssen oder sich in eine vage Ideengeschichte aufzulösen. 3.3. So bedeutsam die von Strauß diagnostizierte Aporie für die Auflösung der Hegelschule auch war, so steht doch unstreitig fest, daß das neue Geschichtsverständnis des Linkshegelianismus endgültig erst durch L. -*Feuerbachs „Bruch mit der Spekulation" (Carlo Ascheri) und dann - mit weltgeschichtlichen Konsequenzen - durch die Frage von K.-*Marx und Friedrich Engels nach den materialistischen Triebkräften der Geschichte ausgeformt worden ist. Allerdings ist zu beachten, daß Feuerbachs Bruch mit Hegel, seine Religionskritik und sein anthropologischer Monismus nicht unmittelbar zu einem neuen Geschichtsverständnis geführt haben. Feuerbachs Hauptbeitrag ist die radikale Ablehnung aller spekulativen Geschichtskonstruktion gewesen (Grundsätze der Philosophie der Zukunft, 1843: Sämtliche Schriften, hg. v. W. Bolin u. F. Jodl, 11,245-320). Diese Leistung Feuerbachs haben Marx und Engels zunächst auch anerkannt (Heilige Familie, 1845: MEW 11,97f). Ihre spätere Kritik an Feuerbach hatte ihre Ursache darin, daß sich Feuerbach (aus bisher noch nicht hinreichend erforschten Gründen) an der Beratung über die entstehende materialistische Geschichtsauffassung (-»Materialismus) nicht beteiligen mochte (vgl. Deutsche Ideologie, 1845-1846: MEW 111,41-46; s. auch T R E 11,151,47 ff). Die von Marx entworfene neue Geschichtstheorie beruhte auf dem Plan, „den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren
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Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen" (Deutsche Ideologie, MEW 111,37). Das Subjekt der geschichtlichen Entwicklung ist nun nicht mehr der Hegeische „Weltgeist", sondern die allen geschichtlichen Prozessen zugrundeliegende sozialökonomische Basis. Die Widersprüche innerhalb der jeweiligen Gesellschaft halten die Geschichte in Gang, wobei jeder Geschichtsabschnitt geprägt ist von der Dominanz bzw. der Niederlage einer bestimmten Klasse. Geschichtsbestimmend sind -»-Revolutionen (MEW 111,38), die dann ausbrechen müssen, wenn es zu einer krassen Ungleichheit der im sozio-ökonomischen und im ideologischen Bereich ablaufenden Prozesse gekommen ist. Marx hat die -»Natur in den Geschichtsablauf entscheidend mit einbezogen. Die durch menschliche -»Arbeit veränderten Naturobjekte wirken auf die menschlichen Lebensbedingungen zurück. „Die ganze sogenannte Weltgeschichte ist nichts anders als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" (MEW Erg. Bd. 1,546). Das Ziel der Geschichte, die „klassenlose Gesellschaft" (MEW XXVIII,508), in der die Ausbeutung und Selbstentfremdung des Menschen ein Ende haben werden (vgl. Manifest der kommunistischen Partei, 1848: MEW IV,473f), entspricht nur noch ganz formal der Theorie Hegels vom Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Gemeinsam ist das Postulat, daß der Geschichtsablauf einem einheitlichen Prinzip, der Dialektik, gehorche und daß er teleologisch ausgerichtet sei. Im Unterschied zu Hegel hat Marx jedoch den Lebensprozeß des Menschen aus der Sphäre des sich auf sich selbst beziehenden Geistes zurückverlagert in die Natur (Manfred Riedel, Anthropologie bei Hegel u. Marx: ders., System u. Geschichte. Studien zum hist. Standort von Hegels Philosophie, Frankfurt/M. 1973, 157). Die sich auf Marx berufende Geschichtsschreibung (Materialistische Geschichtsschreibung) hat bei aller Facettierung der methodischen und politischen Positionen dies gemeinsam: Sie fragt nach dem revolutionären Subjekt der Geschichte und ist bemüht, den Geschichtsverlauf unter dem erkenntniskritischen und erkenntnisleitenden Interesse an den materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz zu interpretieren und auf eine zu erneuernde Gesellschaft hin auszurichten (Übersicht u. Lit. bei H. Dahm/W. Goerdt: HWP 5,859-868). 4. Die Historische
Schule
Mit dem Namen „Historische Schule" wird im engeren Sinn die Historische Rechtsschule bezeichnet, die in -»Preußen nach den Freiheitskriegen entstand und in entschiedener Abkehr vom Naturrechtsdenken der Aufklärung das institutionelle -»Recht als eine mit dem einzelnen -»Volk gewachsene, also geschichtliche Eigentümlichkeit verstand (-»Rechtsphilosophie). Ihre Hauptvertreter waren Friedrich Carl v. Savigny (1779-1861), Carl Friedrich Eichhorn (1781-1854), B.G. Niebuhr (s. u. 4.1.) und Jacob Grimm (1785-1863), der den rechtshistorisch-germanistischen Zweig der Schule repräsentierte.
Im weiteren Sinn wird der Begriff Historische Schule zur Kennzeichnung des Hauptstroms der geschichtswissenschaftlichen Arbeit an den deutschen Universitäten des 19. Jh. - und über dieses hinaus - verwendet. Gemeinsam war dieser Geschichtswissenschaft die Herkunft (Herder, Deutsche Klassik, Deutscher Idealismus) und die Methode (geschichtliches Wissen wird durch kritische Analyse der Überlieferung ermittelt; die systematische Erschließung von Quellen und die interpretierende Einstellung der Quellenbefunde in Erklärungszusammenhänge geschieht mit dem Ziel einer möglichst exakt nachprüfbaren, objektiven Geschichtserkenntnis). Zum einflußreichen Publikationsorgan der Schule wurde die 1859 von Heinrich v. Sybel (1817-1895) begründete Historische Zeitschrift (HZ), deren über einhundertjährige Geschichte die „deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel" zeigt (Theodor Schieder: H Z 189 [1959] 1 - 1 0 4 ) . 4.1. Kritische Geschichtswissenschaft. Die neuzeitliche kritisch-philologische Methode der Geschichtswissenschaft wurde bereits im 18. Jh. vor allem von der -»Bibelwissenschaft und von der
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Altphilologie entwickelt. Bei d e r Ü b e r t r a g u n g dieser, d e m Ideal sachlicher G e n a u i g k e i t verpflichteGeschichte (3 Bde., ten M e t h o d e auf die p r o f a n e Geschichtsschreibung k o m m t der Römischen 1 8 1 1 - 1 8 3 2 ) von Barthold G e o r g N i e b u h r ( 1 7 7 6 - 1 8 3 1 ) eine - o f t überschätzte - Bedeutung zu. Die bleibende wissenschaftliche Leistung N i e b u h r s wird heute in seiner E r f o r s c h u n g der römischen A g r a r v e r f a s s u n g gesehen, d u r c h die er m o d e r n e r Sozialgeschichtsschreibung weit vorauseilte (Alfred H e u s s , N i e b u h r s wiss. A n f ä n g e , G ö t t i n g e n 1981; s . u . 6). A u c h seine von ihm selbst in die Praxis umgesetzte Überzeugung, der Geschichtsschreiber müsse aktiv am politischen Leben der eigenen Z e i t teilhaben, w e n n er Vergangenes e i n f ü h l s a m verstehen wolle, w i r k t e auf G e n e r a t i o n e n von H i s t o r i k e r n nach. Für die V e r v o l l k o m m n u n g der kritischen Geschichtswissenschaft w a r e n i n s b e s o n d e r e die g r o ß e n wissenschaftlichen Quelleneditionen des 19. J h . b e d e u t s a m ( M o n u m e n t a Germaniae Histórica, nach 1819 auf A n r e g u n g des Freiherrn v o m Stein [ - » P r e u ß e n ] begonnen; Kegesten zur Reichsgeschichte, seit 1831 von J o h a n n Friedrich B o e h m e r [ 1 7 9 5 - 1 8 6 3 ] quellenkritisch ediert; Quellenkunde der deutschen Geschichte, 1830 erstmals von F . C h r . D a h l m a n n [s.u. 4.3] herausgegeben, als 10 Dahlmann/Waitz 1969ff u . s . f . ; Übersicht bei W i n f r i e d B a u m g a r t , Bücherverzeichnis zur dt. Ge4 schichte, 1978). Die Geschichtswissenschaft entwickelte eine Fülle von Hilfswissenschaften: Paläog r a p h i e , D i p l o m a t i k , Sphragistik, H e r a l d i k , Genealogie, K a r t o g r a p h i e u . s . f . ; zur bedeutendsten Hilfsdisziplin w u c h s die - » T e x t k r i t i k (Quellenkritik) h e r a n , deren M e t h o d e n vor allem K. ->Lachm a n n verfeinerte (s. T R E 6,383). Die gewaltige Fülle von M a t e r i a l i e n , die von der kritischen Geschichtswissenschaft z u s a m m e n g e t r a g e n w u r d e n , u n d die z u n e h m e n d e Spezialisierung des einzelnen H i s t o r i k e r s bargen P r o b l e m e f ü r das i n n e r h a l b der Historischen Schule t r a d i e r t e Geschichtsvers t ä n d n i s in sich. Es m u ß t e die Frage gestellt w e r d e n , o b d u r c h unentwegte V e r m e h r u n g der Detailkenntnisse der Z u g a n g zur Geschichte erleichtert o d e r nicht vielmehr verschüttet werde. D a s 19. J h . h a t auf diese Frage im wesentlichen m i t einem g r o ß e n F o r s c h u n g s o p t i m i s m u s g e a n t w o r t e t . Erst die H i s t o r i s m u s - D i s k u s s i o n deckte die g a n z e Reichweite der P r o b l e m a t i k auf (s.u. A b s c h n . 5).
4.2. Exemplarische Vertreter: Ranke, Mommsen, Harnack. Weit über die eigene lange Lebenszeit hinaus h a t L. v. - > R a n k e das Geschichtsverständnis einer großen historisch interessierten bürgerlichen Leserschaft geprägt. R a n k e s Bemühung um historische O b jektivität, sein Satz, d a ß der Historiker bloß zeigen wolle, „wie es eigentlich gewesen" (SW XXXIII,VII), seine These, d a ß ,jede Epoche u n m i t t e l b a r zu G o t t ' sei (Über die Epochen der neueren Geschichte 17; vgl. T h e o d o r Schieder: H Z 199 [1964] 10), und seine Formel von der Geschichte als einer „Hieroglyphe G o t t e s " , die der Historiker zu „enthüllen" versuche (SW LIII/LIV,89f), sind allgemeines Bildungsgut g e w o r d e n . Als die k ü h n s t e geistige Leistung Rankes wird heute seine A n w e n d u n g des Individualitätsgedankens auf die politische Welt angesehen ( T h e o d o r Schieder). D a s zentrale E r k e n n t n i s p r o b l e m des Historikers R a n k e w a r das Verhältnis zwischen d e m jeweils Besonderen, das als Ereignis, Person oder G e d a n k e dem Historiker in seinen Quellen begegnet, und dem Allgemeinen: den Bedingungen, Z u s a m m e n h ä n g e n , Entwicklungen, in denen das Einzelne steht, das aber in den Quellen nicht explizit zum Ausdruck k o m m t (Rudolf Vierhaus, R a n k e u . d . A n f ä n g e d . d t . Gesch.Wissenschaft: B. Faulenbach [Hg.], Geschichtswissenschaft in D e u t s c h l a n d 21; ders., R a n k e s Begriff d. hist. Objektivität: T h e o r i e d. Geschichte 1,63-76). Die Antw o r t , die R a n k e in seinen souverän und kunstvoll erzählenden Geschichtsdarstellungen gegeben hat, ist eigentümlich schwebend: Geschichte wird sowohl als eine z u s a m m e n h ä n g e n d e „Erziehung des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s " verstanden; sie ist aber zugleich in ihren einzelnen Abschnitten und Epochen völlig geschlossen, jeweils a u t o n o m und unvergleichlich individuell geprägt. In dieser S p a n n u n g k o m m t R a n k e s ambivalentes Verhältnis zu Hegel zum A u s d r u c k ; R a n k e lehnte Hegels Geschichtsspekulation ab, verwarf aber nie völlig dessen Idee der providentiellen Geschichte (vgl. T h e o d o r Steinbüchel, R a n k e u. Hegel: R. Stadelmann [Hg.], G r o ß e Geschichtsdenker 1 7 5 - 2 1 5 ) . Diese Idee, d a ß die Geschichte — wenn auch nicht einlinear — auf ein Endziel ausgerichtet sei, b e w a h r t e R a n k e vor der G e f ä h r d u n g durch einen historischen -»Relativismus. Rankes Geschichtsauffassung, „die v o n einem geradezu erschütternden O p t i m i s m u s z e u g t " ( G . G . Iggers, Dt. Gesch.Wissenschaft 107), r u h t e auf einem religiös b e g r ü n d e t e n Vertrauen in die Geschichte und in das Beharrungsvermögen der Werte christlich-humanistischer Tradition. R a n k e v e r d a n k t e dieses Vertrauen seiner Verwurzelung im Luthert u m . Allerdings hinderten ihn gerade diese letzten Voraussetzungen seines Geschichts-
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d e n k e n s d a r a n , die Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen T r i e b k r ä f t e in der Geschichte zu erkennen (Helmut Berding, L. v. R a n k e : Dt. Historiker 1,7-24.20). R a n k e hat die Geschichtswissenschaft in D e u t s c h l a n d zur ersten Bildungsmacht erhoben; dies k o n n t e ihm gelingen, weil die k a u m reflektierte starke religiöse K o m p o n e n t e seines Denkens bei der M e h r z a h l der Zeitgenossen noch ein unmittelbares Verständnis und Z u s t i m m u n g fand. Die öffentliche Bildungsaufgabe der Geschichtswissenschaft hat auch T h e o d o r M o m m s e n (1817-1903) betont, der neben R a n k e der zweite weithin wirkende Historiker des 19. Jh. gewesen ist. Für ihn besaß allerdings der romantische Geschichtsbegriff keine Verbindlichkeit mehr. O h n e Positivist (—»Positivismus) im engeren Sinne zu sein, „ h a t M o m m s e n die Geschichte in einem absoluten Sinn auf sich selbst gestellt" (A. Heuss, M o m m s e n u. das 19. Jh. 227). Er versuchte zu zeigen, d a ß die Geschichte von einer n u r ihr eigenen inneren D y n a m i k angetrieben w e r d e und er brach mit allen transzendenten Ableitungen und A u s d e u t u n g e n des geschichtlichen Prozesses. M o m m s e n w a r dem politischen ->Liberalismus verpflichtet (L. Wickert, M o m m s e n IV,46-122) und sah eine wichtige Erziehungsaufgabe der Geschichtsschreibung darin, durch Entschiedenheit und Klarheit des historischen Urteils die Fähigkeit des Lesers zum eigenen Urteil über politische Sachverhalte zu schärfen. Geschichte als Geschehen u n d Geschichte als Instanz, in deren N a m e n der Historiker seine Urteile fällt, konvergierten in dieser Gestalt der Geschichtsschreibung (vgl. Christian Meier, D a s Begreifen des N o t w e n d i g e n . Z u T h . M o m m s e n s R ö m i s c h e r Geschichte: T h e o r i e d. Geschichte IV,201-244). Die Römische Geschichte ( I - I I I 1 8 5 4 - 1 8 5 6 , V 1885 1 4 1 9 0 7 - 1 9 3 2 = 1976), das am meisten verbreitete deutsche Geschichtswerk des 19. Jh., hat den neuen Realismus, der wissenschaftsgeschichtlich in nahezu allen Disziplinen der Fachwissenschaften die zweite H ä l f t e des 19. Jh. bestimmte, exemplarisch für die Geschichtswissenschaft zum A u s d r u c k gebracht. Ähnlich wie M o m m s e n h a t A . v . - » H a r n a c k auf dem Gebiet der -»Kirchen- und —•Dogmengeschichtsschreibung die S u m m e vorausgegangener historiographischer Traditionen gezogen und in seinen Gesamtdarstellungen Ergebnisse eigener, beispiellos intensiver Q u e l l e n e r h e b u n g und Q u e l l e n d u r c h f o r s c h u n g überlegen z u s a m m e n g e f a ß t (s. T R E 9,121,9ff). Sein theoretisches Geschichtsverständnis bringt noch einmal die klassischen Traditionen des deutschen Idealismus und der Historischen Schule zum Ausdruck. Z w a r sei alle Geschichte „Institutionen-Geschichte"; „ a b e r hinter dieser ragen die Ideen u n d die Ideen-Geschichte . . . die Ideen aber sind Geist". Der in der Geschichte wirkende „ E i n e " Geist sei auf die „ E r h a l t u n g und Förderung des Lebens" gerichtet, und das Weltgeschehen zeige, „ d a ß hinter der R i c h t u n g , welche kraftvoll ü b e r das N a t u r h a f t e und Egoistische aufstrebt, das C h a o s liegt und der T o d " . Es sei kein Zweifel: „Die Menschheit arbeitet in der Geschichte, ,als o b G o t t existiere', als o b sie, von einem höheren Ursprung h e r s t a m m e n d , diesen in zielstrebendem Wirken wieder erreichen m ü ß t e , dabei alle ihre Glieder zu einer Einheit z u s a m m e n s c h l i e ß e n d " (A. v. H a r n a c k , Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur D e u t u n g des Weltgeschehens zu bieten?: ders., Ausgewählte Reden u. Aufsätze, Berlin 1951, 1 8 1 - 2 0 4 . 1 9 6 - 2 0 1 ) . H a r n a c k hielt eine Unterscheidung von „ K e r n und Schale", die A u f d e c k u n g des „Wesentlichen, Wertvollen und Bleibenden" in der Geschichte methodisch f ü r d u r c h a u s möglich (vgl. D a s Wesen des Christentums [1900], hg. v. R. B u l t m a n n , Stuttgart 1950, 8f). So erscheint die Geschichte als das M e d i u m , in d e m die sittlichen, kulturellen und religiösen Anlagen des M e n s c h e n Gestalt a n n e h m e n und von besonderen Personen getragen auch weiterwirken. In A u f n a h m e des theologischen Ansatzes von A. -»Ritsehl sah H a r n a c k die A u f g a b e des Historikers der eigenen Zeit vor allem darin, an der Vermittlung von C h r i s t e n t u m und —»Kultur mitzuwirken (Karl H . N e u f e l d , A.v. H a r n a c k : Dt. Historiker VII,24-38). 4.3. Die nationalliberale Historikerschule. In b e w u ß t e r A b k e h r von der k o n t e m p l a t i ven Geschichtsschau des u n p o l i t i s c h e n ' R a n k e forderte nach 1848 eine G r u p p e jüngerer deutscher Historiker das entschiedene politische Engagement des Geschichtsschreibers in seiner eigenen Zeit. Wegen ihres Eintretens f ü r die „ k l e i n d e u t s c h e " Lösung der n a t i o n a -
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len Frage unter der Führung Preußens wird diese Gruppe auch die „preußisch-kleindeutsche Schule" genannt (Hans Schleier, Die kleindeutsche Schule: J. Streisand [Hg.], Die deutsche Geschichtsschreibung, Berlin 1963, 2 7 1 - 3 1 0 ) . Wegbereiter der nationalliberalen, kleindeutschen Historikerschule war der Altliberale Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860), der 1837 zu den „Göttinger Sieben" (-»Göttingen, Universität) gehört hatte, 1848 Mitglied der Paulskirchenversammlung war und in seiner Geschichtstheorie die Auffassung vertrat, der Historiker müsse gerade im Blick auf den Staat und die Politik klare Prinzipien erarbeiten, die ihm eine wertende Stellungnahme zu den Ereignissen der Gegenwart ermöglichten (Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, 1835 2 3 1 8 4 7 ) . Mit dieser Forderung kam ein neues, politisch aktives Verständnis vom Zweck der Geschichtsforschung auf, das in verschiedenen Ausprägungen bis in die Gegenwart hinein wirksam geblieben ist (-•Politik). Hauptvertreter dieser Position waren im 19. Jh. zunächst Johann Gustav Droysen (1808-1886), Heinrich v. Sybel (1817-1895) und Heinrich v. Treitschke (1834-1896; zu v. Sybel u. v. Treitschke vgl. Wolfgang J. Mommsen: Theorie d. Geschichte 1,134-158; Reinhart Koselleck: Theorie d. Geschichte IV, 2 4 5 - 2 6 5 ; Ulrich Muhlack: H Z 228 [1979] 3 4 0 - 3 4 5 ) . Eine besondere Stellung nahm Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) ein, der nach dem Scheitern der Revolution von 1848 für ein Bündnis zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung eintrat (vgl. Jörn Rüsen: Theorie d. Geschichte 1,77- 124; Lothar Gall: Dt. Historiker V, 7 - 2 6 ) .
Den bedeutendsten Beitrag zur Geschichtstheorie lieferte J . G . Droysen mit seinen zwischen 1857 und 1881 immer wieder umgearbeiteten Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, die postum 1937 unter dem Titel Historik von Rudolf Hübner ediert wurden. Gegen die Geschichtsmetaphysik der idealistischen Philosophie und auch gegen die vermeintliche Objektivität der Rankeschen Geschichtsschreibung gewandt, zudem in ständiger Auseinandersetzung mit dem englischen und französischen -•Positivismus, machte Droysen auf die hermeneutische Frage (-»-Hermeneutik) in der Geschichtswissenschaft aufmerksam. Er forderte für die Geschichtsschreibung einen Pluralismus von pragmatisch erklärenden, intuitiv verstehenden und spekulativen Methoden (die letztere nannte er „die Interpretation nach den sittlichen Mächten oder Ideen", Historik 180). In diesem Zusammenhang führte er für die „verstehenden" Wissenschaften den Begriff -*Geisteswissenschaften in die Debatte ein (ebd. 378). Die Bezugsgrößen, die solches geisteswissenschaftliche Verstehen der Geschichte im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisvorgang leiten, seien dem Historiker jeweils durch seine eigene geschichtliche Situation vorgegeben (ebd. 287). Es gebe einen „Kosmos der sittlichen Welt", von dem aus der Historiker die „rastlose Bewegung" vergangener Geschichte betrachte und der es ihm ermögliche, das Ganze als den Fortschritt sittlicher Kräfte zu erkennen, die den Menschen zu einem freien Selbst- und Weltverhältnis bringen wollen (ebd. 348—353). In Droysens „großartiger Intuition einer ,Theologie der Geschichte'" (H.-G. Gadamer: R G G 3 2,1492) - e i n e m bereits 1843 abgefaßten Vorwort zur Geschichte des Hellenismus II - finden sich bemerkenswerte bekenntnisartige Sätze zu einer theologisch-ethischen Geschichtsdeutung, die von der Droysen-Forschung bisher kaum beachtet wurden (Historik 3 6 9 - 3 8 5 ) . Hier deuten sich insbesondere Querverbindungen zu R . -•Rothe an, von dessen Ethik Droysen noch 1864 Impulse zur Lösung geschichtswissenschaftlicher Methodenfragen erwartete. 3 5. Das
Historismus-Problem
Das Wort Historismus läßt sich schon bei -»Novalis nachweisen (zur Begriffsgeschichte: G. Scholtz: HWP 3,1141-1147; G . G . Iggers: Dictionary of the History of Ideas 2, 4 5 6 - 4 6 5 [Lit.]). Doch erst um die Wende vom 19. zum 20. Jh. wurde jene Kritik an einem sterilen Objektivismus der positivistischen Geschichtsforschung laut, die viel später in der von Karl Heussi geprägten Formel „Krisis des Historismus" (1932) ihren Niederschlag fand. Der Geschichtswissenschaft wurde vorgeworfen, eine Überfülle von Materialien nebeneinander aufzureihen, ohne nach dem Sinn solcher Sammlungen zu fragen. Insbesondere F. -»Nietzsche und Jacob Burckhardt (1818—1897) kritisierten scharfsichtig
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und unerbittlich die selbstgewisse Grundhaltung der Historiker ihrer Zeit, und -»Schopenhauer sprach der Geschichte den Charakter einer Wissenschaft ab, weil sie kein System entwickeln könne und das „Gewußte bloß koordiniere" ; „sie ist demnach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft" (Die Welt als Wille und Vorstellung, SW hg. v. J. Frauenstädt 2 1888, 111,502). Betrachtung nach dem „Nutzen und Nietzsche hatte 1874 in seiner zweiten Unzeitgemäßen Nachtheil der Historie für das Leben" gefragt (SW,hg. v. G. Colli/M. Montinari, I 1967, 2 4 3 - 3 3 4 ) . Er warf seinen Zeitgenossen vor, sie hätten einen „historischen Menschen" hervorgebracht, dessen Glaube darin bestehe, daß der Sinn des Lebens ans Licht kommen werde, wenn man nur rückwärts schaue, „um an der Betrachtung des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen" (ebd. 255). Er äußerte den Verdacht, daß die „historische Jugenderziehung" nur zu dem Zweck ersonnen worden sei, die Jugend in Unmündigkeit zu halten (ebd. 325). Nietzsche forderte eine „Gesundheitslehre des Lebens", aus der alle historische Argumentation und Reflexion verbannt sein müßten (ebd. 331). J . Burckhardts skeptische Einstellung zur Geschichtstheorie der Historischen Schule kommt insbesondere in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen zum Ausdruck (postum 1905; G W IV [1970]; Krit. NA hg. v. Peter Ganz, München 1982). Er könne das „kecke Antizipieren eines Weltplanes" nicht mitvollziehen; das einzige bleibende Zentrum der Geschichtsschreibung sei der „duldende, strebende und handelnde Mensch, wie er ist und immer war und sein wird" (ebd. 2f). „Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; - wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches" (ebd. 3; vgl. Jörn Rüsen: Theorie d. Geschichte 11,186-217). Auch W. ->Dilthey erkannte, daß dem Geschichtsverständnis der Historischen Schule seiner Zeit eine stringente philosophische Begründung fehlte. Er unternahm 1883 den Versuch, diese Begründung vorzunehmen „und so den Streit zwischen dieser historischen Schule und den abstrakten Theorien [der Positivisten; ->Positivismus/Neopositivismus] zu schlichten" (Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS I.XVII); doch eine Antwort auf das „am meisten verwickelte Problem" (ebd. 380) deutete sich für Dilthey mit der Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Menschen und aller seiner Daseinsäußerungen erst sehr viel später an (GS VII, 278; vgl. T R E 8,755,9ff).
Auf die Wissenschaftspraxis der deutschen Geschichtswissenschaft hatten diese kritischen Anfragen lange Zeit kaum Einfluß. Der Zusammenbruch der großen metaphysischen Systeme, der im letzten Drittel des 19. Jh. unübersehbar geworden war, veränderte das theoretische Geschichtsverständnis gerade der führenden deutschen Historiker nicht. „Im Gegenteil, sie fühlten sich in gewissem Sinne geradezu als die legitimen Erben der spekulativen Philosophie, konnten sie doch auf die nach damaliger Ansicht absolut solide empirische Basis ihrer Arbeit verweisen . . . Der Historismus wurde ,zur letzten Religion der Gebildeten'" (W. J. Mommsen, Gesch.Wissenschaft jenseits d. Historismus 13f). Auch der Appell von E. -»Troeltsch, in dessen Mitte die scharfsinnigste Analyse der historistischen Relativismusproblematik der Gegenwart steht, und der darauf abzielte, das Wort Historismus „von seinem schlechten Nebensinn völlig zu lösen und in dem Sinne der grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte zu verstehen", hatte auf die hochspezialisierte Fachwissenschaft und ihr theoretisches Geschichtsverständnis keinen unmittelbaren Einfluß (E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, 1922, 102; ders., Der Historismus und seine Überwindung, [postum] 1924). Symptomatisch ist etwa die Position des bedeutenden und vielseitigen Kirchenhistorikers H. ->Lietzmann, der sich noch 1939 unbefangen zu den Rankeschen Idealen der Geschichtsforschung bekennen konnte (vgl. Kurt Aland [Hg.], Glanz und Niedergang d. dt. Universität. Briefe an u. von H. Lietzmann, Berlin/New York 1979, 962). Friedrich Meinecke (1862-1953) nahm die Anregungen seines Freundes Troeltsch auf und vergegenwärtigte in seiner Entstehung des Historismus (1936 4 1965) die kulturbildenden Kräfte des historischen Denkens. „Wir sehen in ihm die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge und trauen ihm eine echte Entwicklungsfähigkeit auch für die um uns und vor uns liegenden Probleme der Menschheitsentwicklung zu" (ebd. 4). Meineckes Darstellung war nur bis zu -»Goethe vorgedrungen (ebd. 4 4 5 - 5 4 8 ) ; das Werk ist also ein - großartiger - Torso, in dem das 19. Jh. mit seiner
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spezifischen Historismusproblematik unberücksichtigt bleibt. Dennoch hatte Meineckes Apologie des Historismus zur Folge, daß die Ansätze zur Selbstkritik des Historismus zunächst nicht weitergeführt wurden. So konnte der Kulturanthropologe Erich Rothakker (1888—1965) „die Akten zum historischen Relativitätsproblem mit dem Vermerk: erledigt! abschließen", weil jede geisteswissenschaftliche Erkenntnis notwendig Sinnstiftung sei und nie mit dem Betrachteten deckungsgleich werden könne (Wilhelm Perpeet, E. Rothacker. Philosophie d. Geistes aus dem Geist d. Dt. Historischen Schule, Bonn 1968, 89). Der vom Neukantianismus (-»Kant/Kantianismus/Neukantianismus) herkommende und durch die geisteswissenschaftliche Fragestellung W. Diltheys geprägte Theodor Litt (1880—1962) faßte die „Gefahren des Historismus" als eine ethische Herausforderung auf, die zur Wahrnehmung geschichtlicher -»Verantwortung in der Gegenwart anleiten müsse, nicht aber zu historischem Skeptizismus (-»Skepsis/Skeptizismus) oder zum Voluntarismus (-»Wille) führen dürfe (Th. Litt, Wege u. Irrwege gesch. Denkens 34; 8 5 - 9 1 ) . M i t dieser Zuwendung zur -»Ethik wollte Litt sowohl Oswald Spenglers ( 1 8 8 0 - 1 9 3 6 ) deterministischen Kulturpessimismus (-»Pessimismus) als auch Heinrich Rickerts ( 1 8 6 3 - 1 9 3 6 ) Versuch einer neuen ontologischen Begründung der Geschichtsphilosophie (-»Ontologie) widerlegen. Die in der Zeit zwischen den Weltkriegen außerhalb Deutschlands geführte Historismus-Diskussion (Benedetto Croce, Robin G. Collingwood, Arnold J. Toynbee) konnte einzelne Positionen deutscher Geschichtstheoretiker stärken, führte aber nicht zu wirksamen Neuansätzen (vgl. F. Wagner, Moderne Gesch.schreibung 43-65). Auch die vielschichtige Erörterung der Geschichtsthematik in der -»Existenzphilosophie hat die - deutsche - Fachwissenschaft merkwürdig wenig berührt, wie K. -»Jaspers schon 1931 konstatierte (K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 5 1932 118-122; vgl. TRE 10,727f). Das Verdienst, den Historismus einer konstruktiven Fundamentalkritik unterzogen zu haben, kommt M . -»Weber zu. Sein Weg „vom Historismus zur Soziologie" (Carlo Antoni) öffnete der Geschichtswissenschaft bislang vernachlässigte Forschungsgebiete und führte zur Entwicklung völlig neuer Methoden der Historiographie. Weber wandte sich gegen den positivistisch mißverstandenen Historismus seiner Zeit, der von der Voraussetzung ausging, daß die Objekte der Geschichtswissenschaft dem Historiker unmittelbar empirisch vorgegeben und aus sich selbst heraus verständlich seien. Die Reflexion auf den Historiker als das Subjekt der Geschichtsschreibung ist von Weber als erstem vollzogen worden: „Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen" (M. Weber, Ges. Aufs. z. Wissenschaftslehre, Tübingen 3 1 9 6 8 , 180f; vgl. W. J . M o m m s e n , Gesch.Wissenschaft jenseits d. Historismus 19; ders.: Dt. Historiker 111,65-90). D a ß fernerhin politische Geschichte und Kulturgeschichte (-»Kultur) immer in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext zu sehen und zu deuten sind, ist eine in dieser Allgemeinheit seit M . Webers Entwurf einer ,historischen Soziologie' unumstrittene Grundaussage der neueren Geschichtswissenschaft. 6. Geschichtswissenschaft
und
Gesellschaftswissenschaften
Die vor allem in den USA, in England und Frankreich nach 1940 entwickelte moderne Sozialgeschichtsforschung (—»SozialWissenschaften) hat insbesondere durch die Einführung empirisch-analytischer und quantifizierender M e t h o d e n 4 der Geschichtswissenschaft neue Wege gewiesen, aber auch zu neuen Grundsatzdiskussionen herausgefordert, deren Abschluß noch nicht abzusehen ist (Theodor Schieder/Kurt Gräubig [Hg.], T h e o rieprobleme der Gesch.Wissenschaft, 1977 [WdF 378]). 6.1. Geschichte als integrale Humanwissenschaft (-»Strukturalismus). Lucien Febvre und Marc Bloch gründeten 1929 die Zeitschrift Annales d'histoire économique et sociale (seit 1946: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations), um die sich vor allem nach 1945 ein Kreis französischer Historiker scharte, in dem die strukturalistische Geschichtstheorie entwickelt wurde. Gemeinsam ist der
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Annales-Schule die Annahme, daß Sozialgeschichte die wichtigste Geschichte sei und daß für den Verlauf der Sozialgeschichte bestimmte anthropologische Strukturen, nicht aber die Handlungen und Ideen einzelner Menschen bestimmend seien. Von Problemstellungen der Linguistik (-»Sprache/Sprachwissenschaft) und der Ethnologie ausgehend, wurde der Versuch gemacht, solche meßbaren anthropologischen Strukturen zu ermitteln, von denen die „Mentalität" einer Epoche bestimmt werde (etwa das Verhalten gegenüber dem —»Tod oder der —•Sexualität). Die Strukturalisten vertreten die These, daß erst durch die Veränderung derartiger anthropologischer Strukturen die „Mentalität" einer Epoche gewandelt und eine geschichtliche Bewegung ermöglicht werde, die sich dann in einer Vielzahl von sozialen und psychologischen Reflexen beobachten lasse. Die Annales-Schule lehnt jede geisteswissenschaftliche Gesamtschau der Geschichte und alle Spekulationen über deren Zielrichtung entschieden ab. Es komme darauf an, Geschichte anthropologisch als Veränderung derjenigen Strukturen zu begreifen, die die Bedingungen der Möglichkeit weiterer Veränderungen eröffnen und zugleich definieren. Kritiker der Annales-Schule haben insbesondere darauf hingewiesen, daß der Strukturalismus das Element bewußter Einflußnahme und Lenkung sozialer Prozesse zu wenig berücksichtigt und die Rolle politischer Faktoren im Ablauf der Geschichte fast völlig ausschließt (s. Michael Erbe, Zur neueren frz. Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die ,Annales', 1979 [EdF 110]; Robert Deutsch, „La Nouvelle H i s t o i r e " - Die Geschichte eines Erfolges: HZ 233 [1981] 107-129). 6.2. Geschichte als Kritische Gesellschaftstheorie (Frankfurter Schule). Zunächst am „Institut für Sozialforschung" in Frankfurt/M., nach 1933 im Exil in New York, sammelten Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um sich, aus der die später so genannte Frankfurter Schule hervorging (Zeitschrift für Sozialforschung 1932-1941 ND 1980). Gestützt auf Methoden der empirischen Sozialforschung (Th. W. Adorno, GS IX/2,1975,327-359) sowie in der Auseinandersetzung mit -»Hegel und dem Marxismus, entwickelten Horkheimer und Adorno die -•Kritische Theorie, eine Kritik der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft. Das Geschichtsverständnis der Kritischen Theorie hat einen „veränderten Begriff von Dialektik" zur Grundlage: Mit -»Marx und gegen Hegel wird „die Objektivität des geschichtlichen Lebens" als Naturgeschichte bestimmt (Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, 345). Der bisherige Fortgang der Geschichte habe die zunehmende Herrschaft des Menschen über die Natur zum Inhalt gehabt; die parallel dazu verlaufende „unerbittliche Vergesellschaftung aller Momente menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit", also die Herrschaft des Menschen über den Menschen mit Hilfe gesellschaftlichen Zwangs, sei theologisch oder philosophisch bemäntelt worden (ebd. 349f). Die Kritische Theorie will Geschichte in der „Parteilichkeit für Vernunft" nicht bloß interpretieren, sondern durch Aufweis emanzipatorischer Entwicklungen in der Vergangenheit zum Protest gegen eine -»Gesellschaft beitragen, die „verallgemeinerungsfähige Interessen" (-•Freiheit; -»Menschenrechte) unterdrücke (Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973 3 1975, 153.194-196). 6.3. Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Die 1975 gegründete Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft ist das Publikationsorgan einer Gruppe jüngerer deutscher Historiker, die unter Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Methoden die tieferliegenden Probleme sozialer und politischer Herrschaft kritisch zu analysieren versuchen. Anregungen für diese Arbeit und ihre Methode kommen aus verschiedenen Richtungen; neben M.—• Weber, der französischen Annales-Schule und der Kritischen Theorie sind einige „Außenseiter" der deutschen Geschichtsschreibung aus der Zeit der Weimarer Republik zu nennen: Gustav Mayer (1871-1948), Arthur Rosenberg (1889-1943), George W.F. Hallgarten (1901-1975), Eckart Kehr (1902-1933) u.a. Die Ablehnung einer „herkömmlichen Bestimmung der Geschichte als Geisteswissenschaft in engster Anlehnung an die Philologie" ist bislang deutlicher ausgeprägt als der eigene sozialwissenschaftliche Ansatz (vgl. H.-U. Wehler, Gesch. als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt 1973 3 1980, 7). Bemerkenswert ist die Einbeziehung humanwissenschaftlicher Disziplinen in die Geschichtswissenschaft, wie etwa - nach amerikanischem Vorbild, jedoch kritisch differenzierend - d e r -»Psychoanalyse (Benjamin B. Wolman). Hierin kommt insbesondere das Interesse an der Gegenwart als einem geschichtlichen Problem zum Ausdruck: „Geschichte, Soziologie und Psychologie sollen, am besten gemeinsam, den Charakter der Gesellschaft möglichst realitätsnah analysieren, in der der Einzelne aufgewachsen ist und sein Leben zubrachte oder zubringt" (H.-U. Wehler, ebd. 105). Die Vielfalt der neuen Konzeptionen zu einer T h e o r i e der Geschichte hat die Historismus-Problematik längst nicht obsolet werden lassen, ja es ist zu einer „Rehabilitierung des geschichtswissenschaftlichen Historismus in seiner unüberholten wissenschaftstheoretischen und kulturellen S u b s t a n z " g e k o m m e n ( H e r m a n n Lübbe, Gesch.begriff u.
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie
VII/2
G e s c h . i n t e r e s s e 9 ) . D i e s e E n t w i c k l u n g b e l e g t a u c h ein n e u e r D i s k u s s i o n s g a n g u n t e r den deutschen Historikern, der durch das kritisch-polemische Schlagwort v o m „Neo-Histor i s m u s " jeder u m wertfreie Objektivität b e m ü h t e n Geschichtsschreibung ausgelöst wurde (Lit. bei: K a r l - G e o r g F a b e r , A u s p r ä g u n g e n des H i s t o r i s m u s : H Z 2 2 8 [ 1 9 7 9 ] , 1 - 2 2 ; G . G . Iggers, N e u e Gesch.Wissenschaft 1 4 2 - 1 4 5 ) . Z u r V e r h a n d l u n g steht u . a . die Frage, „ w i e der späthistoristische R e l a t i v i s m u s und seine heutige V a r i a n t e , der Pluralismus, schlechthin beliebiger W e r t m a ß s t ä b e zur Erstellung historischer Sinn- und Bedeutungszus a m m e n h ä n g e , ü b e r w u n d e n w e r d e n " k ö n n e ( J ö r n R ü s e n : M . E r b e [ H g . ] , F. M e i n e c k e h e u t e , 1 9 8 1 , 9 7 ) . 5 A u c h in d e m g e g e n w ä r t i g s o b r e i t e n S p e k t r u m z w i s c h e n „ O b j e k t i v i t ä t u n d P a r t e i l i c h k e i t in d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t " , d a s , r e c h t v e r s t a n d e n , n i c h t n u r eine V a r i a n t e des historischen Relativismus darstellt, s o n d e r n die Positionsvielfalt einer d e m o kratisch strukturierten Gesellschaft widerspiegelt, bleibt die F r a g e n a c h der Zeitgebundenheit v o n W e r t m a ß s t ä b e n der historischen Urteilsbildung aktuell; die F r a g e nach dem Beitrag der Theologie zur Deutung der Geschichte b e k o m m t neue Dringlichkeit. Anmerkungen 1
Z u Schellings Geschichtstheorie vgl.: Ludwig Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Phil, der N a t u r u. der G e s c h . R e f e r a t e u. Kolloquien der Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1979, S t u t t g a r t / B a d C a n n s t a t t 1981.
2
S. auch O s c a r Daniel Brauer, Dialektik der Z e i t . Unters, zu Hegels M e t a p h y s i k der Weltgesch., S t u t t g a r t / B a d C a n n s t a t t 1982 (Lit.).
3
„ W i r k ö n n e n von einer Philosophie der G e s c h i c h t e nur w ü n s c h e n , d a ß sie uns die außer unsrer Disziplin liegenden Fragen von Freiheit und N o t w e n d i g k e i t , von dem Verhältnis des Ich zu den sittlichen M ä c h t e n , von dem Prinzip des Bösen usw. erläutert, mit einem W o r t , wenn sie uns die Grundzüge der Ethik (wie namentlich R o t h e in Heidelberg versucht hat) gibt und den Z u s a m m e n hang unsrer M e t h o d e mit andern wissenschaftlichen M e t h o d e n d a r l e g t " (Droysen an seinen Sohn am 3 1 . 7 . 1 8 6 4 ) : J . G . D r o y s e n , T e x t e zur Geschichtstheorie, hg. v. G ü n t e r Birtsch u. J ö r n Rüsen, G ö t t i n g e n 1972, 84.
4
R o d e r i c k Floud, An Introduction to Quantitative M e t h o d s for H i s t o r i a n s , P r i n c e t o n / N e w Jersey 1973. - K o n r a d H . J a r a u s c h (Hg.), Quantifizierung in der Geschichtswiss. P r o b l e m e u. Möglichkeiten, Düsseldorf 1976. - N o r b e r t O h l e r , Quantitative M e t h o d e n für Historiker. Eine Einführung, M ü n c h e n 1980.
5
Vgl. auch die Z w i s c h e n b i l a n z von Werner C o n z e , Die D t . Geschichtswiss. seit 1945. Bedingungen u. Ergebnisse: H Z 2 2 5 (1977) 1 - 2 8 . Literatur
S. auch unten die Literatur zu Geschichte VIII und X . Geza Alföldy u . a . (Hg.), P r o b l e m e der G e s c h . w i s s . , Düsseldorf 1973. - C a r l o Antoni, Vom Historismus zur Soziologie, Stuttgart 1950. - C a r l o Ascheri, Feuerbachs B r u c h mit der Spekulation. Einl. zur krit. Ausg. von F e u e r b a c h : Notwendigkeit einer Veränderung (1842), F r a n k f u r t / W i e n 1969. - Hans M i c h a e l B a u m g a r t n e r / J ö r n Rüsen (Hg.), Seminar: G e s c h . u. T h e o r i e . Umrisse einer Historik, F r a n k f u r t / M . 1976 2 1 9 8 2 . - H e l m u t B ö h m e , Prolegomena zu einer Sozial- u. Wirtschaftsgesch. Deutschlands im 19. u. 20. J h . , F r a n k f u r t / M . 1968. - Karl Dietrich B r a c h e r , Über das Verhältnis v. Politik u. G e s c h . G e d e n k r e d e auf F. Chr. D a h l m a n n , B o n n 1961. - Pierre C h a u n u , Histoire et Imagin a t i o n . L a transition, Paris 1980. - R o b i n G . C o l l i n g w o o d , Phil, der G e s c h . (engl. O x f o r d 1946), Stuttgart 1 9 5 5 . - B e n e d e t t o C r o c e , Z u r T h e o r i e u. G e s c h . der H i s t o r i o g r a p h i e (ital. 1 9 1 2 / 1 9 1 3 ) , T ü b i n g e n 1915. - D e r s . , G e s c h . E u r o p a s im 19. J h . (ital. 1 9 3 2 ) , F r a n k f u r t / M . 1968. - Ders., Die G e s c h . als G e d a n k e u. als T a t , B e r n / H a m b u r g 1944. - H e l l m u t D i w a l d , D a s hist. Erkennen. Unters, z. Geschichtsrealismus im 19. J h . , 1955 ( B Z R G G 2). - J o h a n n G u s t a v D r o y s e n , Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie u. M e t h o d o l o g i e der G e s c h . , hg. v. R u d o l f H ü b n e r , M ü n c h e n 1937 5 1 9 6 7 . G e o r g e s D u b y / G u y L a r d r e a u , G e s c h . u. Geschichtswiss., F r a n k f u r t / M . 1982. - M i c h a e l Erbe (Hg.), F. M e i n e c k e heute. Bericht über ein G e d e n k - C o l l o q u i u m zu seinem 25. T o d e s t a g am 5. u. 6. April 1 9 7 9 , Berlin 1 9 8 1 . - K a r l - G e o r g F a b e r , T h e o r i e d. G e s c h . w i s s . , M ü n c h e n 1971 3 1 9 7 4 . - Bernd F a u l e n b a c h (Hg.), Gesch.wiss. in Deutschland. Traditionelle Positionen u. gegenwärtige Aufgaben, M ü n c h e n 1 9 7 4 . - H a n s Freyer, Gesellschaft u. G e s c h . , Leipzig/Berlin 1937. - Imanuel Geiss, Stud. über G e s c h . u. G e s c h . w i s s . , F r a n k f u r t / M . 1 9 7 2 . - G e o r g e P. G o o c h , G e s c h . u. Gesch.schreiber im
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII
den W h i t e , M e t a h i s t o r y . T h e H i s t o r i c a l Imagination in N i n e t e e n t h - G e n t u r y Europe, B a l t i m o r e / L o n d o n 1973. - L o t h a r W i c k e r t , T h e o d o r M o m m s e n . Eine Biographie. 4 Bde., F r a n k f u r t / M . 1 9 5 9 - 1 9 8 0 . - R e i n h a r d W i t t r a m , M ö g l i c h k e i t e n u. G r e n z e n der Gesch.wiss. in der G e g e n w a r t : Z T h K 62 (1965) 4 3 0 - 4 5 7 . - Oers., A n s p r u c h u. Fragwiirdigkeit der Gesch., G ö t t i n g e n 1969. - B e n j a m i n B. W o l m a n (Hg.), T h e P s y c h o a n a l y t i c I n t e r p r e t a t i o n of H i s t o r y , N e w Y o r k / L o n d o n 1971.
Joachim Mehlhausen
VIII. Systematisch-theologisch 1. A u s g a n g s p u n k t e der P r o b l e m a t i k des Geschichtsbegriffes in der neueren T h e o l o g i e 2. H e r a u s f o r d e r u n g e n des m o d e r n e n historischen B e w u ß t s e i n s für die T h e o l o g i e 3. R e a k t i o n e n der T h e o l o g i e 4. Ö k u m e n i s c h e E r n e u e r u n g der G e s c h i c h t s t h e o l o g i e 5. Geschichtstheologie und profanhistorische Methodendiskussion 6. A n s ä t z e und Kriterien zu einer T h e o l o g i e der Geschichte ( A n m e r k u n g e n / L i t e r a t u r S. 671)
1. Ausgangspunkte
der Problematik
des Geschichtsbegriffs
in der neueren
Theologie
D a s T h e m a Geschichte h a t das christliche D e n k e n seit seinen A n f ä n g e n begleitet. U n t e r d e m N a m e n der göttlichen H e i l s ö k o n o m i e gewährleistete es im f r ü h e n Christent u m den Z u s a m m e n h a n g der christlichen G e g e n w a r t mit Israel, aber d a r ü b e r hinaus auch mit der vorchristlichen M e n s c h h e i t und mit der eschatologischen Z u k u n f t der Welt. Dem mittelalterlichen C h r i s t e n t u m halfen das augustinisch-isidorische Schema der sechs Weltalter (s. T R E 4 , 6 8 0 - 6 8 2 ) und die danielische Lehre von den vier Weltreichen (Dan 2 u. 7; s. T R E 8,332f), vor allem d u r c h die Beziehung des vierten Reichs auf d a s römische I m p e r i u m s a m t den Fragen seiner translatio in der mittelalterlichen Welt, den O r t der eigenen G e g e n w a r t im R a h m e n einer insgesamt d u r c h biblische Vorstellungen bestimmten Sicht der Geschichte zu identifizieren. N o c h in - > M e l a n c h t h o n s Chronicon von 1531 w u r d e die Geschichte der Welt seit der S c h ö p f u n g im R a h m e n einer der Bibel e n t n o m m e nen C h r o n o l o g i e und einheitlich unter theologischen G e s i c h t s p u n k t e n dargestellt, wenn auch unterschieden in die d u r c h Abfolge politischer M o n a r c h i e n gegliederte Erhaltungso r d n u n g und die in der Kirche und ihrer Geschichte konkretisierte H e i l s o r d n u n g Gottes. Erst die Schüler M e l a n c h t h o n s , C a s p e r Peucer und vor allem der H e l m s t e d t e r Professor Reiner Reinicius haben die politische Geschichte als historia profana stärker verselbständigt gegenüber der n u n als historia sacra bezeichneten Geschichte der H e i l s o r d n u n g . 1 Bereits sechzehn J a h r e zuvor (1566) hatte Jean Bodin die historia humana als selbständig zu b e h a n d e l n d e n G e g e n s t a n d von der historia divina sowie auch von der historia naturalis losgelöst. D a b e i scheint das Bemühen um eine Ü b e r w i n d u n g des Konfessionsgegensatzes im Frankreich der H u g e n o t t e n k r i e g e im H i n t e r g r u n d gestanden zu h a b e n . 2 Die Wirk u n g dieser Verselbständigung der menschlichen Geschichte durch Bodin w a r so g r o ß , d a ß schon 1594 der katholische H i s t o r i k e r J o h . Jac. Beurer feststellen k o n n t e , der Begriff Historie w e r d e gewöhnlich n u r noch f ü r die historia humana v e r w e n d e t . 3 Erst d u r c h diese A b l ö s u n g der menschlichen Geschichte als Profangeschichte von der theologischen G e s c h i c h t s i n t e r p r e t a t i o n w u r d e das T h e m a Geschichte f ü r die T h e o l o g i e zum Problem. Bartholomeus Keckermann (1571-1609) fand bereits zu Beginn des 17. Jh. Anlaß, die T e n d e n z der neuen Historie zur B e s c h r ä n k u n g auf das politische Gebiet zu beklagen. Den engen Z u s a m m e n h ä n g e n zwischen kirchlicher und politischer Geschichte w u r d e denn auch schon vor Ende des J a h r h u n d e r t s d u r c h eine Einbeziehung der Kirchcngeschichte in die n u n p r o f a n h i s t o r i s c h konzipierte Universalgeschichte R e c h n u n g getrag e n . 4 Welche tiefgreifenden Ä n d e r u n g e n des Bezugsrahmens d a m i t für die Kirchengeschichte v e r b u n d e n w a r e n , läßt schon die A b w e n d u n g von der danielischen V i e r m o n a r chienlehre und der d a m i t v e r b u n d e n e n A u f f a s s u n g der Menschheitsgeschichte als Verfallsgeschichte e r k e n n e n , die bereits Bodin g e f o r d e r t h a t t e . Die z u n e h m e n d e n Zweifel an den Z e i t a n g a b e n des Alten T e s t a m e n t s und der d a r a u f gegründeten C h r o n o l o g i e n „seit S c h ö p f u n g der W e l t " f ü r die vorchristliche Geschichte f ü h r t e n zur Preisgabe dieser Zeit-
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rechnung zugunsten des das Schöpfungsdatum offen lassenden Rückwärtszählens „vor Christi Geburt". Die in -»Leiden durch Philipp Clüver und Georg Hornius entwickelte historische Geographie, die auch Amerika und Asien einbezog, schuf eine neue Grundlage für die Geschichtsdarstellung. Hornius eilte seiner Zeit voraus, indem er der Universalgeschichte die Aufgabe stellte, die „Wiederherstellung des ursprünglichen menschheitlichen Zusammenhangs aufzuzeigen". 5 Daß dieser Zusammenhang ein ursprünglicher sei, wurde allerdings schon 1655 fraglich durch Isaac de La Peyreres damals viel diskutierte Präadamitenthese, derzufolge die in den neuentdeckten Ländern und Kontinenten vorgefundenen Menschen nicht von dem Adam der Bibel abstammen konnten. Dadurch wurde die neue Perspektive einer Pluralität von kulturgeschichtlichen Entwicklungslinien der Menschheit indessen noch erweitert. Als -»Voltaire 1756 gegen die einlinige Sicht der Geschichte in der traditionellen christlichen Geschichtstheologie und im Gegenzug zu -»Bossuets Discours sur l'Histoire Universelle von 1681 diese Pluralität der Kulturen geltend machte, holte er für das katholische Frankreich eine Perspektivenänderung nach, die sich in Holland schon ein Jahrhundert zuvor angebahnt hatte. 6 Die damit verbundene Erweiterung und Neuorientierung des historischen Bewußtseins, zu der noch das von der mechanischen -» Naturwissenschaft ausgehende Wissen von der Regelhaftigkeit des natürlichen Geschehens hinzukam, ließ ein neues Geschichtsbild entstehen, in das nun auch die biblische Geschichte zunehmend eingeordnet wurde. Die Tragweite dieses Sachverhalts kündigte sich in -»Spinozas politisch-theologischem Traktat 1670 und in der deistischen Wunderkritik der ersten Jahrzehnte des 18. Jh. an und wurde in einer Reihe von Schüben bis hin zur religionsgeschichtlichen Schule des späten 19. und frühen 20. Jh. weiterentfaltet. Die Geschichte der historisch-kritischen Exegese (-»BibelWissenschaft 1/2, -»Schriftauslegung) der biblischen Schriften in der Theologie läßt sich als Geschichte der Einordnung der Schriftauslegung in die Geschichtsauffassung der Neuzeit lesen, deren Prinzipien ihren Niederschlag fanden im historischen Methodenbewußtsein. 2. Herausforderungen
des modernen
historischen
Bewußtseins
für die
Theologie
Die von der Profangeschichte ausgehende Veränderung der Geschichtsauffassung 7 brachte für die christliche Theologie tiefgehende Veränderungen und Verunsicherungen im Verhältnis zu den Ursprüngen der christlichen Überlieferung mit sich. Diese Konsequenzen waren für das Christentum besonders einschneidend, weil sein Ursprung in der Geschichte Jesu von Nazareth zugleich den zentralen Inhalt der christlichen Verkündigung und des christlichen Glaubens bildet. 2.1. Die erste Folge des neuen Geschichtsbildes war die zunehmende Infragestellung der Historizität vieler biblischer Tatsachenbehauptungen, insbesondere der von der biblischen Überlieferung behaupteten -»Wunder. Dagegen setzte sich der Grundsatz durch, die Gleichartigkeit von Begebenheiten der Vergangenheit mit gegenwärtig zu beobachtenden Erscheinungen und ihren Regeln zu unterstellen. Damit ergab sich die Notwendigkeit, das Zustandekommen der in den biblischen Texten vorliegenden andersartigen Auffassungen zu erklären. 2.2. Indem biblische Geschichte und Kirchengeschichte nicht mehr als göttliche, sondern nur noch als menschliche Geschichte aufgefaßt wurden, rückten die Verschiedenheiten und Gegensätze der individuellen Auffassungen und Vorstellungen der biblischen Schriftsteller in den Vordergrund des Interesses. 2.3. Die mit einem aufgeklärten Weltverständnis nicht zu vereinbarenden Vorstellungen der biblischen Texte, besonders im Bereich der —»Eschatologie, dann aber auch des urchristlichen Dämonenglaubens und später auch der biblischen -»Urgeschichte, wurden einer mythischen, für die Gegenwart wie auch für eine realistische Darstellung der Geschichte unverbindlichen Weltauffassung der „Kindheit des Menschengeschlechts" zugeschrieben. 2.4. Um so schärfer mußte sich das Problem des Abstandes der Gegenwart von den
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christlichen Ursprüngen stellen. Nachdem die Vorstellung von der unveränderten Identität der wahren Kirche mit den apostolischen Anfängen zerbrochen war (J.S. ->Semler), suchte man einen Zusammenhang durch den Entwicklungsgedanken herzustellen (J. Chr. ->Baur), dann wieder durch den Gesichtspunkt der reformatorischen Wiederentdeckung nicht nur der paulinischen Rechtfertigungslehre, sondern auch der Reichgottesbotschaft Jesu (A. -»-Ritschl und A. v. -»-Harnack). Solange das Gottesreich der Botschaft Jesu moralisch gedeutet wurde - häufig in Abhebung von der Christologie des Paulus - konnten solche Bemühungen als aussichtsreich erscheinen. Der Nachweis der apokalyptischen Verwurzelung der Botschaft Jesu und ihres Zusammenhangs mit seiner eschatologischen Naherwartung (J. Weiß 1892) verlangte nach radikaleren Lösungen, wie sie insbesondere R. -»Bultmann mit der Verbindung von Entmythologisierung und existentialer Interpretation des Evangeliums entwickelte, um wenigstens das Selbstverständnis des urchristlichen Kerygma noch als eine gegenwärtige Möglichkeit festzuhalten unter Verzicht auf alles, was mit dem Weltverständnis des Urchristentums zusammenhing. 3. Reaktionen
der
Theologie
Die christliche Theologie kann den Boden der Geschichtswirklichkeit nicht ohne Preisgabe ihrer eigenen Identität räumen und den Monopolansprüchen einer theologisch neutralen Geschichtsauffassung überlassen. Die Bindung des christlichen Glaubens an die Gestalt und Geschichte Jesu {—>Jesus Christus) verwehrt der Theologie das bequeme Ausweichen vor der Auseinandersetzung um die Eigenart geschichtlicher Wirklichkeit und um den Sinn des Zusammenhangs zwischen der jeweiligen Gegenwart und dem historischen Jesus. Aber auch die fundamentale Bedeutung des Geschichtsthemas für das Gottesverhältnis Israels, wie es in den Schriften des Alten Testaments zum Ausdruck gekommen ist und noch das Bewußtsein der Urchristenheit und der frühen Kirche bestimmt hat, läßt es nicht zu, das Geschichtsthema zu verdrängen, solange man sich um eine den Zeugnissen der Bibel verpflichtete Theologie bemüht. Deshalb war die christliche Theologie in der -»Neuzeit immer wieder bestrebt, die gänzlich den profanhistorischen Methoden zugefallene Kompetenz für Entscheidungen in der Frage nach dem geschichtlich Wirklichen für die Theologie zurückzugewinnen. Dabei sind drei Wege immer wieder begangen worden: die Rekonstruktion der biblischen Geschichtstheologie als Heilsgeschichte, die Ergänzung des historisch Faktischen durch eine spezifische Glaubensinterpretation und schließlich die Auslegung der eschatologischen Botschaft des Christentums als Ende der Geschichte. 3.1. Die heilsgeschichtliche Theologie. Der Weg des heilsgeschichtlichen Denkens, das aus der biblischen Theologie der Frühaufklärung (zunächst im Gegensatz zum kirchlichen Lehrsystem des Altprotestantismus) erwachsen war und auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, bei Joh. Tob. -»Beck und Joh. Chr. v. —»Hofmann, die geschichtlichen Überlieferungen der Bibel zum Gesamtbild einer von der Dynamik des göttlichen Geistes vorangetriebenen Entwicklungsgeschichte der Offenbarung zusammenfaßte, deren einzelne Phasen jeweils als Vorandeutung und Weissagung auf künftige Erfüllungen vorausweisen, konnte sich gegenüber der von der Profangeschichte ausgehenden Geschichtsauffassung nicht durchsetzen. Zwar sind die heilsgeschichtlich denkenden Theologen der Ausscheidung der Gottesbeziehung aus dem profanhistorischen Geschichtsverständnis und ihren Folgen, so besonders der prinzipiellen Ablehnung des Wunders, mit durchaus erwägenswerten Argumenten entgegengetreten. Sie sind auch keineswegs auf einem bloßen Autoritätsstandpunkt im Sinne der alten Inspirationslehre stehen geblieben, sondern haben auf ihre Weise durchaus die Menschlichkeit der Offenbarung und der Heilsgeschichte zu denken versucht. So konnte J . T . Beck den göttlichen Geist als „das dynamische Organisationsprinzip, das der Welt immanent" sei und in ihr „nach ethischen und pädagogischen Gesetzen" tätig ist, bezeichnen (Vorlesungen über Christliche Glaubenslehre, hg. v. I. Lindenmeyer, Gütersloh, I 1886, 398 f). Diese Anschauung teilte auch
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H o f m a n n . Mit August G o t t r e u - > T h o l u c k k o n n t e er sagen: „Israel in allen seinen Institutionen und in seiner Geschichte sei eine Weissagung auf die Z u k u n f t , und w o die einzelnen Propheten weissagen, da h a b e der weissagende Geist, der in der Substanz des Volkes lebt, sich selbst z u s a m m e n g e f a ß t " (Weissagung u n d Erfüllung, I 1841,7). Dabei galt ihm u m g e k e h r t das Zeugnis des hl. Geistes bei den Christen als „eine G o t t e s o f f e n b a r u n g , welche das Endergebnis der Geschichte in einem vorläufigen Abschlüsse derselben k u n d t h u t " (ebd. 33). M i t einer solchen Sicht der Dinge w u ß t e n sich die T h e o l o g e n der Heilsgeschichte den R e k o n s t r u k t i o n e n der biblischen Geschichte d u r c h die kritische Theologie nicht o h n e G r u n d überlegen. Sie w e h r t e n sich gegen den R e d u k t i o n i s m u s einer nur an p r o f a n e n M a ß s t ä b e n orientierten Darstellung der Geschichte. Der Fehler beim „ U n g l a u b e n gegenüber den O f f e n b a r u n g s w u n d e r n " besteht nach Beck darin, d a ß er „ s c h o n im ordentlichen N a t u r l a u f und Geschichtsverlauf mit dem Göttlichen nicht Ernst m a c h t , d a ß er das N a türliche und Göttliche als zwei einander ausschließende Gegensätze b e h a n d e l t " (Vorlesungen über Christliche Glaubenslehre 1,307 f). Freilich h a t die Theologie der Heilsgeschichte die Wirklichkeit des „ G ö t t l i c h e n " ebenso d o g m a t i s c h behauptet wie sie bei der profanhistorisch orientierten „ k r i t i s c h e n " R e k o n s t r u k t i o n der Geschichte ausgeschlossen w u r d e , so d a ß statt von göttlichem W i r k e n n u r noch vom G l a u b e n der Menschen die Rede sein k o n n t e . Bei der Behandlung religiöser Entwicklungen m a g d e n n o c h der theologischen Interpretation die größere Sachgerechtigkeit z u k o m m e n . Die entscheidende Schwäche der heilsgeschichtlichen Theologie w a r es aber, d a ß sie die Prinzipien und Resultate der neuzeitlichen historischen Kritik der biblischen Schriften auch da, w o diese nicht n u r auf einem methodischen Atheismus b e r u h t e n , nicht in sich a u f z u n e h m e n vermochte. H i n t e r die Argumente, die die biblische Z e i t r e c h n u n g und Geographie zu Fall gebracht h a t t e n , k o n n t e n auch die Heilsgeschichtler nicht zurückgehen. Ebensowenig h a b e n sie die Beobachtungen innerer S p a n n u n g e n in den biblischen Texten e n t k r ä f t e t , die zur Entwicklung der biblischen Literarkritik g e f ü h r t haben und zum R ü c k g a n g auf ein hypothetisch rekonstruiertes Geschehen hinter den Texten. Die heilsgeschichtliche T h e o logie meinte, von der Pneumatologie her die Schriftautorität in neuer Interpretation pauschal wiederherstellen zu k ö n n e n , o h n e ihrerseits eine Sachkritik an den biblischen Texten und ihren Aussagen entwickeln zu müssen, die den A r g u m e n t e n der kritischen T h e o logie R e c h n u n g getragen hätte. D a s Ergebnis w a r , d a ß die heilsgeschichtliche Sicht der Geschichte neben deren kritische R e k o n s t r u k t i o n t r a t , o h n e diese in sich a u f h e b e n zu k ö n n e n . Das gilt noch f ü r die heilsgeschichtlichen Konzepte des 20. J a h r h u n d e r t s , zu denen mit Karl G e r h a r d Steck (LThK 5,157) ab etwa 1938 auch die Theologie K. - » B a r t h s zu zählen ist. 8 Indem Barth die göttliche Bundesgeschichte d e m neuzeitlichen Geschichtsbegriff n u r entgegenstellte, o h n e diesem d a s R e c h t seiner kritischen F u n k t i o n auch im Hinblick auf die Schriftauslegung e i n z u r ä u m e n , h a t er den D u a l i s m u s im Geschichtsbegriff, dessen er sich als G e f a h r der heilsgeschichtlichen T h e o l o g i e sehr w o h l b e w u ß t w a r (KD I I I / l , 6 3 f ) , den aber a u c h die älteren heilsgeschichtlichen T h e o l o g e n nicht beabsichtigt h a t t e n , effektiv e r n e u e r t . M i t diesem methodischen u n d inhaltlichen D u a l i s m u s a b e r , der a u c h in der Spätgestalt heilsgeschichtlicher T h e o l o g i e bei O s c a r C u l l m a n n nicht ü b e r w u n d e n w u r d e und den G e r h a r d v. R a d s b e h u t s a m e u n d differenzierte Darstellung der alttestamentlichen Geschichtstheologie als A p o r i e offen eingestand (Theologie des AT, I 1957, 1 1 1 - 1 2 0 , vgl. „ R ü c k b l i c k und A u s b l i c k " zur 4. Aufl. 1965, 442ff), m u ß die K o n z e p t i o n einer heilsgeschichtlichen T h e o l o g i e unvermeidlich scheitern. W e n n m a n n ä m l i c h dazu gelangt, „einen b e s t i m m t e n Bereich der Geschichte auszugrenzen aus aller übrigen Geschichte als eine Geschichte von ontologisch absoluter B e s o n d e r h e i t " , d a n n ist m a n f a k t i s c h schon „ d e r Botschaft von der O f f e n b a r u n g G o t t e s in der Geschichte a u s g e w i c h e n " ( G e r h a r d Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche u n d ihrer V e r k ü n d i g u n g als theologisches P r o b l e m , 1954,60).
3.2. Glaube als Deutung von Geschichte. Was die heilsgeschichtliche Theologie tatsächlich hervorbrachte, w a r eine aus dem Glauben erwachsene, aber auch n u r f ü r den schon G l a u b e n d e n relevante D e u t u n g der Geschichte. Es ist daher nicht verwunderlich,
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daß das Verhältnis von —»Glaube und Geschichte immer wieder unter den Gesichtspunkt der Differenz und Beziehung von Ereignis und Deutung gerückt worden ist. Schon die Unterscheidung A. Ritschis und seiner Schule zwischen Seinsurteil und Werturteil gehört hierher, ebenso wie die Wendung, die die Diskussion über das Verhältnis von Manifestation und Inspiration im Offenbarungsgeschehen zumindest in ihren späteren Phasen 9 genommen hat. In Auseinandersetzung mit Bultmann und seiner Schule hat Paul -»Althaus dann darauf insistiert, daß die vom Kerygma verkündete „Heilsbedeutung" die „Tatsachen" der Geschichte Jesu voraussetze, obwohl gelte: „Gottes Handeln als solches in dem Historisch-Geschehenen läßt sich nicht ausweisen. Es wird nur im Glauben erk a n n t " (Das sog. Kerygma und der historische Jesus, 1958,18f). 1 0 Sogar in die Spätphase der heilsgeschichtlichen Theologie bei Oscar Cullmann hat die Unterscheidung von Ereignis und „Glaubensdeutung" Eingang gefunden, obwohl die älteren heilsgeschichtlichen Entwürfe gerade eine theologisch neutrale Auffassung geschichtlicher Tatsachen abgelehnt hatten. 1 1 Der Vorzug dieser Darstellung des Verhältnisses von Glaube und Geschichte liegt darin, daß sie im Unterschied zur heilsgeschichtlichen Theologie das im Sinne des profanhistorischen Positivismus (und damit auch der historischen Kritik) Historisch-Tatsächliche positiv auf das Glaubensverständnis beziehen und trotzdem dessen Eigenart festhalten kann. So scheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Eine genauere Betrachtung ergibt, daß einerseits der Profanhistoriker nie nur Tatsachen feststellt, so daß deren Deutung dabei noch offen bliebe. Die kritische Arbeit des Historikers ist vielmehr immer schon von einem Gegenwartsinteresse geleitet, das nicht nur die Interpretation der Fakten, sondern auch die Auswahl des für die Rekonstruktion des jeweils thematischen Hergangs relevanten Tatsachenmaterials selber mitbestimmt. Auf der anderen Seite verstanden sich die geschichtstheologischen Aussagen der biblischen Überlieferungen nicht als zu neutral feststellbaren Fakten hinzutretende Interpretationen, sondern als Namhaftmachung des Geschehens selber. Die Differenz wird da unübersehbar, wo die biblischen Überlieferungen Fakten behaupten, die das moderne profane Geschichtsbewußtsein schon der Art nach nicht als mögliche Tatsachen zuläßt. Das zentrale Beispiel dafür ist die urchristliche Nachricht von der -»Auferstehung Jesu. Hier wird der Konflikt zwischen der profanen Geschichtsauffassung der Moderne und dem urchristlichen Geschichtsbewußtsein eklatant. Spätestens hier zeigt sich denn auch, daß der profanhistorische Begriff der Tatsache und die als deren „Deutung" deklarierten biblischen Geschichtstheologien so heterogen sind, daß sie sich nicht zum Ganzen einer einheitlichen Auffassung geschichtlicher Wirklichkeit fügen. Albrecht Ritsehl und Martin Kähler haben Fakten und Deutung der Geschichte Jesu durch den Gesichtspunkt der Wirkungsgeschichte zu verbinden gesucht. Dabei trennten sich ihre Auffassungen bezeichnenderweise gerade im Hinblick auf die Einordnung der apostolischen Osterbotschaft und Christologie. Doch zunächst soll der gemeinsame Ansatz beider Konzeptionen in den Blick genommen werden. Als „Urheber der vollendeten geistigen und sittlichen Religion" kann man Jesus nach Ritsehl nur dann vollständig verstehen, wenn man sich selber als Glied seiner Gemeinde ihm unterordnet: „Den vollen Umfang seiner geschichtlichen Wirklichkeit kann man nur aus dem Glauben der christlichen Gemeinde an ihn erreichen" (Rechtfertigung und Versöhnung III [1874] 2. Aufl. 1883,3). Nur so nämlich erkennt man ihn als den Urheber der Rechtfertigung und Versöhnung des Menschen. Auf denselben Sachverhalt zielt Kählers Begründung für seine Unterscheidung und Zuordnung von Geschichte und Übergeschichte. Der christliche Glaube ist nach Kähler „nicht zu trennen von der einfachen verständigen Auffassung geschichtlicher Kunde, und hat an dieser das Prüfmittel seiner Sachlichkeit" (Wissenschaft der christlichen Lehre [1883], 2. Aufl. 1893, § 16). Das Christentum wäre „eines unberechtigten Anspruches überführt, wenn das Geschichtliche an ihm als das Gleichgiltige anzusehen wäre" (ebd. § 12). Aber es geht doch nicht in dieser seiner geschichtlichen Erscheinung auf: „In dem
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G e h a l t e dieser Geschichte bietet sich . . . ein bleibender allgemeingiltiger G e h a l t " . Und den „lebendigen Z u s a m m e n s c h l u ß des Bleibend-Allgemeingiltigen und des Geschichtlichen in einem W i r k s a m - G e g e n w ä r t i g e n " n e n n t Kahler das Übergeschichtliche (§ 13). Die A n w e n d u n g dieses G e d a n k e n s hat er in seinem einflußreichen Vortrag von 1892 zur Kritik an der -> Leben-Jesu-Forschung gegeben: „ W a s ist denn eigentlich eine geschichtliche G r ö ß e ? ein seine N a c h w e l t m i t b e s t i m m e n d e r M e n s c h , nach seinem Wert f ü r die Geschichte gewogen? Eben der Urheber und Träger seiner bleibenden F o r t w i r k u n g " . Die „persönliche W i r k u n g " aber, die Jesus „ h i n t e r l a s s e n " hat, ist „keine andere als der G l a u b e seiner Jünger, die Überzeugung, d a ß m a n an ihm den Überwinder von Schuld, Sünde, Versucher und Tod h a b e " (Der sog. historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus, 1892,19). D a h e r ist der w a h r h a f t „geschichtliche C h r i s t u s " f ü r Kahler der C h r i s t u s der Bibel, der Christus der apostolischen Verkündigung und nicht ein hinter den biblischen Zeugnissen erschlossener historischer Jesus (ebd. 21). Kähler spricht in dieser Schrift terminologisch nicht vom „Übergeschichtlichen", sondern vom „ w a h r h a f t Geschichtlichen" ( a . a . O . 19). 1 2 D a d u r c h tritt die wirkungsgeschichtliche Konzeption hier noch eindrucksvoller hervor. Ihre A n z i e h u n g s k r a f t beruht vor allem d a r a u f , d a ß sie den G l a u b e n von den Unsicherheiten historischer R e k o n s t r u k t i o n e n zu befreien versprach. D a r ü b e r hinaus zeichnet sie sich aber d a d u r c h aus, d a ß sie mit der in der historischen Theoriediskussion z u n e h m e n d e n Beachtung der Bedeutung des Gegenwartsbezuges f ü r das Verfahren der historischen R e k o n s t r u k t i o n konvergierte. Insofern hätte sie allerdings nicht in Gegensatz zur Frage nach dem historischen Jesus zu treten brauchen, s o n d e r n die J e s u s f o r s c h u n g auf ein methodisch differenzierteres Niveau heben k ö n n e n . Der Gegensatz zur historischen R e k o n s t r u k t i o n folgt nicht aus der wirkungsgeschichtlichen Reflexion Kählers, sondern erst aus seiner A n n a h m e , d a ß die wirkungsgeschichtliche Einsicht keinen kritischen U m g a n g mit der Überlieferung zulasse. Dagegen hat sich Wilhelm —•Herrmann mit Recht gewehrt (Der geschichtliche Christus der G r u n d unseres Glaubens: Z T h K 2 [1892] 2 3 2 - 2 7 3 , bes. 252f). Die neutestamentliche Verkündigung k a n n uns „allein nicht gegen den Zweifel schützen, d a ß wir unseren G l a u b e n auf etwas g r ü n d e n wollen, w a s vielleicht gar nicht geschichtliche Tatsache, sondern Erzeugnis des G l a u b e n s ist" (253). Brach d a m i t der Gegensatz zwischen Ereignis u n d D e u t u n g wieder auf? H e r r m a n n wollte d a s nicht. Er teilte die wirkungsgeschichtliche Betrachtungsweise, die Ritsehl und Kähler g e m e i n s a m w a r . Aber er wollte sie mit Ritsehl auf das ethische W i r k e n Jesu eingeschränkt wissen und die christologischen Vorstellungen des N e u e n Testaments, angefangen schon mit der Botschaft von Jesu A u f e r w e c k u n g , als A u s d r u c k s f o r m ( „ I n h a l t " ) des G l a u b e n s von jenem „ G l a u b e n s g r u n d " in Jesus selber unterschieden wissen (263). Allerdings erwies der F o r t g a n g der neutestamentlichen Forschung, d a ß H e r r m a n n s „Bild des inneren Lebens Jesu", nämlich seiner „sittlichen Persönlichkeit", selber unhistorisch war. D e n n o c h hielt H e r r m a n n an diesem „Bild des inneren Lebens J e s u " auch späterhin fest und n a h m d a m i t eine neue Spaltung zwischen G l a u b e n s b e w u ß t s e i n und Historie in K a u f . 1 3 Im Ergebnis brach also der wirkungsgeschichtliche Z u s a m m e n h a n g von Ereignis und D e u t u n g auseinander. D a s w a r unvermeidlich, weil m a n eine bestimmte D e u t u n g sei es im Sinne des „ganzen, biblischen C h r i s t u s " , sei es im Sinne des H e r r m a n n s c h e n Ethizismus — als allein sachgerecht festhalten wollte, statt zu sehen, d a ß sich d e r wirkungsgeschichtliche Z u s a m m e n h a n g von Ereignis und G e g e n w a r t s b e d e u t u n g in jeder neuen historischen R e k o n s t r u k t i o n in modifizierter Gestalt wieder herstellt. D a s Auseina n d e r b r e c h e n von G l a u b e und Geschichte (Historie) im D e n k w e g H e r r m a n n s aber f ü h r t e d a z u , d a ß H e r r m a n n s bedeutendste Schüler - Rudolf B u l t m a n n und der f r ü h e Karl Barth - dieses Resultat w i e d e r u m zur T h e s e e r h o b e n . Sie trafen sich dabei mit dem Troeltschschüler Friedrich - > G o g a r t e n , der sich durch den H i s t o r i s m u s Ernst —»Troeltschs vor die Alternative gestellt sah, entweder auf den A b s o l u t h e i t s a n s p r u c h der biblischen O f f e n b a r u n g zu verzichten oder ihre Absolutheit im Gegensatz zu aller historischen Relativität „als ein G r u n d a n d e r e s , G r u n d n e u e s in der G e s c h i c h t e " zu b e h a u p t e n , von d e m freilich
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besser zu sagen wäre, „es breche gegen die Geschichte und trotz ihres Fortgangs" in ihr an. 1 4 3.3. Offenbarung als Ende der Geschichte und selber Geschichte. Karl Barths Kommentar zum Römerbrief von 1922 sah das Verhältnis der Offenbarung Gottes zur Geschichte im Zeichen des Gegensatzes der Ewigkeit zur -»Zeit. „Das Gericht Gottes ist das Ende der Geschichte. Ein Tröpfchen Ewigkeit hat mehr Gewicht als das ganze Meer der der Zeit unterworfenen Dinge" (51). Das göttliche Nein im Gericht der Ewigkeit enthält nach Barth zwar auch ein Ja, aber nicht im Sinne „einer neuen zweiten Geschichte. Die Geschichte ist erledigt, sie wird nicht fortgesetzt" (ebd.). „Jesus als der Christus . . . ist das Ende der Zeit". In ihm schneidet zwar die Welt Gottes die Ebene dieser unserer Welt und Zeit, aber der Schnittpunkt hat „gar keine Ausdehnung auf der uns bekannten Ebene" (5). Die wahre Bedeutung Jesu ist „gerade historisch nicht zu bestimmen". Für Barth bedeutete das auch die Befreiung von den Fesseln historisch-kritischer Exegese. An diesem Punkt bestand von Anfang an eine Differenz zu Rudolf Bultmann. Aus der mit Barth gemeinsamen Auffassung, „daß Gottes Anderssein, Gottes Jenseitigkeit die Durchstreichung des ganzen Menschen, seiner ganzen Geschichte bedeutet" (Glauben und Verstehen 1,1934,13), zog Bultmann vielmehr die Konsequenz der uneingeschränkten Profanität der historischen Forschung. 1 5 Anders als Barth hat Bultmann auch in seinen späteren Äußerungen noch an der negativen Verhältnisbestimmung des Christusgeschehens zur Geschichte festgehalten. Dabei wirkte sich allerdings stärker der Gesichtspunkt des in Christus gegenwärtigen Eschaton als Ende der Geschichte aus. 1 6 „Christus, der das Ende des Gesetzes ist, ist gleichzeitig das Ende der Geschichte". Die Geschichte ist „in der Eschatologie untergegangen", und diese ist daher „nicht mehr das Ziel der Geschichte, sondern nur Ziel des individuellen menschlichen Seins" (Glauben und Verstehen III, 1960, 102). Nur im Hinblick auf den einzelnen Menschen, als Freisetzung seiner Geschichtlichkeit, behält die Eschatologie eine positive Bedeutung. Denn für den einzelnen Menschen kann die Ewigkeit „doch immer nur Z u k u n f t sein" (1,80). In ihr gründet die Geschichtlichkeit der Freiheit, sich von der Vergangenheit zu lösen und „in die Zukunft zu leben" (11,57). Dieser Gedanke steht im Zentrum auch der späten Beiträge Friedrich Gogartens zum Begriff der Geschichte. 1 7 Gogarten zog es allerdings vor, von Geschichte und nicht nur von Geschichtlichkeit zu sprechen. Er konnte daher gegen Karl Löwith (aber scheinbar auch im Gegensatz zu Bultmann) die Kennzeichnung des Auftretens Jesu als „Anfang des Endes der Geschichte" bestreiten und solche Formulierungen in die Nähe des gnostischen Dualismus verweisen (Das abendländische Geschichtsdenken: Z T h K 51 [1954] 338). Es gehe nicht um eine Erlösung von der Geschichte, sondern um „Erlösung zur Geschichte" (ebd.). Diese aber ist nach Gogarten von der „Zukünftigkeit Gottes" her zu verstehen, die Jesus verkündigt habe und aus der heraus Gott „mit dem Menschengeschlecht handelt" (Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1952, 424-482.441.443). Der im biblischen Sinne geschichtliche Mensch ist „nicht vor allem der die Zukunft planend Vorwegnehmende, sondern in scharfem Gegensatz zu diesem der sich der Zukunft im ursprünglichen Sinne des Wortes als dem Zukommenden vorbehaltlos aussetzende" (442). Der negative Sinn dieser Zukünftigkeit Gottes ist freilich auch nach Gogarten, „daß sie das Ende ,dieser' Welt und ihrer ,Geschichte' ist" (ZThK 51 [1954] 345). Aber andererseits gründet in ihr die Verantwortung für die Welt und auch für die Geschichte „als Ganzes" (351), die dem Menschen übertragen ist. Wie bei Bultmann hat nun auch bei Gogarten der Gesichtspunkt der Zukünftigkeit Gottes die -•Säkularisierung der Geschichte zur Folge und ist geradezu das „kritische Prinzip" ihrer Säkularität (Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1952, 453), im Gegensatz zur Vorwegnahme der Zukunft in den Deutungen der Geschichtsphilosophie, aber auch der christlichen Theologien der Heilsgeschichte (ebd. 455ff. 464f). M a ß t sich nämlich „der Mensch ein solches Wissen an, dann hört Gott für ihn auf, der Zu-künftige, und das heißt, Gott zu sein, und damit verlöre die Geschichte ihre Geschichtlichkeit" (ZThK 51 [1954] 329). Gogarten gelangt also vom Gedanken der Zukünftigkeit Gottes aus
G e s c h i c h t e / G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g / G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e VIII
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auch ohne Bultmanns Behauptung vom Ende der Geschichte durch Christus zu ähnlichen Konsequenzen. Dabei versucht er anders als Bultmann, die Einheit der Geschichte als in Gottes Zukünftigkeit begründet festzuhalten (ebd. 331). Aber wie soll die Einheit der Geschichte gedacht werden, wenn nicht durch geschichtsphilosophische Vorwegnahme? Nach Gogarten ist der Mensch durch die Zukünftigkeit Gottes zur Verantwortung für die Welt und damit auch für die Geschichte berufen 1 8 , sofern die Welt nämlich durch das Christentum zur geschichtlichen Welt geworden ist. Dabei ist ein Begriff von Welt und Geschichte immer schon vorausgesetzt, der der Explikation bedarf. Das Ganze der Welt und ihrer Geschichte zu thematisieren, dürfte für die Wahrnehmung der von Gogarten beschriebenen Verantwortung für die Welt als ganze unerläßlich sein, wenn anders damit ein „Verhältnis des Menschen zu diesem Ganzen der Welt" gegeben ist (Jesus Christus Wende der Welt, 1966, 137). Gogarten gesteht denn auch dem neuzeitlichen Geschichtsdenken zu, daß das Teilhafte im Weltgeschehen immer schon „den Begriff der ganzen Welt und der Ganzheit ihres Geschehens" impliziert und voraussetzt 135 f). Ohne diesen Begriff des Ganzen „gäbe es überhaupt nicht Geschichtein dem Sinn, in dem das neuzeitliche Geschichtsdenken ihn versteht" (ebd.). Heißt das nicht, daß die von Gogarten perhorreszierte Geschichtsphilosophie unveräußerlich zu diesem Geschichtsdenken gehört? Es verschlägt demgegenüber wenig, wenn Gogarten darauf besteht, daß die historische Vernunft „zwar den Begriff des Ganzen der Geschichte zu denken vermag und ihn denken muß", daß sie aber dieses Ganze nicht „erkennen" könne (136). So weitgehende Ansprüche sind nämlich auch von der Geschichtsphilosophie selten erhoben worden. Für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Geschichtsphilosophie genügt die Möglichkeit und Notwendigkeit, das Ganze der Geschichte zu denken; denn angesichts der Unabgeschlossenheit der Geschichte kann von einem definitiven „Erkennen" ohnehin nicht die Rede sein. G o g a r t e n selbst h a t d e n n auch T h e s e n ü b e r d e n U r s p r u n g des G e s c h i c h t s b e w u ß t s e i n s im christlichen G l a u b e n u n d über die r e f o r m a t o r i s c h e —>Zweireichelehre als A u s g a n g s p u n k t d e r s ä k u l a r e n K u l t u r d e r N e u z e i t aufgestellt, T h e s e n , d i e n u r als „ein Stück christlicher G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e " c h a r a k t e r i s i e r t w e r d e n k ö n n e n (H. Fischer, Christlicher G l a u b e u n d G e s c h i c h t e , 1967,123). Diese T h e s e n , m i t d e n e n G o g a r t e n auf seine Weise die F r a g e s t e l l u n g e n v o n —>Dilthey u n d T r o e l t s c h w e i t e r g e f ü h r t h a t , sind f ü r seine T h e o l o g i e k e i n e s w e g s e n t b e h r l i c h . Sie vermitteln n ä m l i c h bei G o g a r t e n die K o n t i n u i t ä t des neuzeitlichen C h r i s t e n t u m s mit d e n christlichen U r s p r ü n g e n u n d e r f ü l l e n d a m i t eine ä h n l i c h e F u n k t i o n , wie sie bei B u l t m a n n d e m E n t m y t h o l o g i s i e r u n g s p r o g r a m m u n d d e r existentialen I n t e r p r e t a t i o n zufiel. D a ß G o g a r t e n die Ü b e r s e t z u n g a u s d e m D a m a l s ins H e u t e nicht n u r als A u f g a b e einer h e r m e n e u t i s c h e n T e c h n i k , s o n d e r n als T h e m a d e r G e s c h i c h t e des C h r i s t e n t u m s selbst u n d als d u r c h V e r m i t t l u n g dieser G e s c h i c h t e t a t s ä c h l i c h v o l l b r a c h t b e s c h r i e b , d a s bildet t r o t z aller gegen die D u r c h f ü h r u n g seiner K o n z e p t i o n zu e r h e b e n d e n E i n w ä n d e ein e i g e n t ü m l i c h e s Verdienst seiner t h e o l o g i s c h e n Arbeit, einen w i c h t i g e n F o r t s c h r i t t g e g e n ü b e r Kählers K o n z e p t einer W i r k u n g s g e s c h i c h t e C h r i s t i in d e r a p o s t o l i schen B o t s c h a f t . Die k o n k r e t e V e r m i t t l u n g s g e s c h i c h t e dieser B o t s c h a f t in der G e s c h i c h t e des C h r i s t e n t u m s w a r bei K ä h l e r in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht b e r ü c k s i c h t i g t w o r d e n . H i e r liegt d a s b l e i b e n d e Verdienst v o n G o g a r t e n s R e k o n s t r u k t i o n s v e r s u c h e n . Allerdings h ä t t e G o g a r t e n v o n seinem theologischen S e l b s t v e r s t ä n d n i s h e r eine solche Leistung eigentlich g a r n i c h t e r b r i n g e n d ü r f e n . E r h a t m i t dieser Seite seiner A r b e i t einen w i c h t i g e n A n s t o ß z u r E n t s t e h u n g d e r K o n z e p t i o n des B a n d e s Offenbarung als Geschichte (1961) g e g e b e n , die sich im G e g e n z u g zur d i a l e k t i s c h e n T h e o l o g i e u m d i e A u s a r b e i t u n g eines theologischen A n s a t z e s b e m ü h t e , in dessen R a h m e n die g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e (oder g e s c h i c h t s t h e o l o g i s c h e ) R e k o n s t r u k t i o n d e r V e r m i t t l u n g z w i s c h e n d e n U r s p r ü n g e n des C h r i s t e n t u m s u n d d e r christlichen G e g e n w a r t d u r c h den P r o z e ß d e r C h r i s t e n t u m s g e schichte sich nicht m e h r als G e n u ß einer v e r b o t e n e n F r u c h t , s o n d e r n als legitime u n d u n e r l ä ß l i c h e A u f g a b e d e r T h e o l o g i e darstellte, u n d z w a r u n t e r B e i b e h a l t u n g v o n G o g a r tens A b l e h n u n g jedes A u s w e i c h e n s in i r g e n d e i n e Ü b e r g e s c h i c h t e u n d u n t e r B e a c h t u n g d e r A u s f ü h r u n g e n G o g a r t e n s zur „ Z u k ü n f t i g k e i t " G o t t e s , n u n a b e r als A u s g a n g s p u n k t einer v o n der E s c h a t o l o g i e her e n t w o r f e n e n G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g , die u m dieses A u s g a n g s p u n k t e s willen stets i h r e eigene Vorläufigkeit m i t b e d e n k e n m u ß . Bei G o g a r t e n ist d a s Scheitern d e r dialektischen E n t g e g e n s e t z u n g d e r - » O f f e n b a r u n g z u r G e s c h i c h t e z w a r b e s o n d e r s d e u t l i c h , a b e r a u c h bei B a r t h u n d B u l t m a n n g e w a n n d i e
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Geschichtsthematik im Laufe der Zeit größere Bedeutung, als die starken Worte vom Ende der Geschichte vermuten ließen. Barth hatte schon 1922 Geschichte als abbildlichen „Hinweis" auf die unanschaulich bleibende Offenbarung gelten lassen. 1 9 Später wurde die Geschichte als Bundesgeschichte zum „Prädikat" der Offenbarung selber (KD 1/2,64). Während Barth damit zur Tradition heilsgeschichtlichen Denkens zurücklenkte, hielt Bultmann an der Profanität der Geschichte fest. Aber seine profane Exegese war doch immer schon mit dem Interesse theologischer Systematik verbunden. Obwohl seine Theologie das eigentlich nicht zuließ, hat Bultmann in seiner historischen Arbeit Zusammenhänge zwischen jüdischer Eschatologie, Verkündigung Jesu und apostolischem Kerygma formuliert, die keineswegs theologisch irrevelant waren. Das berühmteste und folgenreichste Beispiel für die historische Kontinuität zwischen Verkündigung Jesu und apostolischem Kerygma ist der Satz von 1929, daß in Jesu „Ruf zur Entscheidung angesichts seiner Person implizit eine Christologie enthalten" sei (Glauben und Verstehen, I 1934,174). Mochte es auch im gleichen Aufsatz heißen, es gebe „keinen Weg hinter die Predigt zurück zu einem von ihr ablösbaren Heilsfaktum" (ebd. 180), so hatte doch jener andere Satz den Rückgang hinter die apostolische Verkündigung auf Jesus selbst, nämlich auf Jesu „Predigt" vollzogen und die historische Kontinuität der apostolischen Botschaft mit Jesus selbst im Prinzip formuliert, die Bultmanns Schüler später als „neue Frage nach dem historischen Jesus" entfalten sollten. Ebenso hat Bultmann durch seine These vom Auftreten Jesu als Ende der Geschichte, weil die kommende Gottesherrschaft in ihm schon Gegenwart ist, den Nerv des historischen Zusammenhangs Jesu mit der jüdischen Apokalyptik und zugleich dessen Modifikation durch ihn formuliert. Man brauchte sich nur dessen zu vergewissern, daß die Gegenwart der Gottesherrschaft in Jesu Auftreten nicht ausschließt, sondern voraussetzt, daß ihr Kommen auch weiterhin zukünftig bleibt, um das von Bultmann gegen Cullmann so betont herausgestellte Ende der Geschichte im Auftreten Jesu als das vorweggenommene bzw. vorausereignete Ende der Geschichte zu verstehen und damit bei der zentralen These der geschichtstheologischen Interpretation der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung zu stehen, die in dem Band Offenbarung als Geschichte vorgetragen wurde, wonach Jesus gerade als Prolepse des Eschaton die Selbstoffenbarung Gottes als des Herrn der Welt und ihrer Geschichte ist. 4. Ökumenische
Erneuerung
der
Geschichtstheologie
Nicht nur in der deutschen evangelischen Theologie kam es in den sechziger Jahren zur Erneuerung einer Geschichtstheologie. Das Zweite Vatikanische Konzil (->Vatikanum II) hat in seiner Offenbarungskonstitution Dei Verbum eine seiner Zuwendung zur biblischen Sprache entsprechende heilsgeschichtliche Deutung des Offenbarungsbegriffs vorgetragen. Es spricht von der Offenbarungsgeschichte (revelationis oeconomia), die in enger Verbundenheit von göttlichen Taten und Worten (gestis verbisque intrinsece inter se connexis) geschehe, wobei die Worte das in den Werken Gottes enthaltene Mysterium (seines Heilsratschlusses) proklamieren und aufschließen (elucident: DV 2). Dem heilsgeschichtlichen Charakter dieser Aussagen entspricht es, daß die von Johannes Feiner und Magnus Löhrer herausgegebene, von 1965 — 1976 erschienene nachkonziliare katholische Dogmatik Mysterium Salutis im Untertitel als „Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik" bezeichnet wurde. Die Problematik heilsgeschichtlicher Theologie gegenüber der kritischen Geschichtsauffassung der neuzeitlichen Historie tritt in diesem Werk jedoch kaum in Erscheinung. Ein heilsgeschichtliches Konzept liegt auch der von der Studienabteilung des Weltkirchenrates (-»Ökumene/ökumenisch) und der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung entwickelten Studie über Gott in Natur und Geschichte (Bristol 1967) zugrunde, die Geiko Müller-Fahrenholz „ein geschichts-theologisches Summarium der ökumenischen Bewegung" genannt hat (Heilsgeschichte zwischen Ideologie und Prophetie, 1974, 51). Die Pointe dieses seit 1968 durch die Hinwendung des Weltkirchenrates zur Säkularökumene abgelösten Projekts, das besonders von dem englischen Theologen und
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Bischof William -»Temple inspiriert war und auf einem Entwurf des holländischen Dogmatikers Hendrik Berkhof beruhte 2 0 , bestand in der These, daß die biblische Auffassung der Menschheit als einer durch eine gemeinsame Zukunft im Reiche Gottes und eine gemeinsame Berufung zu dieser Zukunft begründeten Einheit sich in der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Tendenz auf eine Einheit der Menschheit hin realisiere, die besonders durch die Fortschritte der modernen —»Technik zu immer intensiverer Verflechtung der bisher voneinander getrennten Kulturen führe. Diese Entwicklung, die den Pluralismus der Kulturen in die Einheit einer gemeinsamen, wahrhaft universalen Geschichte integriere, sei angebahnt worden im Zeitalter der christlichen Weltmission und des -»Kolonialismus, habe aber inzwischen über den Partikularismus der westlichen Christenheit als einer besonderen „christlichen Kultur" hinausgeführt auf eine neue Einheit der Menschheit hin, die aber des christlichen Beitrags bedürfe, um zu gelingen. 21 Die Verfasser der Studie waren offenbar der Meinung, daß die ökumenische Bewegung die Kirchen dazu befähigen könne, diesem Beitrag zu dienen. Die aktuellen Aspekte der Studie gingen über die Konzepte der traditionellen heilsgeschichtlichen Theologie hinaus. Aber hinsichtlich seiner biblischen Grundlagen steht das Dokument in dieser Tradition. Die Perspektive des modernen, kritischen Geschichtsdenkens mit seiner bibelkritischen Tradition ist auch hier nicht in die heilsgeschichtliche Konzeption integriert worden. Ohne eine solche Integration jedoch bestehen die alten Aporien im Verhältnis von Glaube und Geschichte ungelöst weiter, die die Entwicklung der evangelischen Theologie seit der Aufklärung mitbestimmt haben. 5. Geschichtstheologie
und profanhistorische
Methodendiskussion
Eine grundsätzliche Verständigung über die durch die profangeschichtliche Geschichtsauffassung der -»Neuzeit für die Theologie aufgeworfenen Fragen kann schwerlich gelingen, solange die Theologie sich nicht intensiver als bisher an der in den letzten Jahrzehnten sehr lebendigen Theoriediskussion der Historiker beteiligt. Hier gibt es durchaus Ansatzpunkte für eine neue Erörterung des Verhältnisses von Geschichte und -»Religion. Schließlich war das Selbstverständnis der Profanhistorie auch als historia humana noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein religiös bestimmt (s. Abschn. VII/2.4.2), unbeschadet seiner Emanzipation von der christlichen Offenbarungsautorität. Erst mit dem Durchbruch des historischen -»Positivismus änderte sich das. Die gegenwärtigen Diskussionen zur Theorie der Historie sind aber durch die Reflexion auf den Historiker als Subjekt der Geschichtsschreibung über ein positivistisches Methodenbewußtsein hinausgegangen. Damit sollte auch eine Wiederaufnahme des Gesprächs zwischen historischer Theoriereflexion und Theologie möglich sein. Ansätze für ein solches Gespräch bietet a) die Frage nach dem Subjekt der Geschichte. In welchem Sinne ist der Mensch Subjekt der Geschichte - als Handlungssubjekt, das durch seine Identität die Einheit der Geschichte begründet, oder nur als Referenzsubjekt,22 also als derjenige, dessen Geschichte erzählt wird? Handlungssubjekt der Völkergeschichte könnten nur die Völker sein, wenn auch jeweils vertreten durch Individuen, und Handlungssubjekt der Menschheitsgeschichte müßte die menschliche Gattung sein. Solche Vorstellungen sind auch mit dem Aufkommen des „Kollektivsingulars" Geschichte im 18. Jh. (s.o. S. 644), den man wohl als Ausdruck der Ablösung von der christlichen Geschichtstheologie betrachten muß, verbunden worden. Doch im strengen Sinne können Völker und Staaten oder die menschliche Gattung nicht als eigene Handlungssubjekte gedacht werden. 23 Das Handeln der Individuen aber vermag wegen des Antagonismus ihrer Zwecksetzungen die Einheit der Geschichtsprozesse nicht verständlich zu machen. Damit stellt sich b) die Frage nach der Rolle des Handlungsbegriffs überhaupt für das Verständnis geschichtlicher Prozesse. Natürlich kann nicht strittig sein, daß menschliches Handeln in erheblichem Maße den Gang der Geschichte mitbestimmt. Aber schon Bultmann hat gegen Robin G. Collingwood mit Recht daran erinnert, daß daneben auch Widerfahrnis-
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se in die Geschichtc eingreifen. 2 4 Geschichte ist nicht so etwas wie eine Schöpfung menschlichen Handelns. Im Gegensatz zu derartigen Auffassungen hat Hermann Lübbe mit Recht hingewiesen auf c) die Eigenart von Geschichten als Prozessen der Identitätsbildung ihres Referenzsubjekts. Geschichte wird erzählt und dargestellt, weil die Identität der Individuen und der Völker und Staaten durch den Prozeß ihrer Geschichte konstituiert wird. Darum kann Geschichte nicht im ganzen als Produkt menschlichen Handelns aufgefaßt werden, weil das Subjekt solchen Handelns ja selber erst aus dem Prozeß solcher Geschichte hervorgeht. 2 5 Was aber begründet letztlich solche kollektive oder individuelle Identität, wenn sie nicht ihrerseits Produkt menschlichen Handelns sein kann? Hier erhebt sich d) die Frage nach der Eigenart der Sinngehalte, die Inhalt des Erlebens von Geschichte und Gegenstand der Geschichtserzählung sind. Handelt es sich dabei um Sinngebung durch den Menschen oder primär um Sinnfindung auf der Grundlage der Verweisungszusammenhänge auf Kontexte und umgreifende Geschehenscinheiten, in denen alles Einzelgeschehen von sich aus schon steht? M a g Interpretation auch stets Ausdruck produktiver Sinngebung durch den Menschen sein: Sie steht doch nicht auf sich allein, sondern ist bezogen auf vorgegebene Sinnzusammenhänge, die der Interpret treffen (explizit machen), aber auch verfehlen k a n n . 2 6 Darum ist der Begriff von Geschichte nicht ausschließlich von der Struktur des Erzählens, der Narrativität, her zu bestimmen. Nicht jede Erzählung ist historisch im spezifischen Sinne der Geschichtserzählung, sondern nur diejenige, die den Gang tatsächlichen Geschehens wiederzugeben beansprucht. Dabei sind nicht nur Einzelfakten, sondern auch deren Zusammenhänge dem Erzählen des Historikers schon vorgegeben, wenn er sie auch aus dem Blickpunkt seines eigenen Standortes rekonstruiert. Die Irreduzibilität der Sinnfindung (und damit der Identitätsbildung) auf Sinngebung (und damit auf Handeln) steht in enger Beziehung zu: e) der Frage nach dem Verhältnis von Religion und —>Kultur. Kulturen sind in der neueren Geschichtsschreibung als die umfassendsten Einheiten historischer Darstellung behandelt worden. Zur Geschichte einer Kultur gehört mehr als zur Nationalgeschichte eines einzelnen Volkes. Umfassender wäre nur die Menschheitsgeschichte, aber die Menschheit ist bisher nicht in vergleichbarer Weise als Einheit hervorgetreten. Was begründet nun die Einheit einer Kultur? Was macht ihre Identität aus? M a n hat die Kulturen als Schöpfungen des Menschen beschrieben, sie also auf menschliches Handeln zurückgeführt. Wenn aber die Kulturen und ihre Geschichte die Identität der ihr zugehörigen Menschen allererst begründen, dann dürfte es näher liegen, mit dem Selbstverständnis aller alten Kulturen die Grundlagen ihrer Identität als dem Handeln der Menschen vorgegeben und so als Gegenstand von Religion und Mythos zu sehen (E. Voegelin). Dann wird das Verständnis der Geschichte der Kulturen in letzter Instanz abhängig von Religionsgeschichte. Dabei hat zwar die Identität der Kulturen ihre Basis immer in der Religion, aber - wie schon Arnold Toynbee gesehen hat - nicht alle Religionen sind beschränkt auf den Umkreis einer einzelnen Kultur. Wenn den Religionen und also dem Primat der göttlichen Wirklichkeit grundlegende Bedeutung für das Verständnis sowohl der kulturellen Ordnungen als auch der Geschichte der Kulturen zukommt, dann stellt sich für die Historie f ) die Frage nach den Konsequenzen der religiösen Verfaßtheit des Gegenstandes historischer Forschung und Darstellung für die historische Methodik. Darf das Kriterium der Analogie bzw. der Gleichartigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit dann noch ohne weiteres auf ein rein profanes Wirklichkeitsverständnis gestützt werden? 2 7 Ähnliche Fragen stellen sich im Hinblick auf die Gliederung der Geschichte, insbesondere der Universalgeschichte: Was sind die Maßstäbe für ihre Einteilung in Perioden, wenn die Einheit der Geschichtsprozesse nicht abgelöst von der Religionsthematik zu verstehen ist? Die Frage einer Periodisierung der Universalgeschichte —die aber in aller anderen historischen Periodenbildung immer schon impliziert ist 2 8 — weist noch einmal zurück auf
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g) die Frage nach dem Verständnis der Geschichte als ganzer und d a m i t nach d e m Verhältnis von Geschichte und —>Eschatologie. In der Praxis des Historikers wird z w a r d a s T h e m a der Universalgeschichte gewöhnlich zurückgestellt zugunsten der Z u w e n d u n g zu den jeweils untersuchten und dargestellten Einzelgeschichten. Doch das ändert nichts d a r a n , daß der Sinn aller Einzelgeschichten vom umfassendsten geschichtlichen Z u s a m m e n h a n g a b h ä n g i g ist und daher i m m e r schon Bezüge zur Universalgeschichte impliziert. 2 9 Der G e d a n k e der Universalgeschichte schließt auch das zukünftige Geschehen mit ein, o b w o h l A r t h u r C. D a n t o mit Recht b e t o n t hat, d a ß erzählte Geschichte es immer mit schon abgelaufenen Prozessen zu t u n h a t . 3 0 Unter d e m Gesichtspunkt der Bedingtheit jedes Einzelgeschehens durch das G a n z e läßt sich von der Z u k u n f t nicht absehen, o b w o h l der zukünftige G a n g der Geschichte in der T a t noch nicht erzählbar ist, w o d u r c h die Unabgeschlossenheit der Universalgeschichte bedingt ist. Die Einsicht in die Unabgeschlossenheit der Universalgeschichte und die darin begründete Vorläufigkeit aller historischen Darstellung auch von Einzelgeschichten zeigt allein schon die Relevanz des Z u k u n f t s b e z u g e s f ü r das Geschichtsverständnis. Die Z u k u n f t der Geschichte, von der es noch keine Erzählung gibt, und zwar insbesondere die endgültige Z u k u n f t , die die Universalgeschichte erst als ganze d e n k b a r werden läßt, ist T h e m a der Eschatologie: Wegen der Verweisungszusammenhänge alles Einzelnen auf das G a n z e der Geschichte ist das Verständnis von Geschichte so oder so i m m e r abhängig von einer eschatologischen Z u k u n f t . Auf sie sind die Erzählungsperspektiven der Historiker mit dem Bewußtsein ihrer eigenen G e g e n w a r t immer schon so oder so bezogen. Insofern bleibt trotz der Beschränkung historischer R e k o n s t r u k t i o n auf die Erzählung des Vergangenen eine die Z u k u n f t in den Begriff der Geschichte einbeziehende „substantielle" Philosophie der Geschichte, die nach D a n t o „essentiell theologisch" ist 3 1 , für die philosophische Reflexion auf den Begriff der Geschichte unerläßlich. 6. Ansätze
und Kriterien
zu einer Theologie
der
Geschichte
Eine Theologie der Geschichte, die nicht wie die traditionellen heilsgeschichtlichen E n t w ü r f e n u r neben die von der p r o f a n e n Historie untersuchte und rekonstruierte Geschichte treten will, so d a ß sie zu einer zusätzlichen und d a m i t f ü r das Verständnis der Geschichtsprozesse letzthin überflüssigen und beliebigen Interpretation würde, m u ß sich auf die religiösen Implikationen des Geschichtsbegriffs, wie er in der historischen T h e o riediskussion erörtert wird, beziehen, und z w a r in der Art, d a ß die Geschichtstheologie diese Implikationen thematisiert und in A n w e n d u n g auf den k o n k r e t e n G a n g der Geschichte entfaltet. Ersteres ist d u r c h Reflexion auf die anthropologischen Voraussetzungen menschlicher Geschichte von Ernst Troeltsch versucht w o r d e n 8 2 , der d a m i t ein theologisches Gegenstück zu Wilhelm Diltheys „ p s y c h o l o g i s c h e r " G r u n d l e g u n g der Geisteswissenschaften entwickelte. Paul - • T i l l i c h s A u s f ü h r u n g e n über „Leben und G e s c h i c h t e " im dritten Band seiner Systematischen Theologie lassen sich als ein Beitrag zum gleichen T h e m a lesen. 3 3 Tillichs A u s f ü h r u n g e n stehen allerdings noch diesseits einer A u f n a h m e der Einzelthemen historischer T h e o r i e d i s k u s s i o n e n . 3 4 Für die A n w e n d u n g auf den konkreten G a n g der Geschichte bildet ebenfalls das Werk Troeltschs ein bis heute nicht überholtes und d u r c h die Differenziertheit seiner Analysen i m m e r wieder lehrreiches Beispiel, o b w o h l es in seinen verschiedenen Anläufen f r a g m e n t a r i s c h geblieben ist und d e r ausdrücklich geschichtstheologische Aspekt auf weite Strecken hin zurücktritt u n d insgesamt unausgebildet geblieben ist, so sehr ihm das eigentliche Interesse Troeltschs galt. Eine sich den g e n a n n t e n A n f o r d e r u n g e n stellende Geschichtstheologie m u ß sich weitgehend vom traditionellen Schema der Heilsgeschichte unterscheiden. Sie wird sich nicht d a m i t begnügen k ö n n e n , die biblischen Aussagen zu systematisieren, sondern sie wird die geschichtstheologischen Konzepte der biblischen Überlieferungen im Z u s a m m e n h a n g gegenwärtigen historischen Wissens, aber auch in Verbindung mit der ausdrücklichen H e r a u s a r b e i t u n g der religiösen T h e m a t i k im Prozeß der Geschichte zur Geltung bringen.
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII
Der letztere Aspekt bestimmt die umfassend angelegte Darstellung von Eric Vocgelin in den bisher vier Bänden seines Werkes Order and History, das die Geschichte der Kulturen als ein Ringen um die Ordnung des gemeinsamen Lebens beschreibt, die letztlich in den Erfahrungen der göttlichen Wirklichkeit gründet. 3 5 Voegelin hat die Schritte zu jeweils neuen Bewußtseinsstufen im Gange dieser Geschichte zwar nicht ausdrücklich als ein Handeln Gottes selbst beschrieben, aber der Sache nach handelt es sich doch um ein solches, wenn es ernst sein soll mit der Priorität der göttlichen Wirklichkeit in der gesellschaftlichen Ordnung und so auch in ihrer Geschichte. Eine Theologie der Geschichte wird diesen Sachverhalt thematisieren. Die wichtigste inhaltliche Änderung einer solchen Betrachtungsweise gegenüber dem traditionellen heilsgeschichtlichen Schema ist die Ersetzung der „einlinigen" Darstellung des Geschichtsverlaufs auf der Basis der —»Geschichte Israels durch den Gesichtspunkt der Pluralität der Kulturen, die je für sich religiös fundiert sind und die im Prozeß ihrer Geschichte zur Verflechtung miteinander gelangen, nicht ohne Konflikte und Kämpfe, in denen es letztlich um die Tragfähigkeit des jeweils eigenen Bewußtseins von der religiös begründeten Ordnung der menschlichen Wirklichkeit geht. Der Prozeß der Kulturgeschichte, in welchem die Einheit der Geschichte erst als Resultat der gegenseitigen Verflechtung, Überbietung und Beerbung der Kulturen Gestalt gewinnt, erweist sich so als zuinnerst bewegt durch die religiöse Thematik im Ringen um die wahre Gestalt der göttlichen Wirklichkeit und der Ordnung menschlichen Gemeinschaftslebens. Erst von der sich dabei herausbildenden Einheit der Menschheit her läßt sich konkret von einer alle Kulturen umfassenden Universalgeschichte sprechen, und die Einheit des Gottes, der in diesem Prozeß am Werke ist und ohne den das Ziel einer Einheit der Menschheit nicht erreichbar sein kann, steht mit Recht im Mittelpunkt der ökumenischen Studie über Gott in Natur und Geschichte von 1967, die in einigen ihrer Ausführungen bereits den Geist einer neuen, vom Pluralismus der Kulturen zur künftigen Einheit der Menschheit im Reiche Gottes fortgehenden Geschichtstheologie atmet. In diesem Rahmen sind der Ort und die besondere Funktion der Geschichte Israels und des Christentums zu bestimmen, die beide durch das Bewußtsein besonderer göttlicher Erwählung und Sendung auf die Zukunft der ganzen Menschheit bezogen sind. Ebenso ist aber auch die Funktion der anderen Religionen in diesem Kontext neu zu würdigen. Unbeschadet des weiter notwendigen Ringens um die wahre Gestalt der göttlichen Wirklichkeit, das nicht einer falsch verstandenen Toleranz zuliebe, die in Wahrheit Gleichgültigkeit bedeutet, unterbleiben darf, wird eine christliche Geschichtstheologie heute in diesen anderen Religionen nicht nur Abgötterei sehen können, sondern sich trotz aller Unterschiede und Gegensätze der Gemeinsamkeit des unter ihnen umstrittenen Themas bewußt bleiben. Die Geschichte des Christentums und der christlichen Kirche(n) als Institution(en) wird im Zusammenhang einer allgemeinen Theologie der Geschichte als Geschichte besonderer göttlicher Erwählung und Sendung, der Erfahrung der Gegenwart des Heils im Kampf mit wechselnden Gestalten des Bösen, aber auch als Geschichte des Gerichtes Gottes über die Untreue seiner Kirche darstellbar. In eine solche Betrachtung ist die Lebenswelt des Christentums immer mit einzubeziehen, also die politische, soziale und kulturelle Geschichte in den Ländern des durch das Christentum geprägten Kulturkreises. Nur eine abstrakt dogmatische Betrachtung kann „die Kirche" herauslösen aus den konkreten Lebensumständen, Konflikten, Erneuerungen und Spaltungen der von Christen gebildeten oder beeinflußten Gemeinschaften. Die historische Betrachtung muß Religion und Kultur in ihrer Zusammengehörigkeit sehen. Dabei wird der Geschichte der abendländischen Neuzeit, besonders ihrer Entstehungsgeschichte, weiter eine Schlüsselrolle zufallen. Die sog. Säkularisierung und Privatisierung des religiösen Bekenntnisses infolge der konfessionellen Kämpfe und der abendländischen Kirchenspaltung des 16. Jh. stellt sich je nach dem Verständnis der eigenen Gegenwartsproblematik in sehr verschiedenem Lichte dar. Eine Theologie der Geschichte wird sie als Folge von Fehlentwicklungen in den Strukturen des kirchlichen Lebens, die auch heute noch einer endgültigen Bereini-
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g u n g h a r r e n , zu b e t r a c h t e n h a b e n , a b e r a u c h i m B e w u ß t s e i n d e r in dieser E n t w i c k l u n g liegenden G e f a h r e n f ü r den F o r t b e s t a n d e i n e r K u l t u r , die i m m e r n o c h a u f d e r V e r b i n d u n g v o n c h r i s t l i c h e m G l a u b e n und a n t i k e m G e i s t e s e r b e b e r u h t , s o w i e a u c h im B e w u ß t s e i n d e s bleibenden E r t r a g e s dieser E n t w i c k l u n g m i t i h r e m D u r c h b r u c h zu e i n e m Geist d e r —• T o l e r a n z , d e r d e n R u h m e s t i t e l d e r - » A u f k l ä r u n g bildet, a b e r u n t e r d e m E i n f l u ß des H i s t o r i s m u s und im Z u g e d e r ö k u m e n i s c h e n E n t w i c k l u n g a u c h in d e n K i r c h e n rezipiert w o r d e n ist und d a s c h r i s t l i c h e S e l b s t v e r s t ä n d n i s zu e i n e r n e u e n U n i v e r s a l i t ä t d e r G e s i n n u n g befreit h a t . Bei a l l e d e m g e h t es a u c h u m d i e b l e i b e n d e B e d e u t u n g des „ E u r o p ä i s m u s " (E. T r o e l t s c h ) , g e r a d e a n g e s i c h t s e i n e r in vieler H i n s i c h t b e r e c h t i g t e n Kritik an d e r l a n g e ü b l i c h e n , a b e r allzu provinziellen V e r e n g u n g d e s G e s c h i c h t s b e w u ß t s e i n s a u f —»Eur o p a . D i e K r i t i k a n e i n e r engen E u r o z e n t r i k d a r f n i c h t den Blick verstellen für die bleibende Bedeutung der neuzeitlichen Geschichte E u r o p a s mit ihrer zunehmenden Öffnung a u f die W e l t d e r a n d e r e n K u l t u r e n hin u n d als K a t a l y s a t o r eines n e u e n E i n h e i t s b e w u ß t s e i n s d e r M e n s c h h e i t t r o t z aller r e g i o n a l e n und w e l t p o l i t i s c h e n G e g e n s ä t z e . Anmerkungen ' R. Reinicius, Methodus legendi cognoscendique historiam tarn sacram quam profanam, Helmstedt 1582 (vgl. A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhist. Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. u. 17. Jahrhundert, 1960, 3 5 f f sowie ders., Die prot. Universalgeschichtsschreibung vom 16. bis 18. J h . ) : Mensch u. Weltgesch. Z u r Gesch. der Universalgeschichtsschreibung, hg. v. A. Randa, München 1969, 2 0 5 - 2 2 4 . In der Diskussion dieses Vortrags wies Frau Dr. v. Brincken darauf hin, daß die Unterscheidung von Profan- und Heilsgeschichte schon bei mittelalterlichen Autoren vorkommt (ebd. 226, vgl. die Antwort Klempts 234). 2 Jean Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Paris 1566, vgl. Klempt, Säkularisierung 42ff. 3 J . J . Beurer, Synopsis historiarum et methodus nova, 1594: Haec quidem vulgo sola bistoria habetur et appellatur, deque ea nos praecipue (omissa divina et universali totius naturae bistoria) agere instituimus (zit. bei Klempt, Säkularisierung 45). 4 So Christoph Cellarius in seiner Universalhistorie von 1685. Dazu Klempt, Säkularisierung 4 9 f . 5 A. Klempt, Die prot. Ulliversalgeschichtsschreibung 221. Die große Bedeutung der geographischen Neuorientierung für die Auflösung des alten Geschichtsbildes wird eindrucksvoll von K. Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. J h . , 1966, 9 2 f f herausgestellt. " So Klempts Revision der Darstellung von K. Löwith (Weltgesch. u. Heilsgeschehen, 1953, Kap. 5 und 7) a . a . O . 2 2 3 f . Siehe auch Scholder, a . a . O . 7 9 f . 7 Vgl. das Urteil von F. C. Baur über J o h . Laur. Mosheims Institutiones historiae ecclesiasticae Novi Testamenti (1726): Die kirchliche Geschichtsschreibung habe bei ihm „das feierliche kirchenväterliche C o s t i i m " abgelegt und sich „mehr und mehr in das leichte moderne Gewand der politischen G e s c h i c h t e " gekleidet (Epochen der kirchl. Geschichtsschreibung, 1852, 119). 8 K. Barth, K D 1/2 (1938) 61 ff; III/l (1945) 63 f; III/2 (1948) 188 f. 333; III/3 (1950) 41 ff u . ö . Ein gleichgewichtiges Nebeneinander von Heilsgeschichte und sonstiger Geschichte, wie es K . G . Steck mit Recht für Barth verneint ( L T h K 5, 157), hat auch ein J . T . Beck keineswegs behaupten wollen. Vielmehr galt schon Beck und Hofmann ähnlich wie Barth (III/l, 63 f) die Bundesgeschichte als die Geschichte schlechthin (während 1/2, 64 mit der Betonung, Offenbarung sei „nicht Prädikat der Geschichte, sondern Geschichte ist ein Prädikat der Offenbarung", sich noch gegen einen der Theologie gegenüber selbständigen Geschichtsbegriff wendete). In seiner Vorsehungslehre hat Barth dann allerdings in einer O . Cullmann (Heil als Gesch., 1 9 6 5 , 1 3 3 ff) vorwegnehmenden Weise doch wieder zwischen der Bundesgeschichte und „der Geschichte des Geschöpfes als solcher" (III/3, 43) unterschieden. 9
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So stellte R . Seeberg, Offenbarung u. Inspiration, 1908, den von G o t t gewirkten „ T a t s a c h e n " die zu ihrem Verständnis nötige Inspiration an die Seite ( 3 1 - 3 4 . 62 f. 76). Vgl. dazu schon die Ausführungen von R . R o t h e , Offenbarung: Zur Dogmatik, 1863, 5 5 - 1 2 0 , bes. 68ff. Vgl. auch schon P. Althaus, Grundriß der Dogmatik (1929), 1951, § 9 (40ff). O. Cullmann, Heil als Gesch., 1965, 33.38,117ff. Cullmann setzt sich in diesem Punkt ausdrücklich von der älteren heilsgeschichtlichen Theologie ab (37f, vgl. 59), aber auch von dem Band Offenbarung als Geschichte 1961 (40.133). Er hat sich allerdings an anderer Stelle auch um den Zusammenhang zwischen Ereignis und Deutung bemüht, der dadurch gegeben sei, daß frühere Ereignisse ein Licht auf spätere werfen und umgekehrt (70ff, vgl. 104). Kähler ist damit der Schöpfer der in späteren Jahrzehnten zur Formel erstarrten Unterscheidung von „ G e s c h i c h t e " und „ H i s t o r i e " geworden.
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Zur Entwicklung des Verhältnisses von Glaube und Geschichte bei W. Herrmann vgl. W. Greive, Der Grund des Glaubens. Die Christologie Wilhelm Herrmanns, 1976, bes. 67ff. 134ff. Fr. Gogarten, Die religiöse Entscheidung, 1921,62 und 58. Vgl. Gogartens Artikel „Historismus" in: Z Z 2 (1924/28) 14ff. Glauben u. Verstehen III, 1960, 106; vgl. II, 1952, 77. Weissagung u. Erfüllung (1949): Glauben u. Verstehen II, 1952,171. Dabei sieht Bultmann durchaus die Bedeutung der Vorstellung von einer durch Gottes Plan geleiteten Geschichte für die alttestamentlich-jüdische Tradition (ebd. 240f). Nur lehnt er diese Vorstellung im Zusammenhang seiner Auffassung vom „Scheitern" der alttestamentlichen Geschichte (184ff) ab (vgl. schon 91 ff). Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das Spätwerk Gogartens. Die vielfachen Wandlungen in der Entwicklung von Gogartens Geschichtsbegriff und ihrer vielschichtigen Problematik hat H. Fischer, Christi. Glaube u. Gesch. Voraussetzungen u. Folgen der Theol. Friedrich Gogartens, 1967, eingehend dargestellt. Zum Spätwerk siehe dort 1 1 7 - 1 4 1 . Fr. Gogarten, Jesus Christus Wende der Welt, 1966,122f, vgl. Z T h K 51 (1954) 329, sowie Z T h K 50 (1953) 3 3 9 - 3 9 4 (Theol. u. Gesch.), bes. 350 f. 365. Die Darstellung der Auffassung Gogartens bei H. Fischer, a . a . O . 135f läßt in diesem Punkt die in anderen Partien seines Buches erreichte Differenziertheit vermissen. Auch die Kritik, daß Gogarten die Einheit der Geschichte durch die von ihm behauptete Andersartigkeit der Geschichte Jesu Christi verletzt habe (136), überzeugt nicht. ZThK 50 (1953) 367ff, 390f hebt Gogarten die Einheit der Geschichte Christi und der unseren ausdrücklich hervor, unbeschadet unserer Verfehlung der von Gottes Zukünftigkeit ausgehenden Geschichte im Unterschied zu Jesu „Bleiben" in ihr (368). Diese Auführungen Gogartens zeigen auch, daß die traditionellen Fragen nach dem Verhältnis von Glaube und (vergangener) Geschichte in Gogartens Spätwerk keineswegs verschwunden sind (anders Fischer 139). Der Römerbrief, 2 1922, 105. G. Müller-Fahrenholz, Heilsgesch. zwischen Ideologie u. Prophetie. Profile u. Kritik heilsgesch. Theorien in der ökumen. Bewegung zwischen 1948 und 1968,1974,51 Anm. 105 und 69ff. Von H. Berkhof vgl. auch, Der Sinn der Geschichte: Christus (1957), dt. 1962. Die heilsgeschichtliche Sicht William Temples (Nature, Man and God, 1934) hat ihre Wurzeln in den Anschauungen des Kreises um das von Ch. Gore 1889 herausgegebene Sammelwerk Lux Mundi mit seiner charakteristischen Verbindung von Evolution und Heilsgeschichte. Zur Öffnung des christlichen Geschichtsverständnisses für den Gedanken der Pluralität der Kulturen vgl. auch A . T h . van Leeuwen, Christianity in World-History. The Meeting of the Faiths in East and West, London 1964. 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Gegen die dazu geäußerte Kritik von H. M. Baumgartner, Kontinuität u. Gesch. Zur Kritik u. Metakritik der hist. Vernunft, 1972, 291 ff vgl. die Bemerkungen von J. Rüsen: Historische Objektivität, hg. v. J. Rüsen, 1975, 94 ff. Zum Analogieprinzip als Instrument historischer Kritik siehe E. Troeltsch, Über hist. u. dogmarische Methode in der Theol. (1898): ders., GS II, 1922, 7 2 9 - 7 5 3 , bes. 732f. Kritisch zu dies-er Darstellung von Troeltsch W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte (1959): Grundfragen syst. Theologie, I 1967, 2 2 - 7 8 , bes. 49ff, wo nicht nur auf den anthropozentrischen Charakter der durch die kritische Anwendung des Analogieprinzips bestimmten historischen Methode, sondern auch auf die Spannung der von Troeltsch beschriebenen Form seiner Anwendung zur Individualität und Einmaligkeit alles historischen Geschehens hingewiesen wurde. Zur Argumentation von E. Troeltsch vgl. auch H. Fischer, Christi. Glaube u. Gesch., 1967, 167ff. S. zu diesem Problem: J . 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Ebd. 9. Siehe bes. E. Troeltsch, Gesch. u. Metaphysik: Z T h K 8 (1898) 1 - 6 9 . P. Tillich, Systematische Theologie, III 1966, 3 4 4 - 3 8 7 . Für eine theologische Beteiligung an der Methodendiskussion der Geschichtswissenschaft sind bes. die Beiträge von R. Bultmann zur Theorie der Hermeneutik hervorzuheben, denen es aber gerade nicht um eine T h e o r i e der Geschichte, sondern um ihre Reduktion auf die „Möglichkeit des menschlichen Daseins" ging. Vgl. auch sein Buch: Gesch. u. Eschatologie, 1964. Z u r Frage nach den anthropologischen Grundlagen der Historie s . a . W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 1983, Kap. 9,1, 4 7 3 - 4 7 8 . E. Voegelin, O r d e r and History, I - I V , 1 9 5 5 - 7 4 . Literatur
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I X . Praktisch-theologisch 1. Einleitung: Praxis und Geschichte 2. Hermeneutik geschichtlicher Erfahrungen als praktisch-theologisches Problem 3. Geschichte als Thema kirchlicher Praxis (Literatur S.680) 1. Einleitung:
Praxis
und
Geschichte
Die Praktische T h e o l o g i e ist auf die Gegenwart kirchlichen Handelns in der Gesellschaft ausgerichtet. Bei der kritischen Reflexion auf diese Praxis kann jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, daß sie geschichtlich geformt ist und daß kirchliches Handeln selbst Traditionsbildung impliziert. Die Verhältnisbestimmung von Praxis und Geschichte ist in der Praktischen Theologie umstritten und hängt von dem Gesamtverständnis der Disziplin ab. O t t o und Pannenberg betonen - bei unterschiedlichen Herleitungen - den unlösbaren Z u s a m m e n h a n g von Praxis und Geschichte, während bei pragmatisch oder empirisch orientierten handlungswissenschaftlichen Ansätzen die Tendenz besteht, ihn auszublenden. Für Otto vollziehen sich Theorie und Kritik religiös vermittelter Praxis im Medium der Geschichte (15). Bei Pannenberg wird die Praktische Theologie als Moment einer durch sie selbst hindurchgehenden geschichtlichen Praxis begriffen; denn Praxis ist mit der christlichen Geschichte selbst gegeben. Praktische Theologie läßt sich von der kritischen Frage leiten, wie der in der Geschichte Jesu Christi begründete und in der Geschichte des Christentums weiterwirkende, teilweise gehemmte Praxisbezug des christlichen Glaubens die gegenwärtige Praxis der Kirche bestimmt (Wissenschaftstheorie 439 f). Z e r f a ß hat in Abgrenzung zu den „Universalitätsansprüchen" der Systematischen Theologie wie der Kritischen Theorie um des Praxisbezuges willen gefordert, daß die Praktische Theologie mit partiellen, pluralen und vorläufigen Ansätzen arbeitet und theologische wie handlungswisenschaftliche Theoriestücke in sich aufnimmt (172f). Wenn das mehrdimensionale Verhältnis von Geschichte und Praxis unter praktischtheologischem Interesse bestimmt werden soll, ist eine kritische Verschränkung pluraler T h e o r i e a n s ä t z e notwendig. Eine solche Verschränkung erfordert jedoch den R a h m e n einer praktischen Hermeneutik geschichtlicher Erfahrungen. Sie ist integrativer Bestandteil einer praktisch-theologischen Handlungstheorie. Sie vermittelt unterschiedliche Z u -
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gänge zur Geschichte; in ihr spielt die Kategorie der Lebensgeschichte mit ihren unverwechselbaren und einmaligen Erfahrungen ebenso eine Rolle wie die Kategorie der Universalgeschichte, die wegen des christlichen Gottesgedankens und angesichts gegenwärtiger Weltverantwortung nicht preisgegeben werden kann. Diese Hermeneutik ist ein Desiderat. 2. Hermeneutik
geschichtlicher
Erfahrungen
als praktisch-theologisches
Problem
2.1. Erfahrung und Geschichte. Von Erfahrung kann nur im Zusammenhang mit Uberlieferung und Sprache geredet werden. „Schwindet die geschichtlich vermittelte Bildung, so verkümmert auch die Erfahrung" (Ebeling, Exegese 278). Um des Erfahrungsund Wirklichkeitsbezuges des christlichen Glaubens willen ist also zugleich von seiner Geschichtsverflochtenheit zu reden. Der Glaube ist nicht nur historisch in dem Sinne auf Geschichte bezogen, daß kein Mensch von vorne anfangen kann, sondern auf das schon Vorgegebene angewiesen ist. Der Geschichtsbezug des Glaubens ist darüber hinaus theologisch maßgeblich, weil er in der Geschichte unüberholbar seine Begründung erfahren hat und deswegen darauf angewiesen ist, seinen Ursprung in den geschichtlichen Anfängen immer wieder neu aufzudecken und lebendig zu erhalten. Ohne Erinnerung an die Geschichte Jesu Christi und ohne eschatologische Verheißung können menschliche Grunderfahrungen nicht als christliche Erfahrung identifiziert werden (vgl. T R E 10,118). Unter praktisch-theologischem Aspekt ist von Bedeutung, daß es eine praktische Identifizierung mit der in Wort und Sakrament erinnerten Geschichte Jesu gibt. Der christliche Gottesdienst mit seinen Symbolen und Ritualen stellt eine Möglichkeit dar, die Ursprungsgeschichte des Christentums mit den Ausdrucksmitteln der jeweiligen Zeit zu erinnern und lebendig zu halten. Er gehört in Anteilnahme und Distanz zum Geschichtsprozeß des Christentums selber (Jetter 202; im Blick auf das Gebet: Picht 382). - Dieser Zugang zur Geschichte wirft die Frage nach den sog. anthropologischen Konstanten auf (vgl. Schillebeeckx 95ff; Scharfenberg/Kämpfer 171 ff). Da die Vergegenwärtigung der Ursprungsgeschichte jedoch zugleich kritisch an den Anfängen zu messen ist, wird eine hermeneutische Reflexion auf den Geschichtsbegriff und auf die sachgemäße Sprache von der Geschichte erforderlich. Wird der Zusammenhang mit der Geschichte, von der der Historiker spricht, aufgegeben? Weder hat in Auseinandersetzung mit der analytischen Geschichtsphilosophie (A.C. Danto und H. Lübbe) herausgearbeitet, daß schon der Historiker zu zutreffenden Sätzen über Ereignisse aus seiner Vergangenheit nur kommen kann, indem er den Verweisungszusammenhang der Ereignisse beachtet. Daher kann er seine Sprache nicht auf „Wenn-Dann-Sätze" beschränken, sondern bedient sich der Erzählung als Grundform geschichtlicher Redeweise (Kreuz 92ff). Die Bedeutung der Erzählung für die Gegenwart liegt darin, daß sie vergangene Identität vergegenwärtigt; sie spricht den Menschen nicht primär auf seinen Willen, sondern auf seine Einbildungskraft hin an (Kreuz 108 ff; ,Christi. Exegese' 79). Die Vergegenwärtigung eigener und fremder Identität durch Erzählung und durch szenische Formen der Erinnerung in Fest und Feier fordert zu immer neuer Interpretation, auch mit Hilfe historischer, soziologischer und psychologischer Methoden, heraus (vgl. Lübbe; kritisch dazu: Henrich; zur Diskussion insgesamt: Pannenberg, Anthropologie 4 8 8 - 5 0 1 ) .
Die hermeneutischen Reflexionen können auf einen kreativen Umgang mit geschichtlichen Erfahrungen verweisen, der - wie bei der Erinnerung durch Fest und Feier ethischem und politischem Handeln vorausliegt und durch Praxis nicht voll einzulösen ist. Im Modus der -»Erzählung (s. Abschn. 3.4) wird Geschichte nicht auf ein Fragepotential oder eine Entscheidungssituation reduziert (Weders Auseinandersetzung mit Bultmann betrifft z.B. auch Stallmann; Kreuz 106-108). Die Erzählung vermag gerade in der Geschichte des Leidens, der Anfechtung und der Nicht-Identität dem Menschen durch die Erinnerung des Heils seine Möglichkeit wieder zuzuspielen, so daß er werden kann, was er ist. Die Geschichts-Erzählung verstrickt die Lebensgeschichte mit der Glaubensgeschichte und mit der Leidensgeschichte der Menschheit (vgl. fundamentaltheologisch: Metz 181 ff; homiletisch: Bohren 170ff; Albrecht 220ff). Bei der Vergegenwärtigung der
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Geschichte Jesu durch Erzählung, Symbol und Ritual spielt die Wirkungsgeschichte der biblischen Überlieferung eine vermittelnde Rolle. Da sie das Verständnis der biblischen Inhalte und Intentionen mitbestimmt und umgekehrt die gegenwärtige Lebens- und Sozialgeschichte beeinflußt hat, ist ihre Untersuchung für alle Praxisfelder kirchlichen Handelns von hermeneutischer und didaktischer Bedeutung. 2.2. Der wirkungsgeschichtliche Ansatz. Gadamer hat den wirkungsgeschichtlichen Aspekt im Rahmen seiner Theorie der hermeneutischen Erfahrungen entfaltet (Wahrheit und Methode 284ff. 324ff). Er zeigt, daß unser gesamtes geschichtliches Verstehen durch ein „wirkungsgeschichtliches Bewußtsein" bestimmt ist. Durch diesen Begriff soll einerseits zur Geltung gebracht werden, daß wir als verstehende Subjekte gar nicht die Möglichkeit haben, der Vergangenheit frei gegenüberzutreten, sondern immer schon mit der Geschichte in einem auf uns einwirkenden Zusammenhang stehen; andererseits soll auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, ein Bewußtsein von dieser Wirksamkeit der Geschichte in uns zu erzeugen, damit wir geschichtliche Erfahrungen machen und die Wahrheit der Geschichte übernehmen können (KS 1,158). Von dieser Beschreibung des Verstehensprozesses als einem wirkungsgeschichtlichen Vorgang unterscheidet Gadamer die Untersuchung der Wirkungsgeschichte, die ein Werk oder ein Text hat. Sie kann eingeschränkter als Auslegungs- bzw. Rezeptionsgeschichte definiert werden.
Sprechen wir von der Wirkungsgeschichte biblischer Überlieferung, so sind ihre Wirkungen auf die neuzeitliche Welt des Christentums eingeschlossen, also nicht nur die positive Inanspruchnahme biblischer Texte in kirchlichen Praxisfeldern, sondern ebenso die mannigfaltigen Folgen jener Überlieferung in Dichtung, Kunst, Musik, Wissenschaft und vor allem im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext. Dabei sind auch die negativen Folgen - gemessen an der ursprünglichen Intention - zu berücksichtigen (vgl. Weder, ,Christi. Exegese' 80). Das Verstehen biblisch-christlicher Überlieferung ist also möglich, weil Tradition und Situation wirkungsgeschichtlich bereits vermittelt sind und weil die christentumsgeschichtlichen Wirkungen das Vorverständnis der Zeitgenossen bewußt oder unbewußt bestimmen. Im Blick auf diesen Sachverhalt ergibt sich eine doppelte Aufgabe: a) In den Praxisfeldern ist ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein von der geschichtlichen Bedingtheit unserer Lebenswelt im substantiellen Sinn zu vermitteln (vgl. Fraas, Didaktik 75; Glaube u. Identität, 69ff); b) das Vorverständnis der Zeitgenossen ist im Rahmen der Wirkungsgeschichte möglichst exakt zu untersuchen, damit es in den Praxisfeldern angemessen berücksichtigt werden kann; es ist aber auch kritisch zu fragen, ob es geeignet ist, in den Zirkel von Verstehen und Einverständnis hineinzukommen (Stuhlmacher 72 ff). Da in der neuzeitlichen Welt des Christentums theologische und nichttheologische Faktoren verschmolzen sind, sollten diese Untersuchungen möglichst interdisziplinär durchgeführt werden (Metz/Rendtorff 15; zur Literatur vgl. Solle, Realisation). In der Religionspädagogik läßt sich die zuerst genannte Aufgabe nicht allein im Kirchengeschichtsunterricht verfolgen (sie ersetzt ihn auch nicht; vgl. Früchtel 131), sie betrifft vielmehr die christliche Erziehung insgesamt. Ihr Ausgangspunkt ist die wirkungsgeschichtlich bestimmte Lebenswelt des jungen Menschen, der durch seine Sozialisations- und Lerngeschichte mit der christlichen Uberlieferung - u. U. in entstellter Gestalt - in Berührung gekommen ist (Erzählung, Brauchtum, Symbole, Riten, Werte, Normen). Es ist daher Aufgabe der Erziehung, diese oft neutralisierten Formen der biblischen Wirkungsgeschichte auf ihre ursprünglichen Intentionen kritisch zurückzubeziehen und schrittweise zu korrigieren. Durch eine „wirkungsgeschichtlich orientierte Sozialisationsforschung" (Fraas, Didaktik 79) kann die Ausgangslage der Erziehung genauer beschrieben werden. Die Zielvorstellungen kirchlichen Handelns sind jedoch nicht allein wirkungsgeschichtlich abzuleiten, sondern in Auseinandersetzung mit positionellen theologischen Entwürfen zu entwikkeln (zur Grenze des Ansatzes vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie 2 7 8 - 2 9 8 ) .
2.3. Sozial- und psychohistorische Studien in praktischer Absicht. Päschke hat - dem Ansatz Ottos entsprechend - den Zusammenhang von Geschichte und Praxis als konstitutiv für die Praktische Theologie angesehen und historische Analysen in praktischer Absicht gefordert, die den Akzent weder einseitig auf die sozio-ökonomischen Verhältnis-
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se noch auf bestimmte leitende Ideen legen, s o n d e r n bis zu d e m Situationsbewußtsein der handelnden Subjekte d u r c h d r i n g e n sollten (11). Im Sinne dieses Ansatzes hat z.B. Degen die Geschichte der Diakonie nach 1945 untersucht (vgl. H a m e r und die Reihe Konkretionen, hg. v. H . E . Bahr, 1968ff). Das Interesse sozialgeschichtlicher Analysen liegt bei biblischen Texten; die hermeneutischen und methodischen Reflexionen beziehen sich aber auf die Christentumsgeschichte insgesamt (Gollwitzer 32f). Über das historische Verstehen hinaus soll „die Absicht der Sichtweise von u n t e n " (ebd. 25) in die kirchliche Praxis eingebracht werden (vgl. dazu im Blick auf das A b e n d m a h l J o s u t t i s / M a r t i n 69ff. 112 ff). Die innere Geschichte der Menschheit, die uns in religiösen Bildern und Symbolen zugänglich wird, ist f ü r die Praktische Theologie ebenso wichtig wie die äußere Geschichte, weil sie das Erleben und Verhalten der M e n s c h e n in ihren Praxisfeldern bestimmt (vgl. Theißen 394). Bekannt sind Eriksons psychohistorische Untersuchungen über den „jungen M a n n L u t h e r " (1958; vgl. Scharfenberg 1983) und über G a n d h i (zum Begriff: Erikson 115ff). Sie k o m m e n dem Interesse der Praktischen Theologie an Lebensgeschichte und Lebenslauf entgegen und ermöglichen, den Prozeß der Symbolbildung in der E r f a h r u n g s geschichte zu analysieren (vgl. N i p k o w 99 ff; den Begriff einer Existentialbiographie bei M e t z 195ff; M o l t m a n n 302ff). Für den Bereich der Seelsorge ist die B l u m h a r d t - S t u d i e Scharfenbergs charakteristisch; d u r c h den Entwurf einer H e r m e n e u t i k seelsorgerlichen H a n d e l n s bei B l u m h a r d t soll zugleich ein Stück „ T e x t k r i t i k " kirchlichen H a n d e l n s in der G e g e n w a r t g e w o n n e n w e r d e n ( S c h a r f e n b e r g / K ä m p f e r 146). Symbolgeschichtliche U n t e r s u c h u n g e n (vgl. Lorenzer) sind wegen der „ B r ü c k e n f u n k t i o n " der Symbole (Jetter 72; Kiessmann 146ff) ü b e r die Seelsorge h i n a u s von grundsätzlicher h e r m e n e u t i s c h e r Bedeutung. Einen weiteren Kristallisationskern bilden U n t e r s u c h u n g e n zur Geschichte des Gewissensbegriffs (Spiegel 315ff; H e i m b r o c k ) . Die von T h e i ß e n geleistete Integration lerntheoretischer, p s y c h o d y n a m i s c h e r und kognitiver Ansätze im R a h m e n einer h e r m e n e u t i s c h orientierten Religionspsychologie ist grundlegend f ü r e n t s p r e c h e n d e Arbeiten der Praktischen T h e o l o g i e ( 9 - 6 5 ) .
2.4. Leitende Kategorien. Unter praktisch-theologischem Interesse werden geschichtliche P h ä n o m e n e unter I n a n s p r u c h n a h m e historischer, soziologischer und psychologischer M e t h o d e n interpretiert, um die E i n w i r k u n g e n der biblischen Überlieferung auf psychische Prozesse, auf Lebens- u n d Sozialformen zu untersuchen und d a m i t die geschichtliche P r ä g u n g der gegenwärtigen Praxis k o n k r e t e r zu erfassen. Die sachlichen G r ü n d e d a f ü r , sich mit bestimmten Intentionen der Überlieferung zu identifizieren, sind im R a h m e n einer systematisch reflektierten T h e o r i e kirchlichen H a n d e l n s zu gewinnen. Leitende Kategorien f ü r diese A u f g a b e kritischer R e c h e n s c h a f t s a b g a b e sind E r f a h r u n g , Erinnerung, Solidarität, E r w a r t u n g und Verheißung. Die Kategorien Erinnerung und Erwartung spielen in den dargestellten Z u s a m m e n h ä n g e n eine besondere Rolle (vgl. f u n d a m e n t a l t h e o l o g i s c h : M e t z 161 ff; im Blick auf den Gottesdienst: Jetter 158 ff; auf die Predigt: Bohren 159 ff). Kirchliche Praxis ist gebunden an die E r i n n e r u n g des a u f e r s t a n d e nen Gekreuzigten und ausgerichtet auf die E r w a r t u n g des Reiches Gottes als Bestimmung der Geschichte. 3. Geschichte
als Thema
kirchlicher
Praxis
D a s Problem des „christlichen Umgangs mit der G e s c h i c h t e " ( B o r n k a m m ; Ebeling, D o g m a t i k I, 2 8 1 - 2 8 9 ; Ricoeur) stellt sich - besonders unter d e m Gesichtspunkt der V e r a n t w o r t u n g f ü r die Geschichte (Schulz 610 ff; Picht 26 ff) - in allen Praxisfeldern. Die Aufgabe, eine Kirchengeschichtsdidaktik zu entwickeln, stellt sich vor allem im Blick auf schulische Lernfelder; sie u m f a ß t aber die Frage, wie Kirchengeschichte im Alltag begegnet und in der Öffentlichkeit (Massenmedien, Ausstellungen, Museen) vermittelt wird. 3.1. Zur Entwicklung der Kirchengeschichtsdidaktik. Kirchengeschichte g e w a n n als selbständiger Unterrichtsinhalt erst von der Mitte des 19. Jh. an Geltung. In der Praktischen Theologie setzte sich zuerst Palmer f ü r ihre Behandlung im „christlichen J u g e n d u n terricht" ein. Eine didaktisch-methodische Gestaltung erfolgte durch die aus der Schul-
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pädagogik entstandene religionspädagogische Bewegung um 1900 (Thrändorf, Reukkauf, Meitzer). Niebergall (vgl. auch Eckert) nahm diese Impulse auf und entwickelte die theologisch und pädagogisch geschlossenste Konzeption. Die Arbeitsschul- und Erlebnispädagogik (Eberhard, Pfennigsdorf) übertrug das Prinzip der Selbsttätigkeit auf den Kirchengeschichtsunterricht. Da dieser seine entscheidende didaktische und methodische Ausprägung erst in der Zeit neuprotestantisch-liberaler Religionspädagogik erfahren hatte, bedeutete die sachgemäße theologische Kritik an der Unterordnung des Religionsunterrichts unter die Idee der historischen Bildung zugleich den Verlust aller fruchtbaren Ansätze (vgl. Philipps 179ff. 335ff). 3.2. Die theologischen Voraussetzungen der Kirchengeschichtsdidaktik. Nach 1945 wirkten die theologischen Bestimmungen des Gegenstandsfeldes stark auf die didaktischen Konzeptionen ein. Besonders wirksam war Barths Urteil (KD 1/1,3: „unentbehrliche Hilfswissenschaft") und Ebelings Verständnis der „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift" (1947; Tradition 9 - 2 7 ) . Diese Aussagen führten gegen die Intention der Autoren (vgl. z.B. KD 1/2, 885) - zur Distanzierung von der Kirchengeschichte bzw. zu einem didaktischen Grundmodell, bei dem Lebensbilder als exempla fidei auf die Auslegung biblischer Texte bezogen wurden (Kittel, Esken, Fror, Otto, Schering; zur Kritik: Karpp 1963, Biehl 1965). Die konsequente Anwendung des Modells führte zu einer Reduktion der Kirche auf die Einzelperson und der Geschichte auf die isolierte Situation; die Kirchengeschichte wurde zu einer „Beispielsammlung" von „Hinführungs- und Anschlußstoffen" (Otto 1964; Neuansätze zeigten sich erst 1968: Koch; Beenken; Themaheft: Ev Erz 1 9 6 8 , 2 1 7 - 2 3 8 ; vgl. Fror, Grundriß 108; Henkys 126). Weil Ebelings Kategorie der Auslegung didaktisch nicht sachgemäß reflektiert wurde, konnte die Erfahrungsfülle der Geschichte und der Erkenntniszuwachs im Umgang mit der Wahrheit des Glaubens vom Ansatz des Unterrichts her gar nicht wahrgenommen werden (vgl. Ebeling, Studium 80—82). Die Diskussion um die theologischen Voraussetzungen muß daher in der Didaktik neu aufgenommen werden. Einigkeit besteht darin, daß die Kirchengeschichte nicht anders zu betreiben ist als die Geschichtswissenschaft; alle zur Verfügung stehenden Methoden - auch struktur- und sozialgeschichtliche (für die Didaktik vgl. Biehl 1974; Veit) - können auf die Kirchengeschichte angewendet werden. Zu einer theologischen Disziplin wird sie durch das theologische Urteil, das zugleich die Auswahl innerhalb des Gegenstandsbereiches und die Auswahl der Methoden leitet. Der theologische Charakter der Disziplin ist abhängig von dem Verständnis der Theologie als Wissenschaft (vgl. Pannenberg, Wiss.theorie 393 ff; Ebelings erweiterten Neuansatz, Studium 69ff; Rendtorff, Theorie 13 ff; Bornkamm 1978 und Bienerts Übersicht 149 ff).
Im Blick auf die Erfordernisse in den schulischen Lernfeldern erweist sich Rendtorffs Unterscheidung zwischen Christentum und Kirche als notwendig (kritisch: Bornkamm 446ff) und die theologische Aufarbeitung der Religionsgeschichte unter der „Perspektive einer Weltgeschichte der Religionen" (Pannenberg 364; vgl. Bayer 357) als ein dringendes Erfordernis. - Andererseits sind Anforderungen der Praktischen Theologie an die kirchengeschichtliche Arbeit zu formulieren, wenn in ihren Praxisfeldern ein erfahrungsbezogener Umgang mit der Alltags- und Glaubensgeschichte des Volkes gelingen soll (Paul 1982, 1 1 - 1 3 ) . Die Bedeutung des Kirchen3.3. Ziele und Inhalte des Kirchengeschichtsunterrichts. geschichtsunterrichts ist im Rahmen einer theologisch und pädagogisch begründeten fachdidaktischen Gesamtkonzeption zu bestimmen. Seine Inhalte und Ziele lassen sich nicht allein aus der Fachwissenschaft ableiten, sondern werden im Spannungsfeld von drei Perspektiven ermittelt, a) der individuellen, b) der theologischen und c) der gesellschafts- und kirchenkritischen Perspektive. a) Über die Angemessenheit eines Lernangebotes entscheidet nicht allein das Lebensalter, sondern auch das „Lernalter", der fachspezifische Interessens-, Kenntnis- und Leistungsstand. Die Aus-
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gangslage des Unterrichts muß daher vor Ort sorgfältig untersucht werden, damit die Themen und Ziele gefunden werden können, die die Schüler zur Bewältigung ihrer Lebenssituationen qualifizieren (vgl. zu den lernpsychologischen Grundlagen: Süssmuth 119ff; Hug 52ff; praktische Anregungen: Jendorf 45-52). b) In zweiter Hinsicht sind fachspezifische Systematik und Strukturen zu berücksichtigen. In der evangelischen und katholischen Religionspädagogik werden übereinstimmend „klassische" Inhalte genannt, die erarbeitet werden sollen, weil in den Epochen uns heute noch betreffende Entscheidungen gefallen sind: die Geschichte der Alten Kirche (vgl. Widmann); die Geschichte der Reformation (vgl. Sturm; Themaheft EvErz 1981); die Geschichte der Kirche im 19. und 20. Jh. (Kirche und soziale Frage; ökumenische Bewegung; Kirche im Dritten Reich: vgl. Ev. Kirche u. Drittes Reich 1983). Aus fachlichem oder aktuellem Interesse können weitere Themen als notwendige Ergänzung gewählt werden (z.B. lateinamerikanische Missionsgeschichte; Franz von Assisi: vgl. Bahr/Mahlke u.a.). Aus Zeitgründen sind nicht alle Ereignisse in ihrer chronologischen Abfolge darzustellen, sondern nach didaktischen Kriterien (Biehl 1973, 18-23) sind repräsentative Verdichtungen (Gutschera/Thierfelder: Brennpunkte) zu bestimmen. Aber auch abgesehen von der „Stoffülle" sind geschichtliche Erscheinungen zu strukturieren, ohne dabei das Besondere und Konkrete aus dem Blick zu verlieren. Zur Kirchengeschichte gehören Kategorien (Zeit, Raum, Prozeß, Wirkung), theologische Urteile und die Methoden. Sie ist Ereignis- und Strukturgeschichte (vgl. Süssmuth 157ff). c) Der Unterricht findet in einer konkreten gesellschaftlichen, religiösen und kirchlichen Situation statt, aus der bestimmte Fragen nach dem Gewordensein der Kirchen im Rahmen der Wirkungsgeschichte erwachsen. Umgekehrt stellt die Erinnerung der biblischen Überlieferung die eigenen Glaubensvorstellungen kritisch infrage und hält die Frage nach der Einheit der Kirche in ihrer ökumenischen Bewegung wach (vgl. Schindler 370). Die B e s t i m m u n g d e r k o n k r e t e n I n h a l t e u n d Ziele e r f o l g t im R a h m e n f o l g e n d e r Gesamtintentionen-. a) D e r U n t e r r i c h t k a n n d e n L e r n e n d e n b e w u ß t m a c h e n , d a ß die W i r k u n g s g e s c h i c h t e d e r biblisch-christlichen Ü b e r l i e f e r u n g die K u l t u r , die soziale U m w e l t u n d das gesellschaftliche Leben a u f m a n n i g f a c h e Weise g e p r ä g t u n d die Erlebens- u n d V e r h a l t e n s w e i s e n d e r M e n s c h e n b e s t i m m t h a t , a u c h w o dieser S a c h v e r h a l t n i c h t w a h r g e n o m m e n w i r d ; b) er k a n n d a z u b e f ä h i g e n , die u r s p r ü n g l i c h e D e u t u n g d e r G e s c h i c h t e Jesu in A n s p r u c h zu n e h m e n , u m sich kritisch mit d e n d i f f e r e n z i e r t e n , o f t w i d e r s p r e c h e n d e n T r a d i t i o n e n u n d I n s t i t u t i o n e n a u s e i n a n d e r z u s e t z e n u n d Kriterien f ü r eigene v e r a n t w o r t liche E n t s c h e i d u n g e n zu finden; c) er k a n n p r o b e w e i s e I d e n t i f i k a t i o n e n mit d e m R o l l e n angebot d e r Ü b e r l i e f e r u n g e r m ö g l i c h e n u n d E r f a h r u n g s m u s t e r z u r D e u t u n g eigner E r f a h r u n g e n in jetzigen u n d f r ü h e r e n L e b e n s f o r m e n v o n C h r i s t e n zu e n t d e c k e n helfen (vgl. Linnemann 73f; Süssmuth 182f). 3.4. Die Gestalt des Kirchengeschichtsunterrichts. Bis z u m E n d e d e s K o n f i r m a n d e n a l ters w i r d d i e B e s c h ä f t i g u n g mit d e r K i r c h e n g e s c h i c h t e narrative Z ü g e t r a g e n u n d explorativ e r f o l g e n (z.B. B e o b a c h t u n g e n u n d E r k u n d u n g e n in d e r eigenen G e m e i n d e , im Kloster d e r U m g e b u n g ) . D u r c h die , V e r s t r i c k u n g ' in die G e s c h i c h t e d e r F a m i l i e u n d G e m e i n d e k a n n I d e n t i f i k a t i o n u n d e m o t i o n a l e B e t r o f f e n h e i t erreicht w e r d e n (z.B. L e b e n s z y k l e n , A r b e i t u n d Fest, G e m e i n d e l e b e n im K i r c h e n k a m p f ) . D u r c h die V e r s c h r ä n k u n g v o n e r f a h r u n g s - u n d h a n d l u n g s b e z o g e n e m , v o n a f f e k t i v e m u n d k o g n i t i v e m L e r n e n läßt sich v o m u n m i t t e l b a r e n L e b e n s z u s a m m e n h a n g h e r ein Z u g a n g zu e l e m e n t a r e n S t r u k t u r e n d e r G e schichte g e w i n n e n . Die Erzählung ist die d i d a k t i s c h e G r u n d f o r m , d u r c h d i e K i r c h e n g e s c h i c h t e p r ä s e n t w i r d . D a s b e d e u t e t jedoch n i c h t , d a ß die L e h r e r e r z ä h l u n g u n d d e r S c h ü l e r v o r t r a g m e t h o disch v o r h e r r s c h e n (vgl. L i n n e m a n n ) . Es k ö n n e n v i e l m e h r alle d r a m a t u r g i s c h e n F o r m e n d e r D a r b i e t u n g ( H ö r s p i e l , Leseszene, d a r s t e l l e n d e s Spiel) s o w i e alle audiovisuellen M e dien u n d alle M e t h o d e n des G e s c h i c h t s u n t e r r i c h t s eingesetzt w e r d e n (Jendorf 69 ff; F r o r 109). Die g e n a n n t e n I n t e n t i o n e n k ö n n e n in f o l g e n d e n Strukturierungsformen des Lehrp l a n s realisiert w e r d e n a) Die k i r c h e n g e s c h i c h t l i c h e E r k u n d u n g d e r H e i m a t , b) d e r s e l b s t ä n d i g e L e h r g a n g ü b e r eine E p o c h e a n h a n d v o n B r e n n p u n k t e n o d e r Q u e r s c h n i t t e n ; c) d e r fachspezifische K u r s im Z u s a m m e n h a n g mit t h e m a t i s c h e n E i n h e i t e n (Längsschnitte w i e z.B. Kirche u n d S t a a t , Kirche u n d A r m u t ) . Diese F o r m e n k ö n n e n a b w e c h s lungsreich k o o r d i n i e r t w e r d e n ; a u s ihnen lassen sich keine u n t e r s c h i e d l i c h e n „ T y p e n " des U n t e r r i c h t s herleiten ( R u h b a c h 92ff; S t u r m 17ff).
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3 . 5 . Gegenwärtige Tendenzen. Die Krise des Geschichtsunterrichts hat sich verschärft im Religionsunterricht ausgewirkt. In den 7 0 e r Jahren sind aber von der geschichts- und lerntheoretischen Diskussion wichtige Impulse auf die Geschichtsdidaktik ausgegangen (Kosthorst, Hug, Süssmuth, Rohlfes u. a.), die von der Religionspädagogik bisher nicht in eine didaktische Reflexion aufgenommen sind. Daher hält sich die Klage, daß die Kirchengeschichte das Stiefkind der Praktischen Theologie sei, von den Anfängen bis heute durch. Produktive Ansätze liegen in der Methodenvielfalt eines erfahrungs- und projektbezogenen Unterrichts und in den Versuchen, Aspekte der neueren Kirchen- und T h e o l o giegeschichte durch Biographien und Alltagsgeschichten zu erschließen (vgl. Gremmels/Pfeifer; L o t t 131). In der Rekonstruktion und Deutung der eigenen Lebensgeschichte liegt eine wichtige Aufgabe für Gemeindepädagogik und Erwachsenenbildung. 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2
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Peter Biehl X. Geschichtsphilosophie 1. Problem und Eigenart der Geschichtsphilosophie 1.1. Fragestellungen 1.2. Die „historische Schwelle" 1.3. Die menschliche Geschichtlichkeit 2. Typen der Geschichtspholosophie 2.1. Die
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie X
Zyklentheorie 2 . 2 . Die zielgerichtet-eine Geschichte wertlehre 3. Faktoren und Gesetze der Geschichte
1. Problem
und Eigenart der
2 . 3 . Die Fortschrittstheorie (Literatur S. 6 9 5 )
2 . 4 . Die Eigen-
Geschichtsphilosophie
Selbstverständlich gewordene Traditionen lassen die Menschen 1.1. Fragestellungen. glauben, so wie heute sei es immer gewesen und müsse es in unendlicher Horizontale ewig bleiben. Weiß man, daß Zeiten sich qualitativ unterscheiden, so wird meist ein Wertvergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit, dann auch mit der Zukunft angestellt. Die ersten Geschichtsphilosophien sind Bewertungen: Zeiten gliedern sich in bessere oder schlechtere, die Bewegung der Geschichte zwischen ihnen besteht im Steigen und Sinken. Durch Kombination ergeben sich zahlreiche mögliche Bewegungskurven. Gegenwart deutet sich, indem sie in diesen Geschichtslinien sich selbst einen Platz zuweist. W o Geschichtsschreibung (s. Abschn. I—VI) entsteht, wird sie regelmäßig von meist unreflektierten geschichtsmetaphysischen Überzeugungen getragen. Diese sind ihr oft schon durch ihre Funktion vorgezeichnet: Für den priesterlichen Annalisten und Chronisten wirken in allem Geschehen die Götter, und wir sollen daraus eine praktische oder ethische Lehre entnehmen; er berichtet in pragmatischer Absicht, will für künftiges Verhalten eine Mahnung und Warnung erteilen, will erziehen. Für den Höfling sind geschichtsbewegend die militärischen und politischen Taten des Herrschers, die er zu seinem Ruhm festhält. Implizite, „heimliche" Geschichtsphilosophie dokumentiert sich noch in der „autonomen" Geschichtswissenschaft, ja im —»Positivismus, etwa darin, ob die Monographie über einen Dichter mit einer Lebensgeschichte oder einer Geschichte der von ihm benutzten literarischen Gattung beginnt. Nach Erich Rothacker, der die implizite Geschichtsphilosophie aus den Historikern selbst herauszuheben unternahm, ist sie sachnäher und daher aufschließender als die ausdrückliche der Philosophen. Diese entsteht oft in geschichtlichen Umbrüchen, Krisen: Die aus dem vertrauten Rahmen springende Geschichte macht g e s c h i c h t s b e w u ß t . Jahrhundertelang glaubte man an die Roma aeterna, bis das Reich von den Goten zerstört wurde: Vor diesem Erfahrungshintergrund entstand —> Augustins De Civitate Dei. Die -»Aufklärung ersetzte gelebte Tradition durch rationale Weltgestaltung: Damit wurde ihr auch die Tradition erst als Geschichte sichtbar. Aufklärerische Geschichtsphilosophie bestimmte ihren eigenen Standort als den des von jetzt an steiler ansteigenden und bewußt vorangetriebenen „Fortschritts" (so noch bei Auguste Comte, während bei —»Hegel die Vollendung schon erreicht ist). Geschichtsphilosophie wurde jetzt mehr als Betrachtung des auch ohne unser Zutun Geschehenden, bildete vor der Französischen Revolution wie später bei —»Marx Hintergrund und Stimulans für geplante Geschichts Veränderung, beseelte die Handelnden selbst.
Geschichtsphilosophie — hier material als —»Ontologie geschichtlichen Seins selbst, nicht formal als Logik des Geschichtserkennens verstanden (—»Geisteswissenschaft) — geht in Orient und klassischer Antike von Geschichten, von einer Vielheit unabhängiger Geschichtskörper aus, wohingegen Prophetismus und Christentum die Geschichte als menschheitliche Einheit betrachten. Sie läßt sie sich in den Verlaufsformen von Aufstieg und Verfall oder teleologisch auf ein Ziel hin bewegen. Nicht jedes behauptete Ende der Geschichte hat den Rang eines Ziels: die Menschheit könnte im Orwellschen „ 1 9 8 4 " münden. Nur durch ein Ziel gewinnt die Geschichte in ihrem Verlauf einen Sinn. Geschichtsphilosophie fragt: Gibt es in der Geschichte typische Abfolgen, naturanaloge Gesetze? Wenn ja, wie verhält sich zu diesen der Spielraum menschlicher —»Freiheit? Welches sind die Ursachen und bestimmenden Faktoren der Geschichte, sind sie ideeller (—»Romantik, —»Hegel) oder materieller (Morgan, —»Marx) Natur, oder legen die großen Einzelnen „ihre Hand auf Jahrtausende" (-H» Nietzsche)? Ohne in die Spekulativität älterer Geschichtsphilosophien verfallen zu wollen, fordert heute Geschichtswissenschaft selbst eine „analytische Geschichte", eine „Metahistorie", die unterhalb der Wellen der manifesten Ereignisse nach verborgenen Triebkräften und Unwandelbarkeiten forscht. ,Histoire structurelle' will aus dem wechselnd Vielen den Code von Invarianten, die logische Architektur der Entwicklung dechiffrieren, an die der Handelnde gebunden bleibt: Er muß immer aus einer begrenzten Zahl von Möglichkeiten wählen, kann nur, nach ihm unbewußten Regeln, Elemente kombinieren. Weder seiner Individualität, die nur scheinbar ein geschichtsverändernder Letztpunkt ist, noch dem zeitlich Früheren, da im Nacheinander nur ein Uberzeitliches sich variiert, kommen hier Bestim-
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mungskraft zu. Diese liegt vielmehr, wie auch bei den „Psychohistorikern", in einem unbewußten Mechanismus des Geistes und in objektiven Strukturgesetzlichkeiten. Die Tragweite geschichtlichen Wandels, so werden wir hier belehrt, w u r d e kurzsichtig überschätzt. Die „pensée sauvage" (Lévi-Strauss) ist dem entwickelten logisch-systematischen Denken im G r u n d e nicht so fern. M a n beobachtet Wenn-dann-Verläufe: Ackerbauer neigen zu Polytheismus, N o m a d e n zu Monotheismus; zu jedem Absolutismus gehören Beamtenapparat und stehendes Heer. M a n fragt: Unter welchen Bedingungen k o m m t es zu Evolution, unter welchen zu Revolution? Wie überträgt sich Kultur auf andere Areale? Die Sehweise der Griechen, die hinter dem Werdenden auch der Geschichte tragende Konstanten und wiederkehrende Gleichförmigkeiten über Räume und Zeiten hinweg suchten (Polybios' „Kreislauf der Verfassungen") und denen man daher in neuerer Zeit oft Geschichtsfremdheit vorwarf, k o m m t hier wieder zu Ehren. Z u „ M e t a h i s t o r i e " wird sie aber nur durch Antithese zu einer sich eng verstehenden reinen Tatsachenhistorie. Thukydides erkennt als Historiker selbst das Machtstreben als gleichbleibende politische Determinante. W o M a r x den Geschichtsdarstellungen seiner Zeit vorwarf, sie verdeckten die ökonomischen Beweggründe, sähen nicht die Klassenkämpfe, den Kampf um den Besitz der Produkt i o n s m i t t e l - die wahre römische Geheimgeschichte sei die des G r u n d e i g e n t u m s - , da ist dieser Fehler heute längst korrigiert (Rostovtzeff u. a.), nicht n u r in der das ö k o n o m i s c h e verabsolutierenden „materialistischen" Geschichtswissenschaft. Konspektive Betrachtungsweise, die Behauptung „typischer" Abläufe, „ a n a l o g e r " Erscheinungen in verschiedenen Kulturkreisen (—>Geisteswissenschaften), früher von der Geschichtszunft (etwa in der Polemik gegen Karl Lamprecht, Kurt Breysig, Oswald Spengler) als unwissenschaftlich verunglimpft, hält heute im Zuge der Soziologisierung der Geschichtswissenschaft in sie selbst Einzug. 1.2. Die „historische Schwelle". Im Lauf der letzten sechs Generationen hat sich der Geschichtsumkreis immens erweitert: 1.2.1. Das Christentum bezog alle Geschichte auf den H a u p t s t r a n g der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte: —»Bossuet läßt den ersten chinesischen Kaiser einen Sohn N o a h s sein. N o c h bei Hegel bildet die „orientalische Welt" n u r eine Vorstufe der griechisch-römischen. Erst nach dem Abbau dieses „Europozentrismus" (Spengler) wurde fremde Geschichte zum eigenzentrierten gleichwertigen Gegenstand. 1.2.2. Verlassen ist ferner die zeitliche Beschränkung auf zunächst 3 0 0 0 Jahre — so noch bei Goethe — seit den Griechen und der Bibel, d a n n 6 0 0 0 Jahre seit den frühen Hochkulturen. Auch die zu Unrecht sog. „Vorgeschichte" zählt, obgleich die M e t h o d e n ihrer Erforschung andere sind, in gleicher Weise zur Geschichte. Ebenso tun es die sog. „Primitiven": Sie sind keine „ N a t u r v ö l k e r " . Auch bei ihnen spielen sich geschichtliche Vorgänge ab. Gegen den „ U b i q u i s m u s " , der gleiche Einrichtungen an verschiedenen Punkten der Erde spontan entstehen läßt, setzte sich in der Ethnologie der „Diffusionismus" durch, der die Gleichheit aus Wanderungen von Völkern oder Kulturgütern erklärt (s. Ratzenhofers Polemik gegen die „ R a u m s c h e u " ) . Geschichte ist, w o Menschen sind. 1.2.3. Im eigenen Kulturkreis fällt nur das sich Ereignende und Verändernde auf, und dies ist sehr oft das Politische. Deshalb usurpiert ungerechtfertigterweise die politische Geschichte den Begriff der „Geschichte" ü b e r h a u p t . Neben ihr entwickelte sich bei den Griechen nur Philosophie-, im christlichen Zeitraum Kirchengeschichte. Erst aus größerer zeitlicher Distanz oder angesichts eines fremden Kulturkreises verlieren auch die über längere Zeit stabilen kulturellen Z u s t ä n d e den C h a r a k t e r selbstverständlicher Voraussetzungen und werden als eigenes Geschichtliches sichtbar. Für den Ägyptologen ist der Staat nur eine, und nicht einmal die interessanteste D o m ä n e neben Religion, Gesellschaft, Wirtschaft, Technik. Kant und Hegel (dieser entgegen seiner eigenen kulturgeschichtlichen Konzeption eines Fortgangs des Geistes von —»Kunst zu —»Religion und —»Philosophie) vertraten den geschichtlichen Vorrang des Staates. Kulturgeschichte und weltbürgerliche Sozialgeschichte, die Analyse der menschlichen N a t u r im historischen Z u s a m m e n h a n g , schon von —»Montes-
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quieu und Voltaire begründet, führten zumal in Deutschland, w o Rankes Betonung des Politischen einen Rückschritt einleitete, eine Randexistenz (Jacob Burckhardt) und wurden vielfach in Sonderdisziplinen (Nationalökonomie, Volkskunde) abgedrängt. Im Laufe des 19. Jh. verselbständigten sich die „geistesgeschichtlichen" Disziplinen. Geschichte k o m m t nicht nur den Menschen, Einzelnen oder Völkern zu, sondern auch dem „objektiven Geist": einem Bereich wie der Sprache, einem Stil wie dem Barock, einer literarischen Gattung wie dem D r a m a . Hinter der Einzelgeschichte entdeckte man den Consensus (Comte) aller Gebiete einer Kultur in einer Epoche, den Zeitgeist, der seinerseits den romantischen Volksgeist modifiziert, die Einheit des Stils (Nietzsche). Jede Kultursphäre, jede Einzelleistung bewegt sich bereits in der Rahmung (E. Rothacker) der großen Vorentscheidungen einer Epoche und Kultur und wird, indem sie sie auf neue Gegebenheiten anwendet und damit auch abwandelt, von den Vorentscheidungen ebenso begrenzt wie entlastend gehoben. Die Erziehung durch beharrende Verhaltensstile, durch übernommene Vorbahnungen steht der Freiheit, der Produktivität nicht entgegen und wird im allgemeinen auch nicht als ihr entgegenstehend empfunden. Den Primat des Staates (—»Staat; —>Staatsphilosophie) für die Geschichtsschreibung vertrat noch Eduard Meyer. Auf die Frage, wodurch bloßes „Geschehen", das nur da war, „um wegzusinken" (Hofmannsthal), die „historische Schwelle" überschreitet und dadurch „Geschichte" wird (Simmel nach Droysen), antwortet er: durch Wirksamkeit. Doch wirksam sind auch Klima und Rasse, Wirtschaft, Sprache, ist die Religion, deren Erneuerung auch die Kunst erneuert (wie unter Echnaton) und die nach Max Weber sogar in die Wirtschaft ausstrahlt (der Anteil des Calvinismus am Aufstieg des Kapitalismus). Wirksam ist auch die Philosophie, von Hegel als „das Innerste der Weltgeschichte" bezeichnet: Die „Selbstbewegung der Idee" zieht die geschichtliche Bewegung nach sich. Nicht nur das Wirkende ist geschichtlich denkwürdig, sondern das Wertvolle, selbst wenn es nie wirkte (wie z. B. eine neu ausgegrabene griechische Statue). Endlich setzt die Geschichte eine ,Prämie' auf das Neue, auch wenn es negativwertig ist, auf die ersten Durchbrüche, selbst wenn sie noch tastend und ungelenk sind: So wurden hervorragende Spätimpressionisten kaum mehr beachtet seit dem Auftreten der ersten Expressionisten. Aus all diesen Gründen hat die politische Geschichtsschreibung ihre Vorrangstellung verloren. Als Gegengewicht gegen sie zeichnet sich „allgemeine Kulturgeschichte" ab, die jedoch wegen der Zersplitterung der Kulturgeschichte in zahlreiche Disziplinen bis heute darum ringt, über populäre oder weltanschaulich gebundene Ansätze hinauszukommen. 1.3. Die menschliche Geschichtlichkeit. N a c h alter Auffassung hat nur der—»Mensch Geschichte, während sich in der N a t u r stets dasselbe wiederholt. Allein, das beruht auf optischer Täuschung. Biologische Gattungen, Mineralien, Sonnensysteme bleiben zwar über Jahrmillionen hinweg gleich, aber auch sie sind einmalig, entstehen, vergehen und kehren nicht wieder. Indem C. F. v. Weizsäcker mit Recht auf die Geschichtlichkeit auch der —> N a tur hinlenkt, läßt er jedoch zu Unrecht den Menschen von ihr nur dadurch unterschieden sein, daß der Mensch um seine Geschichte weiß. Der Unterschied liegt viel grundlegender darin, daß der Mensch seinem Wesen nach nicht festgelegt, nicht instinktgelenkt, nicht allein für eine Lebensweise bestimmt, daß er in weit höherem M a ß als alle sonstige N a t u r in sich offen, variabel ist. Aus dieser formalen Variabilität wird faktische variatio: 1. durch seine Geschichtsmächtigkeit. In —»Freiheit erfindet er sich in Technik, Wirtschaft, Sozialaufbau, Kunststil etc. jeweils neue Lebensverlaufsformen; 2 . durch seine Geschichtsabhängigkeit. Plastisch-bildsam eignet er sich diese schon früher geschaffenen Formen an, die ihm durch Tradition übermittelt werden. Z u diesen beiden Geschichtlichkeiten tritt die Geschichtsfcewußtheit erst sekundär hinzu. Aus der Mannigfaltigkeit des Kulturellen folgerten schon die Sophisten, daß es auf menschlicher Thesis (Satzung) beruhe: Objektive Pluralität indiziere die subjektive Produktivität. Aufgrund kulturphilosophischen Denkens entdeckten sie die anthropologische Verankertheit der Geschichte. Geschichte ist der Inbegriff dessen, was vom Menschen - wenn auch wegen objektiver Sachzwänge oft ungewollt oder unbewußt — gestiftet wird. Sie gründet in einer Seinsbeschaffenheit ihres Trägers. Objektive Geschichte gibt es, weil der Mensch das geschichtliche Wesen ist. Was wir in ihr als ein Gegenüber betrachten, ist explicatio unserer selbst. Der Mensch ist geschichtlich in doppelter Weise. J. P. —»Sartres Formulierung, er sei „zur Freiheit gezwungen", gilt ethisch wie auch kulturell. Selbst die elementarsten Tätigkeiten, ohne die er nicht
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überleben würde, sind bei ihm in ihrem Wie bereits geschichtlich mutabel. Uber diesem Kondominium von Notwendigkeit und Freiheit (—>Existenzphilosophie/Existentialismus) erhebt sich sodann der Bereich, in dem er auch über das Ob von Tätigkeiten und ganzen Kultursphären entscheidet.
Zu intensiveren Graden wird Geschichtsmächtigkeit in der Regel nur mobilisiert durch äußere Provokation, durch eine Herausforderung, auf die nach A. J. Toynbee eine „schöpferische Elite" die Antwort findet. Ohne Herausforderung wirkt sie nur in kleinen Schritten und erreicht dann kein Bewußtsein ihrer selbst. Ihren Nullpunkt hat sie in Zuständen, die nur eine von Früheren gefundene Lebensweise bewahren und weitergeben. F. W. J. —»Schelling spricht von einer „Zeit der vollkommenen geschichtlichen Unbeweglichkeit", in der die Menschen nur gleichförmig wiederholen, was schon ihre Väter taten, von einer „im Grunde zeitlosen Zeit". Die Romantik hat die geschichtliche Inaktivität, für die exemplarisch von Creuzer bis Bachofen und Klages die sog. „Pelasger" stehen (die „kalten Gesellschaften" von Lévi-Strauss), als organische Einbettung des Menschen in den kosmischen Kreislauf gerühmt, während Spengler vorkulturelle Pflanzenhaftigkeit ebenso wie nachkulturelles Fellachentum gering wertet. Schelling weiß auch, daß geschichtsverändernde und fortgangslos-zirkuläre Daseinsweise nicht bloß zwei sich ablösende Phasen sind; auch kreative Zeiten und Menschen verhalten sich in weiten Bereichen des Lebens, in denen die überkommenen Muster sich bewähren und einer Abwandlung nicht bedürfen, nach wie vor reiterativ. Wir leben beständig auf zwei sich pyramidal überschichtenden Ebenen der Geschichtlichkeit (die ihrerseits auf der Naturschicht in uns ruhen). Oft herrscht zwischen Stabilitäts- und Neuerungstendenz ein Antagonismus. Bald ist Neuerung neben jener nur ein schmaler Streifen (insbesondere die Kunst bietet sich zum „Stilwandel" an), bald erstreckt sie sich auf breitere und elementarere Lebensbereiche. Nach Pareto gibt es immer nur geschichtstragende Eliten, während die Mehrzahl die einmal angenommene Form nicht verläßt (oder sie nimmt die neue Form spät ebenfalls an und hält dann noch an ihr fest, wenn in den Zentren längst wieder eine andere herrscht: „gesunkenes Kulturgut"). Geschichtliches Schöpfertum setzt aber auf der objektiven Seite neues noch Schaffbares voraus; sind ihre Möglichkeiten erschöpft, so tritt eine Kultur in die Erstarrungsphase. Nach Gehlen u. a. bricht heute für die Menschheit als ganze das „posthistoire" an. Auch beharrende Frühzustände zeigen unter sich unendliche Vielfalt, sind nicht, wie die —»Romantik glaubte, „natürliche Kultur", die es nicht gibt. Auch sie gehen, obgleich sie sich selbst naturhaft zu interpretieren pflegen, auf eine Thesis zurück, stehen nicht am „Anfang" und sind ebenfalls geschichtlich im Sinn der Geschichtsabhängigkeit, der Bestimmtheit durch ehemalige Findungen. Generell gilt: „Ebenso wie Natur bin ich Geschichte" (Dilthey). Wie die Geschichtsmächtigkeit bei ihrer Bewußtwerdung mit Stolz empfunden zu werden pflegt, so umgekehrt die Geschichtsabhängigkeit als Demütigung, ja als eine der großen Demütigungen neben der Kopernikanischen, Darwinistischen und Freudianischen: Das für absolut und ewig Gehaltene der eigenen Sitte und Wertung ist „nur geschichtlich", durch zufällige Realität bedingt, dem Wandel alles Irdischen unterworfen! Es mag auch diese Gefühlssperrung gewesen sein, die menschliches Selbstverständnis die längste Zeit davon zurückhielt, Geschichtsbestimmtheit bis in die letzte Tiefe greifen zu lassen. Der Mensch zerfiel demnach in zwei Hälften: in der Innenzone überzeitlich, außergeschichtlich, sich immer gleichbleibend, wird er nur in der Außenzone, per accidens, in die Geschichte hineingezogen. Sie bildet für das Wesenhafte an ihm nur den äußeren, indifferenten Rahmen. Dasselbe gilt für die Kultursphären: Auch der Staat hat in „naturrechtlicher" Auffassung eine unwandelbare Essenz, die sich durch alle Veränderung der geschichtlichen Staaten durchhält, oder eine Norm, an der jeder reale Staat zu messen ist. Collingwood wies nach, wie sehr der „Substantialismus" der antiken Historiker ihr Verstehen begrenzt: Für Livius ist Rom von Anfang an, was es bis zum Schluß bleibt, und für Tacitus ändert sich der Charakter des alten Tiberius nicht, sondern es werden nur Eigenschaften sichtbar, die er bisher in sich verschloß. Die Entwicklung wird — wie bei Aristoteles - nur als Entfaltung, nicht als Umformung gesehen.
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Demgegenüber ist für das Christentum der Mensch ein anderer je nach dem, ob er vor oder nach Christus lebt. Sein geschichtlicher Standort bestimmt sein innerstes Sein. —>Dante verbannt die höchsten Figuren des Altertums, weil sie Heiden waren, mit zwei Ausnahmen in die Hölle. Der Einzelne muß sich aus dem Ganzen der Geschichte, das nicht nur vergängliches Beiwerk, sondern „soteriologisch relevant" ist, verstehen und aus ihm leben; er wird, was er ist, durch Erinnerung und Erwartung. Ohne die Wertung, ohne die Beschränkung auf bestimmte Zeiträume, kehrt diese Geschichtsanthropologie wieder in der goethezeitlichen „historistischen Revolution" — nach Meinecke der zweiten großen deutschen Geistestat nach der Reformation. Geschichte wird hier zum radikalen Schicksal: Der Mensch steht nicht mit einem Kern noch diesseits ihrer, er hat nicht Geschichte, er ist Geschichte, ist ganz von ihr durchwachsen. Nur im Rahmen von Kultur, Volk und Epoche werden wir ihm erkennend gerecht. Selbst Gefühle wie Freude und Liebe sind nur partiell natürlich, sie werden zu verschiedenen Zeiten verschieden gelebt, Begriffe wie Vernunft und Tugend verschieden gedacht. Auch hier erweist sich, was suprahistorisch schien, als zeitlich-individuell. 2. Typen der
Geschichtsphilosophie
Es gibt vier große Typen der Geschichtsphilosophie. Nach der 2.1. Die Zyklentheorie. orientalisch-antiken Zyklentheorie besteht die Geschichte aus einer Vielzahl untereinander inkohärenter, nach-, aber auch nebeneinander liegender Geschichtskörper, von denen jeder naturanalog wie Sonne und Mond einen Kreisbogen, wie ein Lebewesen Blüte und Verfall durchläuft, um sich dann entweder selbst zu erneuern oder einem andern Raum zu geben. Die Zyklentheorie hat Vico im 18. Jh. wieder aufgegriffen, doch bleibt bei ihm offen, ob die Geschichte nach dem „ricorso" abermals von vorn beginnt. „Der Name Geschichtsphilosophie stammt von Voltaire, die Disziplin aber von Vico" (Thyssen). Vico vorangegangen war die Einteilung der Humanisten, die zwischen Antike, Mittelalter und Neuzeit unterschieden, welch letztere nach ihnen die Antike fortsetzt. Demgegenüber eröffnet nach Spengler das Mittelalter, als unser Altertum, den neuen Kulturkreis des Abendlandes. Nicht Antike und Neuzeit, sondern Mittelalter und Neuzeit gehören also hier zusammen. Nach Blumenberg hingegen sind Antike und Mittelalter als verbunden zu sehen, während erst die Neuzeit einen radikalen Bruch vollzieht. In Gegenwendung zur jüdisch-christlichen Auffassung von einer einheitlichen Gesamtgeschichte der Menschheit ist für Spengler, der die Theorie der vielen Geschichtskreise in unserem Jahrhundert erneuerte, bei dem aber die Geschichtsakteure nicht mehr nur Völker und Staaten, sondern die umspannenden acht großen Kulturen sind, die Menschheit ein leeres W o r t , die Einheit der Weltgeschichte eine Fiktion. Bilden bei Hegel Völker und Kulturen Akte eines einzigen Dramas, von denen der frühere den späteren vorbereitet, so müßte man Spengler zufolge umgekehrt die Jahre jeder Kultur, statt sie auf der durchgehend-universellen, ihr äußerlichen Zeitskala einzutragen, nach ihrer geschichtlichen „Eigenzeit" zählen. (Wie sein Zeitgenosse Einstein eine solche physikalisch den Himmelskörpern zuschrieb, weil Zeit immer auf eine Bewegung bezogen ist.) Kulturen sind einander bei Spengler im tiefsten Grund so fremd, daß sie weder etwas voneinander übernehmen (so nur in der „Merowingerzeit" und in der synkretistischen Spätperiode, während sie es sonst ins eigene Gesetz umschmelzen) noch sich auch nur (womit er irrt) verstehen können. Es kann vorkommen, daß sich eine unentfaltetere Kultur der „Sprache" einer reiferen, mächtigeren bedient, aber hinter dieser „Pseudomorphose" gilt es, ihren wahren Seelenton herauszulesen.
Wie keine Einheit, so hat die Geschichte nach Spengler auch weder intrakulturell noch als ganze ein Ziel. Sie erreicht wohl Höhepunkte, verläuft aber „in erhabener Zwecklosigkeit". (Auf demselben Grundkanevas entstehen, nach dem Zusammenbruch des Fortschrittsoptimismus des 19. Jh., nach dem Verlust der Zukunft, in den 20er Jahren die geisteswissenschaftlichen Typologien, verabsolutiert sich bei Heidegger die je eigene Existenz, wird bei Kafka die Welt zum ausweglosen Labyrinth.) Alle typischen Stationen ihres Lebenslaufs von etwa tausend Jahren sind einer Kultur nach Spengler wie einem Organismus vorgezeichnet (während Toynbee der Geschichte mehr Spontaneität zubilligt), und dazu gehört auch ihr Tod. Sobald sie ihre schöpferischen Möglichkeiten „ausgeblüht" hat (dieser Vergleich mit einer Pflanze ist charakteristisch), tritt sie in die nur noch zivilisatorische Erstarrungsphase ein, in der sie entweder noch Jahrhunderte stagniert oder, da mit dem Erlahmen
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der Phantasie auch die politische Lebenskraft versagt, sich von innen zersetzt resp. von außen zerstört wird. Zivilisation ist die Endphase jeder Kultur. Die bevorstehenden Phasen einer Kultur getraut sich Spengler — wie in der Antike Polybios - durch Vergleich mit anderen vorherzusagen. (Geschichtsvorhersage ist aber nicht an Zyklentheorie gebunden, sie kann auch bloß die „Tendenz" der Gegenwart in die Zukunft verlängern [Marx, Nietzsche].) In jeder Zyklentheorie ergeben sich von einer Geschichtseinheit zur anderen formale Entsprechungen der Erscheinungen und Stadien, sog. kategoriale „Gleichzeitigkeiten". Sie alle können funktional richtig sein und dem Nahrücken eines Fremden, auch der „wechselseitigen Erhellung" dienen, sind aber substantial falsch, weil sie von der Spezifität absehen. Mit Korresponsionen zwischen vorchristlichem und christlichem Zeitraum arbeiten schon —»Patristik und —»Scholastik. Auch im tertium imperium wird sich diese Typik nach —»Joachim von Fiore noch einmal wiederholen. In der Romantik parallelisierte man Homer und Nibelungenlied. Bei Mommsen ist Mithridates ein „Sultan", Rohde fand „Bakchen" auch bei den Primitiven. Aus historisch individualisierenden Begriffen werden dabei Typenbegriffe: Es gibt jetzt auch antikes Mittelalter, antiken Barock (vgl. Leo; Burckhardt; Lamprechts zwölf „sozialpsychische" Entwicklungsstufen selbst in China; Breysig). Spengler kehrt zwar auf der einen Seite hervor, daß jede Kultur eine andere Hauptprämisse macht. Sie hat eine „Schicksalsidee", die eine durchgehende morphologische Verwandtschaft all ihrer Einzeläußerungen bis hinein in Kriegstechniken und Wirtschaftsformen, ja in die Mathematiken begründet (vgl. die umspannend-zusammenhaltende value-orientation einer Gesamtkonfiguration Ruth Benedicts in der amerikanischen Kulturanthropologie). Spengler individualisiert also die Kulturen. Dies ist seine nichtantike, neuzeitliche Komponente. Aber wie er ein Meister darin ist, Formübereinstimmungen auf den verschiedenen Gebieten innerhalb einer Kultur zu finden, so auf der anderen Seite auch darin, sie von Kultur zu Kultur herzustellen. Er exzelliert in Gleichsetzungen — wie sie auch schon Montesquieu und Gibbon anstellten — wie denen Descartes' mit Pythagoras, Polygnots mit Rembrandt, Napoleons mit Alexander (richtiger wäre: mit Caesar, während Alexander dann eher einem Condottiere gliche, und des Ersten Weltkriegs nicht mit Actium, sondern mit der frühen Kaiserzeit). Spengler verbessert die Schematik noch durch die aus der Biologie genommene Unterscheidung von morphologischer Homologie und funktionaler Analogie. „Homolog sind dionysische Strömung und Renaissance, analog (weil in beiden eine religiöse Verinnerlichung stattfindet) dionysische Strömung und Reformation" (Spengler 150). 2.2. Die zielgericbtet-eine Geschichte. Denken die Griechen morphologisch und synchronisch, so Juden und Christen moralisch und diachronisch. 2.2.1. In der Geschichte spiegelt sich eine sittliche Weltordnung. Gott belohnt den Gerechten durch Sieg, bestraft den Sündigen durch Niederlage. 2.2.2. Gibt es nur Einen Gott, und ist er es, der auch die Geschichte lenkt, dann gibt es auch nicht „Geschichten", sondern nur eine der Menschheit gemeinsame Gesamtgeschichte. Jahwe kümmert sich nicht nur um Israel, er benützt auch Assur und Babel als Stock und Hammer. So folgt für die Propheten aus Monotheismus Monolinearismus. Bei den Griechen sich wiederholendes Geschichtsgesetz, bei den Hebräern einmaliger Geschichtsentwurf. Während die Griechen ihre Geschichte nach Olympiaden, die Römer ab urbe condita rechneten usf., schuf auf dieser monolinearen Voraussetzung später Eusebius eine einheitliche Zählung der „Weltgeschichte", die aber bei uns nur noch ein formales Gerüst ohne religiöse Aussage ist und von Spengler ironisiert wird. 2.2.3. Auf der einen Geschichtslinie kehrt keine Figur und kein Ereignis wie in den Zyklen wieder. Jede Stelle ist einmalig. Weltschöpfung, Sintflut, Messias - in den orientalischen Vorlagen „typische" Vorkommnisse - werden in der Bibel singularisiert. Das jeweils Besondere trägt aber über seine Faktizität hinaus universelle Bedeutung, der historische Jesus kann zugleich der Erlöser Christus sein, weil durch das Konkrete ein Transzendentes durchscheint, ohne daß sich dieses jedoch, wie es griechisch-philosophischem Geist entspräche, beweisend als „notwendig und allgemein" demonstrieren, vom Konkreten lösen und
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abstrakt für sich fassen ließe (dieses nichtdualistische Ineinander kehrt, von der Heilsgeschichte auf alle Geschichte übertragen, in der Geschichtsphilosophie der Goethezeit wieder). Erst sekundär, zur Versöhnung der drei Geschichtswelten Antike-Judentum-Christentum, kommt es zur„Typologie" der vorbereitenden und erfüllenden Gleichläufe im „Spiralismus". In figuraler Zuordnung präfiguriert eine prophetisch adumbrierende Gestalt der vorchristlichen Zeit eine analoge des Christentums (etwa die Opferung Isaaks das Opfer Jesu). Diese Typologie ist das Pendant der stoisch-moralischen Allegorese und wird seit den Kirchenvätern oft mit ihr kombiniert, so daß sich ein „dreifacher Schriftsinn" ergibt. 2.2.4. Die Geschichte lenkend, verfolgt Gott laut den Propheten einen Plan: Sie ist durch seine „Vorsehung" bestimmte und daher als Zusammenhang verständliche „Heilsgeschichte" und soll ins verheißene messianische Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, das alle Völker als Jahwe-Verehrer umspannen wird, münden. Wie die Welt, die bei den Griechen ewig ist, so hat die Geschichte hier mit dieser nach einem Anfang auch ein Ende. Sie ist also nicht nur Linie, sondern gerichtete Linie. Sie bewegt sich auf ein Ziel zu. Auf Paulus geht der Aufriß sub natura, sub lege, sub gratia zurück. Nach Eusebius bereitete Gott durch Israels Propheten, griechische Philosophie und römisches Weltreich das Erscheinen Christi vor: Nach Erfüllung aller dieser Bedingungen war die Welt für ihn reif. Der Angelegtheit der Geschichte auf ein Ziel widerspricht es nicht, wenn Augustin aus der Zyklentheorie das Lebensaltergleichnis übernimmt, für das eigentlich der Höhepunkt in der Mitte, in der Zeit der vollsten Lebenskraft liegt: Nicht das Greisenalter (saeculum senescens), in das die Menschheit mündet, ist das Ziel, sondern das nach ihrem Tod anhebende Gottesreich, der „Sabbat der Sabbate". Im Ziel kehrt aber, wenn auch auf geläuterter und gereifter Stufe, nur das Anfangsparadies wieder. Das Schema Urstand-Sündenfall-Wiederherstellung amalgamiert sich in der Folge mit dem neuplatonischen Schema Emanation-Remanation. Beide waren in der Geschichtsphilosophie äußerst zukunftsreich und nahmen später die Form an, daß eine durch Reflexion verratene Ursprünglichkeit in einer „zweiten Unschuld" wiederkehren soll (Rousseau, Schiller, Hölderlin, Kleist, Novalis, ja noch Marx, denn auch er will eine geschichtlich entstandene —»Entfremdung rückgängig machen). Auch die Zyklentheorie nimmt eine dreigliedrige Entwicklung an, doch liegt bei ihr der Höhepunkt in der Mitte, während diese hier gerade das „Zeitalter der Sündhaftigkeit" (J.G. —»Fichte) ist. 2.2.5. Darin, daß die Geschichte ein Ziel hat, liegt der Gedanke einer von der Gegenwart toto genere unterschiedenen Zukunft. Zukunft als Raum des völlig Anderen und Neuen ist hier allererst erschlossen. Nachdem das Christentum das Irdische mit dem Erscheinen Christi schon vollendet sein läßt und letzte Erlösung erst vom Reich Gottes erwartet, halten Millenniums-Sekten (—»Chiliasmus III/IV) und Täufer am Versprechen einer auch irdisch höheren Zukunft fest. Darauf, daß seine Eschatologie so verstanden wird, und nicht auf seiner Ethik, beruht die missionarische Kraft des Christentums bis heute bei Völkern, die den Gedanken einer erneuernden Zukunft noch nicht besaßen. 2.2.6. Durch ihren sittlichen Charakter als „Gericht" — die „Weltgeschichte ist das Weltgericht" - und durch das gemeinsame Ziel wird die Geschichte nicht nur abermals und in noch greifbarerer Weise zur Einheit, sondern auch als ganze sinnvoll (Meaning in History lautet der englische Titel des Buches von Löwith). Sie ist weder Zufall noch blindes Schicksal noch nur Menschenwerk, während sie bei den Griechen nur in der allgemeinsten Bewegungslinie einem Gesetz gehorcht, im einzelnen dagegen kontraphilosophische Kontingenz bleibt. Diese Sinndurchwaltetheit, die das Christentum der Geschichte verleiht, ist es vor allem, die die sinndurstige Seele der Menschen für die prophetisch-christliche Geschichtsphilosophie eingenommen und bei vielen die Meinung erzeugt hat, gegenüber der noch mit Natur analogisierenden Zyklentheorie sei erst sie, in der sich Geschichte von den Wiederholungen der Natur freimacht, Geschichtsphilosophie im eigentlichen Verstände. Ausdrücklich wendet sich Augustin gegen „die gottlose Lehre von den nutzlosen Kreisläufen". Erst im Christentum begreift der Mensch seine Wirklichkeit von der Vergangenheit her auf die
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eschatologische Z u k u n f t hin und damit als eine f u n d a m e n t a l geschichtliche. Es bereitet damit schon das Geschichtsverständnis —»Herders und der Existenzphilosophie vor. Aber andererseits ist der Geschichtssinn dieser Geschichtsphilosophie nur ein geglaubter, wissenschaftlich gesehen eine Konstruktion; ein Grieche wäre auf ihn nie verfallen, nicht aus Mangel an Tiefsinn, sondern wegen seines nüchtern-kritischen Geistes. In der stoischen Einteilung der philosophischen Disziplinen k o m m t Geschichtsphilosophie noch nicht vor. Sie ist keine Episteme. Die moralisierende Betrachtungsweise Herodots, f ü r den auf Hybris Buße folgt, wird bei den Griechen abgelöst durch die realistische des Thukydides, für den Geschichte nur Machtanstieg und Machtverfall ist. Wenn sich antike Historiker der klassischen Zeit jeweils auf begrenzte Geschichtsausschnitte beschränken, so geschieht dies aus Wissenschaftlichkeit; erst nach deren Niedergang entsteht bei ihnen wieder Universalhistorie, die aber bei Ephoros und Diodor kompilatorisch bleibt und n u r bei Polybios, der der pagane Vorläufer des Eusebius ist, ein Ziel der Geschichte — die Weltherrschaft Roms — kennt. Das Christentum kann von einem Geschichtssinn um so leichter künden, als von den drei Angelpunkten, in die es die Gesamtgeschichte einhängt: Weltschöpfung, Erlösungstat Christi, Jüngstes Gericht, der erste und der letzte außerhalb der Realgeschichte liegen und es sich um das zwischen den drei Punkten Liegende, da dieses zum Erlösungsweg der Menschheit nichts beiträgt, nicht zu k ü m m e r n braucht. Die Geschichte der wirklichen Staaten, ein Unterschied wie der zwischen Gesittung und Barbarei, k ü m m e r n Augustin nicht. Die Verwebung der Heils- mit der Profangeschichte bleibt im Grunde äußerlich und gelingt innerhalb dieser Tradition erst bei Bossuet mit Hinblick auf das Reich Karls des Großen. Zwischen Geschichtstheologie des Heilsgeschehens und Geschichtsphilosophie der wirklichen Geschichte klafft ein Hiatus. Doch h a t das Christentum durch die Einteilung der Gesamtgeschichte in voneinander geschiedene Epochen (Augustins „Weltwochen") eine Denkweise eingeübt, die dann auch der modernen Profanhistorie zugute k a m . W ä h r e n d christliche Geschichtsphilosophie dem Anspruch nach universell ist, beschränkt sie sich faktisch auf den Heilsstrang der gesta dei in der jüdisch-christlichen Geschichte. Um sie als Bezugslinie wird die übrige, heilsirrelevante Geschichte nur herumgruppiert. Das warf auch Voltaire ihr vor: Sie vernachlässigt China und ü b e r h a u p t die außerchristlichen Kulturen, w ä h r e n d sie die Geschichte des jüdischen Volkes überbewertet. Aber auch Hegel erwähnt n u r Völker, in deren Geist der Weltgeist sich inkarniert und die, jeweils ein neues Prinzip verwirklichend, zum Fortgang in der Selbsterkenntnis des Geistes und zur Freiheit aller beitrugen; alle anderen, auch sie selbst in ihren nicht mehr geschichtsbewegenden Epochen, also etwa die heutigen Griechen, sind n u r „faule Existenz". Umgekehrt haben die antiken Historiker zumeist nur ihren eigenen Geschichtskreis im Auge (ein Schema, das freilich schon H e r o d o t sprengt). Universell wird die Zyklentheorie erst unter (stoischem und) christlichem Einfluß. D a n n aber ist sie gerechter als die Heilsplangeschichte, u m f a ß t der Absicht nach die ganze Menschheit, von der sie jedem Glied Selbständigkeit zubilligt und keines ausläßt. Der Preis für diese Vollständigkeit liegt freilich darin, daß die so entstehende Universalgeschichte nur auf Additivität beruht. Die Menschheit ist hier nicht unurrt substantielle, sondern n u r unum per accidens ohne gemeinsames Wollen oder Schicksal. 2.3. Die Fortschrittstheorie. Die Lehre vom Fortschritt der Geschichte k n ü p f t insofern an Prophetismus und Christentum an, als auch sie die Geschichte auf ein künftiges Ziel zugehen läßt. Aber das Ziel der beiden Religionen besteht darin, daß durch göttliche Verwandlung mit einem Schlag „alles n e u " wird; das Ziel der Fortschrittstheorie ist Telos der Welt selbst, das von Menschen, f ü r die Geschichtsphilosophie nicht n u r kontemplatives Wissen bleibt, sondern eine Waffe in ihrem Kampf bedeutet, in sukzessiver Annäherung realisiert werden kann und soll. Sie fühlen sich verantwortlich f ü r eine von ihnen „ m a c h b a r e " Geschichte, w ä h r e n d ein solcher menschenbewirkter Fortschritt f ü r das Christentum einzig in der zunehmenden Missionierung und Christianisierung der Ö k u m e n e liegt. D o r t steht das Ziel schon fest, hier ist es ein offenes, schöpferisch anreicherbares. Dort besteht das Ziel im „Ende der Geschichte", die, wie die „vier Weltreiche" Daniels, als ganzes nur ein Zwischen-
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spiel, ja bei Augustin eine Strafe für Sünde ist, hier soll durch immanente Zielgebung die bejahte Geschichte in Bewegung und zu Produktivität gebracht, in sich vervollkommnet werden. Dort hofft man auf göttliche Erlösung, hier erstrebt man „Selbsterlösung" durch Wissen und Verfügungsgewalt, „besseres Leben" in Humanität und Gesittung, Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung, sucht Glück und Prosperität. Nach Voltaire besteht der Sinn der Geschichte in der Perfektibilität der diesseitigen Zukunft, während die Superstition die Gegenkraft bildet. Daher ist Fortschrittsglaube nicht nur „Säkularisation" christlichen Endreichglaubens (bei Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, 1966, 1. Kap.). Wohl dagegen übernimmt der Fortschrittsglaube, im Unterschied zur romantischen Betonung der nationalen Geschichte (Völker als „Gedanken Gottes" bei Ranke), die Orientierung an der Universalgeschichte. Wie das Christentum totum genus humanum im wahren Glauben einigen will, so soll hier die Geschichte in der universalen weltbürgerlichen Gesellschaft münden. Der Fortschrittsglaube darf an den ketzerischen —»Chiliasmus und an —»Joachims v. Fiore (von —»Thomas von Aquino abgelehntes) tertium imperium des Heiligen Geistes anknüpfen, das einen Vollendungszustand noch auf Erden, vor dem Jüngsten Gericht, ausmalt. Auf Joachim beruft sich noch —»Lessing; sein Gedanke, daß den Stufen der Geschichte ein Erziehungsplan Gottes zugrunde liegt, geht bis auf die Patristik zurück. Noch E. —»Bloch ist mit seinem Utopismus, wenn man so will, Joachimit. —»Kants „ewiger Friede" hat darüber hinaus seine Vorlage bei Jesaia und dem jungen Zenon. Zu unterscheiden sind Metaphysik eines sich unausweichlich vollziehenden Fortschritts von Fortschrittswillen und -programm. Die Antike (Xenophanes, Epikur) konstatierte schon (gegenüber Verfallstheorien: Hesiod, Kyniker, Stoa) geschehenen Aufstieg, verlängerte seine Linie jedoch nicht in die Zukunft. Dem Zukunftsfortschritt kann entweder ein bestimmtes Ziel (etwa die „klassenlose Gesellschaft", in der Ausbeutung und Gewalt aufhören) gesetzt oder er kann als unendlicher gedacht werden. Bei Hegel ist das Ziel der Geschichte schon erreicht, nach Marx fängt sie gerade eben erst an. Nicht immer vollzieht sich Fortschritt auf allen Gebieten einer Kultur synchron („Mittelalter mit Elektrizität"; der „cultural lag" der Ethnologen), so wie auch analoge Stilepochen nicht immer in die gleiche Zeit fallen: Die Musik erreicht den Gipfel des Barock bei Bach in einem Augenblick, in dem in der bildenden Kunst schon das Rokoko wankt. „Bei der Kunst (ist) bekannt, daß bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, der materiellen Grundlage,. . . stehn" (Karl Marx, Grundrisse, Berlin 1 9 5 3 , 3 0 ) : Sie gedeiht auf unentwickelterer Stufe. Nach —»Rousseau wirkt der Fortschritt auf einem Gebiet, in Wissenschaften und Künsten, zum Vorteil, in anderer Hinsicht, auf die ursprüngliche Güte des Herzens, zerstörend und entfremdend. Er führt zur Verderbnis der Sitten, zu Eigensucht und gegenseitigem Betrug, zu Ungleichheit und Unterdrückung, ist also nur ein relativer Fortschritt, aufs Wesentliche gesehen Rückschritt und daher zu negieren. Im Unterschied zu den Fortschrittstheoretikern, die noch mit dem Christentum dem Menschen eine geschichtliche Bestimmung geben, will Rousseau von der menschlichen Natur das Geschichtliche abstreifen und fordert deshalb eine Pädagogik, die dem Kind nur zur Entfaltung seiner angeborenen Anlagen verhilft. Rückwärtsgewandt, wenn auch den terminus a quo ganz verschieden ansetzend, sind die Romantik, de Maistre, Cortez, Burckhardt, Klages, Heidegger, doch kann dies mit der Hoffnung einhergehen, der heile Ursprung, den wir verließen und der je nachdem in der Steinzeit, im Matriarchat, bei den ,,Pelasgern", den Griechen der vorklassisch-mythischen oder der klassischen Zeit, im Republikanischen Rom, im Mittelalter, in der Renaissance, im Ancien Régime liegen soll, werde sich erneuern (also Aufstieg durch Wiederherstellung). Manche, wie Rousseau, vertrauen auf die reale Möglichkeit des Zurück; typisch romantisch ist verglichen damit die Wehmut um das unwiderruflich Entschwundene, von dem jedoch Relikte - wie Dichtung und Mythos (Görres) - zu uns herüberragen. Zukunftshoffnung und Zärtlichkeit für das Verlorene mischen sich in der modernen Seele unsynthetisierbar. Fortschrittsskepsis breitet sich, wie nach dem Ersten Weltkrieg, wegen der bedrohlichen Möglichkeiten der Technik, der Umweltzerstörung, der administrativen Entpersönlichung, der Verapparatung auch heute aus. Ihr Ausdruck sind die „negativen Utopien" (A. Huxley, G. Orwell).
Nach Alfred Weber kommt von den drei Bereichen Kultur, Zivilisation und Gesellschaft nur den beiden letzten kontinuierlicher Fortschritt zu. Nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hat uns der Fortschrittsglaube geäfft: —»Aufklärung, die uns —»Emanzipation versprach, wird regressiv und mündet ungewollt in neue Barbarei.
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Beide Theorien, die zyklische und die monolineare, werden von der faktischen Geschichte versöhnt. Der neolithische Übergang von konsumptiven Jägern und Sammlern zu produktiven Hirten und seßhaften Ackerbauern vollzog sich fast überall, w a r also ein Ereignis der Menschheit als ganzer. Auf der Basis dieser Großmutation entstanden die einzelnen Hochkulturen, die gegeneinander relativ abgeschlossen waren und f ü r die die Zyklentheorie recht behält. Innerhalb ihrer unterscheidet —»Jaspers (nach von Lasaulx und Th. Lessing) noch die verinnerlichende von ihm sog. „Achsenzeit" (800—200), die sich jedoch auf einige Hochkulturen beschränkt und sich trotz relativer Gleichzeitigkeit nur intern in jeder von ihnen abspielt. Ein planetares Ereignis ist erst wieder die „industrielle Revolution" (—»Industrialisierung) seit dem 18.Jh. Erst durch sie wird, w ä h r e n d die neolithische Revolution zwar ein ähnliches Wirtschaftsniveau erzeugte, aber die Völker getrennt ließ, die Menschheit allmählich zu einem einheitlichen Subjekt. In diesem Sinn beginnt „Weltgeschichte" nicht früher als mit unserem eigenen J a h r h u n d e r t . Die Voraussetzung der christlichen Geschichtsphilosophie von der einen Geschichte der einen Menschheit, die auch der Fortschrittstheorie vorschwebte, wird erst damit real. Die Zyklentheorie gibt also ein Nahbild, während makroskopisch der Monolinearismus gilt. 2.4. Die Eigenwertlehre. Solange sich der Mensch nicht als verantwortlichen Geschichtsfaktor entdeckt hat, mag er noch an gottgeplante oder gesetzhafte, vorbestehende Geschichtslinien glauben, an die er gebunden bleibt und die er bloß ausfüllt. Sobald er dagegen seit der Aufklärung beginnt, Geschichte selbst in die H a n d zu nehmen, will er sich - so wenig wie als Künstler durch ästhetische, als Handelnder durch ethische Regeln - durch vorgezeichnet-determinierende Bewegungszwänge nicht mehr beengen lassen. Nicht zufällig bricht dieselbe Zeit, die politisch die —»Französische Revolution sieht, mit den alten Geschichtsphilosophien, die dem neuerwachten Gefühl für Freiheit und Geschichtsmächtigkeit widersprechen. In Gegenwendung gegen das Geschichtsbild des Christentums und des unverbrüchlichen Menschheitsfortschritts kehrt die Goethezeit (—»Goethe) zum Nebeneinander der vielen unter sich unverbundenen Geschichtskörper zurück. Und auch innerhalb dieser läßt sie weder, hierin auch von der Zyklentheorie sich unterscheidend, Aufstieg und Verfall noch einen internen Fortschritt stattfinden, so wie sie ü b e r h a u p t nicht vernunftgesetzte Höchstformen annimmt, die wir verwirklichen sollen (so wenig wie Höchstzeiten, von denen wir abgesunken sind). Die Pluralität alles Geschichtlichen ist hier nicht n u r eine konstatierte, sondern eine bejahte, denn nur in ihr bekundet sich die geschichtsschöpferische menschliche Kraft. M a n hat den vierten Typus der Geschichtsphilosophie, der in der Goethezeit entsteht, „Eigenwertlehre" genannt (Thyssen): Eigener, nicht an einer allverbindlichen Zielidee zu messender Wert k o m m t für den jungen (nicht den wieder fortschrittsgläubigen späten) Herder, der gleichzeitig gegen die Fortschrittstheorie und gegen Rousseau k ä m p f t , sowohl den verschiedenen Kulturen zu wie innerhalb ihrer den sonst degradierten frühen naiven, noch naturnahen (von Vico und der Romantik sogar über alle andern gestellten) und den späten Zeiten. „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren S c h w e r p u n k t " (Herder, SW V,509). Der Wert von Kulturen und Epochen liegt gerade in ihrer Individualität, in der immer wieder anderen lebendigen Gestalt. Wie die Goethezeit die Pluralität der Geschichtskörper ohne Zyklentheorie vertritt, so vertritt sie (und d a r u m in noch gesteigerter Weise) ihre Individualität ohne Monolineartheorie. Hier zweigen die modernen nationalen Befreiungsbewegungen ab: Jede N a t i o n hat zusammen mit dem Höchstwert auch das Recht auf Eigenständigkeit. Neben dem Individual- bildet der Entwicklungsbegriff, der, wenn man Entwicklung nicht aristotelisch-teleologisch, nicht als Entfaltung eines Keims (s. T R E 3, 7 5 4 - 7 5 6 ) , sondern als Erzeugung gleichstufiger neuer Möglichkeiten versteht, ebenfalls einen Gegenzug gegen das Denken in normativen Wertmaßstäben und ist damit der andere Grundpfeiler des geschichtlichen Denkens (Meinecke). Andererseits wendet sich dieses gegen einen mit dem Fortschrittsdenken verwandten Evolutionismus, der große heterogene Gebiete hierarchisch
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auf einer Aufstiegslinie anordnet, wie etwa bei Comte, dem Religion, Metaphysik und Wissenschaft „drei Stadien" sind, die einander ablösen. Nach heutiger Auffassung sind sie vielmehr gleichstufige Typen; das Erkenntnisziel ist jeweils ein verschiedenes (Scheler). Generell wird das Schema eines wieder aristotelischen Evolutionismus, nach dem etwa bei Wundt stets Animismus, Totemismus und Götterzeitalter sich ablösen, durch typologisches Denken ersetzt (Tönnies, Dilthey, Wölfflin u.a.). Alles Organische, Gewachsene ist für die Goethezeit an seiner Stelle sinnvoll. In Christentum und Fortschrittstheorie hieß „Sinn" der Geschichte, daß sie in ihrem Gesamtablauf ein Sinngeschehen darstellt. Hier dagegen wird das In-sich-sinnvoll-sein des Einzelgeschichtlichen entdeckt, das durch den Sinn der ganzen Geschichte gerade verhüllt worden war. Vom Gesamtsinn her wird der Sinn der jeweiligen Leistung nur darin gesehen - besser: dahin konstruiert - , daß sie zu jenem, über sie hinausliegenden Sinn einen Baustein lieferte und daß sie ein Schritt zum höheren Endzustand war. Gegen solche (noch Hegeische) Mediatisierung und damit Entwertung der Geschichtsepochen richtet sich Rankes Wort, jede von ihnen sei „unmittelbar zu Gott" (darin liegt nicht notwendig, wie man es mißverstand, die These ihrer Gleichrangigkeit). Für alle Fortschrittstheorie bleibt das Frühere nur Vorstufe des höheren Späteren, das Reale nur negative Abweichung von der Idee. Sie steht damit der Beschäftigung mit Geschichtlichem „um seiner selbst willen" entgegen. Das zeigt sich, trotz des ,fiistorischen Materialismus", in den globalen Raffungen ganzer Großepochen (etwa antiker oder mittelalterlicher Philosophie) in marxistischen Geschichtswerken, die insofern noch an die Aufklärung, ja an Kirchengeschichte nach Art des —»Eusebius von Caesarea erinnern und die von westlichen Pseudoprogressiven zu Unrecht als Bekundungen eines „anderen Wissenschaftsstils" verteidigt werden. Der echte Historiker muß eine gewisse Distanz zum Fortschrittsglauben bewahren, die andererseits vom Konservatismus der Fortschrittsgegner zu unterscheiden ist. Auch bei Sinnlosigkeit der Geschichte im Großen kann immanent-sporadischer Sinn in Lebensläufen, Taten und Gebilden liegen. Nach dem jungen Herder hat der Fortgang der Geschichte nur den Sinn, daß er, während jede Gestaltung notwendig einseitig und begrenzt ist, neue (nicht höhere) Gestaltungen ermöglicht und so den inneren Reichtum der Menschheit, ihre Fähigkeit, immer wieder andere Formen zu finden, entfaltet.
Die Geschichtsphilosophie der Goethezeit liegt an der Basis der modernen Geschichtswissenschaft und gehört mit ihr zusammen, während die älteren Geschichtsmetaphysiken Globaldeutungen der Geschichte waren und sie oft gewaltsam in ein Schema ordneten, wogegen die Historiker sich dann zur Wehr setzten. Eine Synthese zwischen Fortschritts- und Eigenwertlehre suchte Hegel, dessen gesamtes metaphysisches System von der Geschichtsphilosophie her konzipiert ist: Das Frühere wird bei ihm durch das Spätere nicht schlechthin überwunden und überflüssig gemacht, wie bei Comte, es bleibt vielmehr an seiner Stelle sinnvoll („die Wahrheit ist das Ganze") und als integrierendes Moment für immer im Höheren „aufgehoben". Kunst, Religion und Philosophie lösen sich zwar ab, behalten aber dennoch eine unmißbare Qualität, die sogar eine Vertiefung der Kunst ermöglicht in einer Epoche, in der sie an sich nicht mehr „an der Zeit" ist. Von vernunfterdachten Idealgestaltungen der einzelnen Kulturbereiche aus war der —»Rationalismus kritisch an die Geschichte herangetreten. Um für einen besseren Zustand Raum zu schaffen, wollte er die irrationale Macht, die sie, voll von Aberglauben, Torheit, Herrschsucht und Bosheit wie sie war, als Tradition bis heute auf uns ausübt, zerbrechen (nach Nietzsche bleibt dies einer der drei lebensgerechten Typen der Historie neben der monumentalischen und der antiquarischen). Der Rationalismus kehrt zur (angeblichen) „ N a tur" des Menschen zurück, will in der Französischen Revolution quer zu allen geworden-sekundären Differenzen, die unwesentlich sind, ja ihn entstellen, seine „natürlichen Menschenrechte" verwirklichen. — Weil die Goethezeit auf das eine Normziel zugunsten der in jeder konkreten Situation neu und anders zu schaffenden Gestaltungen verzichtet, tritt sie demgegenüber 1. lernend, ja bewundernd an die Geschichte heran: In ihr offenbart sich etwas, was Vernunft aus sich allein nicht findet. Zuwendung zur Geschichte dient jetzt der Ergänzung eigener Bruchstückhaftigkeit (Humboldt); sie bewahrt in vernunftbestimmtem Zeitalter, das sich von seiner eigenen Vergangenheit emanzipiert, das dem Sein nach ge-
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schichtslos ist (J. Ritter), die nicht mehr als Tradition gelebte, nicht mehr als Vorbild verbindliche Geschichte wenigstens im Wissen und gibt so dem neuzeitlichen Menschen indirekt wieder eine Heimat in ihr, eine kompensatorische Umhüllung durch sie. Rationalistische und goethezeitliche Motivation der Geschichtszuwendung verbinden sich in der heute vielfach proklamierten „dialogischen" Historie. - Weil die „Historische Schule" Geschichtliches nicht an einem ihm fremden Normziel mißt, weil sie im Umgang mit ihm den (früher teils naiv, teils von Gläubigen offenbarungsfromm oder von Rationalisten vernunftstolz an alles Begegnende angelegten) eigenen Wertglauben suspendiert, die eigene Subjektivität auszulöschen sucht (Ranke), deshalb dringt sie 2. auch im Verstehen tiefer als man bisher drang. Man versteht, was man liebt. In das Individuell-Lebendige, das weder in Begriffe auflösbar noch aus Bedingungen erklärbar ist, fühlt sie sich, weil sie es bejaht, von innen her ein, so wie wir heute auch das Kind, den Träumer, den Primitiven, den Geisteskranken, das Tier aus ihrer je spezifischen Logik verstehen. Sie versteht Fremdes aus seiner eigenen Mitte, in seiner Formgeschlossenheit. Diese Fähigkeit wurde den Protestanten, weil sie mehr Distanz zur Tradition haben, in höherem Maß zugeschrieben als den Katholiken. Sie hat nachweislich noch in unserem eigenen Jahrhundert zugenommen. Dilthey konfrontierte (mit begrenztem Recht) Natur, die wir in ihrer Faktizität nur kausal „erklären", und Geschichte, die wir als bedeutungsvoll, als Sinnzusammenhang „verstehen" können, weil sie von nach Zwecken handelnden Wesen gemacht wird. Diese Uberzeugung geht auf Vico und die Göttinger Historiker des 18. Jh. zurück. Oft ist behauptet worden, die damals gewonnene Fähigkeit historischen Allverstehens wirke lähmend, weil sie eine Vielheit gleichwertiger Möglichkeiten aneinanderreihe und damit auch die eigene nur als beliebige unter anderen hinstelle. Historismus sei nicht nur historische Optik, sondern Relativismus. Nach —»Troeltsch beschwor die Historisierung aller Maßstäbe eine Krise herauf. Allein Herder und die Romantik glaubten an eine „Pluralität der Absoluta". Die vielen Möglichkeiten stehen nicht allgültig — insofern dann doch wieder geschichtsenthoben — zu dezisionistischer Auswahl. Jede von ihnen ist spezifischen, geschichtlich wechselnden Lebensvoraussetzungen zugeordnet, läßt sich auf andere Voraussetzungen nur mit Gewaltsamkeit, nur um den Preis des Unechtwerdens übertragen. Aus diesen müssen vielmehr eigene, neue, in ihrer Einbettung notwendige kulturelle Formen hervorgehen. Noch Milton und Klopstock schrieben nach dem Vorbild Homers oder Vergils „Epen", erst später sah Jacob Grimm, daß das Epos kein ewiges Paradigma sein kann, sondern einer Frühzeit entsprach. Indem der historische Sinn lehrt, jede Form mit ihren Bedingungen, mit ihrem Lebensgrund zusammen zu schauen, baut er die Normativität der Formen ab und trägt dazu bei, in gewandelter Situation die Erzeugung jetzt angemessenen, individuellen Ausdrucks zu entbinden. Geschichtsverständnis und Mut zu neuer, anderer Kreativität gehören zusammen. Der historische Sinn, der aus Sturm und Drang und der Französischen Revolution stammt, heilt selbst die Wunden, die er schlug (Dilthey). 3. Faktoren
und Gesetze der
Geschichte
Ist Geschichte auch nicht an prästabilierte Linien und Kurven gebunden, so verläuft sie doch nicht in völliger Freiheit. Ihr wechselnder Verlauf wird bestimmt durch konstante Faktoren. Bis heute geht ein Streit darum, ob spirituelle oder materielle Instanzen die wirksameren seien. Nach Comte und Buckle ist es der Wissens-, nach Morgan der technische Fortschritt, der den übrigen Fortschritt nach sich zieht. Entgegengesetzte Grundvorstellungen von Raum und Zeit durchprägen bei Spengler sämtliche Bereiche einer Kultur; Religiöses bestimmt bei Max —» Weber sogar das Wirtschaftliche. Eine Zwischenstellung nimmt Hegel ein: Einesteils läßt er Geschichte auf dialektischer Selbstbewegung der Ideen beruhen, andererseits handeln die „welthistorischen Individuen" nur nach ihren Interessen und Leidenschaften. Eine „List der Vernunft" aber (vgl. schon Augustins felix culpa, die JudasSekten, Mandeville, Kant) hat es so eingerichtet, daß sie mit ihrer partikularen Selbstsucht, es nicht wissend und wollend, „Marionetten des Weltgeistes" sind und jeweils die notwendige nächste Stufe des großen Prozesses heraufführen. Aus dieser allzu sinnreichen Ver-
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klammerung behält M a r x nur die Interessen - für ihn die ökonomischen - als auch für den „ Ü b e r b a u " bestimmend übrig (Engels bemerkt jedoch ausdrücklich, die hochdeutsche Lautverschiebung etwa sei aus ihnen durch den „historischen Materialismus" nicht erklärbar). „Realdialektik" stellt die logisch-ideelle des Hegeischen Weltgeistes „auf die Füße": Das Sein (der materiellen Verhältnisse) bestimmt das Bewußtsein. Geschichtliche Tendenzen wirken M a r x zufolge „mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes". Eine ältere, schon auf die griechischen Ärzte zurückgehende, von Montesquieu erneuerte naturalistische Theorie ist die vom Einfluß des Klimas. Taine ließ Milieu, Rasse und historische Lage zusammenwirken, ließ jedoch in seinen Geschichtswerken seine Theorie hinter sich. Nietzsche erneuerte Thukydides' Lehre v o m Machtstreben als (bei ihm nicht nur politischem) Agens. Heute neigt man zu multifaktorieller Betrachtung, zur Annahme einer „Interdependenz" der Faktoren. Je „monokausaler" man denkt, um so eher wird man zur Annahme geschichtlicher Gesetze gelangen. Taine will Entwicklungsgesetze aus psychologischen, Wundt aus „völkerpsychologischen" (wie schon Comte in seiner „physique sociale" aus sozialen) Konstanten ableiten. Leichter als für die Geschichte als ganze lassen sich Gesetze einzelner Bereiche aufstellen (z. B. Roscher: In jeder wirtschaftlichen Entwicklung herrscht erst der Boden, dann die Arbeit, dann das Kapital vor; —»Geisteswissenschaften). Je mehr Faktoren man sich mannigfach mischen und begrenzen sieht, um so größer wird die Vorsicht vor den Gesetzen. Gesetze können völlig formal sein, z. B. Hegels dialektischer Dreischritt oder die geistesgeschichtliche Generationentheorie der 20er Jahre. Sie können auch ohne Angabe von Faktoren rein äußerlich konstatiert werden, etwa: Die Geschichte bewegt sich von Osten nach Westen (Varro, noch Hegel). Rickert glaubte fälschlich, die Suche nach Gesetzen sei erst im 19. Jh. durch das Vorbild der Naturwissenschaften in die Geschichtswissenschaft eingedrungen. Er hielt die „individualisierende Methode" für ihr angemessen, die Taine, Lacombe, Lamprecht u. a. umgekehrt für vorwissenschaftlich ansahen. Geschichtsphilosophische Reflexion bewirkt eine transzendentale Wende. Die Optik des Individuums, das seinen Freiheitsspielraum überschätzt, das sich frei wähnt, weil es frei sein will, wird korrigiert durch geschichtliche Optik, die ihm nachweist, wie sehr es, ohne daß es dies wußte, durch elementarere, überpersönliche Kräfte bedingt ist. Was vom Einzelnen psychisch und ethisch als seine Entscheidung erlebt wird, enthüllt sich aus dieser Optik als bereits vorentschieden. Extrem wird die Bedingtheit als Determination gefaßt. Auf das Individuum kommt es nicht an: Wäre Napoleon bei Marengo gefallen, so wäre seine geschichtliche Leistung durch andere Figuranten vollbracht worden; frei sind wir wie in der Stoa nur darin, ob wir unser Schicksal akzeptieren oder uns — erfolglos - gegen es sträuben (Spengler). Solches Wissen mag fatalistisch lähmen, es kann aber auch Ansporn werden, selbst den Auftrag zu vollstrecken, das Eintreten des Bevorstehenden zu beschleunigen. Kabbalisten (—»Kabbala) wollten die Ankunft des Messias erzwingen, manche Sekten durch bestimmte Praktiken „Christus treiben", d.h. die Voraussetzungen schaffen, daß er bald wiederkehrt. Thukydides glaubte, daß wir aus der Geschichte gerade deshalb lernen können, weil es in ihr Konstanten wie das menschliche Machtwirken gebe; ebenso N. Macchiavelli: Wer die Gesetze der Geschichte kennt, kann (wie der Kenner der Naturgesetze durch Technik in die Natur) gezielt in sie eingreifen. Geschichtliche Gesetze bedeuten also nicht, daß wir machtlos sind. Auch Hegel kehrt, trotz der metaphysischen Prädetermination der Geschichte, die Unerläßlichkeit der menschlichen Arbeit und Tat hervor. Ebenso genügt es nach Marx - im Unterschied zu Kautsky - nicht, die Geschichte für uns arbeiten zu lassen; das Ziel ist uns nicht garantiert. Eine Revolution muß die Produktionsverhältnisse mit der Entwicklung der Produktivkräfte in Einklang bringen. W a s die Geschichte uns vorgibt, sind aber meist nur Möglichkeiten. Welche wir ergreifen, was wir aus ihnen machen, ob aus dem Lateinischen ein Vulgärjargon der Soldaten oder das subtile Instrument scholastischer Distinktionen wird, wie und auf welcher Stufe wir den Rahmen ausfüllen, steht doch wieder bei uns. Oft entsteht Neues gegen die Erwartung: Das 18. Jh. w a r mit R o k o k o und Skepsis schon saeculum senescens, von heute aus gesehen mit Sturm und Drang und Romantik ein Anfang. W a s retrospektiv als notwendige Linie erscheinen mag, w a r prospektiv noch offen, w a r auf Initiative, Begabung, Glück angewiesen. Bei Entdeckungen und Erfindungen mag man sagen, daß sie gemacht werden mußten, bei politischen Taten ist dies fragwürdig, und Kunstwerke schließlich spiegeln die einmalig-unersetzliche Individualität ihres Schöpfers. Dem Individuum geht es um sein Glück und seine Vollendung, der Geschichtsphilosophie um das Sich-durchsetzen neuer Prinzipien, für die der Untergang des Früheren in Kauf
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zu nehmen ist, um das Ziel der Menschheit als ganzer. In der Polemik gegen Hegel wirft S. A. —•Kierkegaard ihm vor, er sei ethisch indifferent, weil er zugunsten von umfassenden Epochen und Generationen das Individuum überspringe, während doch das, was menschlich zähle, nur dessen immer möglicher, immer gleicher Bezug zum Absoluten sei. Voller H o h n gegen die „weltgeschichtliche Zerstreuung" will er dem Einzelnen seinen Ernst, seine Wahl zurückgeben. Zwischen Hegel und Kierkegaard läßt sich keine Synthese herstellen; der Epigone, der mit der „Größe der Einseitigkeit" auch der „Einseitigkeit der Größe" (Simmel) ermangelt, muß die Spannung zwischen ihnen tragen. Literatur (zusammengestellt
von Klaus Köhnke)
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Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie X
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Geschichte Israels
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701
3. Die Niederlassung der Israeliten in Kanaan 4 . Das Zeitalter der Monarchien 4.1. Chronologische Ubersicht 4.2. Die politische Entwicklung 4.3. Die soziologischen Voraussetzungen und Veränderungen 4.4. Grundlinien der religiösen und geistigen Entwicklung
706 711
5 . Das babylonische Exil und die Perserzeit 6. Griechisch-römische Zeit bis Herodes ( 3 7 v . C h r . ) 6.1. Ptolemäer und Seleukiden in Syrien-Palästina bis Antiochus IV. (175 v. Chr.) 6.2. Antiochus IV. und die Makkabäer 6.3. Die Dynastie der Hasmonäer (Literatur S. 735)
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Geschichte Israels
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3. Die Niederlassung der Israeliten in Kanaan 4 . Das Zeitalter der Monarchien 4.1. Chronologische Ubersicht 4.2. Die politische Entwicklung 4.3. Die soziologischen Voraussetzungen und Veränderungen 4.4. Grundlinien der religiösen und geistigen Entwicklung
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5 . Das babylonische Exil und die Perserzeit 6. Griechisch-römische Zeit bis Herodes ( 3 7 v . C h r . ) 6.1. Ptolemäer und Seleukiden in Syrien-Palästina bis Antiochus IV. (175 v. Chr.) 6.2. Antiochus IV. und die Makkabäer 6.3. Die Dynastie der Hasmonäer (Literatur S. 735)
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Geschichte Israels 1. Territoriale und ethnische
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Voraussetzungen
Den Schauplatz der Geschichte Israels bildet der höchstens 150 km breite Kulturlandstreifen zwischen dem Ostrand des Mittelmeeres und der syrisch-arabischen Wüste, und zwar in seinem südlichen Teil zu beiden Seiten des Jordan. Im Norden schließt sich, beginnend mit den Bergzügen des Libanon, das in West-Ost-Erstreckung kaum breitere Syrien an; im Süden ist das Land relativ offen und geht allmählich in die Steppen- und Wüstenzonen der Halbinsel Sinai und das Gebirgsland beiderseits der Araba, der südlichen Fortsetzung des Jordangrabens über das Tote Meer hinaus, über. Die häufig verwendete Landesbezeichnung —»„Palästina" ist ein erst seit der Perserzeit ( 6 . - 4 . Jh. v. Chr.) bekannter Name für das Kulturland beiderseits des Jordan (vgl. Herodot I, 105; III, 5.91; VII, 89) ohne zunächst klar definierten administrativ-politischen Anspruch. Syrien und Palästina bilden eine Art Landbrücke zwischen den großen Stromtalkulturen an Euphrat und Tigris einerseits und am Nil andererseits. So gewiß die Entwicklung dieser Großkulturen beständig nach Syrien-Palästina hinübergewirkt hat, darf doch nicht verkannt werden, daß diese Gebirgsländer am östlichen Rande des Mittelmeeres höchst selbständige Entwicklungen durchlaufen haben und der Einfluß der Großkulturen niemals die absolute Oberhand gewann. Gerade die Lage zwischen den ausgeprägten Kulturen —»Ägyptens und Babylonien-Assyriens (—»Assyrien und Israel; —»Babylonisch-assyrische Religion) beförderte schöpferische Kräfte von weitreichender Bedeutung. Erinnert sei nur an die Entwicklung des „alphabetischen" Schriftprinzips, wie es in Ugarit und —»Phönizien nachweisbar ist, d. h. die Lösung vom Mehrkonsonanten- zum Einkonsonantenzeichen und damit zur Schaffung der „westlichen" Schriftsysteme. Nicht zu unterschätzen sind die Leistungen auf dem Gebiet der Literatur, insbesondere der religiösen, wie sie aus dem kanaanäischen Bereich wenigstens bruchstückweise, im Alten Testament als Resultat sammelnder und verarbeitender Redaktionstätigkeit erhalten sind. Die Fruchtbarkeit dieser Entwicklung ist nicht zuletzt aus der Vielfalt wechselnder Bevölkerungen zu begreifen, die in diesem Raum sich ablösten und bis auf den heutigen Tag Syrien und Palästina zu einem ethnisch höchst komplexen Bereich gemacht haben, was sich auch im Zuge immer neuer Staatenbildungen und Verwaltungssysteme Ausdruck verschaffte. Die Vielfalt und Wechselhaftigkeit der biblischen Geschichte Israels ist als Teilstück des großen Geschichtsverlaufs zu begreifen, der schon seit frühesten Zeiten in diesem äußerst kulturträchtigen Bereich beobachtet werden kann. Die Grabungen in —»Jericho durch Kathleen M . Kenyon in den Jahren 1952—1958.haben gezeigt, daß die Besiedlung der Ortslage bereits um 8 0 0 0 v. Chr. im Mesolithikum begann und in kontinuierlicher Entwicklung zu einer Stadt der präkeramisch-neolithischen Periode um 7 0 0 0 v.Chr. hinführte. Neolithische Keramik wurde in Jericho aus der Zeit um 4 5 0 0 nachgewiesen. Der Übergang vom Neolithikum zum unteren Chalkolithikum erfolgte um 3 6 0 0 - 3 2 0 0 v. Chr. mit Zeugnissen namentlich aus Gassul und —»Beerseba, während die Kultur der Jesreelebene und ihre Ausdehnung in das Jordantal in das obere Chalkolithikum um 3 4 0 0 - 3 1 0 0 v.Chr. fällt. Die Begründung städtischer Zentren erfolgte mit dem Einsetzen der Frühbronzezeit (Frühbronze I) um 3 1 0 0 v. Chr. Um diese Zeit erfolgte eine Einwanderungswelle aus dem syrischen Raum, wesentlich in den Jordangraben. Mit dem Anfang der Bronzezeit darf auch die Festsetzung von Semiten in Palästina angenommen werden, so wenig aus dieser Zeit über politische Verhältnisse dieses Raumes erfahrbar zu machen ist. Überschaubar wird die Entwicklung im Übergang von der Frühbronze zur Mittelbronze I ( 2 2 0 0 - 1 9 0 0 v.Chr.). Die seit dem ägyptischen Alten Reich bestehenden Kontakte von Ägypten nach Byblos verstärken sich, aber auch umgekehrt werden Bewegungen aus dem kanaanäischen Raum nach Ägypten greifbar (sog. „historischer Abschnitt" der Lehre für König Merikare, Z. 6 9 - 1 1 0 ; Bau der sog. „Fürstenmauer" an der Ostdeltagrenze zur Abwehr von Beduinen, spätestens unter Amenemhet I. [ 1 9 9 1 - 1 9 6 2 v. Chr.]; vgl. die Erzählung des Sinuhe, die Weissagung des Neferti sowie das Material der Ortsnamen aus den sog. „Ächtungstexten"). Die Zeit des ägyptischen Mittleren Reiches ist in etwa mit Mittelbronze
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Geschichte Israels
II identisch ( 1 8 0 0 - 1 5 5 0 v. Chr.). Bereits in dieser Zeit erfolgten ägyptische Eroberungen bis in den syrischen R a u m hinein. Aller Wahrscheinlichkeit nach erreichte Sesostris III. ( 1 8 7 8 - 1 8 4 1 v. Chr.) Sichern im Westjordanland. W ä h r e n d in M e s o p o t a m i e n und Nordsyrien Bevölkerungsgruppen nachweisbar werden, die hypothetisch als „ A m o r i t e r " oder „ W e s t s e m i t e n " gekennzeichnet werden (Texte aus M a r i , C h a g a r Bazar, Alalach) und mit dem Vordringen hurritischer Elemente nach Obermesopotamien und darüber hinaus nach Süden gerechnet werden darf, bereitet sich aus Richtung des syrisch-palästinischen Raumes die Invasion der H y k s o s in Ägypten vor, die dem ägyptischen Mittleren Reich ein Ende bereiteten. Das Zurücksinken der ägyptischen M a c h t in K a n a a n markiert die spätere Gruppe der „ Ä c h t u n g s t e x t e " . Die Spätbronzezeit ( 1 5 5 0 - 1 2 0 0 v. Chr.) sah das ägyptische Neue Reich auf seinem H ö hepunkt. Palästina und Syrien werden Ziel ägyptischer Eroberungszüge, deren Einzelheiten in den „Städtelisten" der Pharaonen von Thutmosis III. bis zu Schoschenk I. an den Wänden ägyptischer Tempel festgehalten und somit auch für die historische T o p o g r a p h i e der betreffenden R ä u m e nutzbar gemacht werden können (kleine Übersicht in A N E T 2 4 2 f; ausführlich H e l c k , Beziehungen, 2 6 8 - 3 3 3 ) . In der ersten Hälfte des 2. J t . v. Chr. dringen die Hurriter nach Syrien vor, mit ihnen das Pferd und die Streitwagentechnik. Die M a c h t der Hurriter brechen die Hethiter, die vom 1 4 . J h . v . C h r . an nach Syrien vorstoßen, aber schließlich durch R a m s e s II. im 1 3 . J h . an einer weiteren Ausdehnung ihrer M a c h t nach Süden gehindert werden (nach der Schlacht bei Kadesch am Orontes in Mittelsyrien). Um das J a h r 1 2 7 0 v. C h r . ist der ägyptisch-hethitische Friedensvertrag zwischen R a m s e s II. und Chattuschil III. zu datieren. Die bei teil el-'amärna gefundene diplomatische Korrespondenz der Könige Amenophis III. und Amenophis IV. aus dem 1 4 . J h . v . C h r . enthält zahlreiche Schreiben ägyptischer B e a m t e r aus dem kanaanäisch-syrischen Bereich, die Rückschlüsse auf lokale Ereignisse gestatten. Sie berichten vom militanten Vorgehen schwer definierbarer (Bevölkerungs-) Gruppen unter der Bezeichnung babiru (früher auch chapiru geschrieben; ägypt. 'pr.iv; häufig auch durch das SumerogrammSA.GAZ wiedergegeben; Identität mit dem hebr. 'ibrt ist sehr wahrscheinlich, doch nicht zweifelsfrei erwiesen). Dabei handelt es sich um ethnisch und politisch schwer faßbare Elemente, über deren Herkunft und Zusammensetzung keine zuverlässigen Nachrichten existieren. Daß es sich um ein gemeinsames Volkstum handeln könnte, wird zuweilen für denkbar gehalten; mehr Anklang fand die Vermutung, daß sich die Bezeichnunghabiru auf eine soziologische Befindlichkeit beziehen könnte, auf ethnisch indifferente Gruppen ohne festen Zusammenhalt, die im Grenzbereich zu etablierten Bevölkerungen und deren staatlicher Organisation Fuß zu fassen suchten und zu temporären Dienstleistungen bereit waren. Die These wird durch das verstreute Auftreten des Begriffs in der keilschriftlichen und hieroglyphischen Literatur bestätigt. Auch im Alten Testament ist der Begriff 'ibrt bzw. 'ibrijim fast ausschließlich auf die Fronarbeiter in Ägypten vor dem Exodus beschränkt. Die Amarna-Briefe erlauben des weiteren Rückschlüsse auf Besiedlungsverhältnisse in —»Kanaan vor dem Auftreten Israels, so daß sie zugleich einen wesentlichen Beitrag zur historischen T o p o g r a p h i e Palästinas um die M i t t e des 2 . J t . v . C h r . liefern. Im Alten T e s t a ment erscheint diese israelitische „ V o r b e v ö l k e r u n g " unter dem N a m e n „ K a n a a n ä e r " oder „ A m o r i t e r " , zuweilen auch näher bezeichnet durch die stereotype Aufzählung „ K a n a a n ä e r , Hethiter, Amoriter, Peresiter, H i w w i t e r und J e b u s i t e r " (Ex 3 , 8 u . ö . ) . M e r k m a l e dieser kanaanäischen Herrschaft und Besiedlung des Landes sind Stadtkönigtümer und die Herausbildung eigener Zivilisation im Umkreis der Städte, die für Syrien sicherer nachweisbar ist (Alalach, Ugarit, phönikische Küstenstädte) als im südlicheren Palästina, w o jedoch einige Rückschlüsse aus dem Alten T e s t a m e n t möglich sind (z. B . a u f die selbständige Rolle Jerusalems oder Sichems). U m die Stadtkönige versammelte sich eine Beamtenschicht, während die abhängige Bauernbevölkerung für einen auf agrarischer Grundlage basierenden W i r t schaftsbetrieb sorgte. Diesen M e r k m a l e n entsprechen auch die dominanten Z ü g e k a n a a n ä ischer Religion (Stadtgötter, auf Naturkräften basierende Ressortgötter, Mythenbildung mit Bezug auf den Vegetationszyklus des J a h r e s , Fruchtbarkeitskulte). M i t dem Ende der Bronzezeit k o m m t es zu ethnischen Umschichtungen, verbunden mit einem Niedergang der Urbanen kanaanäischen Zentren. Z w e i Bevölkerungsbewegungen
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vor allem charakterisieren den Anfang einer neuen Epoche, die von Westen her vordringenden sog. „Seevölker", unter ihnen die in die palästinische Küstenebene gelangenden —»Philister, und die aus der syrischen Wüste in weiter Streuung auf Mesopotamien und Syrien zustoßenden Gruppen oder Stämme der —»Aramäer, die es hauptsächlich in Obermesopotamien und Nordsyrien zu eigenen Staatenbildungen brachten (Bit-Adini, Bit-Aguschi, ferner die Königtümer von Sam'al, Hamat und La'asch u. a.). Das Ende der Spätbronzezeit sah aber auch das Aufkommen der nachmaligen Israeliten, deren Anfänge in neuester Zeit das höchste Interesse der historischen und soziologischen Forschung gefunden haben, ohne daß deren Resultate zu bisher allgemein angenommenen Auffassungen geführt haben. 2. Das Werden Israels — Die Patriarchen
und die
Moseüberlieferung
Uber die Anfänge Israels, namentlich über die Vorgeschichte der einzelnen Stämme, besitzen wir keine zweifelsfreien direkten archäologischen Zeugnisse. Auch aus außerisraelitischen Quellen sind keine Rückschlüsse auf die frühe Entwicklung solcher Gruppen möglich, aus denen Israel hervorging. Die älteste außerbiblische Erwähnung des Namens „Israel" auf der Stele des Königs Merenptah (etwa 1 2 2 4 - 1 2 0 4 v. Chr.) läßt lediglich den Schluß zu, daß sich zu dieser Zeit im Grenzbereich zu den Kanaanäern nördlich der erwähnten Städte Askalon und Gaza eine Menschengruppe unbekannter Größe aufhielt, an der dieser Name haftete. Die Einordnung der Ursprünge Israels in den Gesamtrahmen altorientalischer Geschichte ist auch dadurch erschwert, daß nach biblischem Zeugnis die Heimat der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob in Mesopotamien gesucht, ein dominanter Teil des späteren Israel jedoch aus den südlichen und östlichen Steppenzonen am Rande des kanaanäischen Kulturlandes aus Richtung der arabischen und der Sinai-Halbinsel gekommen sein soll. So ergibt sich die Frage, ob überhaupt mit einem gemeinsamen ethnischen Ursprung aller Stämme des späteren Israel gerechnet werden darf. Die Darstellung der Geschichte Israels wird in der Regel mit der Zeit der Patriarchen begonnen und mit dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten fortgesetzt. Diese Betrachtungsweise entspricht der Abfolge biblischer Traditionen in den Büchern des —»Pentateuch, wobei zu beachten ist, daß in der Genesis ein anderer Darstellungstyp vorherrscht als vom Buche Exodus an. Über die Vätergestalten wird in einzelnen Episoden berichtet, die einen familiengeschichtlichen Zusammenhang der Patriarchen und ihrer Verwandten voraussetzen. Dies wird auf andere Weise durch genealogische Listen bestätigt, in denen die Vätergestalten zugleich Volksgruppen repräsentieren und als deren „Ahnherren" auftreten (Gen 11,10—32; 2 2 , 2 0 - 2 4 ; 2 5 , 1 - 4 ; 2 5 , 1 3 - 1 6 ; 3 6 , 1 0 - 1 4 ) . Daraus kann auf ethnische Zusammenhänge geschlossen werden, zu denen die Väter gehörten oder gerechnet wurden kraft einer historisch kaum mehr aufhellbaren Gruppenzugehörigkeit aufgrund gemeinsamer Schicksale. Das Buch Exodus hingegen weiß allein von einem einzigen erstarkten Volk, das eine Schicksals- und Glaubensgemeinschaft darstellte, jedenfalls sich allmählich dazu entwickelte. Die familiengeschichtliche Verknüpfung der Patriarchengestalten Abraham, Isaak und Jakob samt den zwölf Söhnen des letzteren erschwert naturgemäß den Rückschluß auf verifizierbare historische Vorgänge mehr als die Schilderung von Bedrückung und Auszug aus Ägypten, dem punktuellen Ereignis einer geschlossen dargestellten Gruppe. Vorwiegend in diesem Zusammenhang des Ägypten-Aufenthaltes wird (mit Ausnahme von: I Sam 4,6.9; 13,19; 14,11; 29,3; jedoch auch Gen 14,3; Ex 21,2; Jon 1,9) die Bezeichnung „Hebräer" verwendet, die sprachlich höchstwahrscheinlich mit den bereits erwähnten habiru/chapiru (s. o. S. 700, 26 ff) zusammenhängt. Während der Auszug aus Ägypten als relativ fester Ausgangspunkt eines geschichtlichen Ablaufs verstanden werden kann (Ausgang des 13. Jh. v.Chr.), entziehen sich die Patriarchenfamilien einer eindeutigen und festen Einordnung in ethnische und chronologische Zusammenhänge. Das summarische Reden von einem „Patriarchal Age" (Zeitalter der Patriarchen) deutet bereits diese Schwierigkeit an. Da insbesondere —»Abraham und —»Jakob Wanderbewegungen zwischen Mesopotamien und Kanaan nachgesagt werden, liegt es nahe, in diesen Vätern die Repräsentanten von Bevölkerungsgruppen zu sehen, die sich zu
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bestimmter Zeit, jedoch nicht über ganze J a h r h u n d e r t e hinweg, in diesen R ä u m e n bewegten. D e r später mitgeteilte Z u g J a k o b s und seiner Söhne nach Ägypten läßt an eine weitere W a n d e r u n g denken, die aus dem syrisch-kanaanäischen R a u m nach Süden erfolgte. Durch Kombination dieser biblischen Nachrichten mit bisher bekannten Bevölkerungsverschiebungen und unter Berücksichtigung der Namen der Patriarchen ist vielfach die erste Hälfte des 2. Jt. v.Chr. zum „Patriarchal Age" erklärt worden. Als frühester Zeitpunkt wird in der Regel das 19. Jh. v. Chr. angesprochen. W. F. —»Albright stellte die vielfach mit Skepsis aufgenommene These auf, die Patriarchen seien Kaufleute gewesen, die zwischen 2000 und 1800 v. Chr. mit Eselskarawanen unterwegs waren. Mit relativem Recht wurde ein etwas späterer Zeitpunkt erwogen, als eine Bewegung amoritischer Gruppen das mittlere Mesopotamien erreichte und es dort zu Herrschaftsbildungen kam, zu denen in der Folgezeit auch die Dynastie des Hammurapi von Babylon zu rechnen ist. Die aus dieser Zeit stammenden Briefe aus Mari (teil bann) am mittleren Euphrat nennen Namen vom Typ der alttestamentlichen Patriarchennamen. Solche sprachlichen Gemeinsamkeiten sollten ein Hinweis auf Historizität und zeitliche Fixierung der „Väter" und ihrer Wanderbewegungen sein. So wurde es für möglich gehalten, die Patriarchen erst im 18. oder 17. Jh. v.Chr. anzusetzen und in ihnen „Westsemiten" oder „Proto-Aramäer" zu sehen (Kupper; Noth). Das Ende der Patriarchenzeit wollte R. de —»Vaux mit der Bewegung der sog. „Hyksos" in Verbindung bringen, die aus dem syrisch-kanaanäischen Raum am Ende desl8. Jh. v. Chr. oder etwas später als angeblich semitische Eroberer nach Ägypten eindrangen. In diesen Zusammenhang müsse auf die eine oder andere Weise der Zug der Jakobsöhne nach Ägypten eingeordnet werden. Neben der chronologischen und sprachlichen Näherbestimmung der Patriarchen spielten in der jüngeren und jüngsten Forschung gewichtige Argumente soziologischer Art eine Rolle. Beobachtungen am Textmaterial von Nuzi (hurritische Stadt, 13 km südwestlich Kerkuk, heute jorghatt-tepe) führten dazu, Parallelen aus diesen wesentlich dem 15. Jh. v.Chr. zuzuweisenden Dokumenten zu familienrechtlichen Verhältnissen der Patriarchen herauszufinden (Erbrecht, Vertragswesen). Dann müßte man vielleicht die Voraussetzungen der Genesis-Uberlieferungen näher an die Mitte des 2. Jt. v. Chr. heranrücken. Doch gibt es ebenso beachtliche Gründe, die zweite Hälfte des 2. Jt. v. Chr. für die Historizität der Patriarchen in Anspruch zu nehmen. Das Vorkommen einer Stadt Ura im hethitischen Herrschaftsbereich ließ an das biblische Ur (Gen 11,28.31) als Heimat Abrahams denken und förderte die Hypothese, Abraham sei handeltreibender Fürst gewesen. Die wichtigsten dieser Thesen untersuchte T h . L . T h o m p s o n mit der erklärten Absicht, daß das ganze M a t e r i a l nicht ausreiche, um „external evidence" für die Patriarchen zu erreichen, d. h. eine aus den außeralttestamentlichen Quellen zu gewinnende Gewißheit über den historischen Hintergrund der Patriarchen. Das ist freilich eine nicht ausreichende Beurteilung der G e s a m t p r o b l e m a t i k , die dem biblischen Zeugnis nicht gerecht wird. Denn die bereits erwähnten genealogischen Listen der Genesis sehen die Väter in verwandtschaftlichen Beziehungen zu Bevölkerungsgruppen, die uns durchaus geläufig sind. Dies gilt insbesondere für die in O b e r m e s o p o t a m i e n u m Harran lokalisierten „ S ö h n e N a h o r s " (Gen 1 1 , 2 4 - 3 2 ; 2 2 , 2 0 - 2 4 ) wie auch für die auf der arabischen Halbinsel allmählich seßhaft gewordenen „ S ö h n e I s m a e l s " , die Ismaeliter (Gen 2 5 , 1 3 - 1 6 ) , ferner für die Edomiter (Gen 3 6 , 1 0 — 1 4 ; —»Edom und Israel). Es steht zu vermuten, daß diese Gruppen, die in verwandtschaftlichen Z u s a m m e n h ä n g e n mit den Patriarchen dargestellt werden, als Teile der sogenannten „aramäischen W a n d e r u n g " anzusehen sind, die in den letzten Jahrhunderten des 2 . J t . v. Chr. in weiter Streuung die Kulturländer rings um den Nordwestteil der arabischen Halbinsel erreichte. Zugehörigkeit zu den Aramäern wird, wenn auch nur im R a h m e n einer sehr summarischen N o t i z (Dtn 2 6 , 5 ) , den Patriarchen bescheinigt. Diese relative „Spätdat i e r u n g " der Patriarchen hat den Vorteil, den Z e i t r a u m zwischen „ V ä t e r t r a d i t i o n " und Auszugsbewegung aus Ägypten ( 1 3 . J h . v. Chr.) möglichst gering erscheinen zu lassen und sich vorzustellen, daß die Patriarchen, von N o r d e n k o m m e n d , den einen Teil des späteren Israel bildeten, während die etwas später von Süden her nach Kanaan vordringende Mosegruppe den anderen Teil ausmachte, somit beide Bewegungen in Kanaan sich trafen und dort in einem nicht übermäßig langen Prozeß im Z u g e der Seßhaftwerdung durch gemeinsame Schicksale und Erfahrungen zu „ I s r a e l " zusammenwuchsen. Bezeichnenderweise beschreiben die Überlieferungen der Genesis kein längeres Steppendasein der V ä t e r , vielmehr nur ihre Ankunft im L a n d e und die Ü b e r n a h m e dort vorgefundener Kultstätten wie —»Bethel, —»Sichern, —»Hebron und —»Mahanajim. Die Sippen der Väter werden vor der Ankunft der
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„Ägypten-Gruppe" bereits im Lande gewesen sein. So erklären sich die Genesis-Erzählungen als Niederschlag ältester Erinnerungen an die Zeit der allmählichen Konsolidierung aramäischer Gruppen im spätbronzezeitlichen Kanaan, und zwar wesentlich im gebirgigen Mittelteil des Westjordanlandes, nicht jedoch in den Küstenebenen, in die die Philister vorgedrungen waren. Das Zurücksinken der ägyptischen Vorherrschaft in Syrien und Kanaan im Ausgang des Neuen Reichs ermöglichte ein friedliches Vordringen in die schwächer besiedelten Teile des Gebirgslandes. Ein einheimischer Stadtfürst erwies Abraham besondere Reverenz, der König—»Melchisedek (Gen 1 4 , 1 8 - 2 0 ) , der vermutlich in Jerusalem residierte, ein Beweis dafür, daß die großen Städte mit ihren einheimischen Potentaten den Patriarchen und ihren Leuten zunächst verschlossen blieben, diese aber allmählich an Überlegenheit im Lande zunahmen. Zu diesen historischen Hintergründen der Patriarchenzeit sind die literarischen Probleme der Ausgestaltung und Fixierung der Genesiserzählungen in das rechte Verhältnis zu bringen. Ihre Sammlung und endgültige Formulierung erfolgte wohl in der frühen Königszeit, schwerlich aber erst in der Zeit des Babylonischen Exils oder noch später (van Seters). In den Erzählungen der Genesis erscheinen die Väter freilich nicht nur als Urahnen des späteren Volkes, sondern gleichzeitig als Empfänger eigener Gottesoffenbarungen und als Träger göttlicher Verheißungen, die sich auf Nachkommenschaft und Landbesitz beziehen (Gen 1 2 , 1 - 3 u.ö.). Diese Beobachtungen haben nach der religionsgeschichtlichen Bedeutung der sogenannten „Väterreligion" fragen lassen. Wichtige Einsichten werden der Studie von A. —»Alt, Der G o t t der V ä t e r ( 1 9 2 9 ) , verdankt, deren Beweisführung unter verschiedenen Gesichtspunkten in Frage gestellt, bisher aber noch nicht entscheidend widerlegt ist. Danach werden die Väter als Empfänger an sie persönlich ergangener göttlicher Offenbarungen oder Erscheinungen verstanden, deren Verbindlichkeit durch Anrufung der Gottheit beim Namen eines der Väter auch von den nachfolgenden Generationen bestätigt wurde („Der G o t t Abrahams, Isaaks und J a k o b s " ) . In Korrespondenz zu solchen Erwägungen stehen Gotteserscheinungen an die Patriarchen, wo sie einheimische Heiligtümer wie Bethel, Sichern, Beerseba und M a h a n a j i m übernahmen oder mindestens deren Kult respektierten, manchmal sogar in kämpferischer Auseinandersetzung mit bisher dort verehrten Lokalnumina wie im Falle des J a k o b k a m p f e s mit einem unbekannten D ä m o n (Gen 3 2 , 2 3 — 3 3 ) . Die in solchen Zusammenhängen erwähnten El-Gottheiten in Verbindung mit Heiligtümern (El O l a m mit Beerseba, El Eljon mit Jerusalem, El Elohe Israel mit Sichern und El Ro'i mit Beer-Lahai-Ro'i) oder das schwer deutbare El Schaddaj gaben zu der Vermutung Anlaß, daß der Väterglaube in einem engeren Verhältnis zum El-Glauben beurteilt werden müsse. — Sofern daran Richtiges ist, würde Israel nicht den El-Glauben kanaanäischer Prägung unmittelbar übernommen haben, ihn allenfalls, vermittelt durch die selbständige Rolle der Väter, als einen Bestandteil früher Gottesverehrung anerkannt haben.
Auf jeden Fall verbindet sich mit den Patriarchen eine vielfältige differenzierte Wirkungsgeschichte, die sie ebenso als „ V ä t e r " des künftigen Volkes wie als Träger eines eigenen religiösen Bewußtseins versteht, das sie den einheimischen kanaanäischen Lebensformen entgegensetzten. Die Tatsache, daß sich auch das spätere Israel aufs engste mit diesen Männern verbunden wußte, beweist, daß sie nicht als Fiktionen späterer Zeit, sondern als maßgebender Bestandteil des frühen Israel im Zuge der Inbesitznahme kanaanäischen Bodens angesehen wurden. Der „Väterglaube" erwies sich jedenfalls als selbständige Größe gegenüber kanaanäischer Religiosität und war in den Glauben an den Gott J H W H (—>Gott, —>Jahwe) integrierbar (vgl. Ex 3). J H W H freilich war kein „Gott der V ä t e r " , sondern eine selbständige Größe, die in den südlichen Bergländern, vermutlich im Nordostteil der später sogenannten „Sinai-Halbinsel", beheimatet war. Mit ihm stieß die Gruppe der um Mose gescharten Leute zusammen, oder er war schon früher eine in ihrer Mitte verehrte Gottheit. Der biblischen Uberlieferung des Buches Exodus folgend, verlangt die Geschichte dieser aus dem Süden kommenden Gruppen des späteren Israel eine besondere Behandlung. Am Ende des Buches Genesis bilden die Erzählungen um den Jakob-Sohn Joseph einen relativ selbständigen und in sich geschlossenen Komplex (—»Josephnovelle). Er verklammert die Patriarchentraditionen mit dem Aufenthalt Israels in Ägypten, wo die Jakob-Söhne zu einem großen Volk wurden (Ex 1,1—7). Joseph erscheint somit nach biblischer Darstellung
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ebenso als Stammeseponym wie als Hauptperson einer in ägyptischem Milieu spielenden dramatischen Erzählung, die von einer weit über Ägyptens Grenzen hinausreichenden Hungersnot weiß. Auch Jakob mit seinen Söhnen wird in Kanaan davon betroffen. Tatsächlich ist mit Hilfe der Josephsgestalt auf literarischem Wege der Brückenschlag von der Vätergeschichte zu Israels Aufenthalt in Ägypten vollzogen. Durch die Vorordnung der Patriarchen vor die Ägypten-Ereignisse ist der Eindruck einer offensichtlich gewollten chronologischen und sachlichen Linearität des Geschehens erreicht. Es ist jedoch damit zu rechnen, daß die Festsetzung der Vätersippen beiderseits des Jordan annähernd zur gleichen Zeit erfolgte, als Stämmegruppen aus südlicher Richtung in die gleichen Territorien vorstießen. Die Patriarchen und die Stämme aus dem Süden traten jedoch in keinem Falle in ein Konkurrenzverhältnis, sondern verstanden sich als schicksalhaft verbunden in dem Ziel, das verheißene Land in Kanaan zu finden und in seinen schwächer besiedelten Räumen in Besitz zu nehmen. Das Urteil über die Geschichtlichkeit Josephs wird durch seine Doppelrolle als Stammeseponym und Held in einer feinsinnig ausgesponnenen, novellistischen Erzählung (v. Rad) von großer Geschlossenheit (Coats; Donner) erschwert. Den ägyptischen Hintergrund der Josephserzählung auszuloten, ist vielfach versucht worden (ausführlich von Vergote und Rowley), konnte aber nicht zweifelsfrei zu dem Resultat führen, daß quellenhaft ägyptisches Material verwendet ist, sondern allenfalls eine Spiegelung ägyptischer Eindrücke und Vorstellungen aus der Sicht Israels vorliegt. Die Gestaltung der Josephnovelle ist in Israel erfolgt, ihr geschichtlicher Hintergrund ist ohne greifbaren Anhalt an dokumentarisch belegbaren Vorkommnissen der ägyptischen Geschichte (der Text aus Papyrus Harris Taf. 7 5 , 2 - 5 : AOT 97 gibt keine Sicherheit für einen Bezug auf den biblischen Joseph). Wenig wahrscheinlich ist eine ausgesprochene Spätdatierung der Josephserzählung in das 7 . - 5 . Jh. v.Chr. (Redford); noch weniger haltbar ist die Auflösung des Pentateuchstoffes zu bloßem Erzählgut ohne historischen Quellenwert (Thompson; Irvin). Bei aller Würdigung literarischer Gesichtspunkte bleibt die Frage nach historisch zuverlässigem Detail legitim, auch wo außerbiblisches Material seinen Dienst versagt. Israels Aufenthalt in Ägypten wurde häufig mit der Amarnazeit (14. Jh. v.Chr.) in Verbindung gebracht. Der (angebliche) —»Monotheismus, wie ihn Amenophis IV. — Echnaton im Glauben an die Sonnenscheibe (Aton) durchzusetzen versuchte, hat tatsächlich keinen Einfluß auf die Entstehung des monotheistischen Glaubens in Israel ausgeübt, Israels Gott J H W H (hypothetisch vokalisiert „Jahwe") hat seine Wurzeln nicht in Ägypten, zeigt auch keinerlei Wesensmerkmale, die auf ägyptischen Vorbildern beruhten. Die Überzeugung hat sich weitgehend gefestigt, daß Teile des späteren Israel erst im Laufe des 13. Jh. v.Chr. am Bau der Residenz Ramses' II. im Ostdelta mitgewirkt haben und aus diesem wahrscheinlich aufgezwungenen Dienstverhältnis entfliehen konnten, wobei ein mit ägyptischer Administration vertrauter Semit (sein ägyptischer Name „Mose" läßt auf ein Anstellungsverhältnis in Ägypten schließen, wo Fremdstämmige ägyptische Namen erhielten oder annahmen) zuerst vermittelnd tätig wurde, später an der Flucht selbst führend teilnahm. Der Bau der Residenz der Herrscher der 19. Dynastie im Ostdelta ist vielfach erörtert worden, nicht zuletzt unter Berücksichtigung archäologischer Bemühungen. Die Ex 1,11 bezeugten „Vorrats- oder Magazinstädte" Pithom und Raamses wurden als Teile einer großräumigen Residenz angesprochen, deren Reste in Tanis {sän el-hagar) und 20 km südlich davon bei katitlr vermutet wurden (Alt), während neue Ausgrabungen bei tell-el-dab'a südlich kanttr den Kreis der Möglichkeiten erweiterten (Bietak). Die reiche Forschungsgeschichte um den Ägyptenaufenthalt des frühen Israel ist neuerdings durch E. Engel aufgearbeitet worden. Der Charakter dieses Aufenthaltes wird am ehesten als temporärer Vorstoß weidesuchender Beduinenstämme der Sinaiwüste in das Ostdelta verstanden nach Art des Eindringens solcher Stämme, wie sie die Protokolle ägyptischer Grenzbeamter enthalten (Papyrus Anastasi III, Rs. 6 , 1 - 9 . 5 , 1 - 8 ; VI, 52ff: TGI' 3 2 - 3 5 ; A O T 9 7 ; ANET 2 5 8 - 2 5 9 ) . Angehörige dieser Stämme wurden vorübergehend beim Bau von Teilen der pharaonischen Residenz eingesetzt, entzogen sich aber der ihnen ungewohnten Arbeit durch Flucht (Herr-
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mann). Dagegen rechnet W. Helck (ThLZ 97 [1972] 180) mit einer „Gefangenenabteilung heterogener ethnischer Zusammensetzung", die den Weg in die Freiheit suchte. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, daß die in Ägypten eingesetzten Leute an ihr nomadisches Dasein erinnern und zu ihrem Gott in der Wüste wallfahren möchten (Ex 3,12.18). Dies macht es fraglich, an eine Abteilung heterogen und zufällig zusammengekommener Leute zu denken. Die in jüngerer Zeit vorgetragenen Überlegungen gegen die Historizität des —»Mose und seine Bedeutung für das frühe Israel beruhen zumeist auf Hypothesen hinsichtlich der literarischen Beurteilung des —»Pentateuch. Die namentlich von M. —»Noth ausgesprochenen negativen Urteile haben keine entschiedenen Nachfolger gefunden. Noth glaubt in seiner Arbeit zur Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, daß Mose erst nachträglich in die meisten Traditionen des Pentateuch hineingewachsen sei, und ließ die Frage nach der historischen Rolle des Mose in der Schwebe. Demgegenüber ist festzuhalten, daß die geschilderten Funktionen des Mose beim Auszug und seine Beziehungen zu Stämmen auf der Sinaihalbinsel (Midianiter) eine Person voraussetzen, die über die Lage an der ägyptischen Grenze zum Sinai orientiert war, gleichzeitig aber leidenschaftlich auf Seiten der bedrückten Israeliten stand. Der biblische Mose fügt sich nach Funktion und Charakter den Erfordernissen und den näheren geschichtlichen Umständen seiner Zeit glaubhaft ein. Auch die Erwähnung der örtlichkeiten im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Auszug entspricht den festen Plätzen und Garnisonen an der Heerstraße zwischen dem Ostdelta und dem kanaanäisch-syrischen Raum, wie sie aus zeitgenössischen ägyptischen Quellen bestätigt werden (Gardiner; Eißfeldt).
Das Auszugsgeschehen selbst, das in Ex 14,5 als eine Flucht bezeichnet wird, hat im Laufe der Uberlieferung eine bis ins Wunderhafte gesteigerte Ausformung gefunden (—»Exodusmotiv). Dazu gehört der breit angelegte Zyklus der Plagen, unter denen Ägypten zu leiden hatte, ehe die Israeliten die Erlaubnis zum Abzug erhielten. Dieser Zyklus dient in seiner vorliegenden Endgestalt der Vorbereitung der letzten Plage, dem Schlagen der ägyptischen Erstgeburt bei gleichzeitiger Verschonung Israels. Die Rettung Israels liefert zugleich die kultätiologische Begründung für den Passahritus (Ex 12). Wunderhaft ausgestaltet ist vor allem das Geschehen am „—» Schilfmeer" (Ex 14; 15), die Überwindung eines den Weg der abziehenden Israeliten sperrenden Wasserarmes, der einer nachjagenden ägyptischen Grenztruppe die Vernichtung brachte. Es hat viel Wahrscheinlichkeit für sich, das „Schilfmeer" mit dem westlichen Ausläufer des Sirbonischen Sees (heute sabhat el-bardawil) zu identifizieren, dessen besondere geographische und hydrographische Bedingungen nach antiken Berichten vorüberziehenden Heeren zum Verhängnis wurden (Eißfeldt). Andere Vorschläge zur Lokalisierung des Schilfmeergeschehens, das Rote Meer (wo es keinen Schilf gibt), Teile der „Bitterseen" an der Ostgrenze des Delta oder der Golf von Elat, sind in Verbindung mit den biblischen Nachrichten und den ägyptischen Berichten über die Verkehrsverbindungen in Richtung auf Kanaan nicht überzeugend.
Der weitere Verlauf der sogenannten „Wüstenwanderung" Israels, vor allem aber die Lokalisierung des Gottesberges, wo die Stämme längere Zeit lagerten und Mose das Gesetz entgegennahm, sind nur hypothetisch klärbar. Höchstwahrscheinlich sind ältere Lokalerinnerungen verschiedener Herkunft aus der Frühzeit einzelner südlicher Sippen und Stämmeverbände benutzt und im Rahmen der Pentateuchkomposition zu einer einzigen Marschroute verbunden worden, so daß die Wanderung durch das Sinaigebiet wie eine einzige Operation mit dem Ziel des verheißenen Landes erscheint. Unter den Lokalerinnerungen ragt das Geschehen am Gottesberg besonders heraus, weil dort (Ex 1 9 - 2 4 ; 3 2 - 3 4 ) Moses Begegnung mit Gott auf dem Berge —»„Sinai" (nach Quellenschrift J; „Horeb" nach E), die Gesetzesmitteilung und der Bundesschluß verankert sind. Über die Tragweite dieses Geschehens ist hier nicht zu handeln. Jedoch spricht die Erwähnung eines heiligen Mahles auf dem Berge, an dem siebzig Älteste beteiligt waren (Ex 2 4 , 9 - 1 1 ) , dafür, daß auf dem Gottesberg ein Heiligtum existierte, an dem periodische Festfeiern und Kultakte stattfanden (vgl. Ex 3, 12.18). So wird verständlich, daß auch das einmalige Geschehen von Gesetzesmitteilung und Bundesschluß an diesen heiligen Ort verlegt wurde oder sich dort auf eine ältere Tradition stützen konnte. Erinnerungen an den Gottesberg wirkten noch später nach (Elias Wanderung dahin I Reg 19,8-14).
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Die genaue Lage des Berges ist umstritten und letztlich nicht aufzuhellen. Das „Deboralied" läßt den Gott Israels vom Gebirge Seir aufbrechen (Jdc 5,4), während die jüngere Komposition von Dtn 32,2 im Parallelismus zu Seir den Sinai nennt. Unter „Seir" sind die Gebirge auf der Ostseite der Araba südlich des Toten Meeres zu verstehen. Man wird deshalb den Gottesberg im äußersten Nordostteil der Sinaihalbinsel zu suchen haben, nicht jenseits des Golfes von Akaba/Elat im nordwestarabischen Gebiet (Greßmann), obwohl die Listenüberlieferung von Num 33 einen Wallfahrtsweg aus späterer Zeit dahin zu rekonstruieren erlaubt (Noth). Die heute für das Gottesberggeschehen in Anspruch genommenen Gebirge im Süden der Sinaihalbinsel, namentlich der dschebel müsa („Mose-Berg", 2244 m), zu dessen Füßen das Katharinenkloster liegt, und der dschebel kätertn („Katharinen-Berg", 2602 m), gehen auf christliche Mönchstraditionen des 4. Jh. n. Chr. zurück, die auch den biblischen Namen „Sinai" erst in dieser Zeit auf Gebirge und Halbinsel übertrugen. Sie verlegten das Gottesberggeschehen in diesen landschaftlich eindrucksvollen Raum und konnten dabei möglicherweise an dort vorhandene Traditionen älterer Bergheiligtümer anknüpfen, die durch Inschriften nabatäischer Herkunft aus dem 2. und 3. Jh. n.Chr. belegbar sind (Euting). Neben dem Gottesberg verdient die in der Forschung vernachlässigte Uberlieferung Erwähnung, die sich mit der Wüstenoase Kadesch-Barnea (—»Kadesch) verbindet, wohl identisch mit dem heutigen Oasengebiet von 'en kdés etwa 85 km südwestlich Beerseba, also bereits relativ nahe dem kanaanäischen Kulturland. Kadesch kann für einen Teil der Südstämme Sammel- und Ausgangspunkt vor ihrer Ankunft im südlichen Juda gewesen sein (Num 13;14). Nicht auszuschließen ist, daß Gottesberg und Kadesch jene Orte waren, an denen sich für einen Teil der Stämme der Glaube an JHWH, den Gott Israels, auszuprägen begann.
3. Die Niederlassung der Israeliten in Kanaan Die früheste Geschichte der israelitischen Stämme im Lande Kanaan und ihr Hineinwachsen in die Lebensverhältnisse des verheißenen Kulturlandes ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand umfangreicher und kontroverser Darstellungen gewesen. Eine übereinstimmende Auffassung über diese Vorgänge ist zunächst nicht in Sicht. Einen in verschiedener Hinsicht neuen Ansatz der Betrachtungsweise lieferte bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren A. —>Alt mit seinen Arbeiten zur Landnahme der Israeliten in Palästina (1925; 1939). Er versuchte nachzuweisen, daß neben vereinzelten kriegerischen Ereignissen die Landnahme ein im wesentlichen friedlicher Vorgang war. Im Zuge des Weidewechsels (Transhumans) habe sich ein Ubergang von Gruppen nomadisierender Stämme aus den Steppengebieten des Nordwestteils der arabischen Halbinsel in das nachmalig israelitische Kulturland vollzogen, hauptsächlich zunächst in die von den kanaanäischen Vorbewohnern schwächer besiedelten Bereiche unmittelbar westlich und östlich des Jordan. Angesichts der Tatsache, daß die biblische Darstellung kriegerische Vorgänge heraushebt und Israel angeblich (unter Josua) in einer relativ geschlossenen Aktion in das Land eintreten und eindringen läßt, regte sich verschiedentlich Widerspruch gegen Alts Vorstellungen. Namentlich mit archäologischen Argumenten versuchten amerikanische Forscher (Albright; Wright) eine wirkliche Eroberung des Landes nachzuweisen. Die von ihnen und anderen beobachteten Zerstörungsschichten der späten Bronzezeit, die auf eine gewaltsame Vernichtung einzelner Städte hinweisen könnten, sollten dem Erweis der „extemal evidence" für Vorgänge dienen, wie sie die Bücher—»Josua und —»Richter schildern. - In ähnlicher Weise konzentrierten israelische Gelehrte ihre Aufmerksamkeit auf den archäologischen Befund und auf die militärischen Operationen Israels und seiner Gegner, deren Spuren beispielsweise Y. Yadin bei seinen Ausgrabungen in Hazor bestätigt zu finden glaubte. Auch A. Malamat richtete sein Interesse auf militärische und strategische Probleme beim Vorgehen Israels zur Zeit seiner Ankunft in Kanaan. Von einem anderen Ansatzpunkt aus wirkten soziologische begründete Anregungen weiter, wie sie besonders nachdrücklich G. E. Mendenhall vortrug. Seiner Meinung nach steht die Übernahme des kanaanäischen Raumes durch die Israeliten im Zusammenhang mit einem tiefen soziologischen Umbruch im Lande selbst, einer Art „Bauernrevolte", bei der sich die Landbewohner gegen die in den Städten Ansässigen erhoben. - C. H. J. de Geus vertrat die Auffassung, daß das spätere Israel eine längere Vorgeschichte im Lande selbst durchlaufen habe, brachte die Israeliten in einen engeren Zusammenhang mit den Amoritern und stellte eine nomadische Vergangenheit Israels überhaupt in Frage. Die Entwicklung habe nicht vom „Stamm zum Staat", sondern von der „Stadt zum Staat" geführt. In diesem Sinne seien auch die späteren sogenannten „Richter" zu verstehen, die nicht charismatische Führungskräfte, sondern in erster Linie „urban administrators" waren. - In wesentlichen Punkten mit Mendenhall und de Geus einig ist der großangelegte Versuch von N. K. Gottwald, der die Frühgeschichte Israels soziologisch nicht aus dem Zusammentreffen von nomadischen Lebensformen mit den Gewohnheiten bodenständiger Bevölkerung erklären möchte, sondern den Gegensatz von Stadt und Land betont und das re-
Geschichte Israels
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volutionäre Modell von Mendenhall im Sinne eines Klassenkampfes versteht und erweitert. Angeblich unterdrückte Bauern in der Umgebung der Städte erhoben sich gegen Stadtherrschaften und ihre aristokratischen Führungsschichten. Z u r Stützung der These dienen auch archäologische Argumente. Die Aufdeckung unbefestigter Siedlungen der frühen Eisenzeit wird als Hinweis auf eine selbständige Entwicklung von Bevölkerungsgruppen außerhalb der städtischen Zentren beurteilt. In ihrer Mitte habe die Verehrung des Gottes J H W H ( „ J a h w e " ) eine stimulierende Kraft besessen. Dieses H o c h k o m m e n des späteren Israel und sein allmählicher M a c h t z u w a c h s im Gegensatz zu städtischer Kultur habe sich zwischen 1 3 5 0 und 1 2 2 5 v. Chr., also etwa beginnend mit der Amarnazeit bis zum Ende von Spätbronze II zugetragen. In Gottwalds Modell ist die gesamte Mose-Überlieferung so gut wie ausgeklammert, weil sie dem Gesamtkonzept entgegensteht. Gottwalds Thesen haben hinsichtlich einiger Details Beachtung gefunden, sein Gesamtkonzept wird jedoch von den meisten abgelehnt, weil es sich von den biblischen Nachrichten vielfach entfernt. Sie werden nur eklektisch ausgewertet. Außerdem ist das revolutionäre Modell nicht frei von modernen weltanschaulichen Voraussetzungen und dementsprechend die Einschätzung der Religion Israels und seines Gottes als ideologisch stimulierende Kraft in einem primär materialistisch verstandenen Umschichtungsprozeß der Machtverhältnisse im Lande eine anachronistische Fehlinterpretation. Ein anderes ethnosoziologisches Modell stellt neuerdings die sogenannte „segmentäre Gesellschaft" dar. Darunter wird ein Gefüge solidarischer Gruppen verstanden, welches Untergruppen ausdifferenzieren und fremde Elemente assimilieren kann. Die Integration der Segmente kann durch genealogische Systembildung vollzogen werden. Als Beispiel von Segmentation wird die Trennung Lots von Abraham (Gen 1 3 , 5 - 1 8 ) benutzt. Diese Gesellschaftsform monopolisiere keine hierarchische Ordnung und erfordere keinen Zentralismus, wohl aber bestehe ein Gefühl von Solidarität gegenüber dem Gesamtverband. Es bleibt jedoch fraglich, ob eine so offene und in sich variable Gesellschaftsform im Falle des frühen Israel in der Lage gewesen wäre, eine so starke innere ethnische und religiöse Bindung zu ermöglichen, wie sie Israel gegenüber seinen N a c h b a r n behauptete. Die hier skizzierte neuere soziologische Betrachtungsweise über Israels Herkunft, Vorgeschichte und erste Schicksale im verheißenen Land steht nicht nur im Gegensatz zur biblischen Tradition, sondern auch zu einer anderen These, die lange Zeit hindurch kaum angefochten sich behaupten konnte. Sie bezieht sich auf die Organisationsform der S t ä m m e nach Inbesitznahme ihrer Territorien. Nach dieser These habe der Verband der zwölf S t ä m m e seinen Zusammenhalt in der Verehrung ein und desselben Gottes gefunden, dem man in einem einzigen Zentralheiligtum diente, w o die Lade des Gottes Israels stand. An der Versorgung dieses Heiligtums waren aller Wahrscheinlichkeit nach die einzelnen Stämme beständig oder im Wechsel beteiligt. Dieses Modell des vorstaatlichen Israel wurde durch Vergleich mit den in Griechenland und Italien nachweisbaren „ A m p h i k t y o n i e n " gefunden. Älteren Anregungen folgend (H. —»Ewald), sprach M . N o t h von der „altisraelitischen Jahwe-Amphiktyonie" und erklärte mit diesem Begriff nicht nur das Zusammenwachsen und den Zusammenhalt der Stämme, sondern auch ihre unbedingte, religiöse Bindung. Auf Grund historischer, topographischer und religionsgeschichtlicher Beobachtungen wurde Noth verschiedentlich widersprochen (Orlinsky; H e r r m a n n ; Fohrer; de V a u x ; de Geus). Umgekehrt findet seine These bedingte Befürwortung, mehr oder weniger modifiziert (Smend; Thiel). Die Einwände beziehen sich hauptsächlich darauf, daß die biblischen Darstellungen selbst von einem so straffen Organisationsmodell in vorstaatlicher Zeit nichts erkennen lassen, daß selbst die Darstellungen der Richterzeit die Zwölfzahl der Stämme nicht kennen und die Entwicklungen zu Beginn der Königszeit so disparat verlaufen, daß mit einem unmittelbaren, voraufgegangenen gemeinsamen organisatorischen R a h m e n nicht gerechnet werden kann. - Die Anwendung der Amphiktyonie-Hypothese auf Israel hat inzwischen eine eigene forschungsgeschichtliche Studie (Bächli) hervorgebracht, nachdem bereits früher M . Weippertdie bis 1 9 6 7 bekannten Landnahmehypothesen kritisch beurteilt hatte. Er selbst neigt der von A. Alt vertretenen Auffassung zu. Die Auseinandersetzung um die Fragen über die Inbesitznahme des Landes und des Lebens der Stämme in vorstaatlicher Zeit ist noch in vollem Gange und steht in engem Zusammenhang mit den gleichfalls ungelösten Problemen über die soziale Entwicklung Israels in seiner Frühzeit bis hinein in die Epoche der beiden Königtümer von Israel und Juda.
Nur mit Vorsicht und nicht ohne hypothetische Kombination archäologischer und überlieferungsgeschichtlicher Probleme des Bibeltextes läßt sich über Israels innere Entwicklung und die Bewältigung seiner äußeren Schicksale während der sogenannten „Landnahmezeit" und der Richterzeit urteilen. Trotz aller Hypothesen treten doch einige schwer bestreitbare Grundlinien historischer Entwicklung hervor, die sich hauptsächlich aus den Darstellungen des Josua- und Richterbuches ergeben und sich mit den Resultaten archäologischer Nachforschungen vereinbaren lassen. Israel ist nicht in einer einzigen geschlossenen Formation in das Land beiderseits des Jordan eingezogen. Die Überlieferung läßt erkennen, daß getrennte Gruppen von Süden und Südosten sich dem Lande genähert hatten. Ihre spätere Verteilung
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in ihren endgültigen Wohnsitzen, wie sie vornehmlich in J o s 1 3 - 2 1 als administrativ verfestigtes System erscheint, erlaubt den Schluß, d a ß sich darin auch noch entfernt die Vorgänge der Inbesitznahme des Landes spiegeln. Die Operationen der Südstämme sind leichter zu ermessen als die V o r g ä n g e im N o r d e n , die insbesondere für Galiläa völlig im Dunkeln liegen. Wahrscheinlich aus dem R a u m der Wüstenoase von Kadesch, in deren weiterer Umgebung, bei Kuntillet Ä j r u d , 5 0 km südlich von Kadesch, der Gottesname J H W H auf Gefäßbruchstücken des 9. und 8. J h . v. C h r . gefunden wurde, stießen Gruppen oder größere Sippen vor, die sich im judäischen Süden, zentriert um H e b r o n , niederließen (Kaleb, Othnieliter, Keniter, J u d ä e r N u m 1 3 ; 1 4 ; J d c 1), während die S t ä m m e Simeon und Levi nach mißglückten Versuchen, bei Sichern F u ß zu fassen (Gen 3 4 ) , nach dem Süden verschlagen wurden (Gen 4 9 , 5 - 7 ; J o s 1 9 , 2 - 8 ; I C h r 4 , 2 8 - 3 2 ; J d c 1 , 1 - 7 . 1 6 - 1 7 ) . Die im Stämmesystem am Anfang stehende Gruppe der Lea-Kinder R ü b e n , Simeon, Levi und Juda kann einen Grundbestand mit dem Süden verbundener S t ä m m e gebildet haben. Hingegen wird das mittelpalästinische Gebirge nordwärts Jerusalem bis zur Ebene Jesreel von Benjamin und dem „ H a u s J o s e p h " (Ephraim und M a n a s s e ) behauptet. Sie gelten als Kinder der Stammutter R a h e l . In einem späteren Stadium der Einnahme des Landes mögen diese Gruppen von Osten her g e k o m m e n sein. Namentlich das Stammesgebiet von Benjamin spielt J o s 1—10 eine maßgebende Rolle, so daß dieser „ E i n z u g s w e g " über den J o r d a n nach Jericho und weiter westwärts über —»Ai und —»Gibeon geradezu als Zeugnis benjaminitischer Tradition angesehen wird. In Verbindung damit liegt die A n n a h m e nahe, daß diese Gruppe wesentlich der T r ä g e r der Auszugs- und Wüstentradition über M o s e und J o s u a war. D a ß aus ihrer M i t t e J o s u a in J o s 2 4 ein eindrucksvolles Bekenntnis zu dem G o t t J H W H in —»Sichern ablegte, kann ein später R e f l e x der Erinnerung daran sein, d a ß mit diesen Stämmen in der Mitte des westjordanischen Gebirges recht eigentlich der G l a u b e an den G o t t Israels in das Land k a m und allen dort ansässigen israelitischen B e w o h n e r n zum verbindenden und verpflichtenden Element ihres Lebens gemacht werden sollte, auch solchen Sippen, die aus anderer Richtung das Land betreten hatten (vgl. die E r w ä h n u n g der Väter jenseits des EuphratStromes und der G ö t t e r der Amoriter J o s 2 4 , 1 5 ) . D e r S t a m m D a n siedelte ursprünglich westlich und südwestlich von Jerusalem, zog jedoch später in das G e b i e t der oberen Jordanquellen, w o er zum nördlichsten der Stämme Israels wurde ( J d c 1 7 ; 1 8 ; vgl. auch die W e n d u n g „von D a n bis B e e r s e b a " J d c 2 0 , 1 ; I Reg 5 , 5 u.ö.). Ü b e r die Vorgeschichte der galiläischen S t ä m m e besteht keine Sicherheit. Jedoch erlauben die Entwicklungen während der sog. „ R i c h t e r z e i t " mancherlei Schlüsse auf die Zugehörigkeit namentlich südgaliläischer Gruppen zum israelitischen Gesamtverband. Als eines der ältesten D o k u m e n t e altisraelitischer Poesie wird das sog. „ D e b o r a l i e d " J d c 5 angesprochen, das von einem Z u s a m m e n s t o ß k a n a a n ä i s c h e r Streitwagenverbände mit dem Heerbannaufg e b o t der S t ä m m e weiß, die in der engeren und weiteren Umgebung der Ebene Jesreel ansässig waren (Sebulon, N a p h t h a l i , Issachar, Ephraim, M a c h i r und Benjamin). Ein Teil dieser Streitkräfte versammelte sich a u f dem Berge T h a b o r . D a s israelitische O b e r k o m m a n d o führte der von der „ R i c h t e r i n " D e b o r a dazu beauftragte B a r a k , das Haupttreffen erfolgte im Gelände um den „ B a c h " Kischon nördlich des Karmel, dessen Überschwemmung den technisch unterlegenen Israeliten zu Hilfe k a m . Vergleichbare A b w e h r k ä m p f e gegen übergreifende fremde Bevölkerungsgruppen führte Israel fast nach allen Seiten seines neu gewonnenen Siedlungsgebietes. N a c h den Angaben des Richterbuches (—»Richter/Richterbuch) leisteten jeweils die dem Angreifer unmittelbar ausgesetzten Stämme Widerstand, geführt von einem der sog. „ R i c h t e r " . Dabei muß es sich um Gestalten von außerordentlicher Führungsqualität gehandelt haben, die sich von dem G o t t e Israels berufen fühlten und auf die darum auch die generelle Bezeichnung „charismatische F ü h r e r " Anwendung fand. Die Herkunft der Bezeichnung „Richter" ist umstritten, sei es, daß sie in der Tat Funktionen der Rechtsprechung ausübten, sei es, daß sie als Regenten auf Zeit nach Art der römischen „Diktatoren" als Oberkommandierende eines Stammeskontingentes anerkannt waren oder auch, wie im Falle des Jephtah (Jdc 1 0 , 6 - 1 2 , 7 ) , beide Funktionsbereiche ausfüllten. Die hebräische Bezeichnung söfet schließt
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sowohl juristische wie allgemeine Pflichten eines Regierungsamtes ein (vgl. die karthagischen „Sufet e n " ) . Insofern könnte die einseitige Ubersetzung durch das W o r t „ R i c h t e r " irreführen und in Wirklichkeit ein Amt mit besonderen Vollmachten ohne feste institutionelle Bindung gemeint sein.
D a ß die „ R i c h t e r " jeweils das „ganze Israel" in den Kampf geführt hätten, beruht auf der später geläufig gewordenen (deuteronomistischen) Vorstellung, Israel habe seit dem Auszug aus Ägypten gemeinsam gehandelt und sei von da an ein einziges Volk gewesen. Dieser selben Idee wird die Konzeption des Richterbuches verdankt, dessen pragmatische Geschichtsdarstellung in Jdc 2 , 1 1 - 3 , 6 in einer im Alten Testament einzig dastehenden formalistischen Weise grundsätzlich erläutert wird und der folgenden Entfaltung der Richtererzählungen als Rahmen dient. Glaubhaft an diesem Konzept ist die Abwehrstellung, die Israel einnehmen mußte, um sich als neues Bevölkerungselement gegen expansive Nachbarn zu behaupten. Kämpfe richteten sich hauptsächlich gegen die Moabiter, Ammoniter und Amalekiter (Jdc 3 , 1 2 - 3 0 ; 1 0 , 6 - 1 2 , 7 ) , die äußerst beweglichen Midianiter (Jdc 6 - 8 ) , gegen Koalitionen kanaanäischer Stadtfürsten (Jdc 4 ; 5) und gegen die Philister (Jdc 16—18). Hegemonie-Ansprüche einzelner Richter scheinen nur bei Gideon und Abimelech (Jdc 8; 9) eine Rolle gespielt zu haben, wurden aber zurückgewiesen. Erst das siegreiche Vorgehen —»Sauls, der einst wie ein Richter berufen wurde (I Sam 11) und im Kampf gegen die Ammoniter überzeugte, führte dazu, einem einzelnen eine stämmeübergreifende Befehlsgewalt auf Lebenszeit zu übertragen. Saul wurde als erstem Israeliten die Königswürde zugesprochen (I Sam 1 1 , 1 5 ) . Sein anfängliches Richteramt wandelte sich damit zu dem eines durch Samuel gesalbten (I Sam 10,1) und vom Volke bestätigten Regenten, dessen Herrschaftsbereich nach Norden ausgriff, aber Juda nicht mit einbezog (vgl. II Sam 2 , 9 ) . Die Beurteilung dieser Vorgänge zwischen der Inbesitznahme des Landes und der Einrichtung des Königtums, einen Zeitraum von kaum 2 0 0 Jahren umspannend, kann unter soziologischen Gesichtspunkten nicht mit Hilfe einer einzigen Theorie nach Art der oben genannten erfolgen. Vielmehr zeigt sich, daß die Einwurzelung der nachmalig israelitischen Gruppen auf dem Boden des kanaanäischen Raumes je nach Zeit und Ort verschieden erfolgte. Die in Jos 1 - 1 0 dominierende Darstellungsweise, die sich hauptsächlich auf das Vordringen des Stammes Benjamin bezieht und von einer einzigen Einzugsbewegung spricht, zeigt bereits sehr verschiedene Formen, wie sich Israel den Verhältnissen im Lande stellen und mit ihnen fertig werden mußte. —»Jericho konnte nicht erobert werden, es fiel durch Verrat (Jos 2 , 1 8 ) oder durch ein Wunder (Jos 6), bei —»Ai spielte eine Kriegslist eine Rolle (Jos 7; 8), mit—>Gibeon und seinen Nachbarstädten wurden Verträge geschlossen (Jos 9). Befestigte Städte blieben zunächst außerhalb des israelitischen Einflusses oder wurden erst in einem vorgerückten Stadium der Inbesitznahme des Landes eingenommen (Hazor: J o s 11). Die Küstenebenen blieben in vorstaatlicher Zeit in den Händen der Philister, ebenso befestigte Städte, die tiefer im Binnenlande lagen (Jdc 1 , 2 7 - 3 6 ) . In einem allmählichen Prozeß gewann Israel seine Bodenständigkeit, zunächst in den weniger dicht besiedelten Gebieten des westjordanischen Gebirges. Keine Spur zeigt sich in den biblischen Berichten von revolutionären Akten zwischen eingesessener Stadtbevölkerung und den im Lande lebenden Gruppen. Sie gewannen erst langsam an M a c h t und Einfluß und scheinen nur in einigen Ausnahmefällen der einheimischen Schicht sich dienstbar gemacht zu haben (so möglicherweise der Stamm Issachar unter bestimmten politischen und geographischen Voraussetzungen; Gen 4 9 , 1 4 . 1 5 ) . Noch am ehesten scheinen die Stämme in der Verehrung ein und desselben Gottes ein Gemeinschaftsbewußtsein entwickelt zu haben, das unabhängig von politischen und „gesellschaftlichen" Bindungen war. Es trug aber dazu bei, daß die Stämme im Kulturland sich letztlich zu einer Aktionseinheit zusammenfanden, die sich unter dem Namen „Israel" im Nordteil des Westjordanlandes verbunden wußte, während die Stämme in der Landschaft Juda zunächst ein Eigendasein führten, das sich später auch in der selbständigen Wahl Davids zum König allein von Juda sinnenfälligen Ausdruck verschaffte (II Sam 2,1-4). Soziologisch beachtenswert ist, daß die Einwanderer die vorgefundene eingesessene Bevölkerung in der Regel und auf Dauer nicht bedrängten oder gar beseitigten, sondern es
Geschichte Israels
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vielmehr zu einem Prozeß wechselseitiger Assimilation und Abgrenzung k a m . Kriegerische Auseinandersetzungen erfolgten dort, w o Israel a u f massiven Widerstand stieß. Andererseits verweigerten sich die israelitischen Gruppen einer ungehemmten Vermischung mit den Landesbewohnern. D e r Versuch Abimelechs, eine kanaanäische Stadtherrschaft zum M i t telpunkt eines hegemonialen Ganzen unter Einschluß Israels zu machen, scheiterte am W i derstand der S t ä m m e ( J d c 9). V o r k o m m n i s s e dieser Art steigerten und stärkten den Zusammenschluß Israels zu einem letztlich funktionstüchtigen Gemeinwesen, in dessen M i t t e Sonderinteressen freilich nie ganz aufhörten. D e n n o c h läßt sich sagen, daß weder Eroberung und Krieg noch Revolution und totaler gesellschaftlicher W a n d e l in Israels vorstaatlicher Z e i t dominierten, sondern das allmähliche Hineinwachsen in eine agrarisch bestimmte O r d n u n g , deren Voraussetzungen weithin neu geschaffen werden mußten. Erst die Z u s a m menfassung der Kräfte zu kriegerischer Verteidigung gegen Angriffe von außen stärkten das Gemeinbewußtsein soweit, d a ß Bereitschaft entstand, sich einer Königsherrschaft zu fügen, wenn auch vielfach widerstrebend und mit Vorbehalten (I S a m 1 0 , 2 7 ) . Schließlich aber beruhte die Kür des Königs nicht auf dem M a c h t a n s p r u c h eines einzelnen, sondern auf der freien Entscheidung der Israeliten, die sich dabei auf eine prophetische Legitimation durch Samuel berufen konnten (I S a m 9). N i c h t der Wille zur M a c h t , sondern der Z w a n g zur Verteidigung führte zur M o n a r c h i e . Die Analogielosigkeit dieser Vorgänge sperrt sich gegen jede generalisierende E i n o r d n u n g in vorgefertigte und anderwärts durchaus annehmbare soziologische Modelle. 4. Das Zeitalter 4.1.
Chronologische
der
Monarchien Übersicht
Die mit den Königen —>Saul, —»David und —»Salomo einsetzende Z e i t der Bildung und Konsolidierung zentral gelenkter Staatswesen gibt auch der Geschichte Israels einen festen R a h m e n . M i t geringen Schwankungen sind die einzelnen Könige chronologisch fixierbar. Die Regierungszeit Davids darf mit hoher Wahrscheinlichkeit um das J a h r 1 0 0 0 v . C h r . angesetzt werden. D e r T o d S a l o m o s und die ihm folgende sog. „ R e i c h s t e i l u n g " fällt in die Zeit zwischen 9 3 5 und 9 2 0 v. C h r . Die genaue Berechnung der Regierungsdaten der Könige von Israel und J u d a beruht auf dem Vergleich der synchronistischen Angaben der Regierungsjahre in den biblischen Büchern der Könige, die ihrerseits in Beziehung gesetzt werden können zu datierbaren Ereignissen und Herrschergestalten der außerbiblischen Geschichte, vornehmlich auf der Grundlage ägyptischer, assyrischer und babylonischer Quellen. Im einzelnen ergeben sich angesichts der biblischen Datenangaben spezifische Schwierigkeiten. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Zählweise der Jahre (sog. „Vordatierung" und „Nachdatierung", d. h. ob man das Todesjahr eines Herrschers diesem als letztes und seinem Nachfolger als erstes anrechnen soll, wie in Ägypten nachweisbar; oder ob man im Fall von „Nachdatierung" wie in Babylonien und Assyrien das erste Jahr eines Herrschers erst mit dem dem Thronwechsel folgenden Neujahr beginnen soll); eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß unbekannt ist, wann man in Israel und Juda das Jahr begann, in älterer Zeit wahrscheinlich im Herbst, unter assyrischem Einfluß (8. Jh.) wahrscheinlich im Frühjahr. Schließlich ist über die Zählweise bei Koregentschaften keine Sicherheit zu gewinnen. Bedauerliche Ungenauigkeiten ergeben sich gerade für das 8. Jh., die Zeit der klassischen Prophetie und des Einbruchs der Assyrer nach Israel und Juda. Eine in jeder Hinsicht einheitliche und zweifelsfreie Berechnung der Regierungsdaten der einzelnen Könige hat sich darum bis heute nicht durchsetzen können. Mehrere Modelle stehen nebeneinander, die aber jeweils nur um wenige Jahre schwanken. Im englischen Sprachbereich genießt die Chronologie von W.F. Albright (1945) eine bevorzugte Stellung. In Deutschland legte 1929 J. Begrich einen Entwurf vor, den A. Alt und M. Noth übernahmen, der jedoch in Einzelheiten von A. Jepsen revidiert wurde (1964). 1951 begründete E. R.Thiele seine abweichenden Berechnungen, die er schon 1944 begonnen hatte und 1977 erneut zusammenfaßte. 1969 erschien eine eigenständige Berechnung der Regierungsdaten durch K. T. Andersen, der durchweg mit dem Jahresbeginn im Herbst rechnet. Eine synoptische Übersicht über die Resultate der einzelnen Forscher findet sich als Nachwort in der von Hayes und Miller herausgegebenen Israelite and Judaean History (1977). In der World History of the Jewish People (IV/1,1979) behandelt H. Tadmor die methodologischen Probleme und teilt Y. Yeivin seine Chronologie der Königszeit mit, die er bereits 1962 begründete und die
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Geschichte Israels
den Systemen von Thiele und Andersen nahesteht. Auf letzteres Werk stützt sich die hier folgende Übersicht, die in Klammern die abweichenden Daten von A. Jepsen angibt: Saul David Salomo
(1012-1004) ( 1 0 0 4 - 965) ( 9 6 5 - 926)
Juda
Israel
Rehabeam Abi ja Asa Josaphat Joram Ahasja
930-913 913-911 911-871 871-849 849-842 842-841
Athalja Joas Amasja
8 4 1 - 8 3 5 ( 8 4 5 -•840) 8 3 5 - 7 9 6 ( 8 4 0 - 801) 7 9 6 - 7 8 5 ( 8 0 1 -•773) ( 7 7 0 abgesetzt) 7 7 0 - 7 4 9 ( 7 8 7 - 736) gestorben 7 3 4 7 4 9 - 7 4 3 ( 7 5 6 -- 7 4 1 ) Koregent 7 4 3 - 7 2 7 ( 7 4 1 -•725) 7 2 7 - 6 9 8 ( 7 2 5 -- 6 9 7 ) 6 9 8 - 6 4 2 ( 6 9 6 -•642) 6 4 1 - 6 4 0 ( 6 4 1 -•640) 6 3 9 - 6 0 9 ( 6 3 9 -•609) 609 (609) 6 0 9 - 5 9 7 ( 6 0 8 -•598) 597 (598) 5 9 7 - 5 8 6 ( 5 9 7 -•587)
Asarja Jotham Ahas Hiskia Manasse Amon Josia Joahaz Jojakim Joj achin Zedekia
4.2. Die politische
( 9 2 6 - 910) ( 9 1 0 - 908) ( 9 0 8 -•868) ( 8 6 8 -•847) ( 8 4 7 - 845) (845)
Jerobeam (I.) Nadab Baesa Eia Simri Omri (zus. mit Thibni Ahab Ahasja Joram
9 3 0 - 910 9 1 0 - 909 9 0 9 - 886 8 8 6 - 885 885 8 8 5 - •874 8 8 5 - 881) 8 7 4 - •853 853 8 5 3 - 841
( 9 2 7 - 907) ( 9 0 7 - 906) ( 9 0 6 - 883) ( 8 8 3 - 882) (882) ( 8 8 2 -•871) ( 8 8 2 -•878) ( 8 7 1 - 852) ( 8 5 2 - •851) ( 8 5 1 -•845)
Jehu
8 4 1 - 813
( 8 4 5 -•818)
Joahaz Joas Jerobeam (II.) Sacharja Sallum Menahem Pekahja Pekah Hosea
8 1 3 - •799 ( 8 1 8 -•802) 7 9 9 - •785 ( 8 0 2 -•787) 7 8 5 - 7 4 8 ( 7 8 7 -•747) 7 4 8 - •747 ( 7 4 7 ) 747 (747) 7 4 7 - •736 ( 7 4 7 -•738) 7 3 6 - •734 ( 7 3 7 -•736) 7 3 4 - •732 ( 7 3 5 -•732) 7 3 2 - •722 ( 7 3 1 -•723)
Entwicklung
Die alttestamentlichen Nachrichten über die Könige sind von unterschiedlicher Ausführlichkeit. Die beiden Samuelisbücher befassen sich mit Saul und David, in die beiden Königsbücher ist die gesamte weitere Königsgeschichte eklektisch aufgenommen (-»Samuel- und Königsbücher). Die dort häufig gegebenen Hinweise, daß man weitere Einzelheiten in den (verlorenen und nicht mehr rekonstruierbaren) „ B ü c h e r n " bzw. „Chroniken der Könige von J u d a " bzw. „Israel" finden könne, zeigt, daß den biblischen Autoren Quellen größeren Umfanges zur Verfügung standen, aus denen sie auswählten. Die Bücher der Chronik (I—II Chr; —»Chronistisches Geschichtswerk), die sich auf die Darstellung der Geschichte Judas beschränken und der auf den Jerusalemer Kult bezogenen Wirksamkeit Davids als des angeblichen Tempelgründers ein übermäßiges (und historisch im einzelnen unzutreffendes) Gewicht geben, erweitern nur in Einzelfällen unser historisches Wissen um wenige glaubwürdige Details. Ungewöhnlich starkes Interesse hat die frühe Königsgeschichte auf sich gezogen, das Königwerden Sauls (I Sam 8 - 1 2 ) und die Geschichte Davids, die man nach moderner wissenschaftlicher Konvention gern in eine „Geschichte vom Aufstieg Davids" (I Sam 16—11 Sam 6) und in eine „Geschichte von der Thronnachfolge Davids" (II Sam [6] 7 - 1 Reg 2 , 1 1 ) trennt. Die Komposition der in beiden literarischen Komplexen vereinigten kleineren Erzählungseinheiten ist in jüngerer Zeit Gegenstand mannigfacher und unterschiedlicher Analysen gewesen, die jedoch wegen ihres oft experimentell-literarischen Charakters nur ein wenig zur Aufhellung historischer Einzelheiten beigetragen haben. Die vielfach zugrunde gelegte Prämisse, daß die Berichte zur Legitimation oder Verteidigung der Könige geschrieben seien, also einen mehr oder minder tendenziösen Charakter hätten, führte über Hypothesen nicht hinaus. Allerdings ist das Ziel der biblischen Darstellungen (-^Geschichte/Geschichts-
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Schreibung/Geschichtsphilosophie) nicht die lückenlose Dokumentation von Ereignisabfolgen, sondern der Versuch, unter weitgehender Berücksichtigung charakterlicher und psychologischer Details, vornehmlich in der Geschichte Sauls und Davids, die Absichten der handelnden Personen und ihre Motive aufzudecken, um im Für und Wider ihrer Entscheidungen auch die Einwirkung Gottes erkennbar zu machen (von paradigmatischer Bedeutung II Sam 17,14). Die Darstellung der Geschichte der getrennten Königtümer Israel und Juda ist insofern vereinseitigt, daß sie weitgehend Maßstäben folgt, die dem —»Deuteronomium entnommen sind bzw. den Idealvorstellungen der sog. „Deuteronomisten" entsprechen (—»Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule). Sie beziehen sich hauptsächlich auf das kultische Verhalten der Könige, auf ihre Sympathien oder Abneigungen gegenüber der kanaanäischen Religion und auf ihr Verhältnis zum Jerusalemer Zentralheiligtum. Dennoch bleibt trotz solcher Einschränkungen bei der Auswahl und Darstellungsweise der Stoffe genügend Material, um einen überzeugenden Geschichtsverlauf zu rekonstruieren, der seine Bestätigung durch die Berührungspunkte erfährt, die zwischen Altem Testament und außerisraelitischer Literatur feststellbar sind. Der Übergang von der sog. Richterzeit zur Epoche der werdenden Staaten Juda und Israel hat den Machtzuwachs der Bevölkerungen in der unmittelbaren Umgebung Israels zum Hintergrund. Die —> Philister in den Küstenebenen, ein der sog. Seevölkerbewegung zuzurechnender, im Laufe des 13. Jh. v. Chr. dorthin vorgestoßener und militärisch überlegener (Streitwagen, eiserne Waffen) Bevölkerungszuwachs, wurde zur permanenten Bedrohung für das im gebirgigen Hinterland seßhaft gewordene Israel. Gleichzeitig war sein Territorium von Osten durch die Ammoniter (—>Ammon und Israel) und vom Süden durch die Amalekiter bedroht. Sauls erfolgreiche Abwehrkämpfe gegen die Ammoniter bei Jabesch in Gilead (I Sam 11) qualifizierten ihn für ein „Richteramt auf Lebenszeit" (Alt), wie man unter den gegebenen Voraussetzungen das saulidische Königtum nennen kann. Ihm stimmten alle Stämme auf dem westjordanischen Gebirge zu mit Ausnahme von Juda, das eine Sonderstellung behauptete. Es wird II Sam 2,9 im Zusammenhang mit der Aufzählung der saulidischen Herrschaftsgebiete nicht genannt. Die Erhebung Sauls zum König, nach I Sam 1 0 , 1 7 - 2 7 in Mizpa, nach I Sam 11,15 in Gilgal vollzogen, beruhte auf der Zustimmung der Volksgemeinde, genauer gesagt, der zum Heerbann verpflichteten freien Grundbesitzer Israels. Sauls vorausgegangene Salbung durch —»Samuel (I Sam 10,1) wird unabhängig von der Bestätigung der Volksgemeinde berichtet und könnte möglicherweise die Rückprojektion der später üblich gewordenen Salbungssitte auf Saul sein. Doch kann andererseits eine prophetische Designation auch bei Saul nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Sauls und seines Sohnes Jonathan Erfolge gegen die Philister (I Sam 13; 14) und die Amalekiter (I Sam 15) waren beachtlich, aber nicht von Dauer. Die biblische Begründung, daß ein „böser Geist" Saul befallen habe (I Sam 16,14-23), er sich außerdem an der Amalekiter-Beute vergriff (I Sam 15), verbindet das militärische und staatspolitische Problem mit einem persönlichen, das noch zusätzlich durch eine gegen den jungen David gehegte Eifersucht gesteigert wurde. Der Sieg über den philistäischen Einzelkämpfer Goliath (I Sam 17) ist jedoch möglicherweise erst nachträglich auf David übertragen worden, da II Sam 21,19 von Elhanan Gleiches berichtet wird. Schwerer wog, daß David eine eigene Söldnertruppe aufbaute, mit der er erfolgreich im judäischen Raum operierte, die sich den Nachstellungen Sauls entzog und schließlich sich und seine Truppe dem Philisterkönig Achis von Gath zur Verfügung stellte. David erhielt das weit südlich gelegene Ziklag zu Lehen und schlug die Amalekiter entscheidend (I Sam 30). Indessen war Saul nicht in der Lage, sein Amt weiter auszubauen. Die ausführlich geschilderten Streifzüge, bei denen Saul den jungen David zu fassen und auszuschalten versuchte, solange er noch in Juda weilte, mögen einen zuverlässigen historischen Kern haben, waren aber ebenso ein Ausdruck der Schwäche und Hilflosigkeit des Königs gegenüber der ihm aufgebürdeten „Staatsführung". In erster Linie war das israelitische Gebiet nach außen militärisch zu schützen. Doch baute Saul keine ständige einsatzbereite Truppe auf, verbesserte auch nicht die Waffentechnik. Er verzichtete auf einen Beamtenstab und regierte von
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seinem Heimatort Gibea aus (8 km nördlich Jerusalem), ohne ihn als Residenz auszubauen. Dem konzentrierten Aufmarsch der Philister in der Ebene Jesreel, wo zwischen die galiläischen und die ephraimitischen Stämme ein Keil getrieben werden konnte, erlag Saul. Als die Israeliten nach Osten abgedrängt wurden und die Philister am Gilboa-Gebirge den Durchstoß zum Jordangraben versuchten, nahm sich dort in auswegloser Schlachtsituation Saul selbst das Leben (I Sam 3 1 ) . Offenbar scheiterte Israels erster König an einer übermächtig gewordenen Aufgabenfülle, der die streitbare, aber zur planvollen inneren Organisation eines Staatswesens ungeeignete und überforderte Persönlichkeit Sauls nicht genügen konnte. Der von Sauls Oberbefehlshaber Abner rasch zum Nachfolger erhobene Saul-Sohn Ischbaal (Ischboschet) war seiner Aufgabe von vornherein nicht gewachsen und fiel durch Mörderhand, nachdem Abner versucht hatte, mit David zu einer Übereinkunft zu kommen. Dieser war inzwischen in Hebron zum König über Juda gesalbt worden (II Sam 2,1—3). Abners Ziel, Israel mit Juda zu verbinden, scheiterte zunächst daran, daß Abner überraschend einem Racheakt zum Opfer fiel (II Sam 2 ; 3). Doch unterstellte sich wenig später das nördliche Israel freiwillig dem südlichen Juda und machte David gleichfalls zu seinem König (II Sam 5 , 1 - 3 ) . Dieser zögerte nicht lange, das in der Mitte zwischen Juda und Israel gelegene und strategisch wichtige, noch von den Jebusitern bewohnte —»Jerusalem mit seinen Söldnern zu erobern und planmäßig zu seiner Residenz auszubauen. Die „Stadt Davids" (diese Bezeichnung verdrängte nicht den alten Namen „Jerusalem") erhielt dadurch einen stämmeübergreifenden Rang und wurde für den König David zur Hauptstadt des ganzen Landes. Er war klug genug, das ihm zugefallene nördliche Territorium „Israel" nicht militärisch zu besetzen, sondern stützte sich auch weiterhin auf seine Söldner, die in seiner Umgebung agierten (vermutlich identisch mit den sog. „Kreti und Pleti", der Leibtruppe Davids), während er gleichzeitig den Heerbann Judas und Israels befehligte. Dies erlaubte ihm im Laufe eines längeren Zeitraumes nicht nur das gesamtisraelitische Territorium westlich des Jordan zu unterwerfen und nach mehreren Siegen über die Philister auch sie enger an seine Herrschaft zu binden, sondern ebenso eine expansive Außenpolitik zu betreiben, die ihn zum Beherrscher eines „Großreiches" machte. Er siegte im Süden über —»Edom, das er zur Provinz unter eigenen Statthaltern machte (II Sam 8 , 1 4 ) , unterwarf —>Moab und forderte Tribute (II Sam 8,2), krönte sich selbst zum König der Ammoniter (II Sam 1 2 , 3 0 ) nach seinem Sieg über deren Hauptstadt Rabbat-Ammon (heute Amman) und dehnte seinen Einfluß bis weit nach Syrien aus. Er besetzte die Ebene zwischen den beiden Libanon (Niederwerfung des Reiches von Aram-Zoba), bezwang Damaskus und stieß darüber hinaus vermutlich bis in die Gegend von Hamath vor. Davids außenpolitische Erfolge sind relativ vollständig in II Sam 8 zusammengefaßt, der Krieg gegen die Ammoniter ist ausführlich II Sam 10,1 — 11,1; 1 2 , 2 6 - 3 1 beschrieben. Die weltpolitischen Voraussetzungen dieses außergewöhnlichen Machtzuwachses binnen weniger Jahrzehnte beruhten auf der militärischen und politischen Lähmung der umgebenden Großreiche, vornehmlich der Ägypter (—»Ägypten), deren Reich nach dem Ende der Ramessiden in zwei Hoheitsgebiete zerfiel und dessen innere Konsolidierung vorerst nicht gelang (Herausbildung des „Gottesstaates" in Theben unter Führung des Hohenpriesters des Amun, wenig einflußreiche Herrscher im unterägyptischen Tanis). Die gleichzeitige Schwäche des assyrischen Reiches im Norden (Tiglat-Pileser I. [ 1 1 1 2 - 1 0 7 4 v. Chr.] durch Aramäer bedrängt, Verlust der Vasallenstaaten, Beschränkung auf das Kernland zwischen Tigris und Z a b ; —»Assyrien und Israel) erlaubte David ein expansives Vorgehen in Syrien ohne nennenswerten Widerstand. Der planmäßige Ausbau des davidischen Reiches nach innen, der Aufbau einer Beamtenschaft in Jerusalem (II Sam 8 , 1 5 - 1 8 ; 2 0 , 2 3 - 2 6 ) , verbunden mit einer bescheidenen Hofhaltung, die sakrale Absicherung der Herrschaft durch Uberführung der Lade Gottes nach Jerusalem und damit die Erhebung dieser Stadt zu einem wirklichen Zentrum in Israel, gehört zu den bleibenden Verdiensten Davids. Sein aufrührerischer Sohn Absalom hatte zwar keinen Erfolg, den König zu stürzen und zu vernichten (II Sam 1 5 - 1 9 ) , doch machte sein Aufstand den bestehenden Gegensatz zwischen Israel und Juda zur Gewißheit. Davids aus-
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gleichende Politik hielt den jungen Staat zusammen, obwohl der Versuch des nordisraelitischen Revolutionärs Scheba, Israel endgültig von Juda loszureißen, noch einmal eine innenpolitische Kraftprobe darstellte (II Sam 20) und Spannungen zur davidischen Dynastie offenbarte. Das von einer energischen Hofpartei dem alternden König abgerungene Zugeständnis, seinen Sohn Salomo gegen die Versuche des ebenfalls erbberechtigten Adonija zum Nachfolger zu bestimmen (I Reg 1), leitete faktisch das Prinzip der dynastischen Erbfolge in Juda ein, das nach II Sam 7 unter prophetische Verheißung zu stehen kam. Konsequent suchte Salomo alle oppositionellen Kräfte im Staat auszuschalten (I Reg 2 , 1 2 - 4 6 ) , aber auch den Regierungsapparat zu stärken. Er baute die Verwaltung weiter aus (I Reg 4 , 1 - 6 ) und zog die Israeliten außerhalb Judas zu festen Dienstleistungen heran (Liste der Verwaltungsbezirke I Reg 4 , 7 - 1 9 ) . Gezer, —»Megiddo und —»Hazor wurden zu Festungen ausgebaut. Diese Maßnahmen des Königs trugen nicht dazu bei, das Gemeinbewußtsein in Israel zugunsten des Jerusalemer Hofes zu stärken. Auch der Bau des —>Tempels zu Jerusalem war ebenso wie der Bau des Palastes letztlich eine königliche Unternehmung und geschah in einer gewissen Distanz zur Bevölkerung und zu Kult und Brauchtum im Land. Hinzu kam die Errichtung von Sonderkulten für die fremden Götter der Frauen Salomos, die sich freilich auf Jerusalem beschränkte (I Reg 1 1 , 1 - 8 ) , aber auf die Stämme befremdend wirkte. Der spätere König Jerobeam, anfangs in Salomos Diensten, scheint an eine Verschwörung gegen den König gedacht zu haben (vgl. I Reg 11,40), aber entkam nach Ägypten. Der Tod Salomos und das taktische Fehlverhalten seines Sohnes Rehabeam gegenüber Israel (I Reg 12) führten zum Bruch. Israel trennte sich von Juda und erhob den aus Ägypten zurückgekommenen —>Jerobeam (I.) zum König. Fortan blieben die davidischen Herrscher in Jerusalem nur die Herren Judas, während Israel eine selbständige Politik unter eigenen Königen verfolgte. Die seit David aufrechterhaltene „Personalunion" zwischen den beiden Teilen des Reiches war zerbrochen, sicherlich nicht allein wegen der besonderen Lasten, die Israel unter Salomo auferlegt wurden, sondern wegen eines tieferen Gegensatzes, der seit den Tagen der Inbesitznahme des Landes latent vorhanden war und der aus der verschiedenen Herkunft der beteiligten Stämme zu erklären ist. Während der ganzen Königszeit verfolgten Israel und Juda partikulare Interessen, die sich auch politisch auswirkten und sich in der unterschiedlichen Auffassung vom Königtum äußerten. Vermutlich unter dem Einfluß prophetischer Kreise stürzte Israel wiederholt seine Herrscher, huldigte einem nicht-dynastischen charismatischen Ideal, das mehr oder weniger als die Fortsetzung des charismatischen Führertums aus vorstaatlicher Zeit betrachtet werden darf. Umgekehrt hielt Juda an der dynastischen Erbfolge fest und erzwang sie auch in den wenigen Fällen, als Krisen in der königlichen Familie und in der Beamtenschaft die Nachfolge aus davidischem Hause in Frage stellten. Im Nordreich Israel gelang erst —>Omri in der ersten Hälfte des 9. Jh. gegen mancherlei Widerstände eine Dynastiebildung, die sich einige Jahrzehnte halten konnte, nachdem er durch Errichtung einer eigenen Hauptstadt auf dem Hügel von—»Samaria eine Residenz und ein Verwaltungszentrum von überzeugender Potenz zu schaffen in der Lage war. Er versuchte einen Ausgleich zwischen den israelitischen und kanaanäischen Bevölkerungsteilen seines Staatsgebietes, den sein Sohn —»Ahab, unterstützt durch seine Heirat mit der phönikischen Königstochter Isebel, hinreichend aufrechterhalten konnte. Schon die Aufstellung der sog. Goldenen Kälber in den zu Staatsheiligtümern erhobenen Kultstätten von —»Bethel und —>Dan, die bereits Jerobeam I. als Gegenstück zum Jerusalemer Tempel vollzogen hatte, kam einer Ausgleichspolitik gegenüber dem kanaanäischen Teil der Bevölkerung entgegen, rief aber unter Ahab eine starke prophetische Opposition auf den Plan (vgl. I Reg 18,1—4), als deren Prototyp der Prophet—>Elia erscheint (I Reg 1 7 - 1 9 ; 21; II Reg 1; 2). Sein Kampf gegen Baal und seine Heiligtümer, beispielhaft an der Wiedererrichtung eines JHWH-Altars auf dem —»Karmel dargestellt (I Reg 18,17—40), zeugt vom Selbstbewußtsein der dem Gotte Israels verpflichteten Kreise, denen die aggressive Natur der streitbaren Königin Isebel nur mit Gewalt zu begegnen wußte (vgl. I Reg 21), am Ende aber ohne Erfolg.
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Elias Nachfolger im Prophetenamt, der sagenumwobene —»Elisa, ließ schließlich den Heerführer —»Jehu zum König salben, der, ausgestattet mit dem Sendungsbewußtsein eines Fanatikers, mit Taktik und Grausamkeit der Dynastie Omris ein Ende setzte, den Baaltempel in Samaria verbrannte (II Reg 9; 10) und zum Begründer einer Dynastie werden konnte. Ihre Durchsetzungskraft beruhte wohl gleichzeitig auf der Einsicht, daß Israel nach innen gefestigt sein mußte, um nach außen schlagkräftig zu bleiben. Die schon unter Omri begonnene Expansion Israels nach dem Ostjordanland, die Kämpfe gegen Syrer, Ammoniter und vor allem die Moabiter um die Mitte des 9. Jh. v. Chr. (vgl. die bedeutsame Inschrift des Königs Mescha von Moab, die die Expansion der Omriden erwähnt, gleichzeitig aber auch ihren Niedergang vermerkt; zu Mescha vgl. II Reg 3 , 4 - 2 7 ) zeigen Israel auf einem ungewöhnlichen Höhepunkt selbständiger Machtbehauptung. Gleichzeitig aber wird am Horizont ein neuer Gegner erkennbar, dem zuletzt die syrische Staatenwelt und schließlich auch das Nordreich Israel selbst zum Opfer fallen sollte: die Assyrer (—»Assyrien und Israel). Nach Ausweis der assyrischen Zeugnisse (die wichtigsten Texte übersetzt in AOT, TGI, ANET) war bereits Ahab an einer Koalition syrischer Kleinfürsten gegen Salmanassar III. ( 8 5 9 - 8 2 4 v.Chr.) beteiligt (sog. Monolith-Inschrift [Kol. II, 9 0 - 1 0 2 ] ) . In mehreren Feldzügen drang der assyrische Großkönig nach Syrien vor. In der Schlacht bei Karkar am Fuße des Nosairiergebirges 853 v. Chr. scheint sein Erfolg nur begrenzt gewesen zu sein. Von Bedeutung wurde der sog. 4. Feldzug Salmanassars nach Damaskus, in das Haurangebiet und zum Vorgebirge am nahr el-kelb (842/41 v. Chr.). In dieser Zeit war Jehu von Israel bereits ein Tributär der Assyrer, bildlich festgehalten auf dem sog. „Schwarzen Obelisken" Salmanassars III. (AOT 343; AOB 1 2 1 - 1 2 5 ; ANEP 3 5 1 - 3 5 5 ) . Im Schatten dieser Entwicklungen blieb Juda seit der Reichsteilung unter Rehabeam ein relativ unangefochtenes, selbständiges Staatswesen. Die kurzzeitige Bedrohung durch einen Feldzug des Pharao Schoschenk I. (22. Dynastie; biblisch Schischak, vgl. I Reg 1 4 , 2 5 - 2 8 ) ging an Jerusalem vorüber, weil Rehabeam hohen Tribut leistete. Nach Ausweis der Städteliste Schoschenks am Bubastidenportal des Amun-Tempels zu Karnak, wo Jerusalem unerwähnt bleibt, erstreckte sich der Feldzug auch auf das Nordreich Israel, die Jesreel-Ebene und den oberen Jordangraben, wahrscheinlich auch auf das Ostjordanland mit Mahanajim und weite Teile des Negeb. Aus der Zeit der Nachfolger Rehabeams werden Grenzstreitigkeiten zwischen den Königen Baesa und Asa gemeldet (I Reg 15,21.22), die zeigen, daß der Territorialbestand beider Königtümer im Raum von Rama und Mizpa noch nicht klar abgesteckt und aus strategischen Gründen umstritten war. Nach Süden grenzte Juda an das Gebiet der Edomiter, ohne daß erkennbare größere Auseinandersetzungen das Verhältnis bis in das 9. Jh. hinein belasteten. Der Versuch des Königs —»Josaphat, einen Seehandel über den Golf von Elat (Akaba) in südlichere Zonen zu eröffnen, scheiterte (I Reg 22,49.50). Im Kampf gegen Moab und seinen König Mescha standen die Könige von Israel, Juda und Edom als Verbündete zusammen (II Reg 3). Joram von Juda heiratete Athalja, eine nordisraelitische Königstochter, die freilich nach dem frühen Tode ihres Sohnes, des Königs Ahasja, eine eigene Herrschaft in Jerusalem behauptete, die für kurze Zeit die Herrscherfolge der Davididen unterbrach. Dem von ihr angezettelten Blutbad unter der königlichen Familie entging der jüngste Sohn Ahasjas, Joas, dessen Einsetzung zum König bei eingetretener Mündigkeit von der Jerusalemer Priesterschaft erzwungen wurde, während Athalja in einer tumultuarischen Szene umkam (II Reg 11). Die Zeit der Schwäche des assyrischen Reiches nach dem Tode Salmanassars III. (824 v. Chr.) benutzten die syrischen Kleinstaaten, besonders die Herrscher von Damaskus, zu selbständiger Politik und expansiven Ausfällen. Israel war erneut an seiner Nordflanke bedroht und mußte im Ostjordanland kämpfen. Die „Aramäer-Kriege", von denen aus der Regierungszeit des Jehu-Nachfolgers Joahas II Reg 1 3 , 3 - 7 berichtet, bilden höchstwahrscheinlich auch den Hintergrund der Sprüche gegen fremde Völker Am 1,3 - 2,16. Nach dem Assyrer Schamschi-Adad V. ( 8 2 4 - 8 1 0 ) war es Adad-nirari III. ( 8 1 0 - 7 8 2 ) , der die Macht der Assyrer wieder weit nach Syrien vortrug, Damaskus bezwang, doch kaum über die bereits von Salmanassar III. erreichten Erfolge hinausgelangte. Den assyrischen Expansions-
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drang bremste der Aufstieg der Urartäer auf der Hochebene um den Van-See, wo Sardur III. (etwa 8 1 0 - 7 4 3 ) einen Höhepunkt seiner Macht erreichte und das assyrische Kernland vom Norden her in die Zange nahm. Somit war Assyrien abermals durch eine fremde Großmacht gebunden, so daß es während der langen Regierungszeit —»Jerobeams II. zu einer Phase relativer Beruhigung in Israel kam. Sie fand mit dem Aufkommen Tiglat-Pilesars III. ( 7 4 5 - 7 2 7 ) ihr Ende. Er leitete jene letzte große Epoche assyrischer Macht- und Expansionspolitik ein,die den Untergang des Nordreiches Israel bringen sollte. In mehreren Feldzügen, beginnend um 7 4 0 , unterwarf der Assyrer in systematischem Vorgehen die gesamte syrische Staatenwelt einschließlich Damaskus und der phoenikischen Küste. Noch konnte König Menahem von Israel sein Territorium durch Tributzahlung frei vom Feind halten, die er durch eine Kopfsteuer von den heerbannpflichtigen Israeliten einforderte (II Reg 1 5 , 1 7 - 2 2 ) . Ungeachtet dessen muß jedoch Tiglat-Pilesar nach Ausweis assyrischer Quellen bereits 7 3 4 in einer großangelegten Bewegung an Israel und Juda vorbei bis zum „Bach Ägyptens" wädi el-'arisch vorgestoßen sein (vgl. T G I 5 6 ) , nachdem Gaza gefallen war. Indessen versuchten syrische Kleinstaaten unter Führung von Damaskus sich von Assur zu lösen und zogen in dieses Bündnis auch das Nordreich Israel hinein. Jedoch scheiterten Damaskus und Israel bei ihrem Versuch, mit Waffengewalt auch den judäischen König —> Ahas in ihre antiassyrische Koalition hineinzuzwingen (sog. „Syrisch-ephraimitischer Krieg", II Reg 15,37; 16,5). Diese Ereignisse spielen im Buch —>Jesaja eine Rolle und erlangten durch die Szenenfolge Jes 7,1 — 17 welthistorischen und theologischen Rang. Die Vorgänge lösten den assyrischen Gegenangriff aus. Ahas von Juda erklärte freiwillig seine Vasallität (II Reg 1 6 , 7 - 9), Israel wurde angegriffen und dem assyrischen Provinzialsystem eingegliedert; nur die Stadt Samaria mit ihrem ephraimitischen Umland behielt unter dem von Assur gebilligten König Hosea begrenzte Souveränität. Damaskus fiel 7 3 2 . Die von Hosea eingestellten Tributzahlungen nach dem Tode Tiglat-Pilesars III. und seine Verbindungen zu Ägypten (II Reg 1 7 , 1 - 6 ) riefen die Assyrer erneut auf den Plan und führten zu der dreijährigen Belagerung Samarias unter Salmanassar V. ( 7 2 7 - 7 2 2 ) , der die Stadt 7 2 2 bezwang. Uber ihre Behandlung und die Deportation ihrer Bewohner berichtet neben II Reg 17 assyrisches Textmaterial der Zeit Sargons II. (TGI 60). Nach dem Ende des Nordreiches Israel verstrickte sich Juda in Bündnispläne mit Ägypten und Babylonien sowie in kleiner Koalition mit Edom und M o a b gegen Assur, blieb jedoch bei den Aufständen von Hamath und Gaza (720) und Asdod ( 7 1 3 - 7 1 1 ) verschont. Erst die Erhebungen von Askalon und Ekron nach dem Tode Sargons II. (705) boten seinem Nachfolger Sanherib (705 - 6 8 1 ) Grund und Gelegenheit, nach Juda einzubrechen, Lachisch zu belagern und das judäische Land rings um Jerusalem zu besetzen. Die Stadt selbst blieb verschont (wie einst ursprünglich auch Samaria), vermutlich weil —»Hiskia durch hohe Tribute sie freikaufen konnte (II Reg 18,13—16). Einzelheiten der Vorgänge berichten ausführlich II Reg 1 8 , 1 3 - 1 9 , 3 7 (weitgehend identisch mit Jes 3 6 ; 37), ferner Jes 1 , 4 - 9 und assyrisches Textmaterial, darunter der sog. „Taylorzylinder" (AOT 3 5 2 - 3 5 4 ; A N E T 2 8 7 f ; T G I 67-69). Nach den Ereignissen des Jahres 7 0 1 regierten in Jerusalem die Davididen weiter, aber in assyrischer Abhängigkeit, was zur schlechten Beurteilung der langen Regierungszeit König —»Manasses beitrug (II Reg 21). Die Eroberung Ägyptens durch die Assyrer unter Asarhaddon 6 7 1 findet im Alten Testament keinen Niederschlag. Höhepunkt und Niedergang der assyrischen Weltherrschaft im 7. J h . übten einen mehr indirekten Einfluß auf die prophetische Literatur aus (—»Nahum, —»Jona). Jedoch ist auf dem Hintergrund der sinkenden assyrischen Macht die relativ selbständige Politik des judäischen Königs —»Josia zu beurteilen, dessen ihm zugeschriebenes Reformwerk auf der Grundlage deuteronomischer Prinzipien (Beseitigung allen Fremdkultes, Zentralisation des Opferkultes in Jerusalem, Verpflichtung auf die Tora; vgl. II Reg 2 2 ; 23) sich gegen verbliebene assyrische Idole und ihre Verehrer im Lande richtete (II Reg 2 3 , 4 - 7 . 1 0 - 1 5 . 1 9 . 2 0 ) , dann aber eine völlige Neuordnung des israelitischen Kultwesens anstrebte. Der Zerfall der assyrischen Provinzverwaltung im Nordreich Israel und zuletzt die Zerstörung Ninives (612) eröffneten die Möglichkeit für ein er-
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folgreiches Ausgreifen J o s i a s nach dem N o r d e n und eine Einbeziehung dieses T e r rains in die Jerusalemer Administration. D e r Sicherung dieser Interessen galt der kühne Versuch Josias, sich dem P h a r a o N e c h o bei M e g i d d o in den W e g zu stellen (II Reg 2 3 , 2 9 ) , der zur Stützung letzter Reste assyrischer M a c h t unter dem Prinzen Assur-uballit israelitisches Territorium bei seinem Zuge nach dem obermesopotamischen H a r r a n berührte. Im Gefecht bei Megiddo fiel J o s i a im S o m m e r 6 0 9 . Z w a r erwies sich N e c h o s V o r s t o ß zugunsten des Assyrers militärisch als erfolglos, weil babylonische Truppen H a r r a n halten k o n n t e n ; doch nahm N e c h o aktiven Einfluß auf die judäische Politik, setzte den vom V o l k designierten Nachfolger Josias, dessen Zweitältesten Sohn J o a h a s , a b und inthronisierte dessen älteren Bruder Eljakim unter dem N a m e n —> J o j a kim. Dieser wurde T r i b u t ä r der Ägypter, mußte aber im Gefolge der Schlacht bei Karkemisch 6 0 5 , in der Ägypten geschlagen wurde, sich mit ganz Syrien in die babylonische Abhängigkeit begeben (vgl. II Reg 2 4 , 7 ) . Einzelheiten dieser Ereignisse bestätigte der von Wiseman bearbeitete Teil der Babylonischen Chronik, aus der hervorgeht, daß der Sieger von Karkemisch, der nachmalige König Nebukadnezar ( 6 0 5 - 5 6 2 ) , sich südwärts wandte und Syrien eroberte. Juda fiel wohl im gleichen Jahr 604 wie Askalon. Auf einem Ägypten-Feldzug 601 blieb Nebukadnezar erfolglos, so daß Unabhängigkeitsbestrebungen an der phoenikisch-palästinischen Küste wach wurden. Vermutlich um in Jerusalem einen ihm genehmen Thronwechsel zu erzwingen, brach Nebukadnezar um die Jahreswende 5 9 8 / 9 7 von Babylonien auf, setzte den judäischen König ab (vermutlich den Nachfolger Jojakims, den König—»Jojachin) und brachte Zedekia auf den Thron. Die Einnahme Jerusalems erfolgte genau am 16. März 597 und verband sich mit der sog. „ersten Wegführung", einer Deportation, zu der hauptsächlich die sprichwörtlichen „obersten Zehntausend" von Jerusalem und Juda (vgl. II Reg 24,14) unter Einschluß Jojachins und des späteren Propheten Ezechiel zählten. D e r letzte Davidide auf dem T h r o n , —»Zedekia, ein Sohn J o s i a s und O n k e l Jojachins, w a r nach dem Zeugnis des Buches —»Jeremia keine starke Persönlichkeit. Unter dem Eindruck von Unruhen in Tyrus und Sidon und im Vertrauen auf ägyptische Hilfe (vgl. J e r 3 7 , 5 - 1 1 ) wagte er den Abfall von den Babyloniern. Sie belagerten mehrere J a h r e Jerusalem, vermutlich mit Unterbrechungen und o h n e nachhaltige Bedrängnis durch aufgebotene ägyptische Kontingente zum Entsatz der Stadt. Sie fiel nach neuen, aber nicht einhellig angen o m m e n e n chronologischen Berechnungen im S o m m e r 5 8 6 , vielleicht auch schon früher. D a s Ende des Südstaates J u d a w a r g e k o m m e n . Die „zweite W e g f ü h r u n g " erfolgte, Jerusalem wurde geplündert und weitgehend zerstört. D e r Untergang des judäischen Königtums und damit des Königtums in Israel überhaupt, verbunden mit der Deportation eines großen Teils der Bevölkerung in das „ B a b y l o n i s c h e E x i l " (—»Exil), bedeutet zwar den tiefsten Einschnitt in der Geschichte des V o l k e s Israel im 1. J t . v. Chr., doch keineswegs das Ende seiner Existenz, seiner inneren Selbständigkeit und schöpferischen Leistungsfähigkeit. D a ß IsraelJ u d a auch die Epoche des Exils überdauerte und zu neuen Formen seiner staatlichen Ordnung und seiner inneren Verfassung fand, zeigt K r a f t und Willen zur Kontinuität und zur T r e u e gegenüber sich selbst.
4.3. Die soziologischen
Voraussetzungen
und
Veränderungen
Unter der Voraussetzung, d a ß Israel zu Beginn der M o n a r c h i e unter Saul und David noch weitgehend eine auf G r o ß f a m i l i e n , Sippen und S t ä m m e n basierende Lebensform besaß, die erst allmählich in eine vorwiegend agrarische Ordnung und begrenzt auch in eine städtische Kultur hineinwuchs, ist festzuhalten, d a ß auch während der Königszeit Israel nicht zu einem geschlossenen Staatsvolk z u s a m m e n w u c h s , sondern stets partikulare Interessen lebendig blieben und die K o m p l e x i t ä t der Frühzeit nicht überwunden oder eingeebnet wurde. Freilich ist vieles unserem präzisen Urteil dadurch entzogen, daß der Übergang Israels von seiner nomadischen Frühzeit in die agrarisch-bodenständige Existenz nicht e x a k t aus den Quellen rekonstruierbar ist und d a r u m in neuerer Z e i t mancherlei Hypothesenbildungen unterlag. Fest steht, d a ß die G r o ß f a m i l i e n und Sippen, die das spätere Israel bildeten, je nach O r t und Umständen anders auf das bodenständige K a n a a n ä e r t u m trafen und sich m i t
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ihm auseinandersetzten. Deutlich ist zunächst, daß sich die Königtümer in Juda und Israel nicht zu selbständigen Stadtherrschaften mit einem abhängigen Einzugsgebiet entwickelten, wie es an den syrischen Stadtstaaten zu beobachten ist. Das —»Königtum griff weit weniger in die inneren Verhältnisse der seßhaft gewordenen Stämme ein, als man es von einem zentralistisch gelenkten Staatswesen erwarten sollte. Das Königtum Sauls hat nicht mehr erreicht als die Kommandogewalt über den Heerbann der Stämme zur Verteidigung ihres Territoriums. Es war eine „nationalstaatliche" Ordnung ohne Hofhaltung und institutionalisiertes Beamtentum. Dazu ging erst David über, der mit Jerusalem ein Zentrum der M a c h t gewann und Ressortämter einführte, wie sie aus den beiden Listen II Sam 8,15 und 2 0 , 2 3 — 2 6 ablesbar sind. Eine wirkliche Zentralregierung vermochte erst Salomo aufzubauen, indem er zugleich auch die Versorgung des königlichen Hofes durch Schaffung eines Distriktsystems sicherte, das unter eigens eingesetzten Beamten die Belieferung der Residenz zu garantieren hatte, gleichzeitig aber auch für den Ausbau einzelner befestigter Orte verantwortlich war. Diese Tätigkeit oblag zusätzlich der Oberaufsicht eines Fronministers (vgl. die erweiterte Beamtenliste I Reg 4 , 1 - 6 und die sog. „Gauliste" I Reg 4 , 7 - 1 9 ) . Die Steinigung des Fronministers I Reg 1 2 , 1 8 zeigt beispielhaft den Widerstand des Nordreiches Israel gegen die von Salomo eingeführten Neuerungen. Doch sind wir über die Funktionsweise des Staatsapparates unter David und Salomo im einzelnen nicht unterrichtet. Die beiden Aufstandsbewegungen gegen David, die von seinem Sohn Absalom (II Sam 1 5 - 1 9 ) und später von dem Nordisraeliten Seba (II Reg 20) ausgelöst waren, zeigen einerseits die Bedrohung, der der regierende König ausgesetzt blieb, andererseits die wachsende Geschlossenheit, mit der Judäer und Israeliten reagierten und die recht eigentlich die Staatskrise verhindern konnten. Aber die dramatischen Ereignisse um die Thronnachfolge Davids (I Reg 1) verdeutlichen auch die relativ selbständige Position, die führende Staatsbeamte erlangt hatten, die dann letztlich die Oberhand über die Entschlüsse des alternden Königs behielten. Es bleibt zu bedauern, daß wir über die Befugnisse des Königs, namentlich in Rechtsgeschäften, nichts Verbindliches wissen. Nur einige Rückschlüsse können weiterhelfen. Eine wesentliche Veränderung im gesamten Gefüge sozialer Ordnungen löste das Königtum insofern aus, als die Verteilung des Grundbesitzes im Laufe der Zeiten durch ein königlich privilegiertes und sanktioniertes Beamtentum beeinflußt und widerrechtlich verändert wurde. So wenig wir stichhaltige Angaben über die Voraussetzungen der Bodenverwaltung und Bodennutzung besitzen, wird doch deutlich, daß jeder freie Israelit, der auch der Heerbannpflicht unterlag, über Grund und Boden als Erbland (tiahala) verfügte, den er als Gabe seines Gottes und als unveräußerlich betrachtete. Die Unverkäuflichkeit des Bodens in Israel im Unterschied zur kanaanäischen Praxis beleuchtet drastisch der Konflikt des Königs Ahab um den Weinberg des Naboth (I Reg 2 1 ) . Die aus Phoenikien stammende Königin Isebel folgt den Grundsätzen kanaanäischer Rechtspraxis, wenn sie den König für den uneingeschränkten Herrn des von ihm regierten Territoriums und seines Grundbesitzes hält, während Ahab das angestammte und unaufhebbare israelitische Erbrecht respektiert. Es entspricht diesem Bild, wenn umgekehrt Israeliten sich zum Kauf kanaanäischen Bodens entschlossen und das Recht des Eroberers nicht beanspruchten. Bereits Abraham kaufte in Hebron die Höhle Makpela als Erbbegräbnisstätte (Gen 2 3 ) , David die Tenne des Arawna für den Ort des Tempels (II Sam 24) und Omri den Stadthügel von Samaria zum Bau einer eigenen Residenz und zur Gründung seiner Hauptstadt (I Reg 16,24). An diesen herausragenden Landkäufen zeigt sich, daß Israel landesübliches Recht respektierte, nachdem es selbst zunächst außerhalb der Städte und in den relativ schwach besiedelten Gegenden auf der Ostseite des Westjordanlandes Fuß gefaßt hatte. Die Annahme des bisweilen bestrittenen friedlichen Vordringens Israels in sein künftiges Territorium hat im Prinzip mehr für sich als die Unterstellung kriegerischer oder revolutionärer Vorgänge. Anpassung an landesübliche Praxis zeigt sich auch in der Übernahme kanaanäischen Rechts, wenn auch vielfach in modifizierter Form (—>Recht/Rechtswesen). Das älteste israelitische Rechtsbuch, das sog. —»Bundesbuch (Ex 2 0 , 2 2 - 2 3 , 3 3 ) kennt neben dem aus der kanaanäisch-mesopotamischen Rechtsüberlieferung übernommenen kasuistischen Recht das formal und inhaltlich davon unterschie-
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dene sog. apodiktische Recht, das vielfach in Reihen von Rechtssätzen formal gleicher Gestalt überliefert ist und in der H a u p t s a c h e todeswürdige Verbrechen aufzählt (vgl. auch die Fluchreihe Dtn 2 7 , 1 1 - 2 6 : sog. „sichemitischer D o d e k a l o g " ) . W ä h r e n d das kasuistische R e c h t weitgehend der Laiengerichtsbarkeit in den Ortschaften zugesprochen wird, vereinigt das apodiktische R e c h t grundsätzliche Forderungen, über deren praktische Verwendung keine Sicherheit besteht, deren liturgisch-belehrender Gebrauch jedoch auf Grund der formal gleichgestalteten Sätze und der Reihenbildung naheliegt (vgl. den Stil der —»Dekaloge Ex 2 0 , 1 - 1 7 ; Dtn 5 , 6 - 1 8 ; -^»Gesetz). Die Ursprünge des apodiktischen Rechts gehen wahrscheinlich bis in nomadische Zeit zurück.
Störungen erfuhr das Rechts- und Sozialgefüge im Laufe der Königszeit im Wechsel der Generationen durch den wachsenden Einfluß administrativer M a ß n a h m e n , hauptsächlich ausgehend von einem dem Königtum verpflichteten Beamtenstand. Obwohl nicht exakt nachweisbar, befand ein Teil der vom König eingesetzten Beamten über das königliche Krongut, ein anderer über Maßnahmen zur Einbringung öffentlicher Abgaben, vornehmlich für die königliche Verwaltung. Im Generationenwechsel verfügbar gewordene Ländereien oder durch Verschuldung ihren Besitzern entwundene Erbteile dienten einer zunehmend an Einfluß gewinnenden Oberschicht als Mittel zur Bereicherung und führten in Einzelfällen zu Großgrundbesitz. Dem Königtum gelangen offenbar keine wirkungsvollen Gegenmaßnahmen, sofern es dazu überhaupt in der Lage war. Doch wurden die aufgebrochenen Mißstände Gegenstand prophetischer Angriffe, ohne daß sie eine spürbare Veränderung der Gesamtsituation bewirkten. Es ist die Folge der vielfach lückenhaften alttestamentlichen Überlieferung, daß die Rolle des Königs und die Positionen der über das Land verstreuten Beamten nicht an Einzelfällen zweifelsfrei demonstriert werden können. Insofern fällt auch eine Beschreibung der gesellschaftlichen Struktur während der Königszeit schwer (—»Gesellschaft). Über das Verhältnis der in städtischen Zentren, namentlich in Jerusalem, Samaria, Sichern und Hebron lebenden städtischen Bevölkerungen zu den Grundbesitzern auf dem Lande läßt sich kaum Stichhaltiges ermitteln. Deshalb sind auch alle Versuche, die Gesellschaftsform Israels während der Königszeit zu definieren, bisher zu keinem Resultat gelangt. Die häufige Verwendung des Begriffs „Feudalismus" besagt wenig, weil eine eindeutig feudale Struktur mit festen Formen der Belehnung nicht nachweisbar ist, andererseits die Kompetenzbereiche des Königs und der mit der Verwaltung, vielleicht auch mit Eigenbesitz ausgestatteten Beamten aus keinem Dokument abzulesen sind. Zu wenig wird sicher auch in Rechnung gestellt, daß die gesamte Königszeit nicht mehr als rund 4 0 0 Jahre umfaßte, die Bevölkerungen permanent bedroht waren, die Verteidigungsbereitschaft des Landes beständig herausgefordert wurde und die Könige mit der militärischen Sicherung des Landes und der Vervollkommnung der Streitkräfte befaßt waren. Das Nordreich Israel, das 7 2 2 / 2 1 v. Chr. sein Ende fand, währte nur 2 0 0 Jahre, das Südreich Juda stand seit dem 8. J h . unter dem Einfluß der assyrischen Großmacht. Die Entfaltung einer eigenständigen und ausgeglichenen Wirtschaftsordnung (—»Wirtschaft) kann nicht erwartet werden; Israel und Juda befanden sich, abgesehen von wenigen Perioden der Konsolidierung, in einem schwer beschreibbaren Ausnahmezustand, der nicht zuletzt durch die geographische Lage des Landes im Interessenbereich der Großmächte des Nordens und Südens bedingt war. Um so bemerkenswerter ist es, daß Israel nicht schon vor dem babylonischen Exil vollends aufgerieben wurde, sondern in einem komplexen Prozeß von Selbstbehauptung und Abgrenzung eine selbständige Existenz begründete und bewahrte. Das lag möglicherweise an den besonderen geistigen Voraussetzungen Israels, das sich von Anfang an von seinen Nachbarn unterschied. 4.4. Grundlinien
der religiösen
und geistigen
Entwicklung
Die religiöse und geistige Entwicklung Israels von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit Religionsgeschichte Israels) hat im Endresultat jenes Gestaltbild Israels begründet, das vom Alten Testament her bis auf den heutigen T a g nachwirkt, freilich in sehr verschiedenen Formen. Denn die alttestamentliche Überlieferung, vornehmlich im -n>Pentateuch, hinterläßt den Eindruck, daß Israel schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, weit vor den Toren des verheißenen Landes, eine handlungsfähige Einheit bildete und also auch
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durch gemeinsame Erfahrungen geprägt war. Die sukzessive Überarbeitung biblischer Bücher fand jedoch erst ihren Abschluß in exilisch-nachexilischer Zeit. So erscheint denn auch die Frühzeit in einem Rahmen und von Vorstellungen durchzogen, die erst im Laufe der Zeit entstanden und also von den späteren Epochen mitgeprägt sind. Wissenschaftliche Bemühungen der historisch-kritischen Forschung richteten sich e x a k t auf diese Fragen, w a n n bestimmte Vorstellungen und Uberlieferungen entstanden, welche Verarbeitung sie fanden und welche W a n d l u n g e n sie im Prozeß beständiger Reflexion erfuhren. Der Versuchung, literarkritische Hypothesen auch zum M a ß s t a b historischer Urteile über die geschilderten Ereignisse zu machen, ist die alttestamentliche Wissenschaft früh erlegen, m u ß t e sich aber häufig korrigieren, weil vermeintlich junge Uberlieferung sich d u r c h a u s an älteren T a t s a c h e n orientierte. Beispiele sind etwa das Verhältnis des spät aufgezeichneten Gesetzes zur vorexilischen Prophetie, Historizität und Funktion des Mose, Datierung einzelner prophetischer Uberlieferungen. - Eine neuere Richtung neigt zu wieder anderem Vorgehen; sie m ö c h t e vermeintlich alte Uberlieferungen wesentlich als P r o d u k t e späterer Rezeption und Reflexion hinstellen. Hinzuweisen ist etwa auf die Beurteilung des —»Jahwisten, der lange Zeit hindurch als älteste Pentateuch-Schicht galt, heute (wenn auch vorerst n u r von wenigen Forschern; vgl. Schmid und in kritisch-modifizierter F o r m Rose) als A u s f o r m u n g exilischer Zeit gelten soll. Aus den genannten G r ü n d e n ist es schwierig, aber verständlich, d a ß es bis heute noch nicht zu einem allgemein ang e n o m m e n e n Bild des geistigen und religiösen W a c h s t u m s im vorexilischen Israel gekommen ist. Die folgenden Überlegungen fassen einige wesentliche, aber auch kontroverse Gesichtspunkte zusammen.
Trotz der in jüngster Zeit stark beachteten, aber im einzelnen verschieden beurteilten Auffassungen, daß sich der Gottesname J H W H (—»Jahwe) ansatzweise schon im Rahmen der syrischen Namengebungfinde (als Ya(w) in Ebla aus dem 3. Jt. v.Chr.; als YWinUgarit aus der Mitte des 2. Jt.; möglicherweise als Jao in Byblos aus dem ausgehenden 2. Jt.), ist festzuhalten, daß der für Israel verbindlich gewordene Glaube an seinen Gott JHW(H) auf ältesten Erfahrungen beruht, die Sippen und Stammesgruppen im Ost- oder Nordostteil der Sinai-Halbinsel machten. Dafür sprechen die für den Gottesberg allgemein angenommene Südlage, die Erwähnung des Gebirges Se'ir (Jdc 5,4; vgl. auch Hab 3,3), aber auch die Belege aus dem 8. oder 7. Jh. v. Chr., die die Verwendung des israelitischen Gottesnamens auf Gefäßbruchstücken aus Kuntillet 'Ajrud, 50 km südlich Kadesch-Barnea, bezeugen. Sie lassen auf ein Zentrum des Jahwe-Glaubens in dieser Gegend schließen, das in ältere Zeit zurückreichen kann. Kaum zu bestreiten ist die Bindung Jahwes an einen Berg, der nicht vulkanischen Charakters gewesen sein muß, aber von umwohnenden oder dahin wallfahrenden Verehrern aufgesucht wurde. Hypothetisch bleibt die Übernahme des Jahwe-Glaubens durch solche Sippen oder Stämme des späteren Israel, von denen angenommen werden muß, daß sie die Randgebiete des Sinai nicht berührten, wie etwa die Patriarchen mit ihren Sippen, die aus dem obermesopotamisch-nordsyrischen Bereich eine eigene Art der Gottesverehrung kannten. Es ist deshalb damit zu rechnen, daß die Durchsetzung des Jahwe-Glaubens in Israel erst auf dem Boden des neu gewonnenen Kulturlandes erfolgte, als die Sippen und Stämme zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenwuchsen. Dennoch wird dies ein langwieriger, von zahlreichen Rückschlägen begleiteter Prozeß gewesen sein. In den Büchern Jos und Jdc spiegelt sich, wenn auch oft in drastischer Verkürzung und pragmatischer Darstellungsweise, eine komplexe Entwicklung wider, die von Annahme und Ablehnung kanaanäischer Lebensformen und ihrer Religion charakterisiert ist. Die in Jos 24 prototypisch geschilderte Verpflichtungsszene der versammelten israelitischen Stämme auf Jahwe (sog. „Landtag zu Sichern") resümiert höchstwahrscheinlich, was sich historisch nur allmählich verwirklichte bzw. was aus späterer Sicht als Postulat bereits für die Landnahmezeit gelten sollte, eine einheitliche Gottesverehrung. Dabei muß offenbleiben, in welchem Umfang auch die Stämme des südlichen Juda von Anfang an dem Jahwe-Glauben aufgeschlossen waren oder erst im Zuge stärkerer Annäherung an die mittelpalästinischen Verbände ein Durchbruch erzielt wurde. Immerhin aber könnten auch Teile des späteren Juda im Raum von Kadesch-Barnea erste Berührungen mit Jahwe gehabt haben. Die Eroberung Jerusalems durch David, die Überführung der Lade dorthin und der Bau des —»Tempels durch Salomo waren mindestens der Versuch, dem ganzen Israel eine zentrale Stätte des Kultes zu geben. Der Überzeugung der Stämme scheint das wenigstens am
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Anfang nicht unmittelbar entsprochen zu haben. Das prachtvolle und in seinem Stil für Israel fremdartige Bauwerk, das dem sog. „syrischen Tempeltyp" mit Vorhalle, Langhaus und Adyton sowie zwei einzelnen, nichttragenden Säulen am Eingang entsprach, stellte als das „Haus Jahwes" in dieser Form eine Neuerung dar (vgl. die nicht abwegigen Erwägungen II Sam 7,6). Neben der königlichen Residenz wirkte der Tempel eher wie eine königliche „Palastkapelle". Vor allem scheint er für die Nordstämme anfangs keine integrative Kraft besessen zu haben. Sie trennten sich von Juda und erhielten in —»Bethel und —»Dan ihre eigenen Heiligtümer mit königlichem Privileg (vgl. Am 7,13), ausgestattet mit Stierbildern (sog. „Goldenen Kälbern" I Reg 12,28-31), deren Symbolik als Postament des darüber anwesend gedachten Gottes sich kanaanäischer Vorstellung näherte (vgl. die Darstellungen von Göttern, die auf Tieren stehen in Kleinasien und Syrien) und auf die im Nordreich Israel stark vertretenen und seit David unterworfenen kanaanäischen Bevölkerungsteile überzeugender wirkten als die im Dunkel des Jerusalemer Tempels verborgene Lade Jahwes. Ob das in Verbindung mit Samaria Hos 8,5 erwähnte „Kalb" ein selbständiges Kultobjekt war, bleibt umstritten. Der harte Kampf des Propheten —»Elia (I Reg 1 7 - 2 1 ; II Reg 1,1-2,14) gegen den Kult des phoenikischen Baal und der endliche Sieg des Königs Jehu gegen die Verehrer Baals in Samaria (II Reg 1 0 , 1 8 - 27) geben schlaglichtartig einen Eindruck von den Gefahren, denen Israel in der Nachbarschaft kanaanäischer Götterverehrung ausgesetzt war. Dies erklärt die vom Propheten —»Hosea aufgenommene Symbolik von der untreuen Frau, die zum Abbild Israels und seines Verhältnisses zu Jahwe wurde (Hos 1 - 3 ) . Nicht zu Unrecht wird auch der Ursprung des —»Deuteronomium im Nordreich Israel gesucht. Dessen entschiedene Botschaft, sich der fremden Götter zu entschlagen und Jahwe, dem Einen und Einzigartigen, mit ungeteilter Liebe zu begegnen (Dtn 6,4 f), entspricht ebenso der für das Nordreich Israel abzuwehrenden Überfremdungsgefahr wie die strenge Anlehnung an die Traditionen der Wüstenzeit, Gottesberg und —»Bund, die zum nordisraelitischen Traditionsgut zählen. Umgekehrt fehlen diese Traditionen in Juda bei den Propheten —»Jesaja und —»Micha (2. Hälfte 8. Jh.) gänzlich. Sie sind sich mit—»Arnos und Hosea in der Verurteilung sozialen Unrechts einig, richten aber ihre Hoffnungen über eine zu erwartende Katastrophe hinaus auf das Kommen eines neuen Herrschers aus davidischem Haus. Die Frontstellung gegen Assur hat den Worten dieser Propheten Anlaß gegeben, nicht nur die außenpolitischen, sondern auch die innenpolitischen Verhältnisse zu durchleuchten und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die unter dem Einfluß privilegierter Oberschichten von oft materialistisch-hedonistischer Gesinnung (vgl. Jes 22,13) dem traditionellen Glauben und den Grundsätzen des älteren Israel absagten. Diese Auseinandersetzungen führten insbesondere —»Jesaja zu einer Erweiterung und Vertiefung der Vorstellung Gottes, dessen erhabene Größe und Heiligkeit (Jes 6,3) gerade in der Krise des Staates höchsten Respekt herausforderte angesichts des überlegenen Potentials eines übermächtigen Gegners, wie es die Assyrer waren. Politische und militärische Krisensituationen (beispielhaft Jes 7 , 1 - 1 7 ) verlangten Festhalten an dem Gott Israels, der, namentlich nach dem Untergang des Nordreiches Israel, nach prophetischer Auffassung für Jerusalem und die davidische Dynastie Garantien bereithalte, die einen Fortbestand von König und Land versprachen (vgl. Jes 7 , 1 0 - 1 7 ; 8 , 2 3 - 9 , 6 ; 1 1 , 1 - 5 ; Mi 5 , 1 - 5 ) . Solche Erwartungen wurden später zur Keimzelle der messianischen Idee, zu der Hoffnung auf einen gerechten Herrscher aus dem Hause Davids, der Israel wieder aufrichten würde (—»Eschatologie, —»Messias). Nicht anders haben gegen Ende des 7. und zu Beginn des 6. Jh. —»Jeremia und —»Ezechiel Israel mit seinem Gott konfrontiert, ihre Botschaft stellenweise grundsätzlicher formuliert und unter Aufnahme deuteronomischen Gedankengutes die Wiederherstellung eines ganzen Israel einschließlich des Nordreiches zu ihrer Hoffnung gemacht (beispielhaft Ez 37). Im Blick auf die Gesamtentwicklung der Königszeit läßt sich sagen, daß Israel und Juda je für sich selbständige Staaten bildeten und die monarchische Verfassung auch grundsätzlich bejahten, daß sie aber gleichzeitig unterschiedliche Auffassungen aufgrund ihrer bis in die Landnahmezeit zurückreichenden heterogenen Traditionen pflegten und ausprägten.
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Die Bindung an die davidische Dynastie bildete für Juda das Rückgrat des Staates, sie sicherte eine relative Kontinuität der Uberzeugungen, während das Nordreich Israel, stärker in die Auseinandersetzungen mit dem Kanaanäertum hineingerissen und dem aggressiven Zugriff der Mächte aus dem Norden stärker ausgesetzt, eine im ganzen labilere Struktur aufwies. Sie äußerte sich in mehrfachen Thron- und Dynastiewechseln und in der nicht durchweg erfolgreichen Abwehr kanaanäischen Einflusses, vor allem in religiöser Beziehung. Mit dem Niedergang der Assyrer war für das verbliebene Juda der Augenblick zur Besinnung auf die eigene Kraft gekommen. Josia nutzte ihn zu einer inneren Reform (II Reg 22;23), die zum Wurzelboden weitreichender Ideen wurde, die Jerusalem, wohl unter Berufung auf die deuteronomische Gesetzgebung von der einen Opferstätte im Lande (Kultuszentralisation), zum religiösen Mittelpunkt machte. Verbunden war damit die unbedingte Anerkennung des deuteronomischen Gesetzes, so daß die Voraussetzungen dafür geschaffen waren, daß Israel-Juda nach der Zerstörung Jerusalems 587/86 nicht auch geistig zerfiel und sich aufgab, sondern Jerusalem für Einheimische und Exulanten Ziel und Hoffnung für das Volk und seine äußere und innere Wiederherstellung blieb. 5. Das Babylonische
Exil und die
Perserzeit
Herkömmlich wird die Zeit des babylonischen —»Exils vom Fall Jerusalems im Jahre 587/86 v.Chr. an gerechnet, obgleich bereits in einer sog. „ersten Wegführung" nach der Belagerung Jerusalems 597 ein wesentlicher Teil der Bevölkerung deportiert und in der Umgebung Babylons angesiedelt wurde. Das Ende des Exils wird mit dem Jahr der Eroberung Babylons durch die Perser (539 v. Chr.) nur ungenau bezeichnet. Denn eine spontane Rückwanderung der internierten Judäer scheint es nicht gegeben zu haben. Die sog. „Listen der Rückwanderer" (Esr 2 und Neh 7) stellen ein besonderes Problem dar und sind zeitlich schwer zu fixieren. Uber das A u s m a ß der Deportationen gibt es keine klaren Vorstellungen. Selbst die II Reg 24,14 f ü r die erste W e g f ü h r u n g genannte Zahl 10 0 0 0 , die sich dort auf die Oberschicht allein zu beziehen scheint, läßt die Frage offen, o b es sich n u r u m Jerusalemer o d e r auch u m Leute aus J u d ä a handelte. Realistisch erscheinen die Jer 5 2 , 2 8 - 3 0 mitgeteilten Zahlen, w o für das J a h r 5 9 7 3 0 2 3 J u d ä e r , f ü r 5 8 7 / 8 6 832 Jerusalemer und für eine weitere W e g f ü h r u n g durch den babylonischen Beamten N e b u s a r a d a n im J a h r e 5 8 2 745 J u d ä e r genannt werden. W ä h r e n d die ältere Forschung dazu neigte, Jerusalem und Juda sich während des Exils als eine weitgehend verödete und schwach besiedelte Landschaft vorzustellen, ist m a n mehr u n d mehr d a v o n überzeugt, daß im Lande ein h o h e r Bevölkerungsanteil zurückblieb, h a u p t sächlich Landbevölkerung zur Bewirtschaftung der Güter und Weinberge.
Die Rekonstruktion der Geschichte Judäas und Jerusalems und vollends des altisraelitischen Territoriums um Samaria und Sichern in exilisch-nachexilischer Zeit ist schwierig, weil es an Quellenmaterial fehlt. II Reg 2 5 , 2 2 - 2 6 hat den Charakter eines Ausblickes auf die Geschichte Judas nach dem Fall Jerusalems und deckt sich weitgehend mit der Darstellung Jer 3 9 - 4 5 , deren Akzent auf den Schicksalen des Propheten Jeremia bis zu seiner Wegfuhrung nach Ägypten liegt. In poetischer Spiegelung erscheinen die Verhältnisse im Lande in den sog. —»Klageliedern des Jeremia, insbesondere T h r 2;4;5. Für die erste Hälfte des Exils in Babylonien sind Einzelheiten und Hintergründe aufschlußreich, die das Buch Ez erkennen läßt. Die Botschaft Jes 4 0 - 5 5 (—»Deuterojesaja) wird in die zweite Exilshälfte verlegt, nennt den Perser Kyros bei Namen (Jes 45,1), berücksichtigt aber im übrigen keine exakten historischen Daten. An außerisraelitischem Material sind Bruchstücke einer babylonischen Versorgungsliste aus der Exilszeit sehr bemerkenswert, die auch Jojachin, den „König des Landes J u d a " nennen (ANET 308; TGI 78 f). Für den Ausgang des babylonischen Reiches kommen in Betracht die babylonische Chronik für die Jahre 5 5 5 - 5 3 9 , die sog. Nabonid-Chronik (ANET 3 0 5 - 3 0 7 ; vgl. auch TGI 81 f); ein sog. Schmähgedicht auf Nabonid (um 538 abgefaßt; A N E T 3 1 2 - 3 1 5 ) ; die Tonzylinder-Inschrift des Kyros (ANET 3 1 5 f ) ; weiteres Material über Nabonid A N E T 5 6 0 - 5 6 3 . Nach dem Fall Jerusalems wurde das Land einem einheimischen judäischen Beamten
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namens —»Gedalja anvertraut, der seinen Amtssitz in Mizpa (wohl teil ett-nasbe), 13 km nordwärts Jerusalem, genommen hatte. Er fiel dem Mordanschlag eines Ismael ben-Nethanja zum Opfer, der als Mann königlicher Abkunft galt (II Reg 25,25; Jer 41,1) und wahrscheinlich mit Unterstützung des Königs der Ammoniter (Jer 40,14) den Versuch unternahm, Gedalja als Parteigänger der Babylonier auszuschalten und selbst die Herrschaft im Lande an sich zu reißen. Ihm widerstand eine Gruppe judäischer Männer um Johanan benKareah, so daß er nach dem Gefecht bei Gibeon (Jer 41,12) als Gescheiterter sich nach Amnion zurückziehen mußte. Die Gruppe um Johanan setzte sich aus dem Raum um Bethlehem nach Ägypten ab und nahm gegen seinen Willen auch den Propheten Jeremia dahin mit. Sie erreichten Tachpanches, eine ägyptische Grenzfestung östlich Pelusium (Jer 43,7), verteilten sich aber später über ganz Ägypten (Jer 44,1). Uber das Schicksal der im Lande verbliebenen Judäer existiert nur die Nachricht Jer 52,30 von einer Deportation im Jahre 582, deren Hintergründe unbekannt sind. Die Verhältnisse im babylonischen Exil berühren einige verstreute Stellen im Buch —»Ezechiel. Im Unterschied zur assyrischen Praxis, die die Deportierten über das Großreich verteilte, blieben die Judäer in Babylonien in kleinen Siedlungen beieinander wohnen. Am bekanntesten istTel-Abib (Ez 3,15), weitere Namen in Esr 2,59 = Neh 7,61. Die Stimmung der Deportierten unterlag Schwankungen und Zweifeln, auf die der Prophet Ezechiel bis zum Ende seiner Wirksamkeit (wahrscheinlich um 570; vgl. letztes Datum Ez 29,17) Einfluß nahm (vgl. Ez 1 4 , 1 - 1 1 ; 20; 3 3 , 1 0 - 2 0 ) . Die Exulanten werden vielfach als Träger und Bewahrer altisraelitischer Traditionen angesehen; dies ist nicht zu unterschätzen, traf aber wohl ebenso auf die im Lande Juda Verbliebenen zu, die möglicherweise auch Zugang zu älteren Aufzeichnungen hatten und über ihr Schicksal reflektierten (weithin angenommen etwa für die Verfasser des —»Deuteronomistischen Geschichtswerkes, mit dessen Abschluß gegen 550 v.Chr. in Juda gerechnet wird). Ein Umschwung der Verhältnisse für die Exulanten ist wohl zu verbinden mit der Nachricht II Reg 2 5 , 2 7 - 3 0 , wonach der Nachfolger Nebukadnezars, Evil-Merodach (babyl. Awil-Marduk), dem deportierten König Jojachin eine angemessene Versorgung bei Hofe sicherte. Für das Fortleben älterer israelitischer Traditionen im Exil, die sich mit der Erwartung auf eine Wende des Schicksals und das Ende der Internierung verbanden, ist das Zeugnis des sog. —»Deuterojesaja der beste Beweis. Er stand im Exil unter dem Eindruck eines Kräfteumschwunges, der sich weltpolitisch ankündigte. Der Achämenide Kyros (II.) ( 5 5 8 - 5 3 0 v. Chr.) vermochte nach dem Sturz des Mederkönigs Astyages systematisch ein Großreich aufzubauen und nach allen Seiten abzurunden. 546 schlug er Kroisos (Krösus) von Lydien und eroberte später die iranischen Hochländer im Osten seines Reiches. Sein Ausgreifen nach Süden verband er mit der Erwartung, Erbe des babylonischen Reiches mit seinen Provinzen zu werden. Der letzte Babylonier auf dem Thron, Nabonid (555-539), zeitweise mit Kyros verbündet, lebte als Verehrer des Mondgottes Sin von Harran in Spannung zur babylonischen Mardukpriesterschaft, hielt sich längere Zeit in der Wüstenoase Tema auf und überließ indessen seinem Sohn Belsazar die Regierung in Babylon. Fast kampflos scheint 539 der persische Feldherr Gobryas Babylon eingenommen zu haben. Die Mardukpriester sahen darin zugleich die Befreiung von Nabonid und seiner eigenwilligen Herrschaft. Mit dem Fall Babylons kam die syrisch-palästinische Landbrücke unter Einschluß Jerusalem-Judas in persische Hand. Allerdings gelang die Eroberung Ägyptens erst dem Kyros-Nachfolger Kambyses II. (529-522) in der Schlacht bei Pelusium 525. Im Unterschied zu Assyrern und Babyloniern verfolgten die Perser eine andere Verwaltungspraxis in unterworfenen Gebieten (—»Perserreich und Israel). Nicht die Deportationen einheimischer Bevölkerungen waren das Mittel zur Erhaltung der Herrschaft, sondern die Förderung landesüblicher und eingesessener Administrationen und kultischer Einrichtungen. Unter diesen Voraussetzungen war nicht nur die Möglichkeit zur Rückwanderung de-
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portierter Judäer gegeben, sondern auch die Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels und seines regelmäßigen Kultes. Letzteres ist Hauptinhalt des sog. „Kyros-Ediktes" (wahrscheinlich 538 v.Chr.), das den Wiederaufbau des Tempels und die Rückführung der von den Babyloniern konfiszierten heiligen Geräte regelte (Esr 6 , 3 - 5 ) . Die Hintergründe dieses Ediktes, seine Abfassung und relativ frühe Datierung haben der Forschung fast ebensolche Schwierigkeiten bereitet wie die Interpretation der sog. Rückwandererlisten Esr 2 und Neh 7. Denn tatsächlich ist bis zum Jahre 520 im Lande nichts geschehen, was auf eine Restitution der Verhältnisse in Juda und auf Maßnahmen zum Neubau des Tempels schließen läßt. Erst die Klagen und Mahnungen der Propheten —>Haggai und —>Sacharja 520/19 rüttelten die Jerusalemer auf und führten zur Errichtung des „zweiten Tempels", einer zunächst bescheidenen Anlage, deren Vollendung in das 6. Jahr des Perserkönigs Darius I. Hystaspes (521-486) fiel und gewöhnlich in das Frühjahr 515 datiert wird. Haggai und Sacharja erwähnen von Rückwanderern aus Babylonien nichts, und es bleibt darum hypothetisch, zu welchem Zeitpunkt man damit rechnet, daß größere Gruppen geschlossen nach Juda zurückkehrten, falls es überhaupt in dieser Form geschah. Denn die in Esr 2 und Neh 7 mitgeteilten Listen sind auch anders interpretierbar. Sie als Übersichten über die Bevölkerung der Provinz Juda aus der Zeit Esras und Nehemias (mutmaßlich Mitte 5. Jh.) anzusprechen (Wellhausen; Albright u.a.), ist gewagt. An eine Gemeindeliste zwischen 520 und 515, also aus der Zeit des Tempelbaus, denkt Galling. Beide Einsichten ließen sich jedoch zu der Auffassung vereinigen, daß diese Listen den Bestand an eingesessenen und kultfähigen Jerusalemer Familien aufführen und faktisch eine Art Legitimationspapier darstellten angesichts einer von außen gekommenen Überfremdung der Jerusalemer Bevölkerung, die aus der Unsicherheit und Offenheit der Verhältnisse in Juda während der Exilszeit resultierte. Die verfassungsrechtliche Situation Jerusalems während der beginnenden Perserzeit stellt ein vielverhandeltes Problem dar. Hag 1,1 spricht einen —»Serubbabel als „Statthalter von Juda" an, neben dem der „Hohepriester" Josua erscheint. Serubbabel (babyl.Zer-bäbili) war judäischer Abkunft und wohl Enkel des Königs Jojachin (als Sohn des Schealthiel Esr 3,2; Neh 12,1; Hag 1,1; I Chr3,17). Neben Serubbabel (Sach 4,9) konkurriert als Gründer des Tempels Scheschbasar (Esr 5,16) mit eindeutig babylonischem Namen. Die Abgrenzung der Funktionen beider Männer stellt ein exegetisches Sonderproblem dar. Jedoch scheint neben dem persischen Kommissar der Hohepriester eine einflußreiche Rolle im nachexilischen Jerusalem gewonnen zu haben, eine plausible Konstruktion der persischen Regierung, die kultischen Belange einem einheimischen Beamten zu überlassen, der jedoch auch über ein gewisses Maß administrativer Vollmachten verfügte. Möglicherweise hing mit der Aufwertung des Hohenpriesters die regelrechte „Krönung Josuas" Sach 6 , 9 - 1 5 zusammen. Ungeklärt ist der Status Judas im Rahmen der persischen Verwaltungsordnung mindestens bis zum Auftreten —»Nehemias um die Mitte des 5. Jh. Er bezeichnet sich selbst als der vom Großkönig eingesetzte Statthalter „im Lande Juda" (Neh 5,14). Es spricht dafür, daß unter Nehemia Juda selbständige Provinz wurde, nachdem es zuvor der Provinz Samaria angegliedert war. Unter Darius I. wurde, wie Herodot 111,91 sagt, „Palästina in Syrien" neben Phoenikien und Kypros Bestandteil der 5. persischen Satrapie (vgl. insgesamt Herodot 111,89-97); Neh 2,7.9 nennt sie Eber Hannahar „(das Land) jenseits des Stromes", d.h. des Euphrat. Sitz des Satrapen war Damaskus. Ihm unterstanden als Provinzen in „Palästina" neben dem selbständig gewordenen Juda Samaria und Galiläa, im Ostjordanland die Provinzen Karnini und Haurina und wahrscheinlich Gilead mit Ammon; südlich Juda die Provinz Edom, das spätere Idumäa. Die Küstenebene war weitgehend einzelnen Küstenstädten zugeteilt, vornehmlich den phoenikischen Städten Tyros und Sidon. Diese komplexe Verwaltungsstruktur bildet den Hintergrund der Auseinandersetzungen und Reformversuche, die durch die beiden aus persischen Diensten kommenden Beamten Esra und Nehemia ausgelöst und bestritten wurden. Das in den Büchern Esra und Nehemia teilweise diffus zusammengeordnete Material von unterschiedlichem Quellenwert läßt doch so viel erkennen, daß seit der Mitte des 5. Jh.
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v. Chr. Jerusalem den Rang einer wirklichen Provinzhauptstadt erhielt, daß die Stadt unter Leitung Nehemias durch eine neue (eilig und unter Widerständen errichtete) Mauer hinreichend gesichert wurde und die religiösen und kultischen Belange unter dem Einfluß Esras, wenn auch mit wechselndem Erfolg (Mischehenfrage), geordnet und das Gesetz (bestehend wohl aus der Hauptmasse pentateuchischer Überlieferungen) zur verbindlichen Rechtsnorm erhoben wurde. Letztere Annahme gründet sich hauptsächlich auf die Neh 8 ausführlich mitgeteilte Verlesung des Gesetzes vor versammeltem Volk. Einzelheiten in den Büchern Esr und-Neh zeigen im übrigen Jerusalem und Juda im Spannungsfeld rivalisierender Nachbarn aus dem südlichen Edom, aus dem Ostjordanland (Ammon), in erster Linie aber im Konflikt mit den Statthaltern von Samaria. Die im Jahre 1 9 6 2 in einer Höhle im wädi ed-dältjeh (etwa 14 km nördlich Jericho) aufgefundenen Samaria Papyri gestatten die Rekonstruktion einer Liste samarischer Statthalter, die unter hypothetischer Angabe ihrer Geburtsjahre sich etwa so darstellt: Sanballat I. (um 4 8 5 ) , Delaja (um 4 6 0 ) , Sanballat II. (um 4 3 5 ) , Hananja (um 4 1 0 ) , Sanballat III. (um 3 8 5 ) . Sanballat I. dürfte die schon im Nehemiabuch erwähnte und mit Nehemia rivalisierende Persönlichkeit gewesen sein (Neh 13,23). Da wir für die zweite Hälfte der Perserzeit nach dem Auftreten Esras und Nehemias keine mit Sicherheit datierbaren alttestamentlichen Nachrichten besitzen, sind wir auf andere Quellen und einiges archäologische Material angewiesen. Zu den bedeutendsten Dokumenten dieser Zeit gehören die aramäischen Handschriften aus der jüdischen Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine, die sog. Elephantine-Papyri ( 1 9 0 6 - 1 9 0 8 entdeckt). Sie enthalten Rechtsurkunden, aber auch auf die dortige Ausübung eines Kultes Jahwes (nur dreikonsonantig J H W = „Jahu" [?] geschrieben) bezogene Rückfragen bei den Behörden in Samaria und Jerusalem aus der Zeit zwischen 4 9 5 und 399 v. Chr. Wahrscheinlich handelte es sich in Elephantine um jüdische Söldner, die zum Schutz der ägyptischen Südgrenze unter persischer Oberhoheit eingesetzt waren. Uber das Ende dieser Militärkolonie gibt es nur Vermutungen. Es hängt möglicherweise mit innerägyptischen Vorgängen zusammen.
Im 4 . J h . verschärfte sich in Ägypten der Widerstand gegen die Perser. Der ägyptische König Teos (Tachos) drang 3 6 1 bis nach Südsyrien vor. Ein erfolgloser persischer Kriegszug gegen Ägypten 3 5 3 reizte die phoenikischen Städte zum Aufstand, insbesondere Sidon (351). Daß sich in dieser Zeit auch die Juden gegen die Perser erhoben, wird durch einige verstreute Zeugnisse nahegelegt. 3 5 3 sei Jericho von den Persern erobert worden, verbunden mit einer Deportation jüdischer Bewohner nach Babylonien und Hyrkanien am Kaspischen Meer (Eusebius v. Caesarea, Chron. 11,112.113; Solinus 3 5 , 4 ; Orosius, Adv. paganos 111,7,6 f). Die territoriale Ausdehnung Judas blieb bis zum Ende der Perserzeit unverändert. Die Südgrenze verlief bei Beth-Zur und Hebron, die Nordgrenze schloß Mizpa und Bethel ein; im Osten war Jericho inbegriffen, im Westen Kegila. Hingegen fanden sich in —»Lachisch Reste eines persischen Palastes (Ende 5., Anfang 4. Jh.). Die Stadt rechnete schon zur Provinz Edom und bildete vermutlich ein Verwaltungszentrum. Mit der Erhebung Judas zur persischen Provinz verlor Samaria seine politischen Einflußmöglichkeiten auf Jerusalem. In dieser Zeit scheint sich die endgültige Verselbständigung der samaritanischen Gemeinde vorbereitet zu haben (—»Samaritaner), die mit dem sog. „samaritanischen Schisma" und einem selbständigen Kult auf dem Berge —>Garizim südlich Sichern endete. Nach einem ausführlichen, aber mit chronologischen Irrtümern belasteten Bericht des Josephus (Ant X I , 8 ; Arrian II, 25,4) ließ sich der samaritanische Statthalter Sanballat III. diesen Kult auf dem Garizim von den unter Alexander d. Gr. heranrückenden Griechen bestätigen. Nach seinem Sieg über Darius III. Codomannus bei Issos 3 3 3 v.Chr. wandte sich Alexander südwärts, belagerte Tyros und bezwang es nach Errichtung eines Dammes vom Festland zur Inselstadt. Nach der Belagerung von Gaza erreichte Alexander Ägypten. Seinem Feldherrn Parmenio überließ er die Eroberung des ostwärts der Küstenstraße gelegenen samarisch-judäischen Binnenlandes. Samaria wurde erobert, während sich Jerusalem wahrscheinlich freiwillig ergab. Nach Einsetzung eines Statthalters in Samaria (Andromachos?)
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Geschichte Israels
müssen sich die Bewohner der Stadt erhoben haben, so daß die Griechen gewaltsam eingriffen (unter Alexander selbst oder unter Perdikkas; Curth. IV, 8.9; Euseb, Chron. 11,114.118) und dort makedonische Veteranen ansiedelten. Ein Teil der samaritanischen Bevölkerung (Oberschicht?) scheint entkommen zu sein, wurde aber aufgespürt und ermordet. Darauf weisen Uberreste von 200 Leichen hin, die neben einer Reihe samaritanischer Dokumente in der Höhle im wädi ed-dälljeh im Jahre 1962 gefunden wurden (Lapp). Seit eben dieser Zeit entwickelte sich Sichern zum Zentrum der samaritanischen Gemeinde, die sich auf dem Garizim ein Heiligtum erbaute (Wright). 6. Griechisch-römische 6.1. Ptolemäer
Zeit bis Herodes
und Seleukiden
(37
v.Chr.)
in Syrien-Palästina
bis Antiochus
IV. (175
v.Chr.)
Dem Tode Alexanders d.Gr. in Babylon (323 v.Chr.) folgten im kleinasiatisch-vorderorientalischen Bereich, hauptsächlich in Syrien und Palästina, die sog. „Diadochenkriege", die mit der Schlacht bei Ipsos in Phrygien (301) einen vorläufigen Abschluß fanden. Ihre Einzelheiten sind verwickelt und von wechselndem Erfolg für alle Seiten begleitet. Die Verwaltung Ägyptens übernahm zunächst Ptolemäus (Ptolemaios), der spätere Ptolemäus I. Lagi (Soter), der anfangs als Satrap ( 3 2 3 - 3 0 5 ) , dann als König ( 3 0 5 - 2 8 5 ) regierte. Die Satrapie Babylonien fiel an Seleukus, den späteren Seleukus I. Nikator ( 3 1 2 - 2 8 1 ) . Antigonus beherrschte den größten Teil Kleinasiens. Makedonien und Griechenland unterstanden Antipater, dem letzten der Generale Philipps II. Bereits im Todesjahr Alexanders ließ Ptolemäus den syrischen Statthalter Laomedon vertreiben und nahm Palästina und Phoenikien für sich in Besitz. Im Jahre 320 soll er selbst in Jerusalem erschienen sein, bemächtigte sich der Stadt, nahm eine große Zahl seiner Bewohner mit und siedelte sie in —»Alexandrien an (Josephus, Ant XII, 1). Mit diesem Bericht ist der Versuch gemacht, die Anfänge der später so bedeutenden Judenschaft in Alexandrien zu erklären. Ausschlaggebend für die erste Phase der Diadochenkriege wurde der Machtzuwachs des in Kleinasien regierenden Antigonus und seines Sohnes Demetrius Poliorketes. Letzterer wurde 312 bei Gaza besiegt. Ptolemäus drang mit wechselndem Erfolg nach Syrien vor, während Seleukus seine Position in Babylonien befestigte und zum eigentlichen Gründer des Seleukidenreiches wurde. Vom Jahre 312 an rechnet man die bis in nachchristliche Zeit gültig gebliebene „Seleukidische Ära", neben der Zählung der „Olympiaden" die bekannteste Zeitrechnung des Altertums. Nach dem makedonischen Kalender begann die seleukidische Ära am 7. Oktober 312, nach dem babylonischen unter Berücksichtigung des Neujahrstages am 1. Nisan erst am 3. April 311. Der Besitz Syriens und Mesopotamiens war für Seleukus jedoch erst seit der Schlacht bei Ipsos (301) sichergestellt, nachdem Antigonus dort einer starken Koalition erlag, der auch Ptolemäus und die Seleukiden angehörten. Obwohl die Ägypter südlich des Libanon die Oberhand behielten und die Interessensphären abgegrenzt erschienen, wurde doch der gesamte syrisch-palästinische Raum in der Folgezeit zum Streitobjekt für Seleukiden und Ptolemäer. Zwischen beiden Parteien kam es erst 252 zu einem Friedensvertrag, in dessen Zusammenhang Antiochus II. Theos (Deus) ( 2 6 1 - 2 4 6 ) die Tochter Ptolemäus'II. Philadelphos ( 2 8 5 - 2 4 6 ) , Berenike, heiratete (vgl. die Anspielung Dan 11,6). Die folgende Zeit ist mit Rivalitäten und Racheakten angefüllt. Die von Antiochus II. verstoßene Frau Laodike ließ diesen 246 vergiften, um für ihren Sohn den Weg zur Herrschaft frei zu machen, der als Seleukus II. Kallinikos ( 2 4 6 - 2 2 6 ) den Thron bestieg. Ptolemäus III. Euergetes ( 2 4 6 - 2 2 1 ) versuchte, an den Mördern seiner Schwester durch einen Einfall in Syrien Rache zu nehmen, mußte aber seinen Feldzug wegen einer Empörung in Ägypten abbrechen. Die Ereignisse haben in der großen Vision Dan 1 1 , 2 - 4 5 Berücksichtigung gefunden, insbesondere Dan 11,7-9. Die Vertreibung der Ägypter aus Phoenikien und Palästina gelang erst Antiochus III., dem „Großen" ( 2 2 3 - 1 8 7 ) . Nach anfänglichen Mißerfolgen gegen Ptolemäus IV. Philopator ( 2 2 1 - 2 0 4 ) , der auch Jerusalem betrat, aber dort am Vordringen in den Tempel gehin-
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dert wurde (legendäre Darstellung mit anschließendem Racheakt des Königs an den alexandrinischen Juden im 3. Makkabäerbuch festgehalten, aber historisch fragwürdig), wagte Antiochus d.Gr. erst 201 den Angriff auf Ptolemäus V. Epiphanes ( 2 0 4 - 1 8 1 ) , nahm Gaza ein, mußte sich aber 198 dem ägyptischen General Scopas bei Paneas (bänjäs) stellen und konnte ihn besiegen. Die Schlacht markiert einen Wendepunkt. Die Ägypter waren endgültig geschlagen, und die Länder südlich des Libanon fielen den Seleukiden zu. Antiochus verfügte Privilegien für Stadt und Tempel von Jerusalem. Der betreffende Erlaß wird Josephus, Ant. XII, 1 3 8 - 1 4 4 mitgeteilt, ist in Einzelheiten umstritten, aber tendenziell zutreffend. Einer Reihe von Sofortmaßnahmen, die Steuererleichterungen, Senkung von Tributleistungen und die Sicherung der Bevölkerung in der Stadt im Auge hatten, standen langfristige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Kultus und zur Verschönerung des Tempels gegenüber. Katastrophal verlief der Versuch Antiochus' III., die kleinasiatischen Besitzungen fester an sich zu binden und zu erweitern. Denn diese Unternehmungen verursachten schließlich seine Konfrontation mit den Römern. —»Kleinasien gehörte zur Interessensphäre Philipps V. von Makedonien, der im Bündnis mit dem Karthager Hannibal stand. Nach dessen Niederlage bei Zama 2 0 2 wandten sich die Römer entschieden Griechenland zu, stießen dort auf den von Osten und Norden her vordringenden Antiochus, schlugen ihn an den Thermopylen in die Flucht und brachten ihm bei Magnesia 190 v.Chr. die schwerste Niederlage bei. Im Frieden von Apamea (188) mußte sich Antiochus den römischen Bedingungen beugen. Er verlor alle Besitzungen westlich des Taurus und mußte 15 0 0 0 Talente zahlen. Die finanziellen Forderungen der Römer lasteten von nun an schwer auf den Seleukiden, denen sie durch rigorose Steuerforderungen nachzukommen suchten. In Elam kam Antiochus d.Gr. bei Tempelplünderungen ums Leben (187 v.Chr.). Die rigorose Steuerpolitik übernahm Seleukus IV. Philopator (187—175), der jedoch einem Mordanschlag seines Finanzministers Heliodor erlag. Dessen Versuch, den in Rom als Geisel lebenden Sohn Seleukus' IV., den nachmaligen Antiochus IV. Epiphanes, auf den Thron zu bringen, scheiterte an Roms harter Haltung. Die Zeit der Verhandlungen suchte Heliodor zu einer selbstherrlichen Usurpation der Herrschaft in Syrien zu nutzen, wurde aber durch Antiochus gehindert, der in Rom entkam und mit Hilfe des Königs Eumenes II. von Pergamon Heliodor entmachtete. Antiochus IV. ( 1 7 5 - 1 6 4 ) verstärkte den hellenistischen Einfluß auf Syrien und Palästina in zuvor nie gekanntem Ausmaß, so daß er im Zuge einer Reihe von Maßnahmen für Jerusalem und Juda zur eigentlichen Symbolfigur des Einbruches hellenistischer Lebensart wurde und den entschiedenen Widerstand der gesetzestreuen Kreise herausforderte. Die inneren Verhältnisse Jerusalem-Judas in dieser Zeit sind durch Rivalitäten der Priesterfamilien der „Oniaden" und der „Tobiaden" belastet; gleichzeitig aber ermöglichte und beförderte die ptolemäische Verwaltung eine Verflechtung des judäischen Gemeinwesens in internationale Wirtschaftsbeziehungen, an denen Angehörige der „Tobiaden" wesentlichen Anteil hatten. Die Oniaden stellten die Hohenpriester in Jerusalem und galten als die gesetzestreue Partei. Eine Liste dieser Hohenpriester aufzustellen, gestatten die Antiquitates [Altertümer] des —> Josephus, doch nur in hypothetischer Form, weil zeitliche Ansetzung und Verwandtschaftsverhältnisse im einzelnen oft in der Schwebe bleiben und fallweise von Josephus falsch kombiniert sind (zu Einzelheiten vgl. die Literatur in der Josephus-Ausgabe von Marcus [LCL], VII, App. E, 7 6 7 f ; Hayes/Miller, Isr. and Jud. History 5 7 7 - 5 8 0 ) . Die Tobiaden leiteten sich her von Tobia dem Ammoniter, Gegner des Nehemia, der durch Heirat Verbindung zu maßgeblichen Kreisen in Jerusalem fand. Seine Familie brachte es in Jerusalem zu bedeutenden Verwaltungsämtern, stand in enger Beziehung zum ptolemäischen Hof und unterstützte die hellenistische Partei. Hervorragend wurde der Einfluß eines Tobia zur Zeit Ptolemäus' II.Philadelphos ( 2 8 5 - 2 4 6 ) , der Befehlshaber einer international zusammengesetzten Militärkolonie in Amman war, verheiratet mit einer Schwester des Jerusalemer Hohenpriesters Onias (I.?). Er befestigte seine Macht im Ostjordanland mit Hilfe der Ägypter. Für die wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Raumes aufschlußreich sind die sog.
Zenon-Papyri,
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enthaltend die Korrespondenz eines im ägyptischen Auftrag 2 6 1 - 2 5 8 reisenden Agenten, der über Grundbesitzverhältnisse und Lieferverpflichtungen aus dem Ostjordanland, Galiläa und Judäa und der Küstenebene berichtet, soweit die von ihm besuchten Güter unter ägyptischer Verwaltung standen (Veröffentlichung der Zenon-Papyri durch V. A. T[s]cherikover/A. Fuks, CPJ, I 1957).
Spannungen zwischen den ptolemäischen Behörden und dem Hohenpriester wußte Joseph, Sohn des obengenannten Tobia, auszunutzen, der als Steuerpächter für Judäa in ägyptischem Auftrag mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, durch rigorose Steuerpolitik hohe Unzufriedenheit auslöste. Sein Vorgehen schränkte auch den Einfluß des Hohenpriesters ein. Josephs Sohn Hyrkan ergriff jedoch die Partei des Onias und hinterlegte Gelder im Tempel. Zusammen mit den Schätzen des Heiligtums gerieten sie jedoch in Gefahr, als der syrische Finanzminister Heliodor durch Verrat anderer Mitglieder des Tobiaden-Geschlechts davon erfuhr. Heliodor erschien selbst in Jerusalem, mußte aber nach legendärer Darstellung in II Makk 3 , 4 - 4 0 die Stadt ohne Erfolg verlassen. Diese hier paradigmatisch angedeuteten Vorgänge werfen ein Licht auf die äußerst komplizierten und durch unterschiedliche Machtinteressen bestimmten Vorgänge in dem durch ptolemäische, später durch seleukidische Oberhoheit beherrschten palästinischen Territorium. Um das Jahr 200 v.Chr. verstärkte sich der Einfluß des —»Hellenismus auf Koilesyrien (Libanon-Gebiet) und Palästina in erheblichem Umfang. Griechische Namen nehmen zu. Die Auseinandersetzung mit griechischer Lebensart und das Bemühen um die Erhaltung altisraelitischer Tradition bilden den geistigen Hintergrund des —»Koheletbuches und des auf ein hebräisches Original zurückgehenden —»Sirachbuches (Jesus ben Sirach). In das 3. Jh. fallen die Anfänge der Übersetzung des Pentateuch ins Griechische, die aus liturgischen Gründen in sukzessiver Weise erfolgte (—»Bibelübersetzungen 1.2). Die regelmäßigen Toralesungen sollten innerhalb der anwachsenden Judenschaften von Alexandrien und darüber hinaus von einer großen Zahl von Leuten verstanden werden, die unabhängig von ihrem Volkstum sich zur jüdischen Religion hielten (sog. —»Proselyten = „Hinzugekommene"). Eine legendäre Darstellung über die Entstehung der Pentateuch-Übersetzung als einer Gemeinschaftsarbeit von 70 (72) unter Klausur zur Zeit Ptolemäus II. Philadelphos arbeitenden jüdischen Übersetzern bietet der —> Aristeasbrief. Er wurde höchstwahrscheinlich erst in der 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr. abgefaßt, um die Autorität der alexandrinischen Übersetzung zu stützen. 6.2. Antiochus
IV. und die
Makkabäer
Mit dem Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes ( 1 7 5 - 1 6 4 v. Chr.) setzte für das jerusalemisch-judäische Gemeinwesen insofern eine neue Epoche ein, als es unmittelbar in kriegerische Auseinandersetzungen mit den Seleukiden verwickelt wurde. Im Zuge einer konsequent betriebenen Hellenisierung in Jerusalem und Juda brach dort in bisher nicht gekannter Weise der Widerstand der Gesetzestreuen hervor. Sie formierten sich unter Führung der —»Makkabäer zu einer militanten Macht, die sich im wechselvollen Spiel der Kräfte am Ende behaupten konnte und in Gestalt der Dynastie der Hasmonäer bis tief in das 1. Jh. v. Chr. hineinwirkte. Antiochus IV. versuchte über den syrisch-palästinischen Raum hinaus auch Ägypten unter seinen Einfluß zu bringen, geriet dabei jedoch in die Interessensphäre der Römer, deren Ausgreifen in den Bereich des östlichen Mittelmeeres bevorstand. Hintergrund und Ursachen der makkabäischen Erhebung sind in jüngerer Zeit wiederholt Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen (Abel; Bartlett; Bickermann; Bunge; Fischer; Lefevre/Delcor; T[s] cherikover), wobei nicht zuletzt die Frage eine Rolle spielte, ob Antiochus IV. selbst die Durchsetzung des Hellenismus in Jerusalem-Juda mit aller Macht erzwingen wollte, oder ob nicht vielmehr die gegen ihn gerichtete Revolte, die sich mit der Verweigerung der Abgaben verband und aus der Richtung der gesetzestreuen Gruppen kam, die harten Maßnahmen zur Folge hatte. Nicht also das judäische Volk als solches wäre der Gegner des Königs gewesen, sondern die innerjudäische Opposition, die gegen einen in Juda selbst grassierenden Hellenismus zu Felde zog und sich mit einer antiseleukidischen Haltung verband. Daß in Jerusalem eine starke hellenistische Gruppe am Werke war, ist kaum zu bezweifeln, hatte aber den entschiedenen Widerstand der Gesetzestreuen und unter der Führung der Makkabäer stehenden bewaffneten Verbände zu fürchten. Die Makkabäerbücher sind aus dem Geist der altgläubigen Gruppen und letztlich aus der Gesinnung der siegreichen Hasmonäer geschrieben. Daneben
Geschichte Israels
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sind die Darstellungen des Josephus und die visionäre Verarbeitung des Zeitgeschehens im zweiten Teil des —>Danielbuches von höchstem Gewicht. (Zu weiteren Zeugnissen der antiken außerjüdischen Literatur vgl. Darstellung und Dokumentation bei Fischer.)
Der Verlauf des komplexen Geschehens kann hier nur in knapper Ubersicht gegeben werden (Datierungen nach Fischer). Ende 175/Anfang 174: Antiochus IV. ernennt den griechenfreundlichen Jason zum Hohenpriester. Der abgesetzte Onias III. flieht in das Heiligtum von Daphne bei Antiochien. Wohl 1 7 2 : J a s o n , durch Menelaos abgelöst, ist zu einer Auslieferung verbliebener Tempelschätze bereit. 1 7 0 : Menelaos läßt Onias III. umbringen und leistet weitere Tribute; Unruhen in Jerusalem. Wahrscheinlich in zwei Feldzügen ( 1 7 0 / 6 9 und 1 6 9 / 6 8 ) bekriegt Antiochus IV. Ägypten (sog. 6. Syrischer Krieg). Bei seiner Rückkehr 168 vertreibt er den ptolemäisch gesinnten Jason aus Jerusalem und setzt Menelaos wieder in sein Amt ein. April/Mai 1 6 7 : Apollonius, Meridarch von Samaria, hebt die Jerusalemer Kultgemeinde auf, vertreibt die Gesetzestreuen aus der Stadt und legt eine Besatzungstruppe in die Burg (Akra) von Jerusalem. Herbst 1 6 7 : „Loyalitätsedikt" Antiochus' IV.: Verbot des gesetzestreuen Kultes, Beginn der Glaubensverfolgung, Errichtung des „Greuel der Verwüstung" (I M a k k 1,54; vgl. Dan 9 , 2 7 ; 1 2 , 1 1 ; M k 1 3 , 1 4 ; M t 2 4 , 1 5 ) im Tempelbezirk, eines Zeusaltars bzw. eines Altars des syrischen Baal-Schamem („Himmelsgottes") an der Stelle des Brandopferaltars. Etwa 1 6 6 : Beginn der makkabäischen Erhebung. Judas besiegt Apollonius und Seron, den Befehlshaber von Südsyrien und Palästina. Frühjahr 1 6 5 : Antiochus IV. ernennt seinen Sohn Antiochus V . unter der Vormundschaft des Lysias zum Mitregenten und zieht gegen die Parther zu Felde. Sommer 1 6 5 : Sieg des Judas über die von Lysias beauftragten Feldherren Nikanor und Gorgias bei Emmaus. Sommer 1 6 4 : Lysias bei Beth-Zur von Judas besiegt. Herbst 164: Ausgleich zwischen der seleukidischen Regierung und den Aufständischen in Judäa. T o d Antiochus' IV. im Kampf gegen die Parther. Dezember 164: Wiederherstellung des gesetzestreuen Kultes in Jerusalem mit seleukidischer Billigung (Grunddatum für das spätere Chanukka-Fest jüdischer Tradition). Menelaos bleibt Hoherpriester. Judas steht der Jerusalemer Kultgemeinde vor und gewährleistet ihre Sicherheit nach außen. 1 6 4 / 1 6 3 : Feldzüge des Judas in Palästina und in einigen Nachbargebieten. 1 6 3 : Judas beginnt die Belagerung der Jerusalemer Burg (Akra) und ihrer Bewohner. Antiochus V. und Lysias ziehen gegen Judäa, besiegen die aufständischen Truppen unter Judas bei Beth-Sacharia. Sie belagern das befestigte Jerusalem, in das Judas fliehen konnte. Lysias zieht ab, als er von der Übertragung der Regentschaft auf den General Philippus hört. Erneuter Ausgleich mit Judas; Menelaos wird durch Alkimos ersetzt. Rückzug der Oniaden nach Ägypten. Erneute Tempelweihe unter makkabäischer Leitung. Herbst 162: Demetrius I. Soter ( 1 6 2 - 1 5 0 ) läßt Antiochus V. und Lysias hinrichten, erreicht aber nicht die Anerkennung durch R o m . Neue Unruhen in Judäa. 1 6 1 : Alkimos, durch Demetrius I. bestätigt, kehrt mit seiner Schutztruppe unter Bakchides nach Jerusalem zurück, ohne sich dort gegen Judas durchsetzen zu können. Bündnisangebot R o m s für Judäa, durch Judas veranlaßt. Nikanor versucht zwischen Alkimos und Judas M a k k a b ä u s zu vermitteln. 160: Nikanor fällt im Kampf gegen Judas; Bakchides gelingt der Sieg über Judas, der bei Eleasa fällt. Der M a k k a b ä e r Jonathan entweicht mit dem Rest der M a k k a b ä e r in die Wüste Juda. 1 5 9 : T o d des Alkimos. Keine Nachfolgeregelung. Bakchides verläßt Judäa. 1 5 7 : Bakchides erneut in Judäa. Wiederherstellung der seleukidischen Herrschaft. Jonathan wirkt als „ R i c h t e r " in Michmas. Das Ende der makkabäischen Erhebung als des großen, von Judas und Jonathan geleiteten Widerstandskampfes zur Durchsetzung des alten Glaubens und der M a c h t der Gesetzestreuen war gekommen, aber der Machtanspruch der M a k k a b ä e r bzw. Hasmonäer blieb. Die Zeitumstände kamen ihnen entgegen. Demetrius I. Soter ( 1 6 2 — 1 5 0 ) , von Alexander Balas, einem angeblichen Sohn Antiochus' IV., bedrängt, ermöglichte Jonathan die Aufstellung und Unterhaltung einer eigenen Truppe, mit der dieser nach Jerusalem zurückkehrte. Alexander Balas ernannte ihn dort sogar zum Hohenpriester ( 1 5 2 v. Chr.). Nach der Niederlage des Demetrius gegen Balas ( 1 5 0 v. Chr.) erhielt Jonathan die Stellung eines Feldherrn und Meridarchen (Teilherrschers) von
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Koilesyrien, blieb den Syrern zwar zu Kriegsdiensten verpflichtet, hatte aber faktisch über Judäa die Vollmachten eines Provinzgouverneurs. Als Alexander Balas vertrieben und nach Arabien geflohen war, gelang es Jonathan, sich mit Demetrios II. Nikator ( 1 4 5 - 1 3 9 ) zu arrangieren, drei Bezirke der Provinz Samaria hinzuzugewinnen (Aphairema, Lydda, Ramathaim), jedoch nicht die syrische Besatzung in der Akra und in Beth-Zur zum Abzug zu zwingen. Seine Parteinahme für den syrischen Thronaspiranten Diodotus (Tryphon) schlug zu seinen Ungunsten aus. Dieser erkannte in Jonathan und seinem Bruder Simon (Simeon), die anfangs erfolgreich für ihn fochten, eine potentielle Gefahr. Es gelang Tryphon, Jonathan in Ptolemais (Akko) gefangenzunehmen, nicht aber seinen Bruder Simon in Jerusalem zu besiegen. Tryphon zog sich darauf durch das Jordantal zurück und ließ den ihn begleitenden Jonathan bei Baskama (in Gilead?) umbringen. In Syrien erklärte Tryphon einen Sohn des Alexander Balas als Antiochus VI. Dionysos zum König, beseitigte ihn aber im Jahre 141, um selbst die Macht an sich zu reißen. Der indessen an der Regierung gebliebene Demetrius II. w a r in Mesopotamien durch die Parther bedroht und an einer Sicherung der Verhältnisse im Süden seines Herrschaftsbereichs interessiert. Jonathans Bruder Simon nutzte die Gelegenheit, Unabhängigkeit und Abgabenfreiheit für Judäa zu erwirken ( I M a k k 1 3 , 3 5 - 4 1 ) . Im 170. Jahr seleukidischer Ära (März 1 4 2 April 141) wurde Simon in Jerusalem als „großer Hoherpriester, Feldherr und Anführer der Judäer" (I M a k k 13,42) anerkannt und datierte von da an die Jahre seiner Herrschaft. Ihm gelang 141 die Eroberung der Akra, so daß die Gesetzestreuen dort einziehen konnten. 140 erlangte er die Würde eines Priesterfürsten und Ethnarchen von Judäa mit den Rechten erblicher Nachfolge (I M a k k 14,25 - 49). Damit war die Herrschaft der Hasmonäer in dynastischer Linie begründet. Die territorialen Erweiterungen Judäas unter Simons Herrschaft reichten im Westen bis zur Küste bei Joppe (I M a k k 14,5), im Norden bis Akraba südöstlich von Sichern, im Süden bis Beth-Zur (vgl. I M a k k 1 4 , 6 - 1 5 ) . Simons Macht war bedroht, als Antiochus VII. Sidetes ( 1 3 9 - 1 2 9 ) den Thron bestieg, nachdem sein Bruder Demetrius II. in parthische Gefangenschaft geraten war. Antiochus VII. schloß Tryphon in Dora (Dor) südlich des Karmel ein, konnte jedoch dessen Flucht über das Meer nicht verhindern; Tryphon starb bei Apamea im mittleren Syrien. Die danach von Antiochus erhobenen Gebietsforderungen (Joppe, Geser, die Akra in Jerusalem) wies Simon zurück. Der darauf folgende Angriff des syrischen Feldherrn Kendebaios gegen Judäa brach bei Modeln zusammen, w o die beiden Simon-Söhne Judas und Johannes ihm entgegentraten (I M a k k 1 5 , 2 5 - 1 6 , 1 0 ) . Problematisch bleiben Simons Kontakte zu Sparta (I M a k k 1 4 , 2 0 - 2 3 ) und Rom (I M a k k 14,24; 1 5 , 1 5 - 2 1 ) , da die Echtheit der Texte strittig ist. Dies trifft auch für das ähnlich gestaltete sog. Valerius-Dekret (Josephus, Ant XIV, 1 4 4 - 1 4 8 ) zu. Während einer Inspektionsreise fiel Simon zusammen mit seinen Söhnen Mattathja und Judas 134 v.Chr. einem Mordanschlag seines Schwiegersohnes Ptolemäus in der Festung Dok bei Jericho zum Opfer (I Makk 16,11—22). Der verbliebene Sohn Johannes, der in Gazara (Geser) residierte, sollte gleichfalls umgebracht werden, entkam aber, rechtzeitig gewarnt, dem Anschlag und erreichte noch vor Ptolemäus Jerusalem, w o er in die Rechte seines Vaters eingesetzt wurde. 6.3. Die Dynastie der
Hasmonäer
Als Johannes Hyrkanus I. verteidigte der Sohn Simons von 134 v.Chr. bis zu seinem Tode (104) die Autonomie des judäischen Staatswesens, anfänglich mit wechselndem Erfolg. Unter dem Einfluß des nach dem Ostjordanland entflohenen Ptolemäus, des Mörders Simons und Gegenspielers Johannes Hyrkans, griff Antiochus VII. in Judäa ein und belagerte Jerusalem. Die Befestigungen wurden geschleift, und Hyrkan mußte auf die Küstengebiete (von Joppe [Jamnia] bis Apollonia) verzichten, die sein Vater gewonnen hatte, und dem Seleukiden Heeresfolge leisten. Im Kampf gegen die Parther fiel Antiochus VII. im Jahre 129. Noch einmal bestieg Demetrius II., von den Parthern freigelassen, den seleukidischen Thron ( 1 2 9 - 1 2 5 ) . Hyrkan betrachtete sich nunmehr als unabhängig, baute die Befesti-
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gungsanlagen Jerusalems weiter aus und errichtete an der Nordseite des Tempelplatzes die sog. „Baris" an der Stelle der späteren Burg Antonia. Außenpolitisch versuchte sich Hyrkan des Schutzes der Römer weiter zu versichern. Die Einzelheiten sind schwer rekonstruierbar. Nach dem Tode Antiochus' VII. (129) wurde wahrscheinlich die Unabhängigkeit Judas wieder erreicht (Fannius-Dekret, Josephus, Ant XIII, 2 5 9 - 2 6 6 ) . Die Rückgabe von Joppe erfolgte jedoch erst zwischen 114 und 104 (Pergamenerdekret, Josephus, Ant XIV, 2 4 7 - 2 5 5 ) . Militärisch war Hyrkan erfolgreich unter Einsatz angeworbener Söldner, so daß er unabhängig von der judäischen Volksstimmung zu operieren vermochte. Südlich Hebron wurden Adora (dura) und Marisa (teil sandahanne) erobert und das ganze, nunmehr Idumäa genannte Gebiet dem jüdischen Gesetz unterworfen. Im Norden zerstörte Hyrkan das Heiligtum der Samaritaner auf dem Garizim, belagerte Samaria, nahm die Stadt ein und zerstörte auch sie (107 v.Chr.). In der Küstenebene fiel das an Antiochus VII. einst verlorene Gebiet wieder an Judäa zurück. Im Ostjordanland konnten im Gebiet von Hesbon die Städte Madaba und Samaga gewonnen werden. Innenpolitisch kam es zu einem Zerwürfnis mit den —»Pharisäern, die die Staatsführung der Hasmonäer nicht billigten. Nach anfänglicher Sympathie für die Pharisäer näherte sich Hyrkan den —»Sadduzäern, die zwar die geschriebene Tora anerkannten, aber ihre Anpassung an Zeitverhältnisse ablehnten, um sich keinen Einschränkungen unterwerfen zu müssen. Eigene Münzen prägte Hyrkan erst gegen Ende seiner Regierungszeit, und zwar aus Bronze (vgl. Kanael; den Beginn hasmonäischer Münzprägung erst zur Zeit des Alexander Jannai vertritt Meshorer). Nach Johannes Hyrkans Tod (104 v.Chr.) übernahm nicht, wie gewünscht, seine Gemahlin, sondern sein ältester ehrgeiziger Sohn Jehuda (Judas) mit dem griechischen Namen Aristobul (I.) für ein Jahr die Regierung ( 1 0 4 - 1 0 3 v.Chr.). Grausamkeit gegenüber Mitgliedern der eigenen Familie machten ihn berüchtigt; militärischen Erfolg hatte er gegen die Ituräer; Teile der galiläischen Bevölkerung verpflichtete er auf das Jerusalemer Kultgesetz. Ob er auch den Königstitel annahm (Josephus, Ant XIII, 301), läßt sich durch andere Zeugnisse (Münzen) nicht bestätigen. Salome Alexandra, die Frau Aristobuls I., setzte nach dem Tod ihres Mannes einen seiner Brüder, Jonathan Alexander, als Nachfolger ein und heiratete ihn. Unter seinem griechischen Namen Alexander Jannaios (gewöhnlich abgekürzt Jannai) ging er in die Geschichte ein (103—76 v.Chr.). Nach Ausweis von Münzinschriften schrieb er sich die Königswürde zu. Seine Regierung ist von beständigen Kriegszügen erfüllt, die ihn oftmals an den Rand des Unterganges brachten. Doch gelang es ihm, sein Territorium erfolgreich zu verteidigen und stellenweise zu erweitern. Im nördlichen Küstenbereich belagerte er Ptolemais (Akko). Die von den Eingeschlossenen zu Hilfe gerufenen Ägypter (Ptolemäus Lathyros, von Zypern kommend) stellten Alexander Jannai im mittleren Ostjordanland und schlugen ihn bei Asaphon (wahrscheinlich Zaphon, Jos 13,27; Jdc 12,1). Ptolemäus zog sich nach Zypern zurück, und Alexander breitete sich ostwärts des Jordans weiter aus, eroberte dort Gadara und Amethus; später gewann er im südlichen Teil der Küstenebene Raphia und Gaza. Erneute Vorstöße im Nordosten im Gebiet der Gaulanitis (Golan) führten zur Berührung mit dem Nabatäerkönig Obodath (Obedas), der Alexander zum Rückzug nach Jerusalem zwang. Die unzufriedenen Judäer riefen Demetrius III. Eukairos zu Hilfe, der Alexander bei Sichern vernichtend schlug. Als der Seleukide sich zurückgezogen hatte, nahm Alexander grausame Rache an seinen einheimischen Gegnern. Die von Südosten her unter Aretas vordringenden Nabatäer schlugen ihn jedoch erneut bei Adida nahe Lydda, wo es schließlich zu einer friedlichen Übereinkunft und zum Rückzug der Nabatäer kam. Wohl aus dieser Zeit der Abwehrkämpfe Alexanders gegen die Nabatäer stammen die ältesten Befestigungen auf den sog. makkabäischen bzw. hasmonäischen Burgen Alexandreion, Machaerus und vielleicht auch Masada. Während der Belagerung des Kastells Ragaba (heute radschib) nördlich des Jabbok starb Alexander im Jahre 76 v.Chr. Er selbst bestimmte seine Frau Salome Alexandra zu seiner Nachfolgerin (Josephus, Ant XIII, 3 9 8 - 4 0 4 ) . Zur Zeit des Alexander Jannai hatte der Hasmonäerstaat seine größte Ausdehnung er-
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reicht. Seine innere Verfassung aber war zutiefst erschüttert. Zur Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze trug die Tatsache bei, daß Alexander sich den Königstitel beilegte, der nach rechtgläubiger Überzeugung nur den Mitgliedern der davidischen Dynastie vorbehalten war. Die religiösen Spannungen seit Johannes Hyrkan I. förderten Gruppen- und Sektenbildungen. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die Entstehung jener Gemeinschaft, deren Siedlung und deren religiöse Dokumente am Nordwestende des Toten Meeres seit dem Jahre 1947 bei —>Qumran gefunden wurden. Salome Alexandra ( 7 6 - 6 7 v.Chr.) strebte einen Ausgleich mit den Pharisäern an, den geschworenen Feinden des Alexander Jannai. Ihr ältester Sohn Hyrkan wurde Hoherpriester. Ihr zweiter Sohn, Aristobul II., stand an der Spitze jener Partei, zu der die Armee und die alten Anhänger des Alexander Jannai zählten. Er konnte nach dem Tode seiner Mutter Hyrkan II. zum Thronverzicht bewegen. Dieser suchte nun Zuflucht bei den Nabatäern und gewann auf Kosten territorialer Versprechungen König Aretas III. für sich; mit ihm und einer starken nabatäischen Armee erschien er vor Jerusalem. Während die Bevölkerung weitgehend für Hyrkan Partei ergriff, kam es zu einer überraschenden Wende. Hyrkan und Aristobul wandten sich beide um Hilfe und Unterstützung an den Beauftragten des Pompeius in Damaskus, den römischen Legaten Scaurus. Er entschied sich für Aristobul. Auf römischen Befehl mußten die Nabatäer sich zurückziehen. Pompeius, noch verwickelt in die Auseinandersetzungen mit König Mithradates von Pontus, hatte bereits 65 v.Chr. den Legaten M. Aemilius Scaurus nach Syrien geschickt und damit praktisch den Staat der Seleukiden beseitigt. Im Frühjahr 63 erschien Pompeius selbst in Damaskus. Als Hyrkan und Aristobul dort die Gunst der Römer zu gewinnen suchten, zögerte Pompeius, in die verwickelten judäischen Verhältnisse einzugreifen. Er zitierte Hyrkan und Aristobul nach Damaskus und zeigte sich Hyrkan geneigt. Gleichzeitig verlangte eine Abordnung aus Jerusalem das Ende der hasmonäischen Herrschaft und eine Stärkung der Priester. Als Aristobul darauf in Jerusalem den Widerstand gegen die Römer organisierte, entschloß sich Pompeius zum unmittelbaren militärischen Eingreifen in Judäa. Aristobul hatte sich auf der Bergfeste Alexandreion verschanzt, mußte sie aber aufgeben und erreichte Jerusalem, von dem nachstoßenden Pompeius hart bedrängt. Er suchte persönlich das römische Lager auf, bot die Übergabe Jerusalems an, wurde aber als Gefangener im Lager festgehalten. Jerusalem öffnete seine Tore und die Stadt selbst fiel kampflos in römische Hand. Der Tempelbezirk aber konnte erst nach dreimonatiger Belagerung erobert werden (63 v.Chr.). Hyrkan fungierte wiederum als Hoherpriester, während Aristobul nach Rom gebracht und dort im Triumphzug des Pompeius 61 v.Chr. mitgeführt wurde. Die Römer schritten nach dem Fall Jerusalems zu einer neuen Verwaltungsordnung. Zu Jerusalem gehörten weiterhin Judäa und die südsamarischen Bezirke, Idumäa, ein Teil des südlichen und mittleren Ostjordanlandes unter der Bezeichnung Peräa sowie zentrale Gebiete in Galiläa, wo die Jerusalemer Kultordnung galt. Samaria unterstand unmittelbar der römischen Provinzverwaltung in Damaskus, ebenso die sog. Dekapolis im nördlichen und mittleren Teil des Ostjordanlandes. Im Zuge einer Neuordnung der Jerusalemer Verhältnisse durch den Statthalter Gabinius 57 v.Chr. verlor Hyrkan alle politischen Befugnisse. Aristobul und sein Sohn Alexander unternahmen drei Aufstände, die Gabinius niederschlug. Im Jahre 53 v. Chr. plünderte Crassus vor seinem Partherfeldzug den Jerusalemer Tempel (Josephus, Ant XIV, 1 0 5 - 1 0 9 ; Bell 1,179). Im Lande selbst galten Hyrkan und Antipater als Parteigänger des Pompeius. Im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius sollte Aristobul im Auftrage Caesars das Land gegen Hyrkan und Antipater aufbringen; Anhänger des Pompeius vergifteten ihn jedoch in Rom. Bei der Belagerung Alexandrias durch Caesar schickte Antipater ein Entsatzheer. Dieser Umstand verschaffte ihm die Gunst Caesars. Er erhob Hyrkan zum Ethnarchen und Antipater zum Verwalter (Epistates) von Judäa. Doch wurde Antipater 43 v. Chr. von Malichus ermordet. Nach der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) fiel Palästina mit dem ganzen Osten des römischen Reiches an den Triumvir Marcus Antonius. Er ernannte Phasael und Herodes zu Tetrarchen. Letzterer, im Jahre 40 von den Parthern bedrängt, eilte von Masada aus über Pe-
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t r a u n d A l e x a n d r i a n a c h R o m , w o er v o m S e n a t a l s „ F r e u n d und B u n d e s g e n o s s e " des r ö m i s c h e n V o l k e s z u m K ö n i g e i n g e s e t z t w u r d e . E r b e g a n n die E r o b e r u n g seines K ö n i g r e i c h e s v o n P t o l e m a i s ( A k k o ) a u s , b e s e t z t e i m W i n t e r 3 9 v. C h r . G a l i l ä a , s p ä t e r J o p p e u n d I d u m ä a . 3 7 v. C h r . e r s t ü r m t e n die R ö m e r J e r u s a l e m u n d v e r f o l g t e n b e s o n d e r s d i e H a s m o n ä e r u n d ihre A n h ä n g e r . M a t t a t h i a s A n t i g o n u s , ein S o h n A r i s t o b u l s II., d e r 4 0 v . C h r . K ö n i g ü b e r J u d ä a g e w o r d e n w a r , w u r d e g e f a n g e n g e n o m m e n u n d in A n t i o c h i a a u f B e f e h l des M a r c u s A n t o nius h i n g e r i c h t e t . M i t i h m e n d e t e die h a s m o n ä i s c h e D y n a s t i e . I m J a h r e 3 7 v. C h r . b e g a n n die R e g i e r u n g — > H e r o d e s ' (des G r o ß e n ) (gest. 4 v . C h r . ) . D i e w e i t e r e D a r s t e l l u n g seiner H e r r s c h a f t g e h ö r t in d e n R a h m e n d e r n e u t e s t a m e n t l i c h e n — » Z e i t g e s c h i c h t e s o w i e in die D a r s t e l l u n g d e r G e s c h i c h t e des — » J u d e n t u m s . Literatur Gesamtdarstellungen William Foxwell Albright, From the Stone Age to Christianity, New Y o r k 2 1 9 5 7 ; dt.: Von der Steinzeit zum Christentum, Bern 1 9 4 9 . - Ders., T h e Archaeology o f Palestine, Harmondsworth 4 1 9 6 0 . George Wishard Anderson, T h e History and Religion o f Israel, O x f o r d 1 9 6 6 . - Elias Auerbach, Wüste u. Gelobtes Land. I. Gesch. Israels v. den Anfängen bis zum T o d e Salomos, Berlin 2 1 9 3 8 ; II. Gesch. Israels vom T o d e Salomos bis Ezra u. Nehemia, Berlin 1 9 3 6 . - Michael Avi-Yonah, Art. Palästina: P R E . Suppl. 13 ( 1 9 7 4 ) 3 2 2 - 4 5 4 = München 1 9 7 4 . - Ders. (Hg.), A History o f the Holy Land, London 1 9 6 9 ; dt.: Gesch. des Hl. Landes, Frankfurt/Berlin/Wien 1 9 7 1 . - Martinus Adrianus Beek, Gesch. Israels. V o n Abraham bis Bar K o c h b a , Stuttgart 1 9 6 1 . - Haim Hillel Ben-Sasson (Hg.), History o f the Jewish People, London, I 1 9 7 6 ; dt.: Gesch. des jüd. Volkes. I. Von den Anfängen bis zum 7. J h . , M ü n chen 1 9 7 8 . - I m m a n u e l Benzinger, Gesch. Israels bis auf diegriech. Zeit, Berlin 3 1 9 2 4 . - J o h n Bright, A History of Israel, London 2 1 9 7 2 3 1 9 8 1 ; dt.: Gesch. Israels, Düsseldorf 1 9 6 6 . - Frederick Fyvie Bruce, Israel and the Nations. T h e History o f Israel from the Exodus to the Fall of the Second Temple, Exeter 1 9 6 3 . - Ernst Ludwig Ehrlich, Gesch. Israels v. den Anfängen bis zur Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.), Berlin 1 9 5 8 . - F i s c h e r Weltgesch. I I - I V . Die Altorientalischen Reiche; V . Griechen u. Perser; VI. Der Hellenismus u. der Aufstieg R o m s , F r a n k f u r t / M . 1 9 6 5 ff. - Georg Fohrer, Gesch. Israels. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Heidelberg 1 9 7 7 . - Antonius H . J . Gunneweg, Gesch. Israels bis Bar K o c h b a , Stuttgart 4 1 9 8 2 . - Hermann Guthe, Gesch. des Volkes Israel, Tübingen ' 1 9 1 4 . - J o h n H . H a y e s / J . M a x w e l l Miller (Hg.), Israelite and Judaean History, London 1 9 7 7 . - Siegfried Herrmann, Gesch. Israels in atl. Zeit, M ü n c h e n 2 1 9 8 0 . - Rudolf Kittel, Gesch. des Volkes Israel, Stuttgart, I 5 ' 6 1 9 2 3 ; II 7 1 9 2 5 ; I I I / l 1 , 2 1 9 2 7 ; III/2 1 2 1 9 2 9 . - Martin Metzger, Grundriß der Gesch. Israels, Neukirchen " 1 9 7 7 . - Martin N o t h , Gesch. Israels, Göttingen 1 9 5 0 = 9 1 9 8 1 . - Albert Teneyck Olmstead, History o f Palestine and Syria, New Y o r k 1 9 3 1 . - Benedikt Otzen, Israeliterne i Palaestina. Det garnie Israels historié, religion og litteratur, Kopenhagen 1 9 7 7 . - Ernst Sellin, Gesch. des israelit.-jüd. Volkes, Leipzig, I 2 1 9 3 5 ; II 1 9 3 2 . - Roland de V a u x , Ancient Israel, N e w Y o r k 1 9 6 1 . - Ders., Histoire Ancienne d'Israël. I. Des origines à l'installation en C a n a a n , Paris 1 9 7 1 ; II. La période des Juges, Paris 1 9 7 3 . - Julius Wellhausen, Gesch. Israels, Privatdruck 1 8 8 0 ; Neudr. ders., Grundrisse zum AT, hg. v. Rudolf Smend, München 1 9 6 5 , 1 3 - 6 4 . - Ders., Israelit, u. jüd. Gesch., Berlin 1 8 9 4 ' 1 9 5 8 = 1 9 8 1 . Ders., Prolegomena zur Gesch. Israels, Berlin 6 1 9 2 7 = 1 9 8 1 . - W H J P . I. Ephraim A. Speiser (Hg.), At the D a w n o f Civilization, 1 9 6 4 ; II. Benjamin M a z a r (Hg.); Patriarchs, 1 9 7 0 ; III. Benjamin M a z a r (Hg.), Judges, 1 9 7 1 ; I V / 1 . 2 . Abraham M a l a m a t ( H g . ) , T h e A g e o f the Monarchies, 1 9 7 9 ; VI. Abraham Schalit (Hg.), T h e Hellenistic Age. Political History of Jewish Palestine from 3 3 2 B. C. E. to 6 7 B. C. E., 1 9 7 6 ; VIII. Michael Avi-Yonah/Zvi Baras (Hg.), Society and Religion in the Second Temple Period, 1977. Archäologie
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740
Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum I
Bde., Philadelphia, 1 9 6 2 - 6 7 . - Hans Zucker, Studien zur jüd. Selbstverwaltung im Altertum, Berlin 1936.
Siegfried Herrmann
Geschlecht —>Sexualität Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum I. II. III. IV. V. VI. VII.
Philosophisch-systematisch Altes Testament Neues Testament Alte Kirche Mittelalter Reformationszeit Neuzeit: Soziologisch/Ethisch/Fundamentaltheologisch
756 764 769 773 Bd. 13,1 13
I. Philosophisch-systematisch 1. Der Begriff .Gesellschaft' 2. Formen sozialer Regulierung 3. Moralität als F o r m der Regulierung sozialen Verhaltens 4 . Das Recht als F o r m der Regulierung sozialen Verhaltens 5. Einkommen und Eigentum 6. Gleichheit und Freiheit als soziale Ideen (Literatur S . 7 5 4 ) „Der Mensch ist ein gesellschaftliches Lebewesen (ein animal sociale, ein fcöov noXixiKÖv)". Dieser in der philosophischen Tradition verwurzelte, (dem Sinn nach) generelle Satz ist weder eindeutig noch völlig unkontrovers. Mit ihm mag einmal zum Ausdruck gebracht sein, daß wir zur Klasse jener Tiere gehören, die nicht vereinzelt, sondern in Gruppen, Herden, Stämmen oder Schwärmen leben. Er kann zum anderen besagen, daß der Mensch nicht als Einzelgänger, sondern nur in Verbindung mit Artgenossen zu dem wird, was wir qualifiziert einen Menschen nennen. J a , er mag in manchen Zusammenhängen ganz spezifisch zu verstehen geben, daß der Mensch die Entfaltung seiner positiven Möglichkeiten nur in einer politisch verfaßten Gesellschaft zu erreichen vermag.
1. Der Begriff
„Gesellschaft"
1.1. Natürliche Sozialität des Menschen. In seiner ersten Bedeutung gehört der eingangs zitierte Satz zum Sprachspiel von Biologen und Verhaltensforschern. Mit „gesellschaftlich" sind dementsprechend Dispositionen und Verhaltensformen gemeint, die sich in gleicher Weise, bzw. unwesentlich abgewandelt, auch bei anderen Tierarten finden. Wenn zumeist gesagt wird, der Mensch sei „von Natur aus" ein zum Leben in Gruppen disponiertes Tier, dann wird damit (jedenfalls in neuzeitlichen Texten) allerdings auch auf eine mögliche Differenz hingewiesen zwischen dem, was er „von selbst" immer schon ist und wird, und dem, was er aufgrund seiner (menschlichen) Geschichte geworden ist und aus sich zu machen vermag. Die Verifikation der Behauptung (sc. der natürlichen Sozialität des Menschen) hängt entsprechend ab von der Möglichkeit, die natürlichen Eigenschaften des Menschen methodisch von jenen zu trennen, die ihre Entstehung, ihren Erwerb und ihre Tradition kulturellen Leistungen verdanken. Nun ist im sozialen Verhalten des Menschen so gut wie alles kulturell überformt. Gleichwohl scheint die These nicht haltbar, dem Menschen sei, von wenigen dem Säugling eigenen Reflexen abgesehen, hinsichtlich seines Sozialverhaltens nichts Angeboren außer einer indeterministischen (offenen) Fähigkeit zur Ausbildung und zum Erwerb neuer Fähigkeiten. Es ist eines der kaum bestreitbaren Resultate der noch jungen Disziplin vergleichender -»Verhaltensforschung (Ethologie), daß auch im menschlichen Sozialverhalten eine bedeutsame angeborene Ausstattung vorhanden ist, die sich als stammesgeschichtliche Anpassung erklären und nicht auf aktuelle Umwelteinflüsse zurückführen läßt.
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Der Nachweis stammesgeschichtlicher Anpassungen stößt beim Menschen auf gewisse methodische Schwierigkeiten, die jedoch nicht unüberwindbar sind. Versuche der Aufzucht von Kindern unter sozialem Erfahrungsentzug sind aus moralischen Gründen nicht vertretbar. Allerdings kann man „Experimente" der Natur bzw. des Zufalls auswerten. So wachsen Menschen gelegentlich in sozialen Isoliersituationen auf, d.h. unter Bedingungen, die jeden normalen Sozialkontakt verhindern. Für die Forschungspraxis bedeutsamer ist das Studium von Menschen, denen von Natur aus gewisse Erfahrungsbereiche verschlossen sind. Wichtige Hinweise kann man der Erforschung der frühkindlichen Entwicklung entnehmen. Von unverzichtbarem Wert sind kulturgeschichtliche und kulturvergleichende Untersuchungen. Nicht zu ignorieren sind schließlich Verhaltensstudien jener Tiere, die uns biologisch am nächsten stehen. Keine dieser Forschungsrichtungen hat bislang die T h e s e zu erschüttern v e r m o c h t , daß wir von N a t u r zur Klasse der gesellig lebenden T i e r e gehören. Das Konzept des ursprünglichen Menschen als eines Einzelgängers (—»Rousseau) findet keine Stütze in den empirisch verfahrenden Wissenschaften v o m Menschen und seiner Gattungsgeschichte. Bestätigt scheint vielmehr die in der Antike und frühen Neuzeit übliche Rede v o m M e n schen als einem animal sociale, das auf ein Leben in der Gruppe durch einen instinctus socialis prädisponiert ist. Der Begriff des Instinktes hat allerdings inzwischen bedeutsame Differenzierung und Klärung erfahren. Man spricht in Biologie und Verhaltensforschung von stammesgeschichtlichen Anpassungen, die das Verhalten in genau feststellbaren Bereichen bestimmen: als angeborene Bewegungsweisen (Erbkoordinationen), als angeborene Auslösemechanismen, als angeborene Antriebsmechanismen, als angeborene Lerndispositionen mit sensiblen Phasen (zur Prägung). In diesem Sinn dürfte sich auch ein grobes Muster der naturalen Entwicklung der Sozialbeziehungen eines Menschen als ererbtes Programm nachzeichnen lassen. Wesentliche Bezugspunkte der Rekonstruktion eines solchen Programms sind: frühkindliche Formen und Phasen der Kontaktaufnahme, kindliche Fremdenfurcht, Formen und Phasen aggressiver Neigungen, Tendenzen zur Bildung dauerhafter individualisierter Bindungen, Dispositionen zum Rangstreben und zur Unterordnung. Vieles deutet darauf hin, daß wir Menschen ursprünglich in individualisierten Verbänden lebten, deren Ordnung und Zusammenhang durch naturale Dispositionen gelenkt und gestützt wurde, Dispositionen, die auch jetzt noch, wenngleich kulturell überformt und modifiziert, vorhanden sind. 1.2. Menschliche Sozialität. Der Mensch, so sagt die aristotelische Schultradition (-•Aristoteles/Aristotelismus), ist ein animal sociale. In dieser Definition ist die biologische Bedeutung von G r u p p e n - " bzw. „ H e r d e n t i e r " enthalten; andererseits besagt sie ungleich mehr, ja gerade solches, was eine Unterscheidung setzt zwischen M e n s c h und Tier. Wenn Aristoteles den Menschen seine Möglichkeiten nur in einer politisch verfaßten Gesellschaft (KOivavia KoXinKf)) vollenden sieht, dann ist mit KOivwvia hier eine Lebensform gemeint, die nur durch menschliches Sprechen und Handeln möglich ist, die nicht von N a t u r aus ist, wie sie ist, sondern der Überlegung und Beratung, der Planung und Entscheidung offensteht und sprachlich tradiert wird. „ G e s e l l s c h a f t " in diesem Sinn ist nicht mehr definiert durch die räumliche N ä h e von Individuen, durch die sinnlich erfahrbare und in Wahrnehmungstermini beschreibbare Qualität ihrer Beziehungen, durch den Funktionszusammenhang ihrer aufeinander bezogenen, nach biologischen Gesichtspunkten erklärbaren Verhaltensweisen. Derartige Aspekte mögen in menschlicher Gesellschaft auch enthalten sein und eine Rolle spielen; aber wesentlich für ihre Beschreibung sind nun Begriffe wie „ H a n d l u n g " , „ A b s i c h t " , „ P l a n " , „ Z w e c k " , „ R e g e l " , „ N o r m " , „ R e c h t " , „ T r a d i t i o n " etc. Diese Begriffe haben das eine gemeinsam, daß sie sich nicht auf Dinge und Vorgänge beziehen, die in der Natur einfach vorhanden und mit Mitteln naturwissenschaftlicher Forschung feststellbar und erklärbar sind, also bloße „Seinsgebilde". Sie werden adäquat nur verwendet in bezug auf Gebilde sprachfähiger Wesen, auf „Sinn-" bzw. „Geltungsgebilde". Die Bestimmung des Menschen als eines T^ÄOV KOXITIKÖV wird bei Aristoteles denn auch ergänzt durch eine zweite Definition: der M e n s c h ist ein £ H o b b e s unterstrichen hat, von den Z w ä n g e n traditionaler Sitte und konventioneller M o r a l . Es kann schließlich, wie dies L o c k e ' s Theorie vorsieht, von den Zwängen einer ungebundenen staatlichen Obrigkeit befreien.
So gesehen fällt es schwer, im Recht als System staatlicher Gesetze überhaupt eine Beschränkung von Freiheit zu sehen. Dem steht der Umstand entgegen, daß in einer Welt, die weniger vollkommen ist, als man sie haben möchte, Freiheit ebenso von privater Willkür wie von staatlichen Zwangsgesetzen eingeschränkt und vernichtet werden kann. Der Begriff des neuzeitlichen Staates basiert ferner auf dem Gedanken der Monopolisierung von Gewalt in den Händen einer Obrigkeit zur Stiftung und Sicherung von -•Frieden und Recht. Wie immer die Staatsform aussehen mag, der Zugang zu den öffentlichen Gewaltmitteln liegt üblicherweise in den Händen einer relativ kleinen Gruppe. Daraus resultiert das Problem, jene, die legal die Verfügungskompetenz über diese Gewaltmittel in Händen haben, um die Befolgung der Gesetze zu erzwingen und den inneren wie äußeren Frieden zu sichern, ihrerseits auf die Befolgung der Gesetze einzuschränken. Herrschaft ist schließlich nicht nur an den Besitz von Gewaltmitteln gebunden, sie beruht stets auch auf de-facto Autorität. Das genannte Problem betrifft also auch die Beschränkung der Machtausübung der Obrigkeit auf die Grenzen ihrer de-jure Autorität. Der Lösung bzw. Abschwächung dieses Problems ist Theorie und Praxis der Gewaltenteilung gewidmet: d.h. der institutionellen Trennung und gegenseitigen Kontrolle herrschaftlicher Befugnisse. Diese bleibt jedoch unwirksam, solange und insofern die Einstellung aller an einem politisch-sozialen Regelsystem Beteiligten in Ausübung von Autorität und Gehorsam nicht auf die Einhaltung der Gesetze sich verpflichtet weiß. Von „politischer Freiheit" spricht man, wenn die (mündigen) Mitglieder eines Systems staatlicher Gesetze an der Bildung und Änderung der Gesetze formell beteiligt sind, d. h. wenn das Regelsystem in direkter oder indirekter Form die Geltung und Verbindlichkeit der Gesetze von Verfahrensweisen abhängig macht, die die Meinung und das Wollen aller mündigen Beteiligten in die Form eines rechtskräftigen Beschlusses bringen. Was den Inhalt derart generierter Gesetze betrifft, so ist das Vertrauen darauf, daß eine demokratisch organisierte Gesetzgebung keine Bedrohung der sittlich oder liberal definierten Freiheit darstellen könnte, selbst bei einem Autor wie Rousseau gebrochen. Der faktische Mehrheitswille muß nicht ein vernünftiger Wille sein. Der Gefahr einer Tyrannis, sei es von einzelnen, von wenigen oder auch von einer Mehrheit, sucht das Postulat einer (unrevidierbaren) gesetzlichen Verankerung von fundamentalen persönlichen Freiheitsansprüchen zu begegnen. Dieses läßt sich verteidigen jenseits der Differenzen eines liberalen oder sittlichen Freiheitsverständnisses. Literatur Karl A c h a m , Phil, der Sozialwiss., F r e i b u r g / M ü n c h e n 1983. - T h e o d o r W. Adorno, Gesellschaftstheorie u. Kulturkritik, Frankfurt a. M . 1964. - H a n n a h Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1981. - R a y m o n d A r o n , Die industrielle Gesellschaft, Frankfurt a. M . 1964. - Karl Baier, Der Standpunkt der M o r a l , Düsseldorf 1974. - E r n e s t Barker, Principles of Social and Political T h e o r y , O x f o r d 1963. - Brian Barry, T h e Liberal T h e o r y of Justice, O x f o r d 1973. - Robert Nelson
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Forschner
II. A l t e s T e s t a m e n t 1. T h e m a t i k und Begriffe 2 . Die Quellen ( A n m e r k u n g e n / L i t e r a t u r S. 761) 1. Thematik
und
3 . Abriß der israelitischen Gesellschaftsgeschichte
Begriffe
D a s T h e m a G e s e l l s c h a f t ' w i r d der a l t t e s t a m e n t l i c h e n W i s s e n s c h a f t nicht s o sehr v o n i h r e m T e x t , als v i e l m e h r v o n d e n Bedürfnissen der G e g e n w a r t und den zeitgenössischen Fragestellungen anderer textbezogener Wissenschaften aufgegeben. Geistes-, Literaturu n d R e l i g i o n s g e s c h i c h t e e i n e r K u l t u r e i n h e i t s t e h e n in W e c h s e l b e z i e h u n g z u s o z i o - ö k o n o misch determinierten L e b e n s f o r m e n , a u c h w e n n dies d e n T r ä g e r n der betreffenden Ges c h i c h t e s e l b s t n i c h t b e w u ß t w a r , m i t h i n in d e n T e x t e n n i c h t t h e m a t i s i e r t w u r d e . Z w a r findet m e n s c h l i c h e W i r k l i c h k e i t s a s s i m i l a t i o n i h r e k o n k r e t e n B e d i n g u n g e n n i c h t n u r a n vorwiegend mentalen M o t i v e n wie Vorstellungsinhalten, literarischen Gattungen oder religiös-ethischen V e r h a l t e n s m u s t e r n . D e n n o c h sind D e n k e n , R e d e n und
aneignendes
G e s t a l t e n in L i t e r a t u r u n d R e l i g i o n n i c h t l e d i g l i c h E p i p h ä n o m e n e g e s e l l s c h a f t l i c h e r u n d wirtschaftlicher Verhältnisse, e t w a Exteriorisierungen unerfüllter W ü n s c h e , und somit b l o ß e s I n s t r u m e n t d e s Ü b e r l e b e n s w i l l e n s . M e n s c h - S e i n ist s t ä r k e r als a u ß e r m e n s c h l i c h e s L e b e n d u r c h einen s c h ö p f e r i s c h e n G e g e n s a t z zu seinen materiellen B e d i n g u n g e n konstit u i e r t ; i n s b e s o n d e r e r e l i g i ö s e E r f a h r u n g ist n u r i m B e w u ß t s e i n i h r e r l e t z t e n U n a b l e i t b a r keit zu v e r s t e h e n . E i n K e r n s c h ö p f e r i s c h - r e l i g i ö s e r W e l t v e r a n t w o r t u n g k a n n nicht a u f a n d e r e , i n s b e s o n d e r e g e r i n g e r w e r t i g e F a k t o r e n z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n , o h n e d a d u r c h als solcher d e r A u f l ö s u n g zu verfallen. Eine E n t s p r e c h u n g für das Wort .Gesellschaft' im Sinne eines seiner soziologischen Begriffe kennt das Althebräische ebensowenig, wie es etwa im Alten O r i e n t ein W o r t für den Begriff . S t a a t ' gegeben hat. Versteht man vollends unter Gesellschaft eine „durch zweckbestimmtes, verstandesmäßiges Z u s a m m e n l e b e n und -arbeiten gebildete M e n s c h e n g r u p p e , deren Glieder nicht durch ein tieferes Prinzip geeint zu sein b r a u c h e n " (so H . S c h m i d t / G . Schischkoff, Phil. W b . , 2 0 1 9 7 8 , 2 2 2 ) , so ist der Begriff ungeeignet, das Spezimen des altisraelitischen Gemeinwesens zu erfassen. - D a s auf der Bindung an - » J a h w e , dem Bewußtsein gleicher A b s t a m m u n g und Geschichte sowie a u f der E r w a r tung gemeinsamer Z u k u n f t beruhende soziale Corpus Israel wird hebräisch vor allem mit dem L e x e m c a m [Vatersbruder > (väterliche) Verwandtschaft > Sippe > Volk] bezeichnet (vgl. zum folgenden bes. A . R . Hülst, Art. c a m / g b j „ V o l k " : T H A T 2, 1976, 2 9 0 - 3 2 5 ) , für das es im Akkadischen, Sumerischen und Hethitischen keine Entsprechung g i b t 1 , da in M e s o p o t a m i e n und Kleinasien die Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t von M e n s c h e n primär durch das räumliche Beisammen-Sein nichtverwandter V ö l k e r und durch soziale Gruppierungen bestimmt ist. Hebräisch zam meint in cam hä'äräs [Volk des Landes] zwar ebenfalls den z u s a m m e n w o h n e n d e n Verband (bes. Gen 4 2 , 6 ; N u m 14,9, für Nicht-Israeliten G e n 2 3 , 7 . 1 2 f ; E s r 4 , 4 ) , wobei zunehmend der Begriff der im Landbesitz verbliebenen Oberschicht dominiert (II Reg 21,24; 23,30; 25,19; Ez 12,19; 22,29); religionsgeschichtlich wirksamer dagegen scheint die Verwendung von cam [Heer] zur Bezeichnung eines geschichtlichen Schicksalsverbandes und der G e b r a u c h von ' a m JHWH [Heer / Sippe / Volk J a h w e s ] bzw. "am qädös [heiliges Volk] zur Bezeichnung einer durch m o n o l a t r i s c h e Verbundenheit mit der Gottheit zusammengehörigen und entsprechend qualifizierten G e m e i n s c h a f t gewesen zu sein. Speziell für die festumgrenzte nachexilische „ G e m e i n d e " werden qähäl und, besonders bei P, cedä gebraucht, o b w o h l besonders ältere Belege auch qähäl im Z u s a m m e n h a n g mit dem Krieg verwenden Gen 49,6; D t n 2 3 , 2 - 9 ; M i 2,5, für Nicht-Israeliten J e r 5 0 , 9 ; Ez 17,17; 2 3 , 2 4 ; 2 6 , 7 ; 2 7 , 2 7 ; 3 2 , 2 3 ; (H.P. M ü l l e r , A r t . qähäl „ V e r s a m m l u n g " : T H A T 2 [1976] 6 1 0 - 6 1 9 ) . - Weniger begriffspezifisch ist das m a n c h m a l mit ' a m parallel stehende L e x e m goj [Volk], für dessen G e b r a u c h neben dem territorialen Aspekt auch
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der politische der Staatsbildung konstitutiv zu sein scheint (Hülst: ebd. 293.316.319-323; vgl. R . E . Clements, Art. gôj: T h W A T 1 [1973] 965-973, bes. 966f. 972 f). Versteht man société im Sinne der französischen Aufklärung als Inbegriff der ganzen Menschheit, so gäbe es dafür allenfalls an sumerisch nam-lù-ulù und akkadisch awilûtû(m) [Menschheit], nicht aber an hebräisch ädam [der Mensch (kollektiv)] oder gar an den Pluralbildungen "ammim bzw. gôjim (letzteres zunehmend pejorativ: „Heiden") eine Entsprechung, da so etwas wie Universalgeschichte in Israel immer durch dessen Gegensatz zu den Verehrern anderer Götter geprägt war, einen Gegensatz, der erst eschatologisch überwunden wird (gôjim Jes 42,6; 49,6 u.ö.). 2. Die
Quellen
Gemessen an dem reichen Vorkommen von keilschriftlichen Wirtschafts- und Verwaltungstexten aus Mesopotamien, Ebla und Ugarit ist die Textevidenz zur altisraelitischen Gesellschaftgeschichte spärlich. Schriftliche Primärquellen zur Wirtschaftsgeschichte gibt es, wenn man von den SamariaOstraka 2 absieht, erst für die exilische und nachexilische Zeit. Hier sind für das 6. Jh. die 'AradOstraka 3 , für die babylonische Exilsgemeinde des 5. Jh. das Archiv der jüdischen Handelsfamilie Murasû aus Nippur 4 , für die ägyptische Diaspora die aramäischen Papyri und Ostraka aus Elephantine 5 , für Palästina etwa die Listen von I Chr 1-9; Neh 3; 7 und 11 und vor allem im 3. Jh. außer den noch unveröffentlichten Samaria-Papyri (vgl. E M . Cross, The Discovery of the Samaria Papyri: BA 26 [1963/4] 110-121; P.W. Lapp, Wadi ed-Däliyeh: R B 72 [1965] 405-409) die Zenonkorrespondenz aus dem ägyptischen Fajûm (W. L. Westermann/E.S. Hasenoehrl, Zenon Papyri, Business Papers of the 3 r d Century Dealing with Palestine and Egypt, 2 Bde., New York 1934/1940) zu nennen, für deren umfassende historische Auswertung M. Hengel Beispielhaftes geleistet hat, wobei er für den gleichzeitigen hellenistischen Großraum auf Arbeiten von F.M. Heichelheim und M . Rostovtzeff zurückgreifen konnte. Dagegen können die meisten Texte des Alten Testaments nur mit Vorsicht als Quellen für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte herangezogen werden, da ihre Verfasser und Tradenten die betreffenden Befunde unter jeweils anderen Thematiken bezeugen und darum, vom modernen soziohistorischen Gesichtspunkt aus, einem freilich oft übertriebenen Ideologieverdacht unterliegen. Die Textevidenz wird durch den Befund von Flächengrabungen ergänzt, wie sie etwa in teil bet mirsim (W.F. Albright), Thirza (R. de Vaux), Hazor (Y. Yadin) und an der Südmauer des haram von Jerusalem (B. Mazar) durchgeführt wurden: sie lassen synchron die Strukturen des Zusammenlebens in einer Zeit erkennen, wie sie sich u.a. in Typen der Raumgestaltung manifestiert (Crüsemann: ZAW 91). 3. Abriß
der israelitischen
Gesellschaftsgeschichte
Die zuerst von A. Alt (Gott der Väter) beschriebene Väterreligion ist von den Bedürfnissen der politisch und wirtschaftlich noch weitgehend autarken halbnomadischen Großfamilie geprägt, die alles, was für das Überleben und den Z u s a m m e n h a l t der Familie relevant ist, auf ihren Familiengott bezieht (vgl. zuletzt Albertz, Persönliche F r ö m m i g keit, und H . - P . Müller, G o t t und die Götter in den Anfängen der biblischen Religion: M o n o t h e i s m u s im Alten Israel und seiner Umwelt, hg. v. O . Keel, 1980, 9 9 - 1 4 2 [BiBe 14], bes. 114—132 [Lit.]); ein Verhältnis ökonomischer und militärischer Interaktion, auf das der Kleinvieh- und H a l b n o m a d e zur Sicherung von Weide-, Brunnen- bzw. Wohnrechten im Kulturland, aber auch zur Befriedigung höherer Lebensbedürfnisse angewiesen ist (Henninger; R o w t o n ; Klengel 34—103), hat an einer zugestehenden Haltung zu den G ö t tern und Göttergruppen der Seßhaften und Urbanen seine Entsprechung (vgl. das Auftreten von G ö t t e r p a a r e n und -triaden Gen 18,2; 19,1 und a n o n y m e r Gruppen göttlicher Wesen Gen 2 8 , 1 2 ; 3 2 , 2 f ; H . - P . Müller, ebd. 1 2 8 - 1 3 2 ) . Der Übergang von der familialen zur tribalen Struktur, die bis in die Zeit der Richter und Sauls beherrschend blieb, spiegelt sich in den Stammessprüchen (Gen 4 9 ; Dtn 3 3 ; J d c 5) sowie in der Orientierung der Richtersagen an Einzelstämmen (die gesamtisraelitische Orientierung der Richtersagen geht auf deuteronomistische Bearbeiter zurück; vgl. zuletzt R . Smend, Die Entstehung des AT, 2 1 9 8 1 , 1 1 5 f . 1 2 6 f ) ; der geschichtliche Grund dieses Uberganges ist die L a n d n a h m e , die einzelne Großfamilien und „ p o l i t i s c h " solidarisierte Gruppen wie den E x o d u s v e r band zu Einheiten zusammenführt, die ihren Z u s a m m e n h a l t nicht mehr aus d e m gemeinsamen Besitz an Kleinvieh und der d a m i t verbundenen Weidenutzung, auch nicht allein aus gemeinsamer Geschichtserfahrung bzw. Geschichtsüberlieferung, sondern aus der
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Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum II
Seßhaftigkeit in einem gemeinsamen Agrarraum und Großviehbesitz begründen. Umstritten ist immer noch, ob eine allmählich (so Alt, dem sich Noth und viele andere vorwiegend deutschsprachige Gelehrte angeschlossen haben; vgl. zuletzt Thiel) oder durch Eroberung (so Albright, Wright; vgl. Weippert, Landnahme 14ff.51ff) erfolgte Landnahme des späteren Israel wirklich auf Kleinviehnomaden zurückgeht, die schon vor vielen Generationen aufgrund von Bevölkerungsexplosionen, Nahrungsmittelverknappung etc. aus den seßhaften Verbänden ausgeschieden waren (zur Entwicklung des Nomadentums aus einem ,Frühbauerntum' vgl. K. Dittmer, Allgemeine Völkerkunde. Formen und Entwicklung der Kultur, 1954; jetzt C. Westermann, Genesis, II 1981, 75 [BK 1/2]) und nun rückläufig einen Bevölkerungswechsel erzwangen, oder ob es sich bei der Landnahme um eine innerkanaanäische Bevölkerungsumschichtung, eine religiös motivierte Bauernrevolte handelt, deren Träger viehzüchtende Dorfbewohner in der Auseinandersetzung mit Stadtbevölkerungen sind, aus denen sie kurzfristig als ,outlaws' 6 ausgeschieden waren 7 . - Ein bereits für die Väterreligion und den frühen Jahwismus charakteristischer monolatrischer Zug entspricht in jedem Fall der Einfachheit der gleichzeitigen Sozialstrukturen und der Geschlossenheit und Widerspruchsarmut der betr. Lebenswelt, zu denen er seinerseits durch eine Art Komplexitätsabbau beiträgt; die henotheistischen Erfahrungen des kriegerischen Eingreifens Jahwes in vorköniglicher Zeit (dazu H.-P. Müller, ebd. 132-137) bleiben trotz späterer Differenzierung und Hierarchisierung der Gesellschaft erhalten, weil das unverhältnismäßig lange Verharren Israels in tribalen, vorstaatlichen Strukturen diesen Erfahrungen fortdauernde Prägekraft verlieh. Inwieweit die Institution des Jahwekrieges und eines kultischen Stämmebundes, wie ihn M. Noth im Anschluß an M. Webers Vorstellung einer israelitischen Eidgenossenschaft' vermutet hat, der staatlichen Organisation vorarbeitete, mag offenbleiben. Der sich seit David und Salomo vollziehende Übergang zur staatlichen Ordnung führt zu einer krisenreichen Assimilation der altisraelitischen Großfamilien und Stämme, aber auch einer inzwischen aufgekommenen dörflich-bäuerlichen Oberschicht an die kanaanäische Urbangesellschaft, obwohl die auch für die umliegenden Völker (Aramäer, Ammoniter, Moabiter, Edomiter) vorauszusetzende nationalstaatliche Struktur der israelitischen Königtümer sich von den territorialstaatlichen kanaanäischen Stadtkönigtümern unterscheidet (Buccellati 25-135). Für den Beginn der Königszeit zeigen Flächengrabungen, wie die frühere weitgehende Autonomie der Ortschaften zugunsten übergreifender Organisationsformen mit deren Steuer-, Distributions- und Verteidigungssystem verschwindet (Crüsemann: ZAW 91,188 f). Die so auch durch das Königtum geförderte soziale und religiöse Krise (Alt, Neufeld) beruht letztlich auf der größeren ökonomischen Produktivität der seit Anfang des 3. Jt. trotz mehrfachen Wechsels der jeweiligen Herrenschichten strukturell stabilen kanaanäischen ,Feudalordnung', wobei die Kumulation von Bodenbesitz zum Modell wirtschaftlicher Prosperität auch für eine am Hof orientierte Aufsteigerschicht israelitischer Herkunft geworden ist (ISam 8,14). Neben die in den Städten ansässigen ,Beamten', Händler und Grundbesitzer sowie die dörfliche Oberschicht des 'amhä'äräs (s.o.) tritt mehr und mehr ein Proletariat' aus Landlosen und Sklaven; weiter zu fragen ist, ob dabei ein System kommerzialisierter Rentenansprüche von alten und neu-etablierten Großagrariern gegenüber der bäuerlichen und gewerblichen Unterschicht (Bobek) zu den von den vorexilischen -»Propheten beklagten sozialen Mißständen beigetragen hat (Loretz). Sollten die Propheten ihre Normvorstellungen von einer altnomadischen Gesellschaftsordnung des familiengebunden-unveräußerlichen Bodenbesitzes8 und der daraus folgenden segmentären Solidarität in Deszendenzgruppen, womöglich ohne Zentralisierung der Zwangsgewalt 9 , bezogen haben, einer Ordnung also, die sie ähnlich den Rekabiten im Licht eines mythisierten Prototyps gesehen haben müßten, so nimmt der darin bekundete Mangel an geschichtlichem Bewußtsein ihrer Anklage freilich einen Teil der Überzeugungskraft. Während der prophetische Rückblick auf eine idealisierte Nomadenzeit letztlich aber nur der Legitimation des erwarteten Gerichts dient, wandelt die deuteronomische Bewegung (—»Deuteronomium/Deuteronomistische Schule) die
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ihm zugrunde liegenden Maßstäbe zu einer restaurativen Utopie um (vgl. etwa J. Ebach, Sozialethische Erwägungen zum alttestamentlichen Bodenrecht: Biblische Notizen 1 [1976] 31—46, bes. 36f), deren gesetzlicher Charakter in die nachexilische Religion des permanenten Gewissenskonflikts und des projizierten Ressentiments gegen eine weniger observante Umwelt führen muß. Der erst im Zusammenhang mit dem Heiligkeitsgesetz formulierte Alleinbesitzanspruch Jahwes auf das Land der Israeliten, die damit auf ein reines Nutzungsrecht beschränkt werden (Lev 25,23 f), mag einen ideologischen Landbesitzanspruch des -*• Tempels zum Hintergrund haben 1 0 , wie er in Mesopotamien seit frühgeschichtlicher Zeit erhoben worden ist (vgl. W. Röllig, Art. Gesellschaft. A. Mesopotamien: RLA 3 [1957-71] 233-236, bes. 234); im Zusammenhang damit scheinen die Sozialmaßnahmen ->Esras und ->Nehemias egalitäre Normen von der Familie auf die ganze judäische Kultgemeinde zu übertragen (Neh 5,8; Kippenberg 65-67). Die Exilszeit bringt den Exulanten schon bald eine weitgehende Integration in das Wirtschaftsleben ihrer Wirtsvölker: die Murasü-Archive zeigen die kommerziellen Erfolge der babylonischen Judenschaft, die insbesondere durch Beteiligung am Kreditwesen und durch Kapitalbildung ermöglicht wurden; diese erklären zu einem Teil den Führungsanspruch, den gerade die Diaspora in der priesterschriftlichen Gesetzgebung sowie in den Reformen Esras und Nehemias geltend macht. Zur Auswertung der aramäischen Elephantine-Texte für die betreffenden Verhältnisse der ägyptischen Diaspora vgl. Körner; auch Nabonids Aufenthalt in der arabischen Wüste scheint dort eine zum Teil jüdische Diaspora zurückgelassen zu haben (vgl. Jes 21,1-15; Ps 120,5; R. Meyer, Das Gebet des Nabonid, 1962,67ff [SSAW.PH 107/3]; F. Altheim/R. Stiehl, Die Araber in der alten Welt V/2, 1969, 5ff). Die in —»Palästina zunächst in äußerster Armut verbliebene judäische Restbevölkerung erlebt in der Folgezeit den Konflikt zwischen der alten religiös-blutsmäßigen Solidarität einerseits und den Ansprüchen einer am Privateigentum orientierten neuen Oberschicht aus reich gewordenen jüdischen Familien (Neh 5,7-10) andererseits; soziale Veränderungen auf ökonomischer Basis werden durch den gleichzeitigen Funktionsgewinn der Münzwirtschaft beschleunigt. - Religiöse Observanz, mag sie theokratisch, weisheitlich oder prophetisch-messianisch orientiert sein, wandelt sich mehr und mehr zum Gegenstand individueller Entscheidung. Dazu kommt ein Solidaritätsabbau durch die endgültige Auflösung der alten Sippenverbände (Rost; Janssen 49 ff) und den wachsenden Verlust auch der nationalen Identität, wie er insbesondere durch Unterwanderung seitens der Nachbarvölker, zuerst der Edomiter und Araber (->• Arabien und Israel), dann der Samarier (-»Samaria) und vor allem der Phönizier (->Phönizien und Israel), befördert wurde (vgl. H.-P. Müller, Phönizien und Juda in exilisch-nachexilischer Zeit: W O 6 [1971] 189-204). Die Gestaltung der gesellschaftlichen Prozesse geschieht ohnehin zunehmend heteronom: der Steuerdruck etwa, der seit Darius I. wachsend ausgeübt wurde, schafft neue soziale Gegensätze; die bislang auf Selbstversorgung eingestellten Kleinbauern sind monetären Steuerforderungen nicht gewachsen und geraten in Abhängigkeit von den Reichen im eigenen Volke, die ihnen aushelfen müssen (Neh 5,4 f.8; Kippenberg 51.53 u.ö.). Die in der Sklaverei endende Verelendungsspirale wird Neh 5,1 ff ebenso anschaulich dargestellt wie die Skrupellosigkeit einer jüdischen Oberschicht, die die wirtschaftliche Situation ausschließlich nach Profitgesichtspunkten ansieht; seit Aufkommen der aus der griechischen Polis übernommenen Verpachtung des Rechts staatlicher Zoll-, Tributund Steuereintreibungen an Privatpersonen, die aus dem Neuen Testament bekannten „Zöllner", verschärfen sich die sozialen und religiösen Gegensätze erheblich. Besonders im hellenistischen 3. Jh. vor Chr. trennt sich eine dem jüdischen Volk und seiner Religion weithin entfremdete, zur Kollaboration mit den Ptolemäern bereite Oberschicht, die etwa von den mit der Staatspacht der Provinz Syria-Phoenicia betrauten Tobiaden (Jos Ant XII § 158-238) repräsentiert ist 1 1 , von einer politisch entmachteten, aber wirtschaftlich soliden und vor allem weisheitlich gebildeten Besitzschicht, deren resultierende Desorientierung die Bücher Hiob und Kohelet vor Augen führen. - So wird
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schon der Hiob des im Vergleich mit Koh älteren Dialogs als Angehöriger einer reichen und weisheitlich observanten Oberschicht den „ F r e v l e m " als einer anderen Gruppe der jüdischen Aristokratie gegenübergestellt, die „jede Solidarität mit den wirtschaftlich schwachen Gemeindegliedern aufgegeben" und sich „auch aus der Gottesbeziehung gelöst h a b e n " (Albertz: FS Wolff 3 6 3 f , der das Hiobbuch aber wohl doch zu früh datiert). Für die religiöse Krise der an der weisheitlichen Frömmigkeit orientierten konservativen Oberschicht des 3. J h . jedoch ist das Buch Kohelet von noch größerer Symptomatik 1 2 : Ökonomische Prosperität bei gleichzeitigem religiös-ethischem Verantwortungsbewußtsein, das unter der Fremdherrschaft und der Auflösung der alten sozial-religiösen Ordnung allerdings kein autonomes Betätigungsfeld mehr findet, läßt den intellektuellen Willen sich pessimistisch gegen das Dasein und seinen göttlichen Urheber wenden. Solche Introversion bedeutet immer ein Stück Selbstzerstörung: Eine zuvor weltbezogene Dynamik wendet sich gleichsam rückwärts gegen die ihr zugrunde liegenden religiösen Positionen, weil diese unter den gegebenen Bedingungen nun einmal nicht mehr realisiert werden können; korrumpierend wirkt zudem, daß die wachsende wirtschaftliche Sicherheit in den hellenistischen Großreichen es den Trägern der älteren Bildung zunächst noch erspart, Vitalitätsreserven für den Existenzkampf zu mobilisieren. Der makkabäische Kampf gegen den seleukidischen Eingriff in das jüdische Sakralrecht und gegen die Ausbeutung durch die Besteuerungspraktiken der hellenisierten Staatspächter geht außer von einem Teil der niederen Priesterschaft von einer bäuerlichen, immer noch segmentär solidarisierten Unterschicht aus (Kippenberg 87ff), die durch den Solidaritätsentzug der kommerziell orientierten Aristokratie, durch die Mechanisierung einer geschichtsohnmächtigen Kultobservanz und die Selbstauflösung der weisheitlichen Bildungsreligion religiös und politisch auf sich selbst gestellt waren. Der sich dagegen immer mehr von der makkabäischen Freiheitsbewegung entfernende städtisch-kleinbürgerliche Laienintellektualismus (Weber, Religionssoziologie III, 4 0 0 u.ö.; Hengel, Judentum 102) der Apokalyptik setzt teilweise die spätweisheitliche Daseinsentwertung fort, um sie durch die Ankündigung einer eschatologischen Katastrophe sowohl zu bestärken, als auch im Blick auf eine umfassendere Endheilsgeschichte zu neutralisieren. Im Gegensatz zu der weisheitlichen Grundüberzeugung, daß Wohlstand Lohn religiöser Tugend sei, bildet sich gleichzeitig ein chassidisch-apokalyptisches Armenideal, dessen Ressentiment und unbewußte Rachehaltung im Reichtum lediglich Sünde und Unrecht der Privilegierten manifestiert sieht (Weber, Wirtschaft I, 301; Hengel 99ff). Von welchen innerweltlichen Sehnsüchten und Ängsten die die Apokalyptik tragenden weltflüchtig-sektiererischen Kreise dennoch gleichzeitig beherrscht wurden, zeigen die in der ärmeren babylonischen Diaspora entstandenen Märchen und Legenden, die in Dan (1) 2 - 6 zur Einleitung der ältesten palästinischen Apokalypse wurden (vgl. H.-P. Müller, Märchen, Legende und Enderwartung. Zum Verständnis des Buches Daniel: V T 26 [1976] 3 3 8 - 3 5 0 ) ; umgekehrt lehrt das Estherbuch, wie die Sehnsucht der Minderprivilegierten nach Glanz und Reichtum ohne die apokalyptische Erwartung im Phantasievoll-Novellistischen verebbt und einem Zusammenstoß mit dem Realitätsbewußtsein schwerlich standhält. Rückblickend läßt sich sagen: Während die sozialhistorische Erforschung der Geschichte, Literatur und Religion Altisraels vor allem im letzten Jahrzehnt bedeutende Fortschritte gemacht hat, erscheint eine sozial ethische In-Anspruch-Nahme des Alten Testaments für eine Modellfunktion zur Lösung zeitgenössischer sozialer und ökonomischer Probleme, etwa zur Frage nach einer adäquaten Stellung der Frau in der Gesellschaft 13 , bislang allermeist weniger überzeugend. Der Grund dafür liegt zunächst in einer hermeneutischen Schwierigkeit: wohl scheint ein einfühlendes Verstehen in Typen vergangener Wirklichkeitsaneignung unter Reduktion des historisch Zufälligen möglich, nicht aber eine Einfühlung in die unübersehbare Fülle von Bedingungen, unter denen sich solche Typen vergangener Wirklichkeitsaneignung jeweils geschichtlich realisiert haben; schon die historische Analyse erfaßt ja diese Bedingungen in ihren Deutungszusammenhängen immer nur selektivparadigmatisch. Gerade die Suche nach Modellen zur Lösung von sozialen und ökonomischen Gegenwartsproblemen aber hat es mit diesen Bedingungen zu tun, weshalb auch gelungene vergan-
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gene Problemlösungen nicht wiederholbar scheinen. — Das daraus folgende kanontheologische Problem kann nur scheinbar dadurch neutralisiert werden, daß Motivsyndrome wie die Exodusthematik oder die In-Anspruch-Nahme Jahwes als des „Gott(es) der kleinen Leute" gegenwartsorientierten Interessen und ihren christologisch-dogmatischen Hilfskonstruktionen eine biblizistische Sanktion geben, die allerdings über die Bereitstellung von Impulsen zu gegenwartsorientierter Gesellschaftsgestaltung, wie sie zumeist besser aus anderen Quellen gewonnen werden könnten, funktionell nicht hinausreichen; ein durch solche Motivsyndrome bezeichneter „Kanon im Kanon" ist, historisch gesehen, zudem oft ganz willkürlich gewählt. Vor allem wird der tatsächliche theologische Funktionsverlust in der säkularistischen Umwelt durch ein Einnisten in Modernität nur oberflächlich kompensiert, wenn die betreffenden Impulse nicht aus einem religiös begründeten Gegensatz des Humanums zu seinen materiellen Bedingungen gewonnen werden, einem Gegensatz, dessen Unableitbarkeit in den spezifischen Erfahrungen der alttestamentlichen Religion zu einmaliger Brechung gelangt. Nur als religiöses Zeugnis kann das Alte Testament auch gesellschaftlich relevant werden; sozialhistorische und sozialethische Fragestellungen fördern freilich die Einsicht, daß religiöse Erfahrung andere Lebensfaktoren beeinflußt, indem sie von ihnen beeinflußt wird. Anmerkungen 1
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Vgl. W. von Soden, Sprache, Denken und Begriffsbildung im Alten Orient, 1974,35 f (AAWLM.G. 1973/6). — Von Lehnbildungen etwa im Akkadischen wie {h)ammu(m) und ga'u(m)/gawu(m) (vgl. hebräisch gôj) ist dabei natürlich abzusehen. Erstpublikation: G.A. Reisner, Israelite Ostraca from Samaria (o.J.); vgl. KAI Nr. 183-188; J . C . L . Gibson, Semitic Syrian Inscriptions I. Hebrew and Moabite Inscriptions, 2 1973, 5 - 1 5 ; A. Lemaire, Inscriptions hébraïques I. Les ostracas, 1977, 23-81. 245-250, jeweils mit Lit. Umfassende Erstpublikation: Y. Aharoni, Arad Inscriptions (hebr.), Jerusalem 1975; vgl. Gibson, ebd. 49-54; Lemaire, ebd. 147-235. Erstpublikationen: A.T. Clay, Business Documents of Murashû Sons of Nippur Dated in the Reign of Darius II (424-^104 B.C), Philadelphia 1904; Business Documents of Murashû Sons of Nippur Dated in the Reign of Darius II, Philadelphia 1912; Lit. bei R. Borger, Handbuch der Keilschriftliteratur, I 1967, 53f. 58; II 1975, 33. 35. Publikationen: E. Sachau, Aramäische Papyri und Ostraka aus einer jüdischen Militär-Koionie zu Elephantine, 1911; A. Cowley, Aramaic Papyri of the 5 l h Century B . C . , 1923; G. Kraeling, The Brooklyn Museum Aramaic Papyri, 1953; G . R . Driver, Aramaic Documents of the 5 l h Century B.C., 2 1957. Die der These zugrundeliegende Identifikation des als ,,outlaw" o.ä. begriffenen akkadischen Wortes hapiru ('" SA/SAG.GAZ) mit hebräisch 'ibri „Hebräer" ist allerdings zweifelhaft (R. Borger: ZDPV 74 [1958] 121-132; UT 19.1899: „of the 5 phonemes in ha-pi-ru only 2 ( ' & r) occur in 'ibri"). Gegen die Identifikation scheint mir vor allem zu sprechen, daß das Iii zwischen dem 2. und 3. Radikal des akkadischen Lexems an hebräisch 'ibri keine Entsprechung hat: während hapiru(m) ein Adjektiv nach der häufigen semitischen Struktur qatil ist, handelt es sich bei ' i b r i um ein Substantiv (Abstraktum?) nach qitl mit Nisbe-Endung ( < e b ä r ) \ die eine Struktur ist schwerlich in die andere zu überführen (gegen H. Bauer/P. Leander, Historische Grammatik der hebr. Sprache des AT, 1922, Nachdr. 1962, §61 d'e'). Die betr. These Mendenhalls ist jetzt von Gottwald erneuert worden; vgl. auch de Geus. Für den Negeb vermutet Fritz (1980) aufgrund differenzierter archäologischer Beobachtungen auf der hirbet el-msas eine dritte Möglichkeit, daß nämlich die Siedler „als Halbnomaden lange Zeit im Umkreis der kanaanäischen Städte gelebt" haben, „bis sie nach dem weitgehenden Zusammenbruch der spätbronzezeitlichen Stadtstaaten um 1200 zur Gründung neuer Siedlungen und damit zur endgültigen Seßhaftigkeit übergegangen sind" (ZDPV 96,134); 1982 hat Fritz seine These auf den Gesamtbereich Israels ausgeweitet. So Budde, Troeltsch, Weber, Alt, Bolle, Nyström, G. von Rad (Theologie des AT, II 1960, 146), Donner und Fendler (bes. 52f), mit Einschränkungen O. Kaiser, Gerechtigkeit und Heil bei den israelitischen Propheten und griechischen Denkern des 8 . - 6 . Jh.: NZSTh 11 (1969) 312-328, bes. 321, G. Wanke, Zur Grundlage und Absicht prophetischer Sozialkritik: KuD 18 (1972) 2-17) bes. 13, und F. Stolz, Aspekte religiöser und sozialer Ordnung im alten Israel: ZEE 17 (1973) 145-159, bes. 153. Der letztlich auf E. Dürkheim zurückgehende Begriff der segmentären Gesellschaft und die betr. Deszendenzsoziologie entstammen der englischen Sozialanthropologie, vgl. etwa M . Fortes/E.E. Evans-Pritchard, African Political Systems, London 1948, und Ch. Sigrist, Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesell-
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schaffen Afrikas, 1967. D a s Deutungsmodell ist u . a . von Kippenberg, C r ü s e m a n n (Widerstand) und Schäfer-Lichtenberger auf Israel übertragen worden. 10
Vgl. N . M . N i c o l s k i j , Die Entstehung des J o b e l j a h r s : Z A W 5 0 (1932) 2 1 6 . Dagegen denken die meisten an einen Versuch, den alten Gemeinbesitz der G r o ß f a m i l i e n wiederherzustellen (vgl. Kreissig, S o z i a l ö k o n . Situation 85); doch müssen bodenrechtliche Regelungen, insbesondere solche utopisch-restaurativer Art, jetzt mit sakralen Ideologien verknüpft werden, um verbindlich zu sein (vgl. G . Wallis, D a s J o b e l j a h r - G e s e t z , eine Novelle zum S a b b a t j a h r - G e s e t z : M I O 15 [1969] 3 3 7 - 3 4 5 , bes. 3 4 4 ) .
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Vgl. zur Karriere des T o b i a s in der Perserzeit Esr 2 , 5 9 f ; Neh 2 , 1 0 . 1 9 ; 4 , 1 ; 6 , 1 . 1 7 - 1 9 ; 13,4, ferner II M a k k 3 , 1 1 ; J o s Bell 1 , 3 1 ; Kippenberg 8 0 f f , zur Datierung dort A n m . 17.
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Vgl. H.-P. M ü l l e r , Neige der althebr. Weisheit. Z u m D e n k e n Q ö h ä l ä t s : Z A W 9 0 (1978) 2 3 8 - 2 6 4 ; zur Datierung K o h . s ebd. S. 2 5 4 f. Gegen Crüsemann (FS Westermann) ist zu wiederholen (vgl. Albertz, FS Wolff 3 6 5 4 4 ) , d a ß die hinter Kohelet (und w o h l auch dem H i o b b u c h ) stehenden Kreise von der zur K o l l a b o r a t i o n mit den D i a d o c h e n bereiten O b e r s c h i c h t zu unterscheiden sind: o b w o h l
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K o h e l e t zu den Besitzenden zählt ( 1 , 1 2 - 2 , 1 2 ; 7 , 1 2 ; 10,19; 11,1 f. u . ö . ) , bezeugt er Solidarität mit den sozial S c h w a c h e n (3,16; 4 , 1 ; 5 , 7 . 1 1 ; 7,7), weil es eine noch mächtigere Gesellschaftsschicht gibt, der gegenüber die Solidarisierung nach unten G e w i n n verspricht; gegen diese richten sich 5 , 7 ; 7 , 1 9 ; 8 , 1 0 ; 1 0 , 6 f . 2 0 , gegen die D i a d o c h e n 4 , 1 3 - 1 6 ; 5,8 b; 8 , 2 - 4 ; 10,4, während 9 , 1 3 - 1 6 ; 1 0 , 7 b die eigene politische Depotenzierung ganz unmittelbar beklagt. An Untersuchungen zur Stellung der F r a u im alten Israel sind hier auswahlweise zu nennen: W. Plautz, M o n o g a m i e und Polygynie im A T : Z A W 75 (1963) 3 - 2 7 ; Ders., Die F o r m der Eheschließung im A T : ebd. 7 6 (1964) 2 9 8 - 3 1 8 ; H . J . B o e c k e r , F r a u und M a n n . Einige T e x t e des A T zu einem aktuellen T h e m a , 1 9 7 7 ; F. C r ü s e m a n n , „ . . . er aber soll dein H e r r s e i n " (Gen 3 , 1 6 ) . D i e F r a u in der patriarchalischen Welt des A T , in: ders./H. T h y e n (Hg.), Als M a n n und Frau geschaffen. Exegetisehe Studien zur R o l l e der F r a u , 1 9 7 8 , 2 1 - 1 0 6 ; E . Gerstenberger/W. Schräge, F r a u und M a n n , 1980 (Biblische K o n f r o n t a t i o n e n ) ; J . Kegler, D e b o r a - Erwägungen zur politischen Funktion einer F r a u in einer patriarchalischen Gesellschaft, in: W. Schottroff/W. Stegemann (Hg.), Traditionen der Befreiung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen. Bd. II: Frauen in der Bibel, 1 9 8 0 , 3 7 - 5 9 ; E . O t t o , Z u r Stellung der F r a u in den ältesten R e c h t s t e x t e n des A T (Ex 2 0 , 1 7 ; 2 2 , 1 5 f) - wider die hermeneutische Naivität im U m g a n g mit dem A T : Z E E 2 6 (1982) 2 7 9 - 3 0 5 (mit wissenschaftstheoretischen Erörterungen zur Frage einer theologischen Ethik).
Literatur
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Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum II
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G e s e l l s c h a f t / G e s e l l s c h a f t u n d C h r i s t e n t u m III
764
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III. N e u e s
Müller
Testament
1. A n t i k e U m w e l t 2 . Soziale Stellung der n e u t e s t a m e n t l i c h e n G e m e i n d e n Neuen Testaments zum T h e m a „ G e s e l l s c h a f t " (Literatur S. 768)
3. B e i t r ä g e des
W i e a u c h a n d e r e a n t i k e S c h r i f t e n h a t das N e u e T e s t a m e n t keine Vorstellung von G e s e l l s c h a f t im S i n n e eines u m f a s s e n d e n S y s t e m s . G e s e l l s c h a f t l i c h e B e z ü g e werden als p e r s ö n l i c h e Beziehungen g e s e h e n . D i e soziale Stellung der n e u t e s t a m e n t l i c h e n G e m e i n d e n k a n n a u c h nicht e i n f a c h als proletarisch b e s t i m m t w e r d e n . I h r B r u c h m i t den h e r k ö m m l i c h e n sozialen G r u n d m u s t e r n w a r j e d o c h , z u s a m m e n mit ihrer E r w a r t u n g einer neuen O r d n u n g , die V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , d a ß e r s t m a l s s o e t w a s wie ein strukturelles K o n z e p t sozialer B e z i e h u n g e n ausgebildet w u r d e . 1. Antike
Umwelt
D a s Leben in der - » G e m e i n s c h a f t (Koivcovia) g e h ö r t e für - » A r i s t o t e l e s (Pol. 1,2,9) zum Wesen der m e n s c h l i c h e n N a t u r und m u ß t e i h r d e s h a l b nicht s p ä t e r a u f g e b ü r d e t w e r d e n . D a s Individuum g e n ü g t e sich nicht selbst, und d a h e r w a r e n die g r ö ß e r e n sozialen G e f ü g e , die n o t w e n d i g e r w e i s e für sein W o h l e r g e h e n s o r g t e n , ihm von N a t u r v o r g e o r d n e t , n ä m l i c h - » H a u s ( g e m e i n s c h a f t ) (OÍKÍÜ) und - • S t a a t (nóXig). D a s H a u s , das a u f der U b e r o r d n u n g des H e r r n ü b e r den D i e n e r , des E h e m a n n s ü b e r die E h e f r a u und des Vaters über das K i n d a u f b a u t , ist historisch älter, a b e r der S t a a t r ü c k t e an die erste Stelle, da er allein u m f a s s e n d für d a s W o h l e r g e h e n aller a u f k o m m e n k o n n t e . Allerdings s c h l u g Aristoteles (im G e g e n s a t z zu P l a t o , R e s p . V, 4 5 7 c . d ) n i c h t v o r , das H a u s zugunsten des S t a a t e s a b z u s c h a f f e n . Es befriedigte i m m e r n o c h w e s e n t l i c h e m e n s c h l i c h e B e d ü r f n i s s e . Ein n a t ü r l i c h e r M a n gel an b e s o n n e n e r V e r n u n f t b e s t i m m t e m a n c h e M ä n n e r zur - » S k l a v e r e i ; Frauen b e s a ß e n z w a r Vern u n f t , w a r e n darin a b e r nicht e i g e n s t ä n d i g ; in den K i n d e r n w a r hingegen Vernunft n u r als M ö g l i c h keit angelegt (Pol. I, 1 3 , 7 ) . M ä n n e r , die von N a t u r aus n i c h t einer Polis a n g e h ö r t e n , k o n n t e n in ä h n l i c h e r Weise e n t w e d e r als unter- o d e r als ü b e r m e n s c h l i c h eingestuft w e r d e n . D i e s e U n t e r s c h e i d u n g e n s t e l l t e n z u s a m m e n m i t d e n sie b e g r ü n d e n d e n A n s i c h t e n ü b e r d i e - » B i l d u n g n o c h in d e n T a g e n d e s P a u l u s d e n B e z u g s r a h m e n f ü r s o z i a l e S t e l l u n g n a h m e n d a r , w o b e i s i e d u r c h i h n a l l e r d i n g s in i h r e r G e l t u n g g r u n d s ä t z l i c h
eingeschränkt
w u r d e n ( R o m 1 , 1 4 ; G a l 3 , 1 8 ) . D i e antike Welt k a n n t e kein umfassendes
analytisches
System entsprechend u n s e r e m Begriff v o n Gesellschaft ( T h r a e d e ) , ähnlich übrigens a u c h nicht für - » W i r t s c h a f t . D e r soziale Z u s a m m e n h a n g n e u t e s t a m e n t l i c h e n L e b e n s k a n n s o a m z u t r e f f e n d s t e n b e s c h r i e b e n w e r d e n a l s B e z i e h u n g z w i s c h e n nóXiq D i e d e m o k r a t i s c h e noXi reía
h a t t e lange die N o r m
und
oÍKÍa.
für zivilisiertes L e b e n
gebildet,
w o b e i S t a m m e s - , Priester- o d e r K ö n i g s h e r r s c h a f t e n ihr gegenüber z u n e h m e n d an B o d e n verloren
(wie
in d e r
sianische Bewegungen)
Dekapolis).
Die
messianischen
Bewegungen
(-»Messias/Mes-
in J u d ä a s t e l l e n e i n e A r t G e g e n k u l t u r d a r , v o r a l l e m seit d i e
Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum III
765
—»Makkabäer den Versuch verhindert hatten, auch Jerusalem in eine nöXiq zu verwandeln. Die Könige, die diese Form des —»Hellenismus für ihre Untertanen mit Nachdruck propagierten, führten gleichwohl für sich selbst den alten homerischen Stil der Familienherrschaft weiter, gegen die sich die ;röAi£-Demokratie ursprünglich entwickelt hatte. Schon ihre Schutzherrschaft untergrub das demokratische System, weil auf diese Weise der Machtzuwachs wohlhabender Familien inmitten der Demokratie gefördert wurde. Mit dem Eingreifen Roms verstärkten zudem zwei entscheidende neue Impulse diese Tendenz. Die römische res publica war immer von ihren großen Familien abhängig gewesen (das -»Eigentum bestimmte das Wahlrecht). Andererseits wurde der Bereich des Bürgertums zunehmend erweitert, um die führenden Familien anderer Länder mit einzuschließen. Daher zur Zeit des Neuen Testaments die Herrschaft einer führenden Familie (der Cäsaren) und die Entwicklung des römischen Rechts zil einer Art von internationaler Elite-Ordnung. Die Stellung beider beruhte auf dem Besitz ausgedehnter ländlicher Liegenschaften. Deren Profit floß in den Wohlstand der nöhg. So ernährte ein unterdrücktes Bauerntum die Städte und trug darüber hinaus noch zu ihrem Reichtum bei, während diese sich stolz über ihr Hinterland erhoben durch den gemeinsamen Gebrauch der griechischen Sprache und ihre zur Schau getragene Unabhängigkeit (vgl. Act 21, 3 7 - 3 9 ) . Die moderne Analyse der antiken Gesellschaft konzentriert sich meist entweder auf die Hauptstadt -»Rom oder auf -»Ägypten. Jedoch konnten beide nicht der „Sitz im Leben" für die urchristlichen Gemeinden sein. Die kaiserliche Gesellschaft Roms (mit ihrer Vorordnung der Senatoren- und Ritterklassen oder auch der Freigelassenen der Cäsaren) liegt weit über ihrem Lebensbereich. Das Ägypten der Papyri andererseits stellt ein einzigartiges nicht-städtisches, aber dennoch zentralisiertes Wirtschaftssystem dar - eine OIMOL auf nationaler Ebene. Die neutestamentlichen Gemeinden gehören jedoch der Welt der normalen griechischen nöXii; an, wie wir sie hundertfach vorfinden, besonders in ihrem Herzland —»Kleinasien. Solange nicht deren reiches inschriftliches Material systematischer ausgewertet ist (Horsley), wird das Verhältnis der Gemeinden zur Gesellschaft ihrer Zeit im dunkeln bleiben.
2. Soziale Stellung der neutestamentlichen
Gemeinden
Zu Beginn des 20. Jh. bestand die Meinung, die Gemeinden seien aus den niedrigen Klassen entstanden, wobei man sich besonders auf den Fischerberuf der Jünger, die Gütergemeinschaft (Act 2,44 f), die kritischen Aussagen des Paulus über seine Gemeinden (I Kor 1, 26ff) und auf seine Arbeit mit eigenen Händen berufen konnte (4,12). Jesus redete „als Proletarier zu Proletariern" (Pöhlmann, Geschichte II, 467). Dieses Urteil entsprach dem der antiken Kritiker des Christentums (Origenes, Cels. 3,55) und galt bald als bestätigt durch A. -»Deißmanns Identifizierung des neutestamentlichen -»Griechisch mit dem „volkstümlichen" Griechisch von Privatbriefen, die man jüngst auf Papyrus entdeckt hatte. Auch die ersten Jünger schienen in die Rolle zu passen, die K. -»Marx dem Proletariat zugeschrieben hatte (Kautsky hat allerdings festgestellt, daß ihre Stellung eher durch Verbrauch als durch Produktion bestimmt war). Die Entwicklung der -»Formgeschichte hätte zwar zu einer besseren historischen Analyse der Gemeinschaften Anlaß geben müssen, in denen die urchristlichen Traditionen entstanden. Aber für ein halbes Jahrhundert hatte die -»Bibelwissenschaft weitgehend das Interesse an der Sozialgeschichte verloren. Theißen (Studien 6) hat dies einerseits mit der Konzentration K. -»Barths auf den theologischen Inhalt begründet, andererseits mit der existenzialen Hermeneutik R. —»Bultmanns, der selbst der führende Kopf der Formkritik war. In Amerika arbeitete unterdes die Chicago School (Case) an der Untersuchung der sozialen Fragen auf die alte Weise weiter, ohne die neue deutsche Methodologie zu berücksichtigen (Schütz 5 - 7 ) . Die Bedeutung des OIKOI; für das Gemeindeleben wurde zwar festgestellt (z. B. Filson), aber schließlich war es ein Althistoriker, der das Grundmuster der sozialen Gegebenheiten entwarf, nachdem die stereotypen Vorstellungen revidiert werden konnten: „Die Christen also waren, wenn man die Korinther als einigermaßen typisch ansehen kann, nicht nur keine sozial unterdrückte Schicht, sondern das in ihnen vorherrschende Element stammte aus der selbstbewußten sozialen Oberschicht der Großstädte. Außerdem scheinen sie sich auf eine breite Anhängerschaft gestützt zu haben, die wahrscheinlich aus den abhängigen Hausgenossen der führenden Mitglieder bestand" (Judge, Gruppen 59).
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Eine gründliche soziologische Untersuchung der Gemeinde in Korinth durch Theißen (Studien 201—317) rückte das Problem wieder in das Zentrum neutestamentlicher Forschung und bemühte sich um die Klärung methodologischer Fragen. Es wurden neue Hinweise auf die intellektuelle und kulturelle Bindung des Paulus an das Griechentum gefunden (Betz, Malherbe), und die griechische Sprache des Neuen Testaments wurde nun nicht mehr mit der Umgangssprache der Papyri in Beziehung gebracht, sondern mit der zeitgenössischen Fachprosa (Rydbeck), die bald in der anschwellenden Flut des Klassizismus untergehen sollte. Daß Paulus mit eigenen Händen arbeitete (Hock), bedeutet einen bewußten Statusverzicht, während die Absage an Privateigentum und die Gütergemeinschaft (Hengel) im Grund gesicherte wirtschaftliche Verhältnisse voraussetzen. Sogar die galiläischen Fischer gehörten einem wohlhabenden Wirtschaftszweig an (Wüllner). Dieser new consensus (Malherbe 31) erhob den Anspruch, auf einer recht zuverlässigen Erfassung der sozialen Gegebenheiten zu beruhen. Aber zur gleichen Zeit wurde eine wichtige alternative Methode erprobt (Gager, Theißen). Die lange vernachlässigte Möglichkeit, von der Form der biblischen Schriften auf die „soziale Welt" ihrer Verfasser zu schließen, kam zum Tragen, indem man auf diese Schriften Interpretationsmodelle anwandte, die von der Soziologie und Anthropologie entwickelt worden waren. Einige dieser Modelle (charismatischer Führer, chiliastische Bewegung) waren ursprünglich aus dem Neuen Testament selbst gewonnen worden. Aber nachdem sie bei der Analyse moderner Gesellschaftsformen eingesetzt worden waren, entstand durch diesen Rückbezug in der Tat die Gefahr eines anachronistischen Vorgehens. Es drängte sich nämlich die Annahme auf, soziale Unzufriedenheit müsse als ein Hauptgrund der im Neuen Testament erkennbaren Konflikte angesehen werden; auf diese Weise hing die Abkehr vom Proletariat als der urchristlichen Initiativkraft mit dem neuen Postulat einer „relativen Verarmung" (Gager: Interp. 262) urchristlicher Schichten zusammen. Daß aber die reichen Gönner des Paulus frustriert gewesen seien, weil ihr hoher Status in ihren Heimatstädten innerhalb des römischen Klassensystems nicht honoriert worden sei, dafür wäre viel mehr beweiskräftiges Material nötig. Es sind anregende Beispiele vorgelegt worden, einerseits für die Möglichkeit, zeitgenössische Gegebenheiten für die Bestimmung sozialer Beziehungen zu verwenden (Marshall, Sampley), andererseits für die historisch zuverlässige Anwendung anthropologischer Kategorien zur Einordnung der Fakten (Malina). Bevor eine sichere Antwort auf die Frage nach der sozialen Struktur der neutestamentlichen Gemeinschaften gegeben werden kann, müssen diese beiden Methoden miteinander in Beziehung gebracht werden. Es ist jedoch gewiß, daß diese Gemeinschaften auf einzigartige Weise solche Menschen auf eine gemeinsame Sache zu verpflichten vermochten, deren Beziehungen untereinander normalerweise durch die wohletablierten Ordnungen von olKoq und noXtq bestimmt waren, und daß diese letzteren dadurch zwar in heftige Erschütterung gerieten, gleichzeitig aber von den Gemeinden aufrechterhalten wurden. 3. Beiträge des Neuen Testaments
zum Thema
„Gesellschaft"
Es folgt ein Uberblick über das, was das Neue Testament insgesamt zu dem modernen Thema „Gesellschaft" beitragen könnte. Zu den Aussagen der einzelnen Schriften des Neuen Testaments sowie zur genaueren Information über die darin aufgenommenen Themen der antiken Welt s. die Artikel -»Arbeit, -»Demut, -»Eigentum, -»Erbauung, -»Frau, -»Sklaverei, -»Staat usw.
Das Neue Testament befaßt sich mit sozialen Fragen eher auf personaler als auf institutioneller Ebene. Der Grund dafür ist nicht einfach ein Mangel an abstrakter Denkweise, in der doch beispielsweise Johannes und Paulus ganz zu Hause zu sein scheinen. Auch ohne die Vorzüge unserer Vorstellung von „Gesellschaft" hatten die Menschen stets einen Begriff von sozialökonomischen Zusammenhängen, und sie mußten erst durch einen deutlichen Anstoß zur Einsicht kommen, daß die Verantwortung für sie selbst wie auch die endgültige Lösung ihrer Probleme bei ihnen selber lag (z. B. Jak 4,13—5,9; Apk 18,9-20). Jedoch fordert das Neue Testament (im Gegensatz zur -»Stoa) nicht zu einem
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Rückzug in den Individualismus auf. Seine „dyadische" Vorstellung von der Person ( M a lina, N e w Testament World 5 3 - 6 0 ) sieht den Menschen vom Standpunkt seiner Verpflichtungen dem M i t m e n s c h e n und G o t t gegenüber ( R o m 1 2 , 3 - 2 1 ) . Damit bietet es sich geradezu für die Formulierung einer Gesellschaftslehre an, allerdings einer, die eher von einer personalistischen als von einer materialistischen Grundanschauung ausgeht. Die bestehende soziale Ordnung mit all ihren Klassenunterschieden soll außer Kraft gesetzt werden in der - » H e r r s c h a f t Gottes (I K o r 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11). Aber gerade deshalb vermeidet das Neue Testament jeden Versuch, dies durch institutionelle R e f o r m oder Revolution vorwegzunehmen (I K o r 7 , 1 7 - 2 4 ; I T i m 6 , 1 - 1 0 ) . Statt dessen soll die nóXiq/oiKoq-StiuVxai mit ihrem Ständesystem sorgfältig bewahrt werden, denn in der Zwischenzeit ist sie es, durch die G o t t die Welt regiert ( R o m 13, 1 - 7 ; Eph 5 , 4 - 6 , 9 ) . Gläubige sollen ihren Platz in ihr als ihnen von G o t t zugewiesen annehmen und ihn in persönlicher Verantwortung ihm gegenüber ausfüllen, wie es auch von ihren Herrschern oder Herren gilt, o b diese davon wissen oder nicht (I T i m 2,1 - 4 ; I Petr 2,11 - 3 , 7 ) . Dies ist die Grundlage der neutestamentlichen Ständelehre. Daher die Anerkennung des Steuerrechts und des Strafrechts des M a c h t h a b e r s ( R o m 13,4.6), die Absage an private - » G e walt ( M t 26,52) und die Beibehaltung der Sklaverei und der anderen traditionellen oiKoqBeziehungen zwischen M a n n , Frau und Kind (Eph 5 , 4 - 6 , 9 ) . Andererseits soll der Geist, in dem diese sozialen Verpflichtungen zu erfüllen sind, der Tatsache Ausdruck verleihen, daß sie sowohl der Herrschaft Gottes untergeordnet sind als auch am Ende durch diese außer Kraft gesetzt werden sollen (Gal 3,28). Das Neue Testament legt insbesondere eine R e i h e von unmittelbaren und totalen Konfrontationen mit dem herrschenden sozialen Geist an den Tag. Persönlicher Gebrauch und Ausnutzung von Reichtum wird ständig abgelehnt (I T i m 6,9 f; J a k 4,13), wie dies auch von der ausgefeilten Gesetzlichkeit des Judentums ( R o m 1 4 , 1 - 1 2 . 1 7 ; Gal 3 , 1 - 5 ; Kol 2 , 1 6 - 1 8 ; I T i m 1 , 3 - 8 ) und den ästhetischen und intellektuellen Idealen des Hellenismus gilt ( R o m 1,5; I K o r 1 , 2 0 - 2 5 ; 2,1.4; Kol 2,4.8). Was hier auf dem Spiel steht, ist eine durchgängige Verwerfung jeglicher Statusbestrebungen, durch welche das Ständesystem vom Verpflichtetsein zum K a m p f um Privilegien pervertiert worden w a r (II K o r 1 0 , 7 - 1 2 ; 1 1 , 4 - 6 ) . Ansprüche auf persönliche Ehre und Ansehen gehören ganz und gar nicht zu dem, was G o t t für das Wohl der Menschheit vorgesehen hat, auch nicht in der Zwischenzeit (I K o r 4,6—13). Sie sind — moralisch gesehen - schädlich für die anderen und zugleich gefährlich für die, welchen dabei selbst die falsche Sicherheit des Stolzes in den K o p f steigt (I K o r 2,1 - 5 ) . Z u m erstenmal wird die griechisch-römische Welt hier konfrontiert mit einem positiven Ideal der - » D e m u t (I K o r 1 , 2 6 - 3 1 ; II K o r 1 1 , 1 2 - 3 2 ) . Die ganze „agonistische" Kultur mit ihren zentralen Werten von Ehre und Scham (Malina, N e w Testament World 2 5 - 5 0 ) wird auf den K o p f gestellt. Die historische Quelle dieses für die Einzelperson umwälzenden Radikalismus' liegt klar zutage. Der Impuls geht aus von dem Paradox des erniedrigten und verworfenen Messias (II K o r 1,3—7; Phil 2 , 3 - 1 1 ; 3 , 4 - 1 1 ) . Beides, der „Wanderradikalismus" der ersten Jünger Jesu und der „Liebespatriarchalismus" der frühen heidenchristlichen Gemeinden, fußt unmittelbar auf dem Beispiel Christi (Mt 8 , 1 8 - 2 2 ; 10,24f; 1 9 , 1 6 - 2 2 ; 2 0 , 2 5 - 2 8 ; Eph 5,21—33). Auf diese Weise können die sehr unterschiedlichen sozialen Erscheinungen (die T h e i ß e n definiert hat) unter der gemeinsamen Formel zusammengefaßt werden: Verzicht auf persönlichen Status innerhalb eines für eine vorübergehende Zeit anerkannten Ständesystems in Hinblick auf dessen Umwandlung in den Geist der kommenden Gottesherrschaft. Die Neigung, Güte mit Wohlstand, Anständigkeit, Schönheit oder Weisheit in eins zu setzen, ist ein fundamentales Element der jüdischen wie der griechisch-römischen Kultur. D a s Evangelium ruft die Gläubigen in eine radikal alternative Lebensform. Die langzeitlichen historischen Auswirkungen dieser inneren Revolution sind grundlegend für die Kultur der westlichen Welt, die den R u f des Evangeliums säkularisiert hat zu so allgemein anerkannten Werten wie persönliche Verpflichtung, Integrität und Dienst für andere. D a ß Paulus Ausdrücke für physische Arbeit ( R o m 16,6.9.12; I K o r 16,16; II
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K o r 1,24) und Sklavendienst (I K o r 3 , 5 ; 9 , 1 9 ; II K o r 4 , 5 ) zur Beschreibung einer Tätigkeit benutzte, die man auf der anderen Seite als ehrenvolle Führerstellung hätte ansehen können, hat das klassische Ideal von ruhiger Unerschütterlichkeit ins Gegenteil verkehrt. O b w o h l wir die N a m e n von mindestens 80 Personen aus dem Umkreis des Paulus kennen, ist es für uns schwer, sie gesellschaftlich einzuordnen, denn die üblichen Hinweise sind zumeist ersetzt durch eine neue Sprache der gegenseitigen Achtung, die die Umschichtung der Beziehungen anzeigt, die im Gang w a r . M i t dem neugebildeten Begriff der - » E r b a u ung (Pohlmann) - schon das W o r t otKoôo/xfi w a r ein Solözismus - wurde eine Vorstellung von Gemeinschaft vorgelegt, welche die klassischen A n n a h m e n von der Unveränderlichkeit der sozialen O r d n u n g beiseiteschob (Eph 2 , 1 9 - 2 2 ) . Jeder Glaubende wurde neu mit dem Geist begabt, um zum Aufbau des Christusleibs beizutragen (I K o r 1 2 , 1 2 - 2 7 ; Eph 4 , 1 1 - 1 6 ) . Dies könnte m a n auch als die erste strukturelle Vorstellung von „Gesellschaft" ansehen, aber eine Gesellschaft, die mit menschlichen Beziehungen anfängt und aufhört. Sowohl die urchristlichen Gemeinden wie auch die, die sie von Anfang an beobachteten, sahen in diesem Geschehen die Erschaffung eines neuen Volkes, das nicht leicht in der bestehenden Kultur Platz finden konnte (I Petr 2 , 9 - 1 2 ) . Die neutestamentlichen Gemeinden legten dabei ihre neue Lebensform in einer solchen Weise fest, daß es schließlich zu dem spezifischen Pluralismus der westlichen Welt k o m m e n mußte. Literatur Zu L . G é z a Alföldy, Rom. Sozialgesch., Wiesbaden 1975. - Hendrik Bolkestein, Wohltätigkeit u. Armenpflege im vorchristl. Altertum, Utrecht 1939 = Groningen 1967. - Numa Denis Fustel de Coulanges, La cité antique, Paris 2 1866. - Moses I. 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als neues
Volk
2. Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat (400-550) (Literatur S. 772)
(100-250)
Im 2. Jh. kam das griechisch-römische Ideal der Zivilisation unter den Antoninen seiner Verwirklichung am nächsten. Die Verhältnisse waren gesichert, das Wirtschaftsleben florierte. Die kaiserliche Zentralgewalt förderte einerseits die lokale Autonomie und verlieh andererseits zunehmend römische Rechte an die städtischen Führungsschichten (Aelius Aristides, Elg Pciifjrjv). Das römische Bürgerrecht, das ab 212 alle freien Bewohner des Reiches besaßen, wurde zu einem in der Geschichte beispiellosen Band internationaler Gemeinschaft. Je mehr freilich die alten nationalen Unterschiede eingeebnet wurden, desto weiter öffnete sich die Kluft zwischen den Ranglosen und denen, die einen Rang ererbt hatten. Aber noch immer war es für einen tatkräftigen Mann möglich, sich im Militärdienst, als Angehöriger des kaiserlichen Hofpersonals oder auch nur durch Landerwerb zu den privilegierten Stufen der sozialen Hierarchie emporzuarbeiten. Das Christentum bezog seine Anhänger, wie m a n aus den verschiedenen Strafmaßen in den sporadischen lokalen Verfolgungen dieser Periode ersehen kann, von beiden Seiten der sozialen Scheidelinie (Grant, Social Setting 2 3 - 2 5 ) . Celsus (Origenes, Cels. 3 , 4 4 . 5 5 ) kritisiert die gezielten Bemühungen der Christen um die Ungebildeten, um Sklaven, F r a u en und Kinder - als ob sie nicht in der L a g e wären, intelligente Menschen zu überzeugen. —»•Justin (apol. I, 53) vermerkt die Internationalisierung der Gemeinden und stellt fest, daß die Z a h l der Nicht-Juden die der Juden mittlerweile übertreffe. ->Tertullian (nat. 1 , 8 , 1 - 1 1 ) zitiert den Vorwurf, die Christen seien zu einem „dritten G e s c h l e c h t " (tertium genus) nach R ö m e r n und Juden g e w o r d e n , und erwidert darauf, daß sie bald die anderen überflügeln würden, da es kein Volk gebe, das nicht christlich sei (vgl. apol. 3 7 , 4 ) . Aber noch für 2 5 1 ist der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung der Stadt R o m auf lediglich 3 Prozent geschätzt w o r d e n (Grant, Early Christianity 7). Die römische Gemeinde unterhielt 150 Amtsträger verschiedenen R a n g e s und 1 5 0 0 W i t w e n und A r m e (Euse-
770
Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum IV
bius, h.e. 6,43,11). Um dieses einzigartige Fürsorgewesen (—• Armenfürsorge) aufrechterhalten zu können, war man auf reiche Gönner angewiesen (Countryman). Die Entstehung einer Gruppe von -»Frauen, denen der Verzicht auf Heirat oder Wiederheirat nahegelegt wurde (ein gesellschaftlich neuer Zug), mag ein Bedürfnis nach Anerkennung der Unabhängigkeit von Frauen erzeugt haben, wenn denn die apokryphen Apostelakten in dieser Weise zu verstehen sind (Davies). Daß die christlichen Gemeinden eine neue Lebensform praktizierten, war einer der wenigen Punkte, in denen sie und ihre Kritiker übereinstimmten. Es war nicht so sehr die kirchliche Organisation, die Aufsehen erregte - auch wenn -»Origenes (Cels. 8,75) sie als eine Alternative zur städtischen Verwaltung beschreibt - , sondern vielmehr der abweichende Lebensstil der Christen. Tertullian (apol. 24,6-10) forderte die Freiheit der Gottesverehrung, die doch bei allen Völkern bestehe. Zum ersten Mal in unseren Quellen beanspruchte Origenes (Cels. 1,1) das Recht, „um der Wahrheit willen... Verbindungen im Gegensatz zu den gesetzlichen Ordnungen zu schließen". So hatte die Institutionalisierung der paulinischen Kirchendienste (->Amt/Ämter/Amtsverständnis) das himmlische noXixevua (Phil 3,20) in eine strukturelle Konfrontation mit der weltlichen Gesellschaftsordnung hineingezogen. Die tastenden und unterschiedlichen Kompromisse der Apologeten (-> Apologetik) des 2. Jh. wurden durch das herausfordernde Auftreten Tertullians und durch die enzyklopädische Gelehrsamkeit des Origenes überholt. Es ging dabei mehr um Philosophie und Lebenspraxis als um Religion. Tertullian (apol. 3,6-8) erklärt den Namen Christianus in Analogie zum Sprachgebrauch der Philosophenschulen: Er bezeichnet den Anhänger (sectator) der disciplina eines autoritativen Lehrers (magister, auctor). Kultgötter lieferten für ihre Verehrer keine derartigen Namen. Aus Tertullians Schilderung der negotia Christianae factionis (apol. 39,1) erhellt, daß die Zusammenkünfte der Christen immer noch, wie in den Tagen des Paulus, in Lehre und Sozialfürsorge ihren Mittelpunkt hatten. Die christlichen Gemeinden begegneten der Gesellschaft als soziale Bewegung und nicht als Kult. Dadurch, daß sie in der Gesellschaft neue Ideen und neue Grundsätze der Lebensgestaltung propagierten (was in römischen Augen eine höchst irreligiöse Tätigkeit darstellte), begannen die Christen als ein besonderes Volk zu erscheinen. 2. Auseinandersetzung
zwischen
-*Kirche und Staat (250—400)
Um die Mitte des 3. Jh. war es unübersehbar geworden, daß das römische Reich auseinanderfiel. Die Heere konnten die Grenzen nicht länger verteidigen. Ohne eine stabile Nachfolgeregelung brach die Zentralregierung zusammen, und Usurpatoren erlangten regionale Autonomie. Der wirtschaftliche Zusammenbruch läßt sich an dem deutlichen Rückgang der Inschriften und an der Vernachlässigung öffentlicher Bauten ablesen. Nach der Wiederherstellung der Ordnung durch Diokletian kam es zu einer entschiedenen Straffung des Staatsaufbaus. Die Herrschaft im Reich wurde auf eine kollegiale Grundlage gestellt, die eine geregelte Thronfolge gewährleistete und auf die spätere Trennung von Ost und West vorausdeutete. Ein düsterer Geist des Zwanges kennzeichnete die Herrscher, die sich von ihren Untertanen durch ein aufwendiges Zeremoniell absonderten. M a n perfektionierte die Verwaltung. Preise wurden überwacht und Berufe erblich festgelegt. Eine Folge war, daß sich die soziale Kluft zwischen honestiores und humiliores verfestigte.
Im Zuge der Bemühungen um die staatliche Neuordnung gab es nun erstmals Versuche, sämtliche Bewohner des Reiches zur Konformität mit der öffentlichen Religion zu zwingen (—> Christen Verfolgungen). Unter Decius hatte jedermann eine Bescheinigung vorzulegen, daß er geopfert habe. Das Toleranzedikt des Galerius formuliert die Ziele gesellschaftlicher Solidarität, die hinter solchen Maßnahmen standen (Eusebius, h.e. 8,17,3-10). Daß die Christen die Gebräuche ihrer Vorfahren aufgegeben hatten, war eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Unter Maximinus Daia finden sich Anzeichen, daß die öffentlichen Kulte, vielleicht angeregt durch die soziale Macht der Kirchen, zum ersten Mal als nationales System organisiert wurden. Vergleichbare Prinzipien wurden das ganze 4. Jh. hindurch angewandt. Sowohl die Christen -»Konstantin und -»Theodosius als auch der Heide Julian sahen es gleichermaßen als ihre selbstverständliche Herr-
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Scherpflicht an, eine offizielle Religion für die gesamte Gesellschaft durchzusetzen. Diese bewußte Weiterentwicklung des Kultes zu einem dogmatischen System mit sozialen Konsequenzen war ein Ausfluß des eigentümlichen Drangs der Kirchen zur vollen Integration von Glauben und Leben. Die offizielle Anerkennung des Christentums führte zweifellos zu einer beträchtlichen Steigerung der Übertritte (-»Bekehrung I); aber der Prozeß der Christianisierung des römischen Reiches selbst läßt sich nicht genau dingfest machen und verlief gewiß je nach Zeit, Ort und sozialer Schicht verschieden. Erst am Ende des 4. J h . war der Umschwung in den meisten Städten einigermaßen vollzogen, jedoch noch keineswegs überall auf dem Land und nicht durchweg in intellektuellen Kreisen. Einige Gruppen konservativer Gelehrter leugneten geradezu, was vor sich ging, und kein uns bekannter Geschichtsschreiber bietet eine einschlägige Analyse. Nur der Neuplatoniker —»Porphyrius gegen Ende des 3. und Kaiser Julian in der Mitte des 4. J h . (die beide in ihrer Jugend unerfreuliche Erfahrungen mit dem Christentum gemacht hatten) erkannten deutlich die Verbindung von sozialer Organisation und dogmatischem Impetus, die die Kirche so fundamental von der griechisch-römischen Gesellschaft unterschied. Zum ersten M a l in der Geschichte wurde eine nationale Gesellschaft von einer ideologischen Uberzeugung beherrscht, die von dieser Gesellschaft im Prinzip unabhängig war. Nie zuvor waren Menschen aller sozialen Klassen und Ebenen aus denselben Büchern unterrichtet und durch dieselben Ideen ergriffen worden, wie es in den großen christologischen Streitigkeiten der Fall war. Hier entsteht in unserer Kultur die Möglichkeit, Orientierung für das eigene Leben und Handeln außerhalb des Staates, ja sogar im Gegensatz zu ihm zu finden. Es war dies der Ursprung dessen, was wir heute unter „ R e l i g i o n " verstehen (obwohl zu ihren faktischen Erben mittlerweile auch Überzeugungen wie der Humanismus und der Marxismus gehören). Julians ohnmächtige Antwort bestand in dem Versuch, den Hellenismus selbst in eine solche verpflichtende Grundeinstellung umzuwandeln. Auch wenn seine Regierungszeit nur kurz war, zeigt doch die totale Erfolglosigkeit, die in Julians Briefen zum Ausdruck kommt, wie fremd dieser Gedanke seinen Zeitgenossen war. Für -»Eusebius bedeutete die Bekehrung Konstantins die triumphale Lösung des Konflikts zwischen —»Kirche und Staat. Das christliche Reich war für ihn eins mit der Kirche. Der Erde wurde eine Art messianisches Königtum wiedergeschenkt. Obgleich jedoch Konstantin von seiner Sendung zur Einigung des Reiches im neuen Glauben durchdrungen war, mußte er bald feststellen, daß seine Probleme mit der Kirche nun erst begannen. Anders als seine Vorgänger hatte er sich einem Gott verschrieben, dessen Wesen durch die autoritative Lehre von Bischöfen definiert wurde. Konzile unter kaiserlicher Schirmherrschaft (-»Synoden) demonstrierten vor den Augen der Welt die neue zentrale Bedeutung des - » D o g m a s für die staatliche Ordnung. Aber gerade diese Schirmherrschaft rief Konflikte in Fragen der Kirchendisziplin hervor. In -»Afrika wurden die mächtigen donatistischen Gemeinden beiseitegedrängt. Sie nahmen in sich viel von dem Nationalismus der wenig romanisierten Bevölkerungsschichten auf, während der -»Arianismus zum Glauben der germanischen Stämme wurde, die sich später auf Reichsgebiet niederlassen sollten (-»Germanenmission, arianische). Als Konstantin seinen letzten Rivalen in -»Ägypten besiegte, war dort das - » M ö n c h t u m als eine neue Form des Rückzugs aus der Gesellschaft im Entstehen. Nichts zeigte so sichtbar die soziale Sprengkraft der Worte Jesu und nichts stieß die Kritiker des Christentums im 4. J h . so sehr ab wie diese bewußte Absage nicht nur an einen zivilisierten Lebensstil, sondern überhaupt an die natürlichen Ordnungen des Lebens wie Ehe und Familie. So machtvoll behaupteten sich die sozialen Paradoxien des Evangeliums gegen den Versuch, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. 3. Civitas dei und civitas terrena
(400-550)
A m Ende des 4. Jh. war das römische Reich erneut massiven Invasionen ausgesetzt; sie erreichten 4 1 0 in der Plünderung R o m s durch die Goten einen Höhepunkt. Die Vandalen eroberten 4 3 0 Afrika, und 4 7 6 endete im Westen die kaiserliche Thronfolge, so d a ß nunmehr -»Italien den Ostgoten,
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Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum IV
-•Gallien den Franken und -»Spanien den Westgoten zufiel. Konstantinopel wahrte die formale Oberhoheit, und in der Mitte des 6. Jh. unterwarf -»Justinian noch einmal Teile des Westens der direkten römischen Herrschaft. Besonders in Italien und Gallien behauptete die alte Aristokratie ihre Stellung. Ihre Angehörigen zogen sich auf ihre reichen, autarken Landgüter zurück und besetzten oft auch die örtlichen Bischofsstühle. Sie waren bis zum frühen 5. Jh. alle zum christlichen Glauben übergewechselt, und am Ende des Jahrhunderts erwiesen sie sich als treue Hüter der antiken Kultur, die einst als letzte Bastion gegen die christliche Flut erschienen war. Aber die tieferstehende Schicht der städtischen Kurialen, die in der Hauptsache die Finanzen der Städte aufzubringen hatten, war weitgehend verschwunden. Unter den humiliores hatte die Differenz zwischen Sklaven und Freien durch die Bindung der Handwerker an ihre Berufe und der Bauern an ihr Land an Bedeutung verloren. Immerhin aber waren solche coloni noch Eigentümer ihres Bodens und konnten rechtmäßig heiraten. Der Niedergang der internationalen Ordnung lieferte die Städte der Nahrungsknappheit und das Land dem Banditentum aus. Doch war es keine gesellschaftliche Revolution, die den Übergang der antiken Welt zum Mittelalter markierte. Die Verwaltung brach, als sie ihrerseits eine Erblast der die Ämter bekleidenden Familien wurde, unter der wachsenden Korruption zusammen. Die Unterdrückten flüchteten nicht nur unter das patrocinium mächtiger Grundherren, sondern, wie die christlichen Geschichtsschreiber Orosius und Salvian berichten, auch in die freiere und humanere Gemeinschaft der germanischen Niederlassungen. Die Bildung unabhängiger germanischer Königreiche auf dem Boden des westlichen Imperiums gab diesem dann schließlich den Todesstoß.
Für Augustin w a r der T r a u m eines christlichen Reiches schon vor dem Brand Roms verblaßt. O b w o h l er bis zuletzt ein Anhänger des offiziellen Katholizismus und sogar des staatlichen Z w a n g s gegenüber den Donatisten blieb, teilte er mehr und mehr deren Skepsis, o b nicht die öffentlich organisierte Kirche bis zu einem gewissen Grad eine weltliche Körperschaft war. Umgekehrt stand die Staatsmacht keineswegs einfach im Gegensatz zu G o t t , sondern hatte, auch von einer höheren Warte aus, eine relative Existenzberechtigung als ein göttliches Werkzeug f ü r das Wohlergehen der Menschheit. Die civitas dei und die civitas terrena entsprechen letztlich weder Kirche und Staat noch Himmel und Erde. Sie sind zwei Sozialverbände, die nicht mit der Kirche und dem Römischen Reich zusammenfallen. Auch die Bekehrung des Reiches hatte ihre Beziehung zueinander nicht verändert. In jeder organisierten Körperschaft, ob Kirche oder Staat, überschneiden sich die beiden civitates-, aber sie schließen einander im tiefsten aus. Sie repräsentieren zwei antagonistische Wertordnungen. In seinen ausführlichen Erörterungen über dieses T h e m a , die zu einer Zeit entstanden, als das christliche Imperium, wie es seit Theodosius bestand, um ihn herum sich auflöste, aber noch ehe die Überreste der alten Kultur sich unter den Fittichen der Kirche sammelten, zeigte Augustin die radikale Unvereinbarkeit der Gottesliebe mit den Werten der weltlichen Gesellschaft (s. T R E IV, 680-683). Brachte also die Bekehrung der römischen Welt keinerlei Veränderungen ihrer gesellschaftlichen Funktionsweise mit sich? Das Patriarchat verlor an Macht. Durch die Anerkennung der Rechte von Kindern und das Verbot der Kindesaussetzung w u r d e die patria potestas weiter beschnitten. Sklaven erhielten einen besseren Schutz vor Mißhandlungen, und die Freilassung w u r d e begünstigt. Im Verständnis der -»Ehe gewann die Liebe größere Bedeutung, und die Scheidungsgründe wurden eingeschränkt. Aber die wichtigsten sozialen Wirkungen des Christentums lagen nicht im Bereich des Rechts. Der Impuls zur Wohltätigkeit, der die klassischen Städte ausgezeichnet hatte, k a m durch das kirchliche Fürsorgewesen nun den Bedürftigsten zugute. Vor allem aber w a r mit der Konzeption der civitas dei eine Grundeinstellung gegeben, die unabhängig w a r von der weltlichen M a c h t und von der aus in späterer Zeit der Wiederaufbau der Gesellschaft in Angriff genommen werden konnte. Literatur Zu 1.: Carl Andresen, Die Kirchen der alten Christenheit, Stuttgart/Berlin 1971. - Timothy David Barnes, Tertullian, Oxford 1971. - L. William Countryman, The Rieh Christian in the Church of the Early Empire, New York/Toronto 1980. - Stevan L. Davies, The Revolt of the Widows, Carbondale/London/Amsterdam 1981. - Geoffrey Ernest Maurice de Ste Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World, London 1981.-Jean Claude Fredouille, Tertullien et la conversion de la culture antique, Paris 1972. - Robert MacQueen Grant, Early Christianity and Society, London 1978.
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V. M i t t e l a l t e r 1. Die Vorstellungen von der Gesellschaft
1. Die Vorstellungen
von der
2. Soziale Gruppen
3. Stände
(Literatur S. 779)
Gesellschaft
D i e G r u n d f i g u r m i t t e l a l t e r l i c h e r V o r s t e l l u n g e n v o n d e r G e s e l l s c h a f t u n d ihren S t ä n d e n (ordines)
s t i m m t in vielen E l e m e n t e n m i t d e m a n t i k e n S t ä n d e d e n k e n ü b e r e i n . D i e
soziale O r d n u n g ist d e m n a c h ein Teil d e r W e l t o r d n u n g , des K o s m o s . D i e u n t e r s c h i e d l i c h e n ordines
sind u n t e r e i n a n d e r u n g l e i c h , d u r c h d i e s e U n g l e i c h h e i t a b e r zu g e g e n s e i t i g e m
Z u s a m m e n w i r k e n in H a r m o n i e u n d E i n t r a c h t b e s t i m m t . D i e s e O r d n u n g ist in sich g u t , n o t w e n d i g u n d u n v e r ä n d e r l i c h . D e r M e n s c h f ü g t sich in sie ein, i n d e m er d a s s e i n e m S t a n d e Z u k o m m e n d e u n d A n g e m e s s e n e t u t . D i e s e R e f l e x i o n ü b e r G e s e l l s c h a f t ist a l s o nicht Beschreibung und Analyse, sondern handelt von ethischen N o r m e n . Die Grundged a n k e n a n t i k e r S o z i a l a u f f a s s u n g e n finden sich w i e d e r bei - » A u g u s t i n ( D e o r d . ,
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u n d in d e n S c h r i f t e n d e s s o g . - » D i o n y s i u s A r e o p a g i t a ( A n f . 6 . J h . ) . Z u g l e i c h a b e r h a t d a s C h r i s t e n t u m seinerseits n e u e S o z i a l a u f f a s s u n g e n h e r v o r g e b r a c h t , die d e n a n t i k e n e n t g e g e n g e s e t z t sind, v o r a l l e m eine n e u e , p o s i t i v e B e w e r t u n g d e r - > A r m u t u n d d e r k ö r p e r l i chen - » A r b e i t sowie eine grundsätzliche Einebnung ständischer Unterschiede im Z e i c h e n
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der Gleichheit und Brüderlichkeit. Daraus ergab sich eine neue Bewertung der Alltagswelt im Neuen Testament, so daß die Reflexion über die Ethik einzelner Stände jetzt nicht mehr nur auf die gesellschaftlich, geistig und politisch führenden Schichten ausgerichtet war, sondern jeden nur möglichen Stand erfassen konnte. Im Zentrum des mittelalterlichen Ständedenkens steht somit die Auseinandersetzung mit den durch höchste Autoritäten (Plato, Aristoteles, Cicero) vertretenen Sozialnormen der Antike. Mittelalterliches Ständedenken hat sich in der Reflexion über Sozialmetaphern und Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit konkretisiert. Die bedeutendste aller Sozialmetaphern ist die Körpermetapher, deren Tradition vor allem von - * Plato und -»Paulus geprägt wurde. Das Bild des Körpers und seiner Glieder war besonders geeignet, den Grundgedanken der Ständereflexionen, die Kooperation auf Grund von Ungleichheit, zum Ausdruck zu bringen. Denselben Sinn hat die soziale Architekturmetapher (die Gesellschaft als domus Dei, vgl. I Kor 3,10ff und Eph 2,20ff), die Garten-, Schiff-, Tier- und Schachmetapher. Biblisch begründet war auch die Unterscheidung des ,Starken' (potens) vom ,Armen' [pauper), die vor allem seit dem 8. und 9. J h . Verbreitung fand. Die von Plato begründete Gliederung der Gesellschaft in drei funktional definierte Stände wurde seit der Wende vom 10. zum 11. J h . in der Unterscheidung derer, die beten ( o r a t o r e s ) , derer, die kämpfen (bellatores) und derer, die arbeiten ( l a b o r a t o r e s ) neu entfaltet; dieses Deutungschema der funktionalen Dreiteilung blieb bis zum 18. J h . grundlegend (Klerus, Adel, ,Dritter Stand'). Die seit dem 11. und 12. J h . sich immer weiter differenzierende Arbeitsteilung war Voraussetzung und Anregung zur Ausarbeitung immer detaillierterer Ständereihen und Ständelisten. Frühe Beispiele dafür sind die Praeloquia des Bischofs Rather von Verona (gest. 984) und die Schrift De vita christiana des Bischofs Bonizo von Sutri (Ende 11. Jh.). Die sich hieran seit dem 12. J h . anschließende Ständelehre und Ständekritik in Predigt, Didache und Satire ist in ihrem Umfang kaum zu überblicken.
2. Soziale
Gruppen
Als typisch mittelalterliche Form der Gruppenbildung gilt die Vasallität, der soziale Kern von,Feudalismus' und Lehnswesen seit dem 8. J h . Es handelt sich hierbei um eine gegenseitige vertragliche Bindung mit ungleichen Pflichten zwischen freien, aber ungleichen Personen (M. Bloch): Der Vasall schwört seinem Herrn Treue und verpflichtet sich generell zu förderlichem Verhalten und zu bestimmten Leistungen („Rat und Hilfe", consilium et auxilium, u.a. Waffendienst und finanzielle Leistungen); ebenso umfassend sind die Pflichten des Herrn gegenüber seinem Vasallen (Gewährung von Schutz und Unterhalt). Die Unterhaltsgewährung soll den Vasallen in die Lage versetzen, den geschuldeten Dienst zu leisten. Die Konsequenz der Bindung des Vasallen war deshalb die Investitur mit einem Lehen (feudum, beneficium) in der Rechtsfigur der Leihe. Neben der Bodenleihe erscheint schon in der Karolingerzeit die verfassungsgeschichtlich bedeutsame Leihe von Ämtern ( h o n o r e s ) . Zwar unterlag die Vasallität seit dem ausgehenden 9. J h . einem Prozeß der Verdinglichung, in dem mehr und mehr das Lehen in den Vordergrund trat (u.a. Erblichkeit der Lehen), doch bleibt sie eine der grundlegenden Lebensformen des Mittelalters und ist ein wichtiger Rahmen für den Aufbau von Staatlichkeit (Regelung des Verhältnisses von König und Fürsten; Grundlage für die Entstehung zentraler Institutionen seit dem 12. J h . und für die Regelung des Verhältnisses von Monarch und Ständen seit dem 13. Jh.). Ebenso fundamental ist das Sozialgebilde des ,Hauses', dessen Begriff eng mit dem der familia verflochten ist. Wie - > H i n k m a r von Reims Ende des 9. J h . in seiner Schrift De ordine palatii am Beispiel des königlichen ,Hauses' erläuterte, meint —>,Haus' sowohl konkrete Räumlichkeiten und Behausungen (im Fall des Königs: das palatium, ,Palast' und ,Pfalz') als auch die in diesen lebenden Personen, die dem Herrn des ,Hauses' unterstellt sind: es ist zum einen die Familie des Königs, also seine Frau und seine Kinder; es sind zum anderen die ,Diener' (ministri) des Königs in den drei Bereichen der geistlichen und weltlichen Angelegenheiten (spiritualia, saeculariä) sowie der materiellen Grundla-
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gen des ,Hauses' (corporales res). Die spiritualia werden von der Hofgeistlichkeit (Hofkapelle) unter Leitung des Erzkapellans betreut; ihr obliegt u. a. der Gottesdienst im königlichen Haus und die schriftliche Verwaltungstätigkeit. Die saecularia werden von den Inhabern der höchsten Hofämter (Pfalzgraf, Kämmerer, Seneschall usw.) wahrgenommen; hier zeigt sich die Bedeutung auch des ,Hauses' für den Aufbau von Staatlichkeit. Die Versorgung des ,Hauses' mit materiellen Gütern schließlich wird durch die Tätigkeit der unfreien Hörigen der königlichen Grundherrschaften gesichert, die in ihrer Gesamtheit wiederum als familia {familia regalis) bezeichnet werden. Dies ist die Grundform aller späteren königlichen, adligen oder bischöflichen ,Häuser', denen, in den entsprechend kleineren Dimensionen, auch das bäuerliche ,Haus' und die ,Häuser' städtischer Handwerker und Kaufleute an die Seite gestellt werden können. Die sog. Hausväterliteratur der frühen Neuzeit zeigt die Umfassendheit der im ,Haus' verbundenen und geordneten Lebensbereiche. Sie enthält praktische Anweisungen für die Haus-, Land- und Forstwirtschaft, für die Tierzucht, für Veterinär- und Humanmedizin, aber auch die Grundregeln der Kindererziehung und eine Ethik des Verhaltens der einzelnen Mitglieder des ,Hauses' untereinander. Neben den königlichen, adligen, bischöflichen und klösterlichen Grundherrschaften mit ihren oft sehr großen Hörigenverbänden (familiae) sind in der agrarischen Welt des früheren Mittelalters Dorf und -»Pfarrei zentrale Sozialgebilde. Im Gegensatz zu den gegründeten Dörfern der hochmittelalterlichen Ausbau- und Rodungsphase (12./13. Jh.) ist die Entstehung der allmählich gewachsenen Dörfer des früheren Mittelalters allerdings noch vielfach undeutlich. Hier ist im einzelnen mit verschiedenen teils herrschaftlichen (Grundherrschaft), teils genossenschaftlichen Faktoren (gemeinsame Nutzung, Nachbarschaft, Gilde) zu rechnen. Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Dörfern war gewiß die Pfarrei. Das mit der Ausbreitung des Christentums auf dem Land sich bildende Netz ländlicher Pfarreien umfaßte sowohl bischöfliche Gründungen als auch grundherrliche Eigenkirchen mit Pfarrfunktion. Der rechtliche Unterschied wurde alsbald eingeebnet, so daß im 9. Jh. alle Pfarrkirchen als königliche, adlige, klösterliche oder bischöfliche Eigenkirchen (-»Eigenkirchenwesen) aufgefaßt werden konnten. Sie bilden die Grundlage des mittelalterlichen Pfarrsystems. Die Vermehrung der städtischen Pfarreien setzt erst im 12. Jh. ein. Die Pfarrei hatte soziale Bedeutung im Blick auf das Konnubium. Der bei der Pfarrkirche gelegene Kirchhof (-»Friedhof) integrierte die Siedlung der Toten in die der Lebenden. Die Pfarrgemeinde war Gerichtsgemeinde; sie bildete einen eigenen Friedens- und Rechtsbereich, was oft auch in der Befestigung von Kirche und Kirchhof zum Ausdruck kam. Außerdem ist die Pfarrgemeinde die älteste Schulgemeinde (-•Schulwesen). Große Bedeutung haben in der mittelalterlichen Gesellschaft die Formen der natürlichen' (,gewachsenen') und der ,künstlichen' (,gemachten') Verwandtschaft. Zu jenen gehören Familie, Verwandtenkreis und Geschlecht, zu diesem vor allem die monastischen und geistlichen Kommunitäten sowie die Erscheinungsformen der geschworenen Einigung', die Gilde und die Kommune. Die grundlegende Erneuerung der historischen Familienforschung in den letzten beiden Jahrzehnten im Zeichen neuer Fragestellungen und erstmals erschließbarer Materialien (—• Kirchenbücher) hat für die frühe Neuzeit die Erstellung einer Typologie der Formen von Familie und Haushalt ermöglicht. Die Ergebnisse dürften auch für das Mittelalter gelten; hier läßt die Überlieferung allerdings erst für das Spätmittelalter genauere Feststellungen zu. Die gegenüber der Moderne niedrigere Lebenserwartung und das höhere Heiratsalter sind bedeutende Faktoren für die vormoderne Geschichte von Familie und Familienleben. Die Gestalt der Familie wandelte sich in Entsprechung zum Verlauf der wirtschaftlichen Konjunkturen und Krisen, sie differiert aber auch in den verschiedenen geographischen Räumen und sozialen Schichten. Die erst neuerdings einer systematischen Auswertung zugänglichen Libri Memoriales (,Gedenkbücher') der frühmittelalterlichen Klöster, welche ihre Wohltäter und Stifter in Namen und Namengruppen zum
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Zwecke der Kommemoration festhielten, zeigen die Verwandtenkreise solcher Stifter und auch, wie sie sich im Lauf der Jahrzehnte wandelten. Von diesen synchronisch gebildeten, im Lauf der Zeit sich allmählich verändernden Verwandtenkreisen sind die diachronischen Abstammungsgemeinschaften verwandter Personen zu unterscheiden, die G e schlechter'. Ein ,Geschlecht' ist die von lebenden Personen ausgehende, sich Generation für Generation in die Vergangenheit zurück erstreckende Gruppe, die meist in einem berühmten,Spitzenahnen' (K. Hauck) ihren Ursprung findet und in der sich reale Elemente mit fiktiven verbinden können. Frühe Beispiele der Geschlechterbildung zeigen sich bei den Königsgeschlechtern (z.B. den Karolingern), denen alsbald adelige Geschlechter (z.B. die Weifen) folgten; ihnen eiferten u.a. die bürgerlichen Geschlechter nach. Geschlechterbewußtsein manifestierte sich in der Aufzeichnung und Anlage von Text- und Bildgenealogien (.Stammbäumen'). Auch die Geschlechterbildung steht im Zusammenhang mit ,Haus' und Herrschaft: die Graborte königlicher und adliger Geschlechter sind den Herrschaftszentren (Pfalz, Burg, Residenz) zugeordnet. Die monastische Kommunität (->Mönchtum) ist eine Form der gemachten' Verwandtschaft, in der Menschen durch ein Versprechen (,Profeß l ) sich freiwillig als Brüder einander gleichstellen und zugleich der Gewalt eines ,Vaters' (Abtes) unterwerfen, unter dessen Leitung sie in einer Gruppe gemeinsam leben (icoivdg ßlog, vita communis, Zönobitentum). Grundlage dieses gemeinsamen Lebens sind die Normen der vita apostolica (vgl. Act 2,44ff und 4,32ff), die u.a. durch persönliche Armut, Gemeinbesitz und Verteilung der Güter nach (gleichen) Bedürfnissen charakterisiert ist. Gleichheit und Brüderlichkeit, Einschränkung der privaten Sphäre, Zügelung des Einzelwillens (Gehorsam), sexuelle Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit, strenge Regelung des Alltags in der Aufteilung der Zeit in Gebet und Gottesdienst, in körperliche Arbeit und Erholung, Einschränkung des Verbrauchs auf das Notwendige und Nützliche, - alle diese Lebensnormen grenzen die monastische Kommunität radikal von der sie umgebenden laikalen und kirchlichen Gesellschaft ab, was nach außen auch in der wirtschaftlichen Autarkie und den Bauformen der Gemeinschaftssiedlung zum Ausdruck kommt. Inbegriff der monastischen Lebensnormen des Okzidents ist die Mönchsregel Benedikts von Nursia (-»Benediktusregel). Die Lebensnormen dieser monastischen Gruppen begründeten ihre Leistungen in Kunst und Kultur, in Technik und Wirtschaft, in Organisation, Planung und Verwaltung, deren Bedeutung für die europäische Geschichte kaum überschätzt werden kann. Auch auf dem Wege der sog. Verbrüderungen' wirkten die monastischen Gruppen tief in die sie umgebende Gesellschaft hinein. Von der Lebensform der monastischen Kommunitäten ist ferner die im Frühmittelalter entstandene vita communis des Kathedralklerus (-»Kanoniker) geprägt. Eine andere Form der gemachten' Verwandtschaft ist die geschworene Einung (conjuratio). Sie entsteht durch einen gegenseitigen promissorischen ->Eid, der unter den Schwörenden Gleichheit herstellt. Auch Brüderlichkeit gehört zu den Lebensnormen der geschworenen Einungen. Im gegenseitigen Eid verbinden sich die Schwörenden zu gegenseitigem Schutz und Beistand (consilium et auxilium) in allen Lebensbereichen. So entsteht ein eigener Rechts- und Friedensbereich, der mit statutarischem (,gewillkürtem') Recht gefüllt ist. Die älteste Erscheinungsform der geschworenen Einung ist die Gilde, die im 6. und 7. Jh. in den Gilden des ländlichen Pfarrklerus, im 8. und 9. Jh. in den örtlichen Gilden in Erscheinung tritt; diese umfaßten Männer und Frauen, Laien und Kleriker und sind den Sozialgebilden Grundherrschaft, Dorf und Pfarrei zuzuordnen. Im 11. und 12. Jh. folgten die Gilden der Kaufleute und die der Handwerker (,Zünfte'), im Spätmittelalter die der Handwerksgesellen. Auch die geschworenen Einungen der Magister und Studenten um 1200 (-»-Universitäten) sind ein Teil der Gildenbewegung. Im Gegensatz zur Gilde vereinigt die ebenfalls durch einen gegenseitigen Eid konstituierte Kommune einen größeren, auch regional umfassenderen Personenkreis. Auch die Kommune entstammt der agrarischen Welt des Frühmittelalters, bevor sie im 11. und 12. Jh. eines der Aufbauelemente der Stadt wird.
Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum V
III
3. Stände Die Unterteilung der Gesellschaft nach Klerus und Laien entstand bereits in der christlichen Spätantike. Auf die zunächst nur geistlich-religiös begründete Sonderstellung des Klerus folgte die öffentlich-rechtliche Privilegierung (-»Privilegien, Kirchliche) seit dem 4. Jh. Mit der Durchsetzung der zur gleichen Zeit erhobenen Zölibatsforderung (-»Zölibat) erhielt der Klerus dann auch eine ausgeprägte Standesethik. Dieser Klerikerstand ist in der Folge auch im politischen Sinn zum Vorbild aller privilegierten Stände in Europa geworden (O. Hintze). Nach der Entstehung des Mönchtums wurden seit dem 5. Jh. die drei Stände der Kleriker, Mönche und Laien als die tres ordines ecclesiae oder tria genera hominum schlechthin aufgefaßt. Eine andere Ständebildung vollzog sich im Zeichen der Unterscheidung von Freiheit, Unfreiheit (—»Sklaverei) und Adel, wofür eine aus der Antike übernommene Begrifflichkeit (Uber, servus, colonus, nobilis) Verwendung fand. Die Unterscheidung von ,frei' und ,unfrei' bezog sich auf ein rechtliches Kriterium, dessen Erfassung in der sozialen Wirklichkeit des früheren Mittelalters freilich schwierig ist, da die dichotome Unterscheidung die vielfältig gestuften Formen der -»Freiheit, geminderten Freiheit und Unfreiheit in der agrarischen Welt des Frühmittelalters nicht angemessen wiederzugeben vermochte. Der Begriff des -»Adels steht mit dem der Freiheit und Unfreiheit nicht auf derselben Ebene. Adel ergibt sich aus der eigentümlichen Verknüpfung von vornehmer Herkunft und edler Gesinnung, dem Adelsethos, das u.a. Kühnheit, Mut bei der Verteidigung der Schutzlosen, Freigebigkeit, Klugheit und Umsicht fordert. Diese Eigenschaften sind dem Adligen durch seine Geburt, durch seine Abstammung von berühmten Vorfahren gesichert, er braucht sie nicht zu erwerben, sondern er muß sie erweisen. Diese Annahme einer biologischen Fundierung charakterlicher und geistiger Eigenschaften begründet die Bedeutung von Familie und Verwandtenkreis, Haus und Geschlecht für den Adel. Die adlige Lebensform führt zum Aufbau adliger Herrschaft, bewährt sich aber auch im Dienst der ihrerseits dem Adel entstammenden Königsgeschlechter, welcher wiederum der Begründung adliger Herrschaft zugutekommt. Die geistigen Auseinandersetzungen, die im Mittelalter über Adel, Gleichheit und Brüderlichkeit geführt wurden, zeigen anschaulich den grundsätzlichen Konflikt zwischen Ständebildung und christlicher Norm. Von anderer Art sind die „funktionalen' Stände des Bauern und des Ritters (-»Bauerntum, —»Rittertum). Ihre Entstehung zeichnet sich bereits im 8. Jh. ab, kam aber erst im Lauf des 11. Jh. zum Abschluß. Im Verlauf dieses Prozesses fanden Bauern und Ritter zu ihrer eigenen Gestalt, indem sie sich voneinander abgrenzten (J. Fleckenstein). Dieser Abgrenzungsprozeß begann im Zeichen einer doppelten Spezialisierung: einerseits mit dem Aufkommen des schwer gepanzerten und bewaffneten Reiterkriegers im 8. Jh., der das Volksaufgebot leicht bewaffneter bäuerlicher Krieger entbehrlich machte, während andererseits in der sich intensivierenden Landwirtschaft (Dreifelderwirtschaft, Ausdehnung des Getreideanbaus) die agrarischen Produzenten unabkömmlich wurden. Der vom 8. bis zum 11. Jh. allmählich entstehende Bauernstand hat alle agrarischen Produzenten unter ihrer gemeinsamen Funktion zusammengefaßt und die ältere Vielfalt der Rechtsstufen bäuerlicher Hörigkeit, Minderfreiheit und Unfreiheit überwölbt. Im 11. Jh. erscheint erstmals der Begriff des Bauern (rusticus), gleichzeitig mit dem Begriff des Ritters (miles). Durch die Auflösung des Karolingerreiches im 9. Jh. waren die Waffenlosen (Kleriker und Mönche, Bauern, pauperes) ungeschützt geworden; die Gottesfriedensbewegung (-»Frieden V. 2.4) des 10,/II. Jh. stellte die Frage nach ihrem Schutz in den Mittelpunkt. Unter diesem Aspekt wurden, zuerst im fränkisch-französischen Westen, alle Waffenführenden als milites zusammengefaßt. Das Deutungsschema der funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft nach oratores, bellatores und laboratores (s.o.) brachte die Entstehung des Bauern- und des Ritterstandes auf den Begriff. Am Ende des 11. und 12. Jh. wurde dann das Standesethos des Ritters formuliert, welches auf der Idee des in Freiheit geleisteten Dienstes gründet und sowohl die Normen der Vasallität (s.o.), als auch die Idee des
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Schutzes der Waffenlosen und pauperes (aus der älteren Herrscher- und Adelsethik) und den neutestamentlichen Gedanken des miles christianus (vgl. Eph 6,10ff) in sich vereinte. Als Ritter wird man nicht geboren, man wird zum Ritter gemacht (Ritterweihe, Schwertleite). Deshalb konnte die Idee des Rittertums die verschiedensten sozialen Schichtungen der Waffentragenden (König, Adel, kleine Grundherren) übergreifen. Im Zeichen dieser Lebensnorm sind sogar seit dem 11. Jh. die ursprünglich unfreien Waffentragenden, die Ministerialen, aus der Unfreiheit aufgestiegen und haben im 13. Jh. den Anschluß an den Adel gefunden (niederer Adel). Als eine Folge u.a. der Bevölkerungsvermehrung und der Ausdehnung des Handels, der sich auf Märkte stützte, entstand seit dem 11./12. Jh. eine arbeitsteilig gegliederte Verkehrswirtschaft in Unterscheidung und funktionaler Zuordnung von Stadt und agrarischem Umland. Die hochmittelalterliche Stadt als topographische Einheit, als Markt, als ein durch Mauern geschützter, rechtlicher und politischer Sonderbezirk grenzt ihre Bewohner, die (Stadt-) Bürger, im wesentlichen Handwerker und Kaufleute, als eigenen Stand von den anderen Ständen ab (-»-Bürgertum). Wie der Stand des Bauern, so ist auch der des Bürgers durch Arbeit definiert. In der folgenden Zeit differenzierte sich das Stadtbürgertum nach Oberschicht (Patriziat), Mittelschicht (die selbständigen Händler und Handwerker) und Unterschichten (u.a. Unselbständige, Arme). Einen eigentlichen Bürgerbegriff kennt das Mittelalter nicht. Das Bürgertum geht vielmehr in den ,Dritten Stand' ein, der im Gegensatz zu Klerus und Adel alle körperlich Arbeitenden umfaßt. Einen eigenen ständischen Typus bilden die Armen sowie die Gelehrten und Studierten. ,Arm' im mittelalterlichen Sinne ist nicht nur der ökonomisch und materiell Arme und der physisch Schwache, ,arm' ist jeder, der des Schutzes entbehrt. Armut ist ein Zustand des Mangels an sozialer ,Stärke', weshalb man im Mittelalter dem pauper nicht nur den Reichen (dives), sondern vor allem den ,Starken' (potens) gegenüberstellte (s. o.). Freilich bildeten die Armen keinen Stand im strengen Sinn, da jeder Mensch vorübergehend oder dauernd aus vielfältigen Ursachen ,arm' werden konnte, der Kleriker und Ritter ebenso wie der Bauer oder der Kaufmann. Auch ist Armut ein relativer Begriff, da jede Schicht typische Bedürfnisse besitzt, denen nicht genügen zu können, Armut bedeutet. So wird Armut nicht nur (absolut) durch das Fehlen des Lebensnotwendigen, sondern auch (relativ) durch das Fehlen des Standesnotwendigen definiert. Zu den ,Armen' rechnete man im 12. und 13. Jh. auch die wandernden Magister und Studenten, weil sie als Fremde des Schutzes entbehrten. Ihre mit dem Beginn des 12. Jh. einsetzende regionale Mobilität war einerseits eine Folge der fortschreitenden Arbeitsteilung und Institutionenbildung in Europa, welche neue berufliche Tätigkeitsbereiche eröffneten, besonders in den Städten, an den Königs- und Fürstenhöfen und im Dienst der Kirche; sie war andererseits auch eine Folge der Verwissenschaftlichung der ->Artes liberales, der Theologie, Jurisprudenz und Medizin, die sich aus der Neuaneignung antiker Texte (Corpus iuris civilis; -»Aristoteles; medizinisches Corpus Toletanum) ergab. Die um 1200 aus geschworenen Einungen entstehenden -»Universitäten übernahmen in ihrer Einteilung nach Fakultäten das damals neue Wissenschaftssystem der Artes und der drei höheren Fächer und prägten damit für Jahrhunderte das System der studierten Berufe. Seit dem Beginn des 12. Jh. wurde der Begriff des clericus neu definiert: clericus wurde jetzt auch eine Bezeichnung für alle Gelehrten und Studierten, die einen neuen Stand bildeten und mit den älteren Ständen des Klerus, des Adels, der Ritter und der Bürger konkurrierten. Zugleich wurde von dem gelehrten und studierten clericus der fachlich nicht Qualifizierte als ,Laie' (,laicus) unterschieden. Kennzeichnend für die mittelalterliche Gesellschaft ist schließlich, daß die Toten den Status von Rechtssubjekten haben, also Teil der Gesellschaft sind. Ihr Rechts- und Sozialstatus ist definiert und verpflichtet die Lebenden zu sozialem Handeln im Zeichen der Memoria. Diese Auffassung der Toten gründet im Denken der Antike und ist wohl für alle vormodernen Gesellschaften kennzeichnend. Sie wird in Europa durch die Mortalität und Mobilität der spätmittelalterlichen Krisenzeit problematisiert und in der Reforma-
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tion prinzipiell in Frage gestellt, d o c h ist sie im g a n z e n erst auf G r u n d d e r f u n d a m e n t a l e n W a n d l u n g e n des 18. J h . e r l o s c h e n . Literatur Überblicke: Arno Borst, Lebensformen im MA, Frankfurt a.M./Berlin 1973. - Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgesch., Göttingen 2 1968. - Ders., Sozialgesch. Europas im MA, 1978 (KVR 1442). - Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des ma. Menschen, München 1980. Hb. der europ. Gesch., Stuttgart, 11976. - Hb. der europ. Sozial- und Wirtschaftsgesch., Stuttgart, II 1980. - Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgesch., 2 Bde., Reinbek 1972/73 (rororo-Studium 8/9). Pierre Michaud-Quantin, Universitas, 1970 (EEMA 13). - MAforschung, Berlin 1981 (Forschung u. Information 29). - Karl Schmid, Über das Verhältnis von Person u. Gemeinschaft im früheren MA: FMSt 1 (1967) 225-249. - Ders./Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas, Berlin/New York 1975. Walter Ullmann, Individuum u. 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Anhang 1. Register 2.2. Übersetzer 5. C o r r i g e n d a
1.1. Bibelstellen 1.2. N a m e n / O r t e / S a c h e n 2. M i t a r b e i t e r 2.1. Autoren 2.3. Registerbearbeiter 3. Karten 4. Artikel- und Verweisstichwörter
1. Register 1.1.
Bibelstellen
(bearbeitet von H a n n e l o r e Hollstein) Es werden n u r die Bibelstellen a u f g e f ü h r t , zu denen sich im Text n ä h e r e A u s f ü h r u n g e n finden. Z u r Vororientierung wird z u n ä c h s t der Artikel g e n a n n t , in d e m die registrierte Bibelstelle vork o m m t . - N a c h der Seitenangabe wird (durch K o m m a getrennt) in der Regel die Zeile g e n a n n t , in welcher eine Bibelstelle v o r k o m m t b z w . ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen. 1,2 2-11 2,4b-8,21 2,7 9,21-50 11,10-32 12,1-3 14,18-20 15,6 17,10-14 18,18-33 18,19 25,22 28 28,20-22 30,6 30,11 41,33.38f 43,14 1 - N u m 16 1,1-7 1,11 14; 15 15,21 15,21 18,20 19-24; 32-34 20,2 22,6 ff
Geist Gericht Gottes Geschichte Geist Geschichte Geschichte Israels Geschichte Israels Geschichte Israels Gerechtigkeit Geschichte Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gebet Gelübde Gebet Gericht Gottes Gad Geist Gebet Geschichte Geschichte Israels Geschichte Israels Geschichte Israels Gebet Geschichte Gerechtigkeit Geschichte Israels Geschichte Gericht Gottes
23,1-3.6-8
172,17.22 461,25 575,12 172,6.39; 198,31 575,19
Lev Num Dtn
701,33
8,13f 9,4-6
703,19 703,8
11,13-21 ll,29f
405,55; 413,15 586,48
2 3 , 2 0 - 21 24,13
408,50
24,15 26,5-11 26,5
405,49 36,39 303,6 37,39 460,40 4,37 170,45 37,5 575,33
25,23f 25,35-37 6,1-21 2 0 - J o s 12 4,37-39 6,4-9 6,25
32 32,4 Jos
24
jdc
703,54
3,10 5
704,41
10,6-12,7
705,28 38,14 573,37 412,35 705,45 573,40 464,20
11,30-39 15,19 I Sam 1 8,14 10,6ff 24,20 30,6 II Sam (7) 9 - 2 0 15,4
Gerechtigkeit Gesellschaft Geld Gelübde Geschichte Geschichte Gebet Gerechtigkeit Geld Gerechtigkeit Gebet Garizim u. Ebal Geld Gerechtigkeit Geld Geschichte Geschichte Israels Gericht Gottes Gerechtigkeit Geschichte Israels Geist Geschichte Israels Geschichte Israels Gelübde Geist Gelübde Gesellschaft Geist Gebet Gebet Geschichte Gerechtigkeit
405,26 759,7 279,42 306,21 575,50 574,4 43,33 405,34 279,53 405,39 43,33 28,14 284,27 405,34 280,18 574,14 702,46 463,27 409,10 708,22 721,44 171,22 708,36 708,53 303,2 170,26 303,6 758,39 171,32 37,17 37,24 577,21 406,7
782
Bibelstellen 18,19.31
24,10.17 I Reg 3 8,32 12 21 II Reg 22: 23 23,29 Jes
2,4 5,23 7,1-17 11,2 11,4 40,7 43,8-15 43,9.26 43,18 45,8 55,8.9 55,11 56,1
Jer
61,1 65,11 2,5 ff 20,12 20,14-18 22,13-16 40; 41 51,10
Ez
3,20 11,5 18,5.19. 21.27 33,12f
Hos
37,5 10,12
Joel Hab
3,1 f 2,4
Gericht Gottes Gebet Gericht Gottes Gerechtigkeit Geschichte Israels Geschichte Israels Geschichte Israels Geschichte Israels Gericht Gottes Gerechtigkeit Geschichte Israels Geist Gerechtigkeit Geist Gericht Gottes Gerechtigkeit Geschichte Gerechtigkeit Gericht Gottes Gemeinde Gerechtigkeit Geist Gad Geschichte Gerechtigkeit Gebet Gerechtigkeit Gedalja Gerechtigkeit Gerechtigkeit Geist Gerechtigkeit Gerechtigkeit Geist Gerechtigkeit Geist Gerechtigkeit
461,9 37,30
Ps
7,7.9.12 82,3 86,15 106,31
461,17 406,12; 409,4
112,9 119,121
715,22 719,36
143,2
723,9
149,5 ff
718,3
1,21 12,4
464,49
14,14 17,9
406,28 717,20 172,27; 178,49; 206,20
20,22-29 27,3 33,4 1,3
406,34 171,8
11,4-6.19
462,52
20,25 3,16
407,15 587,51
3,17
407,20
7,16
494,9 320,43
8,14
407,17 178,36 3,44; 4,39 578,35
2,44 7,9ff
406,45 36,2.40
12,2
7,26 f
2
406,42; 407,3 138,28
9,15
406,49
5,lff 7
407,11 170,38
8
407,10 407,12 172,39 406,37 172,45 406,53; 413,28; 417,37
7,70 äthHen
50-56 62 1,15
Mt
3,7
Gericht Gottes Gerechtigkeit Geduld Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gericht Gottes Gebet Gerechtigkeit Geduld Gerechtigkeit Gericht Gottes Geist Geist Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gelübde Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Geschichte Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes Geschichte Israels Gerechtigkeit Gesellschaft Geschichte Israels Geschichte Israels Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes Gerechtigkeit Gericht Gottes
464,38 408,21 140,26 408,26 429,7 408,25; 409,49 408,24 465,12 35,48 408,5 141,24 408,4 465,2 171,13 172,15 407,40 407,42 304,31 408,10 408,16 408,14 408,15 567,30 465,30 465,23 465,26 723,24; 725,6.16 409,7 759,42 723,24; 725,6.16 726,6 466,40 466,48 466,54 429,4 469,16
Bibelstellen 3,15 5,6.10 5,18f 5,20 5,33 5,37 5,43-48 5,44 6,7 6,7-15 6,14f 6,24 6,33 18,16f 18,20 18,23-35 24 f 25,14-30 25,37-39 28,16-20 1,8 1,15 3,7.8-30 7,9-13 8,38 9,29 10,15 11,25 12,29-31 13 14,32-42 1,6 4,18f.21 4,21 10,25-37 11,13 11,13 12,10 12,16-20 16,9 16,9-11 16,19ff 18,7 18,9-14 19,46 21 21,19 23,39ff
Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gebot Gerechtigkeit Gelübde Gelübde Gefangenen fürsorge Gebet Gebet Gebet Gebet Geld Gerechtigkeit Gerichtsbarkeit Gebet Geduld Gericht Gottes Geld Gefangenen fürsorge Geschichte Geist Gericht Gottes Geist Gelübde Gericht Gottes Gebet Gericht Gottes Gebet Gebot Gericht Gottes Gebet Gerechtigkeit Geist Geschichte Gebot Gebet Geist Geist Gericht Gottes Geld Geld Gericht Gottes Geduld Gericht Gottes Gebet Gericht Gottes Geduld Gansfort
783 23,47
415,38 415,20 125,18
Joh
415,21 305,8 316,23
24,2527.44-47 l,lf/20,28f 1,14b 3,5 3,17f 3,36
144,49 53,18; 57,20 58,15 55,51 52,43 281,37.51
5,22-24 5,22.27 5,24
415,20
6,37
497,37 90,43; 91,11 140,39; 141,14
8,1-11 9,lff 9,39
479,7 282,6
10,18 11,41 12,3f
144,49 597,24 178,19 469,38 185,44 306,15 470,32 51,22 470,17 52,39 125,3
Act
479,6 58,32 415,41 181,7 598,15 125,24 50,21 181,21 186,2.6 470,20 281,52 286,27
Rom
13,34 14,15ff 14.16 14,17 14,26 16,26f 17,9-26 20,30 2 2,33 2,44-47 5 6,7 7,51 8,26 8,39f 10,44-48 11,28-30 13,1-3 16,9 17,31 18,18 19,1-7 20,28 l,3f 1,17
486,45 140,36 470,25 53,46 479,7 143,3 27,11
1,18-32 2,1-3,20 2,5-11
Gerechtigkeit Geist Geschichte Geschichte Geist Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes Gefangenen fürsorge Gericht Gottes Gericht Gottes Gebot Gebet Gericht Gottes Gebot Gebot Geist Geist Geist Gebet Gebet Gansfort Geist Geist Geld Geist Gemeinde Geist Gaza Geist Geist Geld Geist Gemeinde Gerechtigkeit Gelübde Geist Gemeinde Geist Gerechtigkeit Gericht Gottes Gericht Gottes Gericht Gottes
415,44 181,7 598,53 599,11 193,3 491,27 482,5.9.25 487,23 481,50 482,5.26 490,27 144,53 494,4 481,54; 482,10 127,1.4.7 49,49 482,31 127,10 127,8.14 188,20.23.53 193,6 193,21 56,13 54,55 27,24 183,45ff 193,14 281,30 185,47 319,3 183,16 29,26 179,44 184,43 282,3 179,35 333,46 439,19 305,8; 306,22 185,31 319,9 179,17 430,7; 432,31.52; 433,7.17; 435,17 471,21.44 471,45 476,22
784
Bibelstellen 3,21 3,(24) 25.26a 5,lf.8ff 5,5 5,5 6,4 6 , 1 6 ff 7,7-13 7,24f 8,11 8,12ff 8,23 8,26 8,26f 8,26-28 8,26-27 8,26.34 8,27.34 9-11 10,3f 10,3-6 10,14a.b 12,12 13,8-10 13,9 15,5 1,25 1,26-31 3,12-15 3,13-15 4,3 f 5,1-5 6,1-5 6,19 7 7,9 10,16f 11-14 11,5 11,27-30 12-14 12f 12,lff.27ff 12,3 12,12-27 12,13 13,4 14 14 14
Gerechtigkeit 430,7 Gerechtigkeit 416,15 Gericht Gottes 477,28 Geist 202,6; 205,22 Gerechtigkeit 430,34 Gebot 128,10 Gehorsam 150,43 Gebot 125,40 Gericht 496,19 Gottes Geist 189,47 Geist 195,11 Gemeinde 334,33 Gebet 96,42 181,17 Geist Gebet 55,46 Gebet 50,26 88,32 Gebet Geist 188,23 Geschichte 6 0 1 , 4 5 Gerechtigkeit 430,7 Gerechtigkeit 417,36 Gebet 100,11 Gebet 97,10 Gerechtigkeit 418,11 Gebot 124,46 Geduld 141,28 Geschichte 5 9 9 , 4 5 ; 600,7 Gesellschaft 7 6 7 , 3 4 Gericht Gottes 476,8 Gericht 487,1 Gottes Gerichtsbar keit 497,39 Gericht Gottes 478,15 Gerichtsbar keit 497,46 Geist 224,7 Gelübde 306,27 Gelübde 310,33 Gemeinde 318,29 Gemeinde 318,40 Gebot 137,12 Gericht Gottes 478,18 Geist 191,18ff 331,34 Gemeinde Gerichtsbar keit 497,48 Geist 179,38 Gesellschaft 7 6 8 , 1 1 Gesellschaft 7 6 7 , 7 Geduld 141,16 Geist 183,44ff Gemeinde 322,46 Gemeinschafts356,36 bewegung
14,13-15 15 15,3-5 15,35ff 15,51-54 16,22 II K o r 1,20 2 , 1 4 ff 3 3,6 4,7ff 5,9f 5,16 5,18 9,9f Gal
l,10ff l,15f 2,1-10 2,llff 2,16 3,10 3,19 3,19f 3,29 5,3 5,3f 5,14 5,14 5,14 5,16ff 6,12
Eph
4,24
Phil
5,4-6,9 3,9
I Thess l , 9 f
5,17 5,21 IIThess 2,1-12 I Tim 4,4f 5,12 6,9f 2,1 l f Tit
Gebet 50,35 Geschichte 5 9 9 , 3 8 Geschichte 5 9 6 , 3 1 Geist 231,31 Geist 190,9 Gericht Gottes 472,12 Gemeinde 332,31 Gericht Gottes 478,21 191,4 Geist Geist 227,51 Geschichte 5 9 9 , 5 1 Gericht Gottes 477,38 Geschichte 599,28 Gemeinde 331,43 Gerechtigkeit 417,23.28 Galater6,47 brief Geist 181,51 Galaterbrief 9,29 Galaterbrief 10,16; 12,25 Galaterbrief 8,25 Gebot 126,12 Galater8,26.32.41.52 brief Galaterbrief 8,38 Gemeinde 318,47 Galaterbrief 6 , 4 5 ; 8,31 Galaterbrief 9,2 Galaterbrief 9,1.5 Gebot 124,46 Gerechtigkeit 418,11 Galaterbrief 8,10 Galaterbrief 6,45; 7,55 Gerechtig- 4 3 7 , 1 5 . 3 7 ; 440,12 keit Gesellschaft 7 6 7 , 1 1 . 1 8 Gerechtigkeit 417,36.47 Gericht Gottes
Gebet Geld
471,19.27.42; 473,21; 476,38.47; 481,30 63,48 282,9
Geschichte 602,41 Gebet 52,10; 80,20 Gelübde 306,39 Gesell schaft 7 6 7 , 2 4 Gerechtig441,44 keit
785
Namen/Orte/Sachen Hebr Jak
11,1316.39F 12,2f 2,8 2,15f
5,12 5,16 I Petr 4 , 7 - 9
1.2.
Geschichte
601,10
Geduld Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gelübde Gebet Gebet
141,31 418,48 418,46 316,23 54,56 54,39
I Joh Apk
4,10 4,1 4,19 5,9 8,3 14,6f 22 22,17
Gemeinde Geist Gebot Gesangbuch Gebet Geschichte Gericht Gottes Geist
327,41 232,9 127,17.19 561,52 53,4 638,44 472,21 188,54
Namen/Orte/Sachen
(bearbeitet von Klaus Breuer/Michael Wolter) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. - Fettdruck von Registerwörtern und Seitenzahlen weisen auf einen eigenen Artikel hin. — Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das registrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. Mit /fist ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. - Sammelregistrierungen sind vorgenommen für: Agenden, Klöster und Stifte, Päpste, Synoden, Universitäten. Die gesuchten Agenden, Klöster usw. findet man bei diesen Registerwörtern nach alphabetischer Ordnung. Abaelard: Geist 204,43 f; Gerechtigkeit 425,54; 430,22 ff Abba: Gebet 49,25ff Abbo v. Fleury: Geschichte 615,13 f Abendgebet: s. Tageszeitgebet Abendmahl: Geist 189,37f Abendmahlsgebete: Gebet 77,37ff Abgaben: Geld 295,30ff Abimelech: Gesch. Israels 710,15; 711,4 Ablaßgebete: Gebetbücher 108,1 Abraham: Gerechtigkeit 413,14ff; Gesch. Israels 701,50 f Absolute, das: Geist 251,9 ff Acacius v. Konstantinopel/Acacianisches Schisma: Gelasius I. 273,39ff Achsenzeit: Geschichte 568,2 Adam von Bremen: Geschichte 616,50f Adel: Gesellschaft 777,18 ff Adelsethik: Geschichte 614,50 f Adiaphora: Gebot 128,39ff; 132,26ff Adiaphoristischer Streit: Gebot 132,37 ff Ado v. Vienne: Geschichte 613,13 Adorno, Theodor W.: Geschichte 655,21 f Ägypten: Geschichte 566,24ff; 570,32ff; Gesch. Israels 699,46ff Älteste: Genf 370,3 ff Aeneas v. Gaza: Gaza 30,19 f Agenden: Book of Common Prayer: Gelübde 314,25 Agricola, Johann: Gebot 131,6 Aktivitätstheorie: Gerontologie 526,33 f Alanus ab Insulis: Gerechtigkeit 426,23 Albert d.Gr.: Gerechtigkeit 427,12ff Albert v. Stade: Geschichte 621,12ff Alexander Halesius: Geist 205,35 ff Alexander Jannaios: Gesch. Israels 733,31 ff
Alkuin: Gerechtigkeit 425,31 ff Allegorie: Geisteswiss. 259,25 ff Allgemeines Kirchengebet: Gebet 72,4ff Alltagsgebete: Gebet 36,26 ff; 48,40 ff Almosen: Gebet 54,19ff Altenhilfe: Gerontologie 529,47 ff Alter: Gerontologie 524,21 ff Altersheim: Gerontologie 528,44f Althamer, Andreas: Gebet 73,44 Althaus, Paul: Geschichte 662,6f Altkatholizismus: Gerichtsbarkeit 502,44 f Amalekiter: Gesch. Israels 713,23 Amarna-Briefe: Gesch. Israels 700,22 ff Ambrosiaster: Gerechtigkeit 423,29 ff Ambrosius: Gefangenenfürsorge 145,15; Gerechtigkeit 423,15 ff; Gericht 486,53 Ammon und Israel: Gesch. Israels 7 1 3 , 2 2 f Amoriter: Gesch. Israels 700,4 Amphiktyonie: Gesch. Israels 707,29ff Amram Gaon: Gebetbücher 103,46ff Amt/Ämter/Amtsverständnis: Geist 171,20ff; 175,7f; 176,28 f; 192,44ff; 199,3ff; 223,5ff; 241,3 ff; Gemeinde 331,40 ff Anamnese: Gebet 99,27 ff Anaxagoras: Geist 244,32 ff Anbetung: Gebet 32,16 f; 96,42 ff Andachtsbilder: Gebetbücher 107,13 Andreas v. Bergamo: Geschichte 614,15 Annalistik: Geschichte 612,42ff Anselm v. Canterbury: Gebetbücher 106,40; Geist 204,38 f Antichrist: Geschichte 632,8 ff Antinomistischer Streit: Gebot 131,5 ff Antiochien: Georgien 392,9 f Antiochus IV.: Gesch. Israels 728,26.30ff; 730,32 ff
786
Namen/Orte/Sachen
Antwort: Gebet 96,42 ff Apokalypse des Johannes: Gerechtigkeit 419,13 f; Gericht 479,58 ff; Geschichte 602,46 ff Apokalyptik: Gericht 465,15 ff; 466,46 ff; Geschichte 582,35 ff; Gesellschaft 760,27 ff Apokrisiar: Gesandtschaftswesen 541,257ff Apologetik: Gerechtigkeit 421,3ff; Gericht 483,45 ff Apostelkonzil: Galaterbrief 9,24 ff Arendt, Hannah: Gelübde 312,44f Arianismus: Germanenmission 507,19 ff Aristobul I.: Gesch. Israels 733,24 f Aristobul II.: Gesch. Israels 734,10ff Aristoteles: Galilei 15,35 ff; Geduld 140,2; Geist 245,31 ff; Gerechtigkeit 427,1 ff; 433,38; 441,3 ff; 445,13 f; Gesellschaft 741,37; 764,31 ff Armenfürsorge: Gerechtigkeit 412,15 ff Armenien: Georgien 391,3 f Armut: Gesellschaft 778,22 ff Arndt, Ernst Moritz: Gesangbuch 556,54 Arndt, Johann: Gemeinde 322,35 Arnold, Gottfried: Geschichte 633,32 ff ars moriendi: Gebetbücher 110,27 ff Aschkenasim: Gemeinde 335,46 Asklepas v. G a z a : G a z a 29,42f Assyrien u. Israel: Gesch. Israels 716,14ff Astronomie: Galilei 15,27 ff Athalja: Gesch. Israels 716,38ff Athanasius v. Alexandrien: Geist 199,52ff; Gerechtigkeit 422,22 ff Atheismus: Gehorsam 149,6 Auferstehung: Geist 231,30 ff; Gericht 483,52 f; (Jesu-.) Geist 179,16 ff; Geschichte 596,11 f Aufklärung: Gesangbuch 554,57 ff; Geschichte 635,43 Augsburger Bekenntnis: Geist 210,1 ff Augustin: Gansfort 26,43; Gefangenenfürsorge 145,19; Gehorsam 150,46; Geist 201,45 ff; 220,40f; Geld 283,19; Gelübde 307,14ff; Gerechtigkeit 423,37ff; Gericht 487,12ff; Geschichte 608,21 ff; 630,26 f; Gesellschaft 772,20ff Autonomie: Gehorsam 149,3 f Autorität: Gehorsam 149,15 f; 156,3 f; Gelasius I. 274,22ff; Gesellschaft 743,10ff Ave Maria: Gebet 69,27 Babstsches Gesangbuch: Gesangbuch 550,1 f Babylonisch-assyrische Religion: Geschichte 570,54 ff Babylonische Gefangenschaft: Gesch. Israels 723,17ff; s . a . Exil Baetke, Walter: Germanisierung des Christentums 523,12 Bann (jüd.): Gemeinde 338,6ff; 339,16f Barmherzigkeit: Gerechtigkeit 413,10 ff; 429,27 f
Barock: Gerhardt, P. 454,42 ff Baron, Salo W.: Geschichte 593,24ff Baronius, Caesar: Geschichte 632,47f Barth, Karl: Gebet 96,42ff; Gebot 131,52ff; 134,18; Gehorsam 153,31 ff; Geist 220,48 ff; Gemeinde 325,11 f; Gemeinschaft 353,27ff; Gerechtigkeit 438,37 ff; Geschichte 661,35 f; 664,3 f Basilius v. Caesarea: Geist 200,41 ff; Gericht 485.43 Basisgemeinden: Gemeinde 326,45 ff Basnage, Jacques: Geschichte 589,51 Bauerntum: Gesellschaft 777,31 ff Baur, Ferdinand Christian: Galaterbrief 12,7ff Bayle, Pierre: Geschichte 635,11 f Beatus Rhenanus: Geschichte 624,59 f Beck, Johann Tobias: Geschichte 660,37 f Beda Venerabiiis: Geschichte 611,51 ff Bedürfnis: Gesellschaft 749,41 ff Beichtbücher: Gebetbücher 110,45 ff Beichtgebete: Gebet 79,1 ff Bekenntnisverpflichtung: Gelübde 314,36 ff Bellarmini, Roberto: Gerechtigkeit 437,35 Benediktionen: Gebet 43,44ff Benediktusregel: Gehorsam 151,8 f Benjamin (Stamm): Gesch. Israels 708,14.17f; 710,29 Berneuchener Buch: Gebet 97,34 f Bernhard v. Clairvaux: Geist 204,53 ff Beschneidung: Galaterbrief 6,44ff; 8,29ff; Geist 182,46ff; 190,38ff; Geschichte 586.44 ff Beschwörung: Gebet 32,14f Bestattungsgebete: Gebet 82,29 ff Beza, T h e o d o r : Genf 369,40; 371,34 Bibel: Geist 228,23 ff Bibelwissenschaft: Galilei 16,16f Biblische Theologie: Gabler 1,34 ff Biel, Gabriel: Geld 285,4ff Bilder: German. Religion 520,24 f Bildung (jüd.): Gemeinde 336,31 ff Billigkeit: Gerechtigkeit 442,43 Biographie: Geschichte 610,53ff; 612,10; 613,35 ff Bischof: Gerichtsbarkeit 498,6 f Bittgebete: Gebet 36,49 ff Bloch, Ernst: Geduld 143,19 Blumhardt, Christoph: Geist 240,2 ff Blumhardt, Johann Christoph: Geist 240,1 f Blut: Gebet 53,16ff Bodin, Jean: Geschichte 633,51; 658,32 Boehmer, Heinrich: Germanisierung des Christentums 521,45 Bolingbroke, Henry Saint-John: Geschichte 635,25f Bonaventura: Gericht 488,36ff Bonhoeffer, Dietrich: Gebet 91,36 f; Gemeinde 325,13; Gemeinschaft 353,12f Bonizo v. Sutri: Geschichte 617,36f
Namen/Orte/Sachen Bonus, Arthur: Germanisierung des Christentums 5 2 1 , 4 0 B o o k o f C e r n e : G e b e t b ü c h e r 106,1 Bossuet, J a c q u e s - B é n i g n e : Gallikanismus 19,45; G e s c h i c h t e 6 3 3 , 3 ; 6 3 6 , 6 B r a k t e a t e n : G e r m a n . Religion 5 1 8 , 1 2 f Bruderschaften: Gesellschaft 7 7 6 , 3 7 f f Brüder vom gemeinsamen Leben: G a n s f o r t 26,1 Brüderunität/Brüdergemeine: G e b e t b ü c h e r 117,39ff; Gemeinde 323,2ff Brunet, J e a n Louis: Gallikanismus 1 8 , 4 4 f Bruni, L e o n a r d i : Geschichte 6 2 2 , 5 0 ff Bruno I. v. K ö l n : G e s c h i c h t e 6 1 5 , 3 0 f Brunner, E m i l : Gerechtigkeit 4 4 2 , 1 6 f f Bucer, M a r t i n : Geist 2 1 1 , 3 3 ff Buddhismus: G e l ü b d e 3 0 1 , 5 2 f f Bürgertum: Gesellschaft 7 7 8 , 1 5 f Bullinger, Heinrich: Geist 2 1 1 , 4 1 f B u l t m a n n , R u d o l f : Geschichte 6 6 4 , 1 4 f f ; 6 6 6 , 6 ff Bund: G e h o r s a m 150,21 B u r c k h a r d t , J a c o b : G e s c h i c h t e 6 5 2 , 5 3 ff Burgunder: G e r m a n e n m i s s i o n 5 0 8 , 3 0 . 4 6 f f ; 510,3 f Buße: G a n s f o r t 2 7 , 1 8 ; Gefangenenfürsorge 1 4 5 , 3 3 f f ; Geißler 1 6 6 , 2 0 f f ; Germanisierung des Christentums 5 2 2 , 5 9 ff Calvin, J o h a n n e s : G e b e t 7 7 , 1 5 f; G e h o r s a m 1 5 2 , l O f ; Geist 2 1 1 , 4 7 f f ; Geld 2 8 7 , 4 6 f f ; Gelübde 3 1 1 , 4 0 ff; Gemeinde 3 2 1 , 4 4 ff; G e n f 3 6 8 , 4 6 ff; Gerechtigkeit 4 3 5 , 1 6 ; G e r i c h t 4 9 1 , 3 5 ff; Gerichtsbarkeit 4 9 9 , 6 ; Gesangbuch 5 5 0 , 4 0 C a p s a l i , Elijahu: G e s c h i c h t e 5 8 8 , 4 2 f C a r p o v , J a c o b : Gerechtigkeit 4 3 8 , 1 5 Cassianus, J o h a n n e s : G e b e t 6 4 , 5 0 f C a s s i o d o r : G e s c h i c h t e 6 0 9 , 2 7 ff Cellarius, Christoph: G e s c h i c h t e 6 3 4 , 4 8 Chancengleichheit: Gesellschaft 7 5 2 , 2 1 ff Chapiru: G e s c h . Israels 7 0 0 , 2 6 f f C h a r i s m a / C h a r i s m e n : Geist 1 7 1 , 2 0 f f ; 175,50ff; 176,24ff; 191,18ff; 227,3ff; Gemeinde 3 3 3 , 7 f Christenverfolgungen: Gefangenenfürsorge 145,2; Geist 1 8 2 , 1 2 f f Chronistisches G e s c h i c h t s w e r k : G e s c h i c h t e 581,10ff C h r o n o l o g i e : Geschichte 5 7 6 , 2 0 f ; 6 1 2 , 5 . 1 0 C i b o r i u m : G e r ä t e , liturg. 4 0 0 , 1 1 f; 4 0 3 , 2 0 C i c e r o : Gerechtigkeit 4 2 5 , 1 3 . 2 3 f Clemens v. Alexandrien: G e b e t 6 1 , 4 1 f; 6 3 , 3 6 f f ; Geist 1 9 8 , 2 0 f ; Gerechtigkeit 421,33ff; Gericht 485,2ff; Geschichte 6 0 6 , 2 5 ff Clemens v. R o m : G e b e t 6 0 , 3 2 f Codagnellus, J o h a n n e s : G e s c h i c h t e 6 2 1 , 2 0 . 3 1 ff
787
C o h e n , H e r m a n n : Geist 177,31 ff C o n d o r c e t , J e a n - A n t o i n e : Geschichte 6 3 7 , 4 4 f C o r p o r a l e : G e r ä t e , liturg. 4 0 3 , 5 1 Crespin, J e a n : G e s c h i c h t e 6 3 2 , 3 5 Crossfigel: G e b e t 6 7 , 1 1 Crüger, J o h a n n : G e s a n g b u c h 5 5 2 , 5 3 f Cubach, Michael: Gebetbücher 115,35ff Custodie: G e r ä t e , liturg. 4 0 1 , 2 5 Cyprian v. K a r t h a g o : G e b e t 6 1 , 4 8 ; 6 4 , 4 0 f; G e f a n g e n e n f ü r s o r g e 145,12; Gerechtigkeit 4 2 2 , 4 8 f ; Gericht 486,20ff D ä m o n e n : G e b e t 5 1 , 2 0 f ; Geister 2 5 4 , 2 8 f f ; G e r m a n i s c h e Religion 5 1 6 , 5 0 f f Dänemark: Gemeinde 3 2 4 , 6 f D a h l m a n n , Friedrich Christoph: Geschichte 652,4 Dan (Stamm): Gesch. Israels 7 0 8 , 2 9 f Danklied: G e b e t 3 9 , 9 f D a n t o , Arthur C.: Geisteswiss. 2 6 9 , 4 8 ff David: G e s c h . Israels 7 1 3 , 3 9 f f ; 7 1 4 , 1 1 ff D e b o r a / D e b o r a l i e d : G e s c h . Israels 7 0 8 , 3 6 f f D e c r e t u m G e l a s i a n u m : Gelasius I. 275,1 ff Deismus: G e s c h i c h t e 6 3 6 , 2 8 D e u t e r o j e s a j a : Gerechtigkeit 4 0 7 , 1 4 ff; G e r i c h t 4 6 2 , 5 0 ff Deuteronomistisches Geschichtswerk: Gerechtigkeit 4 0 6 , 4 ff; G e r i c h t 4 6 3 , 4 ff; G e schichte 5 7 9 , 2 1 ff Deutsche Christen: Gemeinschaftsbewegung 363,34 Deutscher Evangelischer Gemeindetag: G e meinde 3 2 4 , 2 9 Deutschland: G e s c h i c h t e 6 2 4 , 2 9 ff devotio (Aufopferung): G e l ü b d e 3 0 1 , 3 7 f Devotio moderna: Gansfort 26,42 Diadochenkriege: G e s c h . Israels 7 2 7 , 1 1 ff D i a k o n : G e n f 3 7 0 , 3 1 ff D i a k o n i s c h e s G e b e t : G e b e t 7 3 , 3 5 ff Dialektische T h e o l o g i e : G e m e i n d e 3 2 5 , 2 ff Diaspora (jüd.): G e m e i n d e 3 3 6 , 2 1 ff; G e schichte 5 8 7 , 1 6 ff Didache: G e b e t 6 0 , 2 7 f Didaktik (der Kirchengeschichte): G e s c h i c h t e 6 7 7 , 4 9 ff Didymus v. Alexandrien: G e r i c h t 4 8 2 , 6 Dieffenbach, G e o r g Christian: G e b e t b ü c h e r 119,lf Dienst: G e h o r s a m 1 5 5 , 3 4 f f Dietrich, Veit: G e b e t 7 6 , 7 f Dilthey, W i l h e l m : Geisteswiss. 2 6 5 , 6 ff; 267,50ff; Geschichte 653,22 Disengagementtheorie: G e r o n t o l o g i e 5 2 6 , 3 8 f D o g m a t i k : Gerechtigkeit 4 3 9 , 1 3 ff D o r f : Gesellschaft 7 7 5 , 1 9 f f Doxologie: Gebet 62,50ff; 90,16f; 92,48ff D r a m a : Geisteswiss. 2 6 4 , 2 1 f D r o y s e n , J o h a n n Gustav: G e s c h i c h t e 6 5 2 , 2 0 f Dubnow, Simon: Geschichte 593,6ff
788
Namen/Orte/Sachen
D u d o v. St. Q u e n t i n : G e s c h i c h t e 6 1 8 , 3 f Duns Scotus: Geist 2 0 6 , 3 5 ff D u p u y , Pierre: Gallikanismus 18,41 f D u r a - E u r o p o s : G a d 4,3 f E b a l : s. Garizim u. E b a l Ebeling, G e r h a r d : G e b e t 85,31 f; 8 8 , 4 f ; Gericht 4 9 5 , 5 0 f E c h n a t o n : Gelübde 3 0 2 , 7 f f E c k h a r t : Gerechtigkeit 4 2 9 , 3 3 ff Ehelosigkeit: G e l ü b d e 3 0 6 , 3 0 f.51 Eigenkirchenwesen: Germanisierung des Christentums 5 2 2 , 4 9 f Eigentum: Gesellschaft 7 5 0 , 1 ff Eigenwertlehre: Geschichte 6 9 1 , 1 7 f f E i n h a r d : Geschichte 6 1 3 , 4 0 f Einkommensverteilung: Gesellschaft 7 4 8 , 3 8 f f Eisenacher Kirchenkonferenz: G e s a n g b u c h 557,51 f Ekstase: G e b e t 5 0 , 6 f Ektenie: G e b e t 7 3 , 3 2 Elephantine-Papyri: G e s c h . Israels 7 2 6 , 1 9 f f Eiert, Werner: G e b o t 1 3 1 , 4 4 f f ; G e h o r s a m 154,6 f Elia: Gesch. Israels 7 1 5 , 4 9 f Elohist: Gelübde 3 0 3 , 5 1 f E m a n z i p a t i o n : G e h o r s a m 149,3 E m b l e m / E m b l e m a t i k : Geduld 142,38 f Engel: G e b e t 5 3 , 8 f Enthusiasmus: Geist 1 8 4 , 3 6 f f ; 2 0 7 , 3 2 f f Entsagungsgelübde: G e l ü b d e 3 0 3 , 7 f; 3 0 5 , 4 8 f Entwicklung: G e s c h i c h t e 6 9 1 , 4 7 ff Epiklese: G e b e t 101,7 ff Èpiphanie: G e b e t 3 2 , 3 6 ff; 5 0 , 1 1 f E r a s m u s , Desiderius: G a n s f o r t 2 7 , 3 5 Erbauung: Gemeinschaftsbewegung 3 5 5 , 4 5 Erbauungsliteratur: G e r h a r d t , P. 4 5 4 , 5 2 ; Gertrud 5 3 9 , 9 ff E r c h e m b e r t v. M o n t e Cassino: G e s c h i c h t e 614,15 E r d m a n n , J o h a n n Eduard: G e s c h i c h t e 6 4 8 , 1 Erfahrung: G e r i c h t G o t t e s 4 9 5 , 1 7 f f ; G e s c h i c h te 6 7 5 , 7 Erkenntnis: Geist 2 5 0 , 2 ff Erwählung: G e s c h i c h t e 5 8 6 , 5 2 ff Erweckungsbewegungen: G e m e i n s c h a f t s b e w e gung 3 5 6 , 4 7 ff Erzählung: G e s c h i c h t e 6 7 5 , 4 5 Eschatologie: G e b e t 9 1 , 3 5 ff; Geist 2 0 7 , 2 1 ff; 2 2 1 . 1 4 f; 2 3 0 , 2 5 ff; G e r h a r d , J . 4 5 1 , 3 0 ; Geschichte 6 0 2 , 2 7 ff; 6 6 9 , 2 f Esra/Esraschriften: G e s c h . Israels 7 2 5 , 5 2 f f E s t h e r / E s t h e r b u c h : Gesellschaft 7 6 0 , 3 9 f Ethik: Geist 1 8 6 , 3 2 f f ; 1 9 0 , 1 7 f f ; 2 3 1 , 4 2 f f ; Geld 2 7 8 , 4 7 ff; G e m e i n s c h a f t 3 4 6 , 3 8 ff; Gerechtigkeit 4 1 7 , 4 9 f f ; G e r h a r d , J . 4 5 1 , 3 8 f f ; G e r i c h t 4 9 2 , 4 1 ff; G e s c h i c h t e 6 4 6 , 4 7 f Etruskische Religion: G e s c h i c h t e 5 6 7 , 2 1 ; 569.15
Eusebius v. Caesarea: Gerechtigkeit 4 2 2 , 1 5 ff; Geschichte 6 0 6 , 5 2 f f ; 6 0 8 , 5 1 ff; Gesellschaft 7 7 1 , 2 9 ff Evagrius Ponticus: G e b e t 6 4 , 1 2 f f Evangelisation: Gemeinschaftsbewegung 355,45; 357,25 Evangelische Allianz: Gemeinschaftsbewegung 3 6 1 , 2 0 ff Evangelische Kirche in Deutschland: Gerichtsbarkeit 5 0 0 , 1 9 f f Evangelische Kirche der Union: G e r i c h t s b a r keit 4 9 9 , 4 3 ff Evangelisches Kirchengesangbuch: Gesangbuch 5 5 8 , 4 8 ff Evolutionismus: Geschichte 6 9 1 , 5 2 f Exil: G e s c h . Israels 7 2 3 , 1 7 f f ; Gesellschaft 759,13ff E x o d u s m o t i v : Geschichte 5 7 3 , 3 0 f f ; Gesch. Israels 7 0 5 , 2 1 ff Ezechiel: Gerechtigkeit 4 0 7 , 5 ff Fakultäten, Philosophische: Geisteswiss. 2 5 9 , 5 2 ff Familie: Gesellschaft 7 7 5 , 4 2 ff Fasani, R a n i e r o : Geißler 162,35 ff Fasten/Fasttage: G e b e t 5 4 , 1 9 ff Febronius: Gesandtschaftswesen 5 4 5 , 1 Felszeichnungen: G e r m a n . Religion 5 1 1 , 3 1 ff Ferrer, Vinzenz: Geißler 167,25 f Feste und Feiertage: G e b e t 4 5 , 4 1 ff; Geschichte 5 8 6 , 3 1 ff Feudalismus: Gesch. Israels 7 2 0 , 2 9 ; Gesellschaft 7 7 4 , 2 7 ff F e u e r b a c h , Ludwig: Geschichte 6 4 8 , 4 0 f Fichte, J o h a n n G o t t l i e b : G e h o r s a m 152,46; Gemeinschaft 348,15 f filioque: Geist 2 0 3 , 2 0 f f ; 2 2 1 , 3 8 f f Firmung: Geist 2 0 4 , 2 8 f Flacius, M a t t h i a s : G e b o t 132,43 ff; Gerechtigkeit 4 3 4 , 2 5 f; G e s c h i c h t e 6 3 1 , 5 2 f Flagellanten: s. Geißler Fleisch und Geist: Geist 187,15 ff Fletcher, J o s e p h : G e b o t 1 3 6 , 9 f f Fliedner, T h e o d o r : Gefangenenfürsorge 146,9 Florenz: Geschichte 6 2 2 , 4 7 ff Florilegium O x o n i e n s e : Gerechtigkeit 4 2 5 , 5 2 Fortschritt: Geschichte 6 8 9 , 4 2 f f ; 6 9 2 , 8 f F o x e , J o h n : Geschichte 6 3 2 , 3 8 F r a n c k , Sebastian: Geist 2 1 3 , 3 6 f ; Geschichte 6 3 3 , 8 ff F r a n k , Franz H e r m a n n Reinhold: Gelübde 312,13f Frankreich: Gallikanismus 1 7 , 2 4 f f ; Geschichte 623,17ff Franz I. von Frankreich: Gallikanismus 18,21 Französische Revolution: G e n f 3 7 2 , 4 9 ; Gesellschaft 7 5 2 , 2 1 Frau: Geist 1 8 1 , 2 9 f f Frechulf v. Lisieux: Geschichte 6 1 3 , 1 4
Namen/Orte/Sachen Freiheit: G e h o r s a m 149,30; 156,29ff; Gesells c h a f t 753,34 ff; 777,11 ff Freikirche: G e s a n g b u c h 560,46ff Freylinghausen, J o h a n n A.: G e s a n g b u c h 553,54 f Fritigern (got. Fürst): G e r m a n e n m i s s i o n 508,4 f F r ö m m i g k e i t : G e b e t b ü c h e r 116,39ff Frutolf v. Michelsberg: Geschichte 617,23 f Fürbittgebete: Gebet 37,5ff; 40,30ff; 57,16ff; 73,35 ff G a b l e r , J o h a n n Philipp: 1 - 3 G a d (Gottheit): 3 - 5 G a d a m e r , H a n s - G e o r g : Geisteswiss. 270,26.37ff; Geschichte 676,6ff Galaterbrief: 5 - 1 4 Galilei, Galileo: 1 4 - 1 7 Gallikanismus: 17-21; Gesandtschaftswesen 544,25 Gallus, N i k o l a u s : 2 1 - 2 3 Gamliel II.: 2 3 - 2 5 G a n s , David: Geschichte 589,34 ff G a n s f o r t , Wessel: 2 5 - 2 8 G a r i z i m u n d Ebal: 2 8 - 2 9 Gaza: 2 9 - 3 1 G e b e t : 3 1 - 1 0 3 ; Geist 181,15ff Gebetbücher: 103-124 G e b e t s v e r m a h n u n g : G e b e t 72,13 ff Gebot: 124-138 G e d a l j a : 1 3 8 - 1 3 9 ; Gesch. Israels 724,1 f G e d a l j a ibn J a c h j a : Gesch. 589,19 Geduld: 139-144 Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge: 144-148 G e f o l g s c h a f t s w e s e n : G e r m a n . Religion 520,43 f; G e r m a n i s i e r u n g d. C h r i s t e n t u m s 523,10ff G e h o r s a m : 1 4 8 - 1 5 7 ; G e b o t 132,8ff Geiger, A b r a h a m : 1 5 7 - 1 5 9 Geiler v o n Kaysersberg, J o h a n n e s : 1 5 9 - 1 6 2 Geißler: 1 6 2 - 1 6 9 Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben: 1 7 0 - 2 5 4 ; G e b e t 50,20ff; Geisteswiss. 267,26f; G e r m a nenmission 507,43 f Geister: 2 5 4 - 2 5 9 ; G e r m a n . Religion 516,50ff Geisteswissenschaften: 259 - 273; Geschichte 652,31 Gelasius I., P a p s t : 2 7 3 - 2 7 6 Geld: 2 7 6 - 2 9 8 Geliert, C h r i s t i a n F ü r c h t e g o t t : 2 9 8 - 3 0 0 Gelöbnis: G e l ü b d e 314,12 Gelübde: 3 0 0 - 3 1 6 ; Gebet 37,37 ff; 52,13 G e m e i n d e : 3 1 6 - 3 3 9 ; G e m e i n s c h a f t 346,50; Gesellschaft 765,28ff; 770,7ff G e m e i n n u t z / G e m e i n w o h l : 3 3 9 - 3 4 6 ; Gerechtigkeit 427,22 ff G e m e i n s c h a f t : 3 4 6 - 3 5 5 ; Gesellschaft 764,31 Gemeinschaftsbewegung: 3 5 5 - 3 6 8
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Genf: 3 6 8 - 3 7 5 G e n n a d i o s Scholarios: 3 7 5 - 3 7 6 G e n n a d i u s v o n Marseille: 3 7 6 - 3 7 8 G e o r g der A r a b e r b i s c h o f : 3 7 8 - 3 8 0 G e o r g , Heiliger: 3 8 0 - 3 8 5 G e o r g von Sachsen: 3 8 5 - 3 8 9 Georgien: 3 8 9 - 3 9 6 Gepiden: G e r m a n e n m i s s i o n 509,6.24f G e r ä t e , Liturgische: 3 9 6 - 4 0 4 Gerechtigkeit: 4 0 4 - 4 4 8 ; Geld 294,14 Gerechtigkeit G o t t e s : Gerechtigkeit 408,43 ff; 412,32ff; 416,47ff; 420,45 ff; 422,10; 423,25f G e r h a r d , J o h a n n : 4 4 8 - 4 5 3 ; Geld 287,32; Gem e i n n u t z 341,7; Gerechtigkeit 436,lOf G e r h a r d t , Paul: 453 - 4 5 7 ; G e s a n g b u c h 552,36f G e r h o c h von Reichersberg: 4 5 7 - 4 5 9 ; Geschichte 618,45 ff Gericht G o t t e s : 4 5 9 - 4 9 7 ; G e d u l d 140,27 G e r i c h t s b a r k e i t , Kirchliche: 4 9 7 - 5 0 6 G e r m a n e n : G e r m a n . Religion 510,47ff G e r m a n e n m i s s i o n , arianische: 5 0 6 - 5 1 0 G e r m a n i s c h e Religion: 5 1 0 - 5 2 1 G e r m a n i s i e r u n g des C h r i s t e n t u m s : 5 2 1 - 5 2 4 Gerontologie: 5 2 4 - 5 3 2 G e r s o n , J o h a n n e s : 5 3 2 - 5 3 8 ; Geiler 160,7f Gertrud von Helfta: 5 3 8 - 5 4 0 G e s a n d t s c h a f t s w e s e n , Päpstliches: 5 4 0 - 5 4 7 G e s a n g b u c h : 5 4 7 - 5 6 5 ; G e b e t b ü c h e r 111,29f Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie: 5 6 5 - 6 9 8 ; Geist 221,6ff; Geisteswiss. 260,38ff; 264,14ff; G e r h o c h 458.40 ff Geschichtsmächtigkeit: Geschichte 685,4ff Geschichte Israels: 6 9 8 - 7 4 0 Geschichtssymbolismus: Geschichte 619,1 ff Geschichtstheologie: Geschichte 669,26 ff Geschlecht (Generation): Gesellschaft 776,5ff Gesellschaft/Gesellschaft u n d C h r i s t e n t u m : 740-Bd. 13,39; Geld 293,36 ff; G e m e i n s c h a f t 346.41 f; 348,41; Gesch. Israels 720,24 Gesetz: G a l a t e r b r i e f 8,14ff; G e b o t 124,19ff; 131,19ff; Geist 182,42ff; 190,38ff; 231,4; Gerechtigkeit 416,32ff; 427,9ff; 442,28; Gesellschaft 746,4 ff Gesta: Geschichte 613,25 ff Gesten: G e b e t 34,51 ff Gewissen: Geist 188,32f Gideon: Gesch. Israels 710,15 Gilde: Gesellschaft 776,43 ff G l a u b e : G e b e t 89,30ff; G e h o r s a m 150,34f; Geld 295,49 f; Gerechtigkeit 417,30 ff; Geschichte 661,51 ff G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e : Geschichte 574,12ff Gleichheit: Gesellschaft 750,34 ff G n a d a u e r Verband: G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g 355,51; 359,14ff G n a d e : Geist 205,36 ff G n e s i o l u t h e r a n e r : G e b o t 132,43 ff
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Namen/Orte/Sachen
G n o s i s / G n o s t i z i s m u s : Gebet 61,1 ff; Geist 198,25 ff; Gerechtigkeit 420,39 ff; Gericht 484,16 f; Geschichte 605,3 ff Goethe, J o h a n n Wolfgang v.: Geist 243,1 ff; Geschichte 640,21 f Götterspaltung: Geister 255,7 ff Götterwelt: G e r m a n . Religion 512,35 ff; 515,6 ff Gogarten, Friedrich: Gemeinschaft 352,30ff; Geschichte 664,30 ff Goten: Germanenmission 506,49ff Gotik: Geräte, liturg. 398,41 f Gotisch-christliche Literatur: Germanenmission 507,50 f Gott: Gebet 88,35ff; G e b o t 133,28 ff; Geduld 140,14f; Gerechtigkeit 408,43ff; 412,32ff; 416,47 ff; 420,45 ff; 422,10; 423,25 f; Geschichte 572,48 ff; Gesch. Israels 721,20 ff Gottesdienst: Gebet 3 5 , l l f f ; 43,22ff; 52,5ff; 63,17ff; 72,5ff; 90,14ff; Gemeinde 320,54ff; 332,37 ff; Gesangbuch 563,29 ff Gottesurteil: Gericht 464,18 ff Graetz, Heinrich: Geschichte 591,29ff Gregor v. N a z i a n z : Geist 201,17ff; Gericht 485,45 Gregor v. N y s s a : Gericht 485,48 f Gregor v. Tours: Geschichte 610,24ff Gregorios P a l a m a s : Geist 206,25 ff Griechische Religion: Geschichte 572,14 ff Großer Katechismus: Geist 209,25 ff Gruppe: Gemeinde 331,4 ff Guibert v. Nogent: Geschichte 621,56 Gundolf, Friedrich: Geistesgesch. 264,49f H a b e r m a n n , (Avenarius), J o h a n n e s : Gebetbücher 114,19ff Hadrian: Garizim u. Ebal 28,46 Hagiographie: Geschichte 611,21 ff H a m a n n , J o h a n n G e o r g : Geschichte 639,47 f H a r n a c k , Adolf v.: Geschichte 651,26f H a s m o n ä e r : Geschichte Israels 730,39.54; 732,43 ff H a u s : Gesellschaft 764,34 ff; 774,45 ff Hebräerbrief: Gerechtigkeit 419,7 f; Geschichte 600,53 ff Hegel, G e o r g Wilhelm Friedrich: G e h o r s a m 153,1 l f ; Geist 250,1 ff; Gemeinschaft 348,39f; Gerechtigkeit 445,31 ff; Geschichte 647,11 ff Heiden: Gericht 471,18ff Heil und Erlösung: Geist 214,1.11 ff Heiler, Friedrich: G e b e t 85,26 f; 95,13 f Heilige/Heiligenverehrung: G e o r g , Hl. 380,41 ff Heilige Stätten: G e r m a n . Religion 520,8 ff Heiligkeit: Geist 233,17ff Heiligung: Gemeinschaftsbewegungen 360,20 f Heiligungsbewegung: Gemeinschaftsbewegungen 358,12ff
Heilsgeschichte: Geschichte 572,31 ff; 600,25 ff; 602,13ff; 618,30ff; 630,38f; 660,34ff; 688,10ff Heilsökonomie: Geschichte 658,16 f Heinrich v. Lettland: Geschichte 622,3 Hellenismus: Gesch. Israels 730,17ff Hellenisten (in der Urgemeinde): Geist 181,38 ff Helmold v. B o s a u : Geschichte 622,1 Helvétius, C l a u d e Adrien: Geld 291,30ff Herder, J o h a n n Gottfried: Geiger 157,52; Gesangbuch 555,22 f; Geschichte 639,43 ff Hermann v. Reichenau: Geschichte 617,12 f H e r m a s , Hirte des: Gebet 48 f; Geist 197,29 ff Hermeneutik: Geist 225,18 f; Geisteswiss. 270,17 ff; Geschichte 652,26ff Herrmann, Wilhelm: Geschichte 663,25 f Herrschaft: Gesellschaft 743,10 ff Herrschaft Gottes/Reich Gottes: Gericht 469,36 ff Hethitische Religion: Geschichte 571,45 ff Hieronymus: Gericht 487,5 Hillel/Hillelschule: Gamliel II. 25,18ff Himmelsbrief: Geißler 166,14 f H i n k m a r v. Reims: Gebet 66,50 H i o b : Gerechtigkeit 408,1 ff; 409,27 ff; Gesellschaft 759,53 ff Hippolyt: Gericht Gottes 483,22 Historiographie: s. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie Historische Schule: Geschichte 649,32 ff Historismus: Geisteswiss. 261,30ff; Geschichte 586,22ff; 590,14ff; 652,46ff Hoffnung: Geduld 140,50 f H o f m a n n , J o h a n n Christian Konrad v.: Geschichte 660,37 f Hoherpriester: Geist 175,6 ff Horkheimer, M a x : Geschichte 655,20ff Horn, G e o r g : Geschichte 634,40 H o s e a : Gerechtigkeit 406,36 f Hospital: Genf 370,36 f H u g o v. Fleury: Geschichte 617,52 H u g o v. Reutlingen: Geißler 165,22f; 166,21 H u g o v. St. Viktor: Geist 205,8 f; Geschichte 619,27 ff H u m a n i s m u s : Geschichte 621,3ff H u m b o l d t , Wilhelm v.: Geisteswiss. 262,8f; Geschichte 646,7 ff H u m e , David: Geld 288,49f Hymnen: Gebet 39,16f Hyrkanus II.: Gesch. Israels 734,9ff
Ignatius v. Antiochien: Gebet 60,33.39f Indien: Geschichte 566,49ff Individualismus: Geschichte 646,8ff Inflation: Geld 293,5 ff Inspiration: Geist 197,40ff; 213,55ff; 228,23 ff
Namen/Orte/Sachen Instinkt: Gesellschaft 7 4 1 , 1 8 f Interim: Gallus 2 2 , 2 9 f f Iranische Religionen: G e s c h i c h t e 5 7 2 , 1 ff Irenaus v. Lyon: Geist 1 9 8 , 4 0 ff; Gerechtigkeit 4 2 1 . 1 2 ff; Gericht 4 8 4 , 2 7 ff; Geschichte 6 0 5 , 5 3 ff Isebel: Iselin, Isidor Islam: Israel:
G e s c h . Israels 7 1 5 , 4 4 . 5 2 ; 7 1 9 , 3 6 Isaak: G e s c h i c h t e 6 3 8 , 1 3 f v. Sevilla: G e s c h i c h t e 6 0 9 , 5 0 ff Gebet 33,9ff; Geschichte 569,4ff Gericht 471,42ff; Geschichte 573,6ff;
6 0 0 . 2 5 ff; Gesellschaft 7 5 6 , 3 7 ff Israel (Nordreich): G e s c h . Israels 7 1 4 , 1 5 . 5 3 f ; 7 1 5 , 2 1 ff.38 ff; 7 1 7 , 1 6 ff; 7 2 2 , 6 ff.50 ff Issakar: Gesch. Israels 7 1 0 , 4 3 Italien: Geißler 1 6 2 , 3 5 f f ; G e s c h i c h t e 623,1 ff J a b n e : Gamliel II. 2 3 , 5 1 ff; 2 5 , 1 8 f f J a h w e : G e s c h . Israels 7 0 3 , 4 5 f; 7 0 8 , 6 ; 7 2 1 , 2 0 ff J a h w i s t : Gerechtigkeit 4 0 5 , 4 4 ff; G e s c h i c h t e 5 7 4 , 4 7 ff J a k o b : Gesch. Israels 7 0 1 , 5 0 f J a k o b u s b r i e f : Gerechtigkeit 4 1 8 , 4 2 f f Jehu: G e s c h . Israels 7 1 6 , 2 Jehuda Hallevi: Geist 1 7 6 , 4 7 ff; Geschichte 586.26 Jephta: G e s c h . Israels 7 0 8 , 5 2 f J e r e m i a : Gerechtigkeit 4 0 6 , 3 9 ff J e r i c h o : G e s c h . Israels 6 9 9 , 3 3 f Jerusalem: Gesch. Israels 7 1 4 , 1 7 f ; 7 2 5 , 2 5 f f J e s a j a : G e s c h . Israels 7 2 2 , 3 5 f f Jesuiten: G e h o r s a m 1 5 1 , 1 6 f ; G e s a n g b u c h 554,49 f Jesus Christus: Geist 1 7 8 , 3 5 f f ; G e r h o c h 4 5 8 . 2 7 ff; G e r m a n e n m i s s i o n 5 0 7 , 3 7 f; Geschichte 5 9 6 , 6 f f ; 6 6 0 , 1 9 f f Jesusgebet: G e b e t 6 4 , 2 6 J o a c h i m v. Fiore: G e s c h i c h t e 6 1 9 , 5 3 ff; 6 9 0 , 1 3 Johannes C h r y s o s t o m u s : Gerechtigkeit 422,37 ff J o h a n n e s v. F e c a m p : G e b e t b ü c h e r 1 0 6 , 3 7 J o h a n n e s Hyrkanus I.: G e s c h . Israels 7 3 2 , 4 4 f f J o h a n n e s v. N e u m a r k t : G e b e t b ü c h e r 1 0 7 , 3 6 J o h a n n e s v. Salisbury: G e s c h i c h t e 6 1 8 , 2 4 f J o h a n n e s der T a u f e r : Geist 1 7 8 , 1 8 f f ; G e r i c h t 469.13 ff J o h a n n e u m : Gemeinschaftsbewegungen 359,19 Johannesbriefe: G e b o t 127,15 ff Johannesevangelium: G e b o t 1 2 6 , 4 8 f f ; Geist 192,55 ff; Gericht 4 8 1 , 4 7 ff; G e s c h i c h t e 598,34 ff Josef Hakkohen: Geschichte 589,6 f J o s e p h / J o s e p h n o v e l l e : G e s c h . Israels 7 0 3 , 5 1 ff Josephus Flavius: G e s c h i c h t e 5 8 4 , 5 ff Josia: Gesch. Israels 7 1 7 , 4 7 f f Jost. Markus: Geschichte 590,42 f J u d a (Südreich): Gesch. Israels 7 1 4 , 1 5 . 5 3 f ; 715,21 ff; 7 1 6 , 2 3 f f ; 7 1 7 , 3 0 f f ; 7 2 2 , 5 0 f f
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J u d a (nachexilische Provinz): Gesch. Israels 7 2 5 , 3 7 ff; 7 2 6 , 3 5 f Jungfrauengeburt: Geist 1 8 0 , 3 4 f f Justin der M ä r t y r e r : Geist 1 9 7 , 5 0 f f K a b b a l a : Geduld 1 4 0 , 4 4 f Kaddisch: G e b e t 4 4 , 3 8 ff Kadesch: Gesch. Israels 7 0 6 , 1 5 f Kahler, M a r t i n : G e l ü b d e 3 1 2 , l O f ; Geschichte 662,36 f Kaiser, R ö m i s c h e : Geschichte 6 1 6 , 3 8 ff K a n a a n : G e s c h . Israels 7 0 0 , 3 8 f f K a n t , Immanuel: G e h o r s a m 1 5 2 , 3 0 f ; Gemeinschaft 3 4 7 , 8 ff; Gerechtigkeit 4 4 6 , 2 ff; G e schichte 6 3 9 , 6 f Kardinaltugenden: Gerechtigkeit 4 2 4 , 3 2 f f Karlstadt, Andreas: Geist 2 1 3 , 2 0 f f Karolingische Renaissance: Gesch. 6 1 2 , 2 4 ff Katechismus: G e s a n g b u c h 5 6 4 , 2 5 ff K a u f m a n n , Walter: Gerechtigkeit 4 4 7 , 2 7 ff K e c k e r m a n n , B a r t h o l o m ä u s : Geschichte 658,41 f Kelch: Geräte, Liturg. 3 9 7 , 1 7 ff; 4 0 2 , 9 ff Keynes, J o h n M a y n a r d : Geld 2 8 9 , 2 3 f Kierkegaard, Sören Aaby: Geduld 143,2 f Kind: G e b e t 99,3 f Kirche: G e b e t 5 5 , 4 2 f f ; 9 0 , 1 4 f f ; Geist 1 9 2 , 1 2 f f ; 199,3ff; 2 0 0 , 5 0 f f ; 2 0 2 , 2 7 f f ; 2 2 5 , 3 8 f f ; 2 2 8 , 4 4 ff; 2 3 8 , 3 5 ff; Geld 2 9 5 , 2 8 ff; G e m e i n d e 3 1 7 , 1 9 f f ; 3 3 0 , 9 f f ; Gerhard, J . 4 5 1 , 9 f ; Gesellschaft 7 7 2 , 2 3 ff Kirche von England: Gerichtsbarkeit 5 0 2 , 3 0 f Kirche und Staat: Gesandtschaftswesen 5 4 0 , 4 5 f f ; Gesellschaft 7 7 0 , 3 1 ff; s . a . Gallikanismus Kirchengebet: G e b e t 7 1 , 5 0 ; s . a . Allgemeines Kirchengebet Kirchengeschichte (im Religionsunterricht): Geschichte 6 7 7 , 4 9 ff Kirchengeschichtsschreibung: Geschichte 6 1 7 , 3 3 ff; 6 3 1 , 5 1 ff K i r c h e n k a m p f : G e m e i n d e 3 2 5 , 1 9 f; G e m e i n schaftsbewegungen 3 6 3 , 3 1 ff; G e r i c h t s b a r keit 5 0 0 , l O f Kirchenlied: G e r h a r d t , P. 4 5 4 , 1 6 f f Kirchenordnungen: Rheinland und Westfalen 1835: G e m e i n d e 3 2 3 , 4 6 ff Kirchenstaat: Gesandtschaftswesen 5 4 1 , 3 8 Kirchenzucht: Gerichtsbarkeit 4 9 8 , 2 ff Klagegebete/Klagelieder: G e b e t 3 5 , 4 0 ff; 3 6 , 3 5 ff; 3 9 , 5 ff; 4 0 , 4 9 ff Klerus: Gesellschaft 7 7 7 , 2 ff Klöster und Stifte: Gertrud v. H e l f t a : 5 3 8 , 3 6 f f Reichersberg am Inn: G e r h o c h 4 5 7 , 5 0 Rottenbuch: Gerhoch 4 5 7 , 3 2 f K l o s t e r m a n n , Ferdinand: G e m e i n d e 3 2 6 , 2 6 ff Klugsches G e s a n g b u c h : G e s a n g b u c h 5 4 9 , 9 ff
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Namen/Orte/Sachen
K ö n i g t u m : G e r m a n . Religion 5 2 0 , 3 2 f f ; Geschichte 6 1 5 , 3 0 ff - , isr.: Gesch. Israels 7 1 0 , 1 9 f ; 7 1 1 , 1 1 ff; 7 1 9 , 3 ff; Gesellschaft 7 5 8 , 2 9 ff K ö n i g t u m G o t t e s (im A T ) : G e r i c h t 4 6 1 , 1 0 f f Köstlin, Julius: Gelübde 3 1 2 , 2 6 f Kohelet: Gerechtigkeit 4 0 8 , 9 ff; Gesellschaft 7 6 0 , 7 ff Kollektengebet: G e b e t 7 3 , 3 5 ff; 7 5 , 2 9 ff; Gebetbücher 111,34 ff Kol Nidrei: Gelübde 3 0 5 , 1 7 f K o m m u n e : Gesellschaft 7 7 6 , 5 0 f Konfirmationsgebete: G e b e t 80,51 ff K o n k o r d i e n f o r m e l : G e b o t 1 3 1 , 3 2 f ; Gerechtigkeit 4 3 5 , 3 2 f Konsistorium: G e n f 3 7 0 , 9 f; G e r i c h t s b a r k e i t 4 9 8 , 4 8 ff Konstantin d. G r . : Gesellschaft 7 7 1 , 2 9 f f K o n s t a n z (Stadt): G e s a n g b u c h 5 5 0 , 2 7 f Konstitutionen (Pseud-)Apostolische: G e b e t 62,13 f Kontemplation: Gerson 534,51 f Konziliarismus: Gallikanismus 18,1 ff; Gerson 534,5 f Kopernikus, Nikolaus: Galilei 15,24; Geld 285,42 Kredenztisch: G e r ä t e , liturg. 4 0 3 , 4 6 f Kreuzbrüder: Geißler 164,15 Kreuzzüge: G e o r g , H l . 3 8 3 , 5 0 f f Kritische T h e o r i e : G e s c h i c h t e 6 5 5 , 1 9 f f K r o c h m a l , N a c h m a n : G e s c h i c h t e 5 9 1 , 3 ff Kryptoflagellanten: G e i ß l e r 1 6 7 , 3 9 f f Kult: G e r m a n . Religion 5 1 4 , 1 8 f f Kultorte: s. Heilige Stätten Kultprophetie: G e r i c h t 4 6 2 , 3 0 f Kultur: G e s c h i c h t e 6 6 8 , 2 7 f f Kulturgeschichte: G e s c h i c h t e 6 7 0 , 1 6 f ; 6 8 3 , 5 1 ff Kulturprotestantismus: G e m e i n s c h a f t 3 5 1 , 8 ff K u n s t w e r k : Geisteswiss. 2 6 3 , 5 1 ff Lactantius: Gerechtigkeit 4 2 3 , 4 f f ; G e r i c h t 486,37 f Laienbruderschaften: G e i ß l e r 1 6 5 , 4 5 ff L a m p e r t v. Hersfeld: Geschichte 6 1 7 , 1 6 L a n d n a h m e : Gesch. Israels 7 0 6 , 2 2 f f ; Gesellschaft 7 5 8 , 5 ff L a n g o b a r d e n : G e r m a n e n m i s s i o n 5 0 9 , 1 0 . 2 8 f; 510,13f L a Peyrère, Isaac de: G e s c h i c h t e 6 3 4 , 2 4 Lateinamerika: Gemeinde 326,44 f L e a / L e a s t ä m m e : G e s c h . Israels 7 0 8 , 1 2 L e b e n - J e s u - F o r s c h u n g : G e s c h i c h t e 6 6 3 , 5 ff Legaten: Gesandtschaftswesen 5 4 1 , 1 3 f; 5 4 2 , 5 ff Lehnswesen: Gesellschaft 7 7 4 , 2 7 f f Lehrer: G e n f 3 6 9 , 2 8 f Lehrhaus (Jeschiwa): G e m e i n d e 3 3 6 , 2 5 ff Leib Christi: Geist 191,21 ff Leiden: G e r o n t o l o g i e 5 3 0 , 1 2 f f
Leisentrit, J . : G e s a n g b u c h 5 5 1 , 9 Leistungsgelübde: Gelübde 3 0 5 , 4 7 f f Lernen: G e m e i n d e 3 3 6 , 4 6 f f Lessing, G o t t h o l d E p h r a i m : G e s c h i c h t e 6 3 8 , 3 0 ff Liberalismus: Geschichte 6 5 1 , 1 5 ff; Gesellschaft 7 5 3 , 4 6 ff Liebe: Geist 2 0 2 , 9 f f . 2 6 f f ; Gerechtigkeit 442,52 f Liebesgebot: G e b o t 1 2 4 , 4 9 ff; 136,'4 ff Litanei: G e b e t 6 7 , 3 6 ; 7 2 , 4 3 ff Literaturgeschichte: Gennadius 3 7 7 , 3 6 ff Litt, T h e o d o r : Geschichte 6 5 4 , 9 f Liturgie (jüd.): G e b e t 4 2 , 2 7 f f Liudprand v. C r e m o n a : Geschichte 6 1 5 , 4 4 f Lobgebete: G e b e t 3 7 , 4 6 ff Lobwasser-Psalter: Gesangbuch 5 5 4 , 3 1 L o e b , Isidore: Geschichte 5 9 2 , 3 3 Löwisohn, Salomon: Geschichte 590,38 L o r i c a e (Schildgebete): G e b e t b ü c h e r 1 0 6 , 2 3 Loricatio: Gebet 6 7 , 1 6 f Losungen: G e b e t b ü c h e r 1 1 7 , 4 4 f Lucas v. T u y : Geschichte 5 2 1 , 1 5 Ludwig X I V . v. Frankreich: G a l l i k a n i s m u s 19,17 ff Lukasevangelium: Geist 192,55 ff; Gerechtigkeit 4 1 5 , 3 9 f f ; G e s c h i c h t e 5 9 7 , 5 3 ff Luther, M a r t i n : G a l a t e r b r i e f 11,48 ff; G e b e t 8 7 , 4 ff; G e b e t b ü c h e r 109,23 ff; G e b o t 1 3 0 , 4 2 f ; Geduld 1 4 2 , 3 0 f ; G e h o r s a m 1 5 1 , 4 6 f f ; Geist 2 0 8 , 1 5 f f ; Geld 2 8 6 , 7 f f ; G e meinde 3 2 0 , 3 4 f f ; G e o r g v. Sachsen 3 8 6 , 2 1 ff; Gerechtigkeit 4 3 2 , 2 0 f f ; 4 3 7 , 1 2 f ; G e r i c h t 4 8 9 , 4 6 f f ; Gerichtsbarkeit 4 9 8 , 2 2 f ; G e s a n g buch 5 4 8 , 4 4 ff; G e s c h i c h t e 6 3 0 , 4 9 ff Lydda-Diospolis: G e o r g , Hl. 3 8 0 , 4 2 M a a t : Gerechtigkeit 4 0 5 , 1 7 f M ä r t y r e r / M ä r t y r e r v e r e h r u n g : G e b e t 6 3 , 7 ff; G e o r g , H l . 3 8 0 , 1 9 ff M a g i e : G e b e t 3 5 , 2 5 f ; G e r m a n . Religion 5 1 9 , 4 0 ff M a i l l a n e , Pierre T. D . de: G a l l i k a n i s m u s 18,46 Makkabäer/Makkabäerbücher: Geschichte 5 8 3 , 4 4 ff; G e s c h . Israels 7 3 0 , 3 2 ff; Gesellschaft 7 6 0 , 1 8 ff Maranatha: Gericht 472,12ff M a r i a : G e b e t 69,21 Markion: Gericht 4 8 4 , 1 7 f M a r k u s e v a n g e l i u m : Geschichte 5 9 6 , 3 6 ff M a r t i n v. T r o p p a u : Geschichte 6 2 1 , 3 5 ff M a r t y r i u m : Geduld 141,23 f; G e s c h i c h t e 5 8 8 , 2 4 ff M a r x / M a r x i s m u s : Geld 2 8 9 , 3 8 ff; G e s c h i c h t e 6 4 8 , 4 2 ff; 6 9 0 , 2 6 ff Mathesius, Johann: Gebet 76,16 Mathildenviten: Geschichte 6 1 5 , 4 9 f f M a t t h ä u s e v a n g e l i u m : Gerechtigkeit 4 1 5 , 1 9 f f ; G e s c h i c h t e 5 9 7 , 2 2 ff
Namen/Orte/Sachen M a u - M a u - E i d : G e l ü b d e 301,-49f M e d i t a t i o n : G e b e t 69,37ff Meinecke, Friedrich: Geschichte 653,49ff M e l a n c h t h o n , Philipp: G e b e t 87,28 f; G e b o t 130,51 f; Geist 210,14ff; Geld 287,22f; Gerechtigkeit 434,26f; Gericht 491,9ff; Gerichtsbarkeit 499,3; Geschichte 631,32ff; 658,24 f M e n s c h : G e b e t 84,37ff; Geist 218,49ff; 222,41 ff; Gericht 496,24 ff; Geschichte 667,37 ff; 684,33 ff; Gesellschaft 740,27 ff M e n s c h e n s o h n : Gericht 470,30f M e n t a l i t ä t : Geschichte 655,5 M e s s e / M e ß f e i e r : Gebet 68,24 ff Messias: Geist 178,32ff M e t a n i e n : G e b e t 67,14 M e t h o d i s t i s c h e Kirchen: G e r i c h t s b a r k e i t 502,1 f Mission: G e m e i n d e 327,20f Missionslegat: G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 541,42 M ö n c h s g e l ü b d e : s. P r o f e ß M ö n c h t u m : G e b e t 63,30; 64,20ff; G e d u l d 141,48f; Gesellschaft 771,43f; 776,15ff M o m m s e n , T h e o d o r : Geschichte 651,7ff M o n s t r a n z : G e r ä t e , liturg. 400,25 ff; 403,33 M o n t a n i s m u s : G e b e t 61,22ff; Geist 197,34f M o r a l i t ä t : Gesellschaft 744,21 ff M o r m o n e n : Geschichte 567,39f M o s e : Gesch. Israels 704,37; 705,7 ff M o s e ben M a i m o n : Geist 177,1 ff Motivgeschichte: Geisteswiss. 263,50f Müller, Alfred D e d o : G e l ü b d e 312,30 f M ü n t z e r , T h o m a s : Geist 213,20ff Mystik: Geist 206,51 ff: G e r s o n 533,46ff; Gertrud 538,37 ff M y t h o s / M y t h o l o g i e : G e r m a n . Religion 5)4,18ff N a b o n i d : G e s c h . Israels 724,40 N a c h f o l g e Jesu: G e l ü b d e 306,47 f N a h e r w a r t u n g : G e b e t 53,20 ff; Geschichte 605,30 ff Nasiräer: G e l ü b d e 305,9; 306,21 N a t u r : Geschichte 684,37 f N a t u r r e c h t : G e b o t 136,43 f; Gerechtigkeit 441.51 f; Gesellschaft 747,8 ff N a t u r w i s s e n s c h a f t e n : Geisteswiss. 266,8ff; Geschichte 659,17 f N e a n d e r , J o a c h i m : G e s a n g b u c h 554,11 f N e h e m i a / N e h e m i a b u c h : Gesch. Israels 725.52 ff N e u j a h r s f e s t : G e b e t 46,22ff N e u m a n n , K a s p a r : G e b e t b ü c h e r 116,29ff N e u s c h ö p f u n g : Geist 172,25 ff; 229,38 f N e u t h o m i s m u s : G e m e i n n u t z 341,49 f Nicolai, Philipp: Geist 214,16 Niederlande: G e r i c h t s b a r k e i t 501,43 f Nietzsche, Friedrich: Gerechtigkeit 446,33 f; Geschichte 652,53 f
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N i k e t a s David: G e o r g , Hl. 381,18 N i k o l a u s v. O r e s m e : Geld 284,50 ff N o h l , H e r m a n n : Geisteswiss. 265,19 N o m i n a l i s m u s : G a n s f o r t 26,13 N o t h e l f e r : G e o r g , Hl. 380,50; 384,23 f Novalis: Geschichte 645,23 ff N u n t i a t u r s t r e i t : G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 544,51 N u n t i e n : G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 542,33 ff N u z i : Gesch. Israels 702,23 O b r i g k e i t : G e m e i n d e 321,28f O c k h a m / O c k h a m i s m u s : Geist 206,36ff O d i l o v. Cluny: Geschichte 616,8 Ö k u m e n e : G e b e t b ü c h e r 1 2 0 , l 9 f f ; Geschichte 666,47 ff Ö s t e r r e i c h : G e r i c h t s b a r k e i t 501,31 f O f f e n b a r u n g : Geschichte 567,37 f; 638,35 f; 664,3 ff O f f e n e Schuld: G e b e t 79,23 ff O m r i : Gesch. Israels 715,38f O n i a s / O n i a d e n : G e s c h . Israels 728,35ff O n t o l o g i e : Geist 243,47ff O p f e r : G e b e t 52,16ff; Geld 276,39f; G e r m a n . Religion 519,30ff O r a k e l : G e b e t 40,16ff O r d e n s g e l ü b d e : s. P r o f e ß O r d e r i u s Vitalis v. St. Evroul: Geschichte 618,6f O r d i n a t i o n : Geist 227,38 ff; G e l ü b d e 314,44ff; 315,8ff.28ff O r d i n a t i o n s g e b e t e : G e b e t 81,27ff O r d n u n g : G e m e i n d e 334,5f Origenes: G e b e t 61,45f; 63,48ff; Geist 199,19ff; G e l ü b d e 307,6f; Gerechtigkeit 421,45ff; Gericht 4 8 5 , l l f f ; Geschichte 606,53 f O r o s i u s : Geschichte 608,37ff; 609,10ff O r t h o d o x e Kirchen: G e r i c h t s b a r k e i t 502, 44ff O r t h o d o x i e , altluth.: Geist 213,48 ff; G e m e i n de 322,27 f; Gerechtigkeit 436,9 ff; G e r h a r d , J. 448,20ff; G e s a n g b u c h 552,30ff O r t s g e m e i n d e : G e m e i n d e 329,10ff O s l a n d e r , Andreas: Gerechtigkeit 434,19 ff O s t g o t e n : G e r m a n e n m i s s i o n 509,6.20f O t t o v. Freising: Geschichte 618,31 ff Ottonisch-salisches Reichskirchensystem: Geschichte 615,32ff O v i d : Geschichte 567,15 Päpste: Bonifaz VIII.: G a l l i k a n i s m u s 17,30 C l e m e n s VI.: Geißler 167,2f Gelasius L: 273 - 2 7 6 G r e g o r I.: G e d u l d 141,41; Gericht 487,40ff G r e g o r VII.: G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 542,2 G r e g o r XIII.: G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 543,19ff Leo I.: G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 541,12 Leo XIII.: G e m e i n n u t z 341,50 Paul III.: G e s a n d t s c h a f t s w e s e n 542,48
794
Namen/Orte/Sachen
Palästina: Gesch. Israels 699,8ff Palla: Geräte, liturg. 403,47 Palmyra: Gad 3,47ff Papsttum: Gerson 534,5ff; Gesandtschaftswesen 540,40 ff Paränese: Gebet 57,36 ff; Gebot 126,24 ff; Gericht 472,49 ff; 476,40 f Paraklet: Geist 188,18 ff Partizipation: Geist 218,21 ff Parusieverzögerung: Gericht 480,28 ff Passional: Gebetbücher 110,8 ff Patene: Geräte, liturg. 399,13 ff; 403,17 Patriarchen (atl.): Gesch. Israels 701,10ff; Gesellschaft 757,34 ff Paulus Diaconus: Geschichte 613,13.26 Perserreich und Israel: Gesch. Israels 724,49 ff Person: Geist 221,18; 222,6 Petrus Lombardus: Geist 205,21 ff; Gerechtigkeit 428,47ff; Gericht 488,18 ff Pfarrei: Gesellschaft 775,25 ff Pfarrer: Gemeinde 329,48f; Genf 369,10ff Pfingstbewegung: Gemeinschaftsbewegungen 361,11 ff Pharisäer: Gelübde 305,4; Gesch. Israels 733,15 Philister und Israel: Gesch. Israels 713,18f Philo von Alexandrien: Geist 174,10ff; Gericht 467,18 ff Physik: Galilei 15,4ff Pietismus: Gebetbücher 116,40ff; Geist 214,23 ff; Gemeinschaftsbewegungen 356,25; Gerechtigkeit 438,6 ff; Gesangbuch 553,2 ff Pithou, Pierre: Gallikanismus 18,38 f.48 ff Plato/Platonismus: Geduld 139,48 f; Gemeinnutz 340,14f; Gerechtigkeit 444,18ff; 446,2 ff Plotin: Geist 247,49ff Pneumatomachen: Geist 200,31 f Polis: s. Stadt Polykarp v. Smyrna: Gebet 62,24f Pompeius d. Gr.: Gesch. Israels 734,19ff Popper, Karl R.: Gerechtigkeit 445,44ff Positivismus: Geisteswiss. 263,50ff Prädikation: Gebet 100,23 ff Präfation: Gebet 78,1 ff Pragmatische Sanktion: Gallikanismus 18,9ff Praktische Theologie: Geist 237,41 f Priester: Germanische Religion 519,52ff Priesterschrift: Geschichte 576,14 ff Prinzipienlehre: Gerhard, J. 450,11 ff Priestertum aller Gläubigen: Gemeinde 320,32 f Profeß: Gelübde 301,46 ff; 307,26 ff; 308,2 ff; 309,34ff; 311,52ff Prokopius v. Gaza: Gaza 30,9 f Propheten/Prophetie: atl.: Gebet 56,32ff; Geist 171,19ff; 174,23ff; Gerechtigkeit 406,25ff; 409,12ff; Gericht 461,33ff; Geschichte 577,52 ff; Gesch. Israels 715,48 ff; 722,26 ff;
Gesellschaft 758,44ff; urcbristl.: Geist 197,24 ff Prosphonese: Gebet 72,18.30; 73,49 Prudentius v. Troyes: Gebet 66,47 Psalmen: Gebet 38,46 ff; 61,19 ff; 67,48 ff; Gebetbücher 106,5ff; Gerechtigkeit 408,19ff Psychologismus: Geisteswiss. 264,25 ff Pyxis: Geräte, liturg. 400,18 f; 403,24 Quenstedt, Johann Andreas: Geist 214,19 Qumran: Geist 173,38 ff; Gelübde 304,8; Gericht 467,35 ff Rabus, Ludwig: Geschichte 632,33 Radulf Glaber: Geschichte 616,32f Radulfus Ardens: Gerechtigkeit 426,25 Rahel/Rahelstämme: Gesch. Israels 708,15f Ranke, Leopold v.: Geschichte 650,27 ff Rapoport, Salomo Juda: Geschichte 590,52f Rationalismus: Geisteswiss. 260,18 ff; Geschichte 692,42 Rawls, John: Gerechtigkeit 446,43ff Recht/Rechtswesen: Geist 231,14ff; Gemeinde 334,5f; German. Religion 5 2 1 , l f ; Gesellschaft 746,4 ff; atl.-. Gerechtigkeit 405,23 ff; Gesch. Israels 719,50ff; jüd.: Gemeinde 337,24ff; Gerechtigkeit 411,40ff Rechtfertigung: Galaterbrief 8,14 ff; Gebet 89,46 ff; Geiler 160,42 if; Gerechtigkeit 415f,5f; 432,22ff; Gericht 477,20ff Reformation: Gehorsam 151,40; Gemeinde 320,27 ff; Gemeinnutz 340,50; Genf 368,35ff; Geschichte 630,22ff Reformjudentum: Geiger 158,43ff Regalien: Gallikanismus 19,20ff Regeln: Gesellschaft 742,24 ff Regensburg (Stadt): Gallus 22,9ff Regino v. Prüm: Gcschichtc 614,40 Reinbot v. Durne: Georg, Hl. 384,1 l f Religion: Gehorsam 152,47f Religionsgeschichte Israels: Gesch. Israels 720,47 ff Religionspädagogik: Geschichte 676,39 ff Religionswechsel: Geister 254,47 f Reveil: Genf 373,14 Rheinland: Gerichtsbarkeit 499,27 Rhetorik: Galaterbrief 5,37ff Ricardo, David: Geld 289,17f Richard, Fishacre: Gerechtigkeit 429,15f Richard v. St. Viktor: Geist 205,12f Richer, Edmond: Gallikanismus 19,1 ff Richter/Richterbuch: Gesch. Israels 708,50ff Rickert, Heinrich: Geisteswiss. 268,43 ff Ritschi, Albrecht: Gebet 86,1 f; Gerechtigkeit 438,29; Geschichte 662,3.36f Rittertum: Gesellschaft 777,31 ff Römerbrief: Geschichte 601,39 ff Rom (Imperium Romanum): Geschichte 609,18 f; 616,38 ff; Gesellschaft 770,32 ff; 771,50 ff
Namen/Orte/Sachen Rom (Stadt): Gesellschaft 769,53f R o m a n i k : Geräte, liturg. 398,30f Rosenkranz: Gebet 68,19f Rossi, Azaria de': Geschichte 589,22f Rothe, Richard: Gemeinschaft 351,18 Rousseau, Jean-Jacques: Geschichte 637,15 f; 690,33; Gesellschaft 753,53 Rugier: Germanenmission 509,7.32f Runenschrift: G e r m a n . Religion 519,44ff Rußland: Georgien 393,34ff Saadja ben Josef (Gaon): Gebetbücher 104,6ff Sabbat: Gebet 45,10ff Sachsen (Herzogtum): Georg v. Sachsen 385,20 ff Sadduzäer: Gelübde 305,3; Gesch. Israels 733,17 Säkularisierung: Geschichte 664,48 f Sakramentare: Sacramentarium Gelasianum: Gelasius 1. 275,17ff Sakramente: Gebet 90,44ff; Geist 228,35ff Salät: Gebet 33,9ff Salicetus, Nicolaus: Gebetbücher 108,17f Salome Alexandra: Gesch. Israels 734,8 Salomo: Gesch. Israels 715,5 ff Salomo Ibn Verga: Geschichte 589,1 f Samaria: Gesch. Israels 726,10f.40ff Samaritaner: Garizim 28,36ff; Gericht 468,8ff Saul: Gesch. Israels 710,16ff; 713,23ff Schechinah: Geist 175,27ff Schedel, H e r m a n n : Geschichte 624,31 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Geschichte 644,49ff; 685,8 Schema: Gebet 43,33ff Scheschbasar: Gesch. Israels 725,30 Schicksal: G e r m a n . Religion 517,5 ff Schilfmeer: Gesch. Israels 705,31 f Schiller, Friedrich: Geschichte 639,21 ff Schisma: Gerson 534,6; Gesandtschaftswesen 542,20 Schlegel, Friedrich: Geschichte 645,40 ff Schleiermacher, Friedrich: Geld 292,17f; Gemeinde 323,20; Gemeinschaft 350,22ff; Gerechtigkeit 438,22 ff; Gesangbuch 557,10 f; Geschichte 646,34 ff Schmid, Konrad: Geißler 167,48 ff Schmidt, Kurt Dietrich: Germanisierung des Christentums 521,51 Schmolck, Benjamin: Gebetbücher 116,29 ff Schöpfer/Schöpfung: Geist 172,3 ff; 229,9 ff; Gericht 494,47 ff Schöpfungsordnung: Gebot 136,48 f Scholastik: Geld 285,52 ff; Gerechtigkeit 425,47ff; Geschichte 620,35ff Schrift: Gesch. Israels 699,20 f Schriftauslegung: Geist 181,5 ff; Gerhoch 459,1 ff Schule/Schulwesen: Gemeinde 336,31 ff
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Schweiz: Gerichtsbarkeit 501,47 Schwenckfeld, Caspar v.: Geist 213,40f Seele: Geist 188,5ff; 245,39ff Seelengärtlein/Hortulus animae: Gebetbücher 108,21 ff Seelsorge: Gelübde 315,26ff Seelsorgebewegung: Gefangenenfürsorge 146,31 Sefardim: Gemeinde 335,45 Segen: Gebet 37,46ff Seleukidische Ära: Gesch. Israels 727,29f Semipelagianismus: Gennadius 377,55ff Semler, J o h a n n Salomo: Geist 214,54 Semper, Gottfried: Geisteswiss. 266,40 Serubbabel: Gesch. Israels 725,26 f Siegeslieder: Gebet 38,11 ff Sigebert v. G e m b l o u x : Geschichte 617,18 f Simmel, Georg: Geisteswiss. 269,17 ff; Geld 290,47 ff Sinai: Gesch. Israels 705,44ff Situationsethik: G e b o t 136,9ff; Geist 231,46f Skeireins: Germanenmission 507,57 Smith, Adam: Geld 289,12ff S0e, Niels Hansen: Gelübde 312,36f Söderblom, N a t h a n : Geschichte 568,7 Sozialethik: Geld 279,4ff; 292,23 ff; Gemeinschaft 350,20 Sozialgeschichte: Geschichte 655,1 f; 676,51 f; 683,51 ff Sozialverhalten: Gesellschaft 740,27ff Sozialwissenschaften: Geschichte 654,44ff Sozzini/Sozinianer: Gerechtigkeit 436,21 ff Soziologismus: Geisteswiss. 265,42 ff Spanien: Geschichte 623,37ff Spener, Philipp J a k o b : Geist 214,28 ff; Gemeinde 322,40 ff Spengler, Oswald: Geschichte 686,26 ff Spiritualen: Geschichte 620,28ff Spiritualismus: Geist 212,49ff Spiritualität: Gesangbuch 562,46 f Sprache: Gesellschaft 742,3 ff Staat: G e h o r s a m 156,23; Geld 295,1 f; Geschichte 568,34; 684,16 Staatskirchenrecht: Gerichtsbarkeit 503,lOf Stadt: Gemeinde 320,12ff; Gesch. Israels 700,44 f; Gesellschaft 760,35 ff; 778,12 f Stände: Gesellschaft 777,1 ff Ständelehre: Gesellschaft 773,43 ff status confessionis: G e b o t 132,48 Steinschneider, Moritz: Geschichte 592,36 f Stoa/Stoizismus: Geduld 140,4 f; Geld 283,34ff; Gemeinnutz 340,19f Stoßgebete: Gebet 67,25 Strafe/Strafrecht: Gemeinde 337,44 ff Straßburg: Gesangbuch 550,13 f Strauß, David Friedrich: Geschichte 648,20f Strukturalismus: Geschichte 654,49ff Stundenbücher: Gebetbücher 107,3 ff Stundengebet: Gebet 63,30; 68,10 ff
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Namen/Orte/Sachen
Sünde: Gerechtigkeit 4 3 3 , 2 6 ff Sündenbekenntnis: G e b e t 3 7 , 2 8 f f ; 4 8 , 4 7 f ; 6 7 , 4 0 ff; 7 9 , 8 ff Sueven: Germanenmission 5 0 8 , 3 0 . 5 5 f ¥ ; 5 1 0 , 7 f Suger v. St. Denis: Geschichte 6 1 8 , 1 1 f Sulpicius Severus: Geschichte 6 1 1 , 2 4 ff Sülze, Emil: Gemeinde 3 2 4 , 1 2 f f Synagoge: G e m e i n d e 3 3 5 , 3 9 Synkretismus: G e r m a n i s c h e Religion 5 1 8 , 3 3 ff Synode: Gerichtsbarkeit 4 9 9 , 2 9 f Synoden: Alexandrien 3 6 2 : Geist 2 0 0 , 2 5 Basel 1 4 3 1 - 1 4 3 7 : Gallikanismus 18,3 Florenz 1 4 3 9 - 1 4 4 7 : Geist 2 0 3 , 5 1 Konstantinopel 381: Geist 1 9 6 , 3 4 ; 2 0 0 , 2 9 ; 201,29 K o n s t a n z 1 4 1 4 - 1 4 1 8 : Gallikanismus 18,3 Lyon 1274: Geist 2 0 3 , 4 7 ; G e r i c h t 4 8 8 , 9 Paris 1329: Gallikanismus 17,34 Paris 1398: Gallikanismus 17,39 Paris 1406: Gallikanismus 17,45 f T o l e d o 675: Gericht 4 8 8 , 5 Trient 1 5 4 5 - 1 5 6 3 : G e m e i n d e 3 2 0 , 2 2 ; Gericht 492,1 ff; Gesandtschaftswesen 5 4 3 , 4 ff I. Vatikanum 1 8 6 9 - 1 8 7 0 : Gallikanismus 17,11 II. Vatikanum 1 9 6 2 - 1 9 6 5 : G e l ü b d e 3 0 8 , 4 7 f ; Gemeinde 326,13
T a b e r n a k e l : G e r ä t e , liturg. 4 0 3 , 3 7 f Tacitus: G e r m a n . Religion 5 1 2 , 3 4 ff Tageszeitgebet: G e b e t b ü c h e r 112,23 ff T a t i a n : Geist 1 9 8 , 9 f f Taufgebete: G e b e t 8 0 , 3 0 f f T a u f e : Geist 178,19 ff; 185,11 ff; 2 0 4 , 2 1 ff T'fillä: Gebet 43,44ff Tempel: G e b e t 5 3 , 4 2 ff; Geist 1 7 5 , 4 ff; Geschichte 5 7 9 , 3 7 f f ; Gesch. Israels 7 1 5 , 1 3 f ; 7 2 2 , 1 ff Temple, W i l l i a m : Geschichte 6 6 7 , 1 tertius usus legis: G e b o t 1 3 1 , 1 9 ff Tertullian: G e b e t 6 1 , 4 8 ; 6 4 , 3 7 f ; Geduld 142,10; Gefangenenfürsorge 145,12; Gerechtigkeit 4 2 1 , 2 1 ff; G e r i c h t 4 8 9 , 4 0 f f T e x t o r i s , Wilhelm: Geiler 160,1 f T h e o l o g i e der Befreiung: Gerechtigkeit 443,14ff T h i e l i c k e , Helmut: Gelübde 3 1 2 , 3 8 f T h i e t m a r v. M e r s e b u r g : G e s c h i c h t e 6 1 6 , 1 6 f T h o m a s v. Aquino: Geduld 142,13 ff; G e h o r sam 1 5 1 , 2 2 £; Geist 2 0 5 , 5 1 ff; Geld 2 8 4 , 4 4 ff; Gemeinnutz 3 4 0 , 3 3 f ; Gerechtigkeit 4 2 7 , 3 1 ff; Gericht 4 8 8 , 4 5 ff Thucydides: Geisteswiss. 2 5 9 , 3 5 f T h ü r i n g e n : Geißler 167,45 ff T i l l i c h , Paul: Geschichte 6 6 9 , 3 7 f Tischgebete: G e b e t 4 8 , 4 2 f; G e b e t b ü c h e r 1 1 2 , 2 5 ff
T o b i a / T o b i a d e n : Gesch. Israels 7 2 8 , 3 5 ff; G e sellschaft 7 5 9 , 4 9 T o d : G e r o n t o l o g i e 5 2 9 , 2 5 f; Gesellschaft 7 7 8 , 4 8 ff T ö n n i e s , Ferdinand: G e m e i n s c h a f t 3 4 9 , 1 4 ff tol'döt: Geschichte 576,23 T o l o m e o v. L u c c a : Geschichte 6 2 1 , 4 8 Totengeister: Geister 2 5 5 , 3 2 ff Tradition: Geist 2 2 7 , 1 8 f f ; G e s c h i c h t e 5 8 8 , 8 f f Traugebete: G e b e t 8 1 , 5 1 ff Trauung: G e l ü b d e 3 1 4 , 5 2 f f Trillhaas, Wolfgang: Gelübde 3 1 2 , 4 2 f Trinität: G e b e t 8 8 , O f f ; Geist 2 0 0 , 7 f f ; 2 0 1 , 6 f f ; 2 0 2 , 1 9 f.47 ff; 2 1 9 , 2 7 f f T r i t o j e s a j a : Gerechtigkeit 4 0 7 , 1 4 f f T r o e l t s c h , Ernst: G e m e i n s c h a f t 3 5 1 , 5 2 ff; G e schichte 6 5 3 , 3 7 ; 6 6 9 , 3 5 ff T r o s t : G e b e t b ü c h e r 110,28 ff Tugend: Geduld 141,35; Gerechtigkeit 4 2 4 , 3 2 ff; 4 4 2 , 3 7 T u n - E r g e h e n - Z u s a m m e n h a n g : Gericht 4 6 3 , 3 1 ff; Geschichte 5 7 8 , 1 5 f Turgot, Robert Jacques: Geschichte 637,34 Turrettini, J e a n - A l p h o n s e : G e n f 3 7 2 , 3 7 Tyche: G a d 3 , 3 7 f Typologie: G e s c h i c h t e 6 0 0 , 5 0 ff Ungarn: G e r i c h t s b a r k e i t 5 0 1 , 5 1 f Universalgeschichte: Geschichte 6 0 2 , 2 7 f f Universitäten: Gesellschaft 7 7 8 , 4 0 Genf: Genf 369,40ff; 371,44; 373,27ff Paris: G e r s o n 5 3 5 , 1 3 Urchristentum: G a l a t e r b r i e f 9 , 1 2 f f ; G e m e i n d e 3 1 7 , 5 3 f; Gesellschaft 7 6 5 , 2 8 f f Urgeschichte: G e s c h i c h t e 5 7 5 , 1 2 f f Usque, Samuel: G e s c h i c h t e 5 8 9 , 1 5 Vandalen: G e r m a n e n m i s s i o n 5 0 8 , 3 0 . 3 9 f f Vasallität: Gesellschaft 7 7 4 , 2 7 ff Vaterunser: G e b e t 7 2 , 1 3 ff Vaticinium Eliae: Geschichte 6 3 0 , 3 1 Velum: G e r ä t e , liturg. 4 0 3 , 4 8 Verantwortung: G e h o r s a m 149,41 f Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands: Gerichtsbarkeit 5 0 0 , 4 4 f Verheißung: G e h o r s a m 150,21 Vergeltung: G e r i c h t 4 6 3 , 3 1 ff Vernunft: G e b o t 1 3 4 , 4 5 f f ; G e h o r s a m 1 5 2 , 3 5 f f ; Geist 2 3 2 , 7 ff Versöhnungstag: G e b e t 4 6 , 3 5 ff V i c o , G i a m b a t t i s t a : G e s c h i c h t e 6 3 6 , 4 5 ff Vikare, Apostolische: Gesandtschaftswesen 541,17 Vision: G e b e t 5 0 , 6 f Visitation: G e r i c h t s b a r k e i t 4 9 8 , 4 2 Vögelin, Eric: Geschichte 6 7 0 , 1 Volksgebet: G e b e t 7 2 , 4 3 ff Volksmission: G e b e t b ü c h e r 118,31 f Voltaire: G e s c h i c h t e 6 3 5 , 4 1 ; 6 3 6 , 2 3
Mitarbeiter Votivgaben: Gelübde 301,4 Votivmessen: Gebet 68,24ff Wahrnehmung: Geist 218,36f Wandercharismatiker (urchristl.:) Geist 179,43 ff; 184,5 ff; Gericht 470,44 ff Wegscheidel J . A . L . : Geist 215,1 Wehr, M a x : Geschichte 654,26 f Weihe: German. Religion 520,48 f Weisheit: Geist 182,16ff; 190,4f Weisheitsliteratur: Gerechtigkeit 407,32ff; 409,27 ff Weltanschauung: Geisteswiss. 261,19ff Weltbild: German. Religion 517,16ff Weltchronistik: Geschichte 617,7ff Weltrat der Kirchen: Gemeinde 327,48 ff Weltzeitalter: Geschichte 567,10ff Wergeid: Germanisierung d. Christentums 523,5 ff Werk: Gerechtigkeit 413,35 ff; Gericht 477,20ff Wesley, John: Geld 292,3 f Westfalen: Gerichtsbarkeit 499,27ff Wichern, Johann Hinrich: Gefangenenfürsorge 146,9; Gemeinschaftsbewegungen 357,33f Widukind v. Corvey: Geschichte 615,18 ff Wilhelm v. Conches: Gerechtigkeit 426,6 Wilhelm V. Malmesbury: Geschichte 618,19f Wille: Geist 249,7 f Wimpfeling, J a k o b : Geschichte 624,50ff Windelband, Wilhelm: Geisteswiss. 268,40 Wipo: Geschichte 616,27 f
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Wirkungsgeschichte: Geschichte 676,6ff Wirtschaft: Geld 278,9ff; 288,19ff; 294,21 ff Wölfflin, Heinrich: Geisteswiss. 263,8f; 264, 56 f Wolff, Christian: Gemeinnutz 341,14 Wort Gottes: Geist 208,35ff Wulfila: Germanenmission 507,6ff Wunder: Gebet 49,48 ff; Geschichte 659,36 Xenophanes: Geist 244,22 f Ximenez de R a d a , Rodrigo: Geschichte 621,18 Zacharias Rhetor: Gaza 30,23 f Z a c u t o , Abraham: Geschichte 588,46ff Zaddik: Gerechtigkeit 404,38 f; 413,47 ff Zeit: Geschichte 566,9 f Zenon-Papyri: Gesch. Israels 728,53ff Zins: Geld 283,1 ff; 284,23 ff Zinzendorf, Nikolaus Ludwig v.: Gemeinde 323,4 f; Gesangbuch 554,23 Zorn Gottes: Gericht 462,40 ff; 469,15 f; 475,28 ff Zünfte: Gesellschaft 776,47 f Zungenrede: Geist 184,45 ff Zunz, Leopold: Geschichte 590,1 ff Zwickauer Propheten: Geist 213,20ff Zwingli, Ulrich: Gansfort 27,35; Geist 210,51 ff; Geld 287,38 f; Gemeinde 322,18 f; Gericht 491,26 ff; Gerichtsbarkeit 499,5 Zyklentheorie: Geschichte 686,16ff
2. M i t a r b e i t e r 2.1. Autoren D r . G e r a r d A c h t e n , B e r l i n ( G e b e t b ü c h e r II) Prof. Dr. G a b r i e l Adriänyi, B o n n ( G a l l i k a n i s m u s ) P r o f . D r . R a i n e r A l b e r t z , H e i d e l b e r g ( G e b e t II) P r o f . D r . E b e r h a r d A m e l u n g , M ü n c h e n ( G e r i c h t G o t t e s V) Prof. Dr. Julius Aßfalg, M ü n c h e n (Georgien 1 - 5 ) P f a r r e r D r . R o g e r D a v i d A u s , Berlin ( G e r i c h t G o t t e s II) P r o f . D r . T h e o f r i e d B a u m e i s t e r , M a i n z ( G e b e t V) Prof. Dr. G u s t a v Adolf Benrath, M a i n z (Geschichte VII/1.) P r o f . D r . K l a u s B e r g e r , H e i d e l b e r g ( G e b e t I V ; G e i s t III) P r o f . D r . P e t e r Biehl, G ö t t i n g e n ( G e s c h i c h t e I X ) P r o f . D r . P e t e r C o n s t a n t i n B l o t h , Berlin ( G e b e t I X ; G e b e t b ü c h e r IV) P r o f . D r . E g o n B r a n d e n b u r g e r , M a i n z ( G e r i c h t G o t t e s III) Dr. Christoph Bürger, T ü b i n g e n (Gerson) Pastor Dr. J o a c h i m Cochlovius, Walsrode (Gemeinschaftsbewegung) Prof. Dr. A l f r e d E b e n b a u e r , Wien/Österreich ( G e r m a n i s c h e Religion) P r o f . D r . V i c t o r H . E l b e r n , B e r l i n ( G e r ä t e , L i t u r g i s c h e I) P r o f . D r . O d i l o E n g e l s , K ö l n ( G e s c h i c h t e VI) P r o f . D r . A s h e r F i n k e l , N e w Y o r k , N . Y . / U S A ( G e r e c h t i g k e i t II) P r o f . D r . M a x i m i l i a n F o r s c h n e r , O s n a b r ü c k ( G e s e l l s c h a f t I) P r o f . D r . I s n a r d W. F r a n k OP, M a i n z ( G e b e t VI) P r o f . D r . K a r l S u s o F r a n k , F r e i b u r g ( G e l ü b d e IV)
Mitarbeiter Votivgaben: Gelübde 301,4 Votivmessen: Gebet 68,24ff Wahrnehmung: Geist 218,36f Wandercharismatiker (urchristl.:) Geist 179,43 ff; 184,5 ff; Gericht 470,44 ff Wegscheidel J . A . L . : Geist 215,1 Wehr, M a x : Geschichte 654,26 f Weihe: German. Religion 520,48 f Weisheit: Geist 182,16ff; 190,4f Weisheitsliteratur: Gerechtigkeit 407,32ff; 409,27 ff Weltanschauung: Geisteswiss. 261,19ff Weltbild: German. Religion 517,16ff Weltchronistik: Geschichte 617,7ff Weltrat der Kirchen: Gemeinde 327,48 ff Weltzeitalter: Geschichte 567,10ff Wergeid: Germanisierung d. Christentums 523,5 ff Werk: Gerechtigkeit 413,35 ff; Gericht 477,20ff Wesley, John: Geld 292,3 f Westfalen: Gerichtsbarkeit 499,27ff Wichern, Johann Hinrich: Gefangenenfürsorge 146,9; Gemeinschaftsbewegungen 357,33f Widukind v. Corvey: Geschichte 615,18 ff Wilhelm v. Conches: Gerechtigkeit 426,6 Wilhelm V. Malmesbury: Geschichte 618,19f Wille: Geist 249,7 f Wimpfeling, J a k o b : Geschichte 624,50ff Windelband, Wilhelm: Geisteswiss. 268,40 Wipo: Geschichte 616,27 f
797
Wirkungsgeschichte: Geschichte 676,6ff Wirtschaft: Geld 278,9ff; 288,19ff; 294,21 ff Wölfflin, Heinrich: Geisteswiss. 263,8f; 264, 56 f Wolff, Christian: Gemeinnutz 341,14 Wort Gottes: Geist 208,35ff Wulfila: Germanenmission 507,6ff Wunder: Gebet 49,48 ff; Geschichte 659,36 Xenophanes: Geist 244,22 f Ximenez de R a d a , Rodrigo: Geschichte 621,18 Zacharias Rhetor: Gaza 30,23 f Z a c u t o , Abraham: Geschichte 588,46ff Zaddik: Gerechtigkeit 404,38 f; 413,47 ff Zeit: Geschichte 566,9 f Zenon-Papyri: Gesch. Israels 728,53ff Zins: Geld 283,1 ff; 284,23 ff Zinzendorf, Nikolaus Ludwig v.: Gemeinde 323,4 f; Gesangbuch 554,23 Zorn Gottes: Gericht 462,40 ff; 469,15 f; 475,28 ff Zünfte: Gesellschaft 776,47 f Zungenrede: Geist 184,45 ff Zunz, Leopold: Geschichte 590,1 ff Zwickauer Propheten: Geist 213,20ff Zwingli, Ulrich: Gansfort 27,35; Geist 210,51 ff; Geld 287,38 f; Gemeinde 322,18 f; Gericht 491,26 ff; Gerichtsbarkeit 499,5 Zyklentheorie: Geschichte 686,16ff
2. M i t a r b e i t e r 2.1. Autoren D r . G e r a r d A c h t e n , B e r l i n ( G e b e t b ü c h e r II) Prof. Dr. G a b r i e l Adriänyi, B o n n ( G a l l i k a n i s m u s ) P r o f . D r . R a i n e r A l b e r t z , H e i d e l b e r g ( G e b e t II) P r o f . D r . E b e r h a r d A m e l u n g , M ü n c h e n ( G e r i c h t G o t t e s V) Prof. Dr. Julius Aßfalg, M ü n c h e n (Georgien 1 - 5 ) P f a r r e r D r . R o g e r D a v i d A u s , Berlin ( G e r i c h t G o t t e s II) P r o f . D r . T h e o f r i e d B a u m e i s t e r , M a i n z ( G e b e t V) Prof. Dr. G u s t a v Adolf Benrath, M a i n z (Geschichte VII/1.) P r o f . D r . K l a u s B e r g e r , H e i d e l b e r g ( G e b e t I V ; G e i s t III) P r o f . D r . P e t e r Biehl, G ö t t i n g e n ( G e s c h i c h t e I X ) P r o f . D r . P e t e r C o n s t a n t i n B l o t h , Berlin ( G e b e t I X ; G e b e t b ü c h e r IV) P r o f . D r . E g o n B r a n d e n b u r g e r , M a i n z ( G e r i c h t G o t t e s III) Dr. Christoph Bürger, T ü b i n g e n (Gerson) Pastor Dr. J o a c h i m Cochlovius, Walsrode (Gemeinschaftsbewegung) Prof. Dr. A l f r e d E b e n b a u e r , Wien/Österreich ( G e r m a n i s c h e Religion) P r o f . D r . V i c t o r H . E l b e r n , B e r l i n ( G e r ä t e , L i t u r g i s c h e I) P r o f . D r . O d i l o E n g e l s , K ö l n ( G e s c h i c h t e VI) P r o f . D r . A s h e r F i n k e l , N e w Y o r k , N . Y . / U S A ( G e r e c h t i g k e i t II) P r o f . D r . M a x i m i l i a n F o r s c h n e r , O s n a b r ü c k ( G e s e l l s c h a f t I) P r o f . D r . I s n a r d W. F r a n k OP, M a i n z ( G e b e t VI) P r o f . D r . K a r l S u s o F r a n k , F r e i b u r g ( G e l ü b d e IV)
798
Mitarbeiter
Prof. Dr. Erwin Gatz, Rom/Italien (Gesandtschaftswesen, Päpstliches) The Rev. Geoffrey V. Gillard, Hong Kong (Gaza) Prof. D.Dr. BengtHägglund, D.D., Lund/Schweden (Gerechtigkeit VI; VII) Dr. Joachim Hahn, Tübingen (Garizim u. Ebal) Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken (Georg, Heiliger) Prof. Dr. Wolf-Dieter Hauschild, Osnabrück (Geist IV) Dr. Roman Heiligenthal, Bonn (Gebot I) Prof. Dr. Dr. Siegfried Herrmann, Bochum (Gedalja; Geschichte Israels) Prof. Dr. Ludwig Hödl, Bochum (Gerechtigkeit V) Prof. Dr. Lawrence A. Hoffman, Rye, N.Y./USA (Gebet III; Gebetbücher I) Prof. Dr. Martin Honecker, Bonn (Geld II; Gerhard, Johann) Prof. Dr. Hans Hübner, Göttingen (Galaterbrief) Prof. D. Wilfried Joest, Erlangen (Gebot II) Prof. Dr. Edwin A. Judge, North Ryde/Australien (Gesellschaft III; IV) Professor Dr. Dr. Helmar Junghans, Leipzig/DDR (Georg v. Sachsen) Prof. Dr. Jacob Katz, Jerusalem/Israel (Gemeinde II) Prof. Dr. Robert M . Kingdon, Madison, Wis./USA (Genf) Prof. Dr. Klaus Koch, Hamburg (Geschichte II) Prof. Dr. Ulrich Köpf, München (Gertrud v. Helfta) Prof. Dr. Günter Lanczkowski, Heidelberg (Geister; Geld I; Gelübde I; Geschichte I) Pfarrer Dr. Rudolf Landau, Sexau (Geist VI) t Prof. Dr. Michael Landmann (Geisteswissenschaften; Geschichte X) Prof. David M . Lang, London/Großbritannien (Georgien 6) Dr. Gerd Legatis, Hannover (Gerontologie) Prof. Dr. Eckhard Lessing, Münster (Geist V) Prof. Dr. Bernhard Lohse, H a m b u r g (Gelübde V.l) Prof. Dr. Dieter Lührmann, M a r b u r g (Gerechtigkeit III) Prof. Dr. Ulrich Luz, Bern/Schweiz (Geschichte IV) Prof. Dr. Joachim Mehlhausen, Düsseldorf (Geschichte VII/2.) Prof. Dr. Otto Merk, Erlangen (Gabler) Prof. Dr. Helmut Merkel, Erlangen (Gerechtigkeit IV; Gericht Gottes IV) Prof. Dr. Erich Meuthen, Köln (Gerhoch v. Reichersberg) Prof. Dr. Michael A. Meyer, Cincinnati, Ohio/USA (Geiger) Prof. Dr. Christian Möller, Wuppertal (Gemeinde I) Pfarrer Dr. Rudolf Mohr, Düsseldorf (Geliert) The Rev. Dr. Bernhard Moreton, Banbury/Großbritannien (Gelasius I.) Prof. Raoul Mortley, North Ryde/Australien (Geschichte V) Prof. Dr. C. Detlef G. Müller, Bonn (Georg d. Araberbischof) Prof. Dr. Dr. Gotthold Müller, Würzburg (Gebet VIII) Prof. Dr. Hans-Peter Müller, Münster/Westf. (Gesellschaft II) Kirchenrat Dr. Reinhard M u m m , Grafing (Geräte, Liturgische II) Prof. Dr. Otto Gerhard Oexle, Hannover (Gesellschaft V) Dr. Nico Oswald, Berlin (Gamliel II.) Prof. Dr. Eberhard Pältz, Jena/DDR (Gerhardt, Paul) Prof. Dr. Wolfhart Pannenberg D . D . , München (Geschichte VIII) Prof. Dr. Hayim Goren Perelmuter, Chicago, Iii./USA (Gelübde III) Prof. Dr. Charles Pietri, Paris/Frankreich (Gennadius v. Marseille) Prof. Dr. Horst Dietrich Preuß, Neuendettelsau (Gelübde II) Prof. Dr. Francis Rapp, Straßburg/Frankreich (Geiler v. Kaysersberg) Prof. D.Dr. Carl Heinz Ratschow, M a r b u r g (Gebet I) Sarah D. Reeves, Chicago, III./USA (Gansfort) Prof. Dr. Hermann Ringeling, Bern/Schweiz (Gemeinschaft) Prof. Dr. Peter Schäfer, Berlin (Geist II)
Karten/Artikel- u. Verweisstichwörter
799
Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Germanenmission, arianische; Germanisierung d. Christentums) Prof. Dr. J o s e f Scharbert, München (Gerechtigkeit I) Prof. Dr. Werner H. Schmidt, M a r b u r g (Geist I) Prof. D. Heinz-Horst Schrey, Heidelberg (Geduld; Gemeinnutz/Gemeinwohl) Prof. Dr. Hans-Werner Schütt, Berlin (Galilei) D. Frieder Schulz, Heidelberg (Gebet VII; Gebetbücher III) Priv.-Doz. Dr. Peter Segl, Regensburg (Geißler) Prof. Dr. Klaus Seybold, Binningen/Schweiz (Gericht Gottes I) Dr. Gerhard Simon, Wasserburg (Gallus) Prof. D . D r . Albert Stein, Wien/Österreich (Gelübde V.2; VI; VII; Gerichtsbarkeit, Kirchliche) D r . Ellen Stubbe, Hamburg (Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge) D r . Bernhard Taureck, Seelze (Geist VII; Gerechtigkeit VIII) Dr. Franz Tinnefeid, München (Gennadios Scholarios) Dr. Nikolaus Vielmetti, Wien/Österreich (Geschichte III) Pfarrer Alexander Völker, Minden (Gesangbuch) Prof. Dr. Christian Walther, H a m b u r g (Gehorsam) Prof. Dr. Gunther Wanke, Erlangen (Gad)
2.2.
Übersetzer
Aus dem
Englischen:
Christoph Asendorf, Berlin (Gansfort; Geiger; Genf) Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken, Berlin (Gericht Gottes II) Gertrud Freitag-Otte, Berlin (Georgien 6.) Dr. Helga Scheible, Würzburg (Gaza; Gelasius I.) Michael Schröter, Berlin (Gerechtigkeit II; Gelübde III; Geschichte V)
Aus dem
Französischen:
Mariann Wolter, M a i n z (Gennadius von Marseille)
2.3.
Registerbearbeiter
Dr. Klaus Breuer, Heidelberg ( N a m e n / O r t e / S a c h e n ) Hannelore Hollstein, Lünen (Bibelstellen) Dr. Michael Wolter, M a i n z (Namen/Orte/Sachen) 3. Karten Georgien Geschichte Israels - Palästina in der Eisenzeit Geschichte Israels - Palästina in der hellenistisch-römischen Zeit
392 709 729
4. Artikel- und Verweisstichwörter Gabler, J o h a n n Philipp (O. M e r k ) Gad, Gottheit (G. Wanke) Gad, Stamm —»Geschichte Israels Galaterbrief (H. Hübner) Galiläa -»Palästina Galilei, Galileo (H.-W. Schütt) Gallikanismus (G. Adrianyi) Gallitzin, Amalia Fürstin von —»Erweckung/Erweckungsbewegungen Gallus, Nikolaus (G. Simon) Gamliel (Gamaliel) II. (N. Oswald)
1 3 5 14 17 21 23
Karten/Artikel- u. Verweisstichwörter
799
Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Germanenmission, arianische; Germanisierung d. Christentums) Prof. Dr. J o s e f Scharbert, München (Gerechtigkeit I) Prof. Dr. Werner H. Schmidt, M a r b u r g (Geist I) Prof. D. Heinz-Horst Schrey, Heidelberg (Geduld; Gemeinnutz/Gemeinwohl) Prof. Dr. Hans-Werner Schütt, Berlin (Galilei) D. Frieder Schulz, Heidelberg (Gebet VII; Gebetbücher III) Priv.-Doz. Dr. Peter Segl, Regensburg (Geißler) Prof. Dr. Klaus Seybold, Binningen/Schweiz (Gericht Gottes I) Dr. Gerhard Simon, Wasserburg (Gallus) Prof. D . D r . Albert Stein, Wien/Österreich (Gelübde V.2; VI; VII; Gerichtsbarkeit, Kirchliche) D r . Ellen Stubbe, Hamburg (Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge) D r . Bernhard Taureck, Seelze (Geist VII; Gerechtigkeit VIII) Dr. Franz Tinnefeid, München (Gennadios Scholarios) Dr. Nikolaus Vielmetti, Wien/Österreich (Geschichte III) Pfarrer Alexander Völker, Minden (Gesangbuch) Prof. Dr. Christian Walther, H a m b u r g (Gehorsam) Prof. Dr. Gunther Wanke, Erlangen (Gad)
2.2.
Übersetzer
Aus dem
Englischen:
Christoph Asendorf, Berlin (Gansfort; Geiger; Genf) Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken, Berlin (Gericht Gottes II) Gertrud Freitag-Otte, Berlin (Georgien 6.) Dr. Helga Scheible, Würzburg (Gaza; Gelasius I.) Michael Schröter, Berlin (Gerechtigkeit II; Gelübde III; Geschichte V)
Aus dem
Französischen:
Mariann Wolter, M a i n z (Gennadius von Marseille)
2.3.
Registerbearbeiter
Dr. Klaus Breuer, Heidelberg ( N a m e n / O r t e / S a c h e n ) Hannelore Hollstein, Lünen (Bibelstellen) Dr. Michael Wolter, M a i n z (Namen/Orte/Sachen) 3. Karten Georgien Geschichte Israels - Palästina in der Eisenzeit Geschichte Israels - Palästina in der hellenistisch-römischen Zeit
392 709 729
4. Artikel- und Verweisstichwörter Gabler, J o h a n n Philipp (O. M e r k ) Gad, Gottheit (G. Wanke) Gad, Stamm —»Geschichte Israels Galaterbrief (H. Hübner) Galiläa -»Palästina Galilei, Galileo (H.-W. Schütt) Gallikanismus (G. Adrianyi) Gallitzin, Amalia Fürstin von —»Erweckung/Erweckungsbewegungen Gallus, Nikolaus (G. Simon) Gamliel (Gamaliel) II. (N. Oswald)
1 3 5 14 17 21 23
Karten/Artikel- u. Verweisstichwörter
799
Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Germanenmission, arianische; Germanisierung d. Christentums) Prof. Dr. J o s e f Scharbert, München (Gerechtigkeit I) Prof. Dr. Werner H. Schmidt, M a r b u r g (Geist I) Prof. D. Heinz-Horst Schrey, Heidelberg (Geduld; Gemeinnutz/Gemeinwohl) Prof. Dr. Hans-Werner Schütt, Berlin (Galilei) D. Frieder Schulz, Heidelberg (Gebet VII; Gebetbücher III) Priv.-Doz. Dr. Peter Segl, Regensburg (Geißler) Prof. Dr. Klaus Seybold, Binningen/Schweiz (Gericht Gottes I) Dr. Gerhard Simon, Wasserburg (Gallus) Prof. D . D r . Albert Stein, Wien/Österreich (Gelübde V.2; VI; VII; Gerichtsbarkeit, Kirchliche) D r . Ellen Stubbe, Hamburg (Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge) D r . Bernhard Taureck, Seelze (Geist VII; Gerechtigkeit VIII) Dr. Franz Tinnefeid, München (Gennadios Scholarios) Dr. Nikolaus Vielmetti, Wien/Österreich (Geschichte III) Pfarrer Alexander Völker, Minden (Gesangbuch) Prof. Dr. Christian Walther, H a m b u r g (Gehorsam) Prof. Dr. Gunther Wanke, Erlangen (Gad)
2.2.
Übersetzer
Aus dem
Englischen:
Christoph Asendorf, Berlin (Gansfort; Geiger; Genf) Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken, Berlin (Gericht Gottes II) Gertrud Freitag-Otte, Berlin (Georgien 6.) Dr. Helga Scheible, Würzburg (Gaza; Gelasius I.) Michael Schröter, Berlin (Gerechtigkeit II; Gelübde III; Geschichte V)
Aus dem
Französischen:
Mariann Wolter, M a i n z (Gennadius von Marseille)
2.3.
Registerbearbeiter
Dr. Klaus Breuer, Heidelberg ( N a m e n / O r t e / S a c h e n ) Hannelore Hollstein, Lünen (Bibelstellen) Dr. Michael Wolter, M a i n z (Namen/Orte/Sachen) 3. Karten Georgien Geschichte Israels - Palästina in der Eisenzeit Geschichte Israels - Palästina in der hellenistisch-römischen Zeit
392 709 729
4. Artikel- und Verweisstichwörter Gabler, J o h a n n Philipp (O. M e r k ) Gad, Gottheit (G. Wanke) Gad, Stamm —»Geschichte Israels Galaterbrief (H. Hübner) Galiläa -»Palästina Galilei, Galileo (H.-W. Schütt) Gallikanismus (G. Adrianyi) Gallitzin, Amalia Fürstin von —»Erweckung/Erweckungsbewegungen Gallus, Nikolaus (G. Simon) Gamliel (Gamaliel) II. (N. Oswald)
1 3 5 14 17 21 23
800
Artikel- u. Verweisstichwörter
Gansfort, Wessel (S.D. Reeves) Garizim und Ebal (J. H a h n ) Gastarbeiter —• Arbeiter/Arbeiterbewegung, -»Diakonie Gattungsforschung/Gattungsgeschichte Formgeschichte/Formenkritik Gaza (G.V. Gillard) Gebärden, Liturgische -»Gesten Gebet (C. H. R a t s c h o w / R . Albertz/L.A. H o f f m a n / K . Berger/Th. Baumeister/ I.W. Frank/F. Schulz/G. Müller/P.C. Bloth) Gebetbücher (L.A. H o f f m a n / G . Achten/F. Schulz/P. C. Bloth) Gebot (R. Heiligenthal/W. Joest) Geburtenkontrolle/Geburtenregelung -* Leben, —> Schwangerschaftsabbruch Gedalja (S. Herrmann) Gedenktage -»Feste und Feiertage Geduld (H.-H. Schrey) Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge (E. Stubbe) Gegenreformation -> Katholische Reform und Gegenreformation Gehorsam (Ch. Walther) Geiger, A b r a h a m ( M . A . Meyer) Geiler von Kaysersberg, Johannes (F. Rapp) Geißler (P. Segl) Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben (W. H . Schmidt/P. Schäfer/K. Berger/ W.-D. Hauschild/E. Lessing/R. Landau/B. Taureck) Geister (G. Lanczkowski) Geisteswissenschaften ( | M . Landmann) Gelasius I., Bischof von R o m (B. Moreton) Geld (G. Lanczkowski/M. Honecker) Geliert, Christian Fürchtegott (R. Mohr) Gelübde (G. L a n c z k o w s k i / H . D . P r e u ß / H . G . Perelmuter/K.S. Frank/B. Lohse/ A. Stein) G e m a r a -»Talmud/Talmudexegese/Talmudtraktate Gematrie -» Zahlenspekulation/Zahlensymbolik Gemeinde (Ch. Möller/J. Katz) Gemeinnutz/Gemeinwohl (H.-H. Schrey) Gemeinschaft (H. Ringeling) Gemeinschaftsbewegung (J. Cochlovius) Generalvikar -»Bistum Genesis -»Pentateuch Genf ( R . M . Kingdon) Gennadios Scholarios (F. Tinnefeid) Gennadius von Marseille (Ch. Pietri) Geometrie -»Artes liberales Georg der Araberbischof ( C . D . G . Müller) Georg, Heiliger (W. Haubrichs) Georg von Sachsen (H. Junghans) Georgien (J. A ß f a l g / D . M . Lang) Georgios Scholarios—»Gennadios Scholarios Geräte, Liturgische (V. H . Elbern/R. M u m m ) Gerechtigkeit (J. Scharbert/A. Finkel/D. L ü h r m a n n / H . Merkel/L. H ö d l / B. Hägglund/B. Taureck) Gerhard, J o h a n n (M. Honecker) Gerhard von Z ü t p h e n - » Z e r b o l t , Gerhard Gerhardt, Paul (E.H. Pältz) Gerhoch von Reichersberg (E. Meuthen)
25 28
29
31 103 124 138 139 144 148 157 159 162 170 254 259 273 276 298 300
316 339 346 355
368 375 376 378 380 385 389 396 404 448 453 457
Corrigenda
801
Gericht Gottes (K. S e y b o l d / R . D . Aus/E. B r a n d e n b u r g e r / H . M e r k e l / E . Amelung) 459 Gerichtsbarkeit, Kirchliche (A. Stein) 497 G e r m a n e n - » A l a m a n n e n , -»Bayern, - » D ä n e m a r k , - » E n g l a n d , - » F r a n k e n , -»Friesen, —»Germanenmission (arianische), —»Germanische Religion, —»Hessen, —»Island, - » N o r m a n n e n , —»Norwegen, —»Sachsen, -»Schweden, —»Thüringen G e r m a n e n m i s s i o n , arianische (K. Schäferdiek) 506 G e r m a n i s c h e Religion (A. Ebenbauer) 510 G e r m a n i s i e r u n g des Christentums (K. Schäferdiek) 521 Gerontologie (G. Legatis) 524 G e r s o n , J o h a n n e s (Ch. Burger) 532 G e r t r u d (die Große) von Helfta (U. Köpf) 538 G e s a n d t s c h a f t s w e s e n , Päpstliches (E. Gatz) 540 G e s a n g b u c h (A. Völker) 547 Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie (G. L a n c z k o w s k i / K. K o c h / N . Vielmetti/U. L u z / R . M o r t l e y / O . Engels/G. A. B e n r a t h / J . M e h l h a u s e n / W . P a n n e n b e r g / R Biehl/f M . L a n d m a n n ) 565 Geschichte Israels (S. H e r r m a n n ) 698 Geschlecht -»Sexualität Gesellschaft/Gesellschaft und C h r i s t e n t u m (M. Forschner/H.-P. M ü l l e r / E . A . J u d g e / O . G . Oexle) 740 5. Corrigenda S. 303,35 S. 356,56 S. 364,53 S. 365,49
lies am -»Heiligkeitsgesetz statt im -»Heiligkeitsgesetz lies M a r t e n s statt M e r t e n s lies Botschaft statt Borschaft füge hinter T h . H a a r b e c k (1911-1919), ein: H . H a a r b e c k (1953-1971);
Corrigenda
801
Gericht Gottes (K. S e y b o l d / R . D . Aus/E. B r a n d e n b u r g e r / H . M e r k e l / E . Amelung) 459 Gerichtsbarkeit, Kirchliche (A. Stein) 497 G e r m a n e n - » A l a m a n n e n , -»Bayern, - » D ä n e m a r k , - » E n g l a n d , - » F r a n k e n , -»Friesen, —»Germanenmission (arianische), —»Germanische Religion, —»Hessen, —»Island, - » N o r m a n n e n , —»Norwegen, —»Sachsen, -»Schweden, —»Thüringen G e r m a n e n m i s s i o n , arianische (K. Schäferdiek) 506 G e r m a n i s c h e Religion (A. Ebenbauer) 510 G e r m a n i s i e r u n g des Christentums (K. Schäferdiek) 521 Gerontologie (G. Legatis) 524 G e r s o n , J o h a n n e s (Ch. Burger) 532 G e r t r u d (die Große) von Helfta (U. Köpf) 538 G e s a n d t s c h a f t s w e s e n , Päpstliches (E. Gatz) 540 G e s a n g b u c h (A. Völker) 547 Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie (G. L a n c z k o w s k i / K. K o c h / N . Vielmetti/U. L u z / R . M o r t l e y / O . Engels/G. A. B e n r a t h / J . M e h l h a u s e n / W . P a n n e n b e r g / R Biehl/f M . L a n d m a n n ) 565 Geschichte Israels (S. H e r r m a n n ) 698 Geschlecht -»Sexualität Gesellschaft/Gesellschaft und C h r i s t e n t u m (M. Forschner/H.-P. M ü l l e r / E . A . J u d g e / O . G . Oexle) 740 5. Corrigenda S. 303,35 S. 356,56 S. 364,53 S. 365,49
lies am -»Heiligkeitsgesetz statt im -»Heiligkeitsgesetz lies M a r t e n s statt M e r t e n s lies Botschaft statt Borschaft füge hinter T h . H a a r b e c k (1911-1919), ein: H . H a a r b e c k (1953-1971);
THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK
TÖPELMANN
Herausgegeben von Kurt Aland, Carl H . R a t s c h o w , Eduard Schlink
ERIK SCHMIDT
Hegels System der Theologie Oktav. X , 210 Seiten. 1974. Ganzleinen D M 6 4 , ISBN 3 1 1 0 0 4 4 6 3 3 (Band 26)
WILFRIED HÄRLE
Sein und Gnade
Die Ontologie in Karl Barths kirchlicher Dogmatik Oktav. X , 428 Seiten. 1975. Ganzleinen D M 1 0 9 I S B N 3 11 005706 9 (Band 27)
WOLFGANG TRILLHAAS
Schleiermachers Predigt 2., um ein Vorwort ergänzte Auflage Oktav. X , 225 Seiten. 1975. Ganzleinen D M 4 9 , 5 0 ISBN 3 11 0 0 5 7 3 9 5 (Band 28)
URSULA SCHNELL
Das Verhältnis von Amt und Gemeinde im neueren Katholizismus Oktav. VIII, 3 3 0 Seiten. 1977. Ganzleinen D M 9 8 , I S B N 3 1 1 0 0 4 9 2 9 5 (Band 29)
KATARO OKAYAMA
Zur Grundlegung einer christlichen Ethik Theologische Konzeptionen der Gegenwart im Lichte des Analogie-Problems
Oktav. X , 268 Seiten. 1977. Ganzleinen D M 5 8 , - ISBN 3 11 0 0 5 8 1 2 X (Band 30)
JOACHIM RINGLEBEN
Hegels Theorie der Sünde
Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs Oktav. 3 0 0 Seiten. 1977. Ganzleinen D M 8 5 - ISBN 3 11 0 0 6 6 5 0 5 (Band 31) Preisänderungen vorbehalten
Walter de Gruyter
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Herausgegeben von Kurt Aland, Carl H . Ratschow, Eduard Schlink
UWE BOESCHEMEYER
Die Sinnfrage in Psychotherapie und Theologie Existenzanalyse und L o g o t h e r a p i e Viktor E. Frankls aus theologischer Sicht Oktav. X , 164 Seiten. 1977. Ganzleinen D M 5 4 , - ISBN 3 1 1 0 0 6 7 2 7 7 (Band 32)
FRIEDRICH HEILER
Die Frau in den Religionen der Menschheit Oktav. VI, 194 Seiten. 1977. Ganzleinen D M 3 8 , - ISBN 3 1 1 0 0 6 5 8 3 5 (Band 33)
PETER HENKE
Gewißheit vor dem Nichts
Eine Antithese zu den theologischen E n t w ü r f e n Wolfhart Pannenbergs und J ü r g e n M o l t m a n n s Oktav. XIV, 176 Seiten. Mit Abbildungen. 1977. Ganzleinen D M 6 4 ISBN 3 11 007254 8 (Band 34)
RAINER FLASCHE
Die Religionswissenschaft Joachim Wachs Oktav. XII, 321 Seiten. 1977. Ganzleinen D M 88,- ISBN 3 11 007238 6 (Band 35)
HERBERT NEIE
The Doctrine of the Atonement in the Theology of Wolfhart Pannenberg Oktav. X , 237 Seiten. 1978. Ganzleinen D M 7 2 , - ISBN 3 11 007506 7 (Band 36)
JOHN P. CLAYTON
The Concept of Correlation
Paul Tillich and the Possibility of a mediating T h e o l o g y Oktav. XII, 329 Seiten. 1980. Ganzleinen D M 8 4 , - ISBN 3 1 1 0 0 7 9 1 4 3 (Band 37) Preisänderungen vorbehalten
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Berlin • New York
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TÖPELMANN
Herausgegeben von Kurt Aland, Carl H . R a t s c h o w , Eduard Schlink
PETER STEINA CKER
Die Kennzeichen der Kirche Eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit Katholizität und Apostolizität Oktav. X I I , 3 7 0 Seiten. 1981. Ganzleinen D M 9 8 , - ISBN 3 1 1 0 0 8 4 9 3 7 (Band 38)
Vom Amt des Laien in Kirche und Theologie Festschrift für Gerhard Krause zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Henning Schröer und Gerhard Müller Oktav. X I I , 4 3 1 Seiten und Frontispiz. 1982. Ganzleinen D M 1 5 8 , I S B N 3 1 1 0 0 8 5 9 0 9 (Band 39)
JOACHIM RINGLEBEN
Aneignung Die spekulative Theologie Soren Kierkegaards Oktav. X , 5 0 9 Seiten. 1983. Ganzleinen D M 1 2 8 , - ISBN 3 11 0 0 8 8 7 8 9 (Band 40)
MICHAEL PALMER
Paul Tillich's Philosophy of Art Octavo. X X I I , 217 pages. 1983. Cloth D M 8 4 , - ISBN 3 11 0 0 9 6 8 1 1 (Volume 41)
CHRISTEL KELLER-WENTORF
Schleiermachers Denken
Die Bewußtseinslehre in Schleiermachers philosophischer Ethik als Schlüssel zu seinem Denken Oktav. X , 547 Seiten. 1984. Ganzleinen D M 9 8 , - ISBN 3 11 0 0 9 5 2 8 9 (Band 42)
WOLFGANG ERICH
MÜLLER
Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem Eine Untersuchung zur Theologie der Betrachtung über die vornehmsten Wahrheiten der Religion" Oktav. X , 263 Seiten. 1984. Ganzleinen D M 9 8 , - ISBN 3 11 0 0 9 6 8 0 3 (Band 43) Preisänderungen
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